Sie sind auf Seite 1von 223

DAS

WAR DIE BRD

GEORG DIEZ (HRSG.)

GEORG DIEZ, ROGER WILLEMSEN, MICHAEL


SCHINDHELM, CLAUDIUS SEIDL, ANDREAS
BERNHARD, DIEDRICH DIEDERICHSEN,
FERIDUN ZAIMOGLU, NIKLAS MAAK,
DORRIES DÖRRIE, MATTHIAS ALTENBURG,
ELENA LAPPIN, ANDRIAN KREYE, CHRISTOPH
SCHLINGENSIEF, ANNE ZIELKE, STEFAN
GABANYI, ANDREAS NEUMEISTER, SYBILLE
BERG, WILLI WINKLER, DOMINIK GRAF,
MAXIM BILER, GEORG M. OSWALD, STEFFEN
KOPETZKY, ECKHART NICKEL, RALF BÖNT,
CHRISTOPHER KEIL, GERHARD MATZIG,
ALBERT OSTERMAIER, GOTTFRIED KNAPP,
INGO NIERMANN, WOLFGANG HÖBEL,
MICHAEL ALTHEN, ARNO MAKOWSKY,
GÜNTER GAUS, BARBARA KANZLER, JÖRG
SCHRÖDER

60pages
Berlin, Zürich
Das war die BRD Copyright © 2014 von 60pages.
Inhalt
1. Der Aufkleber
Georg Diez
2. Der Alden-Schuh
Roger Willemsen
3. Onkel Otto
Michael Schindhelm
4. Die Tür des P1
Claudius Seidl
5. Die Kicker-Stecktabelle
Andreas Bernard
6. Der Reisebürosonderzug
Diedrich Diederichsen
7. Der Nudelsalat
Feridun Zaimoglu
8. Die Capri-Sonne
Niklas Maak
9. Das Trockenshampoo
Doris Dörrie
10. Die Juno-Zigarette
Matthias Altenburg
11. Der Maximantel
Elena Lappin
12. Die Kelle
Andrian Kreye
13. Die Fleischwurst
Christoph Schlingensief
14. Der Pass
Anne Zielke
15. Racke Rauchzart
Stefan Gabanyi
16. Der Dual-Plattenspieler
Andreas Neumeister
17. Der Trainingsanzug
Sibylle Berg
18. Das RAF-Fahndungsplakat
Willi Winkler
19. Die Elastolin-Figur
Dominik Graf
20. Der Joint
Maxim Biller
21. Die Pershing
Georg M. Oswald
22. Perry Rhodan
Steffen Kopetzky
23. Das Krabbenbrötchen von Gosch
Eckhart Nickel
24. Die Wrangler
Ralf Bönt
25. Der Puma-Schuh
Christopher Keil
26. Die Carrera-Bahn
Gerhard Matzig
27. Die Musik-Cassette
Albert Ostermaier
28. Der Klodeckelschutzbezug
Gottfried Knapp
29. Westberlin
Ingo Niermann
30. Das Trimm-dich-Männchen
Wolfgang Höbel
31. Tri Top
Michael Althen
32. Der Käfer
Arno Makowsky
33. Die "DDR"
Günter Gaus
34. Der Jaguar
Barbara Kalender und Jörg Schröder
35. Nachwort
Georg Diez
Der Aufkleber
Georg Diez

Es war an einem Samstagnachmittag, als ich lernte, dass auch die Freiheit dieser
Demokratie ihre Grenzen hatte. Lag es tatsächlich nur an dem
kanaldeckelgroßen Aufkleber mit der grinsenden roten Anti-Atomkraft-Sonne,
dass jemand, zum dritten oder vierten Mal schon, die Antenne an unserem
rostigen gelben VW-Bus abgeknickt hatte? Vielleicht, dachte ich damals, war es
einer jener Frührentner, die immer gegen sechs Uhr morgens mit einem Dackel
durch unser Neubauviertel zogen, im Herzen noch den letzten Krieg und im
Kopf die fahle Gegenwart – vielleicht war es auch einer der Türkenjungen, vor
denen ich schon auf dem Fußballplatz immer Angst hatte. So etwas hätte ich
aber damals nie gedacht, schließlich war ich in der BRD groß geworden. Und da
konnte man sich seine Feinde nicht einfach aussuchen.
Eigentlich, und das war ja eine Art Auftrag der Deutschen nach dem Krieg,
durfte dieses Land keine Feinde mehr haben. Da aber, so scheint es, kein Mensch
ohne Feindbild leben kann, hatten sich die Deutschen etwas besonders Verqueres
ausgedacht, um dies Feindverbot zu umgehen: Der Feind meines Feindes ist
mein Freund – auf dieser Grundlage existierte ein Land, das gelähmt schien von
einer Handlungsstarre, die bequem war und konsensfähig und ideologisch
abgesichert. Ein Land, das vergessen wollte, wie verbrecherisch seine
Vergangenheit war, und das diese Vergangenheit zugleich brauchte, um in der
neuen Zeit seinen Platz zu finden. Ein Land, das moderner war, als es sich
eingestehen wollte, und gerade deshalb sein neues Gesicht um so angestrengter
verleugnete. Ein Land, das vor sich selbst davon rannte, ohne zu wissen, wohin.
Ein Land, dessen Gestalt ein Politikum war und so hieß, wie eigentlich kein
Land heißen konnte.
Die “BRD”. Oder BR Deutschland. Oder Westdeutschland. Oder
Schweinestaat. Oder Westbindung. Oder Kniefall. Oder Bundesliga. Oder
Atomkraftneindanke. Oder Bohnenkaffee. Oder Capri-Sonne. Oder Nivea-
Creme. Deutschland jedenfalls war ein Kampfbegriff, und die Abkürzung BRD
stand für ein Land, das ganz in seinen Widersprüchen verfangen war. Ein
verwirrtes Land, das auf Angst gebaut war und auch auf Optimismus und das
sich im Strudel seiner widersinnigen Gefühle an den paar Dingen festhielt, die
sicher waren und greifbar und die man kaufen konnte. Ein materialistisches
Land, das sich im besten Sinne des Wortes über die verhängnisvolle Sphäre des
Idealismus und all seiner Sonderwege erhoben hatte. Ein Land wie
ein Warenkorb.
Dass sie diesen Materialismus zu einem Existenzgrund machte, war das
Zeitgemäße an der BRD. Sie war ein Land wie ein Abziehbild, glänzend, lustig
und flach. Eine bunte Behauptung. Und wie bei einem Aufkleber hatte man die
andere Seite, das Papier, auf dem dieser Aufkleber gehaftet hatte, einfach
weggeworfen, liegen gelassen, vergessen.
Mehr als zehn Jahre ist es her, dass sich das letzte Politbüro dem Gang der
Geschichte ergeben hat – es waren Jahre, in denen viel von dem die Rede war,
wie das Leben in der DDR wirklich war, was von diesem Leben geblieben und
was untergegangen ist. Jahre, in denen es darum ging, einem irgendwie gearteten
neuen Selbstgefühl Ausdruck zu geben – und wie so oft war zuerst die Idee da,
nach deren Muster dann die dazu passende Wirklichkeit gesucht wurde. Neue
Symbole sollten her, die irgendwie auch die alten waren, nur größer, schöner,
besser. Die Neue Wache in Berlin mit der aufgeblasenen Kollwitz-Pietà ist so ein
Beispiel, wo man an die ungefähre Vorstellung einer Vergangenheit anknüpfte
und damit die ungemütliche Zwischenzeit übersprang, die die BRD in dieser
Interpretation immer geblieben war. Aber wie das so ist mit solchen Jahren in
der historischen Wandelhalle: gerade in diesen transitorischen Zeiten entsteht
mehr, als man in dem jeweiligen Moment erkennt. Und gerade weil vieles davon
verschwunden ist, gerade weil das Zwischenland BRD mit dem Ende der DDR
untergegangen ist, bleibt das widersprüchliche Fazit: Wie wir damals waren, sind
wir noch heute.
Die Autobiographie ist der Ort, an dem sich diese BRD finden lässt. In der
Erinnerung an die eigene Jugend kristallisiert sich etwas heraus, das als
Verhältnis zu diesem Land konstitutiv bleibt. Die Autobiographie ist der
Versuch, sich in einer Geschichte den Platz zu suchen, den man gerne hätte. Sie
ist eine lässliche Lüge, wie sie auch in jedem Satz steckt, der mit dem Wort “ich”
beginnt. Die Jahre der BRD waren solche Jahre: Jahre des Ichs. Das Ich des
Fünfziger-Jahre-Existenzialismus, das Ich der Sechziger-Jahre-
Studentenproteste, das Ich der Siebziger-Jahre-Therapiecouch, das Ich des
Achtziger-Jahre-Hedonismus. Die BRD war die Zeit, als Deutschland lernte,
“ich” zu sagen – und als man begann zu verstehen, was das bedeutet.
Die Frage, wie ein Land von sich erzählt, ist eng verknüpft mit der Frage,
wie ein Einzelner von sich erzählt. Der Ort dieser Selbstfindung allerdings war
immer schwer fest zu machen: Was ist zum Beispiel mit den Stoßstangen,
Rückfenstern oder Heckflächen der Autos – ein Ort also, wo sich das Private mit
dem Politischen auf eine Art und Weise verband, der den Rost am Kotflügel
eines Renault 4 schon wieder zu einem ideologischen Statement katapultierte.
Irgendwann in den siebziger Jahren fing man jedenfalls an, sich Aufkleber auf
sein Auto zu kleben als die Protestform einer mobilen Gesellschaft, die noch
lernen musste, dass politische Botschaften durchaus im Gewand kommerzieller
Heilsversprechungen daher kommen konnten. Diese Aufkleber funktionierten
wie der Entwurf einer möglichen Autobiographie – und hielten dabei die Option
offen, sich relativ rückstandsfrei davon zu trennen.
Plötzlich waren Aufkleber überall. Plötzlich etwa war da in der Trambahn
der Junge mit dem gelb-rot leuchtenden Aufkleber auf seinem schwarzen
Aktenkoffer. “Steinzeit? Nein danke” stand dort – und ich war einigermaßen
verwirrt. Es war die Zeit, als sich das bunte Einerlei an Scout-Schulranzen
auffächerte und man sich langsam entscheiden musste, in welche Ecke man sich
stellen wollte: Wollte man zu den langhaarigen Typen gehören, die mit
Filzstiften Anarchy-Zeichen auf ihre grünen Bundeswehrtaschen malten? Wollte
man die links-liberale Variante der Schultaschenkultur wählen, also eine jener
braunen Ledermappen, die einen schon damals als jemanden auswiesen, der die
eigene Langweile hinter gutem Geschmack zu verstecken versteht? Oder wollte
man so werden wie jene Schrumpfform der mittleren Angestellten, die im
Gymnasium mit Aktenkoffern auftauchten, in denen sie ihre Lineale verstauten
und auch die Ideale, die sie nie gehabt hatten? Das waren so die ideologischen
Alternativen in einer Zeit, als man damit begann, die Inhalte endgültig gegen
Äußerlichkeiten einzutauschen. Was bin ich? Es war ein
heiteres Biographienraten.
Mir hatte es jedenfalls das Hirn vernebelt. Was sollte dieser Aufkleber
bedeuten? Dort, wo auf unserem Autoaufkleber die Solarstromsonne lachte, da
glotzte jetzt blöd eine Art Neandertaler hervor. Sonst war alles gleich, die leicht
gerundete Schrift, die rote Energieblase in der Mitte, nur das Gelb war vielleicht
ein wenig dunkler. War das also, dachte ich, die weiter gedachte Form des
Atomprotestes? Sollte das bedeuten, dass nach einem Atomunfall wir alle wieder
in der Steinzeit anfangen müssten? Aber, und das war das wirklich Irritierende:
Wenn dem so war, was machte dann der Aufkleber auf dem Aktenkoffer, diesem
Symbol für die falsche Gesinnung?
Und schon war ich hineingerutscht in jenen Strudel, der dieses Land erfasst
zu haben schien, das nicht wusste, was es wollte, sondern nur, was es nicht
wollte. Ein Land, das zwischen zwei Extremen hin und her gerissen wurde und
die Bipolarität als Entschuldigung für die eigene Unentschiedenheit benutzte.
Ein Land, das zwischen Zweifel und Selbstvergessenheit schwankte. Ein Land,
das auf ein Fundament von Angst gebaut war. Warum fiel es mir so schwer, den
Sinn des Aufklebers zu verstehen? Der Feind meines Feindes ist mein Freund?
Natürlich war diese Aufkleberaktion damals gesponsort von der Firma Siemens.
Genau das war das Dilemma jener Jahre: Dass es schwer war, die Dinge
einfach so zu sehen, wie sie waren. Hinter der glatten Formensprache jener Jahre
verbargen sich alte, böse Sätze und neue, bunte Konflikte. Es war eine wohlige
Zeit, keine Frage, aber doch eine Zeit, die sich darauf verlassen musste, dass
keiner ihr Agreement störte. Und gerade darum war es schließlich so erlösend,
als einer wie Rainald Goetz daher kam und einfach den Vorhang zerriss. Goetz,
der Sänger dieser BRD-Jahre, hatte den Ausweg aus dem Dilemma formuliert:
“Der Feind meiner Feinde”, schrieb er, “ist auch mein Feind.”
Der Alden-Schuh

Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen. Wo der Bäcker die Brötchen in der
Früh vor die Tür warf und die Mütter zur Kirmes mit dem Fahnenschwenker des
Spielmannszuges auf der Straße tanzen mussten. Zum Haareschneiden besuchte
man den Dorffriseur, einem schweigsamen Trinker, der nur am Fußballfeld
manchmal die Fassung verlor und dann entfernt werden musste. Wie beschreibt
man einem Friseur den gewünschten Haarschnitt? “Du sagst: Der übliche Facon-
Schnitt”, assistierte meine Mutter. Weder ich noch der Friseur wussten, was ein
“Facon-Schnitt” ist, aber das änderte nichts am Ergebnis: Er schor mir auf die
immergleiche Weise den Schopf, und weil ich mich genierte, ließ ich den Kopf
gesenkt und beobachtete, wie seine Schuhe durch meine Locken wateten.
Schöne Schuhe, erwachsene Schuhe, Alden-Schuhe, wie ich heute weiß,
voller edler Lochlitzen, Ösen und kleiner Punzierungen. Es war die Zeit, in der
das Wort “Halbschuhe” noch am Leben war und so klang wie “Halbblut” oder
“halbstark”. Deshalb blickte ich auf diese Schuhe zwar hinab, doch eigentlich
blickte ich zu ihnen auf, gewissermaßen aus der Froschperspektive. Denn damals
kamen meine Schuhe von Salamander, weil es dort “Lurchis Abenteuer” gab,
das Heft zum Halbschuh, mit Piping, Olm und Unkerich, dem froschgewordenen
Hoss Cartwright, und Versen wie: “Dass gesund ein jeder wander’, braucht ihr
Schuh von Salamander. Lange schallt’s am Brunnen noch: Unser Lurchi lebe
hoch!”
Naja, jedenfalls blieben die Schuhe des Friseurs jahrzehntelang meine
Blaue Blume der Fußbekleidung. In meiner Erinnerung saßen sie fremd und edel
an seinen Füßen wie ein Adelsprädikat, und im Schaufenster des dörflichen
Schusters suchte man sie natürlich vergeblich. Was hätten sie dort auch zu
suchen gehabt, diese Meisterstücke angelsächsischer Tradition und Noblesse?
Schon damals existierte eine Kultur der Schuhe. Bata Illic sang “Schuhe so
schwer wie Stein” und “Ich hab noch Sand in den Schuhen von Hawai”, und als
er später mit “Meine Schuhe, deine Schuhe” herauskam, glaubte ich kurzfristig
an die innige Verbindung zwischen Showgeschäft und Schuhgeschäft.
Vermutlich war er auch der Begründer der Kette “Bata”. Denn dort waren die
Schuhe wie er: Zwischen “transsilvanisch schaurig” und “von zeitlosem
Design”. Jedenfalls waren damals die Ladenketten noch wichtiger als die
Marken.
Es sollten viele Jahre bis zur Alden-Reife vergehen, Jahre, die ich mit
gesichtslosen Slippern von “Schuh Spath”, dem Bonner Fachgeschäft für
Übergrößen, überbrückte: “Sie leben auf großem Fuße”, pflegte der Zwei-Meter-
hohe Verkäufer jedes Mal zu sagen, zu jedem. Damals hatte ich Schuhgröße 46.
Nach Tschernobyl sind meine Füße dann auf 45 geschrumpft. Trotzdem kann
mein lieber Freund Hans heute immer noch mit seinen Schuhen komplett in
meinen verschwinden wie in einem Futteral.
Ein paar Jahre brachte ich mich dann noch durch mit leichtem, schnell
zerschlissenem Schuhzeug aus Italien oder mit Wildledertretern, deren
Brandsohle rutschfest und schweißfördernd wirkte. Sie erinnerte mich daran,
dass in den galanten Romanen des Restif de la Bretonne aus dem 18. Jahrhundert
immer wieder am Schuhzeug geschnüffelt wird, weshalb man in der
Sexualwissenschaft diese Vorliebe “Restifismus” nennt. Alden-Schuhe sind
nichts für Restifisten.
Vor zehn Jahren war es dann endlich so weit. Vor meiner ersten Sendung
auf Premiere kamen dem Sender Zweifel an meinem “Stil”. Dieser manifestiere
sich zunächst in den Schuhen, hieß es, und auch wenn diese Schuhe in den
kommenden Jahren unter dem Tisch blieben und nie das Licht der
Fernsehkamera erblicken sollten, wurde mir eine Stylistin zur Seite gestellt mit
dem Auftrag, das Dilemma an meinen Füßen zu lösen. Jacqueline wusste sofort,
was sie wollte, strebte in ein Fachgeschäft für den englischen Landedelmann und
öffnete einen grünen Hartpappekarton, in dem zwischen moosfarbenen
Seidenblättern ein eierschalbeiger Flanellsack lag, das Futteral des Klassikers,
“Alden’s Masterworks”, lieferbar als “Wing Tip Bal Oxford”, “Long Wing
Blucher Oxford” oder “Plain Toe Blucher Oxford”, und zwar in den Farben
Braun, Schwarz und Aubergine.
Aubergine ist die Farbe für die Blaue Stunde, die Farbe, mit der man sich
auch um 20 Uhr noch erwischen lassen darf. Diese Schuhe hatten die Füße
meines Friseurs geziert, jetzt sollten sie meinen ersten Schritt ins Fernsehen
begleiten. Facon Schnitt. Long Wing Blucher. Allwetter-Walker. Und unter dem
golden eingeprägten Wappen auf jedem Schuh die Inschrift: “Alden. New
England”. Auch im fernen Massachusetts weiß man, dass ein Schuh nobler wird,
wenn man ein “Oxford” hinzusetzt. “Rule Britannia”, sagt man sich dort, regiere
unsere Herren-Schuhmode. Das tat sie viele Jahrzehnte lang.
Als Oscar Wilde nach Amerika kam, nannte er sich “Professor für Ästhetik”
und “Kleidungsreformer”, bedauerte, dass Luther immer so schlecht gekleidet
gewesen war, und fand nur bei den Bergarbeitern der Rocky Mountains in ihren
schwarz-roten Monturen echten Stil. Sie umarmte er, nachdem er ihnen das
Versprechen abgenommen hatte, niemals ihre Arbeitskleidung zu wechseln.
Und was für Schuhzeug werden diese Arbeiter getragen haben? Genau.
“Custom Bootmakers since 1884″ sind Alden, kein “Appointment by Her
Majesty the Queen”, sondern gute, reale Stiefel-Hersteller, die die Solidität ihrer
Fabrikate mit der konservativen Eleganz britischer Snobs versöhnten und in der
Fertigung doppelt genähte Ledersohlen, Kalbslederfutter, feinstes Wildleder oder
Lederabsätze mit Gummi-Intarsien verarbeiteten. Zusammengehalten wird das
Ganze von einem flexiblen Stahlrahmen, der jeden Detektor am Flughafen zum
Ausschlag bringt, sich dem Fuß aber nach einiger Zeit so geschmeidig anpasst,
dass er Individuum sein darf. Jeder Alden-Schuh ist ein Solitär, doch in
jahrelanger Kohabitation formt er sich mit, so dass er schließlich nur noch an
diesem einen Fuß seine volle Wirkung entfaltet.
Erst trug ich mein Paar Alden-Schuhe nur im Studio. Aber das bekam ihnen
nicht. Sie blieben steif und feierlich und ihre Oberfläche opak. Dann nahm ich
sie mit in die Stadt, zerkratzte die Sohle auf dem Asphalt, ließ die Regenwolken
über das Deckleder ziehen, schlurfte im Wald durch Pfützen und Laubhaufen
und feierte diese ganze Rückreise in die Kindertage mit dem Sinnesorgan der
Schuhe, die mir, vielleicht zehnjährig, damals auf dem Boden des Friseurs zuerst
begegnet waren.
Allmählich bekamen meine Aldens Falten, dann wurde eine Physiognomie
daraus, am Ende hatten sie Charakter und heute, zehn Jahre nach ihrer
Anschaffung, müssten sie eigentlich ihr Gnadenbrot bekommen und an
Materialermüdung leiden. Statt dessen sahen sie nie besser aus als heute. Im
Alter sind sie wie von innen errötet, ihr Aubergineton ist noch tiefer, ihre Patina
in mehreren Schichten so durchsichtig, als hätte Tizian eine Komposition in Rot
mit hundert Lasuren überzogen, und man könnte durch die obersten Schichten
hindurch irgendwo bis auf den Grund des Leders sehen.
Und nicht genug von solcher archäologischen Sentimentalität. Im Innern
des Schuhs hat der Hersteller – ein Arbeiter mit Kittelschürze? eine schweigsam
arbeitende Directrice? – mit schwarzer Tinte eigenhändig ein paar Runen und
Zahlen auf dem weichen Leder der Fütterung hinterlassen, eigentlich eine
Höhlenmalerei, die an die Kreidenotate der Dreikönigssinger auf dem Balken
über der Tür erinnert. Jedenfalls eine Signatur, eine persönliche
Hinterlassenschaft der Handarbeiter, eine Geheimschrift, vermutlich geeignet,
den Schuh auf der einen Seite bis zu mir, auf der anderen bis zum Kalb
zurückzuverfolgen.
Heute sind diese Schuhe keine Schuhe mehr, sondern die Manifestation der
Jahre, die über sie dahingegangen sind. In Heideggers Aufsatz über das Wesen
des Kunstwerks gibt es eine Passage über das Bild der Bauernschuhe von Van
Gogh. Diese Schuhe, sagt Heidegger, sind nicht einfach die malerische
Repräsentation eines “Zeugs” oder Arbeitsgeräts, sie sind ein Residuum der
Geschichte. In ihnen malt Van Gogh nicht das Leder, das Schnürbändel, die
Ösen, die Falten des Spanns, er malt den blinden Griff des Bauern in der Früh,
wenn er noch schlaftrunken nach seinen Stiefeln greift, malt die stumme
Wiederholung dieses Griffs, die Ewigkeit der Strapaze, die der Schuh für den
Bauern und mit ihm erleidet.
Jeder in Würde alt gewordene Gegenstand trägt diese Zeichnung und gibt
so seine Geschichte preis. Aber heute werden die Gegenstände nicht mehr in
Würde alt. Sie welken kaum und zerfallen abrupt. Wenn man aber einen Alden-
Schuh besitzt, dann hat man etwas, das man täglich belasten kann, und das
einem doch beim Altwerden Gesellschaft leistet, weil es selbst nicht spurlos älter
wird. Alden-Schuhe kann man einschicken, dann werden sie in den Nähten
erneuert und erhalten ein frisches Innenleben, aber der Schuh, der mit dem Fuß
alternde Schuh, er bleibt, bis sein Besitzer mit den bloßen Füßen zuerst an ihm
vorbeigetragen wird. So bleibt er zurück. Nicht umsonst findet sich auf alten
Gemälden ein Paar Schuhe oft als Symbol für Treue: Aldens Ahnen, I suppose.
Onkel Otto
Deutschland, das war für mich, der ich kurz vor dem Mauerbau im Osten
geboren wurde, Westdeutschland. In der Schule sagten sie und in der Zeitung
schrieben sie BRD, für mich war das Deutschland, höchstens Westdeutschland.
BRD war für uns “BRD”. Lange bevor dieser Begriff die Diskurse erreicht hatte,
vielleicht sogar, bevor er überhaupt geprägt worden war, erfuhren wir so eine
unbegriffliche Faszination: die der virtuellen Realität. Deutschland war eine
virtuelle Gegenwart. Man konnte es nicht anfassen, man konnte nicht
hineintreten, man konnte es nicht mit Steinen und Schneebällen bewerfen, es
nicht beschimpfen, nicht mit ihm spielen, und doch, es war da.
Eines Abends, ich mochte gerade in die Schule gekommen sein, stand die
“BRD” auf meinem Abendbrotteller: etwa sieben Zentimeter groß, aus grauem
Gummi, mit schwarzen Plattfüßen, die Arme vor dem tropfenförmigen Körper
verschränkt, darüber ein üppiger Schnurrbart und darüber zwei große, tiefe ovale
Augen. Für mich musste die “BRD” keine Figur machen, um in mir ein heißes
Glück zu entzünden. Die Figur hier sah traurig zu mir hoch und meinte es
bestimmt gut mit mir.
Es war tatsächlich Onkel Otto, der Mann aus dem Westfernsehen, den ich
bislang nur als Schwarz-Weiß-Zeichnung in kurzen Sequenzen zwischen
Werbespots über den Bildschirm klettern gesehen hatte, und jetzt stand er stumm
und rund vor mir. Was für eine Sensation! Mit zitternden Händen nahm ich ihn
in die Hand und drehte ihn nach allen Seiten. Wie leicht er war! Innen hohl. Und
nach Gummi roch er. In die Sohlen war ihm das Zeichen seines
Herkunftssenders eingelassen: “hr”. Über den Rücken lief eine Gussnaht. Der
Schnurrbart wölbte sich prächtig über den Körper, die Pupillen ruhten schwer in
der blütenweißen Iris. Nur eines war ihm auf den Weg aus dem Bildschirm zu
mir auf den Teller abhanden gekommen. Der Kopfschmuck, ein kleines
Antennengestell, aus dem ich schon vor der Einschulung ein großes H
herausgeziffert hatte. Diese Antenne ersetzte vermutlich die Ohren, die ebenso
an Ottos Körper fehlten wie Rumpf und Beine. Onkel Otto, das war nichts als
ein grauer tropfenförmiger Kopf mit Händen und Füßen.
Ich stellte ihn wieder auf den Teller und ließ mich nur nach etlichen
Ermahnungen dazu bringen, ein Brot mit Blutwurst zu essen. Dann eilte ich
hinüber ins Wohnzimmer. Der Vater schaltete den Tesla-Fernseher ein. Da die
Plastikflügelschraube des Gerätes vom vielen Hin- und Herschalten ein Spiel
bekommen hatte, sodass die Bildeinstellung rasch verrutschte, klemmte der
Vater die Schraube mit zwei Streichhölzern fest. Endlich glühte der Bildschirm
auf. Wir hatten uns rechtzeitig zugeschaltet. Ein gemalter Vorhang kam ins Bild,
auf den jemand das Wort “Werbung” mit fast genau der Schrift gezeichnet hatte,
die ich gerade in der Schule lernte. Dann erschien in derselben Schrift: “Gleich
kommt Otto!”
Die Aufregung war kaum auszuhalten. Ich kniete vor dem Apparat, die
Gummifigur in den feuchten Händen. Das Jingle ertönte, Ottos Hymne, und
schließlich tauchte der Star auf mitten im zitternden, grobkörnigen Bild.
Gelassen tappte er mit seinen Plattfüßen von links nach rechts, elegant trug er
eine Kochmütze, bevor er eine Sauce in dem Topf vor sich ausprobierte, er
drehte mit einem Propellerflugzeug eine Runde durch die Elektrodenstrahlröhre
und am Ende setzte er sich zu den Takten seiner Hymne auf eine Eisenbahn und
fuhr aus dem Bild hinaus. Kurz bevor er verschwand, drehte er sich noch einmal
zu mir und meinen Eltern herum, winkte und rief uns “Auf Wiedersehen” zu.
Das war eine der wenigen Gelegenheiten, zu denen Otto preisgab, dass er
sprechen konnte. Aber mit was für einer Stimme! Sie klang hoch und tief
zugleich, wie übereinander langsam und schnell aufgezeichnet. Diese Stimme
versetzte mir stets einen leichten Schauer. Ein bisschen gespenstisch war Otto
eben doch. Und nun hielt ich ihn in der Hand. Den Star des Vorabend-
Werbefernsehens.
Ich trug ihn immer bei mir, in der Schule, in der Kirche, beim Fußball,
heimlich. Denn Otto war der Herold des Klassenfeindes beim Hessischen
Rundfunk, und so, wie ihn der Vater durchs Umschalten des Fernsehsenders vom
Bildschirm vertrieb, sobald überraschend jemand am Abend an unserer Haustür
klingelte, so verbarg ich den Gummibegleiter sorgfältig vor den Augen “anderer
Leute”, wie zu Hause all jene Mitbürger genannt wurden, die nicht unsere Leute
waren.
Eines Wintermorgens in der Schule ordnete der Klassenlehrer eine
Taschenkontrolle an. Vermutlich ging es wie sonst um Kaugummis, ich hatte
andere Sorgen. In der Not, meinen treuen Freund und Fernsehstar nicht anders
verschwinden lassen zu können, bohrte ich ein Loch in meine Hosentasche und
ließ Otto dadurch verschwinden. Der Gummikörper glitt zwischen der langen
Unterhose und der Skihose an meinem rechten Bein hinab. Da das Hosenende in
einem Winterschuh steckte, fand Otto auf meinem Fußknöchel in der Hose seine
Ruhe. So ließ ich stehend die Taschenkontrolle über mich ergehen und wagte es
erst, den Freund aus seiner Lage zu befreien, als ich Stunden später das
Schulgelände verließ. Nun hatte ich ein reales Loch in der Tasche, aufgerissen
für die Warenwelt, deren Zuschauer ich war.
Otto, den wahrscheinlich nur ich aus Gründen damaliger Wohlerzogenheit
Onkel Otto nannte, denn der Mann hatte einen Bart und keine Haare auf dem
Kopf, Otto wurde mein konspirativer Gefährte. Mit ihm – der Animationsputte –
teilte ich, mit ihm trug ich umher das Geheimnis, Abend für Abend mit den
Eltern in jene faszinierende Welt einzutreten, die andere Leute die “BRD”
nannten und die für uns ein virtuelles Paradies war. Man sang und dichtete aus
unserem unzuverlässigen Tesla-Fernseher heraus von Aurora mit dem
Sonnenstern, Sanso und Kinderschokolade. Dazwischen tanzte Otto vor einem
Schallplattenspieler, schob sich eine Tafel Schokolade quer in den Mund, dass
der Kopf einen Augenblick lang fast wie ein Kreuz aussah, oder der Kamerad
putzte sich mit einer viel zu großen Bürste seine Zähne, die er in jener Szene zu
diesem Zweck seinem bestürzten Zuschauer darbot.
Auch das war jedoch von unwiderstehlichem Zauber. Alles, was das Auge
begehrte, erreichte uns durch die feinen Elektronenstrahlen im schwarzen Kanal.
Natürlich nicht alles, aber alles, was schön und unerreichbar war. Virtualität. Ich
saß mit fieberglänzenden Augen im Wohnzimmer und sah hinüber in diese
andere Welt, sah Dieter Thomas Heck durch seine Hitparade fuchteln, Daniel
Gerard “Butterfly” singen, Flipper in den Pazifik eintauchen und Daktari im
Dschungel verschwinden. Karl-Heinz Negerlein berichtete von den
Skiabfahrtssiegen des Karl Schranz, über Chamonix der Fels, der Firn, das
Firmament, nie gesehen und immer dabei gewesen.
Otto, das war ein Meister des Blendwerks Deutschland. Für mich, der ich
mit Selters und vorläufig ohne Sekt durch den dürftigen aber ordentlichen Alltag
schlenderte, tagsüber entlang der leeren Schaufenster von HO und Konsum, in
deren Spiegelbild ich im Vorübergehen meine bescheidene Figur ausmachen
konnte, abends den Blick ans Schaufenster des unerreichbaren Paradieses
geheftet, Auge in Auge mit Onkel Otto, für mich entfaltete diese Figur den Eros
der BRD. Otto war allgegenwärtige Verführung, ein Erote des Konsumreichs.
Ich fühlte ihn in der Hosentasche, sah ihn vor mir, sobald ich auf einen Wrigley
Spearmint Gum biss, das mir ein Mädchen aus der Nachbarschaft geschenkt
hatte, später musste ich sogar bei der Entdeckung von Rolling Stones und Jimmy
Hendrix an ihn denken, und selbst Peter Frankenfeld und Costa Cordalis
probierte ich in meiner Fantasie Ottos Schnurrbart an und fand, dass sie das noch
sympathischer machte, als sie schon waren.
Doch die Verheißungen, die Otto machte, blieben in der Regel virtuelle
Verheißungen. Das Glück, dessen Abglanz uns durch die schwarzen Kanäle
erreichte, war tatsächlich ein Gegen-Glück. Je länger man hinschaute, je tiefer
man begehrte, um so rascher kam auch die Einsicht, dass alles Schauen und
Begehren eitel ist und schnöder Tand. Man sah die da drüben in ihren
Hamburger beißen, in ihren Mercedes einsteigen, umspült von der Frische der
Limonen, trank seinen Muckefuck mit Pfefferminzschnaps und hüllte sich ein in
den stoischen Nebel von F 6 und Karo. Nein, an diesem Ende des schwarzen
Kanals, im Osten Deutschlands, musste man sich nicht vor dem Glück in Acht
nehmen. Hier gab es leichtes Unglück und bittere Zufriedenheit. Aurora hatte
keinen Sonnenstern, der Pullover war nicht schäfchenweich und statt Asbach
Uralt und dem Geist des Weines gab es 96-prozentigen Schachtschnaps und die
Dokumente des VI. Parteitags der SED. Otto, der Mann auf der Schwelle, nährte
die Verführung des Westens, und zugleich entzauberte er sie. Denn Erfüllungen
waren unmöglich. Der Vorhang blieb unten, die Welten blieben getrennt, die
BRD die “BRD”. Ein virtueller Supermarkt, aus dem wir ausgesperrt waren,
aber durch die Gitterstäbe hindurch sahen wir die vollen Körbe.
Der Eros aus dem Supermarkt weckte neues und immer neues Verlangen.
Böses Verlangen. Lust auf reale Lust, Lust auf Konsum, Lust auf das andere, das
reale Ende des schwarzen Kanals, auf die Heimat von Onkel Otto. Dann war das
Verlangen nicht mehr aufzuhalten. Der Vorhang zerriss. Die Lust hechelte durch
die Regale, erst fiel man sich gegenseitig in die Arme, später in den Arm. Vorerst
folgte auf die Befriedigung der Lust neues Verlangen. Die Zeit der Ernüchterung
begann. Die gute Zeit nach dem Frieden im Konsumglück. Sie ist noch nicht
vorbei. Den Gummigefährten habe ich irgendwann verloren. Doch Onkel Otto
setzt sich immer noch auf die kleine Eisenbahn und ruft uns vergnügt und
unbewegt zu: “Auf Wiedersehen!”

Die Tür des P1
Es muss so ums Jahr 1982 herum gewesen sein – und die Erinnerung sagt: Es
war eine schöne Nacht -, als der Türsteher, stud. phil. Jan Klophaus, es mit vier
Männern zu tun bekam, die lange Haare hatten, was schon mal sehr gegen sie
sprach; und was sie so an den Füßen und um die Schultern trugen, entsprach erst
recht nicht dem hier herrschenden Geschmack; ein bisschen zu alt waren sie
außerdem. Der Türsteher jedenfalls signalisierte: Leider nein, Jungs. Einer der
Abgewiesenen sagte: “Wir sind aber die Scorpions.” Die Antwort war denkbar
knapp: “Eben!”
Die beste Zeit von Deutschlands bester Diskothek: Das waren die Jahre von
Brokdorf und der Startbahn West, die Zeit also, da junge Erwachsene, die noch
studierten und deshalb über reichlich freie Zeit verfügten, von dem Drang
gepackt wurden, sich in großen Mengen an jene Orte zu begeben, wo möglichst
große Hindernisse standen, die es dann zu überwinden galt. Es waren in erster
Linie die Absperrungen am Startbahnbauplatz, welche die Demonstranten
reizten, und erst in zweiter Linie war es die Frage, wie viele Bäume fallen
mussten – zumal ja jene, die eine Startbahn verhindern wollten, dieselben waren,
die beim Studentenbilligreisebüro gern einen Flug nach Griechenland oder
Richtung Gomera buchten und dabei auch nicht lange fragten, worauf, wenn
nicht auf einer Startbahn, denn ihre Boeing in die Lüfte schoss. Das Öko-Pathos
war nicht mehr als eine Pose – worauf die Titanic mit folgendem Sinnspruch
völlig angemessen reagierte: “Erst wenn die letzte Mark verjubelt, der letzte
Schein verprasst, der letzte Groschen gefallen ist, werdet ihr merken, dass man
mit Bäumen nicht bezahlen kann.”
Es scheint ein langer Weg zu sein, von der Startbahn West in die Münchner
Prinzregentenstraße – und natürlich waren jene, die sich in den Wäldern südlich
von Frankfurt mit Polizisten prügelten, nicht dieselben Leute, die in München in
einer langen Schlange vor der Tür des P1 standen; sie gehörten aber derselben
Generation an, und was sie antrieb, war ein sehr ähnlicher Impuls: Auch dieses
Hindernis war kaum zu überwinden – wobei die Anfahrt bequemer war,
jedenfalls wenn man in München lebte (und wo sonst konnte man leben in den
frühen Achtzigern?).
Das Spiel, das dann aber losging vor der Tür des P1, unterschied sich vom
großen, gefährlichen Startbahnspiel vor allem dadurch: Es folgte Regeln, die viel
subtiler waren – weshalb mancher, der da mitspielte, diese Regeln gar nicht
durchschaute. Es gab ja viele Leute, die einmal abgewiesen wurden und
trotzdem wieder kamen, viele mehrmals, manche einen ganzen Sommer lang –
und wer weiß, wenn sie, die angeblich da hinein-wollten, wirklich
hineingelassen worden wären: Sie hätten die Enttäuschung ihres Lebens gehabt.
“Ihr, die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren!” So steht es am Portal der
Hölle, wenn man Dante Alighieri glaubt – und so stand es auf der Stirn des
Türstehers für jene, die die Zeichen lesen konnten. Wer durchgelassen wurde,
ohne mit dem Schlimmsten zu rechnen, fand sich in einer ähnlichen Situation
wie der Startbahngegner, der womöglich die Polizeisperren überwand: Was
wollte er hier? Wo war er, wenn nicht auf der falschen Seite?
Und vielleicht lag ja genau darin das Genie des Münchner Türstehers: Er
ersparte vielen nicht nur den Schock, plötzlich drin zu sein. Er verschaffte ihnen
auch Sinnstiftung und jene Differenzerfahrung, nach der sich fast jeder junge
Mensch sehnte, der im sozialdemokratischen Deutschland aufgewachsen war.
Die draußen blieben, formierten sich zu einer Demonstration; und ob sie das
wollten oder nicht, formulierte ihre pure, massenhafte Anwesenheit vor dieser
Tür genau die gleiche Botschaft, welche der kommunikative Kern jeder
Demonstration ist: Wir sind da. Wird sind viele. Und im Prinzip sind wir
dagegen. Gegen Türsteher! Gegen die herrschenden Verhältnisse, zumindest im
Nachtleben! Gegen die Ungleichbehandlung der Geschlechter, welche sich darin
zeigte, dass hübsche junge Frauen eigentlich immer eintreten durften (und dies,
in besonders grausamen Momenten, auch taten, ohne Rücksicht auf ihre
männlichen Begleiter). Wer also draußen stand und demonstrierte, hatte
vielleicht Glück und bekam einen Überschuss an Differenz in Gestalt der Fürstin
Gloria von Thurn und Taxis geliefert. Wenn die abends anrauschte, mit Gerhard-
Meir-Frisur, Gaultier-Kleid und großer Entourage: Dann wusste man gleich
wieder, dass man draußen auf der richtigen Seite der Türe stand.
Wenn einer aber doch hineinwollte, dann half es ihm wenig, wenn er mit
seinem knappen Studentenetat so diszipliniert umging, dass er, nach einem
Dreivierteljahr vielleicht, sich seine ersten pferdeledernen Alden-Schuhe leisten
konnte oder so einen silbrig-grauen Anzug von Katherine Hamnett, wie ihn die
Männer von ABC auf dem Cover von “The Look of Love” trugen. Wer vor der
Tür stand, konnte sehr schön sehen, wie einer in Turnschuhen hineindurfte und
einer im Anzug leider nicht.
Was da geschah, zwischen dem Türsteher und dem, der hindurchwollte
durch diese Tür, sah wie das böse Spiel von Willkür und Unterwerfung aus und
wurde wohl auch von vielen genau so empfunden. Und die Dimensionen der Tür
und des ganzen Baus, den Hitlers Architekt Paul Troost in den dreißiger Jahren
an den Rand des Englischen Gartens gestellt hatte; dieser ganze ebenso vulgäre
wie einschüchternde Neoklassizismus: Das verstärkte den Verdacht, dass alles,
was hier vor sich ging, diese Menschenauswahl, diese brutalen
Zurückweisungen, die nur auf dem äußeren Schein beruhten, dass das alles eine
gefährliche Nähe zur faschistischen Ästhetik habe.
In Wirklichkeit fand sich der Schlüssel zum Verständnis dieser Tür viel eher
in Kafkas Erzählungen: “Vor dem Gesetz” heißt die böse Parabel, in welcher ein
Mann vom “Türhüter” (wie Klophaus’ Kollege bei Kafka heißt) zurückgewiesen
wird. Es ist die Tür zum Gesetz, und sie steht offen, aber der Türhüter warnt den
Mann davor, einfach hindurchzugehen – und am Ende, nachdem er sein Leben
lang auf die Einlasserlaubnis gewartet hat, erfährt der Mann, dass diese Tür nur
für ihn bestimmt war.
Man durfte keine Angst vor dem Türsteher haben, dann war man auch
schon drin im P1 – womit noch lange nichts gewonnen war; fast wie bei Kafka,
wo es heißt, dass hinter dem ersten Türhüter noch ein viel schlimmerer zweiter
komme, und den Anblick des dritten könne keiner mehr ertragen.
Das Budget reichte höchstens für drei kleine Biere, die man aber möglichst
nicht trinken durfte – weil sonst der Kellner gleich das nächste brachte. Das Bier
war nichts als ein Zeichen dafür, dass man kein weiteres brauchte – und wenn
einer vom Tanzen und der Hitze richtig durstig wurde, drückte er das wertvolle
Glas seinem Nachbarn in die Hand, rannte in den Waschraum und trank Wasser
aus der Leitung. Natürlich stimmten all die Gerüchte über Orgien und Exzesse –
aber zunächst mal war die Mischung aus Tanzen, Schwitzen, Leitungswasser
trinken (das Mineralwasser war noch teurer als das Bier; eine Flasche
Champagner nahezu unbezahlbar) eine besonders anspruchsvolle Übung in
Askese.
Dass es reicheren Leuten auch nicht viel besser ging, dass es hier immer
einen Tanz um ein absolut leeres Zentrum gab, das hat ganz anschaulich
Alexander von Schönburg beschrieben, der Bruder der Fürstin Gloria, der in dem
Buch “Tristesse Royale” davon berichtet, wie es dem Superstar Prince damals
ging im P1. Der Mann stand ganz oben auf der Empore, dem allerbesten Platz.
Unten standen die Mädchen, die ihn kennen lernen wollten, und knöpften ihre
Blusen auf. Und Prince stand da und langweilte sich und wollte nur noch in die
Hotelbar gehen.
Das war das P1 in seiner großen Zeit. Eine Tür, weiter nichts. Auf beiden
Seiten war draußen.

Die Kicker-Stecktabelle
Am Sonderheft der Zeitschrift Kicker, das jeden Sommer zum Bundesligastart
erschien, hatte sich jahrelang der Verlauf der eigenen Biographie zu messen.
Schon beim ersten Überfliegen der Vereinsstatistiken galt unser Augenmerk der
Spalte mit den Geburtsdaten der Spieler, um sicher zu stellen, dass noch
ausreichend Zeit blieb, die eigene Karriere voranzutreiben. Es bestand kein
Grund zur Sorge: Selbst die jüngsten Spieler im Kader der Mannschaften waren
noch weitaus älter als wir, höchstens Jahrgang 1965 oder 66. Wir am Ende der
sechziger Jahre Geborenen lagen also im Soll, und solange kein einziger
Fußballer die Schallmauer des Jahres 1970 durchbrochen hatte, war ohnehin
alles in Ordnung. In Ruhe konnten wir uns den Neuerungen der anstehenden
Spielzeit widmen: den Informationen über die Zugänge und Abgänge der
einzelnen Clubs; den ganzseitigen Mannschaftsfotos, in der Hoffnung, auf den
Trikots mancher Teams einen neuen Werbeschriftzug zu finden; und schließlich,
in der Mitte der Zeitschrift, der berühmten Karton-Stecktabelle zum
Heraustrennen. Dieser Augenblick markierte vielleicht den eigentlichen
Startschuss zur neuen Saison: Wenn wir in mühevoller Arbeit die Embleme der
18 Bundesliga- und 20 Zweitliga-Mannschaften von der Pappe lösten und sie in
jener Reihenfolge, die wir für das kommende Jahr erwarteten, zum ersten Mal in
die Ritzen der Tabelle steckten (wobei wir uns den Aufwand bei den
unbekannten Wappen der Zweiten Liga sparten). Die Tabelle mit den
Bundeligaclubs aber wurde noch am selben Tag mit ein paar Nägeln über dem
Bett befestigt.
In der Anziehungskraft der Vereinsembleme bewahrte sich das Wappen
noch etwas von jener Autorität, die es als Erkennungszeichen von Familien oder
Städten längst eingebüßt hatte. Die vergessene Bedeutung der Heraldik überlebte
nur noch im Bereich des Fußballs – was sich etwa daran zeigte, dass ich nichts
über das offizielle Wappen unseres Bundeslandes wusste, die Musterung des
roten FC-Bayern-Emblems jedoch bis ins letzte Detail hätte beschreiben können.
Für mich waren dieses und jenes ohnehin identisch. Die Vereinswappen
verschafften uns auf diese Weise eine erste Vorstellung von der Gestalt des
Landes, in dem wir lebten: eine Farbenlehre der Bundesrepublik. Bremen etwa
war von Beginn an mit der Farbe Grün assoziert, und als ich Jahre später zum
ersten Mal tatsächlich dorthin fuhr, kamen mir die zahlreichen Parks wie
Indizien vor, genauso wie in Dortmund jede Telefonzelle oder jedes Postamt das
unwiderruflich Gelbe dieser Stadt bestätigte. Das Wissen über die Geographie
des Landes nahm seinen Anfang über den Fußball – das erwies sich auch an
jener großen Deutschland-Karte, die das Kicker-Sonderheft oder die Panini-
Sammelalben jedes Jahr auf einer der ersten Seiten abbildete. Alle 18
Bundesliga-Vereine waren darin eingezeichnet, und Jahre vor der ersten
Erdkundestunde lernte ich durch sie einiges über die regionalen Merkmale der
Bunderepublik: über die dichte Besiedelung im Westen, mit so vielen
Großstädten, dass auf der Karte fast kein Platz für alle Vereine blieb; über die
Inselhaftigkeit Berlins, denn rund um das Emblem von Hertha BSC war bloßes
Brachland; über die luftige Größe Bayerns, mit dem monolithischen FC Bayern
München ganz im Süden.
Dass den Vereinswappen eine solche Bedeutung zukam bei der Ausprägung
unseres Fußballverstandes, lag vielleicht daran, dass sie schon zu einer Zeit über
Vorlieben und Abneigungen entschieden, da wir noch nicht einmal zu lesen
imstande waren. Ihr Wiedererkennungswert blieb dann über die Jahre hinweg
von unterschiedlicher Größe. Vermutlich täuschten wir uns, und es war alles eine
Sache der Gewöhnung: Dennoch schien von den Emblemen der traditionellen
Bundesliga-Vereine eine größere Überzeugungskraft auszugehen als von denen
der Aufsteiger und Zweitliga-Mannschaften – als würde sich das Format der
sportlichen Leistung auch im Ästhetischen widerspiegeln. Das leuchtende Rot
des 1. FC Kaiserslautern mit den mächtigen Buchstaben im Kreisinnern; die
schwarz-weißen Rauten des Hamburger SV auf blauem Grund; das klassische
blau-weiße Schild des VFL Bochum; die Runenschrift des VFB Stuttgart: Die
beständigsten Vereine dieser Zeit waren auch im Besitz der einprägsamsten und
am klarsten gestalteten Embleme. Wie anders dagegen die meisten Aufsteiger
oder die Clubs aus der Zweiten Liga, Mannschaften wie Blau Weiß Berlin, SV
Meppen oder Union Solingen. Schon im Bereich der Graphik brachten die
Vereine nicht die Voraussetzung mit, um zu einem wiedererkennbaren
Markenzeichen des deutschen Fußballs zu werden; zu kleinteilig und
unübersichtlich waren die Embleme, so schnell vergessen wie die Namen der
Spieler nach dem raschen Wiederabstieg. Diese Wappen waren nicht mit einem
Blick einzufangen, sondern setzten sich aus verschlungenen Linien und schwer
leserlichen Schriftzügen zusammen. Sie mochten einen Club vielleicht
bezeichnen, keineswegs aber verkörpern wie die Mönchengladbacher Raute oder
das Bochumer Schild, die sosehr zum ikonographischen Bestand der Liga
gehörten, dass ein Abstieg der Mannschaften allein aus diesem Grund
unvorstellbar schien. (Als es dann später doch geschah und etwa der rote 1.FC
Kaiserslautern-Kreis unter den Wappen der Zweiten Liga auftauchte, hatte das
beinahe etwas Unglaubwürdiges: ein zu gewichtiges Zeichen unter dem
restlichen Gemisch, merkwürdig deplaziert wie ein Fünfmarkstück im
Gitarrenkoffer eines Straßenmusikanten.)
Die Kicker-Stecktabelle hing die ganze Woche über wie ein Poster in
meinem Kinderzimmer, doch jeden Samstag vor der Sportschau wurde sie
heruntergenommen, um gleich nach den Spielberichten aktualisiert zu werden.
An diesen Abenden, wenn ich mit meinem Vater vor dem Fernseher saß, lernte
ich die Sprache des Bundesligafußballs kennen. Dass wir es mit einer Sprache zu
tun hatten, war wörtlich zu verstehen, denn die Vermittlung der Spiele hing
untrennbar zusammen mit den besonderen Redeweisen der Sportreporter. Sich
im Fußball auskennen hieß: den Code der Berichterstattung in der Sportschau zu
durchschauen, und so wurde ich an diesen Samstagabenden von meinem Vater in
die Kunst der Textinterpretation eingeweiht. Alles hatte damit zu tun, dass die
Sportreporter während der Aufzeichnung das Spielergebnis schon kannten, den
Zuschauern aber nichts verraten durften. Mein Vater besaß allerdings ein feines
Gespür für die Redeweisen der Reporter, und so geschah es im Verlauf einer
Sportschau immer wieder, dass er schon nach wenigen Sätzen des
Kommentators den Spielverlauf richtig vorhersagte. Vor allem bei den für uns so
wichtigen Spielen des FC Bayern bestand die Gefahr, dass er kurz nach Beginn
der Aufzeichnung, scheinbar aus heiterem Himmel, den Kopf schüttelte und
sagte: “So wie der redet, verlieren sie.” Ich konnte diese Kunst des Vaters zuerst
nicht nachvollziehen, hatte keine Vorstellung, womit er diesen Verdacht
begründete, doch mit der Zeit verstand auch ich, die Zeichen richtig zu deuten.
Wenn der FC Bayern etwa bei einem vermeintlich leichten Gegner anzutreten
hatte, kam es darauf an, wie stark der Reporter am Anfang die Übermacht des
Teams herausstellte. Tat er das auffällig deutlich; wog er die Fans in Sicherheit
und sprach von einer “lösbaren Aufgabe, die den Bayern nicht allzu viel Mühe
abverlangen” würde, war Vorsicht geboten. Wenn dann, nach einem frühen Tor
des Favoriten, sogar “alles nach Plan zu laufen schien”, rümpfte mein Vater die
Stirn, und es dauerte nicht mehr lange, bis er den verhängnisvollen Satz sprach.
Und genauso passierte es dann auch: Nach dem 1:0 zur Halbzeit kam der Gegner
“wie verwandelt aus der Kabine”, schoss das 1:1 und kurz vor Schluss sogar
noch den Siegtreffer.
Eine solche Niederlage des FC Bayern hatte dann auch immer
Auswirkungen auf meine Disziplin im Aktualiseren der Steckabelle. Ich hätte
das Bayern-Emblem von der Spitzenposition entfernen und etwa mit dem
unsympathischen Wappen von Werder Bremen vertauschen müssen, dessen
blasses Grün schon alles aussagte über die Farblosigkeit dieser Mannschaft. Also
brach ich mit meiner Gewohnheit, die notwendigen Veränderungen noch
während der Sportschau vorzunehmen, und hing die Tabelle in unverändertem
Zustand wieder auf. Abend für Abend, vor dem Zubettgehen, fiel mein Blick auf
die veraltete Reihenfolge der Embleme, und mit immer schlechterem Gewissen
nahm ich mir vor, mich gleich am nächsten Tag wieder um eine sorgfältige
Führung zu kümmern. Natürlich geschah das dann nicht mehr. Die Stecktabelle
blieb die ganzen nächsten Monate über auf dem eingefrorenen Stand jenes
frühen Spieltages, erstes Sinnbild der Ungeduld und des Nicht-bei-der-Sache-
Bleibens, die sich später in anderen Bereichen, beim Erlernen eines Instruments
oder beim Führen eines Tagebuchs, wiederholen sollte. Nur an einem
langweiligen Feriennachmittag im Winter, zwischen Weihnachten und Neujahr,
nahm ich den Karton noch einmal von der Wand und verwandelte die reale in
eine utopische Tabelle, mit Werder Bremen auf Platz 18 und
Überraschungsteams wie Waldhof Mannheim, FC Homburg und Arminia
Bielefeld auf den UEFA-Cup-Rängen, gleich hinter den Bayern. So blieb sie
dann hängen, bis im Juli die nächste Ausgabe des Kicker-Sonderheftes erschien.
Bald darauf kaufte ich mir die Zeitschrift nicht mehr. Andere Dinge wurden
wichtiger als das möglichst vollständige Wissen über sämtliche Bundesliga-
Vereine, und das Ende des Sportschau-Monopols, das fast ins gleiche Jahr fiel
wie das Ende der Bundesrepublik, bekam ich nur noch als zeitweiliger
Zuschauer mit, genauso wie das Auftauchen jener neuen, bis dahin nur aus dem
Europacup bekannten Embleme von Mannschaften wie Dynamo Dresden oder
Carl Zeiss Jena. Es verging vielleicht ein knappes Jahrzehnt, bis ich wieder
einmal einen Blick in das Heft warf. Der Reiz der Stecktabelle war vollständig
erloschen – ich trennte den Karton noch nicht einmal aus der Mitte des Heftes
heraus -, doch abgesehen davon hatte sich die Art und Weise, wie ich das Heft
las, nicht geändert. Wie damals richtete sich das Interesse sofort auf die
Geburtsdaten der Fußballer, und auch wenn ich es hätte besser wissen müssen,
erschrak ich ein wenig: Die ehedem magische Grenze von 1970 war von nahezu
allen Spielern überschritten worden; die Jahrgänge 1972 bis 1974 bildeten den
Durchschnitt, und es gab sogar ein paar Namen, hinter denen das Geburtsjahr
1980 oder 1981 stand: Zahlen, die ich zunächst kaum glauben konnte. Mitte der
sechziger Jahre war dagegen kaum mehr einer geboren, höchstens ein paar
Recken wie Thomas Helmer oder Jürgen Kohler. Ich legte die Zeitschrift mit
einem Gefühl weg, das ich bis dahin nicht gekant hatte: dass eine im Geheimen
stets offen gehaltene Option des eigenen Lebensweges, so illusorisch sie auch
sein mochte, tatsächlich nicht mehr einzulösen war.

Der Reisebürosonderzug
Wenn man sich an die BRD erinnert, dann muss man sich an das erinnern, was
Restfaschismus und schon beginnender Konsumismus gemeinsam haben, wo
sich fordistisch organisierte Disziplinarkultur und schon postfordistische
Lockerungen und Zwangsflexibilisierungen begegnen. Der Restfaschismus
läpperte langsam aus, und trotz Wirtschaftswunder kamen Hedonismus und
Freizeitkultur nur schleppend und vor allem nicht als direkter Gegensatz in
Gang. An die lange historische Koexistenz von Disziplinarkultur und eines sich
langsam aus all dem historischen Dreck herausschälenden Willen zum Genießen
erinnere ich mich als Rahmen einer glücklichen Kindheit, als historisch-
spezifische Dialektik von Glück und Angst: diese langsame Rückkehr eines zwar
noch furchtsamen, aber doch spürbaren Eigensinns des Genusses. Unabhängig
von allen großen historischen grusligen Kontinuitäten, die ich nur ahnen konnte,
war es die Kolonne der Sonderzüge, die sich mit diesem Aspekt von
BRD verbindet.
Diese Sonderzüge bildeten eine Kontinuität von westdeutscher Nachkriegs-
zur Vorkriegszeit. Das Organsieren von Sonderzugeinheiten, sei es zu KdF-
Reisen, sei es zu den Konzentrationslagern, war das Rückgrat des
Nationalsozialismus, hier erkennt man das Gemeinsame von Faschismus und
Fordismus. In Claude Lanzmans Film “Shoah” sieht man immer wieder
überwucherte Bahngleise. Die Interviews, die man nie vergisst, spielen immer
wieder vor der Kulisse dieses Eisenbahnwesens. Die Menschentransporte der
Nazis rollten auf Schienen, die irgendwann auf den heute verlassenen Bahnhöfen
im Osten endeten.
Die Reisebürosonderzüge, die in den fünfziger und sechziger Jahren einen
entscheidenden Teil des deutschen Massentourismus bewegten, bestanden in der
Regel aus Liegewagen mit je sechs Personen pro Abteil. Durch einen Trick
schaffte es unsere vierköpfige Familie meistens, allein in einem Sechser-Abteil
zu bleiben. Hinter Harburg durften die Kinder ihre Rucksäcke öffnen und fanden
dort ein kleines Geschenk. Um Ruhe und Entspannung einkehren zu lassen, gab
es auch etwas zu lesen. Erst Pixi-Bücher, später Donald-Duck-Sonderhefte.
Zuerst war es Donald-Duck-Sonderheft 8, “Familie Duck auf Nordpolfahrt”. Das
ist die Geschichte mit der berühmten introspektiven Sequenz. Auf acht Bildern
wird die dynamische Entstehung von Donalds Gewissensbissen erzählt,
nachdem er seinen verhassten Vetter Gustav mit einer gefälschten Schatzkarte an
den Nordpol gelockt hat. Donald findet keinen Schlaf, geht nachts an den
Kühlschrank, stellt sich allein am summenden Kühlschrank mit einem Sandwich
in der Hand immer schrecklichere Gefahren vor, die Gustav drohen – während er
es so gemütlich warm und versorgt hat.
Viele Stunden später, irgendwo hinter Göttingen, wurde einem die
Zonengrenze gezeigt: So nahe stehen diese beiden Höfe, und doch können die
Menschen nie zueinander. Jedes Abteil hatte einen Lautsprecher, aus dem
jahrmarktöses Orgeljazzgedudel drang. Dann wieder machte der Reiseleiter
sonore Ansagen: die Hauptgerichte des heutigen Mittagessens. Legendär ist die
mit besonderem Brio angepriesene Beilage “Butterkartoffeln”. Man hatte sich –
wie es heute noch in den letzten schönen Speisewagen der Welt, nämlich in
denen der Nachtzügen der spanischen RENFE üblich ist – eine Reservierung für
die erste oder die zweite Serie besorgt und ging dann in den Speisewagen, wo es
nur feste Menüs gab. Ein weiterer Höhepunkt.
Es dämmerte meist so gegen Karlsruhe. Dieser Ort mit seinem aus meinem
Lieblingsbuch “Giganten der Schiene” bekannten Hauptbahnhof war schon
Süden. Die Schweiz, deren exotische Bahnhofsschilder wie “Biel / Bienne” man
nur sah, wenn man nachts aufwachte, war dann schon richtig weit weg und
vielversprechend fremd. Aufwachen in Avignon. Nun sollte noch ein ganzer
langer Reisetag durch Südfrankreich und Nordspanien folgen. Man war auf
diesen Reisen in einem anderen Universum, immer leicht euphorisiert, wackelte
einen halben Meter über der Erde durch Europa. Kam man nach 36 Stunden am
spanischen Urlaubsort an, schwankten noch tagelang die Koordinaten des
Fussbodens, von den europäischen Schienen durchgeschüttelt. Der Gleiskörper
hatte noch eine Körperlichkeit.
Manchmal nahmen wir auch nicht den Sonderzug, sondern den Hispania-
Express. Der verkehrte damals zwischen Kopenhagen und Port Bou / Barcelona.
Die Vorstellung, dass die anderen Kinder schon eine Nacht hinter sich hatten und
sich subjektiv schon im Süden fühlten, machte mich glücklich. Doch im
Gegensatz zum Regelzug, zu dem jeder jederzeit zusteigen konnte, blieb der
Familienfriede im Sonderzug ungestört. Niemand würde irgendwelche
Alltagsgeschäfte in die geschützte Welt hineintragen. Statt dessen konnte man,
wenn es dunkel wurde, ausgucken und sich fragen, ob hinter erleuchteten
Fenstern andere Kinder wohnen und nach den Zügen ausgucken, die an ihren
Fenstern vorbeifahren. So wie wir das täten.
Mit zwanzig hat man die Kinderträume noch nicht überwunden, und so kam
es, dass ich bei der Sonderzugbetriebsgesellschaft in Hamburg-Stellingen
anheuerte und mein Studium mit zwei Touren pro Woche finanzierte. Die langen
Fahrten gingen am Nachmittag los, erreichten am Mittag Zielorte wie Rijeka,
Koper, Venedig, Pesaro oder Port Bou und brachten einen am Morgen des dritten
Tages nach Hause; die kürzeren führten nur nach Salzburg oder Zell am See, und
wer echtes Pech hatte, musste nach Ruhpolding oder Oberuhldingen
am Bodensee.
Mir ersetzte dieser Job die Bundeswehr und das Arbeitszimmer. Im
Betreuerabteil las ich auf einer einzigen Tour das zweibändige “Revolution und
Krieg in Spanien” von Broué und Temime durch. Nachts, wenn die Rupis
(Kurzwort für die schutzbefohlenen Touristen, angeblich von “Rucksack-
Piraten” oder dem beliebten Zielort der Anfangstage, Ruhpolding, abgeleitet)
schliefen, traf man sich in einem Dienstabteil und trank Personalbier. Dann
ergingen sich die schüchternen Studenten und die gesetzten Fahrensleute in Sex-
Anekdoten. Wilde Sachen. Ja, ficken in der kleinen Koje, wo die Decken
gestapelt waren, mit willigen Weibern, die nach Süden fuhren. Das andere
Thema war das Trinkgeld. Prinzipiell galt, bei Twen Tours gab es kein Trinkgeld
aber Sex, bei Familienreisen wie Hummel keinen Sex aber Trinkgeld. In
Wahrheit gab es natürlich nie Sex und immer Trinkgeld.
Zentrale Aufgabe war es beim Einsteigen, den Reisenden ihre Koffer
abzunehmen, auf der so genannten Plattform an der Wagentür zu stapeln und
anschließend, wenn der Zug fuhr und die Rupis in ihren Abteilen Platz
genommen hatten, ihnen ihre Koffer zu bringen und sie zu verstauen – jeder
hatte einen Aufkleber mit Platz- und Wagennummer auf seinem Gepäckstück
anzubringen. Nur durch diese Organisation war der Einstieg in den kleinen
Badeorten wie Rovereto am Gardasee bei kurzem Aufenthalt zu schaffen, wo die
Hotelangestellten mit riesigen Karren an den Wagen standen, von denen sie die
Koffer uns Betreuern zuwarfen, während die Rupis ohne Koffer einstiegen. Doch
trotz aller generalstabsmäßiger Planung und Organisiertheit des
Massentransportes kann es der Deutsche nicht haben, wenn man ihm den Koffer
wegnimmt. Es mangelt ihm zwar nie an Einsicht in die höheren
Notwendigkeiten der Massendisziplin, aber der Trieb zum privateigenen Koffer
wurde in den siebziger Jahren immer stärker. Und so reckten sie verzweifelt ihre
Hälse nach hinten, wo der teure Koffer ihrer Aufsichtspflicht harrte, und brüllten
einem in Gesicht: “Der braune da unten ist meiner!”
Wenn man sie dann schließlich untergebracht hatte und die ersten
Bierbestellungen aufnahm, die Betten machte oder die Frühstücksbuchungen
entgegennahm, dann konnte man auch 1977 noch zählen, wie viele häßliche
Deutsche ihren tausendjährigen Spruch bringen würden: “Junger Mann – oder ist
das gar kein junger Mann, sondern ein Mädchen, kann man bei den langen
Haaren gar nicht so genau sagen, höhö.” Dieses Problem löste bald darauf die
Punk-Bewegung, nicht aber das der einsamen oder unverstandenen Männer, die
gegen zehn Uhr im Dienstabteil auftauchten, um sich therapieren zu lassen:
meine Frau versteht mich nicht, haben Sie Lust auf einen Bauernskat? Oder sie
wollten von unserem Personalbier, das es in gemütlichen braunen Flaschen gab,
deren Verschluss man an den Abteilfenstern öffnete, während im freien Verkauf
nur Dosen zur Verfügung standen, die irgendwie nicht skatmäßig
genug aussahen.
Nach einer solchen Rovereto-Tour hatte ich jedenfalls einen
Nervenzusammenbruch. Ich kam in Hamburg an, trank einen Kaffee in meiner
Wohnung, legte eine Platte auf und bekam dann einen Heulkrampf, der nicht
mehr aufhörte. Danach habe ich mich dann lieber von der Firma Elite
Konstruktionen an Hamburger Baustellen und Dachfensterhersteller vermieten
lassen, als deutsche Urlauber zu betreuen. Leute, die heute solche Jobs machen,
müssen natürlich mit den spaßbefreiten Individualirren noch ganz andere Sachen
durchstehen. Im Reisebürosonderzug erlebte aber die durchdisziplinierte,
spätfaschistisch geprägte Generation die ersten Freuden des Wirtschaftswunders
und der mediterranen Lockerungseffekte. Der Reisebürosonderzug gehörte zu
einer Kultur der Kern-BRD, der späten Fünfziger bis zu den frühen Achtzigern.
Die Deregulierung des Luftverkehrs machte ihr endgültig den Garaus, der Typus
des Twen-Tours-Reisenden passte aber schon damals nicht mehr ganz in ein
Ritual, bei dem man seinen Koffer beim Einstieg einem livrierten Studenten
überlässt, der ihn kurz darauf im Abteil verstaut.
Am Abend dieser Tage wärmte sich der entnervte Student mit seinen
Kollegen im Dienstabteil und tauschte die Legenden der Sonderzug-Pagen aus,
während die Bischofststadt Fulda oder Eschwege-West in ihrer ganzen
metaphysischen bundesrepublikanischen Banalität durchs Fensterbild rumpelten.
Geschichten wie die von dem blutigen Kollegen, der im LSD-Rausch einen Rupi
nach dem anderen unter einem Vorwand zur offenen Wagentür geführt und
hysterisch kichernd aus dem Zug gestoßen haben soll. Oder von dem
durchgeknallten Reiseleiter, der nachts um vier die Rupis mit einer Durchsage
im sonoren Reiseleiterton weckte. “Meine Damen und Herren, achten Sie bitte
darauf, dass Sie sich in den richtigen Kurswagen aufhalten. Beim nächsten Halt
wird der Zug geteilt. Der vordere Zugteil fährt dann nach Auschwitz, der hintere
nach Buchenwald.” Einige Älteren kannten noch den Namen dieses Mannes.
Nach einer kurzen Beurlaubung und Verwarnung soll er in den Sechzigern noch
einige Jahre im Dienst gewesen sein, hätte so auch mich und meine Familie
erschreckt haben können.
Der Nudelsalat
Feridun Zaimoglu

An einem trüben Herbstspätnachmittag stieß Hikmet Bey die Tür der Teestube
“Deli Gönül” (Wildes Herz) auf und stand für eine kurze Weile im vorderen
Tresenbereich, bis ihn seine Stammtischkollegen wiedererkannten. Er war über
Nacht um mindestens zehn Jahre verjüngt, sein Schneuzer in steifem Wichs
glänzte in der Farbe des Krähenfittichs. Sein Hang zur gelegentlichen
Extravaganz und seine Neigung, beim Sprechen so dicht heranzutreten, dass er
seinem Gegenüber an die Wimpern klimpern konnte, machten ihn zum Starkauz
des Altmänner-Treffpunkts.
Wenig später saß er neben mir, dem Küken der Runde, tunkte die Finger in
eine Teelache auf der Resopaldecke und strich sich die krausen Schläfenlocken
glatt. Sein Mintatem wehte mich an, als er anhob, die bestmögliche Haar- und
Barttönung zum Besten zu geben. Man lasse granulierte Haselnüsse in der
Pfanne ankokeln, gebe einen Flaschenschwenk Olivenöl bei, massiere den zähen
Brei in den Schneuzer, man decke ihn mit einem Chirurgenschutz ab, und
schlafe unbedingt auf dem Rücken. Ich nahm mir vor, es ihm bestimmt nicht
gleichzutun, denn Hikmet Bey sah aus, als hätte er sich in einem Anfall von
galoppierendem Irrsinn Topfbodenknoster um den Mund geschmiert.
Fast jeden Tag nach Schulschluss schaute ich in dieses ehemalige
Pornokino herein und trank zwei Tässchen schwarz gebrühten Mokka, um den
Adrenalinspiegel anzuheben. Ich war siebzehn Jahre jung und illusionierte mir
ein Leben als eine einzige Übung unter Einsatzbedingungen herbei. Hier saßen
die Akkordmalocher i. R. und ergingen sich im Groschenblattlamento über
unsichere Zeiten, in denen das Beil des Nachbarn Schädel spaltet. Ich war in
ihren Augen ein Heißblütler, der sich den Bauch mit Luft voll geschlagen hatte.
Also versuchten sie sich in Preisgesängen auf das hohe Alter, sie verglichen die
Jugend mit einer zähen Viehzecke, die Gift in Blut- und Lymphgefäße spucke.
Sie hatten Recht, ich war ein Metropolmaniac, und nur eine Querstraße und zehn
Herzschläge weiter lag der Marktplatz mit dem Springbrunnen, an dessen
Treppen sich die junge Brut der Glutaugen traf: deutsche Jungs mit
eingewanderten Gastarbeitereltern, kühne Selbstvermarkter im Rüpelspiel um
cash money, mit dem passenden Werbespruch zum Kleinleuteelend, in dem sie
erst einmal festklemmten. Ich war glasklar Unterschicht, und also hatte ich mich
standesgemäß einem Dutzend Fratzenklopper angeschlossen, die mit ihren
Gebetsketten klackten und immer wieder einen Strahl Spucke durch die
zusammengebissenen Zähne schossen. Ich hielt es damals für eine tolle Idee,
statt Gel Zuckerwasser in meine Hunnenmähne zu massieren. Man eiferte eben
den Italojungs nach und entschied sich für die kostengünstige Variante. Der
lange Hornkamm steckte in der rechten Hosentasche, der Saum der C&A-Fake-
Lederjacke durfte aus Prestigegründen den Kammgriff nicht verdecken.
In Sachen Ehrenkodex waren wir Internationalisten: Cosa Nostra,
Testosteron-Ungestüm, Gangster-Rap, Rebellenmuckerei – aus diesen Quellen
speiste sich auch unsere Verachtung für Ladendetektive. Wir kämpften gegen
Memmen, Mücken, Mamelucken. Memmen erkannte man daran, dass sie an
ihrem verwässerten Anisschnaps nippten wie an einem Longdrink. Richtige
Kerle dagegen tranken ihr Glas “Löwenmilch” in drei oder vier Schlucken leer
und orderten sofort nach. Mücken trugen eklig dünne Silberringe und schworen
auf den Indianermarxismus. Mamelucken gingen aufs Gymnasium, hatten in
Erdkunde eine Zwei und weigerten sich, die Rotze hochzuziehen. Man nannte
sie auch Abitur-Türken, zu denen ich mich wohl oder übel zählen musste.
Ich hatte also ein nicht unerhebliches Problem. In der Gang herrschte eine
hohe Profilübereinstimmung, man war Prolet aus Überzeugung und las
höchstens die Sportseiten der Gastarbeiterpostille Hürriyet. Ich dagegen setzte
auf das Halbwissen, das eine Bildungsanstalt zu geben imstande ist, tunkte auch
nicht, wie die anderen Kollegas, Weißbrot in Molke, um eine komische
Toughness zu demonstrieren. Was uns aber über alle Flügelkämpfe hinweg
verband, war der Hass auf die Popper, die wir auf Kanakenfurcht trimmen
wollten. Unabhängig von der Tagestemperatur liefen sie in weinroten
Kaschmirschals herum, ihre Collegeslipper mit Penny-Lasche gingen uns
mächtig auf die Nerven. Die Poppas, die weibliche Version, steckten sich
Glitzerhaarspangen in den V-Ausschnitt, am Taschensaum ihrer Karottenhosen
glitzerten Fake-Diamanten. Als Poptortenstengel bezeichnete man die
Cocktailzigaretten in Pink, Blau oder Grün und mit goldenem Filterstück.
Darunter machten es die Ladys nicht, und besonders beliebt waren die
Wildkirschtee-Sessions, auf denen man herumstand und gegen die laut
aufgedrehten Zuckerbäckerballaden der Neuen Deutschen Welle und Spliff
smalltalkte. Natürlich war auch ich einige Male eingeladen worden, denn in der
Schule bedeutete “die Party” so etwas wie das Grundrecht auf
Versammlungsfreiheit. “Fete” dagegen klang eher nach gehörigem Bockmist,
nach zugedrogten Ärztetöchtern im von Vaterhand gewerkten Keller-Untergrund.
Auch an jenem denkwürdigen Spätnachmittag saß ich in der Teestube
meine Zeit ab, um später, nach einem Zwischenstopp im Elternhaus, zu einer
richtigen Party zu gehen. Hikmet Bey hatte sich mittlerweile in Rage geredet, er
sprach sich für die Sitte aus, der künftigen Ehefrau bei der Hennafeier einen Tag
vor der offiziellen Trauung eine Goldmünze in die rechte Handkuhle zu pressen
und die Hennapaste aufzulegen. Dergestalt gezeichnet sei die Frau eines guten
Mannes Segenswappen. Diese Ratschläge waren mir wohlvertraut, ich musste
sie mir von meiner heißgelaufenen Mama anhören, wenn wir vor Hertie am
Morgen des ersten Schlussverkaufstages die Beine in den Bauch standen.
Wenige Stunden später stand ich vor der Tür von Philippas
Zweizimmerwohnung. Auf dem Fußabtreter waren bunte Billardkugeln
abgebildet. Im Flur standen, wegen der herabhängenden Poppertolle
schiefhälsig, Jungs in Spaßfarbenpullundern herum. Von den halbgescheiten
Beats bemerkenswerterweise mitgerissen, brüllten sie sich in
Blödsinnsgesprächen fest. In den frühen Achtzigern tat man sich in der Disziplin
Lässigkeit eben etwas schwer. Als Stil hatte zu gelten, was der Mix und der
Mixer hergaben. Ich lief auf einem Großraumteppich, der sich anfühlte wie
shampoonierte Veloursauslegeware. Ein semiyuppieskes Figurenensemble hatte
sich vor dem kalten Buffet aufgebaut, es waren, wie nicht nur zu jener Zeit
üblich, Minderjährige und auf Topkompetenz getrimmte New-Age-
Gesinnungsprotze. Ein hochgradig debiler Bibelkreisadept stürzte sich auf
Philippa mit den Worten: “Ich habe dir eine Umarmung mitgebracht . . .”
Eigentlich wurden laut Popperknigge Hippieallüren nicht geduldet, man
beschenkte sich beispielsweise nicht mit gefärbten Kichererbsen im Weckglas.
Dafür klaute man die Luxusausgabe irgendeines bekloppten Lebensratgebers aus
Papas Regal und schlug sie in Angeber-Geschenkpapier ein.
Philippa war mit schwarzen Lichtfiltern angetan und ob der Umarmung
konsterniert. Sie hoffte doch sehr, ich hätte Hunger mitgebracht, ich sollte mich
wie zu Hause fühlen und das Buffet plündern gehen. Ein Blick in die größten
Schüsseln, und mein Hunger wich einem gehörigen Magendruck. Was treibt
eigentlich erwachsene Menschen dazu, stummelkurze Makkaroni al dente in
Mayonnaise so lange umzurühren, bis beide Anteile zur Pampe verflocken? Und
wofür bitteschön schüttet man Zartgemüse aus vier Dosen dazu? Die andere
Salatschüssel war mit einer roten Masse gefüllt. Ein kreativer Knallgeist hatte es
wohl mit Ketchup versucht, und weil sich Grundfarben so schön beißen, lieblos
gerupfte Petersilie beigegeben. Der Nudelsalat ist kein Nudelsalat ist kein
Nudelsalat. Er steht für eine Zeit, in der geföhnte Zerebralminimalisten auf
ihrem Geschmack ausrutschten. Wie lässt sich ein gefühltes Vakuum
plombieren? Man bewegt sich hinweg von der Ödnis der vorangegangenen und
somit selbstverständlich öderen Generation. Man versucht sich in neuen
Kreationen. Der Nudelsalat ist Symbolpolitik. Es hätte der tiefgründigen
Achtzigerjahre-Analysen nicht bedurft, ein Löffel Nudelsalat zur Testprobe
dargereicht, und jeder halbwegs vernünftige Mensch hätte eingesehen, dass das
nicht seine Party war. Und dass die Party woanders und irgendwann später
stattfände, vielleicht dann doch in den Neunzigern.
Die Capri-Sonne
An einem regnerischen Montag im Juli 1986 kaufte Anna ihre erste Capri-
Sonne. Wie immer wurde Anna an diesem Tag von ihrer Mutter in einem
hellblauen Volkswagen Passat Diesel zur Schule gebracht. Die Heckscheibe des
Autos war mit Aufklebern voll gepfropft, deren diverse Aussagen insgesamt
darauf hinausliefen, dass man Katzen, Christus und Ausländer lieb haben sowie
den sauren Regen und Ernst Albrecht stoppen sollte.
Annas Mutter hatte vor einigen Monaten begonnen, aus selber geschrotetem
Mehl Frühstücksbrötchen für die Familie zu backen. Die Brötchen waren
steinhart und so flach, dass man sie unmöglich hätte aufschneiden können,
weswegen Annas Mutter als Pausenbrot zwei Flachbrötchen übereinander legte,
die von einer öligen Schicht Rabenhorster Rübensaft zusammengehalten
wurden. Vor dem 26. April hatte Annas Mutter noch Salatblätter zwischen die
Brötchen gelegt, die sie beim Biobauern kaufte; nach Tschernobyl hatte der
Biobauer allerdings keinen Salat mehr im Angebot; alles, was draußen wüchse,
sei nun leider verstrahlt.
An diesem Morgen allerdings hatte Annas Mutter das Pausenbrot vergessen
und ihrer Tochter zehn Mark gegeben; sie möge sich beim Bäcker ein schönes
Brötchen und eine Flasche Hohes C kaufen. Anna ging zum Kiosk gegenüber
und kaufe zwei Negerkussbrötchen und eine Capri-Sonne: einen wabbeligen
silbernen Glitzerbeutel, der wie ein letztes Relikt aus längst vergangenen,
präökologisch glamourgeil weltraumfuturistischen Zeiten aussah. Annas Mutter
hätte nie eine Capri-Sonne gekauft. Capri-Sonne war der fruchtsaftgewordene
Antichrist der Ökobewegung: Nur sieben Prozent Orangensaft, dazu fünf
Prozent Zitronensaft.
Die restlichen 88 Prozent bestehen aus Wasser, Zucker, Glukosesirup, dem
Anti-Oxidationsmittel L-Ascorbinsäure und Aromen. Die Verpackung: eine
Hülle aus Aluminium, Polyester und Polyethylan, ein Strohhalm aus Plastik,
eingeschweißt in eine Plastikfolie: Mehr Abfall geht für 0,2 Liter wässriger
Flüssigkeit nicht. Dazu beflügelte der Name Capri die bürgerlichen
Tourismusfantasien der fünfziger Jahre, auf die die Ökobewegung auch nicht gut
zu sprechen war: Capri-Sonne, Fernwehbrühe des Kleinbürgertums.
Das einzige Mädchen in unserer Klasse, das schon einmal die
Frühjahrsferien auf Capri verbracht hatte, hieß Kathinka-Marie und war früher
auf einer Waldorf-Schule gewesen, wo sie eine Reihe eigenartiger
Schlenkertänze gelernt hatte, bei denen man auf der Stelle hüpfen und mit den
Armen herumfuchteln musste. Kathinka-Marie trank, genau wie Anna, in den
Pausen ausschließlich Hohes C aus kleinen Tetra-Pak-Papierbehältern.
Die Frage “Hohes C oder Capri-Sonne” war ähnlich bedeutsam wie “Scout-
oder Amigo-Ranzen” und “Pelikan- oder Geha-Füller”. Eine ästhetische
Grundhaltung machte sich an Capri-Sonne fest. Die Eltern, die ihren Kindern
Hohes C gaben, fuhren Volvo oder Saab, kauften Sofas bei Roche Bobois,
Regale und Hausschuhe aus Holz bei Ikea, spielten alte Eric-Burton-Lieder auf
verkratzten Gitarren und verbrachten den Urlaub beim Waldbeerenpflücken in
Skandinavien oder in Portugal. Caprisonneneltern flogen nach Teneriffa, hatten
zuhause braune Velourssofa, gingen zum Kegeln oder in Diskos und trugen je
nach sozialem Zugehörigkeitsgefühl karierte Pullunder oder türkisfarbene
Sakkos mit enormen Schulterpolstern. Einer von einen fuhr einen Ford Capri.
Seit 1970 gibt es Capri-Sonne, ein Jahr vorher kam der gleichnamige
Kölner Wagen auf den Markt – etwas spät eigentlich, denn Ende der Sechziger
gab es längst exquisitere Sehnsuchts-Ziele als ausgerechnet Capri; wer Geld
hatte, flog nach Barbados oder nach Bali. Man hätte Auto und Getränk also
eigentlich anders nennen müssen; Ford DomRep oder, wohlklingender, Ford
Jamaica und Mallorca-Sonne. Und warum überhaupt Sonne? Die Sonne ist heiß,
und im Sommer möchte man nichts trinken, das nach zusätzlicher Erhitzung
klingt. Doch Capri war als bundesrepublikanischer Sehnsuchtsbegriff auch 1970
noch so mächtig, dass alles, was Capri hieß, ein bombastischer Erfolg wurde.
Die hysterische kollektive Projektion sämtlicher erdenkbarer
Wunschvorstellungen auf das zehn Quadratkilometer große Inselchen vor Neapel
hat in Deutschland eine lange Tradition, die mit August Kopischs “Entdeckung
der blauen Grotte” begann und bei Rudi Schuricke einen vorläufigen knödelnden
Höhepunkt fand.
Kopisch, der 1826 nach Capri reiste, formulierte den Traum vom einfachen,
wahren Leben fern der verkommenen Gesellschaft in einer insularen Gegenwelt
voller erotischer Genüsse. Kopisch zog eine Schar Deutscher nach Capri, die
dort eine Künstlerkneipe mit dem reichlich dämlichen Namen “Zum Kater
Hiddigeigei” gründeten. Nur Bertolt Brecht konnte dem Caprifieber
widerstehen; als hätte er die kapitalistische Vermarktung des Inselnamens
geahnt, beschimpfte er das Meer bei Capri als “verfluchte blaue Limonade”.
Trotzdem wurde Capri in den fünfziger Jahren zur kollektiven deutschen
Glücksvision, befeuert von Schurickes “Capri-Fischern”, die eigentlich 1943 als
Durchhaltelied komponiert worden waren: “Bella bella bella Marie, bleib mir
treu, ich komm’ zurück, morgen früh”. Die melancholischen Unterströmungen
eines Liedes für Menschen, die meistens nicht mehr zurückkamen, wurden aber
nach dem Krieg schnell vergessen.
Es war der verwegene Odem gesellschaftsferner Libertinage, der nach dem
Krieg alle Capri-Produkte umwehte: Schon die Capri-Hosen schienen sich von
unten her aufzulösen und gaben lange vor dem erotischen Overkill des
Minirocks ein ungebührliches Stück der Fessel und des Beins frei, als hätte
jemand die Hosen hochgekrempelt, um bequem im seichten Ufersaum dem
Sonnenuntergang und anderen stadtfernen Genüssen entgegen zu waten; auch
das orange Capri-Eis war im Langnese-Sortiment der Sechziger die frivole
Alternative zu einem schwerfälligen Milcheis, das den an bundesrepublikanische
Nachkriegsnöte erinnernden Namen “Happen” trug.
Ähnlich funktionierte der marketingstrategische Schachzug der Ford-
Manager: Während sich bei Opel die Aufstiegssehnsüchte des kleinen
Angestellten im Crescendo der Fahrzeugnamen Kadett – Rekord – Admiral
widerspiegelten, setzte Ford auf Urlaubsträume: Der Ford Capri war eine
autogewordene Lustvision, ein Ford 12M im Kostüm fernsüchtiger Rebellion.
In einem Werbefilm aus den frühen Siebzigern sieht man eine staubige
Wüstenlandschaft im rotvioletten Abendlicht. Ein Mann wirft einen verwitterten
Blick in die dunstige Ferne, steigt in einen orangefarbenen Capri mit Vinyldach
und gibt Vollgas. Nach gefährlicher Fahrt über staubige Pisten kommt ihm
schließlich eine blonde Frau entgegen geritten. Das war die Botschaft: Sei ein
Mann, lebe gefährlich und schnell, bis man nur noch Staub und junge
Frauen sieht.
Man sieht es dem Spot noch an, dass das Auto eigentlich Ford Colt heißen
sollte. Aber die Marketingexperten kippten den Namen: zu aggressiv; außerdem
hatte Mitsubishi “Colt” schon schützen lassen. Bei der Markteinführung moserte
die Auto, Motor, Sport, dass “das süßliche Wort Capri in Verbindung mit einem
Sportwagen nicht überzeugen kann”- aber die Ford-Presseerklärung von 1969
konnte auch diesen Einwand entkräften: “Capri heißt nicht nur blauer Himmel,
süßes Nichtstun und schmelzende Tenöre, sondern auch Brandung,
Herausforderung und heißes Blut.” Das leuchtete den Deutschen ein. Im Februar
1969 wurde der Capri zum meistverkauften Ford.
Ein Utopie-Produkt wie Capri-Eis und Capri-Ford war auch die Capri-
Sonne, in der die Zukunfts- und Glücksvisionen ihrer Zeit kulminierten. Schon
die Packung: Keine ordinäre Flasche, sondern ein geheimnisvoll glitzerndes
Paket, das aussah wie für die gerade vollzogene Mondlandung entwickelt. Capri-
Sonne war flach und weich wie die futuristischen Möbel dieser Zeit und
schimmerte verführerisch wie ein Trink-Ufo. In diesem Zusammenhang sah die
Orange auf der Verpackungshülle vor dem tiefblauen Himmel aus wie ein
fremder Pop-Planet oder eine ferne Südseeinsel.
Das Gefühl des Exotischen wurde noch gesteigert durch die vielsprachigen
Erklärungen auf dem Rücken der Hülle; in langweiligen Unterrichtsstunden
konnte man seine Capritüte studieren und erfuhr, dass Fruchtsaftlimonade in
Holland “Vruchtenlimonade Sinaasappel ten mindste 12 & vruchtensap”, in
Finnland “Hiilihapoton appelsiinimehujuoma” heißen konnte. Man stellte sich
vor, dass man nun, wenn man irgendwann einmal eine nette Finnin kennen
lernen würde, immerhin schon mal “Hiilihapoton?” sagen und auf ein Café
zeigen könnte. Ein Anfang wäre gemacht. Manchmal veränderte sich der
Aufdruck und wurde über die Jahre zum Spiegel der veränderten politischen
Lage: Seit einiger Zeit steht auch BIH auf der Packung und eine Telefonnummer
in Zagreb.
Dennoch hatten alle Capri-Produkte auch eine seltsame negative Aura, der
das Scheitern der erweckten Sehnsüchte schon eingeschrieben war. Ein Ford
Capri hatte in der einfachsten Version nur 50 PS und konnte von jedem 1500er
Käfer stehen gelassen werden. Der eiweißfarbene Saft der Capri-Sonne konnte
geschmacklich keineswegs die Begehrlichkeiten befriedigen, die seine Tüte
weckte, außerdem verklebten die Finger jedesmal, wenn man den Strohhalm ins
Aluminium rammte.
Capri-Sonne oder Hohes C, Hollandrad oder Ford Capri GT: Das war der
produktgewordene Konflikt zwischen einer fortschritts- und konsumgläubigen,
PS- und Plastikgeilen Bundesrepublik, der die glitzernden Oberflächen der
Popkultur wichtiger war als die Political Correctness einer auf
Ressourcenschonung und Qualität bedachten Ökobewegung. Capri-Sonne war
das letzte Produkt einer Zeit, die noch an eine glamouröse, lautere, wildere
Zukunft glaubte.
Wenn sich Capri-Sonne heute wieder sehr gut verkauft, dann kann es auch
der Ermüdung des ökologischen Bewusstseins liegen. Keiner fragt mehr nach
Waldsterben und Vermüllung, und wenn kein BSE drin ist, dann ist auch der
Fruchtsaftanteil egal. Außerdem passt die Capri-Tüte ins retrovisonäre
Zeitgefühl: Sie ist so poporange und rundlich wie ein iBook, so silbermetallisch
wie das Cockpit eines Audi TT, und wenn der Designer Marc Newson eine
Flasche entwerfen müsste, dann sähe sie sicher aus wie eine Capri-Tüte. Newson
hat vor kurzem ein knalloranges Auto für Ford entworfen, das einer Capri-Tüte
ziemlich ähnlich sieht. Vielleicht bauen sie ihn ja bald in Serie und nennen ihn
New Capri – und dann geht der ganze Wahnsinn wieder von vorne los.
Das Trockenshampoo
Ich erinnere mich, dass ich zusammen mit meinen Schwestern auf der Rückbank
unserer Ente (auch Döschewo genannt, oder 2CV) saß, während mein Vater
versuchte, in den Kurven die Ente auf die Seite zu legen. Sie galt als
unumwerfbar, und wer es dennoch schaffen würde, sollte eine Million Mark
gewinnen. Meine Schwestern kreischten vor Wonne, ich aber dachte an meine
Haare. Bei Tante Hildchen durften wir sonntags fernsehen, wir hatten zuhause
nämlich keinen, und ich dachte an meine Haare. Ich verliebte mich unsterblich in
einen Hund, und während ich den Hund streichelte, dachte ich an meine Haare.
Ich dachte nur noch an meine Haare. Wahrscheinlich war ich zwölf. Bei allen
Mädchen setzt ungefähr um diese Zeit die Obsession mit ihren Haaren ein. Das
muss einen biologischen Sinn haben, auch wenn ihn bisher noch niemand
entschlüsselt hat.
Ich fand, ich hatte wirklich Grund, nur noch an meine Haare zu denken,
denn ich hatte plötzlich ein Haarproblem: Über Nacht hatte ich fettige Haare
bekommen. Großes Unglück senkte sich über mich. Ich hörte auf, ein lustiges
Kind zu sein. Nichts wollte mehr zu mir passen, meine Haare nicht, die blöde
Märchentapete in meinem Zimmer nicht, und auch nicht die blauen und roten
Wollstrumpfhosen oder das Dirndl. Stattdessen trug ich die nächsten sieben
Jahre hautenge Cordhosen und einen grünen, viel zu großen Pullover. Besessen
wusch ich mir jeden Morgen die Haare – bis der Winter kam. Haarewaschen am
Morgen im Winter war einfach verboten, oder ich hätte eine Stunde früher
aufstehen müssen, um zu garantieren, dass meine Haare wirklich wüstentrocken
waren, und das brachte ich aufgrund einer tiefen Charakterschwäche nie fertig.
Stattdessen quälte ich mich mit fettigen Haaren und von Selbsthass
zerfressen durch die Schultage. Ich verabscheute alle Menschen, die sich nur alle
paar Wochen die Haare waschen mussten, weil sie niemals strähnig
herunterhingen. Noch schlimmer fand ich diejenigen, die zum Friseur gingen,
um sich Haare herausschneiden zu lassen. Unvorstellbar! Widerlich!
Beneidenswert! Meine Haare waren so dünn, dass Friseurinnen sie fasziniert
streichelten, und wenn sie Kinder hatten, lächelten sie und sagten: Babyhaar, und
wenn sie keine hatten, schnarrten sie kurz angebunden den ewig gleichen Satz:
Mit deinem Haar kann man ja nun gar nichts anfangen.
Diese Qual, jeden Morgen wieder mit verklebten Haaren aufzuwachen, und
sie durch keine noch so geschickte Kämmmethode dazu überreden zu können,
locker und duftig zu fallen! Diese Folter, mit fettigen Haaren durch die Welt
gehen zu müssen! (Die Überlegung, dass die Welt sich vielleicht doch nicht so
brennend dafür interessiert, ob man fettige Haare hat oder nicht, markiert, glaube
ich, den Eintritt ins sogenannte “Erwachsenalter”). Ich erinnere mich an den
verzweifelten Blick am Morgen in den Spiegel und die immer neu enttäuschte
Hoffnung, ich möge mit dickem, flauschigen Haar erwachen. Es half nicht, sie
abends so spät wie möglich zu waschen und mit Mütze ins Bett zu gehen, von
allen Geschwistern verlacht, von der Mutter verständnislos begutachtet zu
werden: Du spinnst, mein Kind! Deine Haare sind doch überhaupt nicht fettig!
Und verbrauch’ nicht so viel Shampoo! Andere Menschen wollen sich vielleicht
auch noch mal die Haare waschen!
Andere Menschen interessierten mich nicht. Nur meine Haare. Jeden
Morgen wieder hingen sie wie Spaghetti von meinem Kopf, und ich wollte
sterben. Und dann kam eines Tages die Rettung. Unverhofft und wunderbar.
Eine kleine hellblau-weiß geschwungene Dose mit einer silbernen Banderole:
“Frottee Trockenshampoo für Zwischendurch”. Von den Göttern für mich
erfunden. Allein der Name. Frottee. Das war ziemlich neu, dieses Wort, es gab
Frotteehandtücher und -bademäntel, Unterhosen zum Glück noch nicht. Frottee
war Luxus, etwas Besonderes, nichts Alltägliches, etwas Dickes und
Flauschiges. In der Gebrauchsanleitung stand: Durch die Trockenwäsche wird
ein Problem gelöst, das so alt ist wie das Frisieren selbst: durch Nachfetten wird
das Haar strähnig und nimmt der Frisur den Charme frischer, duftiger Perfektion.
Entfetten durch Waschen aber hieße: die ganze Frisur neu aufbauen, mit der
ganzen Sorgfalt und dem Zeitaufwand, der auch heute noch dazugehört.
Mein Herz jubelte. Endlich verstand mich jemand: Der Charme frischer,
duftiger Perfektion! Genau so wollte ich sein. Aus der kleinen hellblauen Dose
schüttelte man sich weißes Zeug aufs Haupt, das aussah wie Mehl, aber ganz
wunderbar pudrig roch. Innerhalb von Minuten verwandelte ich mich in eine
Greisin mit schlohweißen Haaren, und allein dieser Vorgang war jedes Mal
wieder faszinierend. Dann musste man kräftig durchbürsten, mit Fett
vollgesogene Partikel fielen ins Waschbecken wie dicke Läuse, und dann kam
der schönste Moment: sich aufzurichten, den Kopf zurückzuwerfen und ganz
plustrige, garantiert unfettige Haare zu haben! Jedes Mal wieder ein Wunder. Ich
sang ein Halleluja auf den technischen Fortschritt. Für mich, nur für mich war
dieses Zaubermittel erfunden worden. (In Wirklichkeit gab es das schon seit
1928!)
Ohne Trockenshampoo konnte ich nicht mehr leben. Mein gesamtes
Taschengeld ging dafür drauf. Blankes Entsetzen, wenn man am Morgen zu der
Dose griff und nur noch ein paar Krümel herauskamen. Oder noch schlimmer,
wenn man die eine Hälfte des Kopfes schon gepudert hatte und einem dann der
Stoff ausging! Die verzweifelten Versuche, das Zeug von der einen Seite auf die
andere zu kämmen, fruchteten in der Regel nicht, und die amerikanische
Bezeichnung “bad hair day” ist eine entsetzliche Verniedlichung für das, was
dann vor einem lag. Eine gut gefüllte Dose Trockenshampoo verhieß dagegen
jeden Morgen wieder das garantierte Glück auf Erden.
Es gab ein paar winzige Nachteile, die nicht verschwiegen werden sollen:
Die Haare waren nach der Behandlung leicht graustichig. Außerdem musste man
hinnehmen, dass einem das Mehl den ganzen Tag lang auf den Kragen rieselte
und man unter Schuppenverdacht geriet. Mit der Zeit lernte ich, keine dunklen
Kleider mehr anzuziehen. Darüber hinaus musste man unbedingt vermeiden,
sich durch die Haare zu fahren, denn die Hand fühlte sich danach ganz stumpf
und staubig an, und wenn man das auch noch über den Schultisch gebeugt
machte, rieselte das Trockenshampoo wie Schnee herab. Das war schrecklich
peinlich.
Alle in der Klasse mit dünnen Haaren – und das waren unter norddeutsch
blonden Mädchen die meisten – benutzten Trockenshampoo, aber man durfte es
um Gottes willen nicht zugeben. Man trug die hellblaue Dose in der Schultasche
mit sich herum – für alle Fälle, es hätte ja einen dramatischen Vorfall von
Nachfetten geben können, aber keiner durfte sie entdecken. Trockenshampoo
war luxuriös und irrsinnig modern, aber gleichzeitig eben schrecklich peinlich.
Als Mädchen hatte man einfach keine fettigen Haare, das hatten nur Jungs, oder
allenfalls Mädchen, die gut in Mathe waren. Als Mädchen war man einfach
duftig, frisch und charmant, von Natur aus – denn künstlich hergestellt war das
politisch unkorrekt. Das wussten wir selbst mit zwölf. Fasziniert betrachteten wir
Fotos von ungeschminkten Frauen mit langen, offenen Haaren, die ihre BHs
verbrannten, und es war völlig klar, dass die auch niemals Trockenshampoo
benutzen würden. Oder doch?
Man durfte sich einfach nicht erwischen lassen. Mit Trockenshampoo in
den Haaren durfte man deshalb auch nicht knutschen. Ein leidenschaftlicher
Griff des Angebeteten in die flauschigen Frotteehaare und man wäre erledigt
gewesen. Dafür konnte man ganz gut demonstrieren gehen, denn da wurde nicht
viel geknutscht. Die Anarchisten, fanden wir schnell heraus, sahen am besten aus
und hatten die längsten Haare, die Trotzkisten und Spartakisten hatten kurze, die
Maoisten fettige. Manche Männer haben mir jetzt gestanden, sie hätten sich
damals auch heimlich Trockenshampoo aufs Haupt geschüttet. Eine ganze
Packung auf einmal, weil die Haare so lang waren. Das ging ins Geld (und
dieses Geld fehlte dann am Ende der Revolution), aber mit frisch gewaschen
aussehenden Haaren konnte man alle Frauen haben, behaupten sie.
Am Wochenende brauchte man kein Frotteeshampoo, da konnte man sich ja
die Haare stündlich waschen und trocknen, außer man fuhr auf ein Popkonzert
auf irgendeine Kuhweide, wo es immer regnete, und man am Morgen zitternd
vor Kälte aus dem Schlafsack kroch und sich an den drei Klos für
zwanzigtausend ungewaschene Kinder anstellen musste. Hätte ich da nicht mein
Trockenshampoo in der Tasche gehabt, hätte ich gar nicht mitfahren können,
denn ganz gleich wie dreckig die Jeans, das Al-Fatah-Tuch und der Parka waren:
Mädchenhaare mussten duftig sein, ganz gleich in welcher Situation. Die konnte
ich zwar selbst noch nach dreitägigen wahnsinnigen Schlagzeugsoli der Gruppe
Colosseum vorweisen, aber ich musste hinnehmen, mehr und mehr als Zicke zu
gelten, die partout allein im Schlafsack nächtigen wollte, weil ich das Geheimnis
meiner ewig unfettigen Haare nicht auffliegen lassen konnte. Damit geriet ich in
Verdacht, bourgeois zu sein. Und das war fast noch schlimmer als fettige Haare
zu haben. Fast.
Trockenshampoo gibt es zwar noch (wenngleich nicht mehr in der
magischen Dose, sondern nur noch als Spray), aber es scheint keine Rolle mehr
zu spielen, obwohl Mädchen heute genauso von der Haarobsession überfallen
werden wir früher. Und das anscheinend überall auf der Welt: Im Urlaub erzählte
mir ein indonesischer Taxifahrer von seiner zwölfjährigen Tochter: all she do is
wash hair, sagte er verzweifelt. Ich lachte und sagte, ich könne mich erinnern,
und außerdem hätte ich eine Tochter in demselben Alter. Daraufhin nickte er
mitfühlend und sagte: international problem.

Die Juno-Zigarette

Dass irgendwas mit ihr nicht stimmte, ahnten wir ziemlich bald. So ganz
genau wollte es allerdings niemand wissen. Jedenfalls nicht, solange sie mit uns
ins Bett ging. Und mit wem wäre sie nicht dorthin gegangen?
Warum sie das tat? Wer weiß, am Ende war es nichts als Mitleid. Mit uns,
die wir glaubten, das Land umkrempeln zu können. Revolutionäre, wie wir uns
nannten. Maulhelden, die wir waren. Nahmen wir uns eigentlich selber ernst?
Mit unseren viel zu lauten Sprüchen, unseren viel zu großen Gesten und den viel
zu feuchten Händen? Jedenfalls wurden wir ernst genommen, ernster, als uns
lieb sein konnte.
Göttingen, Groner Tor, “Kleine Kommende”. Sie hatte ihren Koffer am
Eingang des Lokals stehen lassen und war neben mir auf den Barhocker
gerutscht. Sie trug jene Wildlederstiefel, die wir Boots nannten und die auch
damals schon längst aus der Mode waren.
“Spendierst du mir’n Bier? Kriegst auch ‘ne Juno! Hab ich ‘ne ganze
Stange von.”
Mit dem Kopf zeigte sie rüber in Richtung ihres Gepäcks.
Udo grinste über dem Zapfhahn.
Sie war gerade erst mit dem Zug in die Stadt gekommen.
Die Zigaretten hatte Opi ihr zum Abschied geschenkt.
Sie trank mein Bier, ich rauchte ihre Juno.
Sie schob einen Zettel über den Tresen, eine Adresse in Weende.
“Da werde ich wohnen. Hast Du ein Auto?”
Ich fuhr sie hin. Und wäre am liebsten für immer geblieben. Am zweiten
Morgen meinte sie, ich solle jetzt aber doch erst mal wieder gehen, sie müsse
sich ein wenig sortieren. Müsse ja nicht das letzte Mal gewesen sein. Sie sei ja
jetzt da. Das heißt, wenn das für mich ok sei, dass man einfach ein wenig Spaß
miteinander . . ., ohne sich gleich am Hals zu haben. Ich log und nickte. Ja
sicher, ganz klar.
Ein halbes Jahr später konnten wir uns kaum noch vorstellen, dass sie
jemals nicht dagewesen war. Sie machte alles mit, und bald machte sie uns alles
vor. AStA-Zeitung, Infotisch, Transparente. Sie fand immer einen Dreh, es
besser, schöner, effektiver zu machen. Sie machte es eben mit mehr . . . Ja was?
Liebe? Nein, das nun gerade nicht. Aber mit mehr Hinwendung. Sie organisierte
und agitierte, sie trank und kiffte, sie tanzte und lachte. Und selbst unter den
Frauen, die anfangs um ihre Freunde gebangt hatten, gab es kaum noch eine, die
sich nicht schon mal bei ihr ausgeheult hatte. Oder eben auch auf ihrer Matratze
gelandet war. So jung sie auch war, die Neue galt als erfahren. Sie war unser
Kraftwerk, unser Mülleimer, unsere kleine geile Göttin.
Seit jenem ersten Tag in der Kneipe nannte ich sie Juno. Sie selbst gab sich
jede Woche einen anderen nom de guerre. Mal wollte sie “La Divina” genannt
werden. Kurz darauf unterschrieb sie ihre Flugblätter mit “Die Zecke”, dann war
sie “Bombshell” und schließlich: “Pipilotta”. Aber eigentlich hieß sie einfach
nur: Ulrike. Tochter eines Zahnarztes aus Holzminden.
Mein Papa mit der kalten Hand, hatte sie den mal genannt. Und wir hatten
wieder nicht nachgefragt. Die Mutter im Rollstuhl und stumm. Ohne Opi, den
Guten, hätte von Familie längst keine Rede mehr sein können. Ihr Vater
überwies jeden Monat soviel-er-eben-musste, das war’s dann aber auch. Bei
ihrem Vornamen hatte er seine Tochter schon seit Jahren nicht mehr genannt, seit
die ersten Fahndungsplakate mit Ulrike Meinhofs Foto ausgehängt worden
waren.
Ihre Fransenboots trug sie immer. Immer noch. Sommers wie winters.
Selbst am Badesee: Oben Bikini, unten die Boots. Und sich immer in den
Schatten verkrochen, dass die bleiche Haut sich nicht röte oder am Ende gar
braun werde wie bei den Mallorca-Tussen mit Goldkettchen und Aldi-
Dauerwelle.
Ich sah sie nie etwas essen. Sie rauchte, filterlos, Kette, selbstgedreht,
Samson, halbschwarz, und eben, wenn ein Päckchen von Opi gekommen war:
Juno. Trank schwarzen Kaffee, soff.
In Weende wohnte sie Souterrain. Ein Bad hatte sie nicht, nur eine
Duschkabine, im Zimmer eingebaut. Obendrüber der Vermieter, ein Lehrer für
evangelische Religion mit Solchenizyn-Bart und Familie. Hatte sie mal in der
Garage betatscht. Sie ihn dann ebenfalls, warum auch nicht. Der hatte nur ein Ei,
sagte sie. Und lachte ihr Kohlenkastenlachen. Und wir immer mitgelacht und
Hoch die Tassen und Willste noch ein Glas voll Moskovskaja. Nee, lieber den
mit dem Büffelgras, Name vergessen, egal, mit was Baileys gemischt.
Hauptsache, es knallt.
Meine vagabundierende Sehnsucht war längst auf ein anderes Mädchen
verfallen, trotzdem blieb ich immer mal wieder eine Nacht bei Juno. Es war ja
auch so praktisch. Man konnte kommen und unbehelligt wieder gehen.
Manchmal lagen wir nur auf der Matratze unter dem Foto von Allende, schauten
an die Decke, redeten, kicherten, rauchten und tranken bis es wieder dämmerte.
Manchmal stand Juno auf und schluckte ein paar Pillen. Wenn sie genug davon
intus hatte, fing sie an zu spinnen. Sie schloss die Augen und erzählte, was sie
sah. Es waren keine schönen Sachen. Finstere Männer, finstere Tiere, finstere
Höhlen. Es muss raus, sagte sie. Wie es reingekommen war, erzählte sie nicht.
Morgens waren unsere Nasenlöcher schwarz vom Ruß der Petroleumfunzel, und
wir schauten uns an und kicherten wieder und legten rasch mal einen Joint nach,
bevor wir womöglich zu Verstand gekommen wären.
Einmal, Maier und ich hatten die Nacht im “Clochard” getanzt, fuhren wir
gegen Morgen raus nach Weende, um sie abzuholen, Flugblätter an die
Frühschicht verteilen, irgend sowas. Wir klingelten, aber sie öffnete nicht. Wir
gingen um das Haus herum und drückten unsere Nasen ans Fenster. Es brannte
Licht. Sie kletterte aus der Duschkabine, trocknete sich ab, zog die Boots an und
steckte sich eine Zigarette in den Mund. Sie drehte uns den Rücken zu.
Maier, neben mir, grunzte.
“Hast du was gesagt?” fragte ich.
“Nee, nix, ich hab mir nur gerade vorgestellt, wie sie sich nach der Seife
bückt.”
Wir lachten so laut, dass sie sich umdrehte, die Augen zusammenkniff und
zum Fenster spähte. Halbnackt wie sie war, ließ sie uns rein. Sie hatte geweint.
Opi war gestorben. “Jetzt hab’ ich gar keinen mehr”, sagte sie und gab uns ganz
nebenbei zu verstehen, was wir, im Zweifel, für sie waren.
Dann wurde es Herbst, das Wintersemester begann, in der Stadt fehlten
vierhundert Zimmer. Die neuen Studenten kamen mit Zelten und Schlafsäcken.
Anfangs ging das noch. Das Wetter war mild, die Sonne schien. Doch dann
sanken die Temperaturen, und unsere große Zeit begann. Endlich. Endlich nicht
mehr bloß Talk und Debatten und Laberrhabarber. Eine Demonstration folgte der
anderen. Die riesige alte Augenklinik stand leer, also besetzten wir sie. Freilich,
das Haus war marode. Jedesmal, wenn man einen Nagel in die Wand schlagen,
einen Haken an der Decke befestigen wollte, brachen große Brocken Lehm
heraus. Die Leitungen eingefroren, die Heizkörper herausgerissen. Die Polizei
marschierte auf, Wasserwerfer, Gummiknüppel, Tränengas. Es wurde geräumt
und wieder besetzt. Hin und her. Tag und Nacht. So ging das. Barrikaden,
Straßenkampf. Die Luft brannte und wir brannten auch. Und Juno immer
mittendrin, nein: vorneweg.
Einmal, ein letztes Mal war ich in jenen Tagen noch mit ihr zusammen. Es
war eine schöne, entspannte Nacht. Irgendwann tauchte ihr Kopf aus meiner
Achselhöhle auf und sie sagte: “Ich würde mich gerne mal richtig verlieben. Ich
weiß überhaupt nicht, wie das ist.”
Dann erfuhr sie es. Der Typ war ein Zottel. Blonder Engel. Tadzio im
Armyparka. Tauchte auf und wieder unter, unzuverlässig. Pumpte sich dauernd
von allen Geld. Wohnte mal hier und mal dort. Nicht gerade das, was wir einen
disziplinierten Genossen genannt hätten. Aber sooo süß, sagte sie. Und
superradikal. Wollte, dass wir endlich ernst machten. Brachte uns bei, wie man
Molotow-Cocktails baut. “Auge um Auge”, sagte er, und: “Die Gewalt kommt
aus den Mündungen”. Sie lebte auf, sang, pfiff vor sich hin. Lachte. Wurde noch
aufgedrehter. Trieb uns an. Tadzio und Juno. Juno und Tadzio. Die beiden
schienen unzertrennlich.
Dann, das neue Jahr hatte bereits begonnen, ließ sie die Bombe platzen: Sie
würden heiraten, am 1. März, ihrem Tag, Göttin der Brautleute, Beschützerin der
Frauen. Wir schluckten und staunten. Und sagten: Nein, du und heiraten, nie und
nimmer.
Und wir behielten recht. Denn kurz bevor es soweit sein sollte, waren sie
verschwunden, Juno und ihr Zottel. Ok, sowas kam vor. Aber ohne uns Bescheid
zu sagen? Einfach so? Wo doch das nächste Flugblatt, die nächste Demo, die
Besetzerversammlung . . .? Dass sie sich so mir nichts, dir nichts . . .
verkrümelte?
Wahrscheinlich machen die schon Flitterwochen, sagte Towje.
Nee, das passt nicht, meinte Maier. Aber wer weiß.
Zwei Tage später, es hatte geschneit, Maier und ich saßen am Küchentisch
und sahen, wie Towje über den Hof gerannt kam. Er winkte uns zu. Und rutschte
immer wieder aus. Die weiße Katze des Nachbarn hielt kurz inne, äugte, dann
wischte sie davon. Towje war aufgeregt. Er stieß die Tür auf. Er zog seine
Fäustlinge aus und trampelte den Schnee von den Schuhen.
“Die Bullen ham’ sie hopsgenommen.”
Was jetzt?
Sie da rausholen! Ja, gut. Aber wie?
Es wurde geredet, geplant, verworfen.
Schließlich tauchte sie von selbst wieder auf. Sie blieb im Türrahmen
stehen und schaute uns an. Stumm. Mit unbewegtem Gesicht. Dann legte sie sich
auf die Couch, rollte sich zusammen und begann zu wimmen wie ein Baby.
“War es so schlimm?” fragten wir.
Sie schüttelte den Kopf.
“Nein”, sagte sie, “es ist nur wegen Tadzio. Er hat mich verpfiffen. Er hat
uns alle verpfiffen. Sie haben ihm Geld dafür gegeben.”
Dann schlief sie ein. Irgendwann in derselben Nacht muss sie sich
weggeschlichen haben. Zwei Tage hörten wir nichts von ihr. Dann machten
Maier und ich uns auf die Suche.
In der alten Klinik fanden wir sie. Auf dem Dachboden. Zuerst sahen wir
ihre Fransenboots. In Augenhöhe. Darunter auf dem Boden eine kleine,
umgekippte Trittleiter. Das Seil hatte sie an einem Deckenhaken befestigt. Und
diesmal hatte der Haken gehalten.

Der Maximantel
Als ich noch ein tschechischer Teenager war, der in Prag lebte, und die BRD das
große, freie Land westlich der Grenze, damals, im Jahr 1970 also, war dieses
Land für mich auch frei von allen historischen Lasten. Ich dachte nicht an Nazis,
an Hitler oder irgendwelche ähnlich dunklen Erscheinungen, die von unserer
hellen, psychedelischen Ära mindestens ein paar Jahrhunderte entfernt schienen.
Die BRD war, ganz einfach, die Quelle aller guten Dinge, die das Leben zu
bieten hatte: die neuesten Kleider, Schuhe, Platten, weiches Klopapier. Der
Prager Frühling war 1968 niedergeschlagen worden, und die Tschechoslowakei
erwartete eine Art Dunkles Zeitalter. Ich merkte das und wollte trotzdem dort
leben. Es war meine Heimat. Es war der Ort, an dem ich mich verlieben und
meine Jungfräulichkeit verlieren wollte – wenn auch nicht unbedingt in dieser
Reihenfolge.
Viele meiner Freunde waren kurz nach dem Einmarsch der Russen in den
Westen emigriert, ich jedoch hatte nie daran gedacht, dass das auch mein
Schicksal werden könnte. Wir führten ein fantastisches Leben in Prag, dank
meines Vaters, der einen angesehenen Job als Übersetzer hatte. Mein Bruder und
ich besuchten gute Schulen, meine hatte sogar ein Schwimmbad. Wir hatten
zwei Autos (und keines davon war ein Skoda!) und lebten in einer Wohnung, die
stilvoll und mit vielen Antiquitäten eingerichtet war. Meine Eltern führten ein
aufregendes gesellschaftliches Leben, und sie selbst und auch wir Kinder
glaubten fest daran, dass Prag der intellektuelle Mittelpunkt der Erde sei. Ich
stellte mir vor, dass mein Leben irgendwann einmal von der gleichen
mysteriösen Schönheit sein würde, die ich auch in der Stadt spürte: diese
Mischung von Aufgeregtheit und Traurigkeit, Resignation und Euphorie. Ich
merkte nicht, dass Prag eigentlich ein manisch-depressives Paradies war. Für
eine 16-Jährige schien Prag perfekt.
Es war ein Schock für mich, als auch unsere Familie sich dem Treck der
Emigranten anschloss und in den Westen zog. Nicht sehr weit in den Westen, nur
bis Hamburg, aber wer in den siebziger Jahren die Grenze zwischen Ost und
West überquerte, der glaubte, er sei auf einem fremden Planeten. Wir waren
jedenfalls fest davon überzeugt . . .
Warum gerade Hamburg? Warum nicht Paris, London, Tel Aviv, Montreal
oder New York? Wenn man schon sein Leben neu erfinden muss, warum nicht in
einer Stadt, die wenigstens einen ästhetischen Ausgleich bietet für den
Ortswechsel? Das graue, nasse, kalte, sterile Hamburg wirkte wie eine recht
willkürliche Wahl, und genau das war es auch. Mein Vater hatte durch einen
persönlichen Kontakt einen Job beim Otto Versand bekommen – und der
Firmensitz war nun einmal in einem Vorort von Hamburg. Für ihn bedeutete es,
dass er ein festes Einkommen hatte, wenn auch ein sehr bescheidenes. Für uns
bedeutete es, dass sich unser Leben radikal veränderte. Viele Jahre später wurde
mir klar, wie man eine solche Erfahrung nennt: ein Trauma. In jener Zeit fühlte
es sich mehr wie ein Spiel an, wie ein kleines Abenteuer.
Ich lebte nun nicht mehr inmitten wunderbarer Antiquitäten, sondern in
einem Haus, das wie ein Würfel aussah und das wir dem Otto Versand
verdankten. In dieses Haus stellten wir Möbel, die wir an Sperrmülltagen von
der Straße holten – so wie man auch ein Puppenhaus möblieren würde. Mein
Vater hatte einen Job, bei dem es darum ging, die Lagerbestände zu
kontrollieren. Ich habe ihn neulich einmal gefragt, wie das war, erst Literatur zu
übersetzen und dann nichts anderes zu tun als jeder unstudierte Arbeiter. Er
lachte und sagte, er habe das amüsant gefunden. Ich glaubte ihm nicht. Vor allem
als mir klar wurde, dass meine Eltern damals jünger waren, als ich es jetzt bin.
Sie hatten beruflich und privat alles erreicht, sie waren glücklich gewesen und
zufrieden; jetzt standen sie wieder – am Anfang.
Keine Frage, meine Eltern lebten auf einmal in einer Art Vakuum, denn
genau so fühlte sich auch mein Leben an. Hamburg war angenehm, aber eine
Stadt, zu der ich keine Verbindung hatte. Im Gegensatz zu Prag hatte Hamburg
nicht diese komplizierte, neurotische Schönheit. Aber je mehr ich die
sentimentale Verklärung der Heimat, die ich für immer verlassen hatte,
bekämpfte, desto mehr begann mir der geradlinige, kühle Charme Hamburgs zu
gefallen.
Dieser Charme hatte mit der entspannten, freundlichen Art meiner neuen
Freunde zu tun. Ich musste ja wie ein Baby die Sprache neu lernen, und keiner
gab mir das Gefühl, ich sei ein Idiot – außer ich tat es selbst. Im Gegenteil, sie
bemühten sich, mir zu helfen, indem sie praktisch andauernd mit mir redeten.
Während ich mir früher zutiefst pubertäre, philosophische Gedanken über die
Bedeutung des Lebens gemacht hatte, ging es nun darum, die Namen der Dinge
zu lernen. Besonders begeistert war ich von zusammengesetzten Wörtern wie
“Plastiktüte”, “Staubsauger” oder “Mahlzeit”. Auch das Wort “Bundesrepublik”
hatte es mir angetan. Aber das magischste Wort von allen war “Maximantel”,
und das nicht nur wegen seines Klanges.
Der Maximantel, ein sehr langer, schwerer Wintermantel, der einem bis zu
den Füßen reichte, war der letzte Schrei in jener Saison, in meinem ersten Winter
in Deutschland. Dieser Mantel erinnerte einen an das 19. Jahrhundert, er war
puritanisch – und gleichzeitig sehr provokativ. Wir, die 16-Jährigen jener Zeit,
begriffen nicht, wie sexy diese Mäntel eigentlich waren. Denn es ging ja darum,
dass man unter dem langen Mantel einen sehr, sehr kurzen Rock trug, den man
eigentlich mit farbigen Strumpfhosen und hohen Stiefeln kombinierte; aber die
Teenager Hamburgs wählten meistens Cordjeans und sportliche, hochgeschnürte
Schuhe. Und natürlich imitierte ich sie, obwohl ich mich wie jedes
osteuropäische Mädchen nach dem vorerotischen, miniberockten Nutten-Look
sehnte.
Ich besaß die Jeans und ich besaß die Schuhe, aber der Maximantel – der
allgegenwärtige, essentielle Maximantel – blieb für mich ein unerreichbarer
Traum. Plötzlich wurde mir mit einer schmerzhaften Klarheit bewusst, dass wir
als Emigranten deutlich weniger Geld hatten als noch in Prag. Meine Eltern
konnten es sich schlicht nicht leisten, mir einen Maximantel zu kaufen.
Schließlich verdiente mein Vater beim Otto Versand nur 1 000 Mark im Monat.
Warum hing mein Herz an diesem Mantel? Er war gerade in Mode, richtig,
aber eigentlich musste ich nicht immer genau den Gegenstand besitzen, der
gerade angesagt war. Manche Dinge war mir völlig egal; zum Beispiel machte
ich mir nichts aus breiten Ledergürteln mit riesigen Schnallen und auch nichts
aus all dem Zeug, das aus “Knautschlack” fabriziert wurde. Der Maximantel
aber war für mich das Symbol der kühlen westlichen Eleganz, weiblich und doch
entspannt, sehr erwachsen und dabei bedingungslos jugendlich. Und manchmal
stellte ich mir vor, wie ich nach Prag zurückkehren und dabei einen
übernatürlich schönen, schicken Maximantel tragen würde. Meine tschechischen
Freunde würden staunen! Trotzdem ging es in dieser Fantasievorstellung
natürlich um mehr als nur darum, Eifersucht zu provozieren; es ging um den
unmöglichen und verbotenen Wunsch, aus dem Exil in die Heimat
zurückzukehren. Wenn ich in diesem Winter mit einem Maximantel nach Prag
gefahren wäre, dann hätte das bedeutet, dass unser Aufenthalt in Hamburg nur
vorübergehend gewesen wäre: ein Einkaufstrip, ein Kurzbesuch. Ich hasste die
bedrückende Endgültigkeit der Emigration. Wenn man 1970 die Grenze
zwischen der Tschechoslowakei und Westdeutschland überquert hatte, dann gab
es keinen Weg mehr zurück. Man kündigte sein altes Leben und begann ein
neues – mit den Konsequenzen musste man leben. In meinem Fall war es die
grausame Tatsache, dass ich mir den Mantel meiner Träume nicht leisten konnte.
Die Rettung war, wie sich herausstellte, mein kleiner Bruder Maxim, der so
fotogen war, dass man ihn sofort engagierte, als mein Vater ihn als Model für die
Kataloge des Otto Versandes vorschlug. Damals, als er zehn Jahre alt war, hatte
er langes, gewelltes Haar, ein erwachsenes und vielsagendes Lächeln und die
überraschende Fähigkeit, vor der Kamera mit der Selbstverständlichkeit eines
erfahrenen, gehirntoten, mittelalten Models zu posieren. Ich weiß nicht genau,
wie mein Bruder damit fertig wurde, dass man ihn aus seiner natürlichen
Umgebung herausgerissen hatte. Er spielte Fußball mit Freunden, wie er es auch
schon in Prag getan hatte, er klebte vor dem Fernseher (vor allem “Tarzan”) und
las alle Bücher nur auf Tschechisch. Sein Deutsch war nicht perfekt, aber besser
als meines. Auf den Katalogfotos schaut er inmitten der meist blonden deutschen
Kindermodels aus wie ein Fremdkörper, dunkel und lässig. Er sieht auch älter
aus, wie ein Erwachsener in Miniaturformat und nicht wie ein übergroßes Baby.
Maxim erhielt ein anständiges Honorar dafür, dass er aussah wie eine
Wachsfigur in lächerlichen Kostümen: ein karierter Anzug, eine Knautschlack-
Jacke “im Rennfahr-Look”. Mit dem ersten Geld, das er bekam, kaufte mir mein
kleiner Bruder meinen ersten, für immer unvergesslichen Maximantel.
Er war von C&A, kostete 98 Mark und war wie ein Stück vom Himmel.
Sehr dunkles Marineblau, mit einem kleinen Stehkragen und Metallknöpfen bis
zum Boden. Er passte mir wie selbstverständlich, als wäre er immer meiner
gewesen. Das Gefühl, endlich!, meinen allerersten Maximantel zu besitzen, war
so überwältigend süß, dass ich sofort vergaß, wie das Leben ohne ihn gewesen
war. Als ich ihn am nächsten Tag anzog und in die Schule ging, fühlte ich mich
endlich wie eine von ihnen: Ich hatte, was sie hatten, ich trug, was sie trugen. Ich
gehörte dazu. Und jetzt, da ich meinen Maximantel hatte, war ich auch
selbstbewusst genug, mit einer Gruppe meiner Freunde zum Pink-Floyd-Konzert
zu gehen. Wir hatten dort übrigens alle einen Maximantel an und zogen ihn nie
aus.
Was die Modelkarriere meines Bruders angeht, die dauerte nicht allzu lang.
Als er eines Tages angerufen wurde, um für weitere Fotos zu posieren, da hatte
er mehr Lust, mit seinen neuen deutschen Freunden Fußball zu spielen, und er
sagte nein – und wurde nie wieder gefragt. Es ging ihm nicht wirklich um das
Geld, denn es wurde eh nie dazu verwendet, seine Träume zu finanzieren. Was
Maxim wirklich wollte und nie bekam, das war eine Carrera-Bahn. Eine
Rennanlage aus Plastik mit kleinen Autos. Er sagt, dass er sie sich heute immer
noch wünscht – und ich glaube, ich sollte ihm eine kaufen.

Die Kelle
Der Heinz war uns mächtig auf die Nerven gegangen. Zum Geburtstag hatte er
ein Schaffnerset bekommen, mit einer roten Plastikschärpe, einer Schildmütze
und einer Kelle dazu. So ausstaffiert stand er im Partykeller seiner Eltern auf
einem Eimer, fuchtelte mit der Kelle durch die Luft und krähte: “Alle Mann hier
herum, ich bin die Schaffnerpolizei”. Weil wir endlich Topfschlagen wollten,
fügten wir uns einfach seinem Kommando. Als er dann allerdings auch den
weiteren Nachmittag von seinem Eimer aus dirigieren wollte, beschlossen wir,
ihn einfach zu ignorieren, und so schlug sein Versuch, die Gesellschaft neu zu
ordnen, schon nach dem ersten Durchgang fehl.
Heinz wusste um die Bedeutung seiner Insignien. Denn unser erster Schritt
in die Freiheit war in diesem Sommer auch unsere erste Begegnung mit dem
Staat gewesen, jenem abstrakten Gefüge aus Rechten und Pflichten und
Ordnungsorganen. Zu Beginn des neuen Schuljahres durften wir endlich
unbeaufsichtigt mit dem Bus nach Hause fahren. Heinz, Olli, der Hintermayer
und ich hatten den selben Weg, also bildeten wir eine verschworene
Gemeinschaft, die auch auf dem Schulhof hielt. Was waren wir erwachsen
geworden mit unseren acht und neun Jahren. Mündige Bürger mit einem eigenen
Fahrschein, einem eigenen Heimweg, einem eigenen Schlüssel. Unsere Freiheit
endete jedoch nur wenig Meter hinter dem Schultor vor dem Zebrastreifen. Dort
stand die Vertreterin der Staatsgewalt, eine ältere Dame, die bei jedem Wetter
einen orangefarbenen Gummimantel und eine Schildmütze mit einem
fluoreszierendem Band trug. Unter ihrem Arm klemmte ihre Kelle, ein polierter
Holzstab, an dessen Ende eine runde Metallscheibe befestigt war, weiß lackiert
mit orangenem Kern. Mit der konnte sie wahre Wunder vollbringen. Kelle runter
ließ uns auf der Stelle verharren. Kein Ausbruch war möglich, sonst erklang ein
gellender Pfiff auf der Trillerpfeife, die sie an einer Schnur um den Hals trug.
Kelle hoch brachte den vierspurigen Ausfallsverkehr mit einem Schlag zum
Stehen.
An der Schülerlotsendame kam keiner vorbei, und das war auch gut so. Sie
gab unseren Eltern dieses Gefühl von Sicherheit – und eigentlich auch uns. Denn
mal ehrlich, der Weg vom Fußballplatz nach Hause führte über Erdhügel und
Bürgersteige, einen nicht zu betretenden Rasen und ein Treppenhaus, das im
Wochentakt von den Mietparteien blank gefegt wurde. Zwischen der Schule und
dem Mittagstisch lagen jedoch unzählige Gefahren. Ampeln, Kreuzungen und
Fahrradwege, die Bushaltestelle mit den missmutig Erwachsenen, nicht zuletzt
jene mythischen Figuren, die hier draußen die Funktion der Gespenster unterm
Bett übernommen hatten – die unbekannten Männer mit der Schokolade, die nur
darauf lauerten, uns zu verschleppen und Gräueltaten zu begehen. Die Frau mit
der Kelle aber wachte wortlos und streng über den kurzen Weg zwischen der
Schule und der Busstation. Wir kannten ihren Namen nicht, wir wussten auch
nicht, was sie während der 22 Stunden tat, die sie nicht vor unserer Schule stand.
Wir wusste nur – dieser Frau kann man vertrauen. Weil sie mit einem Zeichen
ihrer Kelle die ganze Welt zum Stillstand brachte.
Keine Frage, wo die Staatsgewalt auftritt, regt sich auch der Widerstand.
Unser einziger Versuch zu rebellieren wurde allerdings schnell unterbunden. Der
Olli hatte entdeckt, dass sich das große Tor des Schulhofes öffnen ließ. So
konnten wir, anstatt den Zebrastreifen zu benutzen, einfach über die Straße
laufen, vor allem aber vorbei am Kiosk, einem Pavillon aus Holz, vor dem sich
schon am Mittag ältere Herren zum Bier trafen. Dort setzten wir unser
Taschengeld in Superman-Hefte und Gummischlangen um. Wir legten unsere
Münzen in die Schale aus buntem Plastik und verstauten die Beute zwischen
Heften und Büchern in den Ranzen. Wir hatten uns ein Stück wirklicher Freiheit
erobert. Einen Ort, an dem man uns wie Erwachsene behandelte. Als
selbstständige Kunden.
Dieses unerschütterliche Vertrauen in den funktionierenden Rechtsstaat
übertrug sich natürlich auch auf uns Kinder. Ein paar Jahre später wussten wir
zwar, dass Polizisten Bullen heißen. Doch dies war nur eine freche Floskel.
Sollten wir die Herren in den grünen Uniformen nicht um Rat fragen, wenn wir
uns einmal verlaufen hätten? Sie hatten uns sogar schon bewiesen, dass sie nur
unser Bestes wollten. Auf der Ringstraße, als wir mit Heinzens Eltern vom Kino
heimkehrten. Ein Streifenwagen überholte, ein Arm in Leder reckte sich aus dem
Beifahrerfenster und winkte mit einer Kelle, in deren Mitte eine rote Lampe
leuchtete. Heinzens Vater kontrollierte Tacho und Krawatte, fuhr auf den
Pannenstreifen und kurbelte das Fenster herunter. Er überlegte kurz. War das
Rücklicht ausgefallen? Der Tankdeckel nicht zu? Schuld war er sich keiner
bewusst. Der Beamte mit der Kelle stieg aus, trat höflich an den Wagen. Der
Hinterreifen sei schon ganz platt, sagte er. Da könne schnell ein Unglück
geschehen. Heinzens Vater bedankte sich, grüßte und machte sich sogleich mit
Wagenheber und Schraubenschlüsseln daran, den Schaden zu beheben.
Wie viel Staatsgläubigkeit verträgt ein Land? Selbst als sich die Kelle in
den Händen der Polizei zum Instrument von Zucht und Ordnung wandelte,
wurde das Sicherheitsgefühl nicht weiter gestört. Zur gleichen Zeit, als die
Fahndungsplakate in den Postämtern auftauchten, erfand die Staatsmacht die
Methode der Rasterfahndung. An den Straßensperren standen die Polizisten nun
bewaffnet und bereit. Mit ihren Kellen selektierten die Beamten die Fahrzeuge
für die Stichproben am Straßenrand. Die Freundlichkeit war verflogen. Sie
fragten mit strengem Ton nach den Papieren, ließen uns den Kofferraum öffnen,
manchmal sogar das Gepäck. Nach der Prozedur winkten sie einen wortlos
weiter.
Das sahen wir meist nur im Vorbeifahren. Es waren nie wir, die durchsucht
wurden. Der Kampf zwischen Untergrund und Staat tobte in abstrakten
Fernsehbildern und Zeitungsberichten. Nach wie vor waren es die anderen, die
unter der Wirklichkeit zu leiden hatten, auch wenn sich diese Wirklichkeit mit
einem Mal in nächster Nähe befand.
Bis in die späte Jugend begleitet uns die Kelle als Szepter des öffentlichen
Dienstes und gleichzeitig das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Später gingen wir
unsere eigenen Wege. Heinz schlug die mittlere Beamtenlaufbahn ein. Olli ging
in die Werbung. Der Hintermayer zum Bund. Und weiterhin blieb alles klar und
alles geregelt.
Erst als die Mauer fiel und die Grenzposten auf beiden Seiten machtlos mit
ansahen, wie die Bürger ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen, schien die
Kelle an Bedeutung zu verlieren. Nutzlos hing sie an den Gürteln der Grenzer.
Niemand wollte sich noch den Weg weisen lassen. Die Realität war nach
Deutschland zurückgekehrt. Und der Lauf der Geschichte ließ sich nicht einfach
so regeln wie der Straßenverkehr.
Den Heinz habe ich vor kurzem nach Jahren mal wieder besucht. Die
Beamtenlaufbahn hat er abgebrochen. “Nix zu verdienen”, wie er meinte. Jetzt
macht er in Papieren und hat sich in Krailling ein hübsches Einfamilienhaus
gebaut. Es war ein recht langweiliger Abend. Wir saßen in der Küche, tranken
Wein. Heinz erzählte von seinen Aktienpaketen, seinen Investitionen, versuchte
mich dazu zu überreden, doch endlich meine Ersparnisse aggressiv anzulegen.
Im Wohnzimmer spielten seine beiden Söhne auf der Polstergarnitur. Der Ältere
trug einen Cowboyhut. Der Jüngere eine Feder. Dann standen sie plötzlich vor
uns. Sie zogen ihre Plastikpistolen. “Geld oder Leben”, krähte der Ältere. Dann
griffen sie sich jeder einen Keks und rannten wieder hinaus.

Die Fleischwurst
Wurst verbindet, das wusste schon meine Großtante zu berichten. Für ein Stück
Wurst konnte man zu Kriegszeiten bei Familie Henscheid in der Nähe von Köln
zwei Tage versteckt werden. Egal ob der Wursthändler auf der Flucht vor Nazis
oder als Nazi auf der Flucht war. Die Wurst hing innen im Mantel oder wurde
dezent aus der Tasche gezogen. Professionelle Herbergsunternehmen brauchten
nur einen Blick, um Wurst in Nächte umzurechnen.
Auch ich lernte bereits im Alter von vier Jahren, was es hieß, eine Wurst zu
bekommen.
Damals, 1964, wurde ich praktisch an die so genannte Wurstnadel gehängt.
Der Gang zur Wurst von Metzgerei Schweißfurth machte mich und andere
Kinder süchtig. Dort trafen wir uns und warteten auf jenen Moment, an dem sich
die dickste Verkäuferin mit den vollgeschwitztesten Oberarmen direkt über die
Wursttheke beugte und mit den Sätzen: “Na, mein Süßer? Was haben wir denn
da? Willst du Wurst, mein Kleiner?” ein verhältnismäßig großes, braun-rot-
saftiges Fleischwurststück im Echtdarm über die Theke hielt und darauf wartete,
dass ich es mit meinen kleinen Patschehändchen annahm und dann mit stolzem
Seitenblick zu meiner Mutter reinbiss.
Für unseren Dackel Ilka war das eine Qual. Kann mich noch gut erinnern,
wie er 1968 nach eben einem solchen Metzgerbesuch Selbstmord beging, indem
er sich von einem Mercedes überrollen ließ. An diesem Abend hatte ich
eigentlich zum ersten Mal die Nase voll von Fleischwurst und lernte, dass
Fleischwurst nur dazu dient, Klassenunterschiede auf sehr unangenehme Art und
Weise zu unterstreichen. Der Hund bekam Fleischwurst im Kunstdarm, den er
dann erst Wochen nach Wurstverzehr mühsam aus dem Arschloch drückte. Mein
Echtdarm war mittlerweile in alle Einzelteile zerlegt und alle Nährstoffe in die
Kleinkindentwicklung eingebaut.
Aber egal ob Echt- oder Kunstdarm, es kommt auf den Inhalt an, und ich
vermute mal, dass ich als 8-Jähriger dieselbe Wurst bekommen habe wie etwa
die 68er. Und genau darauf will ich hinaus. Die Wurst von damals ist einer der
Zeugen, die es leider nicht mehr gibt und die eindeutig belegen könnten, dass die
Fleischwurst eines Nazis von heute nichts, aber auch gar nichts mehr mit einer
Fleischwurst der 68er zu tun hat. Die Zeiten haben sich geändert. Ich habe
dieselbe Fleischwurst bekommen wie Joschka Fischer, für mich sind dieselben –
damals noch gesunden – Kühe und Schweine gestorben wie für Joschka, und wir
wurden beide damit auf Klassenunterschiede aufmerksam gemacht. Die Wurst
war ein Machtinstrument. Und genau deshalb musste sie 89 verschwinden.
In der damaligen DDR gab es nur sehr wenige Vitamine und noch weniger
Mineralien. Als meine Eltern mit mir mal in der DDR zu Gast waren – mein
Vater spionierte damals für den BND -, haben wir in Leipzig DDR-Fleischwurst
gegessen. Schon wenige Stunden später hatten wir weiße Flecken unter den
Fingernägeln. Die DDR-Fleischwurst absorbierte die letzten Mineralien und
Vitamine, die Haut wurde fahl, Calciummangel setzte ein. Warum, fragten wir
uns in Helmstedt. Warum sammelt mein Vater im Lionsclub Brillen für Afrika,
und warum nicht Fleischwurst für die DDR?
Schon wenige Stunden nach unserer Rückkehr in den Westen, war meine
Haut wieder gut durchblutet und die Flecken komplett verschwunden.
Vitamine und Mineralien symbolisieren Reichtum, und Reichtum war dem
Osten untersagt.
Also aß ich meine Fleischwurst bis 1989 alleine weiter. Aus der Spenden-
und Sammelaktion ist nichts geworden. Es ging um Wichtigeres wie etwa Mode
und Verzweiflung, FSK, Holger Hiller, Sounds, um geniale Dilletanten, um die
Bekämpfung der kommerzialisierten Neuen Deutschen Welle und um die Frage,
ob alle Grünen noch alle Fleischwurst im Schrank haben.
Sah damals nicht so aus. “Ab nach Indien” haben wir gerufen und die
Fleischwurst zusammen mit “Vier Kaiserlein” einer Nürnberger
Lebkuchenspezialität, in uns reingeschoben und an früher gedacht. An die Zeit
als man uns abhängig gemacht hat und die Fleischtheke die Grenze zwischen
Macht und Abhängigkeit war. “Die Mauer war eigentlich eine Fleischtheke”, hat
mir mal ein kleiner Ostdeutscher Metzger erzählt, der 1989 auf
Neulandfleischwurst umstellen wollte, was aber der Vereinigungsvertrag
verboten hat. Selbst am Abend der Wiedervereinigung habe ich Fleischwurst
gegessen und mich geärgert, dass es auf allen Kanälen nur um Bananen ging.
Kurz darauf kam es zu ersten Engpässen. Die Fleischwurst verschwand aus den
Kühltheken. Ab und zu bekam man mal einen Tipp. Da ist man dann regelrecht
hingerast, oft zu spät. Ich bekam damals Entzugserscheinungen, hörte von
Fleischwurstdepots in der Ex-DDR und von Hamsterkäufen der Klassenfeinde.
Das hat mich stark belastet. Jeder Verlust belastet mich. Mit Überfluss kann
ich gut umgehen, aber Verlust macht mich traurig. Weil es so scheiße ist, wenn
man mal etwas hatte, was einen glücklich gemacht hat. Die Fleischwurst im
Westen hat einen glücklich gemacht. Die Fleischwurst im Osten sicher nicht.
Erst jetzt wo ich sehe, dass Westerwelle, dem man den Entzug von Fleischwurst
regelrecht ansieht, nur noch alles in einen Topf wirft und das Töten von
Schwarzen gleichsetzt mit ein bisschen Popohauen bei Polizisten, die noch mit
Filbinger zusammen im Lager waren, dann möchte ich ihm so eine Fleischwurst
oben und unten, hinten und vorne reinstecken, damit das dumme Geschwätze
endlich aufhört. Das Projekt 18 der FDP wird niemals funktionieren. Dafür
werde ich Sorgen. So wahr ich Fleischwurst bin!
PS: Eine neueste Untersuchung hat ergeben, dass das Verschwinden der
Fleischwurst 1989 die Möglichkeit einer BSE-Erkrankung um circa 0,9 %
Prozent verringert.
Von daher hat mir die DDR vielleicht sogar das Leben gerettet. Danke!

Der Pass
Es war ein Sonntagnachmittag, als ich das Passbild von meiner Mutter fand,
zwischen Zetteln und Fotos in einem Karton. Da lebten meine Eltern längst in
der kleinen Stadt bei Hannover, die das neue Zuhause geworden ist vor vielen
Jahren. Seit dem Faschingsdienstag 1984, um genau zu sein, und vielleicht fällt
mir das so wieder ein, weil meine blonde Mutter auf jenem Passbild verkleidet
aussieht, mit dunklem Rollkragenpullover, schwarzhaarig, bleich, Schatten unter
den Wangenknochen, die ganze auffällige Unauffälligkeit einer untergetauchten
Terroristin. Wahnsinnsbild, das war das erste, was ich dachte, perfekt der irre,
entschlossene Blick. Der zweite Gedanke war, dass ich sie so noch nie gesehen
hatte. An die schwarzen Haare hätte ich mich erinnern müssen. So etwas vergisst
man nicht, auch wenn die Jahre wie Nebel zwischen heute und dem
Entstehungsdatum der Aufnahme liegen.
Das Foto selbst stammt aus der Zeit vor dem Faschingsdienstag 1984, aus
einem auf groteske Weise exotischen, jetzt unerreichbaren Land. Weil es das
Land, in dem wir wohnten, nicht mehr gibt. Die Uniformen unserer Soldaten
waren grau wie die Augen meiner Mutter, und der Schnitt hatte verblüffende
Ähnlichkeit mit den Uniformen der Wehrmacht. Unser Pass war wunderbar blau,
und wir: Wir waren damals weder das Volk, noch waren wir Deutsche; wir
waren Staatsbürger der Republik. Alles andere hörte sich fremd an. Nicht richtig
jedenfalls. Es gab einiges, was wir Staatsbürger mit dem blauen Pass machen
konnten. Er sorgte für Stimmung und milde Schadenfreude, wenn jemand der
Sinn nach einem misslungenen Passfoto mit einem falschen Lächeln stand. Im
Sommer konnte man mit ihm Insekten zerdrücken, die zu winzig waren, als dass
sie Mitgefühl erregt hätten. Aber vor allem war unser blauer Pass in seinem
Überhaupt-Vorhandensein eine Art Beweis: Uns und unser Land gibt es wirklich.
Da wird es den Fortschritt schon auch noch geben. Man musste es ja immer und
ständig allen beweisen. Den Staatsbürgern. Und denen draußen, außerhalb der
Grenzen, die das Land, das es nicht mehr gibt, in Gänsefüßchen setzten.
Was dumm war. Klüger wären jene Populisten gewesen, hätten sie das Land
nicht in Frage gestellt und sich für die Anerkennung der DDR eingesetzt. Denn
das wirklich Wichtige haben sie übersehen; vielleicht erschließt es sich auch nur
im Rückblick: Erst wir gaben der Idee, die ein anderer, ein grüner Pass
verkörpern sollte, einen Sinn. Wir sorgten für Stabilität. Ohne den blauen Pass
hätte es den grünen nie gegeben. Je deutlicher die Demokratische Republik von
der Bundesrepublik getrennt war, umso klarer und lauter konnte diese Ich
schreien, sich heimisch und sicher vor Nationalismus fühlen in einem paradoxen
Verfassungspatriotismus, unschuldig werden, BRD werden. Keiner redete von
Deutschland, von Geschichte. Kohls Wort von der Gnade der späten Geburt war
kein Affront, sondern Konsens. Die Wurzeln und das Faule waren Drüben, die
DDR das nationale Unterbewusstsein, Hüterin verbannter Phantasien. Wie eine
Sondermüll-Kippe auf einem anderen Planeten, hier Musterland, dort
Mördergrube, und nur ein paar paranoide Intellektuelle wie Enzensberger, die
erwartungsgemäß das eine noch immer für das andere hielten. Tatsächlich, die
Welt war in Ordnung.
Am Faschingsdienstag 1984 ist nach zwei Jahren Wartezeit unser
Ausreiseantrag genehmigt worden. Meine Eltern hatten die ungeheuerliche Idee
gehabt, den blauen Pass gegen den grünen einzutauschen. Bevor wir der Grenze
entgegenfuhren und mit dem abgelegten Faschingskostüm auch meine Kindheit
in der DDR zurückblieb, hatte ich noch eine letzte sonderbare Begegnung in der
Schule. Das Mädchen Grit, Tochter eines schwer atmenden Funktionärs, nahm
mich zur Seite. Ihr vertrauter Schweißgeruch war beruhigend und abstoßend
zugleich. Wir waren zwölf Jahre alt.
Da ist Krieg, verstehst du?
Ich verstand nicht.
Da, wo ihr hinwollt, sagte Grit. Weil so der Kapitalismus ist. Du musst dich
entscheiden – willst du Krieg, oder willst du Frieden.
Als ich Jahre später im Karton das Terroristen-Passbild meiner Mutter, also
ein Stück bis dahin verborgener Familiengeschichte fand, war mir erst recht klar,
dass es in Wirklichkeit weitaus ernster war. Für den echten grünen Pass hätte
meine Mutter auch ihr Leben aufs Spiel gesetzt, das gab ihm einen extremen
Wert; einen falschen grünen Pass hatte sie sich schon besorgt. Es gab auch den
Plan, im Schlauchboot über die Ostsee zu paddeln. Das haben sie tatsächlich so
gemeint. Nur war die quälende Frage immer, wie man die Familie
zusammenbehalten sollte. Dann jedoch kam die Entwarnung, denn der
Ausreiseantrag war genehmigt.
Die naive Klarheit von Grit hat mich aber sehr beeindruckt. Es schien auch
genügend Belege für ihre These zu geben, aus ihrer Sicht: Im DDR- Fernsehen
der singende Amerikaner Dean Reed, der es vorgezogen hatte, aus den
Südstaaten in den Oststaat zu ziehen. Weil Krieg war und der Ku-Klux-Klan die
Schwarzen tötete. Karl Jaspers hatte seinen BRD-Pass abgegeben. Weil die
Faschisten längst den Dritten Weltkrieg vorbereiteten. Manfred von Brauchitsch,
der Silberpfeil-Pilot, war bei Nacht und Nebel in die DDR geflüchtet, und das
sicherlich nicht, weil unsere Autos schneller gewesen wären. Erst später kam mir
der Gedanke: dass es genau diese Logik war, Grits Logik, wieder bis zur
Erkenntlichkeit umgedreht, die der alten BRD ihre Identität gab. Wenn da
drüben das Böse war, musste die eigene Seite die gute sein. Nur in einem irrte
Grit. Was sie auf Krieg und Frieden reduzierte, hatte in erster Linie nichts mit
Kapitalismus zu tun. Der Konflikt war ein anderer: Es ging immer um nationale
Identität. Dabei schienen beide deutsche Staaten das Problem gelöst zu haben,
über eine Abgrenzung zum jeweils anderen.
Als wir den BRD-Pass bekamen, hat man es ihm sofort angesehen, die
einstige Idylle und die Abwesenheit des Zweifels. Die historische Farbe des
wohlhabenden Bürgertums leuchtete da, neu interpretiert als Hoffnung,
Zuverlässigkeit, Sicherheit: Alles im grünen, im westdeutschen Bereich. Ein
unverdächtiges Terrain. Man war nur stolz auf das, was man geleistet hatte. Die
grüne Farbe signalisierte nichts Nationales, sondern letztendlich eine materielle
Haltung. Sie bedeutete Wohlstand für alle. Das war, bevor sich das Land nach
rechts ausbreitete, auf der Landkarte und auch im Geist; bevor man wieder
Deutschland sagte. Dieser Begriff kam schleichend auf, fast unbemerkt, wie jede
Veränderung der Sprache.
Zuvor hatte man immer nur von Bundesrepublik gesprochen. Ich verstand
es sofort, es war das Gleiche wie in der DDR. Nur dass sie hier nicht
Staatsbürger der Republik, sondern Bundesbürger sagten. Das lernte ich, kaum
dass ich in der BRD war, von meinem niedersächsischen Onkel. Er saß auf
seinem Sofa, das grün war wie der Pass und der Wohlstand, ließ seinen
Nachbarn schwarz bei sich im Garten arbeiten und setzte, weil er schlau war,
seinen trägen Dackel als Jagdhund von der Steuer ab. Bis der von einem
Schäferhund totgebissen wurde. Bei uns hier, sagte damals der Onkel auf dem
Sofa, bei uns hier sagt man Bundesrepublik. Und innerhalb dieser Republik gab
es Münchner, Hamburger, Bremer, eingeschworen auf ein Grundgesetz,
verkörpert in der Unschuld des grünen Passes. Innerhalb der BRD gab es
Deutschland nicht.
Im Sommer nach der Ausreise fuhr ich mit einer Freundin und deren Eltern
zum Zelten an die Adria, auf eine istrische Insel. Die Pinien dufteten. Janina und
ich verglichen täglich unsere Bräune, kicherten, wenn Körper in den
Nachbarzelten Rhythmen vorgaben, die wir nicht kannten. Auf einem Markt in
der Nähe des Campingplatzes kaufte ich ein türkisfarbenes Strandkleid. Wir
aßen CevapCici und waren glücklich. Eines Mittags fielen uns zwei Jungs am
Strand auf. Wo die wohl her sind?, erkundigte ich mich bei Janina. Sie zuckte
mit den Schultern: Aus Deutschland, glaube ich.
Aus Deutschland.
Wo sie doch aus Bremen waren.
Denn während der grüne Pass im eigenen Land die Bundesbürger als
Gemeinschaft schuf, hatte er noch seine andere Funktion, in der er sich vom
DDR-Pass unterschied: Mit ihm konnte man auch Grenzen überschreiten. Und
damit fand jene Deutschwerdung statt, die es innerhalb der alten BRD nicht gab.
Sobald man sie verließ, waren wir keine Bundesbürger mehr. Auf einmal waren
wir Deutsche unter Deutschen, deutsche Touristen allesamt. Sie haben uns das
angesehen, und umgekehrt erkannte man sie schnell. Sie stopften sich CevapCici
rein und waren glücklich in der Sonne. Und vielleicht haben die Bundesbürger
genau deswegen so schnell mit dem Reisen angefangen: Weil sie so auch in aller
Unschuld, zwischen Ein- und Ausreise, Deutsche sein konnten. Sie eroberten mit
ihrem Pass die Welt.
Heute gehört ihnen auch die BRD, seit mit dem Wegfallen der
innerdeutschen Grenze die schöne Kollektivillusion geraubt ist, dass der
Verfassungspatriotismus den Nationalgedanken ersetzt habe. Der grüne Pass ist
durch einen anderen ersetzt worden. Statt öffentliche Wertvorstellungen an der
Normativität der Gesetze zu messen, geistern diffuse Kulturbegriffe umher. Die
Idylle ist verschwunden, genau wie der grüne Pass. Und manchmal frage ich
mich, was aus Grit geworden ist. Ob sie mir nochmal dieses Land erklären
könnte. Wir sind jetzt neunundzwanzig Jahre alt und haben längst wieder den
gleichen Pass.

Racke Rauchzart
Eigentlich fängt die Geschichte in den USA an, in den zwanziger Jahren: Die
Prohibition hatte damals die dortige Whiskey-Industrie abgewürgt, und das Land
wurde von geschmuggelten Scotch überschwemmt. Natürlich war das Zeug
meist gepanscht, überteuert und nur auf kriminellem Wege zu erwerben, doch
die Gier war stärker als jede Vernunft. So wurde schottischer Whisky zum
Inbegriff der Selbstbestimmung, zum natürlichen Begleiter des großstädtischen
Einzelkämpfers und nicht zuletzt zu einem Symbol wahrhaft freier
Marktwirtschaft.
Und so kam er dann auch zu uns, damals, als die Weltanschauung vom Way of
life in die Schranken verwiesen wurde. Nicht dass Whisky früher in Deutschland
gänzlich fremd gewesen wäre: Die Berliner Schickeria der zwanziger Jahre
kannte ihn aus noblen Hotelbars, und die Nazis hatten sich in der Herstellung
von “Deutschem Rauchkorn” versucht. Aber es bedurfte erst der
Institutionalisierung westlicher Zivilisationsstandards durch die Siegermächte,
um den Whisky hierzulande marktfähig zu machen. Nach dem Ende des
deutschen Terrors waren es gerade die fremdländischen Vokabeln und Genüsse,
die eine Identifikation mit den neuen Werten ermöglichten und neue
Rollenvorbilder transportierten. Eines davon war der abgebrühte Kerl unter
dessen rauer Schale sich ein sentimentaler Kern versteckte, und das kam vom
Whisky, das sah man im Kino. Harte Männer tranken das Zeug pur, und wenn
sie zu viel davon erwischt hatten, wurden sie redselig und bekamen diesen
Hundeblick. Dann war da noch der weltgewandte Partylöwe, der Whisky-Soda
trank und versuchte, wie David Niven rüberzukommen, es bestenfalls aber auf
Heinz Drache brachte. Und schließlich noch die wilden Jungs mit Jeans und
Moped, die ihre Cola gern mit Whisky aufgepeppt hätten, wenn sie es sich denn
hätten leisten können.
Das Problem waren die hohen Importzölle, die Whisky zu einem echten
Luxusartikel machten. Zum Prestige-Getränk der frischgebackenen
Wirtschaftswunderkapitäne, zum Glamour-Ausweis jener Filmstar-Generation,
die die neue Moral verkörperte. Whisky war sündhaft und sexy und nur in der
großen Welt zu haben. Die hielt sich bevorzugt an Orten auf wie dem
Swimmingpool und dem Partykeller, den modernen Institutionen luxuriöser
Freizeitgestaltung.
So ein Partykeller war undenkbar ohne Scotch und Crackers, “Negermusik” und
schummrige Beleuchtung. Leere Whiskyflaschen, am liebsten solche der Marke
Vat 69, wurden zu Kerzenhaltern umfunktioniert, denn zum Wegwerfen waren
sie viel zu schade.
Der Entwurf eines neuen Lebensstils war also da, nur an der massentauglichen
Umsetzung fehlte es noch. Nun schlug die Stunde der Firma Racke, einem alten
Bingener Weinhandelshaus in Familienbesitz. Die Rackes importieren
schottischen Malt Whisky – die geschmacksgebende Basis jedes Blended Scotch
-, verschnitten ihn mit deutschem Getreidebrand und boten das fertige Produkt
als Red Fox Whisky an. Zum halben Preis dessen, was ein echter Scotch damals
kostete.
Das war im Jahre 1958 und bescherte der Firma sofort einen Riesenerfolg und
einigen Ärger mit den schottischen Interessenverbänden, die wegen des
englischen Namens eine Irreführung ihrer Kundschaft befürchteten. Racke
lenkte ein und behielt nur das Logo mit dem roten Fuchs auf dem Etikett, nannte
die Marke fortan aber Racke Rauchzart. Das war nun wirklich ziemlich clever.
Der Name Rauchzart traf die aromatischen Eigentümlichkeiten von Scotch
ziemlich genau, und der Fuchs bediente das Klischee von britischer Upper-class-
Marotte ebenso gut wie das von anheimelnder deutscher Waldeslust.
Racke Rauchzart kam 1961 heraus, und auch er war auf Anhieb ein Renner.
Dass er milder schmeckte als die meisten der damals in Schottland üblichen
Blends, war eher von Vorteil, und dass er nicht über den Sexappeal von echtem
Scotch verfügte, hatte auch sein Gutes: So konnte sich jeder anständige Bürger
sein tägliches Quantum Abenteuer genehmigen, ohne in den Ruch von
Ausschweifung und Verschwendungssucht zu geraten (das hieß natürlich noch
lange nicht, dass auch Frauen Whisky tranken – Hildegard Knef und Konsorten
mal ausgenommen; die Damenwelt blieb doch bitte bei Likören, Bowlen und
süßen Cocktails). Der deutsche Mann jedenfalls hatte es gut, denn mit einem
Racke-Cola stand er auf der Seite der Freiheit, signalisierte aber gleichzeitig jene
Bescheidenheit, die nach 12 Jahren großdeutschen Wahns plötzlich zur Tugend
geworden war.
Im Laufe der sechziger Jahre wurde die Marke zum Selbstgänger. Die Zahl der
Partykeller wuchs, und mit ihr die Erkenntnis, dass Racke Rauchzart und
gesalzene Erdnüsse eine unschlagbare Mischung abgeben (jede Menge Bier zum
Nachspülen inklusive selbstverständlich – das macht der Schotte auch nicht
anders). Die Firma Racke legte nach und brachte “rauchzart mit” heraus, einen
vorgemixten Whisky-Soda in Portionsfläschchen. Der floppte ebenso wie der
wenig später lancierte Bourbon Old Red Fox, der eigens aus Kentucky importiert
wurde. Racke Rauchzart hatte sich durchgesetzt, weil er außer Durst auch
weitergehende Sehnsüchte zu stillen versprach, die beiden Nachfolgemarken
dagegen waren bloß zwei neue Produkte auf einem zunehmend prosperierenden
Markt.
Immer mehr echte Scotchs drängten nun auf den Markt, und immer mehr
Konsumenten waren bereit, dafür auch mehr Geld auszugeben. Mit der
aufgeklärten Jugend der siebziger Jahre verabschiedete sich dann eine große
Gruppe potenzieller Käufer von den alten Idealen. Sie stieg auf Metaxa und
Persico um oder vergnügte sich gleich mit anderen Rauschmitteln.
Whisky bekam einen etwas spießigen Hautgout – selbst die DDR stellte so etwas
jetzt her: Zum Beispiel den Falckner von der VEB Edelbrände, den es hin und
wieder gab, und den Smoky Springs aus Nordhausen, den es im mer gab,
allerdings nur für die Nomenklatura – die Puhdys unter den Whiskeys.
Den nächsten Schlag bekam Whisky von der Fitness-Welle versetzt. Wenn
überhaupt Alkohol, dann leichter Weißwein oder Wodka, hieß es nun. Wodka
wurde der große Renner, gleichermaßen beliebt bei Punks wie bei Yuppies
(erstere waren allerdings nicht so zimperlich, was die Wahl der Dröhnung
anging).
Die Rackes reagierten darauf, indem sie die Bezeichnung Whisky auf dem
Etikett immer kleiner werden ließen. Rauchzart war nur noch eine Marke von
vielen, allerdings eine, die mit ihrem biederen Image so etwas wie Kontinuität in
der Welt der Neuen Übersichtlichkeit verhieß. Wohl nur durch Zufall entging sie
der kultischen Verehrung, die in den achtziger Jahren diversen Relikten der
fünfziger entgegengebracht wurde, um der allgemeinen Hilflosigkeit einen
irgendwie lustigen Anstrich zu geben.
Nach der Wende war auch damit mehr oder weniger Schluss. Deutschland war
erwachsen geworden, und für Sentimentalitäten ist nun kein Platz mehr. Erfolg
ist das Einzige, was zählt, und erfolgreiche Menschen haben wenig Zeit zum
Trinken.Und wenn schon, dann muss es etwas Exklusives sein, schottischer
Single Malt zum Beispiel.
Auch diesmal reagierte Racke richtig und verbesserte die Qualität des Whiskeys.
Racke Rauchzart wird heute ausschließlich aus schottischen Destillaten
zusammengestellt und rangiert – ohne nennenswerten Werbeaufwand – noch
immer unter den fünf meistverkauften Whiskeys der Republik.
Noch in Zeiten, in denen jede Provinz-Bar ihren Malt-Whisky auf der Karte hat,
erreicht Rauchzart sein Publikum. Man spricht nicht darüber, aber getrunken
wird er trotzdem.
Der Dual-Plattenspieler
Nochmal: Wir sind ein Haushalt ohne Plattenspieler gewesen. Wir sind ein
Haushalt ohne Plattenspieler oder Tonbandgerät gewesen. Wir sind ein Haushalt
mit einem Radio im Wohnzimmer und einem Radio in der Küche gewesen.
Mutter hat ein Leben ohne Plattenspieler gelebt. Auch Vater hat ein ganzes
Leben ohne Plattenspieler, ohne einen einzigen Tonträger gelebt. Vater, das muss
man sich mal vorstellen, hat keinen einzigen Tonträger hinterlassen. Vater hat im
Auto Verkehrsfunk gehört. Mutter hat in der Küche Verkehrsfunk gehört. Was
vor Einrichtung des Verkehrsfunks war, weiß kein Mensch. Wann war die
Ölkrise?
Wann war Sonntagsfahrverbot? Wann kam Kraftwerks “Autobahn” in
Hitparaden und Charts?
Am Anfang war der Strom. Am Anfang war das Leben in Höhlen: Annette hatte
ihren batteriebetriebenen Plastikplattenspieler mitgebracht, Waldi einen Stoß
zerschundener Platten. Trunkenheit am Feuer. Vier Glamrock-Tage in diesen
Sandsteinhöhlen oberhalb vom Fluss. Wo alles angefangen hat. Music to
MakeLove by. Womöglich die entscheidendsten Tage meines Lebens.
Was war zuerst? Der Plattenspieler oder die Platte? Mein erster Plattenspieler
war ein monophoner Kofferplattenspieler mit eingebautem Verstärker und einem
Frontlautsprecher gewesen. Gleich der erste Plattenspieler war ein
Einsteigermodell von Dual. Vater hatte ihn bei Elektro- Fröschl besorgt. Bei
Elektro-Fröschl gab es über die Firma Prozente. Ich glaube, es war ein
Geburtstagsgeschenk. Höchstwahrscheinlich war es ein Geburtstagsgeschenk.
Schwarzes Gehäuse, abnehmbarer Deckel. Klein, aber Dual. Dual: der Mercedes
unter den Plattenspielern. Dann eben ein kleiner Mercedes. Unverwüstlich. Ja,
ein Geburtstagsgeschenk.
Was war zuerst? Die Single oder die LP? Erste Platten: “Spider” von T. Rex und
“Machine Head” von Deep Purple. Die ersten beiden Platten wurden zusammen
mit zahlreichen anderen Haushaltswaren bei Cash & Carry in der
Landeshauptstadt erworben. Erst die dritte Platte wurde in der Kreisstadt
gekauft: “Electric Warrior”, wieder T. Rex. Single oder LP? Erste Single: “Black
Dog” von Led Zeppelin. Singles fand ich immer reichlich teuer. Oft reichte es
nur zu einer Single. Singles fand ich immer reichlich unpraktisch. Außer für
Feste. Für Feste waren Singles ideal. Seltsam: Immer, kein Mensch weiß warum,
waren es die Buben, die sich auf Partys um den Platz am Plattenteller schlugen.
Plattenauflegen war Bubensache. Viel zu viele der Mädchen, fand ich,
kümmerten sich überhaupt nicht um die Auswahl der Stücke, was deutlich
schlimmer war, als sich hartnäckig für Jim Croce und Neil Young einzusetzen.
Schnell wurde klar, dass der eigentliche Plattenspieler des Koffersets gar nicht
Mono war. Aus dem Tonkopf (Kristalltonabnehmer) kamen mehrere
verschiedenfarbige Kabel. Schnell wurde klar: man brauchte meinen
Plattenspieler nur aus seinem Koffer befreien, ihm eine Kiste bauen und ein paar
Kabel umlöten, und schon hatte man einen akzeptablen Stereo-Plattenspieler.
Music To Flirt By
Music To Sleep By
Music To Watch Cars By
Music To Be Strangled By
Musik für Kinderzimmer
Musik für Jugendzimmer
Den zweiten Plattenspieler kaufte ich mir selbst. Magnettonabnehmer. Mein
zweiter Dual-Plattenspieler war schleiflackweiß. Schleiflackzeit.
Schleiflackweiß setzte sich am deutlichsten von allen Holztönen ab. Das
Gegenteil von Deutscher Eiche. Wahrscheinlich war es gar kein Schleiflack,
womöglich war es bloß eine matte Klebefolie, die über rauhen Preßspan geklebt
war. Egal, wirklich egal. Weiß. Klasse. Mittelklasse: Hatte so um die dreihundert
Mark gekostet. Antanzen lassen. Vortanzen lassen. Abtanzen lassen. Beim
Dagmars November-Party gab es erwartungsgemäß Streit, bei fast jedem Fest
gab es Streit darüber, wer die nächste Platte auflegen durfte. Die
Partytauglichkeit des neuen Plattenspielers war bemerkenswert, durch
eingebaute Transportschrauben war er ausgesprochen mobil, sein rauchgläserner
Deckel abnehmbar. Dazu meine selbstgebauten Boxen. Trotzdem: immer hatte
irgendwer einen stärkeren Verstärker. Egal, vollkommen egal.
Kopfhörermusik
Lautsprechermusik
Wenn der verstorbene Frank Sinatra der verstorbenen Marlene Dietrich als der
Mercedes unter den Männern galt, dann war der Dual-Plattenspieler der
Mercedes unter den Plattenspielern. Deutsche, quatsch, badenwürttembergische
Wertarbeit. Dual Gebrüder Steidinger. Dual-Plattenspieler aus St. Georgen im
Schwarzwald. Baden oder Württemberg? Es gibt badische und unsymbadische,
sagen die Badenser und kleben diese, ihre Erkenntnis mitten auf ihre badische
Stirn.
Der Plattenspieler als repräsentativer Einrichtungsgegenstand, der Plattenspieler
als Designerwahnsinn, der Plattenspieler als audiophones Testlabor. Dual-Geräte
galten als solide-modern. Sie waren nie hässlich, nie wirklich schön. Von ihnen
durfte man keine futuristischen Designer- Höchstleistungen erwarten. Schade
eigentlich. Dual klingt knapp und sachlich. Ich schere mich nicht allzu sehr um
Marken, aber es gibt Dinge im Leben, die sollten absolut zuverlässig
funktionieren.
DAF singen: “die lustigen stiefel marschieren über polen. die lustigen stiefel
marschieren über polen. die deutschen kinder marschieren ein in polen. die
lustigen stiefel.”
Ohne Punk wären die bevorstehenden Achtziger unerträglich geworden. Ohne
Techno wären die beginnenden Neunziger unerträglich geworden. Ein Leben
ohne Plattenspieler stelle ich mir trist und öde vor. Ohne Plattenspieler, behaupte
ich mal, wäre das mörderische zwanzigste Jahrhundert nie zu Ende gegangen.
Was hören Thorens-Käufer für Musik? Was hören Elac-Fans für Musik? Was
hören Dual-Plattenspieler-Sammler für Musik und was berichten Sie auf Ihrer
liebevoll eingerichteten Website? Die Firma Gebrüder Steidinger produzierte
anfangs Federlaufwerke, was immer das sei (Schwarzwald – klingt fast
automatisch nach Uhren), baute später Plattenspieler und holte 1937 für Nazi-
Deutschland eine Auszeichnung auf der Weltausstellung in Paris. The hinterland:
Nach dem Krieg diversifizierte Dual, baute auch fast sämtliche andere
Phonokomponenten, verleibte sich den lokalen Konkurrenten Perpetuum Ebner
ein (schon der klasse Name war den Preis sicher wert), um nach einigen Umsatz-
Rekorden selbst von der französischen Firma Thomson übernommen zu werden.
Die verkaufte bald an die labilen Schneider Rundfunkwerke, die wiederum den
Namen Dual an Karstadt abtraten. Die virtuellen Dualfans zu einem der aktuell
lieferbaren Karstadt-Plattenspieler unter dem heiligen Namen aus dem
Schwarzwald: “Plastik-Schrott aus Fernost – lieber einen Gebrauchten kaufen.”
Sister Sledge sagen: We’re lost in music …
Sister Sledge sagen: … we’re caught in a trap …
Sister Sledge sagen: … there’s no turning back.
Musik als Waffe. Normalerweise, geht das Gerücht, wurden Dual-Spieler von
ihren Besitzern zum Abspielen von ECM-Platten eingesetzt. Meine beiden Dual-
Plattenspieler selbst aber waren scheißliberal. Es scherte sie einen Dreck, was
ich auf ihnen abspielte. Saul Williams sagt: I was raised on Public Enemy and
cornflakes. Roundings per day, roundings per hour, roundings per minute. 33
Umdrehungen oder 45 Umdrehungen? Kein Mensch weiß, mit wievielen
Umdrehungen sich eigentlich der CD-Player dreht. Kein Mensch weiß, mit
wieviel Umdrehungen sich der Mini-Disc-Player dreht. Kein Mensch weiß, ob
sich in einem MP3-Player überhaupt etwas dreht. Warum auch? Hauptsache
läuft. Hauptsache läuft gut. Hauptsache klingt gut und läuft.
Roundings per decade: Irgendwann, nach zwanzig Jahren, war die
Endabschaltung kaputt. Irgendwann steckte der Lifthebel nur mehr lose im
schleiflackweißen Gehäuse, irgendwann ging der Deckel nicht mehr zu.
Irgendwann wurden die Laufgeräusche endgültig unerträglich. Eines Tages
wurde mir das alles zu blöd. Irgendwann kaufte ich mir einen CD-Player.
Trotzdem brauchte ich weiterhin einen Plattenspieler. Es gab ja all diese
großartigen Platten, die nicht einfach ausgemustert, die auch nicht einfach als
CDs nachgekauft werden konnten. Es gab ja all diese geheimen Läden, die
weiterhin so taten, als hätte Vinyl nie abgeschafft werden sollen. Und es standen
dort aktuellere Tonträger als irgendwo sonst. Seltsam: noch nie habe ich so viele
Vinyl-Tonträger gekauft wie seit dem Zeitpunkt, da es angeblich keine
Schallplatten mehr gibt. Tatsächlich war mein Lieblingsplattenladen noch nie so
randvoll mit pressfrischem Vinyl wie heute. Tatsächlich musste mein
Lieblingsplattenladen vor drei Jahren ganz erheblich vergrößern. Tatsächlich ist
mein Lieblingsplattenladen längst schon wieder zu klein. Gleichzeitig gibt es
kaum mehr Plattenspieler zu kaufen. Nur mehr absolut indiskutables Klumpp,
und das kommt für den Dauereinsatz nicht in Frage. Oder aber einige
unverschämt teure High-End-Geräte. Warum dann also nicht gleich DEN
Plattenspieler kaufen? Den Plattenspieler den ich nie kaufen wollte, weil mich
der Kult um ihn immer nervte. Den Unaussprechlichen. Das todfotografierteste
Objekt des letzten Jahrtausendjahrzehnts. Ein Klasse-Gerät, ich habe seinen
Kauf nie bereut: der Ferrari unter den Plattenspielern. (Kommt aus Japan.) Hat
mit Deutschland nichts mehr zu tun. Es gibt Dinge im Leben, die müssen einfach
reibungslos funktionieren. Daneben steht jetzt ein kleines Mischpult und gerade
überlege ich, ob ich den dreckig-weißen Dual an seine Seite stellen soll. Ein
wenig umräumen – fertig.
So wie es aussieht, werde ich nichts als Tonträger hinterlassen.
Der Trainingsanzug
Und sie wissen doch nicht, wie es geht. Spaß haben, ist Dinge grillen, die aus
Abfall gemacht werden, schmeckt nicht, gar nicht lustig, dann eben Bier trinken
bis man Spaß hat. Der Rest ist arbeiten, wenn man was zum Arbeiten hat, die
Frau verprügeln, den Mann verprügeln und fernsehn, fernsehn, fernsehn,
fernsehn, Dreck essen, Dreck lesen, Dreck in die Köpfe, davon bekommt man
noch mehr Langeweile doch auch das ist ihnen nicht klar. Schön sind sie nicht,
warum auch, der Körper tut weh, das Herz, und keiner weiß warum. Und was
ziehen wir nur an. Anziehen muss man doch irgendwas, aber modern soll es
schon sein und dann kam Gott: Guten Abend, ich bin Gott und so weiter, und
warf den Trainingsanzug über Deutschland ab.
Oh, ein bunter Anzug aus tollem, geschmeidigem Material, dachten sie, und
schlüpften hinein. Ein gutes Gefühl war das. Nichts drückte, nichts machte ihnen
ihre Formen bewusst, nichts gemahnte sie an ihre Existenz, ne, nur nicht, lass
mal lieber, und da war es. Ein Kleidungsstück wie sie. Nicht schön, aber
irgendwie traurig. Und sie verschmolzen in der schönsten Liebesnacht ihres
Lebens mit dem Textil, entdeckten das Gefühl, bekleidet zu sein, als sei man
nackig, und irgendwie war das auch schön, mit dem Anzug, der nach ihnen roch,
und den Schuhen, und alles wurde ein Brei der Unauffälligkeit, neonfarbene
Kleckse, die sich seitlich bewegten, und er war geboren: der Deutsche im
Trainingsanzug.
Es war genug Sport getrieben, ist auch völlig richtig so, die Dekadenz des
Körperkultes ist so öd, und zum in die Fresse hauen fehlt mir grad die Kraft.
Nirgends auf der Welt hat es das, Menschen mit so blöden Anziehsachen. Der
feiste Ami quetscht sich in Shorts, nun, ob das die Evolution vorantreibt, ist noch
offen. Der Deutsche also im Trainingsanzug, stinkt vor sich hin, hat immer eine
Flasche in der Hand oder Bacardi Cola im Glas, ist immer unzufrieden, und
immer sind die anderen Schuld, sieht blöd aus, und ist doch eine arme Sau, und
sieht fern und isst Mist, und am Fenster fahren Laster vorbei, und es stinkt nach
dem Zeug, das sie gegessen haben, und keine Arbeit oder wenn dann eine
Scheißarbeit, und sie haben so eine Wut, so eine große Wut, wenn sie nur
wüssten worauf.
Vielleicht auf die hässlichen Dinge, die sie tragen müssen, weil etwas anderes
nicht geht, vielleicht auf das Land, das Leben, ist doch egal, und so schreien sie
und pöbeln und vielleicht sind sie auch mal still, wenn sie im Bett liegen, in
ihrem Trainingsanzug, und draußen ist es wieder laut und morgen wieder ein
dummer Tag in einem dummen Leben und so eine Wut und weinen wollen, aber
das geht nicht, weil sie haben ja einen Sportleranzug an, und Sportler sind
Deutsche, und ein Deutscher weint nicht, und dann schlafen sie ein und wachen
wieder auf und Tatsache: Das Leben ist immer noch da und der Trainingsanzug,
Gottlob, der auch.
Das RAF-Fahndungsplakat
Es musste vorher heftig geregnet haben, das Wasser stand noch neben den
geteilten Gehsteigen, die hier, eine Hamburger Krankheit, bloß zur Hälfte mit
Platten belegt sind. Die Bäume troffen von der Nässe, und die Luft war mitten
im Sommer durch die Feuchtigkeit eiskalt geworden. Dunkel war es außerdem,
eine Studioszene eigentlich: außen, Nacht. Ich hatte gerade Stefan Austs
“Baader-Meinhof-Komplex” gelesen und fürchtete im nassen Dunkel um mein
Leben. Ein solch literarischer Schrecken ist mir sonst nur noch von Ed Sanders’
Reportage über Charles Manson in Erinnerung, “The Family”, der reine Horror.
Eine Schreckminute, eine Wiederholung.
Natürlich war das meiste von dem, was Aust in Polizeiberichtsprosa referierte,
ein nicht weiter elaboriertes Räuber-und-Schande-Spiel: Autojagden, die Polizei
immer dicht auf den Fersen, ungeschickte Banküberfälle, falsche Haare,
Pistolen, die nicht funktionieren, und dann, als Zuwaage für den Erwachsenen:
Staatsgewalt und staatliches Unrecht. Es waren in jener verregneten
Sommernacht längst Geschichten aus alter Zeit, tolle Streiche der vorigen
Generation, und vielleicht hat man in den Hamburger Partyrepubliken zwischen
1970 und 1972 ja wirklich öfter das Gedankenspiel exerziert, ob man sie
aufnähme für eine Nacht, wenn sie draußen stünden: die Ulrike, die Gudrun und
auch den finstren, leider gar nicht intellektuellen Baader.
Die anderen, die nicht mit der Ulrike getrunken und diskutiert hatten, also alle,
kannten sie doch vom Bild, vom Fahndungsplakat. Das gab es sonst nur im
Western, dass jemand so theatralisch gesucht wurde, tot oder lebendig und mit
Belohnung, 1000 oder später sogar 100000 Mark für “sachdienliche Hinweise,
die zur Ergreifung der Täter führen”.
In jenen fernen siebziger Jahren, von denen Stefan Aust in seiner Chronik
erzählt, kam der Steckbrief wieder in Mode, von dem jemand grimmig
herunterschaute, abgeschossen oder irgendwie zur Seite gedreht, wie’s früher
strenge Vorschrift, damit ein Ohr bei der Identifizierung hülfe, keinerlei
Ähnlichkeit mit lebenden Menschen. Es waren ja auch die Terroristen, die so
gesucht wurden, zum Fürchten sollten sie sein, diese Verbrechervisagen, und wie
im Wilden Westen drohte Schusswaffengebrauch.
Die Elastolin-Figur
Ich besaß zwischen sechs und 11 Jahren etwa 40 Elastolin- Figuren. Sie waren
meine ganze Leidenschaft. Es gab aber eine denkwürdige Woche meines Lebens,
da hatte ich etwa 150 Figuren. Nahezu die gesamte Kollektion. Eine ganze
Woche lang. In einem Karton unter meinem Bett. Ein Freund aus der Schule
hatte sie mir geliehen. Behauptete ich. Die eine Gruppe dieser Figuren stellte
Indianer und Siedler dar. Die andere Gruppe waren Ritter, Knappen und ein paar
Ritterfräuleins. Bei der dritten Gruppe handelte es sich um römische Legionäre.
Die Figuren sind etwa sieben Zentimeter groß. Zu Pferd erreichen sie zehn bis
zwölf Zentimeter Höhe. Das Material, das Elastolin, ist gehärtet und
überraschend leicht. Die Gesichter der Figuren sind eindrucksvoll genau und
schön geformt. Leicht transparent sind sie dort, wo Mantelsäume, Frisuren oder
Kopfschmuck dünner werden. Sie sind sehr naturalistisch und liebevoll bemalt
und stehen auf dünnen grünen Sockeln. Wenn man diese Sockel umdreht, so
steht darauf “Elastolin”, in geschwungener Schrift. Und darunter, kleiner, in
Druckschrift steht “Germany”.
Neben den beiden Schriften ein kleiner eingestanzter Kreis. Den habe ich nie
verstanden. Das geheime Firmenzeichen? Es gab auch deutsche Soldaten, aber
die habe ich nie besessen und nie begehrt. Sie waren sehr viel hässlicher und zu
Hause als “Landser” ohnehin strikt verboten. Mein Vater war in Russland
gewesen.
Die Elastolin-Indianer sind stets im Angriff, die Siedler wehren ab.
Dementsprechend aggressiv verzerrt sind im allgemeinen die Gesichtszüge der
Indianer. Ruhig dagegen die Gesichter der Siedler. In der Gruppe der Siedler gibt
es keine Frauenfiguren. In der Gruppe der römischen Legionäre natürlich auch
nicht. Die Ritter veranstalten ein Turnier oder sie sind im Kampf. Sie sitzen auf
aufwändig gezäumten Pferden, schwingen von dort oder im Stehen das Schwert
oder lassen den Morgenstern auf Häupter herunterrasseln. Sie bekommen von
ihren Knappen das Rüstzeug gereicht – von sehr hübschen rosigen Jungs, die
mein Schönheitsbild in der Früh-Pubertät geprägt haben.Oder die Knappen knien
im Kampf – sich mit einem Schild schützend – auf dem Boden. Die
Burgfräuleins, die auch sehr ebenmäßige, rosa-cremige Gesichtszüge haben und
die mein frühes Schönheitsbild von Frauen ebenfalls stark beeinflussten – stehen
mit hohen Hüten an Fenstern, auf Wällen oder Burgzinnen und blicken in die
Ferne. Wohl zu den Kämpfenden hinüber – oder gelangweilt von ihnen weg.
Sie sind im allgemeinen blond. Eine war schwarzhaarig. Für die Ritter benötigte
man eigentlich eine Ritterburg. Ich hatte keine. Für die Indianer und Siedler
benötigte man ein Palisadenfort. Das hatte ich. Und in einiger Entfernung
standen zwei Tipis. Mit einer einzigen Indianerin, die ein Kind auf den Knien
wiegte. Wenn ich alleine spielte, dann warteten auch die Burgfräuleins vor den
Tipis. Und die Stein- und Pechschleuder, das imposanteste Objekt der
Rittergruppe, stand dann vor dem Palisadenfort.
Manchmal, wenn alles andere gespielt war, dann bewarfen die Belagerer das
Fort nicht mehr mit Steinen, auch nicht mehr mit kleinen Pechwürfeln aus
Elastolin, sondern mit den kerzengeraden Burgfräuleins, deren Hüte eine spitze
Waffe darstellen konnten. Vor allem an den Körpern der halb nackten Indianer.
Die aber eigentlich als Verteidiger im Fort sowieso nichts zu suchen hatten. Die
Indianer waren ja Angreifer. Selbstmordattentätern ähnlich.
Der Joint
Eine Zeitlang rauchte ich jeden Tag. Ein Piece kostete zehn Mark, und das
konnte ich mir natürlich nicht leisten, aber es gab immer jemanden, der etwas
dabei hatte. Meistens waren es die Älteren, die mit uns nach der Schule in den
“Kaffeestuben” am Grindelberg herumsaßen, wo es damals, Mitte der 70er,
schon genauso roch, wie es inzwischen in jedem Biomarkt riecht, und weil die
70er für mich keine guten Jahre waren, hasse ich diesen Geruch bis heute.
Wirklich beschreiben kann ich ihn aber nicht, denn im Beschreiben von
Gerüchen bin ich immer schlecht gewesen, ich kann nur etwas über die Zeit
sagen, aus der er stammt. Es war eine dunkle, fanatische Zeit, in der die meisten
Jugendlichen genauso hässlich dachten, wie sie aussahen, sie waren verklemmte,
unaufrichtige Nazikinder, die mit ihren verklemmten, unaufrichtigen Nazieltern
mehr gemeinsam hatten, als sie sich je hätten träumen lassen.
Einmal rauchte ich etwas mit diesem Pockengesichttypen, der später bei den
“Einstürzenden Neubauten” mitmachte. Wir kannten uns nicht, aber er hatte
mich einfach mitgenommen, und nun saßen wir draußen in seinem alten
schwarzen Mercedes und reichten uns stumm den Joint. Ich war 16, und wenn
man 16 ist, gibt es Sachen, von denen man glaubt, dass sie so sein müssen, wie
sie sind. Trotzdem fand ich das alles sehr merkwürdig. Was verband uns so sehr,
dass wir schweigend zusammensitzen und am selben Joint ziehen konnten? Und
warum redeten wir nicht lieber miteinander? Bei uns zu Hause wurde immer
geredet, wenn zwei Leute oder mehr beisammen waren, aber bei uns zu Hause
war sowieso alles anders, als da draußen in dieser für uns noch so neuen
deutschen Welt. Wie dem auch sei, der Typ mit dem Pockengesicht hat mich
kein einziges Mal angeschaut, während wir rauchten, und als wir fertig waren,
sagte ich danke und ging zurück ins Lokal. Das alles war schon ziemlich
seltsam, aber wie seltsam fand ich es erst, dass er später, wann immer ich ihn
wiedertraf, so tat, als würden wir uns nicht kennen.
Es dauerte lange, bis ich selbst den ersten Joint drehte – das war, nachdem ich
mir endlich einmal ein eigenes Piece gekauft hatte. Ich saß zuhause auf dem Bett
und hielt aufgeregt das Feuerzeug an den dunklen Haschischklumpen. Das heiße
Haschisch verströmte einen Geruch, über den ich natürlich nicht viel sagen kann,
außer vielleicht, dass ich ihn mochte, und nachdem ich die feinen Brocken in
den Tabak hineingemischt hatte, roch ich neugierig an meinen Fingern. Ich hatte
zwei Blättchen längsseitig und leicht diagonal zusammengeklebt, dann kam noch
eins quer oben drauf, aber als ich versuchte, das ganze halbwegs anständig
zusammenzurollen, rutschten mir mal der Tabak, mal das Papier zwischen den
Finger weg. Irgendwie funktionierte es trotzdem, ich schaffte es sogar, einen
Filter aus dünner Pappe zu basteln, und endlich zündete ich mir dieses schiefe,
riesige, zerfallene Ding an. Und wieder müsste ich jetzt den Geruch beschreiben,
den Geruch des allerersten brennenden Joints in meinem Kinderzimmer, und
wieder habe ich keine Worte dafür.
Ich weiß nicht, ob ich gern rauchte, aber eher nicht. Ich mochte den Rausch
nicht, der einen bloß nur müde machte, und wenn er einen nicht müde machte,
dann machte er etwas mit einem, was ich nicht verstand. Manchmal grinste man
ein bisschen blöd vor sich hin, manchmal bekam man Hunger auf Süßigkeiten –
das war es auch schon. Ich hatte es jedenfalls nie erlebt, dass ein Mädchen, mit
dem ich rauchte, plötzlich Sex wollte, oder dass eine Party durch ein paar Joints
gut wurde. Die anderen rauchten alle wahnsinnig gern, sie fragten ständig den
andern, ob er noch was habe, sie sagten, sie hätten gerade was geraucht oder sie
müssten jetzt sofort was rauchen, und sie erzählten sich unentwegt dieselben
Kiffergeschichten, in denen es entweder darum ging, wie sie einmal von der
Polizei kontrolliert wurden und die Bullen das Piece nicht gesehen hatten, das
vorne im Auto direkt auf der Ablage lag, oder wie sie einen wahnsinnigen
Lachanfall gekriegt hatten, weil das Zeug nicht gestreckt war oder so. Am
fremdesten waren mir meine Haschischfreunde aber, während sie rauchten. Sie
schoben sich den Joint zwischen Zeige- und Mittelfinger, sie machten eine Faust,
die pressten sie gegen ihren Mund, und dann zogen sie den Rauch mit einem
solchen Ernst und einer solchen Wut ein, die mich jedesmal überraschten. Es war
so, als gäbe es auf dieser Welt ein Gefühl, einen Traum, eine Sache, die ich nicht
verstand.
Vermutlich waren sie cool. Mitte der Siebziger gab es dieses Wort eigentlich
nicht – die Beatniks, die es einst den Schwarzen gestohlen hatten, waren längst
vergessen, und die neuen Kinder des Pop, die es zwei Jahrzehnte später den
Beatniks stehlen sollten, beschmierten gerade erst mit Fingerfarben die Wände
ihrer antiautoritären Kindergärten. Trotzdem, heute bin ich mir sicher: Wer
kiffte, war cool – so wie der, der nachts um drei reglos an der Tanzfläche des
“Grünspan” stand und ins Leere stierte, cool war, und cool war auch der, der in
der Schule in der hintersten Reihe saß, nie was sagte, aber eine weiße Lederjacke
an hatte und seine glatten blonden Haare mit Mittelscheitel trug. Cool sein hieß,
in anderen Worten, Show zu machen, allerdings mit den Mitteln unsicherer,
deutscher Mittelstandskinder. Es hieß, sich in Positur zu werfen und etwas
darzustellen, was man gar nicht war, es war der verzweifelte Versuch von
Leuten, aufzufallen, die in einem Land aufgewachsen waren, das immer schon
etwas gegen Leute hatte, die auffielen, weshalb es ganzen Generationen von
Kindern jede Form von Exhibitionismus und Temperament austrieb. Was aber
soll ein Eisbrocken machen, der nicht wie die anderen Eisbrocken sein will? Er
wird noch kälter als Eis. Er wird eben – cool.
Das alles habe ich damals natürlich nicht gewusst. Ich war gerade erst aus Prag
nach Hamburg herübergekommen, und ich ging davon aus, dass alle Leute
gleich sind. Ich dachte, wir alle lachen über dieselben Witze, wir finden
dieselben Bücher gut, wir haben dieselben Tricks, mit denen wir um die
Aufmerksamkeit der Mädchen kämpfen, und wir sind alle auf dieselbe Art
direkt. Ich bin mir sicher, meine deutschen Freunde und Bekannten haben viel
früher als ich gemerkt, dass sie und ich anders sind, aber sie haben es mir leider
nicht gesagt. So versuchte ich meine halbe Jugend lang zu entschlüsseln, warum
die anderen das taten,was sie taten, und erst nachdem ich – mit Hilfe von
jemandem, von dem ich gleich erzählen will – begriffen hatte, dass dieser ganze
langweilige deutsche Coolness-Mist einfach nur langweiliger deutscher
Coolness-Mist war, konnte ich mich Dingen zuwenden, die ich verstand.
Haschisch gehörte nicht dazu, es waren eher englische Rahmenschuhe und
italienische Anzüge, die Bücher von Friedrich Torberg und Mordecai Richler
und auch Mel Brooks’ extrem uncoole Holocaust-Witze, und als mich
irgendwann einmal Anfang der Achtziger – ich lebte zum Glück inzwischen in
München – diese wunderschöne junge Deutsche fragte, ob es stimme, dass die
galizischen Juden die schlimmsten sind, lachte ich ganz uncool und schlief dann
erst recht mit ihr.
Wenn ich heute an die dunklen Hamburger Jahre zurückdenke, kann ich mich an
kaum ein Gesicht erinnern, geschweige denn an einen Namen. Der einzige
Mensch aus der Zeit, den ich nicht vergessen habe, ist Mischa Grinberg aus
Leningrad. Er war mit seinen Eltern ein paar Jahre nach uns nach Hamburg
gekommen, und weil Emigranten, bevor sie sich bis auf’s Blut zerstreiten,
einander erst einmal helfen, sollte ich mit ihm spielen. Mischa war ein ernster,
hübscher Junge mit geraden schwarzen Haaren, einer ganz weißen, fast
strahlenden Haut und einem Muttermal auf der linken Wange. Wir hörten
zusammen Platten und erzählten uns in versautem Russisch irgendwelche
angelesene Sexphantasien. Mischa durchschaute den Westen viel schneller als
ich, es verging kein halbes Jahr, und schon wusste er, welche Musik man gerade
hörte und in welche Lokale man ging, er sprach ein absolut klares, akzentfreies
Deutsch, und dass er Hamburgs zweite Punkband gründete, war ebenfalls eine
absolut grandiose Assimilationsleistung von ihm gewesen.
Mischa und ich gingen natürlich manchmal auch in die “Kaffeestuben”, wir
saßen mit den verklemmten Nazikindern an einem Tisch, und wir rauchten mit
ihnen ab und zu einen Joint. Plötzlich aber passierte etwas. Ich weiß nicht, wer
von uns beiden damit anfing, aber ziemlich sicher war er es gewesen, der große
Durchblicker, der sagte, es sei genug. Jedenfalls war klar, dass wir mit diesem
deutschen Jugendelend nichts mehr zu tun haben wollten. Ab sofort verachteten
wir die eisige, fanatische Art, mit der unsere Kifferfreunde über ihre Eltern
sprachen, wir verachteten ihren dämlichen Kommunistenfaschismus, ihren
KBW-Maoismus, wir verachteten sie dafür, dass sie Andreas Baader und Holger
Meins genauso großartig fanden, wie Supertramp oder Jethro Tull, wir
verachteten ihre kindische Atom-Paranoia, ihre Palästinensertücher, ihren
Israelhass, ihr albernes Rotwerden bei jeder Kleinigkeit, und vor allem
verachteten wir sie dafür, dass sie selten das sagten, was sie gerade dachten. Von
nun an rauchten wir nur noch unsere eigenen Joints, und wenn wir in die
“Kaffeestuben” gingen, dann nur noch, um die lahme, kalte Bande dort als
Hippiepack zu beschimpfen.
Ich glaube, man nennt so was Paradigmenwechsel – und während ich mich
schon bald an das tabulose, humoristische Erbe meines Volkes zu vertiefen
begann und mir den Vollbart abrasierte sowie die Haare ganz kurz schnitt,
gründete Mischa die “Motherfuckers”. Sie waren eine Zeitlang sehr berühmt in
Hamburg, vor allem nach diesem einen Konzert im Winterhuder Fährhaus, bei
dem Mischa einem bekifften Langhaarigen, der auf die Bühne klettern wollte,
die Zähne ausgetreten hat. So weit wäre ich natürlich niemals gegangen. Ich
habe bloß einmal einen besonders schönen, riesigen Joint gedreht, in dem nur
Tabak war. Den Joint legte ich in den “Kaffeestuben” unter einen Stuhl, und
dann habe ich gewartet, was passiert. Die beiden hässlichen Jim-Morrison-
Doppelgänger, die ihn fanden, weinten vor Glück. Sie machten ihn sofort an und
ließen auch mich daran ziehen, und den Geruch dieses Joints kann ich ziemlich
gut beschreiben: Er roch wie eine selbst gedrehte Zigarette. Trotzdem dauerte es
keine drei Minuten, bis die beiden sagten, sie wären total stoned. Der
Lachkrampf, den ich bekommen habe, hat mir bestimmt mehr Spaß gemacht, als
Mischa der Fußtritt in ein wehrloses Hippiegesicht.
Mischa habe ich, seit ich aus Hamburg weggegangen bin, nicht mehr
wiedergesehen. Ich habe gehört, dass er eine Weile gefixt hat, gleichzeitig hat er
Zahnmedizin studiert und große, wilde Bilder gemalt. Mit den Drogen soll er
längst wieder aufgehört haben, er hat inzwischen eine sehr gut gehende Praxis,
und eine Galerie, die seine Bilder ausstellt, gibt es auch. Mischa hat sich
offenbar am Ende in Deutschland doch noch eingelebt, und ein bisschen klingt
das alles so, als hätte er, der große Durchblicker, vom Genughaben nun wieder
genug. Ich dagegen mache weiter, womit ich irgendwann in den dunklen
Hamburger Jahren angefangen habe: Ich verachte noch immer die lächerliche
Coolness der Deutschen, ich lache über sie, wann immer es geht. Wahrscheinlich
sollte ich mal wieder etwas rauchen. Wenn man stoned ist, ist ja alles noch sehr
viel lustiger.
Die Pershing
Vom militärischen Standpunkt aus betrachtet, taugte unsere Einheit zur
Besetzung eines Trauerspiels. Über die Hälfte der fünfzehn Wehrpflichtigen
waren nicht-anerkannte Verweigerer, die durch die so genannte
Gewissensprüfung gefallen waren. Die übrigen trugen aus anderen Gründen das
Prädikat “eingeschränkt tauglich”. Die Offiziere und Unteroffiziere waren hier,
weil sie irgendeinen so schweren Fehler begangen hatten, dass ihre Karriere
beendet war und sie unserer Einheit zugeteilt wurden.
“Wenn die Russen wüssten, dass es uns gibt, wären sie in fünf Minuten hier”,
sagte mein Stubenkamerad Kremers, dessen Haare bis zu den Schultern reichten.
“Gehen Sie endlich zum Friseur”, sagte der Spieß jede Woche einmal zu ihm.
“Ja, ja”, sagte Kremers, und nichts passierte.
Unsere Einheit bezog zusammen mit anderen einen der größten Atombunker der
Welt in der Nähe von Landsberg am Lech. Unterirdische Hallen, jeweils von der
Größe mehrerer Fußballfelder, voll von hochsensiblem militärischen Gerät. Wir
waren mit irgendwelchen anderen Truppen vernetzt und Teil eines Planspiels, bei
dem es darum ging, einen atomaren Erstschlag des Warschauer Paktes zu
verhindern. Nachrichten wurden über den Ticker versendet und empfangen,
sonst geschah nichts. Hauptfeldwebel Buckl, ein schwerer Trinker, der überall
Spielschulden hatte, leitete die Übung. Er teilte die Wehrpflichtigen zu
halbstündigen Patrouillengängen durch den Bunker ein, bestimmte die
Schafkopfteams und hatte ab zehn Uhr vormittags immer ein frisches Bier neben
dem Ticker stehen. “Trink gutes Pils, trink Atompils”, witzelten wir.
Das Kasernengelände schmorte in der Hochsommersonne. Vor der Hauptwache
braute sich etwas zusammen. Seit im Stern veröffentlicht worden war, wo die
amerikanischen Marschflugkörper stehen, versammelten sich dort immer wieder
Demonstranten. “Hopp, hopp, hopp! Atomraketen stopp!” riefen sie, und
“Petting statt Pershing”. An General John Joseph Pershing, Oberbefehlshaber
der US-Truppen im Ersten Weltkrieg in Europa, dachte dabei niemand. Gemeint
waren die nach ihm benannten Boden-Boden-Raketen zum Einsatz nuklearer
Sprengköpfe.
Wie war das noch gleich? “Im Bereich der atomaren Mittelstreckenwaffen mit
Reichweiten von mehr als 1000 Kilometern besteht nach Ansicht der meisten
Beobachter, vor allem nach der Einführung der Westeuropa zusätzlich
bedrohenden mobilen Mehrfachsprengkopfrakete SS20 und des Bombertyps
Backfire in der Sowjetunion, ein nicht zu übersehendes – auch qualitatives –
Übergewicht der WVO. Mit ihren Beschlüssen vom Dezember 1979 glaubt die
Nato, im Mittelstreckenbereich das Gleichgewicht herstellen zu können, indem
sie sich für die … Stationierung der Pershing II Rakete sowie der die
herkömmlichen Ortungssysteme unterlaufenden präzisionsgesteuerten
Marschflugkörper (Cruise Missiles) entschied.” So fasste die katholische
Friedensorganisation Pax Christi die Lage zusammen. Als besonders infam
wurde die Tatsache betrachtet, wie die Pershing nach Deutschland kam.
Der Bundeswehr war nach internationalem Völkerrecht der Atomwaffenbesitz
verboten, und an dieses Verbot sollte nicht gerührt werden. Also ersann man
folgende Lösung des Problems: Die Marschflugkörper befanden sich in den
Händen der Bundeswehr, die Atomsprengköpfe in den Händen der US Army.
Beides wurde in unmittelbarer Nähe zueinander gelagert. Im Ernstfall mussten
die Atomsprengköpfe möglichst schnell auf die Marschflugkörper gelangen, und
zu diesem Zweck gab es bei der Bundeswehr Einheiten, die – de facto – direkt
unter amerikanischer Befehlsgewalt standen. Der Zustimmungsbeschluss im
Bundestag über die Stationierung wurde gefasst, als die Raketen einschließlich
der nuklearen Sprengköpfe schon Wochen im Land waren. “Bündnistreue”
nannte man diese freiwillige Aufgabe der staatlichen Souveränität.
Zwei Häuser weiter in unserer Kaserne waren echte Soldaten untergebracht. Die,
die es erwischt hatte. Sie waren beim FKG gelandet, was Flugkörpergeschwader
hieß und bedeutete, dass sie die Pershing-Flugkörper zu bewachen und
funktionsfähig zu halten hatten. Sie übten ständig zusammen mit den
Amerikanern. Üben hieß, dass sie ausrücken mussten, Tag und Nacht, Woche für
Woche. Wir erfuhren nie genau, was sie tun mussten, aber es hieß, das
Geschwader habe eine besonders hohe Selbstmordrate. Wir fanden es schon
unfassbar, dass sie überhaupt eine hatten.
Das Wort “Pershing”, einst der Name eines Generals, später der einer atomaren
Vernichtungswaffe, wurde um 1980 zu einem der Schlüsselbegriffe, wenn es
darum ging, die größte Angst der Westdeutschen zu formulieren. Auf dem
Höhepunkt des atomaren Wettrüstens wurden sie sich darüber klar, an jenem
Punkt der Erdoberfläche zu leben, den die Supermächte im Fall einer
kriegerischen Auseinandersetzung für den atomaren Erstschlag ausgewählt
hatten. Dieses Bewusstsein machte aus den Nachfahren jenes Volkes, das mit
seiner Wehrmacht vierzig Jahre zuvor den halben Erdball in Brand gesetzt hatte,
plötzlich überzeugte Pazifisten.
Mittlerweile nehmen wir ja am globalen Kriegsgeschehen, Schulter an Schulter
mit unseren Bündnispartnern, wieder aktiv teil, und so erscheint die
Friedensbewegung im Rückblick eher wie ein kollektiver Schwächeanfall.
Anfang der achtziger Jahre aber durfte man die phänotypische Verwandlung des
deutschen Mannes durchaus als evolutionären Fortschritt betrachten. Vom
kurzgeschorenen, scharfkantigen, muskulösen Landser ohne Gehirn hatte er sich
zu einem nachdenklichen und sanftmütigen Prediger gegen den Krieg
entwickelt.
Palästinensertuchartige, Selbstgestrickte bestimmte das Bild. Der besorgte
Familienvater, der sich mit seinen Lieben nach Bonn aufmachte, um “die
Herrschenden” von seiner “Betroffenheit” zu unterrichten, dabei “Nie wieder
Krieg”, “Schwerter zu Pflugscharen” und “We shall overcome” skandierte und
sang, gilt heute als Klischeebild einer historisch bedingten Idiosynkrasie.
Es war dieser schräge Antimilitarismus, der wegen seiner hysterischen Note
selbst schon wieder verdächtig wirkte. Warum konnte man nicht einfach gegen
Atomraketen sein? Warum musste man gleichzeitig für Wuselhaare, Vollbärte,
selbstgedrehte Zigaretten, Nicaragua-Kaffee, Räucherstäbchen, rosa Latzhosen,
Frauen- und Männergruppen, Friedenstage in der Schule, Stricksachen, lila
Halstücher, Kirchentage, Betroffenheit und Singsang sein, musste Backen für
den Frieden, Radeln für den Frieden, Singen für den Frieden, Tanzen für den
Frieden, auch Atomkriegszenarien, pantomimisch nachgestellt von Schülerinnen
und Schülern der 9b (geschminkt), und vieles mehr gut finden?
Zwanzig Jahre später hat sich die Lage normalisiert. Die Vertreter jener
untergegangenen “Alternativkultur”, die damals gegen den “Rüstungswahn”
demonstriert haben, sitzen heute im Bundestag. Und wenn es sein muss,
beschließen sie schon mal die Teilnahme der Bundeswehr an der Bombardierung
Belgrads über alle pazifistischen und völkerrechtlichen Bedenken hinweg.
Im atomaren Ernstfall, so hieß es, wäre es nur eine Frage von wenigen Minuten,
bis Deutschland, dann wieder in den Grenzen von 1937, einer unbelebten
Steinwüste gliche. Für den durchschnittlichen BRD-Bewohner nahm sich die
statistische Lebenserwartung für diesen Fall auch recht überschaubar aus. Zwei
Minuten, hieß es. Also konnte einem nichts passieren, außer dem Schlimmsten.
Das aber jederzeit.
Wen wundert es da, dass die ersten Jahre der Achtziger eine hohe Zeit der
Schlimmfinder war. Ob Atomraketen, kurze Haare, Penisse, Springerstiefel,
Punkrock, amerikanische Spielfilme, Autos, Straßen oder was auch immer – sie
fanden alles schlimm. Aber es gab eine andere Bewegung, die auf diese
Endzeitstimmung nicht mit Weinerlichkeit und zur Schau gestellter Angst
reagierte, sondern lieber zynisch sein wollte, dunkel, böse, hart. Ganz so, wie es
Hendrik Bussiek in seinem Beitrag zu der Textsammlung “Zuviel Pazifismus?”
ausführte: “Und wenn Sie auch vielleicht die Punk-Rock-Musik nicht ausstehen
können, der Text eines Stücks der britischen Gruppe Sex Pistols sollte uns alle
nachdenklich stimmen: ‘Es gibt keine Zukunft, / keine Zukunft für Dich. / Wenn
es keine Zukunft mehr gibt, / kann es da Sünden geben? / Wir sind die Blumen
im Abfalleimer, / wir sind das Gift in der Menschenmaschine, / wir sind die
Zukunft.”
Manch einen stimmten Texte wie diese tatsächlich nachdenklich. Auf die
Situation in der Bundesrepublik bezogen, konnte man sie als Ausdruck des
bösen Erwachens verstehen, in einer Welt zu leben, die das eigene Land
lediglich als territoriale Verhandlungsmasse und Abschussrampe für
Nuklearraketen betrachtete. Die eigene staatsbürgerliche Meinung, die man sich
dazu gebildet hatte, war offensichtlich bedeutungslos, weil sie ohnehin
übergangen wurde. Ob man dieser Erkenntnis nun als lamentierender
Friedensdemonstrant oder als “Blume im Abfalleimer” Ausdruck zu verleihen
suchte, war am Ende vielleicht nicht mehr als eine Frage des persönlichen
Geschmacks. Aber es ist ja auch ein alter Hippie-Irrtum, den persönlichen
Geschmack für unwichtig zu halten.
Dass Demonstranten vor der Kaserne waren, als die Übung lief, hatten wir nicht
mitbekommen. Der atomare Overkill erwischte Hauptfeldwebel Buckl per Telex
mitten in einem Wenz solo mit vier Haxen. Er nahm ihn – den Overkill, nicht
den Wenz – eher beiläufig zur Kenntnis. Wir anderen grinsten. Es hatte
geheißen, die Übung würde fünf Tage dauern und jetzt war nach zwei schon
Schluss. Als wir an die Erdoberfläche zurückkehrten, hatte sich die
Friedensdemonstration schon aufgelöst, andere Wehrpflichtige erzählten uns
davon. “Ich hätte mich da mit raus gesetzt und mitgesungen”, sagte Kremers,
“dann hätte ich auf beiden Seiten ein bisschen was für den Frieden getan.”
Perry Rhodan
“Das ist ein Haluter.”
“Sieht ja schrecklich aus. Vierarmig!”
“Trotz ihres für terranische Augen erschreckenden Aussehens sind die
Haluter kein gewalttätiges Volk. Nur in ihrer so genannten Drangwäsche, einer
Phase, in der sie dem Drang nachgeben, Abenteuer und Gefahren zu erleben.”
“Ach tatsächlich. Wo kommen die nochmal her?”
“Die Haluter stammen von den sogenannten Bestien ab, die wiederum von
den Uleb abstammen. Vor rund 50000 Jahren zogen die Bestien mordend durch
die Milchstraße, wurden dann aber unter dem Einfluss des lemurischen
Formungsstrahlers plötzlich friedlich”, so mein ältester Bruder Bernd.
Kleinere Brüder (vielleicht auch Schwestern?) haben oft die Angewohnheit
die Zimmer ihrer großen Geschwister auf allzu nachhaltige Weise zu
frequentieren – die Dinge, die sie dort finden und die Teile einer Pubertät sind,
die zehn Jahre vor ihrer eigenen stattfindet, sind ihnen auf faszinierende Weise
unverständlich, die Zusammenhänge, in denen sie stehen, sind nicht wirklich
bekannt. Aber es sind, zumindest dort, wo man dennoch zähneknirschend oder
freundlich von den Älteren geduldet wird, Imaginationsräume, Museen der
Zukunft, in denen nicht die Fundstücke verschütteter, sondern Kultgegenstände
und Rituale kommender Epochen ausgestellt sind.
1960 geboren, verschmolzen im Zimmer meines großen Bruders die überall
herumliegenden Romanheftchen von “Perry Rhodan”, an der Wand hängende
Bravo-Star-Plakate von Abba, die Musik von Alan-Parsons- Project und die
Kataloge von Conrad-Elektronik. Das bestimmende Raumarom war das von
Lötzinn: mein Bruder bastelte nämlich die ganze Zeit an irgendwelchen
Elektronikbauteilen, an Verstärkern, Taktgebern, elektronisch gesteuerten
Lichtanlagen und anderen Dingen – sie alle waren mir genauso
selbstverständlich wie unbegreiflich und rundeten das Siebziger-Jahre-Disco-
Universum ab, in dem meine Brüder ihre Pubertät verbrachten. Von all dem
blieb auf den ersten Blick, als Inventar der Lebenswelt, nur Perry Rhodan übrig.
Ich habe nie eine einzige Zeile gelesen – alles, was ich darüber weiß, hat mir
mein großer Bruder erzählt. Und ich glaube, dass “Perry Rhodan – Die größte
Weltraumserie” genau deswegen nie ihren imaginativen Reiz für mich verloren
hat.
Angefangen bei den Titelbildern: Fotorealistische Gemälde von
Wüstenlandschaften, Grand Canyons und blauen, vielleicht norwegischen
Fjorden, zwischen denen die merkwürdigsten Gestalten, Menschenähnliche,
Mutanten oder Echsen in Raumanzügen herumturnen. Jedes dieser Bilder hatte
(und hat) den Charakter eines Snapshots, waren keine ausbalancierten,
komponierten Gemälde, sondern besaßen das Atemlos-Verblüffte von Fotos, die
ein rasender Reporter auf großer Fahrt durchs Universum schließlich seinem
terranischen Redakteur vorlegt, um die Reisespesenrechnung plausibel zu
machen.
Neben “Derrick” und Modern Talking ist “Perry Rhodan” die Dritte Macht
unter den weltweit wirklich erfolgreichen Produkten deutscher Popkultur. Ihnen
allen gemeinsam ist das serielle und universale – es sind Systeme, die sich jeder
Sphäre nähern, die alles in sich aufnehmen und alles ihnen Fremde sich
anverwandeln können. So wie Modern Talking immer absolut nach Modern
Talking klingen wird, weil Bohlens Genie noch den kleinsten musikalischen
Einfall in seinem Studio vollkommen zu neutralisieren und aufzuheben versteht;
so wie Harry unter allen Umständen schon mal den Wagen holen wird (und
ginge es um einen Mord in der besten Gegend des Planeten Swoofon, “dessen
Bewohner nur 30 Zentimeter hoch sind und in ihrer Körperform an eine aufrecht
stehende terranische Gurke erinnern”, würde mein Bruder ergänzen); so bietet
das epische System “Perry Rhodan” jedem technischen Einfall, jeder Epoche der
Menschheit, jedem literarischen Genre Platz und macht es zu einem Teil von
sich.
“Perry Rhodans” Anfänge allerdings waren von jener typisch deutschen
Bewusstseinslage nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt, die die Assimilation an
die amerikanische Popkultur mit dem Unbehagen über den Verfall der Werte
verband und überdies albtraumhaftes Unbehagen über die geographische und
militärische Mittellage zwischen den Großmächten des Kalten Kriegs empfand.
Die Editionsgeschichte von “Perry Rhodan” beginnt 1960. Zum
Jahreswechsel 2000/2001 ging ein “erster”, 40 Erscheinungsjahre umfassender
Großzyklus zu Ende. Die Geschichte des Majors Perry Rhodan ließen seine
Erfinder, K.H. Scheer und der unter, natürlich amerikanischem, Pseudonym
arbeitende Clark Dalton 11 Jahre in der Zukunft beginnen: im Jahr 1971. Die
Amerikaner schicken das erste bemannte Raumschiff zum Mond. Der
Kommandant ist niemand anderes als Major Perry Rhodan. Auf dem Mond stößt
die Besatzung der “Stardust” auf das havarierte Raumschiff eines außerirdischen
Volkes: der Arkoniden. Dem Untergang geweiht, sind die Arkoniden auf der
Suche nach dem Quell des ewigen Lebens. Alles, was sie noch tun können, ist
fernsehen. Die Arkoniden sind krank, faul und sitzen den ganzen Tag vor den so
genannten Fiktivschirmen. Ein dekadentes Volk, das allerdings immer noch über
eine absolut überlegene Technologie verfügt. Major Rhodan bemächtigt sich des
arkonidischen Raumschiffs, fliegt auf die Erde zurück, allerdings nicht, um das
Raumschiff seinem Staat, den USA, zu übergeben. Nein, er gründet zusammen
mit seiner Besatzung in der Wüste Gobi einen eigenen Staat, die so genannte
“Dritte Macht” – der technologischen Überlegenheit der “Dritten Macht” beugen
sich die zwei Großmächte des Kalten Kriegs in kurzer Zeit. Perry Rhodan
verhindert einerseits den drohenden atomaren Weltkrieg – andererseits, und das
ist in seiner pragmatischen Schlichtheit durchaus kurios, verdient die “Dritte
Macht” unter dem Finanzgenie Homer Adams mit der weltweiten Vermarktung
der arkonidischen Gebrauchstechnik so ungeheuer viel Geld, dass einem
wirklichen Aufbruch ins All nichts mehr im Wege steht. Perry Rhodan bricht ins
27 Lichtjahre entfernte WegaSystem auf, seinerseits nun auf der Suche nach dem
“Planet des ewigen Lebens”.
Unter der Arbeit ist den Autoren das Projekt immer größer geraten,
Zwiebelschale um Zwiebelschale zunehmend universaler kosmischer Strukturen
legten sich um den Heimatplaneten Terra – bis am Ende, bei Roman 2000,
endlich klar war: die Superintelligenz ES hatte vor 18 Millionen Jahren alles
geplant und dabei schon auf den kommenden terranischen Gerechten Perry
Rhodan gesetzt. Der durch einen kosmokratischen Zellaktivator im bleibenden
Alter von 35 Jahren unsterblich gewordene Major und seine Gefährten
wandelten sich in den 40 Jahren der Publikation. Zu Beginn waren sie Raubeine,
deren psychologische Struktur ebenso gut zu Männern gepasst hätte, die die
Stadt Santa Fe von Schurken und Pferdedieben säubern wollen. Im Laufe der
Jahrzehnte wurden sie zu so etwas wie Diplomaten im Auftrag ihrer Majestät ES
– die Themen sind Selbstbestimmung für die Völker des Universums,
Verständnis, Toleranz, Beilegung von Konflikten durch Verhandlungen.
Willkommen in der Gegenwart, Sir.
Die freie epische Struktur der Romane und der parallel laufenden
Handlungsstränge wies auf die mediale Technik des Hyperlink voraus – so kann
es nicht verwundern, dass die Homepage von “Perry Rhodan”
(www.perryrhodan. net) altmodisch wirkt, weil sie im klassischen Design der
Heftchenromane gehalten ist, sich andererseits aber durch fast ideale
Benutzerfreundlichkeit auszeichnet und man auf ihr spielend und springend von
einem Detail zum nächsten kommt. Ganz gleich, an welch vielleicht abseitiger
Stelle man dort zu suchen beginnt, die Hyperlinks führen einen automatisch zu
den übrigen Teilen des Universums – das große Epos ist in seiner Erzählstruktur
weniger klassisch voranschreitend als vielmehr ausufernd und sich verästelnd.
Es war vorher da, scheint aber wie gemacht fürs Internet. Obwohl die einzelnen
Heftchen für sich genommen trivial bis flach sind, ist ihr Ganzes dann doch
faszinierend und komplex, auch das teilt diese Serie mit der Internetgalaxis.
Naheliegenderweise, präpariert durch das technische Universum seiner
Lieblingslektüre, hatte mein Bruder am Ende der Realschule Mitte der Siebziger
die Absicht gehabt, Elektriker zu lernen – das ergab sich aber nicht, er musste
doch noch Abitur machen und studieren und wurde Ingenieur der
Elektrotechnik. Er gehört heute zu den Leuten, die darüber stöhnen, dass man in
München keine IT-Kräfte mehr finde, die man einstellen könne. Wenn ich, alles
halbe Jahr mal, das Haus meines großen Bruders betrete, und, wie immer schon,
die neueste “Perry Rhodan”-Ausgabe auf dem Wohnzimmertischchen liegen
sehe, dann ist es, als wäre die Zeit durch irgendeine unbegreifliche Technologie
aufgehoben. Ich nehme das Heftchen zur Hand, sehe mir den Titel an:
“Gefangene der Algioten. In der Hand der Voranesen – Arkoniden unter
religiöser Gehirnwäsche” und das Titelbild – eine Wüstenlandschaft, links sieht
man einige große Felsen, in deren Schatten eine kuppelüberwölbte Stadt aus
Raketenhochhäusern und wasserturmartigen Gebäuden steht. Weiter im
Vordergrund schwebt ein merkwürdig geformtes Raumschiff, das aussieht, als
wäre es ein Küchengerät zur Zubereitung kosmischer Milchshakes, und ganz im
Vordergrund, auf einem schwarz körnigen Hügel, sieht man ein vierarmiges
Monster in einem Raumanzug.
Ich brauche trotz der Trivialität des Titelbildes zwei faszinierte Minuten.
Dann lese ich erst den unbegreiflichen Titel, und gerade weil der Titel und das
Titelbild zusammengenommen ebenso nichtssagend wie universal sein könnten,
will ich wissen, worum es geht und was der Titel zu bedeuten hat und, Bernd,
sag mal, was ist das bloß für ein Vieh da vorne, das mit seinen unzähligen
Gliedmaßen nichts anderes tut – als Sternenstaub aufzuwirbeln…

Das Krabbenbrötchen von Gosch
Eckhart Nickel

Am Ende angekommen, bleibt nur Übelkeit zurück. Man hat sich so


durchgebissen, die rosa Hummersauce ist immer wieder an den Seiten des
Brötchens hinabgetropft. Viele der kleinen gepulten Krabben sind noch extra
zwischen den Hälften herausgeglitscht und liegen nun, gleich einem
durchbrochenen Halbkreis am Boden wie in einem Krankenhaus die Tagesration
an wegoperierten Wurmfortsätzen. Wie bei allen widerwillig eingenommenen
Mahlzeiten gibt es einen Moment Pause, Stillstand beim Rumoren, bevor es
losgeht. Der Ekel aber kommt, so sicher wie das Gewitter an einem schwülen
Sommerabend, hier bei Fisch-Gosch in Westerland auf Sylt.
“Dick und satt, wie schön ist datt”, so stand es stets an einem Holzbrett der
Abbruchskneipe “Kliffkieker” in Wenningstedt, ein paar Kilometer nördlich, wo
es inzwischen auch einen Gosch im Angesicht des Untergangs gibt. Direkt an
dem mit jeder herbstlichen Sturmflut schmaler werdenden Kliff steht die Kneipe,
in der auch nordfriesische Gemütlichkeiten angeboten werden wie”Dans op de
deel”, und liefert ungefragt Sinnsprüche für die Insel. Die Insel. Wer auf so einen
Begriff gekommen ist wie auf den Nervköter am Strandkorb des Badenachbarn,
verdient allergrößte Verachtung und den Dank aller Kurdirektoren des Eilands.
Aber wer da sprach auf die Frage “Wohin im Sommer?” – “Auf die Insel”, der
signalisierte bundesdeutsches Understatement vom Feinsten. Wohlstand satt hieß
das, und satt ist man im Sommer schnell.
Die Wärme lässt noch immer in den rar gesäten Hundstagen des
Zollgrenzbezirks eigentlichen Heißhunger erst gar nicht aufkommen. Dafür
bewirkt die von Thomas Mann bereits in den zwanziger Jahren so titulierte
“Champagnerluft” enormen Appetit. So stand die Suche nach einem
kulinarischen Moment des Angekommen-Seins wohl am Anfang des Objekts.
Der Wunsch, den Urlaub auch im Gaumen beginnen zu lassen, indem man die
feinsten Früchte des örtlichen Meeres verkostet. Da genügten aber die vor List
gefischten Krabben nicht allein. Zum Pulen werden sie, so heißt es, der
Ökonomie halber nach Afrika verschifft, wo solche Schweinearbeit eben billiger
ist als bei den nörgeligen, faulen und überteuerten Saisonkräfte aus den
Studentenstädten. Also nimmt die Wuselware einen enormen Kilometeranlauf,
bevor sie sich im gierigen Schlund des Bundesbürgers wieder findet.
Der Essende ist gerade angekommen, Urlaubsbeginn, also mild gestimmt,
das Wetter passt, und er steht an einem dieser Stehtische aus den Bistro-
süchtigen achtziger Jahren. Sein Blick schweift über rotgebrannte Feriengäste,
sein Mund hat kein Gesicht. Er beißt, als vom Körper losgelöstes Organ, zu, geht
auf und schließt sich wieder. Die Zähne malmen. Die sämige Hummersauce,
altrosa wie der Lachs im Bräter nebenan, schmiert sich durch die
Zahnzwischenräume. Aus den Krabben mit ihrer leicht festen Konsistenz tritt
etwas Wasser aus. Aufgetaut? “Iwo, alles frisch”, sagt Alex mit den schwarz
gefärbten kurzen Haaren hinter dem Gosch-Tresen. Alex ist eine der mythischen
Kräfte hinter der Sylt-Maschine, gut geölt wie alles hier.
Er hat die Saison-Arbeit zum Lebensprinzip erhoben, jobbt im Winter auf
den Kanarischen Inseln und im Sommer auf Sylt, seit Jahren, seit es Gosch in
Westerland gibt. Er und sein Freund, Siggi, groß, blond und mit Tattoo, nehmen
an Nachtleben alles mit, was geht. Den leichten Fischgeruch werden sie freilich
auch abends nicht los, nach Schichtende, wenn der kleine Pavillon geputzt ist
und die Kasse gemacht. Das stört hier keinen. Die Szene erlaubt, was gefällt,
und so auch Fisch. Riecht ja auch irgendwie menschlich. Alex kann die Brötchen
nicht mehr sehen. Wie alle aus der Gastronomie hat er neben seinem gesunden
Widerwillen gegen die Ware seiner Wahl auch eine chronische
Magenschleimhautentzündung entwickelt. Im Sommer steigt der Maaloxan-
Bedarf der Insel-Apotheken ins Imposante. Kaum einer in der Branche lutscht
die Tüten nicht, morgens, wenn die Abendkasse nicht stimmt, mittags, wenn der
Neue am Grill die Scampi nicht genügend durchbrät und so für die Kundschaft
zum Risikofaktor Fischvergiftung wird, oder abends, wenn die Gläserklauquote
wieder unerwartete Rekorde feiert.
Das Krabbenbrötchen, das Alex neben den Scampi in Knoblauchsoße am
häufigsten über den Tresen reicht, ist das Schlüsselprodukt des
Urlaubsversprechens. In ihm wurde der Traum des Spießbürgers vom Luxus auf
“Der Insel” erreichbare Wirklichkeit, und das für lau. Das vermeintlich kostbare
Butterfahrtsmedaillon der Geschmacklosigkeit für den Magen. Es ist alles, was
zu Hause nicht ist. Roher Fisch in irgendwie sexueller Form. Sauce von
Hummer, dem gefährlich aussehenden Kriegsspielzeug der Betuchten. Nur, dass
man nicht noch lernen muss, wie das Ding auseinanderzunehmen ist, sondern
dessen Essenz als Verheißung wartet. Wie viel Hummeranteil in der fettäugigen
Mayocreme tatsächlich für den Namen gerade stehen muss, dieses Geheimnis
bleibt wohl nur den Auserwählten auf der anderen Seite des Tresens vorbehalten.
Der Name Sylt, von vielen als Verkürzung von “Seeland” gedeutet, könnte
denn auch von dem altnordischen “svelta” hergeleitet sein, was soviel heißt wie
qualvoll sterben. Erinnern wir uns: Sylt als Long Island der Deutschen verdankte
seinen Ruf vor allem dem so genannten Jet-Set der sechziger Jahre um Gunther
Sachs, der just am legendären Kampener Nacktstrand der Buhne 16 all das
erfand, was in den neunziger Jahren die Partys des wiedervereinigten
Deutschland ausmachen sollte: Luxus, Sex, Drogen und Rock’n’Roll. Damals
war Gosch allenfalls eine mäßig laufende Fischbude in List am äußersten
Nordrand, dem Ende Deutschlands. Dort, wo es noch mehr weht als überall auf
Sylt. Wo die Butterfahrten zu den Seehundbänken aufbrachen. Wo sonst nur die
Bundeswehr ihre Marineversorgungsschule stationiert hatte und die Soldaten
ihren Frust in der Diskothek “Insel” ertränkten.
Eine der ältesten Insulanerprofessionen ist und bleibt aber die Piraterie. An
die Stelle der Seefahrer, die mit ihren Schiffen im Sturm an den knapp 30
Kilometern Westküste strandeten und von der listigen Urbevölkerung ausgeraubt
wurden, rückten im zwanzigsten Jahrhundert die Urlauber. Der Raub geschah
nun subtiler. Selbst Göring trieb sein Unwesen als weißgewandeter
Inselmarschall. Und der Sturm, zu dem die Wohlhabenden nach dem Zweiten
Weltkrieg langsam, aber sicher auf die elegant ausgeformte Ansammlung an
Sand, Dünen und kleinen Wäldern bliesen, schwemmte neben Jet-Set und
gehobenem Bürgertum auch Künstler und Schriftsteller an Land. Ihnen gefiel
vor allem der mondartige Formenkanon, die Nähe zu Elementarlandschaften wie
der Wüste und die bizarre Ursprünglichkeit des Erlebens. Peter Suhrkamp soll
für die erste Proust-Übersetzung der “Recherche” sein Kampener Landhaus
gepfändet haben, was wirkliche Literaturbegeisterung beweist. Hatte doch die
Schönheit Sylts unter den Urlaubslandschaften der Bundesrepublik nichts
Ebenbürtiges. Bis das Krabbenbrötchen kam.
Inzwischen muss man nicht mehr nach Sylt fahren, um es zu essen. Man
bekommt es auch am Hamburger Hauptbahnhof und auf dem KuDamm in
Berlin. Und Gosch gibt es bald sicher nicht nur dort, sondern auch in jeder
zweithässlichsten Fußgängerzone Großdeutschlands. Ein Beweis für die
Demokratie, gewiss. Dann können alle in den Kanon einstimmen, der als
verschlungener Spruch an den Lackmarkisen von Gosch wohlgelaunt posaunt: In
guden wie in slechten Dagen, Fisch is gut für’n Magen. Guten Appetit? Nein
danke, mir ist schon schlecht.

Die Wrangler
Ralf Bönt

Wichtig war, dass man mit der neuen, tiefblauen Jeans, die nicht nur bei
Plenzdorfs jungem, leidenden W. hauteng sein musste, als erstes in die
Badewanne gegangen war. Sie musste sich der Form des jeweiligen Beckens
anpassen. Mit angehaltener Luft, auf Zehenspitzen und gegebenenfalls unter
Mithilfe von Geschwistern bewältigte man den Reißverschluss und den Knopf,
bevor die Hose im Wasser etwas nachgab und die Ohnmacht gerade noch
verhinderte. Im Alter, sich Weichteile zu quetschen, war man noch nicht.
War die Badewanne die Pflicht, so trennten Fortgeschrittene in der Kür die
äußeren Nähte ihrer Hose auf und fügten Dreiecke aus buntem Stoff ein. Hier
konnte man sich blamieren, wenn der neue Stoff etwa zu weich war und von der
schweren Jeans einfach weggefaltet wurde: Hosenbein und noch unsicheres, weil
unbegründetes Lebensgefühl fielen gleichzeitig in sich zusammen. Wer aber
soweit gekommen war, musste sich der todernsten Hose grundsätzlich stellen.
Sie hatte, wie sich das für Devotionalien gehört, zwar ein Vermögen gekostet,
dafür gab es aber nur wenige Maße und auf keinen Fall die richtige Länge. Die
Transplantation schloss daher immer mit dem Kürzen ab.
Es gab dabei viele Wege des Scheiterns: Ganz schlimm waren diejenigen,
die ihre noch tiefblaue Wrangler an den Knöcheln einfach so oft handbreit
umkrempelten, bis die Länge stimmte. Deren Mütter hatten wenig cool darauf
bestanden, dass die Hose erst ein paar Mal getragen und gewaschen wurde,
bevor man sie kürzte, denn sie lief ja vermutlich noch ein, der Webrichtung der
Baumwolle nach vor allem in der Länge. Das Ergebnis waren mehrere Wochen
voll Spott oder, schlimmer, Missachtung mit den sperrig abstehenden
Hosenbeinen, wobei noch dazu kam, dass je kleiner man war, desto ungelenker
das Hosenbein sich kaprizierte. In der Krempe sammelte sich zudem der Dreck,
er stieß nur knapp unter Knöchelhöhe einen Rand in den Stoff. Oft blieb dieser
Rand auch nach dem finalen Abschneiden und Umnähen noch sichtbar, und der
oder die Unglückliche war auf die Lebenserwartung der Hose stigmatisiert:
Keine Spur von der Größe Amerikas, vielmehr erste Zweifel.
Natürlich gab es damals noch Mütter, die ihre Liebe an der Nähmaschine
bewiesen. Sie bezahlten in diesem Fall mit mindestens drei teuren Nadeln, denn
immer, wenn man über die dicke Seitennaht musste, brach eine ab. Die Mütter
hielten gewohnt klaglos durch, verwendeten aber meistens nicht den richtigen
Oberfaden, den gab es offenbar nicht. Sie nahmen, als ob das komplett egal
gewesen wäre, blau oder weiß, so dass jetzt billig und wie von Mutter aussah,
was an sich aus Amerika hatte sein sollen. Und dass die nähende Mutter dieses
Amerika nicht mal beim Kürzen der Wrangler imitieren konnte und wir mit
verpfuschten Hosen rumliefen, wenngleich mit liebevoll verpfuschten,
spätestens das war der Beginn unseres gestörten Verhältnisses zu Deutschland.
Aber es konnte noch heftiger kommen: Wenn die geliebte Wrangler aus
dem gelobten Land mit der falschen Naht überm Schuh doch noch einlief, dann
war mit dem Hochwasser die Katastrophe perfekt. Denn kein Elternpaar der
Siebziger gab wegen zwei fehlender Zentimeter eine derart kostenintensive und
amerikanische Hose auf, der Ruf des Kindes musste dran glauben. Schlimm traf
es die Kinder der Reichen, denn die hatten die ersten Wäschetrockner
angeschafft, was das Einlaufen auf schier unbegrenzte Zeit fortsetzte. Der
Rufmord wurde in diesen Fällen schleichend gesteigert, viel zu spät trieb man
den Geräten diese Kinderkrankheit aus.
Richtig cool, kommen wir jetzt mal dazu, waren diejenigen, die ihre
Jeansbeine einfach mit den Hacken durchliefen. Das überstehende Stück fiel
dann zur Hälfte ab, der Rest wurde mit der Hand bei Gelegenheit weggerissen.
Das Ende blieb auch mit den im Prinzip weißen Fransen, die den Dreck der
Straße in Schulklasse und bürgerliches Heim trugen, auf ewig lässig. Von denen
kriegte man Dope, dass wir hinter der Kirche rauchten, um sagen zu können:
Mann, bin ich breit. Dazu wurde nach sehr verhaltenem Beginn, kurz aber derbe
geknutscht.
Zu dieser Zeit wurde die Sache aber schon industrialisiert. Die Kaufhäuser
begannen, die Kürzung als Dienst anzubieten. Es kamen die Jacken von
Wrangler dazu, jetzt hatte man das W auch auf der Brust, wenn man wollte.
Kurz darauf erfuhren wir dann, das eigentlich Levi’s die Marke wäre, welche,
obwohl der Bayer Levi Strauss mit den Stoffen eigentlich etwas anderes
vorhatte, und nur aus Ratlosigkeit Hosen nähen ließ. Irgendwo lasen wir, dass
die Jeans ihren Namen aus Genua hatte, dem ehemaligen Handelszentrum für
Hanf, was bis zur Ächtung der Pflanze den Hosenstoff abgab. Die Genueser,
begriffen wir, war also viel weniger amerikanisch als eigentlich unecht.
Wir begriffen aber auch stückweise, was die Herkunft bedeutete: Für die
Schokoladenwelt dieses weit entfernten, beharrlich rätselhaften Landes wurden
die Eltern noch, als sie Kinder waren, von den Großeltern durch mitteldeutsche,
nächtliche Wälder gescheucht, mit einem Rucksack auf dem kleinen Rücken und
voll grausamer Angst vor der russischen Patroullie, erzählte der Opa. Später
hatten sie mal auf einem amerikanischen Panzer mitfahren dürfen, erzählte die
Oma. Sie kam von jenseits der Oder oder der Neiße, von der wir nicht ahnten,
wo sie liegen könnte, abgesehen davon, dass irgendwie schon klar war, sie lag
jenseits von Gut und Böse. Gemessen an dieser Neiße, komischer Name für
einen Fluss auch, war Amerika nur ein Negerlächeln weit weg, nur das Amerika
die Neger und manch andere nicht behandelte, wie die Eltern verlangten, dass
wir Kameraden behandeln sollte. Die Zweifel nährten sich nun.
Aus Protest gegen die vieldeutige Welt und die mittlerweile dreißigjährigen
68er nähten wir die Hosenbeine deshalb jetzt ab, sie mussten hauteng noch an
der Wade sitzen, und wie man in die Hose noch rein kam: egal. Unsere Eltern
kuckten sich Aufzeichnungen der Mondlandung an, wir fanden die Fahne da
oben sei Umweltverschmutzung. Neuerdings lasen wir Che Guevara, den wir aus
der Schulbibliothek geklaut hatten, und ziemlich schlagartig wurde uns klar, was
für eine tote Materie wir waren. Wir wollten das Abitur noch schnell fertig
machen, und dann Handwerker werden, nämlich Tischler. Neben der Ehrlichkeit
dieser Arbeit freuten wir uns auf dieses natürliche Material und färbten schon
mal die billig eingekauften Latzhosen bunt, die jetzt den Platz der in Ungnade
gefallen Wrangler einnahmen. Es dauerte den ersten Lehrtag und wenige Blicke
der neuen Kollegen lang, bis wir die gesteigerte Mutlosigkeit dieser Geschichte
begriffen.
Die Lehre brachen wir in der Probezeit ab. Es hatte keinen Sinn, jeden
Morgen um sechs aufzustehen, um acht Stunden lang Kunststofffenster in
Neubauten passen zu können. Wir schrieben uns für Psychologie ein. Nach drei
Semestern wechselten wir zur Pädagogik, weil die ganze Statistik echt scheiße
war in Psychologie, wir wollten ja was über den Menschen lernen. Wir wählten
grün. Das Bootleg kehrte zurück in die Jeanswelt der halben Vernunft. Es
dauerte einen Transatlantikflug nach dem endlich abgeschlossenen
Grundstudium lang, bis wir die wieder akzeptablen Hosen erst Liehwaihs zu
nennen anfingen und dann gar nichts mehr zu ihnen sagten, weil die
Doktorarbeit derlei Probleme in den Hintergrund schob. Dass mit erhöhten
Passagierzahlen zwischen der BRD und New York auch passende Längen in den
deutschen Läden erhältlich waren, nahmen wir so unauffällig zur Kenntnis, wie
das Verschwinden der Levi’s mit Webfehlern, die immer noch viel mehr gekostet
hatten, als wir längst am Broadway für unsere Jeans bezahlten. Wir fingen an,
markenlose Jeans für 15 Dollars bei Wall Mart zu kaufen, wir sagten: for fifteen
bucks.
Wir hatten mittlerweile Ausdruck im mündlichen und schriftlichen, über
den unsere Eltern staunten. Wir hatten die Grenzen der Träumerei erkannt. Wir
schulten auf Computer um, denn Arbeit war knapp im Land von Helmut Kohl,
den unsere Eltern gewählt hatten und alle Ossis. Mit einem Computerjob könnte
man vielleicht das halbe Jahr auf Gomera verbringen, wo die ganzen
alleinerziehenden Mütter den Winter abwarteten, und wo man beim Rumsitzen
Benzin sparte. An den Wochenenden fuhren wir nach Berlin und diskutierten,
dass es besser wäre, Bonn würde Haupstadt bleiben, dann bliebe Deutschland
auch weiterhin Provinz und die Mieten in Berlin auch noch unten.
Wir zogen in den Prenzlauer Berg und maulten über die skandalösen
Berliner Winter. Nachdem wir für einen Augenblick die Jeans gegen Anzüge
getauscht hatten, weil immer denselben Rebellen spielen ist konservativ, und die
Bank, die einen mittelmäßig bezahlten Job anbot, aber immerhin, zog Anzug eh
vor, danach also sahen wir, wie wir mit amerikanischen Freunden, die die besten
Subkulturen der Welt haben, unzivilisiertere Teile Europas bombardierten.
Flüchtlinge starben an Grenzen, die niemand kannte, und auch die BRD war jetzt
tot. Noch immer hatten wir große Zweifel. Als die Jüngeren den
Markenfetischismus als integratives Element der rückwirkenden
Generationenbildung beanspruchten, überließen wir denen das neidlos. Dann
sagten wir, leger gekleidet, der neuen Geliebten das vorübergehende Jawort. Die
Wrangler tauchte in der Technoszene wieder auf, weil die ganze Mode der
Blumenkinder schon durchzitiert war und zu langweilen begann. Jeder von uns
lächelte im Vorbeigehen jetzt voller Verständnis.
Der Puma-Schuh
Christopher Keil
Als wir im Sommer 1969 nach Norderney zogen, erkannte ich sehr schnell, dass
die Menschen auf dieser Nordseeinsel eine eigene Sprache hatten. Sie nannten es
Platt, und weil ich kein Platt sprach, wollten mich die Kinder aus meiner Klasse
verprügeln. Nach Schulschluss bekam ich zehn Meter Vorsprung und musste
rennen. Sie haben mich natürlich nie geschnappt, bis der Kräftigste die sechste
Stunde schwänzte und sich vor unserer Haustür postierte. Meine Mutter befreite
mich.
Sich von der Mutter befreien zu lassen, ist das Schlimmste, was einem
Siebenjährigen passieren kann. Es reichte damals in Norderney schon, kein Platt
zu sprechen, um als Außenseiter zu gelten. Ich war aber auch noch katholisch
und rannte in Puma-Schuhen. Die meisten Kinder, mit denen ich mich zum
Fußball traf, hatten Schuhe mit drei Streifen.
Ich war der einzige mit einem. Formstreifen nannte ihn der Verkäufer. Für
mich sah der Formstreifen aus wie der geschwungene Körper eines Pumas, und
wie ein Puma zu rennen, fand ich, war etwas Besonderes. Außergewöhnlich war
jedenfalls, dass Puma-Schuhe von Anfang an breitere Sohlen hatten als alle
Konkurrenzmodelle, und weil ich an beiden Füßen Überbeine hatte, bewahrte
mich der Puma-Schuh ganz nebenbei vor größeren orthopädischen Schäden.
Dass ich katholisch war, hatte mit meiner Mutter zu tun und ihrer Liebe zu
Gott. Dass ich wie ein Puma rannte, hatte mit Borussia Mönchengladbach zu tun
und meiner Liebe zu einer Fußballmannschaft, die in Puma-Schuhen kickte, aber
Fohlenelf hieß.
Auf Norderney waren die Kinder entweder für Bayern München oder den
Hamburger SV, und ihre Sympathie hatte durchsichtige Gründe. Die Bayern
gewannen häufig, und der HSV war der erfolgreiche norddeutsche Klub. Ich bin
der einzige gewesen, der ein Trikot von Borussia Mönchengladbach trug. Und
auch das, fand ich, war etwas Besonderes. Denn das Mönchengladbacher Trikot
war weiß und deshalb sofort von allen anderen zu unterscheiden.
Niemand trug damals weiß, uns Messdiener, die deutsche Fußball-
Nationalelf und den Schlagersänger Bata Illic einmal ausgenommen. Ein weißes
Trikot ist wie eine Marke gewesen, obwohl es in den Siebzigern fast noch keine
Marken gab. Stattdessen hatte man Farbfernsehen, deutsche Tugenden, und der
Quizmaster Dietmar Schönherr konnte die Nachbarin schockieren, weil er in
seiner Show “Wünsch dir was” ein 17-jähriges Mädchen in durchsichtiger Bluse
auftreten ließ. (Das Mädchen ist trotzdem Ärztin geworden.)
Ich zog hässliche Nikkis an, grellbunte Hemden oder verwaschene Batik-
Shirts. Niemand hatte die Wahl zwischen Prada und Paul Smith. Keiner war cool
oder in oder out. Nur die Farben unserer Fußballteams trennten uns, und der
Vereinsschriftzug war das einzige Logo, auf das wir fixiert waren.
Deshalb hatte es natürlich auch Konsequenzen, sich für Borussia
Mönchengladbach zu entscheiden. Der kleine Provinzklub führte das
Establishment der Bundesliga vor, und das Establishment trug drei Streifen, trug
Adidas. Eigentlich trug Deutschland Adidas. Mit Borussia Mönchengladbach
war man also in der Opposition, und der Puma-Schuh war der zarte
materialistische Ausdruck eines alternativen Lebensgefühls.
Adidas hatte damals noch überwiegend deutsche Vorbilder. Die Kickstiefel
hießen ganz linientreu Uwe Seeler oder Franz Beckenbauer. Der Puma- Style
dagegen wurde von weltläufigen Männern wie Pelé oder Johan Cruyff bestimmt.
Mit Pelé verband sich nicht weniger als Genialität und globale Exotik, mit
Cruyff handfestes Rebellentum.
Der Holländer hatte sich vor dem WM-Finale 1974 gegen die Deutschen
einen der drei Trikotstreifen abgerissen, weil er geschworen hatte, nicht im
Adidas-Hemd aufzulaufen. Cruyff war in grandioser Form, was nichts an seiner
Niederlage änderte. Deutschland wurde Weltmeister, Cruyff hat das nie
verziehen. Mir wurde klar: In besonderen Schuhen zu verlieren ist besonders
schlimm.
Mein Held aber hieß Günter Netzer. Netzer hatte alles, wovon ich zu
träumen wagte: lange Haare, eine Frau, die in durchsichtigen Blusen ausging,
einen Ferrari und eine Diskothek. Über Netzer wurde gesagt, dass er Raum und
Gegner beherrsche.
Mit Netzer entwickelte Borussia Mönchengladbach eine verschwenderische
Angriffslust. Wenn er am Ball war, gab es keine Grenzen. Seine Pässe drangen
in die dunklen Ecken des Spielfeldes vor und erreichten ferne Posten an den
Seitenlinien. Netzer und Borussia Mönchengladbach erfanden das Flügelspiel.
Der Platz, haben Radioreporter entflammt behauptet, sei plötzlich breiter
geworden. Was natürlich Unfug war und auch wieder nicht.
Im Grunde war Borussia Mönchengladbach der sportliche Beitrag zur
ersten sozialliberalen Regierung der erwachenden Bundesrepublik Deutschland.
Wie Netzer inszenierte Willy Brandt seine Vorstöße über Außen. Die CDU hatte
in den Nachkriegsjahren nur die korrekte Mitte oder die rechte Flanke mit den
westlichen Bündnispartnern im Auge. Der erste SPD-Kanzler wagte sich auch
über links nach vorne.
Sein Kniefall in Warschau vor dem Ghetto- Denkmal, die Anstrengungen
zur Normalisierung des deutsch-polnischen Verhältnisses, der Moskauer Vertrag
über Gewaltverzicht und sein Treffen mit DDR-Ministerpräsident Stoph sind
Fundamente deutscher Ostpolitik geworden. Europa wurde breiter.
Obwohl die SPD 1972 ein Misstrauensvotum abwehren konnte und
anschließend die Wahl gewann, erschien mir Willy Brandt stets als
herausragende Persönlichkeit einer Minderheit.
Das mag an meiner Mutter gelegen haben. Sie mochte Brandt vermutlich so
wenig wie durchsichtige Blusen. Auch Brandt schien das Establishment zu
ärgern wie Borussia Mönchengladbach. Wenn meine Mutter mit ihren Freunden
über den roten Bundeskanzler diskutierte, war stets von Alkohol die Rede und
vielen Frauen, die als Weiber bezeichnet wurden.
Willy Brandt, davon war ich überzeugt, hätte Puma-Schuhe getragen.
Sein Auf- und Abstieg waren dann auf schicksalhafte Weise mit dem von
Günter Netzer verbunden. Netzer verließ Borussia Mönchengladbach 1973 und
bekam sehr viel Geld dafür, dass er sich Real Madrid anschloss.
Er hatte eine gute Saison in Spanien und danach viele Verletzungen. Die
Puma-Schuhe hießen bald Klaus Allofs, Wilfried Hannes und Lothar Matthäus,
und vom Klang der Namen hätte man den wirtschaftlichen Niedergang des
Unternehmens ableiten können.
Willy Brandt wurde 1974 vom DDR-Agenten Günther Guillaume gestoppt.
Die SPD blieb noch bis 1982 an der Macht und kehrte erst 16 Jahre später an die
Spitze zurück. Borussia Mönchengladbach wurde 1977 zum letzten Mal
deutscher Meister und Puma am Ende der Achtziger von der Modeoffensive
amerikanischer Unternehmen bezwungen.
Das hätte, als wir am Norderneyer Nordstrand im Windschatten der alten
Wetterwarte den Uefa-Cup-Sieg der Borussia über Twente Enschede (5:1!)
nachspielten, nicht einmal die Adidas-Fraktion für möglich gehalten.Ich glaube,
unsere Enschede-Elf hatte durch entsetzlichen Körpereinsatz Vorteile, obwohl
ich meinen King S.P.A. aus leichtem Känguruleder, mit Nylonschraubstollen,
extra hohem Schaft für besseren Halt und zusätzlichem Sportabsatz vorführte.
Dass ich auf dem korrekten Endergebnis bestand und als Jupp Henyckes drei der
fünf Mönchengladbacher Tore schießen durfte, hat mir die Gruppe, die Enschede
sein musste, übel genommen.
Doch das war mir egal. Ich hatte gelernt, dass ein Puma Widerstände
brechen musste.

Die Carrera-Bahn
Sie zieht den Schlüssel ab und steht in der Halle. In jener Nacht hatte natürlich
niemand damit gerechnet, dass sie nach Hause kommen würde.
Wmm. Wmm. Dieser Klang, irgendwie schleifend, dunkel und auch ein
bisschen wattig, denkt sie. Wahrscheinlich denkt sie das – das denkt doch das
ganze Kino. Man kann ja fast hören, wie das merkwürdige Geräusch durch die
Ohren der Filmgucker hindurchrast, angesaugt von einem Gedächtnis, welches
plötzlich wach ist und sich auflädt mit Signalen aus der Vergangenheit.
Ich sitze also im Kino, in der Mitte, sehe die Frau in der Halle und höre die
Klänge von gestern. Ich finde, dass jenes Wmm auf dunkelwattige Art surrt und
zugleich elektrohaft-hell wimmert. Und das Schleifen, das ist vielleicht eher ein
Schieben, ein Drängen, ein Ankommen, mehr noch: ein Abfahren- und
Durchstarten-Wollen. Und dann klingt das alles auch sehr unentschieden,
halberwachsen und kein bisschen nach einer dieser Reise- Weisheiten von
Valéry. Denn: Wer will schon abfahren, wenn er einfach nur fahren kann in
einem ewigen Kreis?
Aber dann geht auch jener Film, der sich außerhalb des Kopfes und auf der
Kinoleinwand befindet, weiter – und jetzt kommt offenbar der Loop, denn da
geht auch der Ton in die Höhe: Wiieee. Und in der Steilkurve kommt noch ein
ratterndes Rasen dazu: W-r-r-r-r. Die Frau in der Halle geht ein paar Schritte,
lauscht in das Schwarz hinein und betrachtet müde ein zittriges Lampengelb, das
aus dem Zimmer schlüpft. Ahh! Da war es – zwischen Wmmm und Wiieee.
Dunkel, lustvoll und wattig wimmernd. Sie reißt die Tür auf, bleibt fassungslos
stehen. Da ist ihr Mann. Vor drei Wochen haben sie geheiratet, vor zwei Wochen
sind sie in die hübsche Villa gezogen, vor einer Minute war die Welt noch in
Ordnung. Aber jetzt liegt ihr Mann nackt in der Hängematte und sieht aus wie
jemand, der eine Menge Drogen genommen hat.
Seine Blöße ist von einer schlafenden Katze bedeckt, die Augen starren in
den Raum, seine rechte Hand birgt ein Geheimnis, das an einem Kabel hängt:
Das ist der Drücker, der Temporegler. Ihr Blick verfolgt das Kabel und führt sie
zu der riesenhaften Carrera-Bahn, die fast das ganze Zimmer ausfüllt. Dort ist
die lange Gerade, dann kommt der Loop, dann das W-r-r-r-r. Und in dem
gigantischen Loop-Kringel hockt wie eine schwarze Witwe: die fremde Frau.
Das nackte Hausmädchen. Das Boxenluder. Obszön bewegt sie sich auf und ab –
mit einem Ahh! immer dann, wenn das kleine Rennauto in den Loop einfährt,
unter ihrer Scham hindurch. Und dann dreht die Kamera endlich ab – und was
danach kommt, liegt glücklicherweise im Dunklen dieses idiotischen Films.
Wobei sich diese Szene natürlich trotzdem in jene Gedächtnisse bohrt, welche
auch die Zeit der dunklen Hobbykeller und hell surrenden Rennautos birgt.
Obszönität ist vielleicht einfach nur eine Frage des Maßstabs.
Natürlich war das, in den neunziger Jahren, ein deutscher Film, einer, der in
dieser Szene mal so richtig was riskieren wollte: Filmen auf der Überholspur.
Ein Film also mit Katja Riemann als Apothekerin Hella (nach dem Roman “Die
Apothekerin”) und mit Jürgen Vogel als Levin. Mit Levin, dem Mörder. Mit
Levin, dem Auto-Freak, der mal Rennstall-Besitzer werden möchte oder Formel-
1-Pilot, der Porsche fährt – und wenn nicht Porsche, dann Auto-Scooter. Und
wenn er nicht auf dem Rummel oder auf den Autobahnen irgendwo im
deutschen Süden seinen kleinen Verstand in den Fahrtwind hängen kann, dann
baut er sich in seiner Villa eine große Carrera-Bahn auf, um damit seine
autoperversen Sex- Phantasien zu inszenieren.
Allerdings: Das tut Levin nur im Film – in der Krimi-Vorlage ist von der
Carrera-Bahn keine Rennspur zu entdecken. Das wirklich Spannende an diesem
Film ist also die Erfindung einer denkwürdigen Metapher: die Carrera-Bahn (die
auch von jeder anderen Firma stammen kann, und dann trotzdem immer und
überall eine "Carrera"-Bahn sein wird), die Carrera-Bahn als Ort des
Bösen.
Im Buch heißt es nämlich nur: “Margot bot sich Levin auf eine Weise dar,
die ich für pervers und abscheulich hielt, und tat Dinge, für die ich mich nie im
Leben hergeben würde.” Das ist alles. Man muss sich vorstellen: Die Drehbuch-
Autoren lesen den Krimi, machen einen Film daraus – und übersetzen den
Abgrund, das Abstoßende, das peinlich Perverse und geheimnisvoll Höllische –
sie übersetzen das einfach mit einer Carrera-Bahn, als wäre dies das definitiv
Schlimmste, was man unter Strom setzen kann in der deutschen Provinz.
Der Witz daran ist: Wahrscheinlich haben das meine Eltern genauso
gesehen. Ein ganzes Jahrzehnt lang, in den siebziger Jahren, die so dunkel und
so elend waren wie die Röhren einer braunen Cordhose, habe ich mir eine
Carrera-Bahn gewünscht. Zu Weihnachten, zum Geburtstag, dann wieder zu
Weihnachten. Ich bekam keine. Nicht von den Eltern, nicht von Oma, Tante,
Onkel. Von dem bestimmt nicht. Der saß in Mödling in seiner großen Wohnung,
und in das größte Zimmer hatte er eine Eisenbahnlandschaft eingebaut.
Komplett.
Um überhaupt ins Zimmer zu gelangen, musste man unter eine Holzplatte
kriechen, und in der Mitte konnte man dann wie durch ein Eisloch wieder
herausschauen. Dann durfte man all den Eisenbahnen zugucken, die durch eine
Märchenlandschaft voller kleiner Häuser fuhren – und wenn ich nichts anrührte,
dann bekam ich zehn Schilling geschenkt.
Es gab damals vor allem glückliche Eisenbahn-Kinder, Märklin natürlich,
und es gab glückliche Rennbahn-Kinder, natürlich Carrera. Es gab allerdings
auch Kinder, die einfach so glücklich oder unglücklich waren. Ich jedenfalls war
ein total unglückliches Eisenbahn-Kind. Ich hatte jede Eisenbahn, die es gab. Ich
hatte eine Personenzuglokomotive mit Schlepptender, einen Ringlokschuppen,
verschiedene Tunnel, einen See (mit Campingplatz) und jede Menge Felsen-
Korkrinde plus Schneetannen.
Aber ich hatte keine Carrera-Bahn. Ich war unglücklich – während Franz
Josef Strauß in Niederbayern die Autobahn baute, damit BMW nach Dingolfing
kam. Vermutlich waren aber meine Eltern glücklich, und zwar schon deshalb,
weil sie sich mit ihrer unerbittlichen Carrera-nein-danke-Haltung auf der
pädagogisch sicheren Seite fühlen durften.
Das Leben sollte offenbar zu jenem langen ruhigen Fluss werden, der sich
aufstaut, wenn man immer durch ein Eisloch ins onkelhafte Wohnzimmer guckt
und nichts anrühren darf. An wohl behüteten Eisenbahnspielkindern sollte das
Leben vorüberziehen wie die Bilder einer bizarren Nachkriegs-Märchen-
Landschaft, über die nette Erwachsene gebieten. Dabei hatte Hitler ja gar nicht
die Autobahn erfunden; die Amerikaner aber hatten das Slotracing erfunden, das
“Schlitzrennen”.
Nachkriegsdeutsche Carrera-Kinder waren jedenfalls anders als
nachkriegsdeutsche Eisenbahn-Kinder: Carrera-Kinder wollten am Drücker sein
und Gas geben, nur sich selbst und keineswegs ein ganzes Land erfinden. Die
wirklichen Carreristen wollten einfach schneller fahren, vorbei an unrentablen
Bahnstrecken, wollten auf pechschwarzen Spuren unter Funkenflug die
Steilkurven bezwingen und den Loop erzittern lassen. Sie wollten draufdrücken
mit dem Daumen, mit dieser besonderen Geste einer Faust, die immer etwas
größer sein möchte. Den Wiederaufbau muss man sich noch in den siebziger
Jahren vorstellen, wie er gerade wütend aus einem Kellerfenster rast.
“Carrera”: Das ist spanisch und fremd und heißt Rennen. Und in jenen
späten sechziger Jahren, in denen eine kleine Fürther Firma, die sich eher an
erwachsene Kinder statt an retardierte Erwachsene richtete, als die ihrer
sensationellen Kinderspielzeug-Erfindung einen gefährlich klingenden Namen
gab, da gab es ja auch noch eine Menge Platz im Land für jene Spuren, die
Träume hinterlassen, wenn sie übers Land fahren wollen.
Das war die Zeit, in welcher die Pisten “Avus” hießen oder “Monza”, die
Zeit des “Lotus 49″ und des “Universal-Spaghetti-Ferrari”. Aber Mitte der
achtziger Jahre waren die großen Tage vorbei, das Familienunternehmen brach
ein, Huschke von Hanstein machte einem Jungen Platz, den später alle nur
“Schumi” nannten – und der geniale Carrera-Erfinder Hermann Neuhierl nahm
sich am 6. Februar 1985 das Leben. Da war der Laden aber eh schon verkauft –
und ganz Deutschland fing an, sich im Stau zu langweilen. Das war, als man es
sich in der angestauten Ortlosigkeit des allgemeinen Stillstandes gemütlich
machte, vielleicht irgendwo an der A7 Richtung Kassel. Oder vielleicht
zwischen Schweinfurt-Werneck und dem Gramschatzer Wald.
Aber vielleicht ist das Land gar nicht so reich und so unbeweglich dumm,
wie es immer tut mit seinen Schumi-Doppelerfolgen, mit all den Silberpfeil-
Nachkommen und all den Lärmschutzwänden, den 11250
Autobahnstaukilometern (zu je 21 Millionen Mark), dem Volksautokanzler, dem
Fahrertraining auf dem Nürburgring, den ADAC-Renn-Posten und den ADAC-
Stau- Psychologen, mit all den billboardgroßen Gurt-Anlege-Botschaften, den
Einfädelspuren und stillen Standstreifen, mit all den Leitplanken, Tankstellen,
Autobahnkirchen. Und überhaupt mit dem ganzen automobilen Leben, das
aussieht als wäre es gezeugt worden in einer Liebesnacht, in der sich auf jenen
unendlichen Carrera-Parallelen, die sich eigentlich nur im Universum treffen
dürfen, als wären sich dort der Porsche 917/10 und der McLaren M8F doch
einmal verdammt nahe gekommen. Und beide haben sicher von einer Eisenbahn
geträumt, die in die Vergangenheit führt, wo es weder BRD noch Führerstraßen
gibt. Und vielleicht überhaupt keine Führung und Spuren und Bahnen und
Leitplanken-Kultur.
Vermutlich ist also dieses Land nur zu begreifen, wenn man sich vorstellt,
dass all die Carrera-Bahn-Kinder all ihre Geraden, Kurven und Rundenzähler bis
heute unermüdlich zusammenstecken – so lange, bis daraus eine gigantische
Acht wird, welche sich irgendwann einmal um unser Sonnensystem legen wird.
Die Carrera-Bahn ist also wahr und obszön geworden – alles nur eine Frage
des Maßstabs. All die traurigen Eisenbahn-Kinder von einst aber, die haben sich
als Erwachsene ihre Träume erfüllt und große Autos und kleine Zweitautos und
winzige Rennautos gekauft. Wie früher dürfen sie auf fremden Bahnen fahren
und immer öfter auch stehen. Und so betrachten sie nicht den Horizont, sondern
nur jene unbegreiflich liegende Acht, die sich ins Universum ausdehnt und
nichts anderes bedeutet als dies: Ewigkeit, rasender Stillstand, Unendlichkeit,
Deutschland. Runde um Runde.

Die Musik-Cassette
Albert Ostermaier

Es gibt eine Szene in dem Filmklassiker “Die Klapperschlange”, die sich auf
meinen Erinnerungsspulen eingebrannt hat: Snake, der coole Protagonist und
kalte Krieger, muss in einer apokalyptischen Odyssee und einem tödlichen
Wettlauf mit der Giftkapsel in seinem Arm eine Cassette mit dem Atomcode aus
dem Gefängnisghetto Manhattan holen.
In einer rasanten Fahrt in einem abgewrackten Taxi zum rettenden Tor
hören sie irgendeine Dudelmusik, ein aberwitziger Kontrast zur Dramaturgie der
Szene, dem Crescendo der Spannung. Schließlich schafft er es, gerade noch so,
die Kapsel wird entschärft, er übergibt die Cassette. Amerika ist wieder einmal
im letzten Moment gerettet, Snake auch. Doch als sie die Cassette abspielen, um
die sich alles drehte, dudelt es beschwingt aus den Boxen, und während die
verdutzten Gesichter wie auf Pause stehen, zieht Snake das Band aus der echten
Cassette und wickelt es um seine Finger.
Ich konnte nie so entspannt lächeln, wenn es zum Bandsalat kam. Und es
ging doch auch immer um Leben und Tod, Irrfahrten, unerträgliche Spannung,
Zeitbomben, die nahe dem Herz tickten – und wenn es auch nicht Manhattan
war, so kam einem in der Stürmer-und-Verdränger-Jugend der S-Bahn-
Einzugsbereich doch auch wie ein Gefängnis vor, hinter dessen trostlosen
Endstationen irgendwo die Welt beginnen musste, die aber auch später mit dem
vom Vater geliehenem Auto immer noch eine Tankfüllung weiter entfernt war
und sich kafkaesk mit dem Horizont nach hinten verschob, Vorlauf
ausgeschlossen.
Doch bevor es zu den ersehnten Spannungshöhepunkten kam, dem
höchstmöglichen Dynamikausschlag, war eisenharte Geduld angesagt, da musste
man schon ferro super drauf sein, denn neunzig Minuten waren eine Ewigkeit.
Denn schließlich musste jeder Song nicht nur einzeln aufgenommen werden,
sondern vorher Zeile für Zeile der Text überprüft werden, ob nicht gerade ein
Satz dabei war, der die Angebetete verstören könnte, als Anspielung zu sehr
Aufforderung war, get on up, oder das unausweichliche Scheitern aller Liebe
prophezeite und Flugzeuge im Bauch: Gib mir mein Herz zurück, Du brauchst
meine Liebe nicht, je eher Du gehst…, das kam eh früh genug und leichter
wurde es dadurch auch nicht.
Doch das waren nicht die einzigen Klippen, es durfte auch nicht zu
gezuckert sein und wie Erdbeermarmelade beim Mitsummen auf den Lippen
kleben, was in der Kombination mit dem obligatorischen Labello einfach zu viel
war.
Alles war eben voller versteckter Zeichen, potenzieller Missklänge,
suggestiver Rhythmen, die nicht immer unbedingt mit den unbequemen
Autositzen harmonisierten, die sich noch nicht per versteckt beiläufigem
Knopfdruck nach hinten gleiten ließen. Alles musste komponiert sein, nach einer
Dramaturgie der Verführung.
Sanfter, einlullender Einstieg, dann Bässe, die direkt ins Becken gingen und
schließlich zum Abschied die Sehnsucht des Wiedersehens, aber keine Geigen.
Und sich selbst musste man das gleiche Band ziehen, damit man sich der Illusion
hingeben konnte, dass sie zur gleichen Zeit, wenn man wieder zuhause ist, die
gleiche Musik hört, die gleiche Hitze in der Brust aufsteigen spürt, die
verhangene Melancholie in den Blicken, die sich wie die Cassetten beschriften
ließen. Natürlich war die Fantasie beim Aufnehmen immer das genaue Gegenteil
der Wirklichkeit beim gemeinsamen Abspielen. Und so musste sofort die
nächste Cassette her, wie bei einem Alchemisten galt es, das Gold erneut zu
suchen, und alles miteinander zu mischen, Explosionen nicht ausgeschlossen.
Am besten man investierte gleich in einen 10er Pack BASF. Natürlich nicht
AGFA, AGFA klang nach Akne und war für Volksmusik. BASF war cooler, man
sprach jeden Buchstaben einzeln aus, wie ein Versprechen oder eine Drohung.
BASF Trade Mark, BASF made in W. Germany. Und es war gefährlicher, dachte
man an BASF, sah man nächtliche Industrielandschaften, Feuer spuckende
Schornsteine wie vor den Küsten Manhattans, Phosphorschaum, der in den
Rhein floss. BASF war giftig. Deutsche Wertarbeit. BASF war ein
Gewissensbiss.
Man wurde politischer, BASF stand für IG Farben, wenn der neue Lack ab
war, Zwangsarbeiter, das Geld in Hitlers zurückgeworfener Hand.
Ludwigshafen, wo der große Kohl-Kopf aus der braunen Erde schoss. Aber
irgendwie klang in jeder Hinsicht BASF besser. Und war das nicht auch die
BRD: sich mit vollem Protestbewusstsein korrumpieren lassen. Anti-Atomkraft-
Aufkleber und BASF- Cassette, TonSteineScherben und Lila Pause. Nehmt auf,
was euch kaputt macht.
Aber wahrscheinlich lag es auch an dem hypnotischen Logo auf den
Cassetten, dieser heimtückisch kapitalistischen Gehirnwäsche, den persilweißen
Spirallinien auf rotem Grund, die einen zu den dicken Lettern daneben bannten.
Produkttreue, Dynamikvergleich, die charakteristische relative Empfindlichkeit
(db), auf die es ankam. Diese ästhetische Entschiedenheit und Klarheit der ersten
Cassetten: schwarzes Gehäuse, fünf Schrauben, die das Geheimnis festhielten,
rotes Beschriftungsfeld vier Zeilen, die Ankreuzkästchen für Stereo, Mono,
Dolby. Zwei deutsche Staaten, rechts und links, Monokulturen, Raubkopien,
Inventarisierung, Nebengeräusche.
Überhaupt Dolby! Das Absenken des Rauschpegels, das Schlucken des
Staubs auf dem Vinyl, ein Filter vor dem Lärm der Welt, die sich auf zwei
Spulen immer weiterdreht, manchmal blockiert, die man umdrehen kann und
dann spielt sie weiter deinen Song. Neunzig Minuten. Der Film, den du selbst
mit einem Bleistift ankurbeln kannst. Das durchsichtige leere Stück Band vor der
Aufnahme, bevor die Pegel ausschlagen und vor den Augen tanzen.
Und dann am Ende, der finale Akt: das Herausbrechen der
Sicherheitsblättchenquadrate. Keiner kann das jetzt mehr überspielen, die
Recordtaste wird sich für immer verweigern! Es sei denn, man klebt ein Stück
Tesafilm darüber. Was für ein brutaler Vorgang, welche Gewalt, Verrat. Löschen,
Überspielen, Vergessen, Ausradieren, neu Beschriften, der Kuli über den
Druckstellen des Bleistifts. Terror. Sie hat SPLIFF mit Eros Ramazotti
überspielt, deine eigenen Lieder mit dem exaltierten Gejaule von Kate Bush, wo
die leisen Stellen waren, kreischt es jetzt wie nach einem Hörsturz. Das war das
Ende, eine Kriegserklärung, die man nur mit gleichen Mitteln bekämpfen
konnte.
Die Sammlung der Cassetten im Schrank: das Archiv seiner
Gefühlsgeschichte, eine Audio-Biographie. Die ersten Bänder, schon kaum mehr
abspielbar, das Imitieren von Elvis in Fantasieenglisch, mit Hüftkreisen vor dem
Minimonocasetterecordermikrofon, die ganzen Hitparaden, mitgeschnitten vor
Omas Radio, während die Tanten im Hintergrund sich über Willy Brandt stritten
und ihre Kuchengabeln vollschaufelten mit Ananasrollen. Dann, als sie zum
Spazieren gingen, der erste Rausch zur Musik, das Nippen am Eierlikör aus dem
Schrank. Die Flasche leerte sich, man wurde älter und stereo. Der Kampf mit
sich selbst, als lägen zwei Kanäle im Kopf und würden sich gegenseitig
überdröhnen.
Das Professionalisieren, der Wechsel von Ferro zu Chrom. Das Ende der
Pubertät: echtes Chromdioxid für höchste Ansprüche. Man inszenierte sich, wie
man es vor dem Spiegel trainiert hatte, hochpräzise in seinem Gehäuse. Ortete
die Disco als ortungsscharfes, stereofones Klangpanorama und spulte vor den
Mädchen seine Lieblingsbands ab bis es zum Cassettentausch kam.
Und das konnte schon der Anfang vom Ende sein, das Aufeinanderprallen
unvereinbarer Ideologien und Blöcke. Oft stand schon nach dem ersten Song
eine Mauer zwischen zweien, die zuvor alle Grenzen gemeinsam überwinden
wollten, kein Reißverschluss sollte sie trennen. Und dann stand da plötzlich eine
Warntafel vor jedem weiteren Kontakt: Sie verlassen den hörbaren Sektor. Man
unterhielt sich mehr und besser mit Liedtexten als mit eigenen Worten.
Zeig mir deine Cassetten und ich sage dir, wer du bist. War der Frust und
die musikbedingte Isolation zu groß, gab es jetzt für die Introvertierten ein
Wunderding: den Walkman. Man war sich selbst genug in seinem Schmerz und
der Flucht, die einen überallhin begleitete. Play, die Augen geschlossen, und weg
war Deutschland, bis die Batterien alle waren und die Stimmen wie unter
Mullbinden sangen.
Ach ja, und was natürlich auch ein Argument für das Chrom war, vor allem
nach dem Führerschein: ‘die hohe Hitzebeständigkeit beim mobilen Einsatz
(Auto!)’. Und so kommt das Band zu seinem Ende und dem Anfang der
Geschichte, dem Bandsalat, der größtmöglichen Katastrophe und zu
erwartendem Unglück. April, nachts, ich fahre sie heim, Händchen haltend, das
Lenkrad zwischen den Schenkeln, mit der linken schaltend. Nasse Straßen, die
gedämpfte Lichtorgel der Scheinwerfer im Regen, Nebel vom See her. Das Band
mit Love-Songs, das ich ihr gerade aufgenommen hatte, läuft.
Gleich mein absolutes Lieblingslied, ich schau ihr tief in die Augen statt auf
den Verkehr, jetzt kommt es: Sometimes it snows in April. Und was passiert? Es
fängt tatsächlich zu schneien an! Das vollkommene Glück! Und dann:
Bandsalat, alles vorbei. Das Letzte, was ich hörte, bevor ich auf die Bremse trat:
and all the things they say never last.

Der Klodeckelschutzbezug
Unter den vielen Rätseln, die Deutschland der Welt im 20. Jahrhundert
aufgegeben hat, ragt eines steil in die Regionen des Absurden hinein. Es findet
sich vielerorts in lauschig eingerichteten Sanitärklausen. Selbst bei guten
Freunden und nahen Verwandten ist man nicht sicher vor ästhetisch höchst
anspruchsvollen oder liebevoll handgemachten Varianten jenes rätselhaften
Gegenstands, den wir hier in einem ersten hilflosen Definitionsversuch mit dem
Wort “Klodeckelschutzbezug” umschreiben wollen.
Karl Valentin hätte das pelzige Ding wohl “Winterklodeckel” genannt und
damit die surrealen Qualitäten des wollig warmen Überziehers präzise
aufgezeigt. Der “Winterzahnstocher” jedenfalls, der im Karl-Valentin-Musäum
in München zu sehen ist, entwickelt seine absurden Dimensionen mit dem
gleichen Mittel. Das dünne Stäbchen ist mit Pelzhaaren umklebt; und allein
schon die Vorstellung, dass man das in einem Minimuff steckende frierende
Ding zwischen die Zähne schiebt, um einen eingeklemmten Fleischbrocken
herauszustochern, erregt leichten Ekel und lässt die Besucher im Musäum laut
auflachen.
Warum wird aber in deutschen Toiletten so wenig gelacht? Viele
humorbegabte Menschen haben dem Klodeckel in ihrer Wohnung einen stramm
sitzenden Muff verpasst, doch sie kämen nie auf die Idee, ihre Kreation als
komisch oder gar absurd zu empfinden. Es muss also einen kollektiven Wunsch
geben, den wir im Moment noch nicht begreifen können. Warum wird in so
vielen Wohnungen das doch wohl entbehrlichste Stück der sanitären Installation
– der Klappdeckel – so auffällig ins Blickfeld gerückt, so liebevoll umhüllt oder
so schamhaft versteckt?
Beim Anblick der meist großmaschig flauschigen Umhüllungen fallen
einem spontan alle möglichen wärmenden Überzieher ein, die, wie der
“Winterklodeckel”, mehr und mehr außer Gebrauch geraten: Eierwärmer,
Kaffeehauben, Ohrenschützer oder aber jene handgestrickten Schnürleibchen, in
die kurzbeinige Hunde im Winter beim Gassigehen so hineingezwängt werden,
dass sie als Presswürste ihre Notdurft nur unter Qualen verrichten können.
Soll in den deutschen Kloschüsseln also etwas warmgehalten werden wie
auf den deutschen Frühstückstischen, oder ist es gar menschliches Mitgefühl mit
der leidenden Kreatur, was die Toiletten-Benutzer zum wärmenden Überzieher
greifen lässt? Die Antwort ist klar: Ein Klodeckel friert nicht, kriegt keine
Gänsehaut; man hat ihn allenfalls schon mal schwitzen sehen im Dauerdampf
der Nasszelle; wenn er also wirklich Gefühle kennt, dann hasst er nichts so sehr
wie einen dicken haarigen Pullover auf nacktem PVC. Es muss also etwas
anderes sein, was ihn unter die Haube zwingt.
Befragen wir unsere Sinnesorgane nach dem Sinn dieser Schutzvorrichtung,
bekommen wir recht eindeutige Antworten. Unsere Nase hat überhaupt keine
Vorteile vom Deckelpelzchen. Wenn sich Gerüche entwickeln im diskretesten
Winkel der Wohnung, kann der Schutzbezug wenig bewirken. Auch akustisch
bringt der Überzieher keinerlei Verbesserungen. Etwaige Geräusche entstehen
meist bei offenem Deckel, also dann, wenn die potenziell lärmdämmende Hülle
wirkungslos an der Wand lehnt.
Vielleicht hat das Ganze etwas mit dem Tastsinn zu tun. Deutsche
Kaufhäuser bieten ja Badewannenvorleger, Kloschüsselumrandungen und
Klodeckelschutzbezüge als funktional wie ästhetisch schlüssige Einheit an.
Unsere Füße sind durchaus dankbar dafür. Wenn wir in einem gekachelten Bad
aus der Wanne steigen oder unbeschuht auf der Toilette sitzen, sind passgenau
zugeschnittene Stoffvorleger am Boden höchst willkommen; doch wie oft stehen
wir mit nackten Füßen auf dem umstrickten Klodeckel?
Begreifen könnte man den Überzug allenfalls, wenn statt des Deckels die
harte Brille gepolstert wäre. Doch ein wuschliges Woll-Oval über dem
Schüsselrand würde wohl den kollektiven Hygienevorstellungen widersprechen;
was zwangsläufig zu der Frage führt, ob der rundum saugfähige
Deckelüberzieher, der ja auf der Brille aufliegt und über den Strudeln der
Schüssel schwebt, wirklich so viel hygienischer ist. Schöner ist er auf keinen
Fall: Die korsettartigen Verschnürungen, die ihn auf der Unterseite
zusammenhalten, sehen so hilflos und hässlich aus, dass man die Komposition
eigentlich nur in geschlossenem Zustand ertragen kann.
Dass uns bei dieser Gelegenheit ein anderer markanter Gegenstand des
bundesrepublikanischen Alltags einfällt, wird wohl kein Zufall sein. Der
Tropfenfänger, der mit einem langen, faszinierend hässlichen Gummiband um
den Bauch von Kaffee- oder Teekannen herumgehängt wurde, damit das
rinnende braune Nass nicht das weiße Tischtuch erreichte, hat in der Geschichte
des deutschen Wohlbefindens wohl eine ähnlich fundamentale Nebenrolle
gespielt wie der Klodeckelschutzbezug.
Es müssen also ästhetische Gründe sein, die den Siegeszug des wollenen
Überziehers in den deutschen Toiletten möglich gemacht haben. Das Ding soll,
wie wir von Besitzern hören, den Unort einfach dem Herzen ein wenig näher
bringen.Wir Menschen haben ja schon im kindlichen Alter gelernt, dass alles,
was mit Verdauung, Peristaltik und dem unvermeidlichen Ausscheidungsritual
zu tun hat, irgendwie degoutant, schmutzig, dem gesitteten Menschen nicht ganz
angemessen ist, jedenfalls in der Öffentlichkeit als peinlich empfunden wird und
darum im Alltag versteckt oder verdrängt werden muss. Das hat zu so drolligen
Erfindungen wie der kunstvoll umhäkelten Klorolle im Auto-Heck geführt: Mit
erstaunlich kreativem Aufwand hat man dem nützlichen Gegenstand eine Mütze
übergestülpt, die ihn unkenntlich machen und alle peinlichen Assoziationen
kappen soll; doch erst durch den bombastischen Stoffschrein, der in die Welt
hinausposaunt, dass jemand sich des Inhalts geniert, wird die Sache komisch, ja
zur Peinlichkeit.
Zuhause, am Ort des niedrigen Geschehens, ist die Menschheit mit den
Verdrängungspraktiken und Verschönerungsmaßnahmen noch nicht sehr weit
gekommen. Dass ausgerechnet der flache Klodeckel den ganzen gestalterischen
Impetus der Benutzer abbekommt, ist schwer erklärbar. Eigentlich hätte die
unverschämt bauchige Kloschüssel mit ihrem kropfartigen Siphon viel eher
verdient, dass sie schamhaft weggeblendet wird. Übrigens: Bidets haben in
Deutschland wohl schon deshalb nie Fuß fassen können, weil sie so unverschämt
direkt zum Umgang mit den tabuisierten Körperteilen einladen und nicht mit
einem Deckel anständig verschlossen werden können.
Das Unaussprechliche – es zieht uns hinab. Jeder Deutsche erinnert sich
schaudernd an seine Erstbegegnung mit sanitären Extremanlagen wie jenen
flachen, schmutzigen Bodenwannen, in denen man, breitbeinig dastehend oder
gefährlich tief in der Hocke hängend und um seine Barschaft bangend, eine oft
schwer berechenbare Materie irgendwo zwischen den Hosenbeinen ins Ziel
bringen musste. Viele dieser schäbigen Abtritte in den beliebtesten Reiseländern
der Deutschen sind inzwischen durch halbhohe oder hochbockige
Porzellanthrone ersetzt, doch was nützt der Fortschritt, wenn die unbelehrbaren
Ortsansässigen in ihrer Verzweiflung mit den Stiefeln auf die Schüssel steigen
oder sich schon vor der Schüssel zum Geschäft niederlassen.
Von solchen Schockbildern gepeinigt, sehnt sich der Urlauber zuhause nach
einer heilen Sanitär-Welt, nach einem wohnlichen, warmen Ort, der zum Bleiben
einlädt, nach blitzblanken Installationen, trocken gewischten, gleißenden Becken
und flauschig weichen Stoffen, die wie Toupés alle kahlen Stellen milde
bedecken. Manche Bäder bekommen auf diese Weise eine fast kultische Aura.
So wie der Tisch in der Kirche durch das darübergebreitete Tuch zum Altar wird,
so wird auch der Sanitärblock in manchen Toiletten durch die samtige Auflage
zu einer Art Altar übersteigert. In anderen Bädern drängen sich eher die
Assoziationen Urne und Gruft auf: Der Ort des ewigen Verlustes wird zur
Aussegnungshalle.
Hat man das begriffen, muss das Lachen, das wir eingangs eingefordert
haben, natürlich verstummen. Ja man wird den phantasievoll ausgezierten
Klodeckelbezügen sogar ein kreatives Potenzial bescheinigen müssen.
Verschönern durch Verhüllen – nirgends wird das mit solcher Inbrunst betrieben
wie in Deutschland.
Beuys hat es gewusst: Jeder Mensch ist ein Künstler. Wir gehen noch
weiter: Jeder Deutsche ist ein Christo. Nur im Land der manischen Verhüller war
es möglich, dass ein Verhüllungsmonomane sogar das Parlamentsgebäude
verhüllen durfte.

Westberlin
Im Mai 1988 fuhr ich mit Hauke zum ersten Mal nach Berlin. Er drückte das
Gaspedal des Käfers auch auf der Transitstrecke bis zum Anschlag durch und
zog links vorbei an den Mercedesfahrern, die auf Tempo 100 zu achten lernten.
Selbst wenn uns die Vopo wegen zu schnellen Fahrens anhielte, meinte Hauke,
hätten wir nichts zu befürchten. Wir müssten nur sagen, dass wir kein Geld dabei
hätten, und man ließe uns fahren.
Hauke war schon einige Male in Berlin gewesen. Er schwärmte vom mir
noch unbekannten Dönerkebab – “eine Brottasche voller Fleisch und Salat für 1
Mark 50″ – und zeigte mir die abseitige Stadt.
Wir fuhren mit dem Bus hinaus in den Westen, und einige hundert Meter
lang grenzte die Mauer rechts und links direkt an die Straße, um sich schließlich
zu einem Rund von wenigen hundert Meter Durchmesser zu weiten. Dort
standen ein paar Dutzend Westberliner Häuser, eine Insel vor der Insel. Das
schien absurd, doch als wir uns aufmachten, das kleine Terrain genauer zu
erkunden, verließ uns die Lust, noch bevor wie die Mauer erreicht hatten. Es war
ein ganz gewöhnlicher Vorort, der wie jeder andere nur dazu aufrief, ihn auf
geradem Weg zu verlassen.
Wir kamen unter bei einem Politologie-Studenten im Wedding. Seine
Einzimmerwohnung mit Kohleofen und Innenklo kostete knapp 200 Mark im
Monat, das hielt er für vergleichsweise viel. Boden und Wände waren weiß
gestrichen, die Fenster das letzte Mal geputzt, als die Mutter ihn einmal besucht
hatte. Am Abend gingen wir gemeinsam in den Kreuzberger Mehringhof, einem
Konglomerat linksautonomer Kultur.
Im Keller spielte eine Punkband, doch wir standen draußen und gerieten in
einen heftigen Streit über die Anwendung von Gewalt und die Errichtung einer
Diktatur des Proletariats. Beides hielt der in schwarzem Jackett und schwarzer
Jeans gekleidete Politologe für unbedingt notwendig. Ich brachte Konzepte der
defensiven Verteidigung vor, mit denen ich mich auf meine
Wehrdienstverweigerung vorbereitet hatte, die ich als Gewissensgrund aber nicht
angeben durfte. Von Gorbatschow und der Perestroika redeten wir beide nicht.
Im Trash tanzten Punks, Goths und Alternative zu Westbams “Monkey say
– Monkey do”. Erst bei den Acid-House- Partys ein paar Monate später, im
selben Haus, nur einen Stock höher, blieben Schüler und Studenten unter sich.
Kürzlich war der Zivildienst auf zwanzig Monate verlängert worden. Mit
Warten auf eine freie Stelle summierte sich das auf zwei Jahre, die man in der
Regel weiter bei den Eltern wohnte, vielleicht in einer Band spielte und zu kiffen
anfing. Der Wehrdienst ließ sich, wenn man den Urlaub aufsparte, knapp vor
dem Wintersemester des kommenden Jahres abschließen. Diese Zeit war noch
weniger ohne allabendliches Kiffen auszuhalten.
Weshalb zogen also nicht viel mehr Jugendliche, wenigstens junge Männer,
nach Berlin? Viele meiner Freunde traf die Musterung wie ein Schock. Sie hatten
sich Atteste zurechtgelegt oder um gar nichts gekümmert, weil sie fest mit ihrer
Ausmusterung rechneten. Doch egal ob starkes Untergewicht oder kaputtes
Knie, das Resultat war immer eine Tauglichkeit 2. Vielleicht hinderte die
Schreckensstarre sie daran, sich zu einem Umzug nach Berlin zu entschließen.
Auch Hauke kam weiterhin nur zu Besuch.
Wer sich vor der Wehrpflicht drückte, musste lange in Berlin ausharren, bis
zum 28. oder eventuell 32. Lebensjahr. Eltern erzählten von der verdorrten
Leiche einer Studentin, die zwei Jahre lang unentdeckt auf einem Kreuzberger
Dachboden gelegen hatte. Und auch dann, wenn sie einem schließlich die
Mietbürgschaft gaben, fiel es schwer, eine Bleibe zu finden.
Die Mieten waren niedrig, doch die Wohnungen wurden meist unter der
Hand weitergegeben. Die gebürtigen Berliner waren auch mit den
Milliardensubventionen des Bundes nur schwer in der Stadt zu halten, aber die
seit den siebziger und achtziger Jahren ansässigen Wahlberliner hielten die
attraktiven Bezirke in ihrer Hand. Gaben sie einmal eine Wohnung frei, dann
nur, um für einen alten Teppich oder ein Hochbett ein paar Tausend Mark
Abstand zu kassieren.
In der WG, die mich schließlich aufnahm – sie warb mit ihren literarischen
Präferenzen: Foucault, Goethe, … – trudelten täglich etliche Briefe für all die
ein, die dort noch gemeldet waren, um ihren Berliner Wohnsitz nicht zu
verlieren. Sie waren nun wieder irgendwo in Westdeutschland, genauer wusste
oder sagte es niemand. Auch Weihnachten fuhr man “zu den Eltern nach
Westdeutschland”. Das kam einer Tautologie nahe, aber es ging einem lässig von
der Zunge. Kein krampfiges BRD oder Bundesrepublik, um zu sagen, dass das
Gemeinte nur Teil eines Ganzen sei oder eben nicht mehr ein Teil, sondern etwas
ganz Anderes.
Westdeutschland bedeutete nichts anderes als: die Provinz. Die
Hergezogenen bestritten vehement, dass Berlin eine Metropole sei und lebten
sich rasch ein in ihren Kiez. Die geplante Autobahnstadt endete bald hinter dem
ICC. Von der Fußgängerbrücke, die einmal über eine ampellose Tauentzienstraße
führen sollte, war nur eine einzelne, ins Nichts führende Treppe gebaut worden.
Sie bot einem Imbiss Dach. Im Bierpinsel, dem futuristischen Steglitzer
Aussichtsturm, ließen sich Alt-Berliner Rentner Tütensuppen servieren.
Westdeutschland durfte kein Zentrum haben, das war die Strafe für den
Nationalsozialismus. Auch Paris oder London konnten nicht wirkliche
Metropolen sein, denn wie Westdeutschland hingen sie den USA an. Berlin
dagegen war quasi die Provinz seiner selbst. Nur in Berlin durfte man sich ein
wenig jenseits von Kapitalismus und Imperialismus fühlen – und musste nicht
nach drüben gehen. Es war eine historische Pointe, dass Berlin diesen
besonderen Status nur genoss, weil es den Vier Mächten und damit den USA
direkt unterstand.
Viel Wut und Trotz sammelte sich, als der IWF im Herbst 1988
ausgerechnet in Berlin tagte. Zwischen Ku’Damm und Bahnhof Zoo reihten sich
mehrere Personenkontrollen auf. Ein Freund mit halblangen Haaren wurde
jedesmal durchsucht, ich, mit etwas kürzeren Haaren, durfte ungehindert
passieren.
Die Gegendemonstration hatte fünfzig- bis hunderttausend Teilnehmer, das
waren mehr als zehn Jahre später in Seattle. Doch man marschierte nur heraus
aus dem Stadtzentrum, von geschlossenen Polizeireihen flankiert, und machte
jenseits der Stadtautobahn Halt für eine abschließende Kundgebung. Kurz
verbreitete sich Aufregung und Kitzel, als man in der Bandenwerbung einer S-
Bahnbrücke ein O ausgeschnitten sah und dahinter ein Kameraauge entdeckte.
Der politische Widerstand war bedeutungslos, und auch Feiern ließ es sich
nicht mehr. Die Euphorie um Acid-House war innerhalb weniger Wochen
verpufft, es fehlte das Ecstasy. Als der legendäre Dschungel, in dem auch David
Bowie und Michel Foucault einmal verkehrt hatten, sein zehnjähriges Bestehen
feierte, fiel dem Schreiber der taz nur ein, der Club sei “gaskammervoll”
gewesen.
Über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit dieses Vergleichs entspann sich
in der taz eine endlose Debatte, während der sich irgendwann die Mauer öffnete.
Westdeutschland ließ sich anders als BRD weiterhin sagen, nur bekam es
plötzlich eine Bedeutung. Denn es gab nun auch ein Ostdeutschland, an das man
in Berlin (West) genauso wenig gedacht hatte wie irgendwo sonst im
bundesrepublikanischen Westen.
Anfang 1990 war ich wieder auf Wohnungssuche und besetzte schließlich
eine Wohnung in Ostberlin. Es kam der letzte Sommer von Berlin (West), und es
waren nicht viele, die herüber in den Osten fuhren, um sich billigst zu betrinken.
Einige Amerikaner lungerten im Tacheles und am Kollwitzplatz herum, zogen
aber bald weiter nach Prag. Im nächsten Frühjahr eröffnete endlich Ostberlins
erster von Westlern betriebene Club, der Tresor. Das Gebäude lag nur wenige
hunderte Meter östlich der ehemaligen Mauer, direkt am Potsdamer Platz. Doch
trotz eines vorangegangenen monatelangen Geraunes blieb der Club bei seiner
Eröffnung fast leer.
Später war viel von der Mauer in den Köpfen die Rede, aber zunächst
einmal bestand gar kein Anlass, die Mauer – und damit auch ihren Fall –
überhaupt wahrzunehmen. Einer meiner wenigen in Berlin (West) geborenen
Freunde sagte, er habe als Kind geglaubt, alle Städte seien von einer Mauer
umschlossen. Doch ich kann mich nicht erinnern, die Mauer nach meinem ersten
Besuch im Mai 1988 und vor dem 9. November 1989 jemals bemerkt zu haben.
Das ist kein Wunder, sie war kaum höher als ein Bauzaun und deutlich niedriger
als ein Haus.

Das Trimm-dich-Männchen
Sieger sehen anders aus – und Heilsbringer sowieso. Der Typ hatte ein
Froschmaul, einen akkuraten Seitenscheitel, merkwürdig tief liegende Ohren und
auch sonst wenig jesusmäßiges. Mit seinem emporgereckten linken Daumen
wirkte er wie ein Tramper, der noch viele Stunden und Tage lang an der
Autobahnauffahrt stehen würde: Wer lädt sich schon freiwillig einen Anhalter
ins Auto, der nicht viel mehr als ein Unterhemd und kurze Hosen am Leib trägt
und sein Ohrfeigengesicht zu einem debilen Dauergrinsen verzieht? Und doch
verströmte der Däumling zugleich eine Aura von Erlösung: Sah man ihm nicht
gleich auf den ersten Blick den Besessenen, von bizarren
Weltverbesserungsgedanken Beseelten an, den Missionar auf kuriosen
Abwegen?
Trimmy, so der Name des kleinen Mannes, wollte zwar nicht in fremden Autos
mitgenommen werden, aber er hatte tatsächlich eine Mission. Mochten ihn auch
viele für einen kurzbeinigen Trottel halten, als er im Frühjahr 1970 in Berlin
(logisch: Westberlin) der bundesdeutschen Öffentlichkeit vorgestellt wurde, so
war sein Anliegen doch bitterernst: Trimmy sollte die Deutschen “auf Trab
bringen”, wie man sich damals ausdrückte.
Der Deutsche Sportbund hatte sich Trimmy zusammen mit einer Werbeagentur
ausgedacht. Es wurde eine Leitfigur aus ihm, die dem erst später zu Ehren
gekommenen Wort “Bürgerbewegung” frühen Sinn einhauchte. Der niedliche
Bursche appellierte mit schlichten Slogans wie “Turn mal wieder”, “Tanz mal
wieder” oder “Kick mal wieder” an das Gesundheitsbewusstsein der zu
Wohlstand und Wohlstandsbäuchen gekommenen Deutschen – und schaffte es in
wenigen Jahren, zu einer kleinen Gottheit erkoren zu werden. Ihr zuliebe richtete
man überall in Bundesdeutschland Freilufthaine ein: Auf den so genannten
Trimm-Dich-Pfaden huldigten Abertausende von Jüngern beiderlei Geschlechts
dem grienenden Watschenmännchen.
Natürlich war die Zeit reif für die Ankunft eines Erlösers, als Trimmy in das
Leben der Bundesdeutschen trat. Jahrzehntelang hatten die Bürger ihre Kräfte in
den Wiederaufbau des Landes und seiner Wirtschaft investiert; hatten erst
Trümmer geschleppt und sie zu neuen Häusern und Fabriken aufeinander
gehäuft; hatten dann, als ihre Arbeit Ertrag zeigte, viel gegessen und getrunken
und sich dazu das Zigarrenrauchen angewöhnt.
Sportbegeisterung war den Wirtschaftswunderdeutschen dabei keineswegs
fremd. Sie hatten Fritz Walter und seinen Jungs zugejubelt, als sie 1954
Fußballweltmeister wurden; hatten 1960 während der Olympischen Spiele in
Rom den Läufer Armin Hary als Sprintkönig gefeiert und den Aufstieg des
amerikanischen Boxers Cassius Clay (der sich 1964 in Muhammad Ali
umbenannte) bestaunt – aber all das taten sie, während sie selbst bei Bier und
Wein vor den Hörfunk- und Fernsehgeräten saßen, nicht weil sie daran dachten,
selber den Sporthelden nachzueifern.
Warum auch? Hatten nicht die Nationalsozialisten die Idee der körperlichen
Ertüchtigung der Massen gründlich zuschanden gebrüllt? Was anderes als
Kriegsvorbereitung waren die Kraft-durch-Freude-Meiereien, die Turn- und
Gymnastik-Großspektakel der Nazis gewesen? Welchen anderen Zweck hatten
die Sportübungen der Jungmänner und Jungmädels verfolgt als den, nicht bloß
ihre Körper, sondern auch ihre Seelen “hart wie Kruppstahl” zu machen, um
dann Millionen von Menschen (und sich selber gleich mit) ins Verderben zu
stürzen?
Von einem gestählten “Volkskörper” und ähnlich martialischem Gewese wollte
man also verständlicherweise Anfang der Siebziger nichts mehr wissen;
stattdessen ging es dem “Breitensport”, den die Trimm-Dich-Bewegung des
Deutschen Sportbunds fördern sollte, angeblich nur darum, die schlimmen
Folgen der bundesdeutschen Fettlebe einzudämmen. Bewegungsmangel – diese
Diagnose galt nicht nur für den geistigen Zustand Deutschlands in den
Adenauer- und Post-Adenauer-Jahren, sondern noch viel mehr für die
körperliche Verfassung der Wirtschaftswunderkinder.
Der Herzinfarkt und andere wohlstandsbedingte gesundheitliche Kalamitäten
rafften immer mehr Bürger dahin. Im Jahr 1900 hatten die Deutschen
durchschnittlich 62 Stunden pro Woche geschuftet, 1970 waren es noch 43
Stunden – und wozu nutzten sie die gewonnene Freizeit (auch so ein
Modewort)? Sie lagen auf der faulen Haut, mampften, tranken und rauchten.
Klarer Fall: Eine Art Ruck am BRD-Sessel musste her.
Der Erfolg der Trimm-Dich-durch-Sport-Initiative war – offenbar zur
Überraschung selbst der Initiatoren – durchschlagend. “Früher war es den
Jungen und Starken, den Talentierten und Wohlhabenden vorbehalten, Sport zu
treiben”, jubelte der Sportbund 1980 im Band “10 Jahre Trimm-Aktion”, durch
Trimmy aber seien aber nun auch “die Älteren, die Dickeren, die Frauen, die
Leistungsschwachen” körperlich aktiv.
49 Prozent aller Bundesbürger bekannten sich laut einer Emnid-Umfrage als
Trimm-Teilnehmer, mithin handle es sich um “die erfolgreichste gemeinnützige
Kampagne, die es je in der Bundesrepublik gegeben hat”.
Das hatte zunächst damit zu tun, dass es den Bundesdeutschen gelungen war,
erstmals seit Hitlers 1936er Berliner Olympia-Show, in der er vor den Augen der
Welt eine scheinbar friedlich triumphierende Sport-Weltmacht Deutschland zum
Goldmedaillenappell antreten ließ, wieder Olympische Spiele nach Deutschland
zu holen: München 1972, das sollte nicht nur eine Demonstration eines
modernen, geläuterten, fröhlichen Deutschlands werden (auch wenn die
“heiteren Spiele”, so der Münchner Slogan, durch den Terrorangriff
palästinensischer Kidnapper dann nicht gar so lustig wurden) es sollte sich auch
eine körperlich frische, bewegliche Nation präsentieren.
Es hatte damit zu tun, dass aus den USA die Kunde einer neuen Alltagssport-
Begeisterung in die Bundesrepublik gedrungen war. Die “Jogger” fanden bereits
in der BRD der siebziger Jahre so viele Nachahmer, dass Kardiologen sich bald
über eine bedenkliche Häufung von Todesfällen beim Laufen sorgten. (Hier irrt
übrigens Florian Illies in seinem schönen Bestseller “Generation Golf”: Er
datiert den “Paradigmenwechsel” durch die Verwandlung des Wortes
Dauerlaufen in Joggen im deutschen Sprachgebrauch auf Mitte der achtziger
Jahre – in Wahrheit war das Wort schon in den Siebzigern so populär, dass der
“Spiegel” dem Volkssport “Jogging – Spaß am Laufen” 1978 eine
Titelgeschichte widmete.)
Noch wichtiger aber für Trimmys Triumphzug durch die BRD war die scheinbar
arglose, in Wahrheit aber raffinierte Art, in der er unverhofft
Gemeinschaftsgefühl in schwierigen Zeiten stiftete. Der Konsens der
Nachkriegsgesellschaft war 1970 fürs erste perdu, Studentenrevolte und Anti-
Springer-Protest hatten, wenn schon keinen Klassen-, so doch einen
Generationskonflikt offen gelegt, das Zerbrechen der Großen Koalition und die
sozialliberale Regierung unter Willy Brandt bedeuteteten Neuanfang,
Polarisierung, Streit.
In dieser trüben Zeit rief Trimmy dazu auf, zu turnen, zu schwimmen und zu
laufen – und zwar, so die Herren des Sportbunds, “weil das alles Spaß macht,
weil es gesund ist, weil es eine gesellige Sache ist”.
Eine gesellige Sache: Im Wald und auf der Heide durften sich nun jede Menge
Deutsche ohne Arg und Streiterei zu Volksläufen unter dem poetischen Motto
“Trimm-Trab ins Grüne” treffen (die Gründung der Grünen lag noch in weiter
Ferne). Dabei war das Laufen, wie Psycho-Fachleute bald herausfanden, gleich
noch eine erstklassige Therapie gegen Depressionen. Trimmys Jünger
entschieden sich fürs kollektive Davonlaufen aus Zeiten, die, wie man so sagte,
zum Davonlaufen waren.
Unter den so genannten Intellektuellen gewann unser kleiner Held schon deshalb
keine Freunde: Er war eine Symbolfigur des Eskapismus. Ein Versöhnler, der
Widersprüche zudecken wollte, statt sie – womöglich hechelnd in vollem Lauf –
“auszudiskutieren” (auch so ein BRD-Modewort).
Gerade die Linken, Progressiven, Aufgeklärten der siebziger Jahre gefielen sich
in einer heute schwer verständlichen Sport- und mitunter auch
Körperfeindlichkeit; flegelten mit langen Schmierhaaren auf WG-Stühlen;
pafften, was das Zeug hielt (aber fingen an, gesundheitshalber Müsli zu löffeln);
bekannten sich zwar zur sexuellen Befreiung, sahen aber nackt ziemlich
wabbelig und nicht besonders gut aus. Sport galt ihnen als spießig.
Na gut, die Fußball-WM in Deutschland 1974 anzusehen, war noch in Ordnung
(und Tip und Tap, die damaligen WM- Maskottchen, waren im Vergleich zu
Trimmy auch coole Typen) – aber selber Sport treiben? Den BRD-Intellektuellen
galt das als Unterwerfung unter die “Tyrannei des Körpers”, und genau mit
dieser Floskel geißelten sie in den achtziger Jahren die aufkommende
Selbstquälerei im Namen der Fitness. Im “Kursbuch” etwa wurde noch 1987 die
“muskuläre Aufrüstung” der Deutschen höchst skeptisch beschrieben.
Seine Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Geselligkeit aber ist es, die den
Trimmer der BRD vom nahezu autistischen Fitnesstreibenden unserer Zeit
unterscheidet. Wer heute im Studio oder in der Natur seine Muskeln stählt, der
kämpft meistens ganz allein. Er möchte fit for fun und für die Karriere sein,
möchte den Prozess des Alterns bezwingen und schindet sich für mehr
Lebensqualität und besseren Sex.
Er blättert sich durch Hochglanzzeitschriften, die ihm Fitness als ganzheitliche
Lehre von richtiger Bewegung, richtiger Ernährung und richtigem Bewusstsein
predigen, und er blickt auf straffe Bauchmuskeln, erigierte Brustwarzen und
glitzernde, garantiert geruchsfreie Designer-Schweißperlen, die ihm einen
besseren, oft in nur wenigen Wochen zu erlangenden Lebensstil verheißen.
Trimmy jedoch hatte nie die Ich-Gesellschaft, sondern immer nur das Wir-
Gefühl im Sinn. Deshalb ist er irgendwann in den achtziger Jahren sehr leise
abgetreten. Es gab nicht viele, die ihm nachtrauerten.
Relikte des Trimmy-Kults aber finden sich bis heute in vielen deutschen
Wäldern. Aus medizinischer Sicht, so wissen wir heute, war der Trimm-Dich-
Pfad ein Holzweg. Die meisten der einst auf Schautafeln gelehrten Übungen sind
nach neuerer wissenschaftlicher Erkenntnis nachgerade gesundheitsschädlich:
Die gemeine Rumpfbeuge etwa, einst selbst Kindern empfohlen, ist zumindest
für Ungeübte eine gefährliche Attacke auf die Lendenwirbelsäule. Der
Klimmzug demoliert häufig das Schultergelenk. Sit-ups mit einem Baumstamm
unter dem Po, einst eine zentrale Pfad-Turnübung, sind überführt als klassische
Bandscheibenkiller, mutwillige Selbstbeschädigung durch Überstreckung der
Wirbelsäule.
Trotzdem könnte es sein, dass Trimmy demnächst Auferstehung feiert. Trend-
Spürnasen aus der Popbranche haben sich die Rechte an der Figur gesichert. Das
lässt fürchten, dass Trimmy bald wie seine Vettern aus dem Land der Schlümpfe
mit grausiger Fiepsstimme eine Art Trimmschlumpf-Techno singt. Im besten
Fall aber, und Optimismus ist in der schönen, neuen, fitten Berliner Republik
schließlich oberste Bürgerpflicht, könnte Trimmy in seinem 31. Lebensjahr noch
einmal triumphal die deutschen Verhältnisse zum Tanzen bringen.
Andererseits: Gucken wir uns den Kerl nochmal genau an. Popstars sehen anders
aus.
Tri Top
Zu den großen Rätseln der westlichen Welt muss man die Frage zählen, wohin
Produkte eigentlich verschwinden, wenn es sie nicht mehr gibt.
Und wie man bitteschön viertausendseitige Romane über die eigene Jugend
verfassen soll, wenn die Erinnerung schwächelt und sich nirgends nachsehen
lässt, ob auf den Etiketten des Fruchtsirups Tri Top die Zauberformel zur
Zubereitung nun 4+1 oder 5+1 lautete. Eigentlich ist es auch egal, weil das Zeug
so oder so pappsüß schmeckte und nur durch großzügigen Umgang mit Wasser
und vor allem Eiswürfeln seinen Zweck erfüllte. Andererseits wollten die Leute
ihren Sirup natürlich auch verkaufen und nicht zusehen, wie man mit einer
Flasche einen ganzen Kindergarten durch den Sommer brachte.
Tatsache ist jedenfalls, dass Tri Top so gründlich von der Erdoberfläche
verschwunden ist, dass selbst mehrwöchige Recherchen keine dieser Flaschen zu
Tage gefördert haben – weswegen wir uns mit einem eher symbolischen Foto
begnügen müssen. Trotzdem sind wir sicher, dass in irgendeiner Garage eines
Zweifamilienhauses in Franken noch eine Tri-Top- Flasche steht und als
Behältnis für Rosshaarpinsel ein würdiges Auskommen hat. Und wenn man die
zerlaufenen Farbspuren abkratzen würde, bekäme man Auskunft über jene
Formel, mit der Tri Top einst die Welt erobern wollte. Offenbar ist das nicht ganz
gelungen, aber immerhin stand weiten Teilen der westdeutschen Jugend in den
siebziger Jahren der Sirup bis zum Hals – wenn er ihnen nicht gar zu den Ohren
herauskam.
Es steht zu vermuten, dass die Tri-Top-Flaschen im Rahmen einer groß
angelegten Spurenbeseitigung landesweit aus den Regalen konfisziert wurden,
weil sich bewahrheitet hatte, was viele schon lange vermutet hatten: dass das
Zeug nämlich radioaktiv ist. Es lässt sich nicht mehr belegen, dass der Sirup im
Dunkeln leuchtete, aber als gesichert darf gelten, dass Tri Top für meinen
Haarausfall verantwortlich zu machen ist – und vermutlich auch für den einen
oder anderen psychischen Defekt. Eigentlich ein klarer Fall für die Stiftung
Warentest.
Tri Top tauchte in einer Zeit auf, da klar wurde, dass man einen
jugendlichen Markt auf Dauer nicht mit dem Apotheken-Appeal des Hohen C
erobern kann, und es verschwand, noch ehe sich der Orangensaft in O-Saft
verwandelte. Die Flasche hatte eine Form, die man wohl konisch nennen muss,
aber ähnelte dabei weniger einem Kegel als den damals allgegenwärtigen Lava-
Lampen.
Und so wie das Zeug, das in letzteren herumquoll, aussah, so schmeckte
ungefähr der Sirup – auch wenn der ultramoderne Name (tree top = Baumspitze)
einen eher natürlichen Geschmack transportieren sollte. Er war jedenfalls, wie
die Flaschenform, voll auf der Höhe der Zeit, und beide sind vermutlich von
einem jener Designer-Typen entworfen worden, die in Form von Luigi Collani
damals die Talkshows bevölkerten. Garantiert trug er allzeit viel zu große,
getönte Brillengläser, mächtige Kotletten und einen exzentrischen Schnurrbart,
also rundum jene Sorte von Auftreten, wie sie später Ion Tiriac gepflegt hat.
Weil man damals aber mit Tennis hier zu Lande noch kein Geld verdienen
konnte, musste man Fruchtsirupflaschen entwerfen, die eigentlich einen Platz in
einem Designmuseum verdienten, stattdessen aber im Arsenal unnützer
Erinnerungen vermodern. Irgendwas ist schief gelaufen auf dem Weg zur
Sirupisierung der westlichen Welt.
Es mag damit zusammenhängen, dass man in den Siebzigern, vermutlich
als Folge der Mondlandung und Bewusstsein erweiternder Drogen, der Meinung
war, der Fortschritt dürfe vor dem Fruchtsaft nicht Halt machen. Und wenn also
Astronauten ihre Nahrung in Form von Dragees zu sich nehmen können, dann
lassen sich auch Kinderbedürfnisse in konzentrierter Form an den Mann bringen.
Natürlich gab es Himbeersirup in jenen Flaschen, die eher an
Farbverdünnergefäße gemahnen, schon länger; und mit Ahoi-Brause wurden
Kinder wahrscheinlich schon in Vorkriegszeiten vergiftet – aber in der
fortschrittsgläubigen, zukunftsweisenden Form von Tri Top hatte es Fruchtsäfte
noch nicht gegeben. Sie sahen nun aus, als könnten sie von der Nasa jederzeit
auf den nächsten bemannten Raumflug mitgenommen werden. Damals kamen
schließlich auch die in der Mitte zusammenfaltbaren Fahrräder in Mode, und
überhaupt musste die ganze Welt plötzlich zusammenklappbar, eindampfbar,
reduzierbar werden. Das war man der Zukunft schuldig.
Komischerweise waren all diese Erwägungen Kindern damals völlig egal.
Sie waren in erster Linie enttäuscht, bei den Großeltern statt eines Kastens Limo
im Kühlschrank nur eine Flasche Tri Top vorzufinden. Warum Eltern, außer
wenn es um Kindergeburtstage ging, für die Verkaufsargumente von Tri Top
unempfänglich waren, Großeltern hingegen begeistert darauf hereinfielen,
entzieht sich bis heute meiner Kenntnis. Vermutlich lag es an der Zauberformel
4+1, die sie als Kriegsgeneration besonders einleuchtend fanden. Und zwar so
sehr, dass immer gleich mehrere Flaschen angeschafft wurden.
Aber keineswegs, wie von uns Kindern wiederholt angemahnt, mit
Kirschgeschmack, sondern hartnäckig mit dem muffigen Aroma der Schwarzen
Johannisbeere. Dabei fand in der kompletten Künstlichkeit des
Kirschgeschmacks das durch und durch artifizielle Unternehmen Tri Top so
richtig zu sich, während in der Johannisbeere eine falsche Natürlichkeit
nachgeäfft wurde, die eher an den Geruch der später in Wohngemeinschaften so
beliebten Wollfusselpullis erinnerte.
Man schraubte also das Mischverhältnis auf kariesfördernde und also
gesundheitsschädigende drei oder gar zwei zu eins herunter, damit das Zeug
schneller weg kommt und endlich Kirsche angeschafft werden konnte. Die
Großeltern versprachen Besserung und stellten, wenn man die Flaschen mühsam
weggetrunken hatte, unbeirrt wieder Johannisbeere in den Kühlschrank. Es war
zum Verzweifeln. Und man konnte sich noch nicht einmal so richtig beschweren,
weil sie das Zeugs ja nur uns zuliebe angeschafft hatten. Sonst trank das auch
kein vernünftiger Mensch. Das nächste Mal aber Kirsch, ganz bestimmt.
Ja, warum hast du uns das denn nicht gleich gesagt? Und dann kauften sie
wieder Johannisbeere. Es war hoffnungslos.Aber es hatte System. Denn mit
derselben Unbeirrbarkeit wurde auch immer wieder, trotz flehentlicher Bitten,
nicht etwa Vollmilch-Nuss, sondern Zartbitterschokolade angeschafft – und auch
die in der familienfreundlichen Zehnerpackung, an der man locker einen
Sommer lang zu knabbern hatte. Oder eben nicht.
Denn man nahm die Tafeln zwar mit bittersüßem Lächeln in Empfang, um
sie zu Hause jedoch an die Eltern weiterzuschenken. So habe ich an meine
Großeltern, die grundgute, freundliche Menschen waren, doch eher eine
zartbittere Erinnerung – mit deutlichem Johannisbeernachgeschmack.
Andererseits verbinden sich mit den zunehmend sich einschwärzenden
Siruprändern, die dadurch entstanden, dass man zum Mischen – typische
Designeridee! – die geriffelte weiße Schraubkappe verwenden sollte, die
Erinnerungen an heiße Sommernachmittage im Kirschbaum, der Geruch des
Motorrasenmähers und von frisch geschnittenem Gras und das Gefühl der
kühlen Küche, wo der Duft von Apfelstrudel hing. Es kann eben nicht immer der
Geschmack der Madeleine sein – manchmal muss Tri Top genügen.
Was uns wieder zu der Frage bringt, wohin diese obskuren Objekte unserer
kindlichen Begierden verschwunden sind. Und warum sie niemand bewahrt hat.
Wer erinnert sich noch an den lineallangen geflochtenen Schoko-Riegel, der mit
den drei Musketieren warb? Oder an den Braunen Bär, der unter seinem Eis
einen Karamellkern barg? Oder an die Zahnpasta Strahler 80, die mit dem
fabelhaften Slogan warb: Strahler-Küsse schmecken besser, Strahler-Küsse
schmecken gut. Warum hat niemand diese Dinge aufgehoben? Warum?
Verdammt, wozu haben wir eigentlich Museen?

Der Käfer
“Entschuldige, kannst du das Fenster etwas runterdrehen, damit Luft reinkommt,
ich seh gerade nichts mehr. Gib mal das Taschentuch rüber, verdammt, alles
verschmiert, scheiß Regen! Warum muss diese Karre immer total von innen
beschlagen? Ich lern es einfach nicht, an welchem von diesem blöden Knöpfen
man drehen muss, damit die Lüftung – halt, das ist das Licht, aber vielleicht
hier… Ogott, der Scheibenwischer! Heh, geh wieder, bitte!!”
So war das mit dem Käfer. Bei Regen kamen einem die Fahrer stets
winkend entgegen, weil sie mit der Hand oder mit dem ganzen Unterarm die
Windschutzscheibe zu trocknen versuchten. Sprang er im Winter nicht an,
musste man die Rückbank ausbauen, um an die Autobatterie zu gelangen. Bei
der Heizung gab es immerhin zwei Möglichkeiten: Entweder sie funktionierte
gar nicht oder immer.
Autoradio? Vergiss es, man hörte eh nichts bei dem Geknatter. Ja, das war
der Käfer, der 21 Millionen Mal gebaut wurde, der Nazikäfer, der
Wirtschaftswunderkäfer, der Flowerpowerkäfer, der Familienkäfer, der
Studentenkäfer. 21 Millionen Menschen auf der Welt fuhren winkend durch die
Straßen, das muss man sich einmal vorstellen. Seinen größten Erfolg hatte das
Auto übrigens nicht in der BRD, sondern in Mexico und Kalifornien –
wahrscheinlich, weil es da nicht so oft regnet.
VW-Käfer! Wie nett das klingt, eigentlich zu nett für ein Auto, das Adolf
Hitler in Auftrag gegeben hat. Aber passend für einen Wagen, dessen Karosserie
nicht nur der Funktionalität unterworfen ist, sondern der mit seinen runden
Formen sympathisch, fast unbeholfen wirkt und dessen Scheinwerfer-Augen an
ein schüchternes Tier erinnern.
Kein Wunder, dass es Käferbesitzer gibt, die ihren Wagen jahrzehntelang
als vollwertiges Familienmitglied betrachten und ihn – müssen sie ihn
schließlich doch irgendwann dem Schrottplatz anvertrauen – mindestens so
beweinen, als hätten sie gerade den Hund zum Einschläfern gebracht. Natürlich
hängt der Siegeszug des Käfers damit zusammen, dass dieses Produkt zwei
deutsche Grundbefindlichkeiten virtuos gleichzeitig bedient: Technik-
Begeisterung und Tierliebe. Eine Maschine bekommt Leben eingehaucht und
wird dadurch zum treuen Gefährten, zum Freund.
Vielleicht ist diese Gefühlskomponente ja auch die Ursache, dass jeder, aber
auch wirklich jeder BRD-Deutsche zum potenziellen Käferfahrer wurde. Klar,
dieses Auto war von dem österreichischen Konstrukteur Ferdinand Porsche auf
Geheiß der Nazis als “Volkswagen” erdacht worden, und er funktionierte in der
frühen BRD als solcher vor allem deshalb, weil er billig war.
Aber auch später, als der Wohlstand längst ausgebrochen und sich die
Gesellschaft in VW-, Opel- und Mercedesfahrer aufgeteilt hatte, blieb der Käfer
ein Auto für alle: die Kleinfamilienkutsche für den Handwerksmeister, das
korrekte Vehikel für die Friedensbewegten, das Spaßmobil für die Erfolgreichen.
Er ist Symbol für das solide Leben genauso wie für das Gegenteil. Er ist einfach
das netteste Auto der Welt.
Für die frühe Bundesrepublik ist der Käfer, obwohl einem im Winter die
Zehen am Gaspedal abfrieren, ein stolzes Symbol für Wohlstand und Wertarbeit.
(Ganz im Gegensatz zu seinem ostdeutschen Kollegen Trabi, für den sich die
ehemaligen DDR-Bürger so schämen, dass sie ihn schon ein paar Jahre nach der
Wende praktisch aus dem Straßenbild verschwinden ließen.)
Der Käfer der fünfziger und sechziger Jahre: in der Erinnerung ein
verblassendes, schwach coloriertes Illustriertenfoto. Männer mit Hüten und
optimistischem Lächeln sitzen am Steuer, Frauen mit hoch toupierten Frisuren
entsteigen glücklich dem Fond; im gepunkteten Kurzarm-Hemd und mit
seitengescheitelten Kindern geht es gen Süden, zum Gardasee, nach Jesolo.
Einziges Problem: Das frühe Modell hat nur 22 PS, die glücklichen
Käferfamilien bleiben reihenweise auf der Brennerstraße hängen, müssen
umkehren und ihren Urlaub in Innsbruck verbringen oder am Chiemsee. Bis die
neue Variante mit 34 PS erscheint, ein Käfer, der schnaufend und tuckernd und
auf den steilen Stellen in Schrittgeschwindigkeit den Weg über die Alpen schafft,
hin zu den Stränden der Adria.
Seit diesen Jahren wird jede Innovation an der Käfer-Technik genauestens
zur Kenntnis genommen und vor allem von den Liebhabern, die sich
republikweit in nostalgisch gesinnten Käferclubs zusammenrotten, zu wichtigen
Meilensteinen der Industriegeschichte hochstilisiert.
1953: das “Brezelfenster”, also die Rückscheibe mit Mittelsteg, weicht
einem größeren Rückfenster. 1965: ein Modell mit Stahlkurbeldach erscheint.
1968 – im Jahr der Studentenunruhen geschieht auch Revolutionäres mit dem
Käfer: Der Tank, bisher nur über den vorderen Kofferraum zugänglich, erhält
eine verschließbare Klappe, an der Karosserie rechts außen. Und schließlich
1972, ein Schlüsseljahr für Käfer-Fans: Die bis dahin gerade Windschutzscheibe
wird von einer gebogenen “Panoramascheibe” abgelöst.
Und als ob das nicht schon genug Anbiederei an die alberne geschwungene
Ästhetik der siebziger Jahre wäre, vergrößern die Designer auch noch die bis
dato eleganten, schmalen Rückleuchten zu klobigen Riesenlampen. Jeder, der
das Wesen des Käfers bis ins Innerste durchdringt, weiß, dass diese barbarischen
Designer-Sünden den Beginn des Niedergangs dieses Autos markieren.
Das Ende kommt 1978. In Wolfsburg, das 1938 als “Stadt des Kraft-durch-
Freude-Wagens” ausschließlich für die Käfer-Produktion gegründet worden war,
rollt das letzte Exemplar vom Band; seitdem wird das Auto nur noch in Mexico
gebaut. Seinem Ruhm hat das nicht geschadet, im Gegenteil: Die Republik lernt
den Käfer als Gebrauchtwagen von einer völlig neuen Seite kennen. Waren seine
Besitzer bisher eher im Milieu der mittleren Angestellten, der Lehrer und
Beamten anzutreffen, wechselt seine Klientel mit sinkendem Anschaffungspreis
ins studentische Umfeld.
Der Käferfahrer neuen Typs bezieht Bafög-Höchstsatz und schüttet
unbekümmert enorme Mengen verbleiten Benzins in den Tank – ist doch egal,
Hauptsache das Ding fährt überhaupt: nach Griechenland, zum Baggersee, gerne
auch nach Wackersdorf zur Anti-WAA-Demo. Eine gewisse Unbekümmertheit
in ökonomischen Fragen ist für Käferpiloten der achtziger Jahre schon deshalb
notwendig, weil es gilt, sich gegen die aufkommende Spezies der Golf-Fahrer
abzugrenzen.
Während letztere vor allem als stromlinienförmige Jurastudenten oder
aufgehübschte Kunstseminar-Teilnehmerinnen in Erscheinung treten, denen
Effizienz und Karrierestreben über alles gehen, inszeniert sich der Käferfahrer
als lässiger Individualist. Viele von ihnen wechseln die benzinfressenden,
ständig kaputten Käfer so oft wie die Partner (wobei die Erfahrung nicht
ausbleibt, dass dieses Auto als Ort für sexuelle Eskapaden mangels verstellbarer
Rückenlehne völlig ungeeignet ist), andere kaufen sich ein schickes Käfer-
Cabriolet, dem sie ewige Treue schwören. Sie alle sind immer wieder davon
überrascht, dass etwas so überaus Deutsches wie der Käfer so unspießig sein
kann.
Und wirklich verhasst ist ihnen nur der deutsche TÜV, der die glückliche,
aber zumeist rostige Käfer-Mensch-Beziehung alle zwei Jahre zu zerstören
trachtet.
Sozialkundelehrer, Boutiquenbesitzerinnen, Zahnarzttöchter – der Käfer
packt einfach alles. Auch wenn’s manchmal schwer fällt. Richtig hart tut sich
das Auto mit der Total-Verproletisierung, die im Zuge der "Herbie"-
Filme in den Siebzigern beginnt. Dort mutiert der "tolle Käfer" zum
Rennwagen und entwickelt ein seltsames emotionales Eigenleben, spritzt
Bösewichten Öl ins Gesicht und lässt Radkappen fliegen. Seitdem bauen
schlichte Gemüter das Auto auch im wirklichen Leben zu abscheulichen
Gefährten um, verbreitern die Kotflügel, montieren Spoiler und lackieren die
Karosserie in Lilametallic. Es wirkt ungefähr so, als verpasse man Mutter
Beimer ein Bauchnabelpiercing.
Für das größte Missverständnis jedoch ist VW selbst verantwortlich: ihr
Beetle – ein 40000 Mark teures Auto – hat mit dem Käfer so viel zu tun hat wie
Katja Flint mit Marlene Dietrich. Der Versuch, die VW-Legende zu reanimieren,
funktionierte nur in den USA, in Deutschland wurde der Beetle ein Flop. Der
Käfer ist das Auto der BRD, sein Geist ist dahin, und das Modell der siebziger
Jahre, das gelegentlich noch heute über die Straßen tuckert, gilt vor dem
Finanzamt inzwischen als Oldtimer.

Die "DDR"
Günter Gaus

Die Gänse des Kapitols sind eine Bildungschiffre des ganzen Abendlandes. Aber
nur die Westdeutschen können sagen, dass unter ihnen eine Zeitlang auch
Gänsefüßchen zum allgemeinen Bildungsgut gehört haben. Die Gänse,
Opfervögel auf dem Kapitol, haben einst, der Lateiner weiß es, das alte Rom
gerettet, weil sie, aufgeschreckt von Waffengeklirr, zu schnattern anfingen und
so einen nächtlichen Überraschungsangriff des Feindes auf die bis dahin
schlafende Stadt vereitelten. Und was haben die Gänsefüßchen gerettet? Das ist
nicht so fabelhaft zu beantworten, wie bei den kapitolinischen Gänsen.
Die Gänsefüßchen, so die altmodische Bezeichnung für An- und
Abführungsstrichelchen, gehören politisch in die mittleren Jahre der alten
Bundesrepublik. Konservative wie rechtspopulistische, auch reaktionäre
Zeitungen, angeführt von den Blättern des Springer-Konzerns, setzten das
Namenskürzel des anderen deutschen Nachkriegsstaats DDR in Gänsefüßchen:
“DDR”. Mit dieser typografischen Garnierung, je nach Schriftgrad fett, halbfett
oder mager, immer trotzig, sollte die Staatlichkeit der Deutschen
Demokratischen Republik bestritten werden. Der volle Name der DDR wurde in
diesen Organen ohnehin nicht gedruckt. Nur DDR in Gänsefüßchen: “DDR”.
Kurt Georg Kiesinger, ein sehr vorübergehender Bundeskanzler, drückte in einer
Bundestagsdebatte die Gänsefüßchen rhetorisch aus, indem er die DDR ein
“Phänomen” nannte. Es war sein Versuch, eine Realität wahrzunehmen, ohne sie
beim Namen zu nennen. Anders gesagt: ein Versuch (er scheiterte), mit der DDR
ins Gespräch zu kommen und dennoch die Freundschaft der Gänsefüßchen-
Presse nicht zu verlieren. Wer kennt die Namen noch, die Frontverläufe, das
Augenzwinkern, die Widersprüchlichkeiten: etwa die Begebenheit, wie ein
bedeutender Verleger, der nachdrücklich auf Gänsefüßchen bestand,
buchstäblich Pferdegeschäfte mit der DDR tätigte. Es ist so lange her.
Das Bild, das die Westdeutschen seinerzeit von der DDR hatten, der Begriff, auf
den sie sie brachten, war nach meiner Erfahrung oft vielschichtiger, lebensnaher,
als die politische Agitation mit und ohne Gänsefüßchen gegen den deutschen
Staat “drüben”, der denselben Geburtsfehler hatte wie die BRD: aus einer
Teilung hervorgegangen zu sein. Die Klischees des “Kuratoriums Unteilbares
Deutschland” von dem nimmermüden Denken an die Brüder und Schwestern
östlich der Elbe ließen – ihrer Natur nach – landsmannschaftliche Unterschiede
beispielsweise unberücksichtigt. Nur ihre intellektuelle Schlichtheit und
emotionale Einfalt machten die Klischees agitatorisch brauchbar. Hierin lag
etwas Gesamtdeutsches. An der ebenfalls geteilten Wahrheit wäre die Agitation
beiderseits der Elbe zuschanden geworden. Immerhin führten beide Seiten –
kalten – Krieg gegeneinander.
Meine erste Redakteursstelle bekam ich Ende 1952 bei der Badischen Zeitung in
Freiburg. Die Südbadener, so lernte ich schnell, waren mit Herz und Verstand an
der Frage einer Überwindung der Nachkriegs- Teilung in Nord- und Südbaden
und der Herstellung eines gesamtbadischen Bundeslandes aufs höchste
interessiert. Lange danach erst und weit weniger nahmen sie Interesse an Berlin,
der Umwandlung der alten Länder in der DDR in Bezirke und den allgemeinen
ostelbischen Lebensbedingungen. Das war so weit weg. Auch hatten sich nach
1945 in Süddeutschland althergebrachte antipreußische Gefühle heftig
wiederbelebt. Die Preußen: Das waren die Leute, die 1848 die badischen
Demokraten in Rastatt niedergemacht hatten. Wohl wahr.
Was hatte das “Kuratorium Unteilbares Deutschland” lernen und gebrauchen
können von der engagierten, wahrhaft volksnahen, also nicht nur repräsentativ-
demokratischen Debatte in Südbaden über den Probe auf Gerechtigkeit, als was
die Lösung des Streits weithin verstanden wurde: ob nämlich die badischen
Stimmen in der Frage: Gesamtbaden oder Südweststaat von der größeren
Stimmenzahl der Württemberger majorisiert werden dürften oder – aus
einsichtigen Gründen – für diesmal ein besonderes Gewicht erhalten müssten?
Hätte das Kuratorium aus der badischen Wunde im demokratischen Empfinden
die Lehre ziehen sollen, im Wendejahr 1990 vorzuschlagen, die Brüder und
Schwestern in der DDR gesondert abstimmen zu lassen, bei ruhendem
Stimmrecht der Genossen der SED, welche sozialen Errungenschaften, wie das
in ihrem Gänsefüßchen-Staat genannt wurde, sie mehrheitlich in den
gesamtdeutschen Staat eingebracht sehen wollten?
Baden war nicht nur nach Kilometern, sondern auch in der geistigen
Grundhaltung weit entfernt von Mecklenburg und Sachsen; damals wie heute.
Diese äußere wie innere Distanz übertrug sich auf die Anteilnahme am Leben
der Deutschen in der DDR. Sie war weit geringer, als in den Blättern der BRD,
denen die Gänsefüßchen als Politik galten, behauptet wurde. Das gilt sogar für
die näher an der DDR siedelnden Niedersachsen. Natürlich bewirkten
verwandtschaftliche Beziehungen ein engeres Verhältnis. Aber Besuche
“drüben” verstärkten gelegentlich auch Missverständnisse. Man kam mit festen
Überzeugungen und die Verwandten hatten vielerlei Gründe, nicht zu
widersprechen. Das “Päckchen nach drüben” entstand sozusagen mit den
Gänsefüßchen und war nahrhafter als sie. Aber wegen des propagandistischen
Aufhebens, das von ihm gemacht wurde, geriet es immer wieder einmal in
Kabarettprogramme.
Dramatische Vorgänge – der Mauerbau, spektakuläre Fluchtfälle, geglückte oder
tragische – schufen einige vorübergehende Ausnahmen in der westdeutschen
Grundhaltung, sich selbst genug zu sein. Nur der Rausch der ersten Wendejahre
nach 1989/1990 hat kurze Zeit die – schauerliche – Wahnvorstellung von einem
dauerhaft einheitlichen Deutschen wieder einmal entstehen lassen. Sobald sich
dieses virtuelle Wesen für die Dauer eines nationalen Überschwangs
materialisiert, sobald es aus dem abstrakt Erträumten ins konkrete Handeln
vordringt, kann das Einhalten eines Sicherheitsabstands lebenswichtig werden.
Damals jedenfalls, lange vor der Wende, als die Gänsefüßchen den
Bundesbürgern etwas sagen sollten, besagten sie in der Regel norddeutschen
Nationalliberalen, vornehmlich in der Akademikerschaft vertreten, mehr als
süddeutschen Freisinnigen aus dem gewerblichen Mittelstand. Gemeinsam war
beiden Positionen ein Antikommunismus, der die Charakteristika eines
Totalitarismus annehmen konnte.
Auch Kleinbürger und Industriearbeiter, die es in den mittleren Jahren der BRD
noch in nennenswerter Zahl gab, hatten in mancher Hinsicht ihr eigenes diffuses
Bild von der DDR und ihrer Gesellschaft. Es deckt sich nur teilweise mit den
plakativen Darstellungen in den nennenswerten Medien der BRD. Neben den
landsmannschaftlich bestimmten Abweichungen vom Engagement der
Gänsefüßchen gab es also auch sozial vorgegebene Unterschiede im Blickwinkel
nach “drüben”. Ganz gewiss drückte sich in der anderen Sicht der westdeutschen
Unterschicht keine Zustimmung zu den Verhältnissen im neuen Ostelbien aus.
Die Arbeitnehmer in der voll erblühten Sozialen Marktwirtschaft (die im Kern
womöglich doch nichts anderes war als Vollbeschäftigung) konnten und wollten
sich dem Gesamturteil der tonangebenden Kräfte über die “vom Russen”
vorgeschriebene deutsche Nachkriegs-Alternative im Ostblock nicht entziehen.
Aber nicht alles in der DDR, soweit es ihnen bekannt wurde und wovor
Mittelstand und Oberschicht in der BRD schauderte, erschreckte sie; es sei denn,
sie standen unter starkem kirchlichen Einfluss.
Deutschlands Teilung nach dem verlorenen Krieg manifestierte sich nicht nur in
der Bildung zweier deutscher Staaten. Binnen weniger Jahre entwickelte sich aus
der Trennung auch eine weitgehende soziale Teilung. Die Oberschicht in jenem
Teil Deutschlands, in dem bald darauf die DDR entstand, war schon 1945 vor
der Roten Armee in den Westen geflohen. In den folgenden Jahren, verstärkt
nach 1949, dem Geburtsjahr der beiden Nachkriegsstaaten, vertrieb vor allem die
Eigentums- und Bildungspolitik der SED große Teile des Mittelstandes, auch des
bäuerlichen, und der akademisch Gebildeten aus der DDR in die BRD.
Ausnahmen bestätigten die Regel. Zurück blieb, mehr oder weniger auf sich
gestellt, das, was ich 1983 in einem Buch über meine Beobachtungen in der
DDR das “Staatsvolk der kleinen Leute” genannt habe: mit seinen
Gewohnheiten, seinem Lebensstil, seinen Bedürfnissen – seinen großen Stärken
und vielen Schwächen. Im Laufe von vierzig Jahren, bis zur Wendezeit, hatte
sich die Gesellschaft der DDR neu gegliedert, war sie vielschichtiger geworden.
Aber ihre mehrheitlich gemeinsame soziale Herkunft war ihr noch ganz nahe.
Manches von dem, was den Westdeutschen schwer verständlich war, sehr fremd,
als sie nach 1989 in die entschwindende DDR kamen, hat in der sozialen Teilung
Deutschlands seine Wurzeln.
Mein Hinweis im Jahr 1983 auf das bedeutungsvolle Faktum dieser Teilung über
das Staatliche hinaus blieb so gut wie unbeachtet. War es so, weil die
Sozialgeschichte im bürgerlichen Deutschland niemals den Rang einnehmen
konnte, den die dynastisch-staatlich, außenpolitisch dominierte
Geschichtsschreibung besetzt hält? Oder waren die Herrschaften der
Gänsefüßchen besorgt, die Kenntnisnahme eines sozialen Faktors könnte die
Geschlossenheit der westlichen Position komplizieren? Wie auch immer: Lange
bevor ich das besondere Staatsvolk der DDR kennen lernte, merkte ich auf,
wenn ich in den fünfziger und sechziger Jahren, der hohen Zeit der
Gänsefüßchen, an Familienfesten der mütterlichen Verwandtschaft teilnahm. Bei
Hochzeiten, Taufen, Konfirmationen, runden Geburtstagen und Beerdigungen
kamen die älteren Halbbrüder meiner Mutter zusammen. Sie waren Facharbeiter.
Die “bessere” Familie wahrte Abstand, räumte aber ein, immerhin hätten sie
“etwas gelernt”, seien sie “nicht einfach in die Fabrik” gegangen. Die vier waren
im Ersten Weltkrieg gewesen und von der Novemberrevolution 1918 nicht
unberührt geblieben. Die Weimarer Republik hatte sie politisch getrennt: Einer
war ein Mitläufer der Nazis geworden, einer ein Sozi, einer ein Kommunist,
einer ein Unpolitischer. Im Familienkreis in der Gänsefüßchen-Zeit sprachen sie
gelegentlich von “Sachen da drüben”.
Zwischen Kaffeetafel und Abendbrot, den obersten Hosenknopf geöffnet, noch
nicht streitsüchtig, erörterten sie dies und das, wovon sie, meist wohl in der
Frühstückspause am Arbeitsplatz, gehört hatten. Sie waren bemüht, nicht lange,
nicht gründlich, aber durchaus interessiert, Vages in Konkretes zu fassen. Ein
Punkt wurde besonders oft erwähnt: keine Eigentümer- Chefs, keine “Herr-im-
Hause-Typen”, keine Schnösel von Juniorchefs. Erwähnt wurde auch, dass bei
Freunden von Onkel Männe Anfang der fünfziger Jahre schon einmal die Polizei
gewesen war, die “politische”, um “Broschüren” zu suchen. Nach dem
Abendessen stritten Mutters Halbbrüder gewöhnlich. Onkel Paul und Onkel
Männe waren der Vergangenheit verhaftet: Wer hatte 1933 versagt, SPD oder
KPD? Onkel Arthur, Hausmeister in einem Damenstift, Pächter eines
Kleingartens, führte die Eigentumsfrage gegen die DDR ins Feld. Onkel Ernst
trank Likör mit den Damen.
Das Gebot der Gänsefüßchen über die rechte Auffassung von den deutschen
Gegebenheiten hatte also in Teilfragen seine Dissidenten oder traf da und dort
auf Laue aus mangelndem Interesse. Im Herbst 1980 (am 15. Oktober) besuchte
ich den beeindruckenden Wahrer der Zeichen in seiner Residenz am Rande
West-Berlins. Wir waren seit längerem verabredet. Anfang des neuen Jahres
würde ich meinen Posten als Ständiger Vertreter der BRD in Ost-Berlin
verlassen. Axel Springer wollte mit mir über das real existierende Leben in der
DDR sprechen. Er empfing mich, die liebenswürdige Frau Friede an seiner Seite,
zu einem frühen Abendessen. In einem kleinen Speisesaal, mit hellem Holz
getäfelt, darin eingelassen Gemälde aus friderizianischer Zeit, wurden uns
Hühnchen und grüner Salat serviert. Als wir auf die DDR zu sprechen kamen,
sage der Hausherr, beispielhaft und im übertragenen Sinne zu verstehen: “In
Thüringen ist es jetzt ganz dunkel.” Auf Fragen erläuterte ich dem Ehepaar
meinen Begriff von der Nischengesellschaft in der DDR. Axel Springer meinte
zu seiner Frau, es müsste doch hübsch sein, wenn er mit ihr “in einer kleinen
Nische bei Potsdam” leben würde. Genau betrachtet tat er es bereits. Wir
wechselten dann zu anderen Themen.
Der Jaguar
Barbara Kalender und Jörg Schröder

Als ich noch die Kleider des jungen Mannes trug, ging’s bei mir natürlich auch
um Mode und den Giaguaro. So nannte ich ihn, weil das Auto damals noch
auffiel; in Mailand hopsten mir kleine Jungs vor die Kühlerhaube, zeigten mit
dem Finger auf die Limousine und schrien aufgeregt: »Giaguaro! Giaguaro!«
Gleich nach dem Umzug nach Frankfurt hatte ich bei Lindner, der berühmten
Jaguar-Vertretung, angerufen. Es besuchte mich ein englisch gewandeter
Verkäufer, wie eben Männer aussehen, die mit Nobelkarossen handeln: Harris-
Tweed-Jacke mit Lederknöpfen, rote Pochette, abgestimmt auf den roten Faden
des Jacketts, Flanellhose, Derby-Fullbrogues, ein Gentleman mit Halbglatze.
Er fuhr in einem brandneuen XJ 6 vor, die neue Jaguar-Generation. Ich aber
wollte das alte Modell aus dem Prospekt – aaah! kein Prospekt, es war ein Buch
mit Leinenfalz, heute müsstest du eine Schutzgebühr von dreißig Euro dafür
hinlegen, gedruckt auf hundertvierzig Gramm Kunstdruckpapier, prächtig! Also
fragte ich ihn: »Ist denn der 420 G nicht mehr lieferbar?« Da war er in seinem
Element: »Ganz klar, das ist der wahre Jaguar! Wir haben zufällig einen am
Lager, ist gerade aus einem Konkurs zurückgekommen, hat nur dreißigtausend
auf dem Tacho, den können sie fünfhunderttausend Kilometer fahren.« Ich
kaufte den Wagen für dreißigtausend Mark. Er war sandfarben-metallic lackiert,
aber das Wort ›metallic‹ musst du schnell vergessen. Die Sandfarbe glänzte nicht
mehr als heute jeder Wasserlack. Wunderbar! Das letzte edle Auto, das Jaguar
baute. Da warst du was drin als kleiner Mensch.
Etwa sieben Jahre früher, ich hatte gerade als Werbeassistent bei
Kiepenheuer und Witsch angefangen, machte ein Buchmesseritual mir
nachhaltigen Eindruck. Nein, Ritual ist nicht das richtige Wort…, es war auch
kein Auftritt, eher eine Anfahrt. Einen Tag bevor die Messe ihre Pforten öffnete,
rauschte die Phaidon Press aus London aufs Gelände. Neben dem Ehepaar Miller
und Miss Alice Hammond war das Auto angefüllt mit Neuerscheinungen und
Plakaten des Verlags, dazu kam das Privatgepäck. Der Auspuff berührte fast den
Boden, ein Wunder, dass die Achsen nicht brachen. Ich entlud den Wagen,
während die Verleger sich die Beine vertraten nach ihrer strapaziösen Reise von
Calais nach Frankfurt in diesem Jaguarschiff. Das war nicht etwa ein MK II, die
Volksausgabe, sondern ein Ding von den Dimensionen eines Bentley mit zwei
Tanks à sechzig Liter, die brauchte man auch, denn er soff so an die dreißig
Liter, ohne Peitsche und Sporen. Ein Vorläufer meines 420 G, der mir – denn
darauf läuft die Geschichte ja hinaus – so gut gefiel. Seine
Nußbaumverkleidung, die Lederpolster, die kleine verspiegelte Bar im Fond mit
herunterklappbarem Tischchen aus Walnußholz und Messing. Ja, ganz richtig,
eigentlich gehörten dort eine Flasche Whisky und zwei Kristallgläser hinein,
aber so weit ließ ich es nun doch nicht kommen.
Nun ist endlich auch dieses Geheimnis gelüftet, warum ich mir nach
Gründung des März Verlags und der Olympia Press doch nicht den grünen
Porsche Carrera kaufte, wie ich es in dem Gespräch mit Rolf Dieter Brinkmann
und Ralf-Rainer Rygulla in den ersten ›März-Texten‹ angekündigt hatte. Der
Eindruck des Mister-Miller-Automobils war einfach übermächtig. Solche
Karossen gab es auf dem Kontinent extrem selten, jede
Scheibenwischerschraube musste bei British Leyland bestellt werden, es dauerte
manchmal drei Monate, bis Ersatzteile kamen. In der Zwischenzeit wurde der
Defekt von Lindner irgendwie balkanisch überbrückt. Und vom 420 G, gab es
eben in Frankfurt nur das eine Exemplar, daneben natürlich ein Dutzend Mark
Twos und ebenso viele E-Typen, die zigarrenförmigen Sportwagen.
Eigentlich wollte ich den 420 G in Grün, wie er im Prospekt abgebildet war,
aber der hatte ein Jahr Lieferzeit. Und nun stand zufällig bei Lindner das einzige
Exemplar Hessens auf dem Hof, sandfarben. Er kostete nach jetziger Kaufkraft
etwa soviel, wie man heute für einen großen BMW oder einen neuen Audi
hinlegen muss, also vom Preis her ist das nicht der Rede wert. Dennoch war der
Wagen die beste Werbeinvestition für die grünen Bücher der Olympia Press und
die gelben des März Verlags. Jede zweite Pressemeldung über die Verlage
beschäftigte sich mit dem Jaguar. Dieses erzkonservative, seltene Gefährt in
Verbindung mit Avantgarde-Literatur, linken Büchern und Pornographie gehörte
zur Story. An diesem Ding entlang könnte man die Chronik des ersten März
Verlags erzählen, sozusagen als Auto-Biographie.
Das will ich jetzt aber nicht versuchen, vielmehr aus gegebenem Anlass
über eine Begebenheit aus jüngster Zeit berichten, zuweilen drängen sich die
laufenden Ereignisse ja geradezu in die Berichte über die vergangenen Zeiten.
Während der Auseinandersetzungen um die Olympia Press hatte sich Maurice
Girodias nach Frankfurt begeben, um mir das vermeintliche Verlagsvermögen zu
entreißen mit Hilfe seines Anwalts Ulrich Fritze und der bigotten Natter Peter
Beitlich, die ich an meinem Busen nährte und die sich wegen ihrer Nennung im
›Siegfried‹ später in Hans-Peter Fichter umtaufte. Damals konnte dieser Beitlich
noch nicht genug Englisch, deshalb engagierte Maurice eine sonderbare Figur
als Porno-Cheflektor, auch ein Jaguar-Fahrer, allerdings hatte er nur den kleinen
Mark Two. Verglichen mit mir als Großwichtigtuer also ein Kleinwichtigtuer.
Er war soeben aus New York zurückgekehrt, ohne dort Karriere gemacht zu
haben, und anschließend als geborener Pointenkiller bei ›Pardon‹ ebenfalls
gescheitert, ich rede von Herbert Feuerstein. Mit vereinten Kräften – es ging ja
auch um Rache, sie wollten mich nicht nur ökonomisch treffen – versuchten nun
Girodias, Beitlich, dieser Feuerstein und der Anwalt Fritze, mir das
wegzunehmen, von dem sie dachten, dass es mein Liebstes sei, nämlich meinen
»Big Gee«. Jedoch: Nicht nur Verlage gehen kaputt, auch Autos. Ich hatte diese
seriöse Maschine zu sehr geschrubbt, bin mit dem Luxusmobil eben nicht
englisch gefahren, sondern, wann immer es ging, mit zweihundert, dazu viel
über die Alpen und durch die Toskana auf der Suche nach einer standesgemäßen
Casa colonica. Nach zwei Jahren waren hundertdreißigtausend auf dem Tacho.
Und da dieser 4,2 l Sechszylinder für solche Rasereien nicht gebaut war, sondern
nach einem gentlemenliken Fahrer verlangte, keinen Verkehrsverbrecher, wie ich
damals einer war, lief er nur noch auf fünfeinhalb Zylindern.
Die Anteile der Olympia Press GmbH waren soeben an Girodias
übergegangen, dazu gehörte laut Vertrag auch der Jaguar. In einem Akt
nibelungischer Entreißung verlangte der Rechtsanwalt Fritze, nachdem die
letzten Paraphen auf dem Übergabevertrag angebracht waren, mit kaltherzigem
Hasenzahnlächeln die Schlüssel. Ich gab sie ihm mit sardonischem Zucken im
Gesicht, er meinte wohl, ich sei bis ins Mark getroffen, statt dessen musste ich
mir das Lachen verkneifen. Ich hatte damals nicht viel zu lachen, glaub mir, aber
darüber amüsierte ich mich sehr und freute mich schon diebisch auf den neuen
Drei-Liter-BMW, den der März-Gläubigerbeirat mir zu leasen gestattet hatte.
Ein paar Tage später kam ich aus meinem Büro in der Schwindstraße, da
stand unten an der Aral-Tankstelle mein alter Jaguar auf Mattglanz poliert, und
ein dunkelhaariger Typ in gelben Hosen, der ein bisschen das Bein nachzieht,
umkreiste ihn wie ein Pfau. Der neue Besitzer. Na, gut, warum sollte der nicht
hier tanken? Bald darauf fuhr ich den Kettenhofweg hinunter, da war der Wagen
dort geparkt. Neugierig luchste ich auf das Klingelbrett des entsprechenden
Hauses, darauf stand nur »Club«. Ich erkundigte mich bei meinen Freundinnen
im Café Express und erfuhr: »Ach, das ist der Bartos mit dem Holzbein, ja, der
macht jetzt mit der Ingrid den Puff im Kettenhofweg.« Hatte doch dieser geile
Feuerstein dem Bordellier die Luxuskarosse mit dem Molykote-Motor
angedreht. Ganz richtig, das ist die makabre Aktualität, die ›Bild-Zeitung‹ titelte:
»Sechs Leichen im Edelbordell! Wer ist der Erdrosselte mit dem Holzbein? Ein
solches Massaker gab es noch nie in Deutschland. Hat die Russenmafia
zugeschlagen? Oder mordete ein Prostituiertenhasser? Nur ein schwarzer Pudel
überlebte.«
Es wird dir schon ein bisschen anders, wenn deinen Jaguar-Nachbesitzer
zweiundzwanzig Jahre später die Russen-Mafia meuchelt und du erst jetzt aus
den Zeitungen erfährst, warum sich solche obszönen Mengen an Büromaterialien
im März Verlag ansammelten. Nach zig Flohmärkten, Wohnungsauflösungen
und Müllcontaineraktionen, in denen wir uns von Abertausenden Zweckform-
Formularen und Hunderten von überflüssigen Büroutensilien trennten, sind
inzwischen aus dem März-Nachlaß nur noch fünfhundert Stück der ›Heico
Aktenklammer 50 mm glatt‹ übrig. Ich weiß also nun, warum Peter Beitlich, als
er noch bei mir arbeitete, Quittungsblocks und anderen Unsinn in solch
irrwitzigen Mengen einkaufte. Ingrid Bartos betrieb nämlich zur Aufbesserung
ihrer Bordelleinnahmen eine Firma für Bürobedarf. Wegen solcher Großeinkäufe
ist für meinen Prokuristen sicher der eine oder andere Provisionsstich abgefallen.
Und vermutlich gibt es in hundert anderen Frankfurter Firmen hundert ähnliche
Eichhörnchenlager mit Tonnen von Büroklammern.
Was bleibt mir übrig, als mit Entsetzen Scherz zu treiben, wenn sich das
Entsetzliche so blödsinnig arrangiert und zudem die Auslöser desselben auch
noch gleich bei mir um die Ecke wohnten?! War nix mit Paten, Drogen- und
Geldwäschegeschäften, wie es nach Art und Ausführung der Bluttat scheinbar
feststand. In Rettenbach im Ostallgäu, keine zwanzig Minuten von Fuchstal
entfernt, wo wir damals wohnten, überwältigten siebenundsiebzig bayerische
Polizisten am 18. August 1994 in einem Aussiedlerwohnheim für
deutschstämmige Russen das Ehepaar Sofia und Eugen Berwald. Er trug Bartos’
Rolex-Fliegerchronometer am Arm, sie hatten noch nicht einmal die
Mordwerkzeuge – Elektrokabel von Haartrocknern aus dem Bordell –
verschwinden lassen und verteidigten sich mit der dümmsten Ausrede seit der
Erfindung des organisierten Erbrechens: Den Koffer mit den Sachen habe ihnen
ein Abgesandter der Russenmafia in die Hand gedrückt.

Nachwort
Georg Diez

Die Texte in diesem Band erschienen zwischen dem 27. November 2000 und
dem 7. September 2001 im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“. Vier Tage,
nachdem der Text von Günter Gaus über die Gänsefüßchen veröffentlicht wurde,
stürzte das World Trade Center in New York ein – und, so würde dieser Satz
dann weiter gehen: die Welt war eine andere.
Was natürlich Unsinn ist. Die Welt ist immer die gleiche. Nur für einen Teil
der Welt stellte sich vieles nach dem 11. September 2001 anders da. Im Westen
merkte man, dass man gehasst wurde. Das war eine Überraschung. Man hatte
doch alles richtig gemacht. Man hatte den Kalten Krieg gewonnen. Man hatte
der Welt Frieden, Wohlstand, Demokratie gebracht.
Nur sahen das nicht alle so. Es sehen immer noch nicht alle so. Und sie
haben dafür ja Gründe. Coca-Cola konnte es nicht sein und Michael Jackson
auch nicht. Aber was dann? Woher der Hass?
Was die Jahre vor dem 11. September, die frühen, die mittleren, die späten
neunziger Jahre so interessant macht, ist gerade dieses Vakuum des Wissens,
dieses schwarze Loch des Verstehens. Es waren schleierhafte Jahre, wie
ferngesteuert, auf eine gewisse Weise, automatisiert in der Amnesie der
Gegenwart.
Eine Inkubationszeit. Das Neue war noch nicht erkennbar, obwohl es schon
da war. Die Anschläge von New York auf das World Trade Center 1993 etwa die
ausländerfeindlichen Anschläge und Ausschreitungen von Hoyerswerda und
Rostock im gleichen Jahr oder der Zusammenbruch des Hedgefonds Long-Term
Capital Management (LTCM) 1998 – Radikalismus und Risikokapitalismus
waren da, sie wurden nur noch nicht verstanden.
Aus diesem Gefühl heraus, dass etwas driftet, dass sich etwas verändert,
dass sie Zeit Risse bekommt und wir mit ihr, aus diesem Gefühl heraus entstand
die Serie in der „Süddeutschen Zeitung“. Es sollte um Gegenstände sein, etwas
Konkretes also, an dem sich die Erinnerung zeigt, die zwar privat motiviert war,
aber durchaus politisch gemeint.
Das alte Deutschland war fort, das Provisorium der BRD genauso wie die
Provokation der DDR, beides nun im Museum der Zwischenzeit, entsorgt im
Gedenken. Das neue Deutschland, so wie es unter Helmut Kohl entstand, von
Gerhard Schröder angetrieben und von Angela Merkel vollendet wurde, sollte
anders sein. Aber wie?
Um diese Frage geht es heute, 25 Jahre nach dem Fall der Mauer, wo sich
Deutschland verfestigt und deutscher wird, egoistischer, machtvoller:
Ökonomisch und politisch hat das Land die Nachkriegsphase als Gewinner
beschlossen, die deutsche Vormacht in Europa ist wieder so, wie es sich die
BRD-Deutschen nie gewünscht und vorgestellt hatten.
Im Jahr 2000 stellten sich diese Fragen auch schon. Sie waren vage,
Zeichen am Horizont. Es ging schon damals nicht um Nostalgie, im Gegenteil,
es ging darum, in der Kultur, im Alltag, in der persönlichen Erinnerung und der
eigenen Biographie das zu finden, was dieses Land ausmachte, in seiner
geistigen, aber auch politischen Substanz, als Gegenentwurf zu einem
Deutschland, das für viele immer noch ein Fremdwort blieb.
Es gehörte zum westdeutschen Lebensgefühl, dass man ein Wort wie
„Nation“ nur mit vielen seltsamen Muskelkontraktionen aussprechen konnte.
Und „Stolz“ war eine Buchstabenkombination ohne Bedeutung. Im Grunde
konnte man solche Worte nicht verwenden, ohne permanent Anführungszeichen
in die Luft zu zeichnen – obwohl diese Schlüsselgeste wohl erst ein paar Jahre
später beliebt wurde.
Das Jahr 2000, daran kann man auch mal erinnern, war, obwohl es so
futuristisch klingt, ein Jahr eher des 20., als des 21. Jahrhunderts, ein Jahr, das
nach hinten und weniger nach vorne gerichtet war, ein Jahr ohne wirkliche
Vorstellung davon, was kommen könnte.
Die Zeitungen waren noch überwiegend schwarz-weiß, so dass man für die
wöchentliche Serienfolge immer einen Platz für das Farbfoto reservieren musste.
Und die Bilder von Martin Fengel waren ein wichtiger Teil der Inszenierung, sie
waren essayistisch, nicht-journalistisch, subjektiv, sehr direkt und gerade deshalb
nicht ohne Rätsel.
Diese Serie zeigte, was unsere Vorstellung davon war, wie eine Zeitung sein
sollte, klüger, sinnlicher, überraschender. Und als ein Teil der Feuilleton-
Redaktion der „Süddeutschen Zeitung“ noch vor Ende der Serie zur „Frankfurter
Allgemeinen“ ging, war das mehr als nur ein neuer Arbeitgeber – es war für uns,
die wir gingen, eher der Anfang von etwas als ein Ende.
Christoph Schlingensief hat dieses neue, immer noch diffuse Lebensgefühl,
das auch eine Denkweise war, schon im Dezember 2001 in seinem Stück
„Rosebud“ recht visionär beschrieben: Eine Mischung aus Anarchismus und
Entropie, die nach der Postmoderne kam und sich Berlin als Welthauptstadt
ausgesucht hatte.
Und so weist dieses Buch, das sich durchaus gegen die Hegemonie des
ostdeutschen Erinnerns wendet, entspannt über sich hinaus: Es geht nicht um die
Frage, wer wir waren oder wer wir sind; es geht um die Frage, wer wir einmal
gewesen sein werden.

Das könnte Ihnen auch gefallen