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Herausgegeben von
Armin von Bogdandy · Anne Peters
Band 264
Anna Krueger
(English Summary)
D 21
Springer
© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-
Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2018
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IX
XInhaltsverzeichnis
The successive decolonization of the 1960s undoubtedly marked a new and fruitful phase
in the history of mankind. The forced renunciation of the colonial empires and the emer-
gence of new actors on the international scene inevitably deprived, in different degrees and
to a varying extend, the dominant States of their empires, i.e. of their economic, political
and strategic props in the world. The shareout of the world had to give place, gradually but
surely, to the world of sharing. This gave rise to considerable upheavals, both in the world
economic relations and international political and legal systems. […]
The point to be emphasized, however, is this: international law, which is anything but
immutable since it has a social function to fulfil, must inevitably be concerned with the
changes occurring in our world. The bipolar or oligarchic world relies on an ‘internatio-
nal law of confiscation’, i.e. confiscation of the independence and sovereignty of satellite
States. The multipolar world to be set up will involve, on the contrary, an ‘international
right of participation’, i.e. participation by all states in the formulation and application of
the rules governing the relations between them.*
*
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 12.
mehrere Jahrhunderte lang vom Kolonialsystem betroffen.1 Heute lebt weniger als
ein Prozent der Weltbevölkerung in den verbleibenden 16 Kolonialgebieten.2 Die
meisten abhängigen Gebiete erlangten ihre Unabhängigkeit im Zeitraum zwischen
dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Mitte der 1970er-Jahre. Ihre Wege in
die Unabhängigkeit waren dabei ebenso unterschiedlich wie die Formen von euro-
päischer Herrschaft über diese Gebiete: Kolonien waren Gebiete, welche sich eine
Kolonialmacht einverleibt hatte und die über keinerlei Souveränität verfügten (wie
die spanische Kolonie Kuba, die französische Kolonie Algerien oder die britischen
Kolonien Ägypten, Nigeria und Indien). In Mandats- und Treuhandgebiete waren
deren äußere Angelegenheiten unter der Völkerbundsatzung bzw. der Charta der
Vereinten Nationen (VN-Charta) im Namen der internationalen Gemeinschaft
vorübergehend einem souveränen Staat als Treuhänder der lokalen Bevölkerung
übertragen worden, so bei der belgischen Treuhand über Ruanda-Urundi oder dem
britischen Mandat über den Irak. Protektorate waren abhängige Gebiete, welche zu
einem gewissen Grad ihre eigene staatliche Identität bewahrten, ohne aber dabei im
vollen Maße souverän zu sein, da sie etwa die Kompetenz zum Abschluss völker-
rechtlicher Verträge abgegeben hatten, wie etwa im Falle des französisches Protek-
torats über Kambodscha, Laos und Südvietnam oder des britischen Protektorats
über Tonga.3
Abhängig von Grad und Organisation ihrer Fremdherrschaft verlief der Prozess
bis zur Unabhängigkeit in den verschiedenen abhängigen Gebieten sehr unter-
schiedlich. Während die Dekolonialisierung in den britischen Gebieten wie bei-
spielsweise Indien durch die Eingliederung in das britische Commonwealth eher
geordnet verlief, mussten sich viele französische Kolonien ihre Unabhängigkeit
in Befreiungskriegen wie dem Algerienkrieg blutig erkämpfen. In der Dekolo-
nialisierungsphase nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele ehemalige Kolonien,
Mandats- und Treuhandgebiete sowie Protektorate in Asien und Afrika unabhängig
geworden. So unterschiedlich ihre Wege in die formale Unabhängigkeit verlaufen
sein mochten, so sehr ähnelten sich die Probleme, mit denen sich die neuen Staaten
nach der Dekolonialisierung konfrontiert sahen. Das offenkundigste Problem
bildete die oft massive Unterentwicklung der heimischen Wirtschaft, dem die ehe-
maligen Kolonien mit dem Ruf nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung (New
1
Bulajic, Legal Aspects of a New International Economic Order, in Hossain (Hrsg.), Legal
Aspects of the New International Economic Order (1980), S. 45.
2
Die letzten 16 Kolonien sind die Westsahara, Samoa, Guam, Neukaledonien, Pitcairn,
Tokelau, Anguilla, Bermuda, die Britischen Jungferninseln, die Kaimaninseln, die Falkland-
inseln, Gibraltar, Montserrat, St. Helena, die Turks- und Caicosinseln und die amerikani-
schen Jungferninseln. Khan, Decolonization, Max Planck Encyclopedia of Public Internatio-
nal Law (2013), Rn. 1, 2.
3
Zu den verschiedenen Formen abhängiger Gebiete siehe Waldock, UN Doc A/CN.4/256
an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 4 ff., Para 4 ff.; Chen, State Succession Rela-
ting to Unequal Treaties (1974), S. 9 f.; Chowdhuri, International Mandates and Trusteeship
Systems: A Comparative Study (1955), S. 13 ff.
Einleitung3
4
GA, UN Doc A/Res/3201 (S-VI) (1. Mai 1974), Abschnitt 1.
5
Vgl. Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An
Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 98.
6
Vernet, Decolonization: Spanish Territories, Max Planck Encyclopedia of Public Internatio-
nal Law (2013), Rn. 31.
7
Zum Begriff der „newly independet states“, vgl. beispielsweise Falk, The New States and
International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966, II), S. 1, 10 ff.; Artikel 2 Absatz 1 f)
Wiener Konvention über die Staatennachfolge in Verträge und Artikel 2 Absatz 1 e) Wiener
Konvention über die Staatennachfolge in Vermögen, Archive und Schulden.
8
Siehe beispielsweise Francioni, Compensation for Nationalisation of Foreign Property:
The Borderline between Law and Equity, 24 International and Comparative Law Quarterly
(1975), S. 255, 256, Fn. 5; Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979),
S. 24 f. Diese Begriffe werden daher auch in der vorliegenden Arbeit, wenn auch im kriti-
schen Bewusstsein ihrer neokolonialen Implikationen, verwendet.
9
Das Attribut „postkolonial“ impliziert zunächst eine zeitliche Zäsur. Im Mittelpunkt steht der
Zeitraum seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in dem die ganz überwiegende Mehrheit
der ehemaligen Kolonien ihre formale Unabhängigkeit erlangt hat. Dabei bezeichnet Postko-
lonialismus über diese rein zeitliche Komponente hinausgehend solche nachkolonialen Kon-
stellationen, in denen die Folgen kolonialer Beherrschungsverhältnisse nachwirken und trotz
formalen Abschlusses des Dekolonialisierungsprozesses erhalten bleiben oder sich sogar
reproduzieren. Postkolonialismus ist damit ein Widerstand gegen die Fremdherrschaft in der
Kolonialzeit selbst, aber auch gegen ihre Folgen wie Neokolonialismus und gegen Rekolo-
nialisierung. Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie: Eine kritische Einführung (2005), S. 24.
Neokolonialismus leugnet dabei eine Überwindung der Fremdherrschaft durch die Dekolo-
nialisierung und identifiziert statt der früheren formalen Abhängigkeit heute neue Unterdrü-
ckungsformen als Folge und Fortwirkung der Kolonialzeit. Die imperialistische Mentalität
4 Kapitel 1: Einleitung
der ehemaligen Kolonialherren habe sich seit dem Kolonialismus nicht geändert. Der Begriff
erlangte Popularität durch seine Verwendung durch den ghanaischen Präsidenten Kwame
Nkrumah, Neo-colonialism: The Last Stage of Imperialism (1966). Siehe Sturm, Neokolo-
nialismus, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organisationen, Theorien,
Begriffe, Personen (1985), S. 423 f. Kerner, Postkoloniale Theorien zur Einführung (2012),
S. 12. Die postkoloniale Gegenwart wird in der postkolonialen Theorie aus der Perspektive
und als Produkt ihrer kolonialen Vergangenheit betrachtet. Aktuelle Probleme in den ehe-
maligen Kolonien wie Rassismus, Armut und Unterentwicklung erscheinen damit zumindest
auch als historisch-materiell begründete Strukturprobleme, die durch postkoloniale Theo-
rien aufgedeckt, kritisiert und möglichen Lösungen zugeführt werden können. Postkoloniale
Theorie darf insofern auch als (wissens-)politisches Projekt verstanden werden. Das Feld
der postkolonialen Theorien erstreckt sich über verschiedene Disziplinen und vereint unter-
schiedliche methodische Ansätze. Ursprung und Gravitationszentrum der postkolonialen
Theorie liegen in den angelsächsischen Literatur- und Kulturwissenschaften. Von besonde-
rer Bedeutung sind dabei die bisweilen zur „Holy Trinity“ der postkolonialen Theorie sti-
lisierten und bis heute meistrezipierten Autoren Edward Said aus Palästina, Gayatri Cha-
kravorty Spivak aus Indien und Homi K. Bhabha aus Indien. Young, White Mythologies:
Writing History and the West (1990); ders., Colonial Desire: Hybridity in Theory, Culture
and Race (1995), S. 163. Said untersuchte in seinem 1978 veröffentlichten Buch Orientalism
mittels einer Diskursanalyse, wie das scheinbar neutrale Begriffspaar Orient-Okzident ein
von westlichen Vorstellungen geprägtes Bild vom Orient als dem „Anderen“ vermittele, ihn
dadurch diskursiv erst erschaffe und in Abgrenzung hierzu das Bild eines überlegenen Okzi-
dents zeichne. Nach Spivaks von Marxismus und Feminismus geprägter Kritik vermittelt
der Imperialismus eine epistemische Gewalt, mit der westliche Wissenschaftler (wenn auch
unbewusst) verhindern, dass die Diskurse Subalterner gehört werden. Spivak, Can the Sub-
altern Speak?, in Williams/Chrisman (Hrsg.), Colonial Discourse and Post-Colonial Theory:
A Reader (1994), S. 66, 84 ff. The Location of Culture von Bhabha erschien 1994 und
gehört heute zu den Standardwerken auf den Gebieten Kulturanalyse und Rassismuskritik.
Siehe zum Ganzen Ashcroft/Griffiths/Tiffin, The Post-Colonial Studies Reader (2. Auflage
2006) sowie Williams/Chrisman (Hrsg.), Colonial Discourse and Post-Colonial Theory: A
Reader (1994). Im Völkerrecht haben sich die Third World Approaches to International Law
(TWAIL) als postkoloniale Theorie entwickelt, siehe hierzu sogleich.
10
Dieser Debatte widmet sich Teil I der vorliegenden Arbeit.
Einleitung5
11
Hiermit beschäftigen sich Teil II und Teil III der vorliegenden Arbeit.
12
Statt vieler in der zeitgenössischen Debatte wie auch heute siehe Schweitzer, Das Völker-
gewohnheitsrecht und seine Geltung für neuentstehende Staaten (1969), ders., Staatsrecht
III: Staatsrecht, Völkerrecht, Europarecht (10. Auflage 2010), S. 249. Zur Staatennachfolge
siehe insbesondere Teil III der vorliegenden Arbeit.
6 Kapitel 1: Einleitung
und in welchem Verhältnis standen diese zum praktischen Umgang mit dem Völker-
recht? Wie argumentierten Völkerrechtler aus den neuen Staaten nach der Dekolo-
nialisierung, wie gingen sie beispielsweise mit solchen Grundprinzipien wie der
staatlichen Souveränität um? Wie wurde ihre Argumentation aufgenommen, wie
wurde ihr begegnet? Wo konnten sie sich mit ihrer Argumentation durchsetzen, wo
scheiterten sie wie und warum?
Auf diese Fragen soll die vorliegende Arbeit Antworten finden. Es handelt sich
dabei um eine Arbeit über die Geschichte des Völkerrechts zur Zeit der Dekolo-
nialisierung. Seit der Jahrtausendwende werden zunehmend völkerrechtshistorische
Arbeiten veröffentlicht, die sich großer Aufmerksamkeit erfreuen.13 Die völker-
rechtshistorische Aufarbeitung der Dekolonisierungsphase steht jedoch noch am
Anfang.14 Eine umfassende Untersuchung zur Bindung der Dritten Welt an das post-
koloniale Völkerrecht liegt bisher nicht vor.15 In diese Lücke möchte die vorliegende
Arbeit vorstoßen. Dabei sollen insbesondere die 1960er- und 1970er-Jahre beleuch-
tet werden, in welchem die Bindungsfrage am intensivsten diskutiert wurde. Diese
Debatten fanden zu einem Großteil in der ILC selbst oder zumindest anlässlich der
Arbeit der ILC an verschiedenen Konventionsentwürfen statt.16 Entsprechend steht
die Auswertung der Debatten um die Bindung der Dritten Welt an das postkoloniale
Völkerrecht in der ILC im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung.17 Dies wirkt
sich auf die Materialien aus, welche für die vorliegende Arbeit ausgewertet werden:
Im Rahmen einer Vermessung der politischen und völkerrechtswissenschaftlichen
Landschaft zur Zeit der Dekolonialisierung werden insbesondere Veröffentlichun-
gen von wichtigen zeitgenössischen Autoren aus den neuen Staaten untersucht.
Daneben werden Dokumente der ILC zu den Arbeiten an der Wiener Vertrags-
rechtskonvention von 1969 (WVK) sowie an der Wiener Konvention über die Staa-
tennachfolge in Verträge von 1978 (WKSV) und an der Wiener Konvention über die
Staatennachfolge in Vermögen, Archive und Schulden von 1983 (WKSVAS) aufge-
arbeitet. Zudem werden die Reaktionen auf alle drei Konventionen ausgewertet. Im
13
Siehe Galindo, Martti Koskenniemi and the Historiographical Turn in International Law,
16 The European Journal of International Law (2005), S. 539 ff.; Fassbender/Peters/Peter/
Högger (Hrsg.), The Oxford Handbook of the History of International Law (2012).
14
Siehe hierzu sogleich.
15
Mit manchen Aspekten der Bindungsfrage beschäftigt sich Craven, The Decolonializa-
tion of International Law: State Succession and the Law of Treaties (2007). Diese Arbeit
beschränkt sich jedoch weitgehend auf die Untersuchung der Entstehungsgeschichte der
Wiener Konferenz zur Staatennachfolge in Verträge. Der Ansatz, welcher der vorliegenden
Arbeit zugrunde liegt, ist einerseits allgemeiner, da die Bindungsfrage umfassend untersucht
wird und auch die Debatten um die beiden anderen relevanten Konventionen, nämlich die
Wiener Vertragsrechtskonvention und die Wiener Konvention zur Staatennachfolge in Ver-
mögen, Archive und Schulden, aufgearbeitet werden. Zum anderen wählt die vorliegende
Arbeit einen spezifischeren Blickwinkel, da sie speziell die Positionen und Argumentationen
der Völkerrechtler in der Dritten Welt in den Fokus nimmt.
16
Siehe Teil II, Kapitel 4.
17
Siehe insbesondere Teil II und Teil III.
Einleitung7
Verlauf der gesamten Arbeit werden biographische Erkenntnisse über die Völker-
rechtler aus der Dritten Welt nach der Dekolonialisierung eingeflochten, um deren
Strategien und Motive zu ergründen.18
Erste vorhandene Arbeiten über die Dekolonialisierung19 stammen von Völker-
rechtlern aus dem Umfeld der postkolonialen Völkerrechtstheorie,20 den sogenann-
ten Third World Approaches to International Law (TWAIL),21 welche gegenwärtig
in Deutschland und international zunehmend Interesse auf sich ziehen.22 Sie nennen
18
Als Beispiel für diese gegenwärtig in der Geschichtswissenschaft sehr beliebte Vorgehens-
weise siehe Mazower, No Enchanted Palace: The End of Empire and the Ideological Origins
of the United Nations (2009).
19
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007); Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008);
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics of
Universality (2011).
20
Zum Postkolonialismus siehe bereits oben. Der Kolumbianer Luis Eslava und die Inderin
Sundhya Pahuja schreiben:
„[P]ostcolonial approaches, and postcolonialism as an idea, are understood from the perspec-
tive of TWAIL, a vantage point from which to see the traces left by classical imperialism and its
variants, on the social, political and economic relations of the world. This trace expresses itself
most commonly in asymmetries of power that are reproduced and sustained by official narra-
tives, forms of expertise, normative configurations and managerial practices and in acts of vio-
lence, both symbolic and physical.” Eslava/Pahuja, Beyond the (Post)Colonial: TWAIL and the
Everyday Life of International Law, 45 Verfassung und Recht in Übersee (2012), S. 195, 198.
21
Die TWAIL wurden unter diesem Namen im Jahr 1996 von einer Studentengruppe rund
um den indischen Völkerrechtler Bhupinder Chimni und seinen kenianischen Kollegen James
Thuo Gathii an der Harvard Law School ins Leben gerufen. Dabei handelt es sich um eine
Gruppe von Völkerrechtswissenschaftlern, die meist aus der Peripherie stammen und das
Völkerrecht aus dieser spezifischen Perspektive heraus analysieren, ohne jedoch einen ein-
heitlichen Ansatz zu verfolgen. Die Gruppe wird geeint durch eine Reihe materieller und
methodischer Grundauffassungen; hierzu gehören die historisierende Betrachtung von
völkerrechtlichen Problemen vor dem Hintergrund des Kolonialismus, die Betonung von
Gerechtigkeitserwägungen im völkerrechtlichen Diskurs und eine große Machtsensibilität.
Entsprechend mag man die TWAIL als Völkerrechtsmethodik, -theorie oder auch als Denk-
schule bezeichnen. Gathii, TWAIL: A Brief History of its Origins, its Decentralized Network,
and a Tentative Bibliography, 3 Trade, Law and Development (2011), S. 26, 28 f.; Mutua,
What Is TWAIL?, 94 American Society of International Law Proceedings of the Annual
Meeting (2000), S. 31, 31; Mickelson, Rhetoric and Rage: Third World Voices in Inter-
national Legal Discourse, 16 Wisconsin International Law Journal (1997-1998), S. 353,
397; Eslava/Pahuja, Beyond the (Post)Colonial: TWAIL and the Everyday Life of Interna-
tional Law, 45 Verfassung und Recht in Übersee (2012), S. 195, 199; Anghie/Chimni, Third
World Approaches to International Law and Individual Responsibility in Internal Conflicts, 2
Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 78.
22
Bei dem Symposium zur Völkerrechtsmethodik im American Journal of International Law
im Jahr 1999 fand sich noch kein Verweis auf postkoloniale Ansätze. Dies sorgte für harsche
Kritik, was zu einem Einlenken der Herausgeber führte. Siehe hierzu Symposium on Method
8 Kapitel 1: Einleitung
sich selbst auch TWAIL II, in Abgrenzung zu der ersten Generation von Völker-
rechtlern in der Dritten Welt wie Anand, Elias und Bedjaoui, die sie ad hoc als
TWAIL I bezeichnen.23 Die TWAIL II stellen die heutige Völkerrechtsordnung als
Produkt des Kolonialismus dar, welches auch Jahrzehnte nach der formalen Unab-
hängigkeit der meisten Kolonien strukturell der Beherrschung der Dritten Welt24
in International Law, 93 American Journal of International Law (1999), S. 291 ff.; Corre-
spondence, 94 American Journal of International Law (2000), S. 99, 100 f. und 45 Verfassung
und Recht in Übersee (2012), S. 123 ff.; Kritische Justiz (2012), S. 127 ff. Vom 5. bis zum 7.
November 2015 fand in Berlin ein Workshop zum Thema “The Battle for International Law
in the Decolonization Era, 1955-1975” statt, welcher der Vorbereitung einer umfangreichen
Publikation zu dem Thema mit Beiträgen renomierter Völkerrechtler aus aller Welt diente.
23
Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual Responsibi-
lity in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 79 ff. Eslava
und Pahuja nennen die erste Generation von Völkerrechtlern aus der Dritten Welt „midnight's
international lawyers“, siehe Eslava/Pahuja, Between Resistance and Reform: TWAIL and
the Universality of International Law, 3 Trade, Law and Development (2011), S. 103, 117.
24
Der Begriff der Dritten Welt stammt aus der Zeit des Kalten Krieges und hat mit dessen
Ende und angesichts der großen Unterschiede zwischen den Entwicklungsländern nach ver-
breiteter Ansicht seine Existenzberechtigung verloren; er wird außerdem häufig als diskri-
minierend erachtet. Siehe Walker, Space/Time/Sovereignty, in Denham/Lombardi (Hrsg.),
Perspectives on Third-World Sovereignty: The Postmodern Paradox (1996), S. 15; Nohlen,
Dritte Welt, in ders. (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organisationen, Theorien,
Begriffe, Personen (1985), S. 151 f.; Macfarlane, Taking Stock: The Third World and the
End of the Cold War, in Fawcett/Sayigh (Hrsg.), The Third World beyond the Cold War:
Continuity and Change (1999), S. 21; Nohlen/Nuscheler, „Ende der Dritten Welt?“, in
ders. (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt, Band 1: Grundprobleme – Theorien – Strategien
(3. Auflage 1992), S. 15, 24; Boeckh, Entwicklungstheorien: Eine Rückschau; in Nohlen/
Nuscheler (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt, Band 1: Grundprobleme – Theorien – Stra-
tegien (3. Auflage 1992), S. 115 ff. Dieser Auffassung widersprechen die TWAIL, welche
den Begriff der Dritten Welt in ihrem selbstgegebenen Namen tragen: Der Australier Antony
Anghie und Chimni möchten an dem Begriff der Dritten Welt festhalten, da dieser betont,
dass globale Ungerechtigkeit die früheren Kolonien nach wie vor auf die gleiche Weise
betreffen, wie dies vor dem Ende des Kalten Krieges der Fall war. Anghie/Chimni, Third
World Approaches to International Law and Individual Responsibility in Internal Conflicts, 2
Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 78. Der Nigerianer Obiora Okafor betont
die Selbstidentifikation derjenigen Staaten und Völker, die sich als Teil der Dritten Welt ver-
stehen. Er betrachtet den Begriff als bedingte Referenz („contingent signifier“), die nicht ver-
worfen werden könne, ohne gleichzeitig die damit verbundene gemeinsame Erfahrung von
Subordination zu verwerfen. Okafor, Newness, Imperialism, and International Legal Reform
in our Time: A TWAIL Perspective, 43 Osgoode Hall Law Journal (2005), S. 171, 174 f.
Pahuja bevorzugt den Begriff trotz seiner Unschärfe gegenüber anderen Termini aus dem
Entwicklungsjargon, um die sich dahinter verbergende politische Gruppe herauszustellen.
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics of
Universality (2011), S. 261. Der Inder Balakrishnan Rajagopal verwendet den Begriff pole-
misch, um ganz im Sinne des französischen Vordenkers der Dekolonialisierung Frantz Fanon
etablierte hegemoniale Denkmuster aufzubrechen. Rajagopal, Locating Third World in
Einleitung9
durch den Westen diene und somit für erstere nachteilig wirke.25 Der Kenianer
Makau Wa Mutua beschreibt das Projekt der TWAIL folgendermaßen:
TWAIL is driven by three basic, interrelated and purposeful objectives. The first is to
understand, deconstruct, and unpack the uses of international law as a medium for the
creation and perpetuation of a racialized hierarchy of international norms and institutions
that subordinate non-Europeans to Europeans. Second, it seeks to construct and present
an alternative normative legal edifice for international governance. Finally, TWAIL seeks
through scholarship, policy, and politics to eradicate the conditions of underdevelopment
in the Third World.26
Cultural Geography, Third World Legal Studies (1998-1999), S. 1, 3 f. Mutau schreibt: „The
Third World is real. It not only exists in what some in the west regard as the vacuous minds
of Third World scholars and political leaders, but in the lives of those who live its daily cruel-
ties.” Mutua, What Is TWAIL?, 94 American Society of International Law Proceedings of the
Annual Meeting (2000), S. 31, 32. Trotz ihres unterschiedlichen Entwicklungsgrades recht-
fertigen damit gemeinsame Erfahrungen kolonialer Beherrschung die Zusammenfassung der
Entwicklungsländer unter dem Begriff Dritte Welt und dies unabhängig von seiner Entste-
hung in einer vergangenen Zeit mit bipolarer Machtstruktur. Unterstellt man, dass aus den
genannten Gründen ein Sammelbegriff für eine so heterogene Gruppe von Staaten geboten
ist, so wird eine passendere Zusammenfassung als die Dritte Welt ohnehin schwerlich gefun-
den werden, da sie dieselben divergierenden Interessen definitorisch vereinen müsste wie der
Begriff der Dritten Welt. Young, White Mythologies: Writing History and the West (1990),
S. 11. Aus den genannten Gründen wird der Begriff der Dritten Welt in der vorliegenden
Arbeit auch jenseits seiner historischen Bedeutung während des Kalten Krieges verwendet.
25
Mutua, What Is TWAIL?, 94 American Society of International Law Proceedings of the
Annual Meeting (2000), S. 31, 31.
26
Mutua, What Is TWAIL?, 94 American Society of International Law Proceedings of the
Annual Meeting (2000), S. 31, 31.
27
Siehe Eslava/Pahuja, Beyond the (Post)Colonial: TWAIL and the Everyday Life of Inter-
national Law, 45 Verfassung und Recht in Übersee (2012), S. 195, 208.
10 Kapitel 1: Einleitung
state sovereignty in order to align the language of international law with the destiny of Third
World peoples as opposed to Third World states. This view of the transcendent post-colo-
nial state prevented a focus on the violence of the state at home. […]
In addition, TWAIL II has sought to further the analysis developed by TWAIL I of
the structural factors promoting inequalities between First and Third World states. In this
respect, TWAIL II has focused more explicitly on theoretical inquiry than TWAIL I, which
adopted a relatively unproblematic view of international law and saw its task as using the
established techniques of international law to address Third World concerns. As a conse-
quence of the failure of a number of Third World initiatives, most prominently that of the
New International Economic Order, TWAIL II scholars began to examine more closely the
extent to which colonial relations had shaped the fundamentals of the discipline. Rather than
seeing colonialism as external and incidental to international law, an aberration that could
be quickly remedied once recognized, some TWAIL II scholarship has focused on a more
alarming proposition: that colonialism is central to the formation of international law.28
28
Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual Responsibi-
lity in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 82 ff.
29
Siehe hierzu auch unten, Teil I.
30
Während die Diskursanalyse in anderen Disziplinen zum üblichen methodischen Reper-
toire gehört, findet sie in der völkerrechtlichen Methodenlehre trotz des mit ihr verbundenen
Erkenntnisgewinns bis dato wenig Beachtung. Siehe aber Craven, The Decolonialization of
International Law: State Succession and the Law of Treaties (2007), S. 18 f. Eine anschauli-
che Anleitung zur historischen Diskursanalyse, die vorliegend auf die Völkerrechtsgeschichte
übertragen wird, gibt Landwehr, Historische Diskursanalyse (2008).
31
Foucault, Archäologie des Wissens (1. Auflage 1981), S. 74.
Einleitung11
sondern werden durch ihre nachträgliche Untersuchung wie alle historischen Bege-
benheiten im Nachhinein neu konstruiert, je nachdem, welche Materialien heran-
gezogen werden, wie diese arrangiert werden, welchen Blickwinkel man wählt.32
Diskurse produzieren insofern Wirklichkeiten in Abhängigkeit davon, wem die
Deutungshoheit über Geschehenes zugesprochen wird. Ziel der Diskursanalyse
ist es somit, „dem Problem nachzugehen, welche Umstände dazu geführt haben,
solche Erscheinungen als Wirklichkeit hervorzubringen“ und dadurch „den Wahr-
nehmungskategorien, Bedeutungskonstruktionen und Identitätsstiftungen in ihrer
historischen Veränderung auf den Grund zu gehen.“33 Diskursanalytische Elemente
sollen vorliegend dabei helfen zu verstehen, wieso die TWAIL II das Scheitern der
ersten Generation von Völkerrechtlern aus den neuen Staaten mit einem Scheitern
der Völkerrechtsordnung gleichsetzen und, noch einen Schritt früher ansetzend, wie
die Idee vom Scheitern der TWAIL I selbst zustande kam. Es soll hierfür untersucht
werden, welche Bedeutung die Völkerrechtler aus der Dritten Welt nach der Deko-
lonialisierung der Bindungsfrage beimaßen und wie zeitgenössische Völkerrechtler
aus Ost und West das Thema verorteten. Da somit die Bedeutungszuschreibungen
verschiedener Protagonisten analysiert werden sollen, kann die vorliegende Arbeit
als „a story about stories“34 verstanden werden.
Der Diskurs über die Bindung der Dritten Welt an das postkoloniale Völkerrecht
soll dabei nicht im luftleeren Raum, sondern im Kontext zeitgeschichtlicher Phäno-
mene untersucht werden. Zu diesen Phänomenen zählen zum einen die völkerrecht-
liche Ordnung und zum anderen die internationale Politik. Der dekonstruktivisti-
sche Blickwinkel, der die historische Konstruktion dieser Arbeit anleitet, geht von
der Unbestimmtheit völkerrechtlicher Normen aus, die einen großen politischen
Spielraum gewähren. Völkerrechtler im Umfeld der US-amerikanischen rechtstheo-
retischen Bewegung der Critical Legal Studies wie der Finne Martti Koskenniemi
und der Amerikaner David Kennedy haben in den 1980er-Jahren gezeigt, dass im
Völkerrecht auf Grund dessen normativer Struktur keine autonome, nicht-normative
Begründung existiert, nach der eine Norm der anderen gegenüber zu bevorzugen
ist.35 Diese Kritik an der strukturellen Unsicherheit des völkerrechtstheoretischen
32
Siehe hierzu und für einen Überblick über die entsprechende Debatte in der Philiosophie
und Geschichtswissenschaft Orford, The Past as Law or History? The Relevance of Impe-
rialism for Modern International Law, 2 Institute for Inetrnational Law and Justice Working
Paper (2012), S. 1, 2 ff.
33
Landwehr, Historische Diskursanalyse (2008), S. 92, 128.
34
Vgl. hierzu Craven, The Decolonialization of International Law: State Succession and the
Law of Treaties (2007), S. 18.
35
Zum Folgenden siehe Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of Interna-
tional Legal Argument (2005); Kennedy, International Legal Structures (1987). Allgemein
zu den Critical Legal Studies siehe außerdem Kennedy, Form and Substance in Private Law
Adjudication, 89 Harvard Law Review (1976), S. 1685 ff.; ders., Duncan Kennedy, A Criti-
que of Adjudication: Fin de Siecle, 22 Cardozo Law Review (2001), S. 991 ff.; Unger, The
Critical Legal Studies Movement (1983); Kelman, A Guide to Critical Legal Studies (1987).
12 Kapitel 1: Einleitung
36
Kelsen, Das Problem der Souveränität (1928), S. 319 f. Siehe hierzu von Bernstorff, Sisy-
phus was an International Lawyer. On Martti Koskenniemi’s “From Apology to Utopia” and
the Place of Law in International Politics, 7 German Law Journal (2006), S. 1015 ff.; ders.,
German Intellectual Origins of International Legal Positivism, in Kammerhofer/D’Aspre-
mont/Brookson-Moris/Plant (Hrsg.), International Legal Positivism in a Post-Modern World
(2014), S. 50, 78.
37
Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argument
(2005), S. 41, 59, 476.
38
„The idea that law can provide objective resolutions to actual disputes is premises on the
assumption that legal concepts have a meaning which is present in them in some intrinsic
way, that at least their core meanings can be verified in an objective fashion. But modern lin-
guistics has taught us that concepts do not have such natural meanings. In one way or other,
meanings are determined by the conceptual scheme in which the concept appears.” Kos-
kenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argument (2005),
S. 503.
39
Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argument
(2005), S. 70. Zur Reversibilität der völkerrechtlichen Argumentation siehe auch S. 503 ff.
Einleitung13
40
In diesem Zusammenhang kritisiert Koskenniemi auch die zunehmende Fragmentie-
rung des Völkerrechts, die Spezialisierung in Bereiche wie Handelsrecht, Menschenrechte,
Umweltrecht und Sicherheitsrecht. Diese fördere die Parteilichkeit des Völkerrechts: „The
choice of the frame“, so Koskenniemi, „determined the decision. But for determining the
frame, there was no meta-regime, directive or rule.” Das konkrete Urteil sei in solchen Fällen
einzig das Resultat der subjektiven Wertung der Richter, welches Rechtsgebiet als das spe-
ziellere ausschlaggebend sein solle. Die Unbestimmtheit und Tendenziösität des Völkerrechts
sei das Ergebnis der Vorherrschaft verschiedener Institutionen: „Which institution will have
the authoritative voice? According to which bias will a matter be resolved? If there are no
regime-independent ways of describing an issue, the door is open to the unilateral assumption
of jurisdiction by experts who feel themselves powerful enough to have the last word.” Kos-
kenniemi, The Fate of Public International Law: Between Technique and Politics, 70 Modern
Law Review (2007), S. 1, 4, 6, 8.
41
Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argument
(2005), S. xiv.
42
Zu diesem Begriff siehe Kapitel 4.
14 Kapitel 1: Einleitung
der vorliegenden Arbeit soll auch die Kritik der TWAIL II an der Position und Argu-
mentation der TWAIL I in den genannten Bereichen Raum finden.
In den Teilen II und III der Arbeit, die sich den konkreten Debatten zur Bindungs-
frage widmen, soll dann überprüft werden, ob diese Kritikpunkte tatsächlich die
Durchsetzung der Positionen der Dritten Welt in der Bindungsfrage verhinderten,
oder ob der Diskursverlauf nicht andere Erklärungsansätze näher legt. In Teil II wird
die Bindungsfrage im Recht der Verträge untersucht. Hierbei liegt der Diskurs um
sogenannte „Ungleiche Verträge“ im Fokus. Auf Grund ihrer Arbeiten an der Wiener
Vertragsrechtskonvention rückt hier die ILC ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die
Normen zu unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträgen, zu Verträgen in
Widerspruch zu zwingendem Recht und zum Prinzip rebus sic stantibus werden
zum normativen Rahmen der Debatte. Diese wird überlappt von dem Diskurs um
das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Teil III widmet sich der Bindungsfrage im
Recht der Staatennachfolge. Von besonderer Brisanz ist dabei die Diskussion um
die auch im Zusammenhang mit der Forderung nach einer Neuen Weltwirtschafts-
ordnung bedeutsamen Debatten um Territorialregime und Erworbene Rechte von
Privaten. Auch diese Debatte wird von einem Diskurs um ein Grundprinzip des
Völkerrechts, in diesem Fall die permanente Souveränität über natürliche Ressour-
cen, überlagert. In Teil II und III der Arbeit wird sich zeigen, welchen Einfluss die
Wahl des rechtlichen bzw. des rechtstheoretischen Rahmens einer Debatte auf deren
Ergebnis hatte und wie der Diskurs so durch die völkerrechtliche Struktur selbst
sowie durch die politische Entscheidung innerhalb dieser Struktur gelenkt wurde.
Dabei verlief der Diskurs stets in den Grenzen der drei Dichotomien Zweck
und Konsens, Gemeinschaft und Souveränität sowie Gerechtigkeit und Sicherheit
des Rechts. Deutlich wird hierbei insbesondere die Reversibilität jeder in diesem
Rahmen möglichen Argumentation, da Protagonisten aus allen drei Welten einer-
seits ihren argumentativen Standpunkt innerhalb der genannten Gegensatzpaare
immer wieder wechselten, andererseits aber auch häufig vom selben Argumenta-
tionspol ausgehend gegensätzliche Argumentationen entwickelten. Damit lässt
sich eine Entwicklung nachzeichnen, in der sich die Bemühungen der Dritten Welt
bezüglich der Kodifikation des Themas Bindung zunehmend durchsetzten, schließ-
lich jedoch den Zenit überschritten und marginalisiert wurden. Letztlich setzte sich
in der Regel das westliche Narrativ gegenüber den häufig progressiveren Forderun-
gen von Völkerrechtlern aus den neuen Staaten durch. Im völkerrechtlichen Diskurs
wurde die Dekolonialisierungsphase so zur historisch überholten Zäsur für Fragen
der Bindungswirkung, die sich fortan nur noch in von dieser Phase sehr verschiede-
nen Kontexten stellen.43
43
Siehe hierzu auch die Schlussbetrachtungen, Kapitel 11. Solche Kontexte boten beispiels-
weise der Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens, siehe Craven, The Decolonization of
International Law: State Succession and the Law of Treaties (2007), S. 1 ff.
Teil I: Die Bestimmungsfaktoren
der Bindungsdebatte in der
Völkerrechtswissenschaft
Die Debatte um die Bindung der Dritten Welt an das postkoloniale Völkerrecht
fand in der völkerrechtswissenschaftlichen Literatur wie auch im rechtsprakti-
schen Diskurs insbesondere im Zeitraum zwischen 1960 und 1975 statt. Besondere
Aufmerksamkeit wurde dabei naturgemäß den Schriften der Völkerrechtler in der
Dritten Welt zu Teil. Diese prägten die Bindungsdebatte maßgeblich, wobei sich die
Frage der Bindung für Völkerrechtler in den neuen Staaten vor ihrem spezifischen
persönlichen Hintergrund, aus ihrem nationalen Blickwinkel und vor dem Kulisse
ihres rechtspolitischen Projekts stellte. Diese Bestimmungsfaktoren der Bindungs-
debatte in der Völkerrechtswissenschaft der Dritten Welt sollen im ersten Teil der
Arbeit vermessen werden, um eine Grundlage für das Verständnis jener Debatten
zu schaffen, die sich rund um die Bindungsfrage im Recht der Verträge (Teil II)
und im Recht der Staatennachfolge (Teil III) entwickelt haben. Anders als etwa
für viele westliche Autoren stellte sich die Frage der Bindung der Dritten Welt an
das postkoloniale Völkerrecht für Völkerrechtler aus den neuen Staaten nämlich vor
dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrung mit und der Prägung ihrer Heimatstaaten
durch Kolonialismus und Dekolonialisierung, welche ihren Blick auf das Völker-
recht maßgeblich geprägt hatten (Kap. 2). Diese Prägung bildete den Nährboden
für die Kritik der Völkerrechtler aus der Dritten Welt an der etablierten Völker-
rechtsordnung, durch welche wiederum die Bindungsdebatte überhaupt erst ange-
stoßen wurde (Kap. 3). Trotz ihrer Kritik und des In-Frage-Stellens der Bindung
der Dritten Welt an das Völkerrecht wandten sich die Völkerrechtler in der Dritten
Welt jedoch nicht von dieser Materie ab, sondern entwickelten im Rahmen der eta-
blierten Völkerrechtsordnung ein eigenes rechtpolitisches Programm, ihr Global-
solidarisches Projekt, welches das Völkerrecht aus sich selbst heraus im Interesse
der Dritten Welt reformieren sollte (Kap. 4). Im ersten Teil der Arbeit sollen also
für die Bindungsdebatte grundsätzliche Positionen der Völkerrechtler in der Dritten
Welt nach der Dekolonialisierung dargestellt und schließlich in einem kurzen Fazit
zusammengefasst werden. Diesen Positionen der TWAIL I wird darüber hinaus in
Grundzügen die Kritik der TWAIL II hieran gegenübergestellt. Dieses Vorgehen
soll dazu dienen, die Kritik der TWAIL II in den folgenden Teilen der vorliegenden
16 Teil I: Die Bestimmungsfaktoren der Bindungsdebatte in der Völkerrechtswissenschaft
Arbeit in Bezug auf die Bindungsdebatte auf Stichhaltigkeit und praktische Rele-
vanz zu überprüfen.
Außerdem wird der erste Teil der vorliegenden Arbeit bereits Erkenntnisse über
die Struktur des völkerrechtlichen Diskurses der Bindungsfrage liefern. Völker-
rechtler in der Dritten Welt argumentierten häufig mit Grundprinzipien des Völker-
rechts, wobei sie sich deren inhaltlichen Unbestimmtheit und Flexibilität zu Nutze
machten. Bei der Frage um die Bindung an das Allgemeine Völkerrecht bezogen
sie eine apologetische Position unter Betonung der staatlichen Souveränität und der
sich hieraus ergebenden souveränen Gleichheit bzw. argumentierten gemischt apo-
logetisch-utopisch mit der sozialen Funktion des Völkerrechts für die clean slate-
Theorie: Eine automatische Bindung der neuen Staaten an das Allgemeine Völker-
recht sei wegen dessen europäischer Herkunft und kolonialer Prägung unzumutbar,
und gefährde die Effektivität des Völkerrechts im sozialen Kontext. Vielmehr sei die
Zustimmung der ehemaligen Kolonien zu den maßgeblichen Normen erforderlich.
Der Westen bezog die utopische Gegenposition, eine Bindung ergebe sich aus dem
Beitritt zur Internationalen Gemeinschaft und sei aus Gründen der Rechtssicher-
heit geboten, wobei vereinzelt unterstützend mit der apologetischen Theorie vom
impliziten Konsens der neuen Staaten argumentiert wurde. Dabei warfen westliche
Autoren den neuen Staaten eine angeblich unzulässige Politisierung des völker-
rechtlichen Diskurses vor, wobei die westliche Position nicht weniger politisch war.
Beide Seiten beanspruchten dabei für sich, dass nur ihre Position die Stabilität der
Völkerrechtsordnung gewährleiste. Da nach der Argumentation der Völkerrechtler
in der Dritten Welt keine umfassende Bindung an das etablierte Völkerrecht bestand,
entwickelten sie ein rechtpolitisches Programm, ihr „Globalsolidarisches Projekt“,
in dessen Sinne die Völkerrechtsordnung ihrer Ansicht nach geändert werden sollte
und auf Grund seiner sozialen Funktion auch geändert werden musste. Dieses rekur-
rierte auf utopische Ideen wie Gerechtigkeit, Solidarität, Entwicklung und Wohl-
stand aller als Ziele der Internationalen Gemeinschaft, wobei angenommen wurde,
dass etwa die Neue Weltwirtschaftsordnung die Interessen aller Staaten hinreichend
berücksichtigen würde (apologetisches Element). Gegen entsprechende Rechtände-
rungen verwehrten sich der nun vorrangig apologetisch argumentierende Westen,
der seine Zustimmung zur Neuen Weltwirtschaftsordnung verweigerte und auch
die hehren Ziele des Globalsolidarischen Projekts nur bedingt teilte (utopisches
Element). Von der Frage der Bindung an das Allgemeine Völkerrecht zur Frage der
Rechtsänderung fand insofern ein argumentativer Positionswechsel statt.
Kapitel 2: Die Kolonialisierung als
prägendes Moment für die Völkerrechtler
in der Dritten Welt
In auffallend vielen Publikationen von Völkerrechtlern aus der Dritten Welt finden
sich Abhandlungen über die vorkoloniale Zeit, die Kolonialisierung und die Deko-
lonialisierung in Afrika und Asien, aber auch Lateinamerika. Dies ist dem Umstand
geschuldet, dass diese in den 1960er- und 1970er-Jahren zum Teil noch sehr fri-
schen zeitgeschichtlichen Erfahrungen nicht nur die ehemaligen Kolonien selbst,
sondern auch deren Bewohner entscheidend geprägt haben. Diese Prägung war für
die Positionen der Völkerrechtler in der Dritten Welt – gerade auch in der Bindungs-
debatte – ausschlaggebend. Auch die TWAIL II bauen im Übrigen heute auf den
völkerrechtsgeschichtlichen Erkenntnissen der TWAIL I auf.1
Im Folgenden wird daher dargestellt, wie die Völkerrechtler in der Dritten Welt
die vorkoloniale Zeit (I.), die Kolonialisierung (II.) sowie die Dekolonialisierung
(III.) erlebt und in ihren völkerrechtlichen Veröffentlichungen geschildert haben.
Unter den rechtshistorischen Schriften von Völkerrechtlern aus der Dritten Welt
waren jene von Ram Prakash Anand (1.) und Taslim Olawale Elias (2.) von beson-
derem Einfluss. Sie sind als Reaktionen auf die im Westen vorherrschende eurozen-
trische Völkerrechtsgeschichtsschreibung zu begreifen (3.).
1
Das Geschichtsverständnis der TWAIL I gehört zu den Aspekten ihrer Forschung, welche
die TWAIL II heute positiv hervorheben und auf denen sie ihre eigene Forschung aufbauen,
vgl. Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual Respon-
sibility in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 80. Siehe
insbesondere Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008),
der viele Thesen der TWAIL II übernimmt.
In der Dritten Welt war der indische Völkerrechtler Anand federführend auf dem
Forschungsgebiet der Völkerrechtsgeschichte.
Anands Heimat Indien war im 19. Jahrhundert vollständig im britischen Ein-
flussbereich gewesen und hatte dabei zunächst unter der Herrschaft der Ost-
indienkompanie gestanden, bis die britische Krone als Reaktion auf blutig nie-
dergeschlagene Aufstände selbst die Regierung übernahm. Indien war keine
Siedlerkolonie, sie diente den Briten als Lieferant von Ressourcen und Arbeits-
kräften und bildete gleichzeitig einen Absatzmarkt. Mit der Gründung der Kon-
gresspartei und Mahatma Gandhis gewaltlosem Widerstand gegen die britische
Herrschaft erstarkte die Unabhängigkeitsbewegung im Land, der Großbritannien
schrittweise nachgab. Von der Gewährung der inneren Selbstverwaltung 1919 bzw.
1935 war der Weg zur Unabhängigkeit nicht mehr weit: Die Kolonialzeit in Indien
endete 1947, wobei die überwiegend muslimischen Teile des Landes von Indien
abgespalten wurden und mit Pakistan einen eigenen Staat gründeten; ein Umstand,
der in den Folgejahren zu drei Kriegen zwischen beiden Ländern führen sollte.
In diesen Grenzen gehörte Indien immer noch zu den größten Ländern der Erde
und gleichzeitig zu den armen Entwicklungsländern, dessen Probleme weniger
in seiner volkswirtschaftlichen Struktur als in der Sozialordnung des ressourcen-
reichen Landes mit bedeutsamer Industrie, aber enormer ethnischer, religiöser und
linguistischer Heterogenität lagen. Die Kongresspartei stellte nach der Unabhän-
gigkeit mit Jawaharlal Nehru den ersten indischen Ministerpräsidenten und über-
nahm für drei Jahrzehnte die Regierung Indiens. Neben einem Beitritt Indiens
zum Commonwealth wurde auch das britische Verwaltungssystem übernommen.
Bildung war während des Kolonialismus, aber auch noch danach, nur den Eliten
des Landes zugänglich.2
Nicht nur in Indien, sondern auch in vielen anderen Kolonien war breiten Teilen
der indigenen Bevölkerung der Besuch von Universitäten durch die Kolonialmächte
unmöglich gemacht worden; wo die Universitäten, wie beispielsweise in Nigeria,
für eine indigene Bildungselite zugänglich gemacht wurden, bezweckten die Kolo-
nialmächte die Schaffung einer kollaborierenden Mittelschicht, die das koloniale
System aufrechterhalten sollte.3 Erst durch die Dekolonialisierung hatte sich über-
haupt eine selbstständige völkerrechtliche Jurisprudenz in den früheren Kolonien
2
Siehe zum Ganzen Zingel, Indien, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder,
Organisationen, Theorien, Begriffe, Personen (1985), S. 278 ff.
3
Vgl. Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale
Elias, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 317, 338; Landauer, Things Fall
Together: The Past and Future Africas of T. O. Elias‘s Africa and the Development of Inter-
national Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 351, 352.
I. Die vorkoloniale Zeit19
etablieren können. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war die Anzahl von
Völkerrechtlern in den neuen Staaten dementsprechend stark begrenzt.
Anand, im Jahr 1933 geboren, gehörte zu den wenigen privilegierten Indern,
denen eine akademische Karriere möglich war. Er hatte sein Studium der Rechts-
wissenschaften in Delhi begonnen, dann aber, wie die meisten zeitgenössischen
Völkerrechtler in der Dritten Welt, große Teile seiner völkerrechtswissenschaftli-
chen Kenntnisse im westlichen Bildungssystem erworben.4 An der Yale-Universität
in den USA war Anand mit der New Haven-Bewegung in Kontakt gekommen und
wurde von deren Realismus und ihrer sozialwissenschaftlich inspirierten Metho-
dik geprägt.5 Wie viele Völkerrechtler in der Dritten Welt in dieser Zeit stand auch
Anand stark unter dem Einfluss der völkerrechtlichen Sichtweisen im Europa und
im Nordamerika des frühen 20. Jahrhunderts.6 Gleichzeitig nahmen Anand und
andere Völkerrechtler in den neuen Staaten diese westlich geprägten Positionen
vor dem Hintergrund ihrer nationalen und sicherlich auch persönlichen, von der
europäischen Kolonialherrschaft herrührenden Unrechtserfahrungen auf: In ihren
Heimatländern waren die Völkerrechtler der Dritten Welt konfrontiert mit Armut,
Unterentwicklung, Hunger und Überschuldung bei gleichzeitigem Ressourcen-
reichtum. Die Gründe hierfür wurden mit der damals vorherrschenden Dependenz-
theorie in der Beherrschung der Dritten Welt durch die Industrienationen gesehen,
die zu einem Abhängigkeitsverhältnis führe, welches die Entwicklungschancen der
Dritten Welt begrenze.7 Westliche Lehre und koloniale Unrechtserfahrung bilde-
ten damit eine Gemengelage, aus der heraus Völkerrechtler in der Dritten Welt wie
Anand ihre eigene völkerrechtliche Jurisprudenz entwickelten. Aufbauend auf den
Erkenntnissen des österreichisch-ungarischen Völkerrechtswissenschaftlers Charles
Henry Alexandrowicz,8 der in den 1950er- und 1960er-Jahren an der südindischen
Universität Madras völkerrechtliche Strukturen im antiken Asien erforscht hatte,
untersuchte Anand die Rolle des Völkerrechts in der vorkolonialen und kolonialen
Weltgeschichte.9 Anand gehörte zu den wenigen prominenten Völkerrechtlern seiner
Zeit, die sich auf ihre wissenschaftliche Laufbahn konzentrierten und nicht parallel
auch politische Ämter ausübten oder im diplomatischen Dienst ihres Heimatlandes
wirkten. Seine frühen Arbeiten zur Völkerrechtsgeschichte umfassen zwei Aufsätze
4
Vgl. schon die zeitgenössische Beobachtung von Jessup, Non-Universal International Law,
12 Columbia Journal of Transnational Law (1973), S. 415, 416.
5
Baxi, In Memoriam: Ram Prakash Anand (1933-2011), 3 Trade, Law and Development
(2011), S. 2, 3. Siehe hierzu auch Kapitel 3 und 4.
6
Vgl. Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An
Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 100 f.
7
Siehe zur Dependenztheorie beispielsweise Cardoso/Faletto, Abhängigkeit und Entwick-
lung in Lateinamerika (1976).
8
Siehe beispielsweise Alexandrowicz, An Introduction to the History of the Law of Nations
in the East Indies (1967).
9
Chimni, The World of TWAIL: Introduction to the Special Issue, 3 Trade, Law and Develop-
ment (2011), S. 14, 15 f.
20 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
und eine Monographie;10 ihnen wurde damals und wird bis heute nicht nur von
Autoren in der Dritten Welt große Aufmerksamkeit zuteil.11
Anands Forschung erfasste die vorkoloniale Geschichte in den Ländern der
Dritten Welt ebenso wie die Geschichte des Kolonialismus. Dabei kam er zu dem
Ergebnis, dass auch auf diesen Kontinenten zwischenstaatliche Geflechte existiert
hätten, die von völkerrechtlichen Regelungen bestimmt worden seien. Er schrieb:
In any case, not only do many of the new states of Asia and Africa have a rich heritage of
law and legal procedures, and they have been quite familiar with inter-state law which was
being applied in their international relations, but international rules were actually in force
and being applied in their relations with the European Powers during the sixteenth, seven-
teenth and eighteenth centuries, or what is termed the classical period of international law.12
Die Entwicklung von Normen, die den zwischenstaatlichen Verkehr regeln, war
für Anand damit keine genuin europäische Errungenschaft.13 Er stellte heraus, dass
es bereits in der Antike in bestimmten Regionen der späteren Dritten Welt dezi-
dierte Formen zwischenstaatlicher Regeln gegeben habe, so etwa in der zwischen-
staatlichen Praxis von China, Indien, Ägypten und Syrien; diese Normen seien
zumindest zum Teil auch auf eine universale Anwendung angelegt gewesen und
hätten nur auf Grund faktisch mangelnder Mobilität der Akteure lediglich regional
Anwendung gefunden, weshalb sie mit den jeweiligen Zivilisationen, unter deren
Existenz sie erblüht waren, auch wieder verschwunden seien.14 Diese Staaten des
10
Anand, Role of the “New” Asian-African Countries in the Present International Legal
Order, 56 American Journal of International Law (1962), S. 383 ff.; ders., Attitude of the
Asian-African States Toward Certain Problems of International law, 15 International & Com-
parative Law Quarterly (1966), S. 55 ff.; ders., New States and International Law (1972).
Seinen historischen Ansatz hat Anand auch in den folgenden Jahrzehnten weiter ausgebaut,
vgl. beispielsweise Anand, Origin and Development of the Law of the Sea: History of Inter-
national Law Revisited (1983), S. 1 ff.; ders., New States and International Law, Max Planck
Encyclopedia of Public International Law (2013).
11
Anands Auffassung von der vorkolonialen und kolonialen Völkerrechtsgeschichte rezipie-
ren unter anderem Friedmann, The Position of Underdeveloped Countries and the Universa-
lity of International Law, 1/2 Columbia Journal of International Law (1961-1963), S. 78, 85;
Shihata, The Attitude of New States Toward the International Court of Justice, 19 Internatio-
nal Organization (1965), S. 203, 203; Jessup, Non-Universal International Law, 12 Colum-
bia Journal of International Law (1973), S. 415, 416; García-Amador, The Proposed New
International Economic Order: A New Approach to the Law Governing Nationalization and
Compensation, 12 Lawyer of The Americas (1980), S. 1, 6; Anghie, The Evolution of Inter-
national Law: Colonial and Postcolonial Realities, 27 Third World Quarterly (2006), S. 739,
742; Chimni, The World of TWAIL: Introduction to the Special Issue, 3 Trade, Law and
Development (2011), S. 14, 15 f.
12
Anand, New States and International Law (1972), S. 13.
13
Anand, New States and International Law (1972), S. 12.
14
Bandyopadhyay, International Law and Custom in Ancient India (1920), S. 8; Sastri, Inter-
national Law and Relations in Ancient India, 1 Indian Yearbook of International Affairs
(1952), S. 97, 97 ff.
I. Die vorkoloniale Zeit21
globalen Südens hatten für Anand in der damaligen Zeit Souveränität und Völker-
rechtssubjektivität genossen.15 Sie seien, so Anand, auch von westlichen Staaten
und der westlichen Völkerrechtswissenschaft der damaligen Zeit anerkannt
worden: Im klassischen Völkerrecht des 17. und 18. Jahrhunderts seien Verträge
auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung ihrer souveränen Gleichheit
geschlossen worden; es sei damit bei der Völkerrechtssubjektivität zu dieser Zeit
noch vornehmlich auf die Faktizität souveräner Gebilde angekommen.16 Anand sah
in den Schriften von Autoren aus dieser Völkerrechtsepoche wie dem Niederländer
Hugo Grotius, dem Deutschen Christian Wolff und dem Schweizer Emer de Vattel
die Konzeption des Völkerrechts als eine auf dem naturrechtlichen Grundsatz der
Nichtdiskriminierung basierende universale Rechtsordnung.17 Um zu beweisen,
dass etwa den Staaten Asiens damals Völkerrechtssubjektivität zugekommen war,
zog Anand den bezüglich eines Streits zwischen Portugal und Indien vom Interna-
tionalen Gerichtshofs (IGH) entschiedenen Right of Passage over Indian Territory-
Fall heran, in dem der IGH die völkerrechtliche Wirksamkeit eines Vertrages, den
Portugal im Jahr 1779 mit dem Reich der Marathen geschlossen hatte, festgestellt
hatte.18 Hierin sah Anand die implizite Feststellung der damaligen Völkerrechts-
subjektivität der Marathen, die auch für andere asiatische und afrikanische Enti-
täten wie Ägypten oder Äthiopien in dieser Zeit zu treffen sei.19 Im 19. Jahrhun-
dert sei die Völkerrechtssubjektivität dieser Staaten dann jedoch in Frage gestellt
worden.20 Anand meinte daher, dass diese antiken Systeme das moderne Völker-
recht letztlich nicht beeinflusst hätten.21 Der Kolonialismus habe diese frühen, auf
Anwendung zwischen allen Staaten ausgelegten völkerrechtlichen Regelungen
zunichte gemacht.22
Eine ähnliche Perspektive auf das vorkoloniale Völkerrecht hatte der nigerianische
Völkerrechtler Elias entwickelt.
15
Anand, New States and International Law (1972), S. 17 f.
16
Anand, New States and International Law (1972), S. 13 f.; Alexandrowicz, An Introduction
to the History of the Law of Nations in the East Indies (1967), S. 235.
17
Anand, New States and International Law (1972), S. 15; vgl. Grotius, Mare liberum, sive de
Iure quod Batavis Competit ad Indicana Commercia Dissertation (1918/1935 [1978]); Wolff,
Jus Gentium Methodo Scientifica Pertractatum (1764 [1964]); Vattel, Le Droit des Gens ou
Principes de la Loi Naturelle (1758).
18
Anand, New States and International Law (1972), S. 17 f.; ICJ, ICJ-Reports 1960, S. 6, 6 ff.
19
Anand, New States and International Law (1972), S. 18.
20
Anand, New States and International Law (1972), S. 18.
21
Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of International law,
15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 57.
22
Dazu sogleich.
22 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
Während der Norden von Elias’ Heimat Nigeria in der britischen Kolonialzeit
selbstverwaltet war und von Großbritannien nur im Rahmen einer „indirect rule“
kontrolliert wurde, stand der Süden des Landes vornehmlich unter dem Einfluss
christlicher Missionen. Das dadurch entstandene Bildungsgefälle verstärkte die
ethnischen Konflikte innerhalb Nigerias, welche das bevölkerungsreichste Land
Afrikas nach seiner Unabhängigkeit im Jahr 1960 immer wieder erschütterten. So
konnte sich die nach britischem Modell entworfene Verfassung Nigerias nach der
Unabhängigkeit nur wenige Jahre behaupten; bereits Ende der 1960er-Jahre kam es
zu Militärputschen und Bürgerkrieg. Erst in den späten 1970er-Jahren wurde mit
der Redemokratisierung Nigerias begonnen. Mit dem Ölboom Mitte der 1960er-
Jahre entwickelte sich Nigeria in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht zur Füh-
rungsmacht in Afrika.23
Mit Elias nahm ebenfalls ein Nigerianer eine federführende Position unter den
Völkerrechtlern in der Dritten Welt ein. Im Jahr 1914 geboren, hatte Elias sein
Studium der Rechtswissenschaften in London absolviert. Zurück in Nigeria beklei-
dete er eine Reihe wichtiger Ämter, so das des Justizministers (1960–1966) und das
des Vorsitzenden Richters des Obersten Gerichtshofs in Nigeria (1972–1975). Seine
völkerrechtliche Expertise qualifizierten ihn zum Mitglied der ILC (1962–1975),
zum Mitglied der Expertenkommission zur Ausarbeitung der Charta der Organisa-
tion für Afrikanische Einheit (OAE-Charta) (1963), zum Vorsitzenden der nigeria-
nischen Delegation bei der Konferenz des Special Committee on the Principles of
International Law Concerning Friendly Relations and Co-operation among States
(1964), und schließlich zum Richter (1979–1991) und Präsidenten (1981–1985) des
Internationalen Gerichtshofs in Den Haag. Elias war Professor und Dekan an der
Universität von Lagos sowie Dozent an der Haager Akademie für Völkerrecht.24
Elias’ Vita ist damit beeindruckend vielfältig, aber für die damalige Zeit kein Ein-
zelfall: Auffallend häufig bekleideten die Völkerrechtler in der Dritten Welt nach
der Unabhängigkeit ihrer Heimatländer dort wichtige Ämter.25 Diese Personeniden-
tität von Völkerrechts-wissenschaftlern und -praktikern einerseits und Politikern
23
Niedworok, Nigeria, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organisationen,
Theorien, Begriffe, Personen (1985), S. 437 ff.
24
Elias, Taslim Olawale, in Who’s Who in the United Nations and Related Agencies (1975),
S. 167. Zu Elias’ Biografie und seiner völkerrechtlichen wie nationalrechtlichen Bedeutung,
siehe Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale
Elias, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 317 ff.; Landauer, Things Fall Toge-
ther: The Past and Future Africas of T. O. Elias‘s Africa and the Development of Internatio-
nal Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 351 ff.; Lim, Neither Sheep nor
Peacocks: T. O. Elias and Postcolonial International Law, 21 Leiden Journal of International
Law (2008), S. 295 ff.; Toufayan, When British Justice (in African Colonies) Points Two
Ways: On Dualism, Hybridity, and the Genealogy of Juridical Negritude in Taslim Olawale
Elias, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 377 ff.; Adebowale/Elias, Taslim
Olawale Elias (1914-1991): A Biographical Note, 21 Leiden Journal of International Law
(2008), S. 291 ff.
25
Siehe hierzu beispielsweise die Biografie von Bedjaoui unten.
I. Die vorkoloniale Zeit23
andererseits erklärt sich auch aus dem Mangel von in Internationalen Beziehungen
ausgebildeten Fachkräften in der Dritten Welt.26 Im Jahr 1972 veröffentlichte Elias
mit Africa and the Development of International Law eine Sammlung von Aufsät-
zen, die er von 1965 bis zu den frühen 1970ern geschrieben hatte. Elias nutzte dabei
die Einsichten, die er Anfang der 1950er-Jahre bei seiner Arbeit an der Universität
Manchester im Bereich Recht und Sozialanthropologie gewonnen hatte.27
In diesem Buch beschrieb Elias den Handel zwischen dem antiken Karthago
einerseits und dem alten Rom sowie Athen andererseits und später im Mittelal-
ter den Austausch zwischen Ostafrikanern, Arabern, Chinesen und Europäern.28
Während Anands Forschung sich mehr auf Asien konzentrierte, fokussierte Elias
sich auf Afrika. Entgegen der eurozentrischen Sichtweise habe es, so Elias, auch in
Afrika zu dieser Zeit bereits rechtlich organisierte Gesellschaften gegeben:
In African law, although theories about a social contract have not been formulated in this
way, yet the indigenous ideas of government are not essentially dissimilar to that of Locke
and Rousseau and, at least in its presuppositions, that of Grotius as well. In nearly all
African societies one finds what is technically referred to as the “myth of the original ances-
tor”, by which an attempt is made to postulate the legendary founding of their settlement
by an eponymous ancestor.29
Elias betonte die Bedeutung, die Flexibilität und die rechtliche Validität von afrika-
nischen Bräuchen.30 Er befand diese für mit nationalen Rechtssystemen in Europa
vergleichbar und ebenbürtig. Auch auf internationaler Ebene ging Elias von der
Existenz rechtlicher Regelungen zwischen Europa und Afrika aus: Dabei hätten
die Staaten ihre engen Handelsbeziehungen vielfach durch internationale Verträge
geregelt.31 Elias dienten diese Verträge als Beleg für die Gleichberechtigung und
Gleichwertigkeit der Staaten Afrikas mit allen anderen Nationen vor dem Kolonia-
lismus. Für Elias war die Völkerrechtsordnung vor der Kolonialzeit universal, da
auch die afrikanischen Staaten Souveränität und damit auch Völkerrechtssubjek-
tivität besaßen, also an der Formulierung völkerrechtlicher Regelungen teilhatten.
26
Vgl. Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale
Elias, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 317, 332; Elias, New Horizons in
International Law (1979), S. 21 f.
27
Vgl. Landauer, Things Fall Together: The Past and Future Africas of T. O. Elias‘s Africa
and the Development of International Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008),
S. 351, 358 f.; siehe hierzu den Sammelband von Fortes/Evans-Pritchard (Hrsg.), African
Political System (1940, Nachdruck 1950), den Elias wiederholt zitiert, vgl. Elias, Africa and
the Development of international law (1972), S. 37, 39.
28
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 3 ff.
29
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 36.
30
Landauer, Things Fall Together: The Past and Future Africas of T. O. Elias‘s Africa and
the Development of International Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008),
S. 351, 365 f.
31
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 15; vgl. auch Okoye,
International Law and the New African States (1972), S. 1 f.
24 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
Elias sah viele Parallelen zwischen dem europäischen und dem afrikanischen Völ-
kerrecht; er betonte nicht (wie es etwa der chilenische Jurist Alejandro Álvarez im
frühen 20. Jahrhundert getan hatte)32 die Besonderheiten der afrikanischen Völker-
rechtstradition, sondern die Gemeinsamkeiten beider Regime und damit auch die
Ähnlichkeit und Gleichwertigkeit von Afrika und Europa.33 Damit bewegte er sich
in der internationalistischen Tradition der Völkerrechtler aus der Dritten Welt in
seiner Zeit.34
Mit der Kolonialisierung wurden auch aus Elias’ Perspektive die Staaten in
Lateinamerika, Asien und Afrika nicht mehr als Völkerrechtssubjekte anerkannt und
ihrer Souveränität beraubt. Anders als Anand kam er aber zu dem Ergebnis, dass die
völkerrechtlichen Konzeptionen des vorkolonialen Afrikas auch nach der Kolonia-
lisierung in gewisser Weise fortwirkten: Er sah die Geschichte des Kontakts Afrikas
mit den Völkern anderer Kontinente von der Antike bis zur Kolonialisierung „as an
interesting background to the account now given of how the Sahara may be said to
have dominated the history of the north no less than it has done that of the south.“35
Anand wie Elias betonten also die völkerrechtlichen Errungenschaften Afrikas und
Asiens sowie die Anerkennung ihrer Souveränität und Gleichberechtigung durch
Europa vor der Kolonialisierung. Diese rechtshistorische Forschung war eine
Reaktion auf das im Westen spätestens in der Zeit der Kolonialisierung entstan-
dene Bild von den „primitiven“ Ureinwohnern dieser Kontinente. Elias’ Projekt
war die Rehabilitation Afrikas, das während der Kolonialzeit als „rückständig“ und
„unzivilisiert“ abgewertet worden war.36 Er versuchte westliche Bilder von „dem
Afrikaner“ als „a blind worshipper of tradition, a gregarious member of the tribal
folck“ oder als „nothing if not boastful, arrogant and self-assertive“ zu revidieren,
indem er die Rolle der afrikanischen Staaten in der Geschichte des Völkerrechtes
32
Vgl. Álvarez, Latin America and International Law, 3 American Journal of International
Law (1909), S. 269 ff.
33
Lim, Neither Sheep nor Peacocks: T. O. Elias and Postcolonial International Law, 21
Leiden Journal of International Law (2008), S. 295, 296; vgl. Obregón, Noted for Dissent:
The International Life of Alejandro Álvarez, 19 Leiden Journal of International Law (2006),
S. 983, 989.
34
Siehe Özsu, „In the interests of mankind as a whole“: Mohammed Bedjaoui’s New Inter-
national Economic Order, 6 Humanity: An International Journal of Human Rights, Humani-
tarianism, and Development (2015), S. 129, 132.
35
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 5.
36
Hierzu sogleich.
I. Die vorkoloniale Zeit25
Ähnliche Strömungen waren auch in anderen Regionen der Dritten Welt auszuma-
chen.39 Sie wurden von Völkerrechtlern in den neuen Staaten wie Anand und Elias in
das Völkerrecht übertragen, um die präkolonialen Beiträge ihrer Heimatländer zur
Völkerrechtsgeschichte hervorzuheben. Diese Völkerrechtler werden daher heute
von den TWAIL II als „Kontributionisten“ bezeichnet.40 Sie bezweckten eine alter-
native Völkergeschichtsschreibung und wandten sich gegen die in der westlichen
Völkerrechtswissenschaft etablierte Auffassung, die Geschichte des Völkerrechts
sei eine rein europäisch-amerikanische. Diese Auffassung wird etwa im folgenden
Zitat des deutschen Völkerrechtlers Lassa Oppenheim deutlich, der im Jahr 1908
über die Völkerrechtsgeschichte schrieb:
For such history is only a branch of the history of Western civilization. All important events
in the development of the state system of Europe from the last part of the Middle Ages dow-
nward to the French Revolution have had their bearing upon the development, the shaping,
and the ultimate victory of international law over international anarchy, and so have all
important events in the development of the state system of Europe and America since the
French Revolution.41
Nach diesem Geschichtsverständnis hatten die Staaten Afrikas und Asiens keinen
Beitrag zu der Entwicklung des Völkerrechts geleistet. Völkerrechtler aus der
Dritten Welt kritisierten ebendiese eurozentrische Völkerrechtsgeschichtsschrei-
bung und hoben die Beiträge Afrikas und Asiens zur Völkerrechtsgenese hervor.
37
Siehe Elias, The Nature of African Customary Law (1956), S. 92 f.
38
Mensah-Brown (Hrsg.), African International Legal History (1975), S. i; Gathii, A Critical
Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale Elias, 21 Leiden Journal of
International Law (2008), S. 317, 336.
39
Siehe Schröder, Die Konferenzen der „Dritten Welt“: Solidarität und Kommunikation zwi-
schen nachkolonialen Staaten (1968), S. 47 ff. Im Völkerrecht siehe auch Syatauw, Newly
Established Asian States and the Development of International Law (1961), S. 18; Sinha,
New Nations and the Law of Nations (1967), S. 12 f.; Bandyopadhyay, International Law
and Custom in Ancient India (1920), S. 6; Sastri, International Law and Relations in Ancient
India, 1 Indian Yearbook of International Affairs (1952), S. 97, 97.
40
Siehe Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale
Elias, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 317, 319; Gathii, Africa, in Fassben-
der/Peters/Peter/Högger (Hrsg.), The Oxford Handbook of the History of International Law
(2012), S. 407 ff.
41
Oppenheim, The Science of International Law: Its Task and Method, 2 American Journal of
International Law (1908), S. 313, 317.
26 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
Dabei führten Anand wie Elias als Beweis für die Gleichwertigkeit der asiatischen
und afrikanischen völkerrechtlichen Regeln stets deren Ähnlichkeit zum vermeint-
lich europäischen Völkerrecht an. Beispiele bilden hier die souveräne Gleichheit
und das Vertragsrecht. Diese Gleichsetzung von Gleichartigkeit und Gleichwertig-
keit mag zwei verschiedene Gründe gehabt haben:
Zum einen war historisch gerade die vermeintliche Verschiedenartigkeit von
Afrikanern und Asiaten einerseits und Europäern andererseits argumentativ zur
Rechtfertigung der Subordination der ersten durch die zuletzt genannten genutzt
worden.42 Hierauf wird noch einzugehen sein.43 Nach der Dekolonialisierung sollten
die neuen Staaten jedoch als gleichwertige Partner wahrgenommen werden; Elias
bezweckte daher eine Inklusion der afrikanischen Staaten in das bestehende völ-
kerrechtliche Normsystem, ohne allerdings die kulturellen Besonderheiten Afrikas
negieren zu wollen.44 Afrika und auch die afrikanische Völkerrechtswissenschaft
sollten entsprechend ihrem lange geleugneten Eigenwert wahrgenommen werden.45
Dieses Ziel schien durch das Ziehen von Parallelen in der Rechtsgeschichte erreich-
bar. Die Argumentation der Gleichwertigkeit der europäischen und der afrikanischen
Rechtstradition auf Grund ihrer Gleichartigkeit barg jedoch das Risiko, die Beson-
derheiten der afrikanischen Identität, die Elias rehabilitieren wollte, einzubüßen.46
Zum anderen waren diese Gemeinsamkeiten zwischen den Rechtstraditionen der
verschiedenen Kontinente aus Sicht der Völkerrechtler in der Dritten Welt bedeut-
sam für das postkoloniale Völkerrecht:
[I]t emphasized that pre-colonial Third World states were not strangers to the idea of inter-
national law. For instance, non-European societies had developed sophisticated rules rela-
ting, for example, to the law of treaties and the laws of war. TWAIL I, then, attempted to
create a truly international law, both by pointing to the commonalities among ostensibly
very different societies, and by identifying a rich body of doctrine and principle which was
to be found in Third World legal systems and cultures, and which could be used for the
benefit of the entire international community.47
Auf den Erkenntnissen der TWAIL I über die vorkoloniale Geschichte bauen heute
die TWAIL II ihre Forschung auf. So ist auch Anghies Projekt eine alternative
42
Lim, Neither Sheep nor Peacocks: T. O. Elias and Postcolonial International Law, 21
Leiden Journal of International Law (2008), S. 295, 296.
43
Siehe hierzu sogleich, II.
44
Vgl. Lim, Neither Sheep nor Peacocks: T. O. Elias and Postcolonial International Law, 21
Leiden Journal of International Law (2008), S. 295, 296 f.
45
Zur Völkerrechtswissenschaft siehe Elias, Government and Politics in Africa (1963),
S. 209; Landauer, Things Fall Together: The Past and Future Africas of T. O. Elias‘s Africa
and the Development of International Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008),
S. 351, 358, 360.
46
Vgl. Landauer, Things Fall Together: The Past and Future Africas of T. O. Elias‘s Africa
and the Development of International Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008),
S. 351, 353.
47
Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual Responsibi-
lity in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 80 f.; siehe
hierzu auch Kapitel 4.
II. Die Kolonialisierung27
Völkergeschichtsschreibung.48 Für Anghie war und ist der Kolonialismus von zen-
traler Bedeutung für die Entwicklung des Völkerrechts.49 Nach Anghies Analyse
schuf die koloniale Herkunft des Völkerrechts bestimmte Strukturen, welche sich in
den verschiedenen Phasen der Geschichte des Völkerrechts immer wieder wieder-
holten.50 Den Grund hierfür sieht Anghie in der „Dynamik des Unterschieds“:
I use the term ‘dynamic of difference’ to denote, broadly, the endless process of creating
a gap between two cultures, demarking one as ‘universal’ and civilized and the other as
‘particular’ and uncivilized, and seeking to bridge the gap by developing techniques to
normalize the aberrant society.51
Die Weltgeschichte des Kolonialismus hatte ihren Anfang bereits im frühen 16. Jahr-
hundert mit dem Aufbau des spanischen Kolonialsystems genommen und somit weit
48
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 12.
49
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 2.
50
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 3.
51
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 4.
52
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 9, 13 ff.
53
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 15.
28 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
54
Zur Problematik der Schreibung einer „Geschichte des Kolonialismus“ angesichts dessen
mannigfaltiger Erscheinungsformen sowie für eine grobe zeitliche Einteilung der Epochen
des Kolonialismus siehe Osterhammel/Jansen, Kolonialismus: Geschichte, Formen, Folgen
(7. Auflage 2012), S. 32 ff.
55
Osterhammel/Jansen, Kolonialismus: Geschichte, Formen, Folgen (7. Auflage 2012), S. 37;
Prashad, The Darker Nations: A People’s History of the Third World (2007), S. 3.
56
Osterhammel/Jansen, Kolonialismus: Geschichte, Formen, Folgen (7. Auflage 2012), S. 42.
57
Anand, New States and International Law (1972), S. 18; ders., Attitude of the Asian-African
States Toward Certain Problems of International law, 15 International & Comparative Law
Quarterly (1966), S. 55, 59; siehe auch Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967),
S. 19.
58
Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of International law,
15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 58.
59
Anand, New States and International Law (1972), S. 19.
60
Anand, New States and International Law (1972), S. 38.
61
Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of International law,
15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 58.
II. Die Kolonialisierung29
62
Anand, New States and International Law (1972), S. 19.
63
Anand, Role of the “New” Asian-African Countries in the Present International Legal
Order, 56 American Journal of International Law (1962), S. 383, 383; vgl. beispielsweise
Hall, A Treatise on International Law (7. Auflage 1917), S. 40.
64
Anand, New States and International Law (1972), S. 21.
65
Anand, New States and International Law (1972), S. 25.
66
Anand, New States and International Law (1972), S. 21.
67
Anand, New States and International Law (1972), S. 21.
68
Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of International law,
15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 59.
69
Anand, New States and International Law (1972), S. 21 f.
30 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
70
Anand, New States and International Law (1972), S. 21, 33.
71
Anand, New States and International Law (1972), S. 33.
72
Anand, New States and International Law (1972), S. 27; das Gedicht von Kipling, The
White Man‘s Burden (1899) behandelt den Imperialismus der Vereinigten Staaten von
Amerika in den Philippinen.
73
Siehe Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of Internatio-
nal law, 15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 60.
74
Siehe Anand, New States and International Law (1972), S. 23 ff., 90.
75
Anand, New States and International Law (1972), S. 23.
76
Anand, New States and International Law (1972), S. 38 f.
II. Die Kolonialisierung31
It is interesting to note that most of the possessions were obtained by the European Powers
by the so-called ‘treaties’ of cession signed on their behalf by some adventurous explorers,
who established a few European companies, and the native chiefs who hardly understood
the meaning or import of those scraps of papers which they ‘crossed’ and through which
they sealed their future.77
Mit dieser Art Ungleicher Verträge beschäftigte sich auch Elias, dessen Verständ-
nis von der Geschichte der Kolonialisierung jenem Anands in vielerlei Hinsicht
ähnelte. In Bezug auf Ungleiche Verträge als Mittel der Kolonialisierung verdient
seine Position jedoch besondere Erwähnung. Elias sah nämlich selbst in der Praxis
der Kolonialisierung noch einen Beweis dafür, dass Europa die präkolonialen afri-
kanischen Staaten als gleichberechtigt-souveräne Partner betrachtete:78
Prior to the establishment of colonial administration, many local potentates had, as we have
seen, entered into numerous treaties most of which were understood as those of protection,
although such treaties invariably contained clauses for annexation or cession of territories
to the European Powers concerned. These local rulers were styled ‘kings’ before the exe-
cution of the treaties, but were often regarded or treated for particular purposes thereafter
as ‘chiefs’ only, thus implying that they had full sovereign powers to sign the treaties which
ipso facto turned them into subordinates of the new sovereigns deemed to be recognized
by the treaties in question. Yet, customary international law recognizes the validity of those
‘unequal treaties’.79
77
Anand, New States and International Law (1972), S. 32.
78
Siehe oben.
79
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 19.
80
Siehe hierzu unten, Teil II.
81
Siehe Teil II.
82
Anand, New States and International Law (1972), S. 25.
32 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
europäischen Staaten gedient.83 Anands Fazit über die Geschichte des Völkerrechts
in der Kolonialzeit fällt entsprechend knapp aus:
Might had indeed become right.84
Auf diese Erkenntnisse über und diese Sicht auf die Kolonialzeit, welche sich nicht
nur bei Anand, sondern auch bei vielen anderen zeitgenössischen Autoren aus der
Dritten Welt fanden, bauen heute die TWAIL II auf.85 Anands auf den Erkenntnissen
von Alexandrowicz aufbauende Analyse der Mechanismen der Zivilisierungsmis-
sion wurde von Anghie als Beleg für seine Theorie von der Dynamik des Unter-
schieds ausgebaut. Anghies Erklärungsansatz für die im Völkerrecht der Kolonial-
zeit wirkenden Mechanismen war in Anands Schriften freilich noch nicht enthalten;
doch eine Sensibilität für die Wirkung der Mechanismen bestand bereits. So findet
sich etwa Elias’ Analyse der Ungleichen Verträge bei Anghie fast identisch – wenn
auch ausführlicher dargestellt – wieder.86 Während Völkerrechtler in der Dritten
Welt damals und heute das 19. Jahrhundert als Epoche betrachteten bzw. betrachten,
in der das Völkerrecht allein durch Europäer zu ihrem eigenen Vorteil entwickelt
und genutzt wurde und der Positivismus als Feindbild gezeichnet wurde,87 kommen
neuere Untersuchungen zu einem anderen Ergebnis: So übten Völkerrechtler in der
Peripherie auch im 19. Jahrhundert Einfluss auf die Entwicklung des Völkerrechts
aus; hiernach wäre das Völkerrecht nicht rein europäisch geprägt, sondern hätte eine
„Mestizen-Herkunft“.88
83
Anand, New States and International Law (1972), S. 43.
84
Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of International law,
15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 59.
85
Siehe beispielsweise Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and
Individual Responsibility in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law
(2003), S. 77, 84; Schrijver, Sovereignty over Natural Ressources: Balancing Rights and
Duties (1997), S. 174 f.
86
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 65 ff.
87
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 9, 32 ff.
88
Becker Lorca, Mestizo International Law: A Global Intellectual History 1842-1933 (2014),
S. 33 ff.
III. Die Dekolonialisierung33
zur Dekolonialisierung und schließlich zu einer Mehrheit der ehemals als „unzivi-
lisiert“ geltenden Staaten in der Staatengemeinschaft geführt (3.), in der auch das
Projekt der Dritten Welt entstanden war (4.).89
1. Die Völkerbundära
Der erste Weltkrieg hatte zum Untergang des Osmanischen und des Österreichisch-
Ungarischen Reiches geführt und damit das Mächtegleichgewicht in Europa nach-
haltig erschüttert.90 Die Russische Revolution war vielen Kolonien zum Vorbild
geraten und hatte gleichzeitig die Regierungen des Westens für das Bedürfnis der
Kolonien nach stärkeren Mitwirkungsrechten sensibilisiert.91 Hinzu war zum Ende
des Ersten Weltkrieges die Proklamation des Selbstbestimmungsrechtes durch US-
Präsident Thomas Woodrow Wilson gekommen, der hiervon allerdings nur europäi-
sche Gebiete erfasst wissen wollte.92 Mit der Gründung des Völkerbundes nach dem
Ersten Weltkrieg sei, so Anand, zumindest wieder der Ansatz einer auf Universalität
angelegten Völkerrechtsordnung entstanden, die jedoch faktisch weiterhin von west-
licher Dominanz geprägt gewesen sei.93 Tatsächlich bot die Völkerbundsatzung die
institutionelle Grundlage für die Aufnahme afrikanischer und asiatischer Staaten in
den Völkerbund. Das Mandatssystem des Völkerbundes hatte jedoch mehr die Ver-
waltung der Mandatsgebiete bezweckt, als dass es deren Weg in die Unabhängigkeit
geebnet hätte.
Der Zweite Weltkrieg hatte die alten europäischen Staaten schließlich geschwächt
und ihre Überlegenheit und angebliche Zivilisierung in Frage gestellt. Gleichzeitig
hatte er in den Kolonien zwar zu herben Verlusten geführt; vielen Kolonialvölkern
wurde im Gegenzug für ihre Beteiligung am Krieg jedoch von den Kolonialmächten
die spätere Unabhängigkeit in Aussicht gestellt. Dies und auch die Tatsache, dass
der siegreiche Ausgang des Krieges mitunter auf ihrer Beteiligung beruhte, stärkte
das Selbstbewusstsein der Menschen in den Kolonien. Mit den Siegermächten USA
und Sowjetunion waren zwei Staaten, die zumindest den direkten Kolonialismus
ablehnten, zu den neuen Supermächten geworden. Auch diese bipolare Machtstruk-
tur hatte den Dekolonialisierungsprozess beschleunigt.94
89
Vgl. Anand, New States and International Law (1972), S. 24.
90
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 97.
91
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 139.
92
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 139.
93
Anand, New States and International Law (1972), S. 24.
94
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 97.
34 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
Das Ende des Zweiten Weltkrieges markierte aber noch nicht unmittelbar den Über-
gang vom Kolonialismus zur Dekolonialisierung; vielmehr sah die VN-Charta
weitgehend die Fortführung des unter dem Völkerbund errichteten Mandatssystems
vor, wobei der Treuhandrat der Vereinten Nationen die schrittweise Entlassung der
Treuhandgebiete in ihre Unabhängigkeit überwachte.95 Faktisch forcierten die Ver-
einten Nationen jedoch die Dekolonialisierung.96 Das Merkmal der Zivilisierung
als Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur Staatenfamilie, so Anand, sei unter der
Geltung der VN-Charta durch jenes der Friedensliebe ersetzt worden.97 Unter der
Geltung der VN-Charta bekamen die Unabhängigkeitsbemühungen in den Kolo-
nien außerdem rhetorischen Rückenwind durch das Selbstbestimmungsrecht der
Völker, welches nun von der VN-Charta explizit und ohne Beschränkung auf die
Staaten Europas anerkannt wurde.98 Indien wurde als prominenteste Kolonie Groß-
britanniens mit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1947 für viele andere Kolonien zum
Vorbild.99 In diesem politischen Klima gelang es immer mehr nationalen Befreiungs-
bewegungen, sich (wie insbesondere in den französischen Kolonien) teils gewalt-
sam (oder wie im Falle des Anschlusses der ehemaligen englischen Kolonien an das
Commonwealth auf Nations), teils geordnet von ihren Kolonialherren zu lösen und
formale Unabhängigkeit zu erlangen. Der starke Anstieg neuer Mitglieder der Staa-
tengemeinschaft lässt sich sehr plastisch an der Beteiligung ehemaliger Kolonien
und Protektorate an großen Staatenkonferenzen illustrieren: Bei der Kongokonfe-
renz in Berlin 1885 war unter den 14 teilnehmenden Staaten kein einziger Staat
Afrikas oder Asiens gewesen; bei den beiden Haager Konferenzen 1899 und 1907
waren es fünf von 27 bzw. 43 Staaten, bei der Gründung des Völkerbundes 1920
sechs von 45, bei der Gründung der Vereinten Nationen 1945 immerhin schon elf
95
Krämmerer, Colonialism, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2013),
Rn. 5. Für Anghie hatte das Mandatssystem die wesentlichen Strukturen des Kolonialismus
reproduziert und gleichzeitig neue Techniken für den Umgang mit kolonialen Problemen
entwickelt. Naturalismus, Positivismus und Pragmatismus seien allesamt von der Dynamik
des Unterschieds geprägt. Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International
Law (2008), S. 10 f., 115 ff., 195.
96
Krämmerer, Colonialism, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2013),
Rn. 5.
97
Artikel 4 UN-Charta. Das Merkmal der Zivilisierung, wie es nach wie vor etwa in Artikel
38 Absatz 1 c) IGH-Statut auftaucht, kann heute jedenfalls nicht mehr im Sinne einer christ-
lich-westlichen Zivilisierung verstanden werden. Anand, New States and International Law
(1972), S. 25.
98
Khan, Decolonization, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2013),
Rn. 3; zur Rolle des Selbstbestimmungsrechts zur Zeit des Völkerbundes siehe Prashad, The
Darker Nations: A People’s History of the Third World (2007), S. 21.
99
Gille, Politik, Staat und Nation in der Dritten Welt: Probleme des Nationalismus in den
Entwicklungsländern (2. Auflage 1971), S. 37.
III. Die Dekolonialisierung35
von 51 und im Jahr 1966 machten die 61 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen
aus Afrika und Asien bereits die Mehrheit der insgesamt 119 Mitglieder der Welt-
organisation aus.100
Für Völkerrechtler aus der Dritten Welt wie Anand und Elias war mit der Dekolo-
nialisierung eine neue, hoffnungsvolle Ära des Völkerrechts angebrochen.101 Anand
schrieb:
The Organization of the United Nations has become practically universal, open, to every
‘peace-loving’ state, ‘able and willing’ to carry out the Charter obligations (U.N. Charter,
Article 4). The democratization of the international society has become almost complete.102
Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Niederlage des Dritten Reiches fehlte es den
früheren Alliierten an einem gemeinsamen Feind, um die ideologischen Unter-
schiede zwischen den USA einerseits und der UdSSR andererseits zu überbrücken.
Der sowjetische Kommunismus war in Konkurrenz zu dem kapitalistischen System
in den Vereinigten Staaten von Amerika getreten. Ausgehend von der Proklamation
der Truman-Doktrin 1947 vor dem Hintergrund der Irankrise ließen die Berlin-Blo-
ckade 1948 bis 1949 sowie die Kubakrise 1962 trotz zeitweiliger Phasen der Entspan-
nung den Graben zwischen Ost und West stetig tiefer werden und führten zu einem
Wettrüsten zwischen den Großmächten. Der eiserne Vorhang teilte jedoch nicht nur
Europa; Stellvertreterkriege auf der ganzen Welt machten den Kalten Krieg ebenso
zum zentralen globalen Konflikt wie die weltweite Angst vor einem drohenden Atom-
krieg zwischen den USA und der Sowjetunion mit kaum abschätzbaren Ausmaßen.104
Von den Konflikten des Kalten Krieges überlagert, erstritten viele ehemalige
Kolonien nun ihre Unabhängigkeit. Die neuen Staaten waren jedoch durch ihre Zeit
unter Kolonialherrschaft schwer gezeichnet und sahen sich innerstaatlich mit großen
wirtschaftlichen, sozialen und politischen Herausforderungen konfrontiert. Die
100
Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967), S. 25.
101
Siehe hierzu unten, Kapitel 4.
102
Anand, New States and International Law (1972), S. 25.
103
McMahon, Introduction, in ders. (Hrsg.), The Cold War in the Third World (2013), S. 1, 1.
104
Dülffer, Europa im Ost-West-Konflikt 1945-1991 (2004), S. 4.
36 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
Eben dieser Machtgewinn erschwerte für die ehemaligen Kolonien die Wahl zwi-
schen östlichem und westlichem Lager: Während der Sozialismus eine große
105
France, Le Lys Rouge (1894), S. 118.
106
Francis, Uniting Africa: Building Regional Peace and Security Systems (2006), S. 33 ff.
107
McMahon, Introduction, in McMahon (Hrsg.), The Cold War in the Third World (2013),
S. 1, 2.
108
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 98.
109
Anand, New States and International Law (1972), S. 87.
110
McMahon, Introduction, in McMahon (Hrsg.), The Cold War in the Third World (2013), S. 1, 4.
III. Die Dekolonialisierung37
ideologische Anziehungskraft auf viele neue Staaten ausübte, versprach das kapi-
talistische System vor allem wirtschaftliche Prosperität.111 Ausgehend von ihren
Unabhängigkeitsbestrebungen entwickelten sich in den neuen Staaten außerdem
starke nationalistische Strömungen, welche von panafrikanischen, panasiatischen,
panbuddhistischen, panislamischen, panarabischen und panlateinamerikanischen
Strömungen überlagert wurden.112
111
McMahon, Introduction, in McMahon (Hrsg.), The Cold War in the Third World (2013),
S. 1, 8.
112
Schröder, Die Konferenzen der „Dritten Welt“: Solidarität und Kommunikation zwischen
nachkolonialen Staaten (1968), S. 43 ff.
113
Vgl. Gille, Politik, Staat und Nation in der Dritten Welt: Probleme des Nationalismus in
den Entwicklungsländern (2. Auflage 1971), S. 50 ff.
114
Khan, Group of 77 (G77), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2011), Rn. 5;
McMahon, Introduction, in ders. (Hrsg.), The Cold War in the Third World (2013), S. 1, 6, 8.
115
Schröder, Die Konferenzen der „Dritten Welt“: Solidarität und Kommunikation zwischen
nachkolonialen Staaten (1968), S. 209 ff.
116
Zum entwicklungspolitischen Konzept des „Dritten Weges“ siehe Nohlen, Dritter Weg, in
ders. (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organisationen, Theorien, Begriffe, Perso-
nen, (1985), S. 150 f.
117
Staats- und Regierungschefs, die sich wie Jawaharlal Nehru und Gamal Abdel Nasser der
Lagermentalität verwehrten, verwendeten statt des Begriffs der Dritten Welt Bezeichnungen wie
Bewegung blockfreier Staaten, Gruppe der 77 oder nannten konkret die betroffenen Staaten oder
Kontinente. Prashad, The Darker Nations: A People’s History of the Third World (2007), S. 13.
38 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
gleichsam von dritter Seite in die Weltöffentlichkeit traten.118 Bereits diese Begriffs-
herkunft legt nahe, dass sich die Blockfreiheit nicht als einziges Kriterium des Begrif-
fes Dritte Welt durchsetzen konnte, sondern vielmehr der gemeinsame Kampf gegen
wirtschaftliche Unterentwicklung in den Fokus geraten musste. Mit der Belgrader
Konferenz 1961 dehnte sich die Dritte Welt sowie die Bewegung blockfreier Staaten
auch auf Staaten Lateinamerikas aus.119 Gleichzeitig erfuhr der Begriff notwendig
eine Öffnung, da Lateinamerika keineswegs blockfrei, sondern über den Rio-Pakt
an den Westen angeschlossen war.120 Dem lag zum einen ein weiteres Verständnis
der Blockfreiheit (wie etwa das Konzept des „positiven Neutralismus“, mit welchem
beispielsweise Ägyptens Premier Nasser eine enge Blockbindung Ägyptens erklärte)
zugrunde, zum anderen traten in den 1960er-Jahren verstärkt wirtschaftliche Fragen
in den weltpolitischen Vordergrund.121 In diesem Kontext entstand auch die Gruppe
der 77 bei der ersten Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung
(United Nations Conference on Trade and Development, kurz UNCTAD).122 In dieser
Ausdehnung einten die Dritte Welt als geopolitisches Konzept insbesondere Ent-
wicklungsdefizite sowie eine koloniale Vergangenheit.123
Tatsächlich bestand in bestimmten Punkten große Einigkeit zwischen den
Staaten der Dritten Welt: So hatten sie den Goa-Zwischenfall, also die gewaltsame
Befreiung Portugiesisch-Goas durch Indien, einhellig begrüßt, ebenso wie sie die
Apartheidpolitik Südafrikas oder Atombombenversuche ablehnten und die Schaf-
fung einer neuen Weltwirtschaftsordnung forderten.124 Im Gegensatz zu der von den
118
Sauvy, Trois mondes, une planète, L’Observateur (14. August 1952). Viele Autoren führen
den Begriff Dritte Welt auf Sauvy zurück, vgl. Prashad, The Darker Nations: A People’s
History of the Third World (2007), S. 10 ff.; Bedjaoui, Towards a New International Econo-
mic Order (1979), S. 25; Wolf-Phillips, Why “Third World”: Origin, Definition and Usage, 9
Third World Quarterly (1987), S. 1311, 1311. Popularität erlangte der Begriff mit Fanon, Die
Verdammten dieser Erde (1961, Nachdruck 1981). Der Begriff „Dritte Welt“ ist in Frankreich
zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches jedoch bereits gebräuchlich gewesen. So
belegt Worsley seine Verwendung im Jahr 1949 im Zusammenhang mit der versuchten Eta-
blierung einer innenpolitischen Oppositionspolitik in Frankreich, die sich gegen die rechten
Parteien wenden, jedoch von der Politik der kommunistischen Partei unabhängig sein sollte.
Diese Idee wurde auf die internationale Ebene übertragen, vgl. Worsley, How Many Worlds?,
1(2) Third World Quarterly (1979), S. 100, 101.
119
Vgl. Prashad, The Darker Nations: A People’s History of the Third World (2007), S. 13.
120
Nohlen/Nuscheler, „Ende der Dritten Welt?“, in dies. (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt,
Band 1: Grundprobleme – Theorien – Strategien (3. Auflage 1992), S. 17.
121
Nohlen/Nuscheler, „Ende der Dritten Welt?“, in dies. (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt,
Band 1: Grundprobleme – Theorien – Strategien (3. Auflage 1992), S. 17.
122
Siehe Cutajar, Editor’s Note, in Cutajar (Hrsg.), UNCTAD and the South-North Dialogue:
The First Twenty Years: Essays in memory of W. R. Malinowski (1985), S. viii; Khan, Group
of 77 (G77), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2011), Rn. 1 ff.
123
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 26.
124
Wright, The Goa Incident, 56 American Journal of International Law (1962), S. 617 ff.;
Khan, Group of 77 (G77), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2011),
Rn. 8. Zur Neuen Weltwirtschaftsodnung siehe Kapitel 4 und Teil III.
III. Die Dekolonialisierung39
125
Gille, Politik, Staat und Nation in der Dritten Welt: Probleme des Nationalismus in den Ent-
wicklungsländern (2. Auflage 1971), S. 53 ff. Sie hierzu insbesondere unten Teil II und Teil III.
126
Vgl. Gille, Politik, Staat und Nation in der Dritten Welt: Probleme des Nationalismus in
den Entwicklungsländern (2. Auflage 1971), S. 53 ff.
127
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1194, ILC-Yearbook (1972, I), S. 254, 256, Rn. 25.
128
Siehe unten, Kapitel 3.
129
Vgl. Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual
Responsibility in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 81.
130
Zum letzten Punkt siehe unten, Kapitel 4.
131
Vgl. Álvarez, Latin America and International Law, 3 American Journal of International
Law (1909), S. 269 ff.
132
Sie hierzu insbesondere Teil II und Teil III.
40 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
der Dritten Welt stellten dabei jedoch unverhohlene Parteinahmen für ihre Heimat-
staaten oder die Dritte Welt dar oder ließen auf Anhieb ein klares Projekt erkennen.
Bei den Ausnahmen handelte es sich vornehmlich um das Schrifttum von Völker-
rechtlern aus ehemaligen französischen Kolonien, die ihre nationale Unabhängig-
keit hatten hart erkämpfen müssen und sich vor diesem Hintergrund nicht scheuten,
sondern geradezu in der Pflicht sahen, klar und offen eine rechtspolitische Position
zu beziehen.133 Völkerrechtler aus früheren britischen Kolonien bezogen hingegen
in ihren Publikationen oft nicht unmittelbar selbst Stellung, sondern versuchten
zumindest vordergründig, neutral die Positionen der Dritten Welt zu verschiedenen
Völkerrechtsgebieten zu schildern. Sie gaben ihre Arbeiten als unabhängige Unter-
suchungen aus, gelangten durch den Fokus ihrer Forschung auf die ehemaligen
Kolonien dabei in der Regel jedoch zu dem Ergebnis, dass die Position der Dritten
Welt die richtige, rechtskonforme sei; insofern waren diese Schriften durchaus par-
teiliche Plädoyers. Gleichzeitig versuchten die Völkerrechtler aus den neuen Staaten
durch die Erforschung der Ansichten der Regierungen ihrer Heimatländer auch
deren politische Positionen zu plausibilisieren und ihre Gemeinsamkeiten heraus-
zuarbeiten. Damit stand ihre Arbeit im Zeichen der Idee der Existenz einer kohären-
ten Dritten Welt an und für sich. Zum Teil bezogen Völkerrechtler auf diese Weise
jedoch auch Position gegen die Dritte Welt: Dies geschah zum einen dort, wo sie als
Advokaten ihrer Heimatländer deren nationale Interessen über jene der Dritten Welt
als Ganzes setzten. Zum Teil gab es jedoch auch in den neuen Staaten Völkerrecht-
ler, welche die Auffassung ihrer Heimatregierung in bestimmten Belangen nicht
teilten bzw. für nicht kohärent hielten und die daher von dieser abwichen oder sich
zumindest nicht für diese stark machten.134 Solche Völkerrechtler mögen durch ihre
persönliche Laufbahn so stark vom Westen geprägt gewesen sein, dass sie dessen
völkerrechtliche Positionen und Narrative zu großen Teilen übernahmen, und ihnen
mag es zumindest im Einzelfall auch wichtiger gewesen sein, ihre wissenschaftliche
Reputation auszubauen und von westlichen Völkerrechtlern anerkannt zu werden,
als eine originäre Dritte-Welt-Position zu vertreten.135
133
Bedjaoui trat beispielsweise in Towards a New International Economic Order (1979) offen
als Anwalt für die Sache der Dritten Welt auf. Eine deutlichere persönliche Positionierung
der Völkerrechtler in der Dritten Welt als in ihrem Schrifttum fand jedoch in der ILC statt,
was mit deren Rolle als Experten Gremium zu erklären ist. Siehe dazu unten, Teil II.
134
Ein Beispiel hierfür bildet Elias, The Modern Law of Treaties (1974). Die darin enthaltene
Schilderung steht im Kontrast zur offiziellen Position Nigerias bezüglich der sogenannten
„Ungleichen Verträge“, siehe unten, Teil II. In Africa and the Development of International
Law (1972) waren Elias’ Forschungsfeld und auch seine Positionen z. B. zur Geschichte
des Völkerrechts jedoch wieder erkennbar jene eines Völkerrechtler aus einer ehemaligen
Kolonie.134 Des Weiteren unterschied sich die Position mancher Völkerrechtler in der
Dritten Welt in der Souveränitätsfrage wesentlich von der ihrer Heimatländer, siehe unten.
135
So beschreibt beispielsweise Carl Landauer die Ansichten und Sprache von Elias als zahm,
siehe Landauer, Things Fall Together: The Past and Future Africas of T. O. Elias‘s Africa
and the Development of International Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008),
S. 351, 356 f.
Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte
in Folge der Kritik der Völkerrechtler
aus der Dritten Welt an der etablierten
Völkerrechtsordnung
Die im zweiten Kapitel geschilderte Weise, auf welche Völkerrechtler in der Dritten
Welt die vorkoloniale Zeit, den Kolonialismus und die Dekolonialisierung erlebt
hatten, prägte die Einstellung dieser Autoren grundlegend. Sie entwickelten eine
Kritik gegenüber der etablierten Völkerrechtsordnung (I.) und stellten in Folge
dessen deren Verbindlichkeit für die neuen Staaten in Frage (II.).
1
Gille, Politik, Staat und Nation in der Dritten Welt: Probleme des Nationalismus in den Ent-
wicklungsländern (2. Auflage 1971), S. 40.
Diese Aussage erfasst, wie im zweiten Kapitel gezeigt wurde, einige der wesentli-
chen Beweggründe für die historisierende Sichtweise der Völkerrechtler in der Dritten
Welt, lässt aber den vielleicht wichtigsten Grund aus: Die koloniale Geschichte des
Völkerrechts wirkte sich für diese Autoren nämlich unmittelbar auf die etablierte
Völkerrechtsordnung aus. Die Völkerrechtler in der Dritten Welt betrachteten das
Völkerrecht als europäisches Produkt (1.). Darüber hinaus kritisierten Völkerrechtler
wie Anand die etablierte Völkerrechtsordnung vor dem Hintergrund ihrer Genese auf
der Grundlage von soziologisch inspirierten Überlegungen (2.). Eine umfassende
sozialistische Theoriebildung legte demgegenüber Mohammed Bedjaoui vor (3.).
Ausgangspunkt der Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt war deren Ansicht,
dass eine Vielzahl von Normen, die zu diesem Zeitpunkt völkerrechtlich etabliert
waren, in der Zeit des Kolonialismus entstanden war. Elias führte aus, dass sich
beispielsweise das Gewohnheitsrecht in dieser Periode gerade auch auf Grund der
Veränderungen in Afrika entwickelt habe, dass dieser Rechtssetzungsprozess aber
zwischen europäischen Regierungen und unter Ausschluss der afrikanischen Enti-
täten stattgefunden habe.2 Für Anand war die etablierte Völkerrechtsordnung nach
der Dekolonialisierung daher nach wie vor ein Recht der europäischen Herrscher
über die nicht-europäischen Beherrschten, das sich an europäischen Bedürfnissen
und Verhältnissen der Kolonialzeit orientierte.3 Auch viele andere Völkerrechtswis-
senschaftler in der Dritten Welt attestierten der etablierten postkolonialen Völker-
rechtsordnung damit eine christlich-europäische Herkunft.4
Bereits in den späten 1950er-Jahren und damit einige Jahre vor den ersten Veröf-
fentlichungen von Völkerrechtlern in den neuen Staaten zu diesem Thema hatte eine
Reihe westlicher Völkerrechtler eine ganz ähnliche Diagnose zur Herkunft des Völker-
rechts gestellt. Der britische Völkerrechtler C. Wilfred Jenks etwa machte angesichts
der Veränderungen des Völkerrechts nach dem Zweiten Weltkrieg eine Entwicklung
vom Recht zwischen Staaten zu einem gemeinsamen Recht der Menschheit aus, die
jedoch noch nicht vollständig abgeschlossen sei.5 Den Grund für die Unvollständigkeit
dieser Entwicklung sah Jenks in der europäischen Herkunft der Völkerrechtsordnung:
2
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 21.
3
Anand, New States and International Law (1972), S. 25, 43.
4
Roy, Is the Law of Responsibility of States for Injuries to Aliens a Part of Universal Inter-
national Law?, 55 The American Journal of International Law (1961), S. 863, 865; Abi-Saab,
The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline, 8 Howard
Law Journal (1962), S. 95, 99; García-Amador, The Proposed New International Econo-
mic Order: A New Approach to the Law Governing Nationalization and Compensation, 12
Lawyer of The Americas (1980), S. 1, 5 ff.; Castañeda, The Underdeveloped Nations and the
Development of International Law, 15 International Organization (1961), S. 33.
5
Jenks, The Common Law of Mankind (1958). Siehe hierzu ausführlich unten.
I. Die Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt an der etablierten Völkerrechtsordnung43
We clearly cannot reconcile with either the existence or the needs of such a community
approaches to the law of nations which, in the manner of so many of our predecessors, con-
ceive of the law as being essentially a product of Western European civilization.6
Now there is one truth that is not open to denial or even to doubt, namely, that the actual
body of international law, as it stands today, is not only the product of the conscious activity
of the European mind, but has also drawn vital essence from a common source of European
beliefs, and in both of these aspects it is mainly of Western European origin.7
There is no doubt about it: the traditional law of nations is a law of European lineage.8
6
Jenks, The Common Law of Mankind (1958), S. 65.
7
Verzijl, International Law in Historical Perspective, Band 1 (1968), S. 435 f.
8
Röling, International Law in an Expanded World (1960), S. 10.
9
Kaltenborn beschreibt, in welchen Ländern der völkerrechtswissenschaftliche Diskurs um
Entwicklungsvölkerrecht und Nord-Süd-Problematik besonders intensiv waren: Nämlich in
der französischsprachigen Literatur (Frankreich und Nordafrika), der Dritten Welt, den Nie-
derlanden, Österreich und Deutschland, während der angloamerikanische und spanischspra-
chige Raum sich wenig an der Debatte beteiligten. Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht und
Neugestaltung der internationalen Ordnung: Rechtstheoretische und rechtspolitische Aspekte
des Nord-Süd-Konflikts (1998), S. 20 f. In Bezug auf die Bildungsdebatte ist diese Aussage
dahingehend zu modifizieren, dass sich hier vermehrt anglo-amerikanische Literatur findet,
die von Autoren in der Dritten Welt auch deutlich stärker rezipiert wurde als jene von Autoren
in Frankreich, Deutschland und Österreich. Daneben spielten auch die durch die sowjetische
Literatur vermittelten Positionen eine Rolle.
10
Jessup, Non-Universal International Law, 12 Columbia Journal of International Law
(1973), S. 415, 419.
11
Jessup, Non-Universal International Law, 12 Columbia Journal of International Law
(1973), S. 415, 419.
12
Jessup, Non-Universal International Law, 12 Columbia Journal of International Law
(1973), S. 415, 419 f.
44 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler…
Die Dekolonialisierung wurde zwar von allen Autoren in der Dritten Welt als Mei-
lenstein in der Geschichte des Völkerrechts gewertet;13 die etablierte Völkerrechts-
ordnung hatte sich dadurch nach ihrem Dafürhalten jedoch noch nicht grundlegend
verändert. Vielmehr folgte aus der Genese der etablierten Völkerrechtsordnung
deren koloniale Prägung, wie Anand schrieb:
Thus even a cursory look at the history of international law leaves no doubt about the
Eurocentric nature of this law developed by and for the benefit of the rich, industrial, and
powerful states of Western Europe and the United States.14
The present body of international law is, therefore, naturally affected by the power inter-
ests of the last and the early part of the present century and is to a great extent a legacy
of the age of colonialism and imperialism. This law was meant to serve the interests of a
limited number of powerful states and was supposed to be applicable between themselves
in their relations with each other. The vast majority of peoples had neither any voice nor
any right and were meant to be exploited and, if necessary, colonized to serve the interests
of their masters.15
Viele Völkerrechtler in der Dritten Welt zur Zeit der Dekolonialisierung vertraten
wie Anand die aus der Rechtssoziologie herrührende Ansicht, dass Veränderungen
in der Gesellschaft das Recht beeinflussten, welches umgekehrt auf die Gesellschaft
zurückwirkte.17 Hierbei waren sie beseelt von den Schriften westlicher Völkerrecht-
ler ganz unterschiedlicher Prägung, die sich einer soziologisch inspirierten Metho-
dik zugewendet hatten. Während etwa in den USA vor dem Zweiten Weltkrieg
noch positivistische Strömungen dominant und naturrechtliche in der Minderheit
13
Siehe dazu oben, Kapitel 2.
14
Anand, New States and International Law (1972), S. 45.
15
Anand, New States and International Law (1972), S. 114.
16
Anand, New States and International Law (1972), S. 25.
17
Vgl. Stone, Lehrbuch der Rechtssoziologie, Band I (1976), S. 15.
I. Die Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt an der etablierten Völkerrechtsordnung45
gewesen waren, schienen beide Ansätze nach 1945 nicht mehr erstrebenswert, da
sie weithin als gefährlich (so der Positivismus) oder als illusorisch (so das Natur-
recht) angesehen wurden.18 Der Formalismus des 19. Jahrhunderts wich einem
eklektischen Pragmatismus, der sich Argumente verschiedenster Seiten bediente.19
Zu dieser Zeit waren in der Rechtswissenschaft im Allgemeinen interdisziplinäre
Ansätze besonders populär; so entwickelte beispielsweise in Harvard der Kreis
um den Juristen Roscoe Pound unter Zuhilfenahme der Politikwissenschaften, der
Soziologie und der Internationalen Beziehungen eine sogenannte „soziologische
Jurisprudenz“.20 Dieser Trend zur interdisziplinär informierten Rechtswissenschaft
wurde in der Nachkriegszeit von diversen Völkerrechtswissenschaftlern aufgegrif-
fen. Diese interdisziplinär ausgerichteten, von Autoren aus der Dritten Welt als pro-
gressiv eingeschätzten Völkerrechtler21 wollten das Völkerrecht stärker mit seinem
politischen Kontext verknüpfen und erblickten im Recht weniger Regelungen, denn
funktionale Prozesse.22 So beschrieb mit Röling einer der Vertreter dieser Strömung
deren Ansatz folgendermaßen:
It tries, on the basis of the sociological situation, to understand international law in terms of
social ends resulting from present facts and present value-judgments.23
18
Kennedy, The Twentieth-Century Discipline of International Law in the United States, in
Sarat/Garth/Kagan, Looking Back at Law’s Century (2002), S. 386, 402; Lachenmann, Legal
Positivism, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2011), Rn. 22. Eine anti-
formalistische Entwicklung war in dieser Zeit in der gesamten Rechtswissenschaft auszuma-
chen, siehe Stone, Lehrbuch der Rechtssoziologie, Band I (1976), S. 20 f.; Nach dem Zweiten
Weltkrieg erlebt der Naturalismus jedoch zumindest in der deutschsprachigen Jurisprudenz
eine Renaissance, vgl. Scheuner, Naturalistische Strömungen im heutigen Völkerrecht, 13
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (1950/1951), S. 556, 556 ff.;
Peters, Die Zukunft der Völkerrechtswissenschaft: Wider den epistemischen Nationalismus,
67 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (2007), S. 721, 728.
19
In den 1960er-Jahren hatten sich zwei Schulen herausgebildet, die sowohl Positivismus
als auch Naturrecht in ihrer früheren Form überwunden hatten: Der realistische, antifor-
malistische policy-approach von McDougal/Lasswell von der Yaler New Haven School
und die dominantere Strömung um Louis Henkin und Oscar Schachter an der Columbia
School, welche weniger antiformalistisch vorging und in neutrale, humanistische Normen
als Grundlage der Weltgemeinschaft vertraute. Kennedy, The Twentieth-Century Discipline
of International Law in the United States, in Sarat/Garth/Kagan, Looking Back at Law’s
Century (2002), S. 386, 386, 403; Koskenniemi, International Legal Theory and Doctrine,
Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007), Rn. 10.
20
Siehe Pound, Jurisprudence, Band I (1959, Nachdruck 2008), S. 291 ff. Vgl. hierzu auch
Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argument
(2005), S. 612.
21
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 83 f.
22
Slaughter, International Law and International Relations Theory: A Dual Agenda, 87 Ame-
rican Journal of International Law (1993), S. 205, 209.
23
Röling, International Law in an Expanded World (1960), S. 4.
46 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler…
Dabei hatte für Röling alles Recht und so auch das europäisch geprägte Völker-
recht die Tendenz, den Interessen der Mächtigen in der jeweiligen Gesellschaft
zu dienen.24 Der deutsch-amerikanische Völkerrechtler Wolfgang G. Friedmann
betonte mehr die Bedeutung das Rechts als Instrument sozialer Ordnung; eine
Funktion, die das Recht nur dann erfüllen könne, wenn es mit gesellschaftlichen
Veränderungen schritthalte.25 Der US-amerikanische Philosoph F. S. C. Northrop
beschrieb, wie sich im Rechtssystem eines jeden Staates dessen spezifische, kul-
turell geprägte Ideologie manifestiere, da ein Staat nur dann Bestandskraft habe,
wenn sich die darin aufgehende Gesellschaft auf bestimmte gemeinsame Normen
einigen könne.26 Für diese ideologischen Prinzipien entlieh Northrop von dem
österreichisch-ungarischen „Begründer der Rechtssoziologie“27 Eugen Ehrlich den
Begriff des lebenden Rechts:28
No nation will ever accept, nor should it ever accept, any positive legal decision by any legal
body that violates its own indigenous living law norms.29
24
Röling, International Law in an Expanded World (1960), S. 15.
25
Friedmann, Law in a Changing Society (1959), S. ix. Friedmann teilte das Völkerrecht nach
seinem Inhalt sowie seiner zeitlichen Entstehung in zwei Bereiche auf, nämlich das Koexis-
tenzrecht und das Kooperationsrecht. Unter Koexistenzrecht fasste er die klassischen völker-
rechtlichen Normen wie etwa das Diplomatenrecht, welches durch negative Verhaltensnor-
men das Nebeneinander der Staaten ohne Rücksicht auf deren politische, gesellschaftliche
und wirtschaftliche Strukturen regelt. Das Kooperationsrecht meinte demgegenüber solche
Normen, durch die Staaten im Rahmen einer positiven Zusammenarbeit gemeinsame Ziele
aktiv verfolgen, wie beispielsweise die Steigerung des Wohlstandes. Friedmann, The Chan-
ging Structure of International Law (1964), S. 60 ff.
26
Northrop, The Taming of the Nations (1952), S. 3.
27
Vgl. Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich (1967).
28
Northrop, The Taming of the Nations (1952), S. 5; Ehrlich, Fundamental Principles of the
Sociology of Law (1936).
29
Northrop, The Taming of Nations (1952), S. 269.
30
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 18.
31
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 16.
32
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 31.
I. Die Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt an der etablierten Völkerrechtsordnung47
unzulässige Politisierung des Rechts vorgeworfen.33 Aus Sicht der Völkerrechtler in den
neuen Staaten öffneten sie jedoch die völkerrechtswissenschaftliche Debatte für Kate-
gorien wie die Zumutbarkeit und Effektivität des Völkerrechts, die für sie gerade in der
Bindungsdebatte essentiell werden sollten.34 Die ganz verschiedenartigen, soziologisch
inspirierten Theorienansätze im Völkerrecht stilisierten Autoren in der Dritten Welt zu
einer „soziologischen Jurisprudenz“ hoch, um ihnen mehr Gewicht zu verleihen.35
Für soziologisch inspirierte Autoren musste die Struktur der Internationalen
Gemeinschaft mit jener der Völkerrechtsordnung korrespondieren, um effektiv zu
sein. Die etablierte Völkerrechtsordnung war für Autoren wie Anand nach wie vor
kolonial; die gesellschaftlichen Strukturen hatten sich durch die Dekolonialisierung
aus ihrer Sicht jedoch grundlegend gewandelt:36 So bildeten die ehemaligen Kolo-
nien nun die Mehrheit der Staatengemeinschaft. Diese hätten neue Bedürfnisse,
denen sich das Völkerrecht anpassen müsse:
[A] law which does not change with the changing life becomes dead driftwood. As we have
already said, the world has changed more in our times than ever before. Law in order to
remain effective must change with the changing society. International law which developed
in a different age, under different circumstances, to fulfil different needs cannot but be affec-
ted by these changes. It must adapt itself to the new age, new circumstances, new needs.
But we submit that international law is not a collection of static, never changing rules; it is a
process. It is not something in existence in perpetuity, it is a perpetual becoming.37
Aus Perspektive der soziologisch inspirierten Völkerrechtler wie Anand war die eta-
blierte Völkerrechtsordnung also auf Grund ihrer Orientierung an und Ausrichtung
auf den Kolonialismus in der Zeit der Dekolonialisierung überholt.38 Der ägyptische
Völkerrechtler Georges Abi-Saab39 setzte dementsprechend jede Forderung nach
der Aufrechterhaltung der etablierten Völkerrechtsordnung der Forderung nach der
Aufrechterhaltung des Kolonialismus gleich:
33
Kunz, The Changing Science of International Law, 56 American Journal of International
Law (1962), S. 488, 494. Josef L. Kunz war ein Schüler von Hans Kelsen.
34
Siehe hierzu unten, Kapitel 4.
35
Siehe beispielsweise Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of Internatio-
nal Law: An Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 103; Landauer, Things Fall Toge-
ther: The Past and Future Africas of T. O. Elias's Africa and the Development of International
Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 351, 351. Vgl. zu den methodischen
Gemeinsamkeiten dieser unterschiedlichen Autoren auch Koh, Why Do Nations Obey Inter-
national Law?, 106 Yale Law Journal (1996/1997), S. 2599, 2620.
36
Anand, New States and International Law (1972), S. 46.
37
Anand, New States and International Law (1972), S. 72.
38
Anand, New States and International Law (1972), S. 46.
39
Das ethnisch homogene Ägypten war bis 1922 britisches Protektorat; die Landesvertei-
digung und der Schutz ausländischer Interessen wurden aber auch danach noch durch die
Briten besorgt. In Folge eines Militärputschs im Jahr 1952 wurde der nationalistische und
panarabische Nasser zum neuen Führer Ägyptens, der die vollständige Unabhängigkeit des
Landes erkämpfte, sich der Verwirklichung eines „arabischen Sozialismus“ verschrieb und
zur Schlüsselfigur in der Bewegung der Blockfreien wurde. Ägypten und Nasser sollten zu
48 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler…
But every legal system protects a certain structure of power. A defense of a legal system is
a defense of the political system it consecrates.40
Die TWAIL II differenzieren heute zwischen einer schwachen („weak“) und einer
starken („strong“) Tradition der Völkerrechtswissenschaft nach dem Zweiten Welt-
krieg in der Dritten Welt.41 Die „schwache“ Völkerrechtswissenschaft ist dabei für
Gathii „weak in the sense that his scholarship primarily provides a cultural rather
a structural (economic) critique of international law and relations.“42 Autoren wie
Anand, Abi-Saab oder Elias würden auf Grund ihrer soziologisch inspirierten Kritik
am Eurozentrismus der etablierten Völkerrechtsordnung von Autoren der TWAIL II
heute zu der „schwachen“ Tradition der ersten Generation von Völkerrechtlern in
der Dritten Welt gezählt werden.
Dem gegenüber gab es in dieser Zeit auch eine radikalere, stärker vom Sozialis-
mus in Frankreich und Afrika geprägte Strömung, welche die TWAIL II heute als
„starke“ Tradition der ersten Generation von Völkerrechtlern in der Dritten Welt
Schauplatz und Protagonist der berüchtigten Suezkrise werden: Als Nasser im Jahr 1956 die
britisch-französische Suezkanal-Gesellschaft, welche seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf der
Grundlage von Konzessionsvereinbarungen für den Erdöltransport wichtige Wasserwege in
Ägypten erschlossen und genutzt hatte, verstaatlichte, wollte eine Allianz aus Großbritan-
nien, Frankreich und Israel Nasser stürzen und die Kontrolle über den Kanal zurückgewin-
nen, was jedoch durch das Einschreiten der USA und der UdSSR verhindert wurde. Dieser
Konflikt stärkte die Rolle Ägyptens in der Dritten Welt letztlich. Mattes, Ägypten, in Nohlen
(Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organisationen, Theorien, Begriffe, Personen
(1985), S. 22-25; Kotthaus, Nasser, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder,
Organisationen, Theorien, Begriffe, Personen (1985), S. 420; Pfeil, Die Suezkrise, 17/18
Aus Politik und Zeitgeschichte (2006), S. 32 ff. Abi-Saab wurde 1933 in Kairo geboren,
wo er auch sein Studium der Rechtswissenschaften begann. Der Schüler von Abdullah El-
Erian studierte außerdem in Paris, Michigan, Harvard, Cambridge, Genf und Den Haag. Er
vertrat Ägypten auf verschiedenen internationalen Konferenzen und vor dem internationalen
Gerichtshof, an dem er auch als ad hoc-Richter tätig war. Abi-Saab war Richter des Inter-
nationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien und des Internationalen Straf-
gerichtshofs für Ruanda, des Verwaltungsgerichts des Internationalen Währungsfonds sowie
des Appellate Body der Welthandelsorganisation. Daneben hatte Abi-Saab eine Völkerrechts-
professur in Genf inne. Siehe hierzu Terris/Romano/Swigart, The International Judge: An
Introduction to the Men and Women Who Decide the World’s Cases (2007), S. 131 ff.
40
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 101.
41
Gathii, International Law and Eurocentricity, 9 European Journal of International Law
(1998), S. 184 ff.
42
Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale Elias, 21
Leiden Journal of International Law (2008), S. 317, 318 f.
I. Die Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt an der etablierten Völkerrechtsordnung49
43
Vgl. Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale
Elias, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 317, 318 f.
44
Mattes, Algerien, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organisationen,
Theorien, Begriffe, Personen (1985), S. 29 ff.
45
Özsu, „In the interests of mankind as a whole“: Mohammed Bedjaoui’s New International
Economic Order, 6 Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism,
and Development (2015), S. 129, 130 ff.; Yakpo/Boumedra (Hrsg.), Liber Amicorum Judge
Mohammed Bedjaoui (1999), S. 2 ff.; Who’s Who in the United Nations and Related Agen-
cies (1975), S. 48.
50 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler…
wie Georges Scelle, Léon Bourgeois und Léon Duguit im Kontakt gekommen.46
Diese Variante der soziologisch inspirierten Jurisprudenz war etwas radikaler als
jene in den USA und dem Rest Europas und betrachtete die menschliche Solidarität
als Grundlage von Gesellschaft und Recht.47 Dabei ging sie von einem komplexen
und wenig formalistischem Verhältnis zwischen Recht und Gesellschaft aus.48 Bed-
jaoui war außerdem von verschiedensten Varianten des (teils neo-marxistischen)
Sozialismus geprägt, wobei er seine Position jedoch wesentlich von der sozialisti-
schen Utopie der UdSSR abgrenzte.49 Von diesem theoretischen Hintergrund aus-
gehend kritisierte Bedjaoui die imperialistische Struktur sowie den Formalismus
der etablierten Völkerrechtsordnung. In seinem provokanten Buch Towards a New
International Economic Order aus dem Jahr 197950 bezeichnete er die internatio-
nale Ordnung nach der Dekolonialisierung als eine fehlgesteuerte „Un-Ordnung“.
Er schrieb:
The historical and political reasons for the present disorder can be mainly expressed in
terms of imperialism, colonialism and neo-colonialism. Dependence, exploitation, the
looting of the resources of the Third World, and the introduction of zones of influence, have
marked international relations with ‘organized’ or ‘institutionalized’ disorder. The cruel,
inhuman law of maximum profit has finally succeeded in establishing disorder, with the
Faustian power of multinational firms, the gigantism of military-industrial complexes, and
the ecological disaster.51
Bereits dieses Zitat legt nahe, dass Bedjaoui zwar ein ähnliches Geschichtsverständ-
nis wie z. B. Anand hatte,52 für ihn jedoch ökonomische Beherrschungsverhältnisse
noch stärker im Vordergrund standen. Für Bedjaoui war die Geschichte der Interna-
tionalen Beziehungen eine von Hierarchien und Ungleichheiten geprägte Geschichte
46
Özsu, „In the interests of mankind as a whole“: Mohammed Bedjaoui’s New International
Economic Order, 6 Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism,
and Development (2015), S. 129, 130 ff.
47
Scelle, Précis de Droit des Gens, Band I (1932), S. 1 ff; siehe zum Ganzen Koskenniemi,
The Gentle Civilizer of Nations: The Rise and Fall of International Law 1870-1960 (2001),
S. 266 ff.
48
Özsu, „In the interests of mankind as a whole“: Mohammed Bedjaoui’s New International
Economic Order, 6 Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism,
and Development (2015), S. 129, 130.
49
Sinha betonte, dass sich die sozialistische Philosophie in Afrika in einigen Punkten vom
klassischen Marxismus unterschied; den Einfluss von Marx und Lenin gestand er jedoch
ein. Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967), S. 53 ff. Siehe hierzu in Bezug
auf Bedjaoui auch Özsu, „In the interests of mankind as a whole“: Mohammed Bedjaoui’s
New International Economic Order, 6 Humanity: An International Journal of Human Rights,
Humanitarianism, and Development (2015), S. 129, 132.
50
Der Titel hieß im französischen Original „Pour un nouvel ordre économique international“,
erschien im Jahr 1978 und wurde in viele Sprachen, unter anderem auch ins Spanische und
Arabische, übersetzt.
51
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 20.
52
Siehe hierzu Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 50 ff.
I. Die Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt an der etablierten Völkerrechtsordnung51
der wirtschaftlichen Ausbeutung.53 Das traditionelle Völkerrecht basierte für ihn auf
der inhärenten Logik der Gesetze des kapitalistischen Wirtschaftssystems und des
politischen Liberalismus.54 Diese Völkerrechtsordnung suggeriere vordergründig
Neutralität, sei jedoch faktisch parteiisch:
[T]he laisser-faire and easy-going attitude which it thus sanctioned led in reality to legal
non-intervention, which favored the seizure of the wealth and possession of weaker peoples.
Classic international law in its apparent indifference was ipso facto permissive. It recogni-
zed and enforced a ‘right of domination’ for the benefit to the ‘civilized nations’. This was a
colonial and imperial right, institutionalized at the 1885 Berlin Conference on the Congo.55
Das etablierte Völkerrecht war für Bedjaoui materiell von seiner historischen Ent-
stehungssituation geformt, die er als originär imperialistisch bezeichnete:
Here we come to the real nature of the so-called ‘international’ law, to its substance and
even to the reality of its existence. As it has been formed historically on the basis of regio-
nal acts of force, it could not be an international law established by common accord, but
an international law given to the whole world by one or two dominant groups. This is
how it was able to serve as a legal basis for the various political and economic aspects of
imperialism.
The classic international law thus consisted of a set of rules with a geographical basis (it
was a European law), a religious-ethical inspiration (it was a Christian law), an economic
motivation (it was a mercantilist law) and political aims (it was an imperialist law).56
Bedjaoui sah das Völkerrecht als Mittel zur Beherrschung der Schwächeren durch
die Stärkeren. So musste das Völkerrecht zwischen den „zivilisierten“ Staaten, um
den Interessen der ausbeuterischen Wirtschaftsordnung im Kolonialismus dienen
zu können, laut Bedjaoui ein oligarchisches sein, während es im Verhältnis zu den
„unzivilisierten“ Staaten plutokratisch deren Ausbeutung erlauben und Einmi-
schungen in diese Vorgänge verhindern sollte.57 Diese Aufgabe erfülle das Völker-
recht durch bestimmte Mechanismen: Durch immer neue rechtliche Spitzfindig-
keiten seien daher die tatsächlich agierenden Machtstrukturen in den verschiedenen
Stadien der Völkerrechtsgeschichte verschleiert worden.58 Beherrschung würde im
Völkerrecht durch die Übersimplifizierung von Dichotomien wie „entwickelt“ und
„unterentwickelt“, „Griechen“ und „Barbaren“, „Gläubige“ und „Heiden“ gerecht-
fertigt.59 Die Identifizierung des Anderen und die Auflösung der vorgefundenen
Gegensätze würden das menschliche Bedürfnis nach einfachen Wahrheiten befrie-
digen, aber auch zu gravierenden Ungerechtigkeiten führen.60 Diese Erkenntnis
53
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 246.
54
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 49.
55
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 49.
56
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 50.
57
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 50.
58
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 56.
59
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 117.
60
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 117.
52 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler…
61
Siehe oben, Einleitung.
62
Vgl. Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 49.
63
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 59.
64
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 59.
65
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 59.
66
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 60.
67
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 61.
68
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 61.
69
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 20.
70
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 86.
71
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 88.
I. Die Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt an der etablierten Völkerrechtsordnung53
understood not merely in terms of European presence, but as the spread of political order
hat inscribed in the social world a particular conception of space and time, together with
new forms of personhood or social identity, and a range of new disciplinary institutions
through which society’s sense of self or other might be manufactured.72
Mit dem Ende des Kolonialismus seien alte Beherrschungsstrukturen durch neue,
neokoloniale Mechanismen abgelöst worden. Zu diesem Problem zitiert Umozurike
den ghanaischen Politiker Kwame Nkrumah sowie Nasser:
72
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 88.
73
Vgl. hierzu oben und Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International
Law (2008), S. 4.
74
Siehe unten, Kapitel 4.
75
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. ix, 1 ff.
76
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. ix ff.; Gathii, A Critical
Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale Elias, 21 Leiden Journal of
International Law (2008), 317, 340.
77
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 14.
78
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 36.
54 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler…
The imperialists of today endeavor to achieve their ends not merely by military means, but
by economic penetration, cultural assimilation, ideological domination, psychological infil-
tration, and subversive activities even to the point of inspiring and promoting assassination
and civil strife.79
Neo-colonialism emerged attempting to attain the same aims of exploitation as the old
colonialism, using new methods to which outwardly appear to be more in line with the
spirit of the age.
In this domain, military pacts are directed more against internal fronts of nations seeking
to free themselves (…) rather than against foreign aggression. In the same way, aid and
trade were used as a veil to dominate to the benefit of the exploiters. The policy of economic
and monopoly blocs was equally directed to this end.80
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte
Völkerrechtsordnung aus der Perspektive der Völkerrechtler in
der Dritten Welt
Die Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt nach der Dekolonialisierung identi-
fizierte die etablierte Völkerrechtsordnung als Mittel zur Rechtfertigung von Fremd-
herrschaft. Entsprechend nahe lag die Vermutung, dass sich die neuen Staaten dieser
Ordnung verweigern und vom Völkerrecht abwenden könnten. Der Frage, ob und
wie weit dies möglich sei, widmete sich auf völkerrechtsdogmatischer Ebene die
Debatte um die Bindung der Dritten Welt an das postkoloniale Völkerrecht. War das
Völkerrecht, das im Wesentlichen ohne die Beteiligung der ehemaligen Kolonien
entstanden war und ihren Interessen zumindest zum Teil zuwider lief, für die neuen
unabhängigen Staaten ohne weiteres verbindlich? Oder forderte das die Völker-
rechtsordnung durchziehende Konsensprinzip einen Willensakt der neuen Staaten,
durch die etablierten Normen des Völkerrechts gebunden zu sein? Zuvörderst stellte
sich hierbei die Frage nach der Bindung der neuen Staaten an das Völkerrecht im
Allgemeinen und somit insbesondere an das Allgemeine Völkerrecht. Erst wenn die
neuen Staaten nämlich überhaupt durch das Völkerrecht berechtigt und verpflichtet
79
Nkrumah, Rede auf der ersten Konferenz unabhängiger afrikanischer Staaten in Accra
1958, zitiert nach Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 126.
80
Nasser, Rede auf der Belgrader Konferenz 1961, zitiert nach Umozurike, International Law
and Colonialism in Africa (1979), S. 127.
81
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 127, 144.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 55
waren, konnten sie auch an die gewohnheitsrechtlichen Normen des Rechts der
Staatennachfolge gebunden sein, aus welchem sich wiederum die Verpflichtungen
der neuen unabhängigen Staaten in einzelnen Völkerrechtsgebieten wie beispiels-
weise dem Vertragsrecht ergab.82 Die Debatte um die Bindung der neuen Staaten an
das Allgemeine Völkerrecht verknüpfte dabei die Frage nach dem Geltungsgrund
des Völkerrechts überhaupt mit Überlegungen aus der Rechtsquellenlehre.
Falk machte bezüglich der Bindung der Staaten an das Völkerrecht im Allgemei-
nen zwei grundsätzliche Sichtweisen in der zeitgenössischen Debatte aus:
[T]he international legal order is today universal in its scope and not a restricted club (…).
As the legal order is universal, the attitudes of all states are relevant to the content of its
rules, but not necessarily retroactively relevant. The conservative view holds that for the
new states the international legal order is “a given” and that the discretion of these states is
limited to influencing its future growth. The more radical view, associated with some spo-
kesmen from the new states, is that the new states have the authority to cast doubt upon any
portions of the international legal order brought into being prior to their existence and that
active assent is a condition precedent to the validity of the specific rules.83
82
Siehe hierzu unten, Teil II und Teil III.
83
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 33 f.
84
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 34 ff.
56 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler…
85
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 113.
86
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 38; ders., The Newly Independent States
and the Rules of International Law: An Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 113
87
Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967), S. 84, 143; Abi-Saab, The Newly Inde-
pendent States and the Rules of International Law: An Outline, 8 Howard Law Journal (1962),
S. 95, 102 f., 107; Syatauw, Some Newly Established Asian States and the Development
of International Law (1961), S. 230 ff.; Malawer, Studies in International Law (2. Auflage
1977), S. 32.
88
Vgl. hierzu Tunkin, Das Völkerrecht der Gegenwart (1963), S. 85, der die Auffassung des
Westens, die neuen Staaten seien an das bestehende Gewohnheitsrecht gebunden, als Impe-
rialismus verurteilt.
89
Da hiernach alle präkommunistischen Gesellschaften in eine herrschende und eine unter-
drückte Klasse gespalten waren, wobei die erste das Eigentum an den Produktionsmitteln
innehatte, die zweite jedoch nicht, war die Geschichte eine Abfolge von Klassenkämp-
fen, in der sich die unterdrückte Klasse durch Revolutionen gegen die herrschende Klasse
durchsetzte und sich so immer neue Gesellschaftsformationen abwechselten. Dies waren in
zeitlicher Abfolge die Gesellschaften von Sklavenhaltern, Feudalismus, Kapitalismus und
schließlich Sozialismus, wobei mit dem Sozialismus schließlich eine klassenfreie Gesell-
schaft entstehen sollte. Wesentliche Elemente einer Gesellschaft waren dabei die ökonomi-
sche Basis, die aus den Produktionsverhältnissen bestanden, und deren juristischer und poli-
tischer Überbau, der den Willen der herrschenden Klasse widerspiegelt und durch den der
Staat versucht, die Machtverhältnisse in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten; Recht und Staat
waren damit Mittel der herrschenden Klasse zur Pression der unterdrückten Klasse. Einen
solchen (wenn auch spezifischen, da außerhalb der historischen Gesellschaftsformationen
stehenden) Überbau stellte für die sowjetische Völkerrechtswissenschaft auch das Völker-
recht dar. Sie hierzu auch die Ausführliche Analyse bei Schweisfurth, Sozialistisches Völker-
recht?: Darstellung – Analyse – Wertung der sowjetmarxistischen Theorie vom Völkerrecht
„neuen Typs“ (1979), S. 17 ff.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 57
90
Korowin./Krylow/Koschewnikow/Jewgenew/Molodzow/Schurschalow, Völkerrecht (1960),
S. 1 f.
91
Korowin./Krylow/Koschewnikow/Jewgenew/Molodzow/Schurschalow, Völkerrecht (1960),
S. 10 ff.
92
Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht?: Darstellung – Analyse – Wertung der sowjet-
marxistischen Theorie vom Völkerrecht „neuen Typs“ (1979), S. 231 ff.
93
Tunkin, Völkerrechtstheorie (1972), S. 119; Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht?:
Darstellung – Analyse – Wertung der sowjetmarxistischen Theorie vom Völkerrecht „neuen
Typs“ (1979), S. 231.
94
Es handelte sich beim Völkergewohnheitsrecht in dieser Konzeption also um stillschwei-
gende Vereinbarungen, vgl. Tunkin, Völkerrechtstheorie (1972), S. 153 f.; Schweisfurth,
Sozialistisches Völkerrecht?: Darstellung – Analyse – Wertung der sowjetmarxistischen
Theorie vom Völkerrecht „neuen Typs“ (1979), S. 241. Sowjetische Juristen kritisierten
die imperialistische Entstehung gewohnheitsrechtlicher Normen, die als kapitalistisches
Instrument der Unterdrückung funktionierten, im Übrigen jedoch scharf. Die Analysen
einger Beobachter seien hier explizit genannt: “Korovin […] argued, rules of internatio-
nal customary law, established, shaped, formulated and accepted before the Soviet Union
appeared on the world scene, were formed by historical forces bound to be "ideologically
hostile" to the new state. They lacked the principle of explicit consent in the conduct
of international business without which the Soviet state might again become a subject
of foreign intervention. In the atmosphere of little or no mutual confidence, the Soviet
Union could not afford to leave its protective shell for long: international treaties were
the most suitable vehicle for such limited foreign relations.” Triska/Slusser, Treaties and
Other Sources of Order in International Relations: The Soviet View, 52 American Journal
of International Law (1958), S. 699, 703. „The assumption of Soviet jurists is that many
rules of international law will not accord with Soviet policy because they were developed
during the 19th century. It was a period which Soviet historians characterize as the height
of the epoch of capitalism, when states were directing their efforts toward the expansion
58 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler…
von Verpflichtungen aus der Zeit des Zarenreiches zu verweigern.95 Die Unab-
hängigkeit der neuen Staaten feierte die sowjetische Völkerrechtswissenschaft als
Etappensieg gegen den Imperialismus.96 Auch auf sie sollte die pactum-tacitum-
Lehre nun Anwendung finden. So schrieb der sowjetische Jurist und Diplomat
Grigory Ivanovich Tunkin, dass etwa das Völkergewohnheitsrecht nur diejenigen
Staaten binden könne, die ihm zumindest stillschweigend zugestimmt hatten; eine
automatische Bindung von gewohnheitsrechtlichen Normen, die von einer Viel-
zahl von Staaten anerkannt worden waren, könne für andere Staaten nicht ange-
nommen werden:
Die neu entstandenen Staaten haben, juristisch gesehen, das Recht, diese oder jene all-
gemeine Gewohnheitsrechtsnorm des Völkerrechts nicht anzuerkennen. Wenn jedoch ein
neuer Staat ohne Vorbehalte offiziell Beziehungen zu anderen Ländern aufnimmt, dann
bedeutet dies, daß er einen bestimmten Komplex von Prinzipien und Normen des gelten-
den Völkerrechts, die die Grundprinzipien der Beziehungen zwischen den Staaten bilden,
akzeptiert.97
Wo solche Vorbehalte aber angebracht würden, zähle der tatsächliche Wille der
neuen Staaten; diese seien dann nicht an das etablierte Völkerrecht gebunden, da
sonst dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Staaten verletzt würde.98 Hier
wird deutlich, dass der sowjetischen Völkerrechtstheorie ein weitestgehend unein-
geschränktes, wenn auch nicht mehr im historischen Sinne absolutes Souveräni-
tätsverständnis zugrunde lag.99 Bezeichnend für die voluntaristische Position der
Sowjetunion ist auch die Tatsache, dass die UdSSR in ihrer Anfangszeit, als sie
noch keine eigenen Kronjuristen hervorgebracht hatte, rechtlichen Beistand bei dem
italienischen Völkerrechtler Dionisio Anzilotti, einem Altmeister des Voluntaris-
mus,100 suchte.101
Auch die Staaten der Dritten Welt neigten zu einer starken Betonung der staat-
lichen Souveränität, welche die ehemaligen Kolonien als Schutzschild gegen
of markets, and the conquering of colonial areas for the purpose of gaining cheap raw
materials and labor. International law is thought to have been largely an instrument which
the capitalist states utilized in furthering their efforts. Yet, this fact alone is not sufficient
reason to reject all, for Lenin advised that old forms can and must be utilized to achieve
the victory of communism.” Hazard, The Soviet Union and International Law, 43 Illinois
Law Review (1948-1949), S. 591, 593.
95
Korowin, Das Völkerrecht der Übergangszeit, S. 1.
96
Vgl. Tunkin, Das Völkerrecht der Gegenwart (1963), S. 15.
97
Tunkin, Völkerrechtstheorie (1972), S. 159; Hervorhebung durch die Verfasserin.
98
Tunkin, Völkerrechtstheorie (1972), S. 158.
99
Korowin/Krylow/Koschewnikow/Jewgenew/Molodzow/Schurschalow, Völkerrecht (1960),
S. 10 ff.
100
Vgl. etwa Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, Band I (1929).
101
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 102, Fn. 19.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 59
Traditionally, when a state comes into being and is recognized as such by other states, it is
bound by all the existing rules, whatever, of international law, already established as custom
by the practice of other states and in whose creation the new state obviously had no part.
However, the new states of Asia and Africa have assumed the position that the internatio-
nal law of the western powers must be offered to them for acceptance or rejection. They
assert that they have the right to choose from its body those rules which have no binding
force upon them. They contend that this position is compatible with the attributes of their
sovereignty, itself a concept of international law, which they attained upon independence.
Sovereignty is said to give them equality with other states and, therefore, no obligation to
accept rules which a distinct set of states, the western states, established in the past for their
own expediency.103
In Sinhas Darstellung der Argumentation der ehemaligen Kolonien klingt ein sehr
klassisches Souveränitätsverständnis an, das auf das westfälische System zurückzu-
führen ist: Der souveräne Staat als höchste Entscheidungsinstanz wurde als Angel-
punkt des völkerrechtlichen Systems gesehen, der als Gleicher unter Gleichen nur
die Souveränität anderer Staaten zu achten hatte.104 Souveränität bedeutete in dieser
Interpretation auch Herrschaft über das Recht. Abi-Saab erläuterte diese sehr sou-
veränitätsbetonte Position der neuen Staaten folgendermaßen:
For the newly independent states, sovereignty is the hard won prize of their struggle for
emancipation. It is the legal epitome of the fact that they are masters in their own house. It
is the legal shield against any further domination or intervention by stronger states. They
are very aware of its existence and importance for, until recently, they were deprived of it.
Once they have achieved independence and reacquired sovereignty, they are very reluc-
tant to accept any limitation of it. They consider such limitations as indirect means to
achieve what was achieved earlier by outright domination.105
102
Vgl. Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An
Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 102 f.; Sinha, Perspective of the Newly Inde-
pendent States on the Binding Quality of International Law, 14 International and Compara-
tive Law Quarterly (1965), S. 121, 127, 142; Okoye, International Law and the New African
States (1972), S. 193; Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the
Developing Countries (1987), S. 80.
103
Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967), S. 142.
104
Siehe hierzu Abi-Saab, Whither the International Community?, 9 European Journal of
International Law (1998), S. 248, 254.
105
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 103 f.
60 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
Dabei setzten sich die neuen Staaten häufig der Kritik aus, sich exzessiv auf ihre
Souveränität zu berufen und dieses Prinzip auf anarchische Weise auszulegen und
sich zunutze zu machen: Besonders laut waren die Aufschreie während der ersten
Ölkrise 1973, als die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) als Reaktion
auf die westliche Unterstützung Israels im Jom-Kippur-Krieg sowie auf die Infla-
tion und unter Berufung auf die Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten ihre Förder-
menge senkte und dadurch den Ölpreis in die Höhe trieb.108
Wie sich hier schon andeutet und in Teil II und III der Arbeit offenkundig wird,
argumentierten Völkerrechtler und Staatenvertreter der Dritten Welt häufig mit
Grundprinzipien des Völkerrechts wie hier mit der staatlichen Souveränität bzw. der
souveränen Gleichheit. Solche Grundprinzipien wurden häufig – und so auch hier –
schlagwortartig verwendet, um die Position der neuen Staaten in einer bestimm-
ten Rechtsfrage zu substantiieren. Hierfür boten sich gerade die Grundprinzipien
des Völkerrechts an, da sie die nötige Flexibilität zu haben schienen, um mit ihnen
aus dem etablierten Völkerrecht heraus gegen bestimmte völkerrechtliche Normen
oder Theorien zu argumentieren, welche die neuen Staaten als kolonial betrachte-
ten. Solche Rechtsprinzipien waren daher eine beliebte Regelungstechnik für die
Entwicklungsländer:
First, there is the fact that principles, being general and sweeping in character, are more
acceptable to Western countries than detailed rules in areas where they oppose new develop-
ments demanded by the Third World. Often the West accepts a principle but enters the expli-
cit or tacit reservation that in any case it is no more than a political guideline or that it is too
woolly to possess definite content. […] Yet, their misgivings and reservations notwithstand-
ing Western countries do not ultimately oppose the reaffirmation of principles in official
106
Daneben hatten gewohnheitsrechtliche Regelungen den Nachteil, dass ihre Veränderung
langwierig war und damit dem Interesse der Dritten Welt an einer zügigen Umsetzung des
Globalsolidarischen Projekts zuwiderlief. Okoye, International Law and the New African
States (1972), S. 190 ff.; Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of Inter-
national Law: An Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 106 ff.
107
Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual Responsibi-
lity in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 81.
108
Siehe hierzu Bedjaoui, Towards a New International Economic order (1979), S. 103.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 61
documents. Developing Countries count this as considerable success, for it makes room for
gradual transformation of general tenets into definite standards of behavior to be used in
appraising the conduct of States and exposing it to public condemnation in case of viola-
tion. As far as developing countries are concerned, the adoption of a principle in an official
document is not the end of the story. Quite the contrary, it is the starting-point of long
process in the course of which the principle is restated, specified, elaborated, expanded,
updated, in short gradually made workable and operational as an international parameter.
Another advantage of general principles is that, being loose and flexible, they are more
likely to be interpreted and applied in such a way as to allow for future developments and
demands. By contrast, detailed rules may crystallize and even ossify the circumstances for
which they are enacted.109
Die argumentative Verwendung von Grundprinzipien des Völkerrechts wie der sou-
veränen Gleichheit war damit eine Strategie für die Autoren aus den ehemaligen
Kolonien und ihre Heimatstaaten, um dem Vorwurf der Politisierung zu entgehen
und ihre Forderungen nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich zu legitimieren.
Dabei nutzten die Völkerrechtler in den neuen Staaten die souveräne Gleichheit im
Zusammenhang mit der Bindung der ehemaligen Kolonien an die etablierte Völ-
kerrechtsordnung apologetisch und betonten sie Notwendigkeit ihrer Zustimmung
etwa zu den bestehenden Regeln des Völkergewohnheitsrechts.
Nach dieser Manier bestärkte der mexikanische Rechtswissenschaftler und
spätere Außenminister Jorge Castañeda die noch junge Dritte Welt, eine voluntaris-
tisch-souveränitätsorientierte Position zu ergreifen:
An Castañedas Zitat ist der letzte Halbsatz besonders interessant: Obwohl viele
Autoren aus der Dritten Welt – und im Übrigen auch westliche Völkerrechtler –111 den
neuen Staaten eine souveränitätsorientierte, voluntaristische Position zuschrieben,
scheinen andere zu einer anderen Einschätzung gelangt zu sein. Anand meinte etwa:
It is a striking tribute to the supremacy of international law that never in any public act has
any state in our time dared to declare that it would not be bound by this law or its precepts.112
Wie Anand gelangte eine beachtlich Anzahl von Autoren aus Nord und Süd zu der
Einschätzung, dass die ehemaligen Kolonien die grundsätzliche Bindung an das
109
Cassese, International Law in a Divided World (1986), S. 120.
110
Castañeda, Jorge: The Underdeveloped Nations and the Development of International
Law, 15 International Organization (1961), S. 38, 43.
111
Siehe beispielsweise Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des
Cours (1966-II), S. 1, 33 f.
112
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 87.
62 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
Völkerrecht praktisch nicht zur Debatte gestellt hätten.113 Diese widersprüchlich wir-
kenden Einschätzungen zeitgenössischer Beobachter114 ergaben sich wohl aus unter-
schiedlichen Blickwinkeln auf die Position der neuen Staaten, denn nach dem clean-
slate-Prinzip behielten sich die neuen Staaten lediglich ein Wahlrecht vor, auf welche
Normen sie sich festhalten lassen wollten und auf welche nicht. Die neuen Staaten
lehnten damit die etablierte Völkerrechtsordnung nicht im Grundsatz ab, sondern ver-
fuhren nach der Methode „pick and choose“.115 Normen, die den politischen Interes-
sen der Dritten Welt entsprachen, seien von den neuen unabhängigen Staaten schlicht
angenommen worden.116 Falk machte hier eine Entwicklung in zeitlicher Hinsicht
aus: Das anfängliche Misstrauen gegenüber dem Völkerrecht als Ganzem sei später –
ähnlich wie auch die Völkerrechtsdoktrin der Sowjetunion – einer pragmatischeren
Einstellung gewichen.117 Die Staaten der Dritten Welt hätten begriffen, dass manche
völkerrechtliche Normen wie etwa das Recht der Staatenverantwortlichkeit zwar ihren
Interessen widersprächen, dass jedoch andere Normen durchaus auch ihrem Schutz
dienten.118 Auch der Westen habe mit der Zeit eine größere Bereitschaft gezeigt, auf
die neuen Staaten zuzugehen; dies nicht zuletzt, da sich hierdurch die Möglichkeit
bot, die neuen Staaten im bestehenden Völkerrechtssystem zu sozialisieren.119
Entsprechend lehnten die neuen unabhängigen Staaten die Völkerrechtsordnung
nicht grundsätzlich ab, sondern verwehrten sich nur der Anwendung bestimmter
Normen, die sie als für sich nachteilig empfanden, da in ihnen koloniale Herr-
schaftsstrukturen fortwirkten. So erkannten sie diejenigen völkerrechtlichen Prinzi-
pien weitestgehend an, welche aus ihrer Sicht die Gleichheit der Staaten förderten,
wie die souveräne Gleichheit, die territoriale Integrität, das Gewalt- und Interven-
tionsverbot, das Prinzip der friedlichen Streitbeilegung und das Recht der diplo-
matischen und konsularischen Beziehungen.120 Abi-Saab meinte, die neuen Staaten
würden all jene gewohnheitsrechtlichen Normen akzeptieren, die auf tatsächlicher
113
Vgl. Waldock, General Course on Public International Law, 106 Recueil des Cours (1962-II),
S. 5, 52; Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of Inter-
national Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 121; Okoye,
International Law and the New African States (1972), S. 193; D’Amato, Consent, Estoppel,
and Reasonableness: Three Challenges to Universal International Law, 10 Virginia Journal of
International Law (1969), S. 1, 5.
114
Siehe hierzu auch Udokang, The Role of the New States in International Law, 15 Archiv
des Völkerrechts (1971/72), S. 145, 150 f.
115
Vgl. Green, New States, Regionalism and International Law, 5 Canadian Yearbook of
International Law (1967), S. 118, 122.
116
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline, 8
Howard Law Journal (1962), S. 95, 99; Anand, New States and International Law (1972), S. 62 f.
117
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 17.
118
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 38.
119
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 38 f.
120
Anand, New States and International Law (1972), S. 63.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 63
(und damit zum echten Vorteilsaustauch führender) und nicht nur auf hypotheti-
scher (faktisch immer nur zum Vorteil einer Partei gereichender) Reziprozität
beruhen würden.121 In anderen Fällen wehrten sich die ehemaligen Kolonien gegen
die Geltung einzelner völkergewohnheitsrechtlicher Normen, was beispielsweise
in ihrer Haltung zur Drei-Meilen-Regel bei den VN-Seerechtskonferenzen 1958
und 1960 in Genf sowie zu den gewohnheitsrechtlichen Regelungen zu Kolonien
und Protektoraten bei den Diskussionen zur Declaration on the Granting of Inde-
pendence to Colonial Countries and Peoples zum Ausdruck kam.122 In manchen
Fällen erkannte die Dritte Welt völkerrechtliche Regelungen auch nur zum Teil an:
So führte die Ablehnung der neuen Staaten gegenüber der gewohnheitsrechtlichen
Theorie des terra nullius, durch welche die europäischen Großmächte die Beset-
zung der nunmehr ehemaligen Kolonien gerechtfertigt hatten, zu ihrer Unterstüt-
zung des sogenannten Goa-Zwischenfalls.123 Diese gewaltsame Befreiung portugie-
sischer Kolonialgebiete in Indien durch die indische Regierung im Jahr 1961 stellte
nach etabliertem Völkerrecht eine militärische Okkupation dar und stand somit in
einem Spannungsverhältnis mit dem Gewaltverbot, das nicht nur in Artikel 2 Nr. 4
VN-Charta niedergeschrieben, sondern auch von den Staaten der Dritten Welt auf
der Bandung-Konferenz bestärkt und gerade von Indien als buddhistisches Prinzip
betont worden war.124 Aus der Perspektive der neuen Staaten war sie jedoch ein
gerechter Schlag gegen die kolonialen Gebietstitel Portugals, deren Erwerb auf
Regeln des Völkergewohnheitsrechts beruhte, denen die damaligen Kolonien nie
zugestimmt hatten.125 So versuchten die neuen Staaten auch Grundprinzipien wie
das Gewaltverbot ihren Interessen entsprechend umzuinterpretieren: So sollten das
Gewalt- bzw. Interventionsverbot ihrer Ansicht nach politischen und ökonomischen
Zwang als Mittel der Internationalen Beziehungen umfassend verbieten.126
Vor diesem Hintergrund erklärt sich sowohl die Einschätzung, die neuen Staaten
hätten eine souveränitätsorientiert-voluntaristische Position vertreten, als auch die
Beobachtung, dass die Dritte Welt das Völkerrecht zumindest grundsätzlich akzep-
tiert hätten. Die neuen Staaten wandten sich nach dieser Narrative trotz ihrer kriti-
schen Position letztlich also nicht vom Völkerrecht ab, sondern diesem im Gegenteil
zu, wie Anand erklärte:
121
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 106.
122
GA, UN Doc A/Res/15/1514 (14. Dezember 1960); Sinha, Perspective of the Newly Inde-
pendent States on the Binding Quality of International Law, 14 International and Compara-
tive Law Quarterly (1965), S. 121, 122; Anand, New States and International Law (1972),
S. 63; Schweitzer, Das Völkergewohnheitsrecht und seine Geltung für neuentstehende
Staaten (1969), S. 68; Okoye, International Law and the New African States (1972), S. 194.
123
Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of Internatio-
nal Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 125; Wright, The
Goa Incident, 56 American Journal of International Law (1962), S. 617, 617.
124
Wright, The Goa Incident, 56 American Journal of International Law (1962), S. 617, 631.
125
Wright, The Goa Incident, 56 American Journal of International Law (1962), S. 617, 630.
126
Siehe Teil II.
64 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
Indeed, it is in the interest of the “uncommitted” states, which conceive it to be in their own
interest to avoid political entanglement with one or another power bloc, to concede adher-
ence to the law blocs. But the only way they can and will do it is if the law recognizes and
respects their vital interests.127
Die Dritte Welt lehnte nach dieser Darstellung das Völkerrecht also nicht im Ganzen
ab, aber behielt sich durchaus das Recht vor, einzelne Normen auf deren Konfor-
mität mit den Interessen der neuen Staaten hin zu überprüfen und gegebenenfalls
auf Grund ihres kolonialen Impetus abzulehnen. Es handelte sich insofern um eine
apologetische Argumentation, die die Bedeutung des souveränen Willens der neuen
unabhängigen Staaten betonte. Gleichzeitig gingen die neuen Staaten damit einen
pragmatischen Weg, indem sich ihr Widerstand auf jene Normen beschränkte, die
ihnen auch tatsächlich nachteilige Auswirkungen zu haben schienen.
Die geschilderte Position der Staaten der Dritten Welt stand jedoch weitgehend128
im Kontrast zu den Ansichten, die sich in Bezug auf die Frage der Bindung neuer
Staaten an das etablierte Völkerrecht in der westlichen Literatur entwickelt hatten
und zog entsprechend Kritik auf sich. So beanstandete der Neuseeländer Daniel
Patrick O’Connell, ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Staatennachfolge,129
dass die neuen unabhängigen Staaten den Willen statt der Unterwerfung unter eine
vernünftige Verhaltensordnung zur Grundlage des Rechts machten, was O’Connell
als „anarchic“ bezeichnete.130 Als Argument gegen die apologetische (sich also auf
die staatliche Souveränität und nicht auf eine utopische Idee wie die einer „Interna-
tionalen Gesellschaft“ beziehende) Darlegung der neuen Staaten wurde angeführt,
eine Ablehnung des Völkerrechts auf Grund dessen Widerspruchs zu den nationalen
Interessen der Dritten Welt sei eine opportunistische Politisierung des Rechts und
somit illegitim.131 Es sei schon zu diesem frühen Punkt der vorliegenden Arbeit
darauf hingewiesen, dass der Vorwurf der unzulässigen Politisierung des Völker-
rechts ein wiederkehrendes Motiv der westlichen Argumentation in der Debatte um
127
Anand, New States and International Law (1972), S. 73. Ähnlich u. a. D’Amato, Consent,
Estoppel, and Reasonableness: Three Challenges to Universal International Law, 10 Virginia
Journal of International Law (1969), S. 1, 5.
128
Zu den Ausnahmen gehört die Position von Falk, siehe unten.
129
Siehe unten, Teil III.
130
O’Connell, The Role of International Law, 95 Daedalus (1966), S. 627, 634.
131
So die Beobachtung bei Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil
des Cours (1966-II), S. 1, 16. Diese Ansicht findet sich unter anderem bei O’Connell, Inde-
pendence and Problems of State Succession, in O’Brien (Hrsg.), The New Nations in Inter-
national Law and Diplomacy (1965), S. 7, 13.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 65
die Bindung der neuen Staaten an das postkoloniale Völkerrecht werden sollte.132
Dabei ist zu beachten, dass aus dekonstruktivistischer Sichtweise der völkerrecht-
liche Diskurs so unbestimmt ist, dass jede Entscheidung eines rechtlichen Streits
zwangsläufig eine politische ist.133 Bemerkenswert ist, dass westliche Autoren die
Politisierung des Völkerrechts hier bezüglich einer apologetischen Position tadel-
ten, deren Ausgangspunkt der souveräne Wille der Staaten bildete. Dies ist deshalb
so interessant, weil westliche Autoren den neuen Staaten in allen anderen Bereichen
der Bindungsdebatte eine Politisierung des Rechts auf Grund der utopischen Posi-
tion der Dritten Welt vorwerfen sollten.134
Weiter kritisierte O’Connell die mangelnde Stringenz des Standpunktes der
neuen Staaten:
Furthermore, the argument is devoid of internal consistency. The sovereign State is an intel-
lectual artefact; its character, its form, and its qualities derive from the theoretical exposi-
tion of political organization which is nothing if not Western and has its roots in the Age of
Reason as much as has international law. New States can hardly claim the privileges and
faculties of States and yet repudiate the system from which these derive; yet this is precisely
what the argument involves. It overlooks that a State, when it commences to exist as a State,
does so in a structural context which gains its form from law, just as a child when born into
a society becomes subjected to it by virtue of the order of being in which it is integrated.135
132
Siehe hierzu Teil II und III der Arbeit.
133
Siehe oben, Einleitung.
134
Sie hierzu Teil II und III der Arbeit.
135
O’Connell, The Role of International Law, 95 Daedalus (1966), S. 627, 636; vgl zu O’Con-
nells Position auch Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and
the Law of Treaties (2007), S. 88.
136
Vgl. hierzu auch Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des
Cours (1966-II), S. 1, 26 f.
137
Schweitzer, Das Völkergewohnheitsrecht und seine Geltung für neuentstehende Staaten
(1969), S. 59.
138
Vgl. Waldock, General Course on Public International Law, 106 Recueil des Cours (1962-II),
S. 5, 49 f.
66 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
des neuen Staates konstruierten nun bereits westliche Autoren zu Anfang des 20.
Jahrhunderts „eo ipso aus seinem Begehren, von den anderen Staaten als ‘Staat’
anerkannt und behandelt zu werden.“139 Da der Staat Teil der Völkerrechtsgemein-
schaft werden wolle, müsse er damit auch deren Rechtsordnung akzeptieren. Die
Anerkennung des Allgemeinen Völkerrechts war der Preis, den der neue Staat für
seine Anerkennung als Mitglied der Völkergemeinschaft zahlen sollte. Nach der
herrschenden Meinung vor dem Ersten Weltkrieg akzeptierte ein neuer Staat, der
Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft werden wollte, dabei zugleich auch implizit
die dort geltende Rechtsordnung.140 Bereits bei den Staaten, die ihre Unabhängig-
keit nach dem Ersten Weltkrieg erlangt hatten, war von deren impliziter Anerken-
nung des etablierten Gewohnheitsrechts ausgegangen worden.141 Hierin lag auf den
ersten Blick eine apologetische Argumentation, die sich jedoch im Falle, dass neue
Staaten sich dem Gewohnheitsrecht explizit verweigerten, auch auf utopische Ideen
stützen musste, wie sich im Dekolonialisierungskontext zeigen sollte.
Nachdem die Frage der Bindung der Staaten für einige Zeit aus dem Fokus der
völkerrechtswissenschaftlichen Debatte geraten war, reanimierte die traditionell-
positivistische Völkerrechtswissenschaft im Westen nach Ende des Zweiten Welt-
kriegs die Idee, dass Staaten nur dann am Rechtsverkehr teilnehmen könnten, wenn
sie gleichzeitig anerkannten, dass dies die Akzeptanz des universellen Völkerrechts
beinhaltet.142 So schrieb Oppenheim:
New States which came into existence and were through express or tacit recognition admit-
ted into the Family of Nations thereby consented to the body of rules for international
conduct in force at the time of their admittance. It is therefore not necessary to prove for
every single rule of International Law that every single member of the Family of Nations
consented to it. No single state can say on its admittance into the Family of Nations that
it desires to be subject to such and such a rule of International law, and not to others. The
admittance includes the duty to submit to all the rules in force, with the sole exception of
those which, as for instance, the rules of the Geneva Convention, are specially stipulated
for such States only as have concluded, or later acceded to, a certain international treaty
creating the rules concerned.
On the other hand, no State which is a member of the Family of Nations can at some time
or another declare that it will in future no longer submit to a certain recognized rule of the
Law of Nations. The body of the rules of this law can be altered by common consent only,
not by a unilateral declaration on the part of one State. This applies not only to customary
rules, but also to such conventional rules as have been called into existence through a law-
making treaty for the purpose of creating a permanent mode of future international conduct
without a right of the signatory Powers to give notice of withdrawal.143
139
Schönborn, Staatensukzession (1913), S. 72.
140
Folz, Zur Frage der Bindung Neuer Staaten an das Völkerrecht, 2 Der Staat (1963), S. 319,
329 f.; Schoenborn, Staatensukzession (1913), S. 71 ff.
141
Malawer, Studies in International Law (2. Auflage 1977), S. 32.
142
Von der Heydte, Völkerrecht, Band 1 (1958), S. 190 f.; Lauterpacht, Oppenheims Inter-
national Law, Band 1 (7. Auflage 1948), S. 18.
143
Lauterpacht, Oppenheims International Law: A Treatise, Band 1 – Peace Peace (7. Auflage
1948), S. 18 f.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 67
Bei diesen Äußerungen wird bereits deutlich, dass die Theorie des impliziten Kon-
senses sich von ihrer voluntaristischen Basis löste und ein vom tatsächlichen staatli-
chen Willen unabhängiges Eigenleben begann. Der Beitritt zur Staatengemeinschaft
implizierte hingegen automatisch die Akzeptanz des Allgemeinen Völkerrechts; sie
war Teil des Handels, auf den sich die neuen Staaten als Preis für ihre Unabhän-
gigkeit einlassen mussten. Hatten sich die Staaten auf diese Weise dem Allgemei-
nen Völkerrecht unterworfen, so konnten sie dieses auch nur gemeinsam mit allen
Staaten ändern; hier wird deutlich, dass Oppenheim nicht allein auf den Willen des
einzelnen Staates abstellt, sondern auf den gemeinsamen Konsens der Staatenge-
meinschaft.144 Letztlich lag also bereits Oppenheims Ansicht eine utopische Posi-
tion zu Grunde, die nur vordergründig auf den impliziten Willen der neuen Staaten
abstellte, faktisch aber eine nonkonsensuale Bindung bedeutete. Der tatsächliche,
freie Willen der Staaten war nicht ausschlaggebend; ein ebenfalls in den westlichen
Positionen zur Bindungsdebatte wiederkehrendes Motiv.145
Auch O’Connell bekräftigte diese Position mit explizitem Bezug auf die neuen
Staaten, die aus der Dekolonialisierungswelle nach dem Zweiten Weltkrieg hervor-
gegangen waren:
At this point it is necessary to point out that a new state is born into a world of law. Indeed
it is a state, inasmuch as the term is meaningful to a lawyer, only because of a law that lays
down the conditions for and the attributes of statehood. There is a tendency to argue that the
international law we know is a product of European politics and Western philosophy, and
is an emanation of the Age of Reason and nineteenth-century statecraft, and that as such
it has little cogency for new states of African or Asian culture. The argument, of course,
disposes altogether of a law of state succession. However, it is unacceptable for the very
explanation that the Age of Reason offered, namely, the social contract. In asserting the
faculties of statehood, the new state is accepting the structure and the system of Western
international law, and it may not, without offending all juristic doctrine, pick and choose the
acceptable institutions, if only because its next-door neighbor, also a new state, will claim a
like privilege. […] They may have their cake, or they may eat it, not both. An objective, ana-
lytical treatment of succession problems of new states is thus not only necessary if we are
to preserve juristic integrity, but ultimately serves the interest of the new states themselves.
When ‘political realities’ are urged in opposition to legal doctrine, they must be viewed by
the lawyer by very much of a fishy eye, though of course they cannot be totally ignored.146
144
Vgl. Lauterpacht, Oppenheims International Law: A Treatise, Band 1 – Peace (7. Auflage
1948), S. 24.
145
Vgl. Malawer, Studies in International Law (2. Auflage 1977), S. 32.
146
O’Connell, Independence and Problems of State Succession, in O’Brien (Hrsg.), The New
Nations in International Law and Diplomacy (1965), S. 7, 12 f.
147
So die Einschätzung von Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil
des Cours (1966-II), S. 1, 27.
68 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
148
Folz, Zur Frage der Bindung Neuer Staaten an das Völkerrecht, 2 Der Staat (1963), S. 319,
330; Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts (1920), S. 224 ff.
149
Folz, Zur Frage der Bindung Neuer Staaten an das Völkerrecht, 2 Der Staat (1963), S. 319,
332; Heilborn, Grundbegriffe des Völkerrechts (1912), S. 59.
150
Brierly beispielsweise lehnte das Konstrukt eines impliziten Konsenses ab, ging aber davon
unabhängig von einer Bindung der neuen Staaten an das Völkerrecht aus: „For example, a
state which has newly come into existence does not in any intelligible sense consent to accept
international law; it does not regard itself, and it is not regarded by others, as having any
option in the matter. The truth is that states do not regard their international legal relations
as resulting from consent, except when the consent is express, and that the theory of implied
consent is a fiction invented by the theorists; only a certain plausibility is given to a con-
sensual explanation of the nature of their obligations by the fact […] that […] a new rule of
law cannot be imposed upon states merely by the will of other states.” Brierly, The Law of
Nations (5. Auflage 1955), S. 53. Für Brierly lag die Frage nach dem Geltungsgrund des Völ-
kerrechts außerhalb das Rechts und war eine Frage der Rechtsphilosophie, die sich für den
Völkerrechtler jedoch nicht drängender stelle als für jeden anderen Juristen.
151
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280 ff.
152
Zur Geschichte der Internationalen Gemeinschaft siehe Paulus, International Community,
Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2013), Rn. 10; Jenks, The Will of the
World Community as the Basis of Obligation in International Law, Hommage d’une Généra-
tion de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 281; Suarez, Tractatus de Legibus ac
Deo Legislatore, Band 2, (1612).
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 69
bezüglich Verpflichtungen erga omnes.153 Mit der Gründung des Völkerbundes und
später der Vereinten Nationen wurde die Idee einer Internationalen Gemeinschaft
zu einem gewissen Grad institutionalisiert.154 Das Konzept der Internationalen
Gemeinschaft war eng mit dem modernen Völkerrecht verknüpft und implizierte,
dass zwischen den Mitgliedern der Staatengemeinschaft gewisse Kohäsionskräfte
bestünden, die sich aus gemeinsamen Werten und Einstellungen ergäben.155 So sah
beispielsweise der Brite James Leslie Brierly den Geltungsgrund des Völkerrechts
in der Solidarität zwischen den Mitgliedern der Internationalen Gemeinschaft.156
Friedmann hatte eine Entwicklung vom Koexistenzrecht im desintegrierten Westfä-
lischen System hin zu einem institutionalisierten Kooperationsrecht ausgemacht.157
Insbesondere die Gründung der Vereinten Nationen wurde als wichtiger Schritt hin
zu einer Weltgemeinschaft beschrieben.158 Im Angesicht des Kalten Krieges wirkte
die utopische Idee einer Wertegemeinschaft jedoch durchaus gewagt.159 Diese
gemeinsamen Werte beschrieb Jenks folgendermaßen:
‘Freedom and welfare’; ‘peace, order and good government’; ‘due process of law’; ‘liberty,
equality and fraternity’; ‘life, liberty and the pursuit to happiness’; ‘freedom and dignity,
economic security and equal opportunity’; ‘poverty anywhere constitutes a danger to pro-
sperity everywhere’; the brotherhood of man: it is in ideas of this order of generality, but
with this degree of moral dignity, emotional appeal, and substantive content, that we must
seek a basis of obligation which will hold effectively the allegiance of mankind. We can find
it only in the will of a world community dedicated to these purposes.160
Jenks sah in seinem Konzept der Weltgemeinschaft eine Synthese der verschiede-
nen Theorien um den Geltungsgrund des Völkerrechts.161
The natural rights and duties of States are to be deduced, not from a hypothetical state
of nature preceding the existence of any community, but from that which the will of the
153
Artikel 53, 64 WVK; ICJ, ICJ-Reports 1970, S. 3, 32, Rn. 33; siehe auch Paulus, Inter-
national Community, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2013), Rn. 1, 5.
154
Paulus, International Community, Max Planck Encyclopedia of Public International Law
(2013), Rn. 13.
155
Zu der Debatte siehe beispielsweise Sterling, The Concept of World Community and the
Future of the United Nations, 8 Indian Journal of International Law (1968), S. 210, 210 ff.;
Wright, Towards a Universal Law for Mankind, 63 Columbia Law Review (1963), S. 435,
435 ff.
156
Lauterpacht/Waldock (Hrsg.), The Basis of Obligation in International Law and Other
Papers by the Late James Leslie Brierly (1958), S. 56 ff.
157
Friedmann, The Changing Structure of International Law (1964); siehe hierzu auch Abi-
Saab, Whither the International Community?, 9 European Journal of International Law
(1998), S. 248, 248 ff.
158
Feller, United Nations and World Community (1952), S. 114.
159
Feller, United Nations and World Community (1952), S. 120 ff.
160
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 286.
161
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 286.
70 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
world community regards as ‘natural’ in the sense of being ‘that what ought to be’, in a
particular stage in the development of the relations between the community and the States
which constitute as essential element of its structure. The collective consent from which
law derives its authority is to be found in the will of the world community as such, in the
Gemeinwille as the will of the community shared by its members rather than as the current
wills of the individual members.162
Für Jenks zollte diese Konzeption dem Bedürfnis nach einem sich dem sozialen
Wandel anpassenden Völkerrecht Tribut.163 Jenks sah diesen Gemeinwillen als vom
kollektiven Individualwillen losgelöst an:
[I]t is something greater than the individual wills which contribute to it and for certain
purposes is entitled to an authority which they cannot claim. The will of the community is
a real thing in every form of social organisation.164
162
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 288.
163
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 290.
164
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 292.
165
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 293; De Vis-
scher, Théories et Réalités en Droit International Public (1953), S. 117 ff.
166
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 294 f.; vgl.
auch Jenks, The Common Law of Mankind (1958).
167
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 298 f.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 71
Jenks verzichtete damit zwar einerseits auf eine Fiktion des Willens der neuen
Staaten im Sinne eines impliziten Konsenses; auf der anderen Seite konstruierte er
den Willen einer Weltgemeinschaft, in dem sich der Wille der neuen Staaten quasi
in objektivierter Form wiederfinden sollte. Praktisch lag hierin jedoch ebenso eine
nonkonsensuale Bindung der neuen Staaten an das Allgemeine Völkerrecht. Jenks
Figur der Weltgemeinschaft wurde in der zeitgenössischen Literatur kontrovers dis-
kutiert.168 In Bezug auf seine Idee der Bindung der neuen Staaten auf Grund des
Interesses der Weltgemeinschaft an der universellen Verbindlichkeit der Normen
des Allgemeinen Völkerrechts bekam Jenks Rückenwind von O’Connell:
A State which accedes to certain multilateral conventions (…) does so not primarily in its
own interests, but rather in the interests of international order and cooperation. (…) It is
bound so, however, only because the convention was merely an instrument for the creation
of objective law, which binds the Successor State, irrespective of its will and interests.169
Bei diesem Zitat wird klar, dass letztlich sowohl die Position vom impliziten Konsens
als auch jene von der Weltgemeinschaft utopische Positionen darstellten, die ihre
argumentative Kraft gerade nicht aus dem staatlichen Willen, sondern aus vermeint-
lich objektiven hehren Werten wie Ordnung, Kooperation oder Frieden beziehen.
Diese utopische Weltgemeinschafts-Position vieler westlicher Völkerrechtler stand im
Gegensatz zur souveränitätsbetont-apologetischen Position der Dritten Welt. Dabei ist
anzumerken, dass gerade die Idee der Internationalen Gemeinschaft vielfach Kritik
auf sich zog und zieht, nach der dieser Begriff die Glorifizierung und Globalisierung
von faktisch rein westlichen Werten gleichzeitig ermöglichen und verschleiern solle.170
Die Inderin Sundhya Pahuja stellt dabei heraus, dass die Idee einer Weltgemeinschaft
168
Manche Autoren betonten, dass die Völkerrechtsgemeinschaft nicht eine Gemeinschaft von
Staaten, sondern Menschen verschiedener Nationen in der Form wäre, dass sie auf gemein-
samen Wert- und Ordnungsvorstellungen beruhte: „Für die Bindung neuer Staaten an das
Völkerrecht ergeben sich hieraus entsprechende Folgerungen: Wenn es nämlich das Recht
einer Völkergemeinschaft ist und auf den Wert- und Ordnungsvorstellungen dieser Gemein-
schaft beruht, so muß das Völkerrecht für einen neuen Staat, dessen Volk die gemeinsamen
Anschauungen teilt und der Rechtsgemeinschaft bereits angehört, schon mit seiner Existenz
verbindlich sein. […] Eine schon mit der Existenz eines Staates gegebene Bindung an das
Völkerrecht setzt die Zugehörigkeit seines Volks zur Völkerrechtsgemeinschaft voraus. Fehlt
es deshalb an dieser Voraussetzung, so kann die Bindung des Staates an das Völkerrecht nur
in der Weise entstehen, daß sich ein Volk der Rechtsgemeinschaft anschließt. […]
Auf die heutige Situation übertragen dürfte dies auch für die Nationen gelten, die erstmals
die Unabhängigkeit erlangt haben; d.h. die Verbindlichkeit des Völkerrechts ergibt sich für
sie aus ihrer Entscheidung für die Völkerrechtsordnung. […] Das Recht ist deshalb für sie
und ihre Staaten dadurch verbindlich geworden, daß sie sich für diese Bindung entschieden
haben. Es ist gewiß undenkbar, daß eine unabhängig werdende Nation die Bindung an die
Ordnung des internationalen Rechts ablehnen würde.“ Folz, Zur Frage der Bindung Neuer
Staaten an das Völkerrecht, 2 Der Staat (1963), S. 319, 332 ff.
169
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 64.
170
Koh, Why Do Nations Obey International Law?, 106 Yale Law Journal (1996/1997),
S. 2599, 2623.
72 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
171
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 144.
172
Neben der Theorie vom implizitem Konsens und jener von der Weltgemeinschaft wurden
in der westlichen Literatur weitere Ideen für eine Bindung der neuen Staaten an das Völ-
kerrecht entwickelt: Nach Ansicht mancher Autoren sollte das Allgemeine Völkerrecht die
neuen Staaten binden, da eine gewohnheitsrechtliche Regelung selbigen Inhalts dies gebiete.
Unklar blieb dabei, inwiefern hierfür bereits eine grundsätzliche Bindung an das Völkerrecht –
mittels impliziten Konsens oder durch die Existenz der Staatengemeinschaft – vorausge-
setzt wurde. So wurde in diesem Kontext schlicht darauf hingewiesen, dass Völkergewohn-
heitsrecht auch gegen den Willen einzelner Staaten entstehen und diese trotzdem binden
könnte (Dahm, Völkerrecht I (1958), S. 31) oder dass es sich bei der Bindung der ehemaligen
Kolonien an das Allgemeine Völkerrecht letztlich um eine Fiktion des Willens der neuen
Staates und nicht um deren tatsächlichen Willen handelte und diese Fiktion daher auf einer
gewohnheitsrechtlichen Regel beruhen müsse (Schweitzer, Das Völkergewohnheitsrecht und
seine Geltung für neuentstehende Staaten (1969), S. 62). Es wurde eine umfassende Uni-
versalsukzession im Rahmen der Staatennachfolge diskutiert, die eben auch das allgemeine
Gewohnheitsrecht erfassen solle (Vgl. Folz, Zur Frage der Bindung Neuer Staaten an das
Völkerrecht, 2 Der Staat (1963), S. 319, 325; Schönborn, Staatensukzession (1913), S. 4 ff.;
Schweitzer, Das Völkergewohnheitsrecht und seine Geltung für neuentstehende Staaten
(1969), S. 59. Eine ausführliche Diskussion des Prinzips der Gesamtrechtsnachfolge findet
sich unten in Bezug auf das Vertragsrecht). Hier war aber bereits die westliche Völkerrechts-
wissenschaft eher zurückhaltenden und bezweifelte vielfach die Existenz einer entsprechen-
den gewohnheitsrechtlichen Norm bzw. das Vorliegen der Voraussetzungen einer solchen
in Bezug auf die neuen Staaten (zu den verschiedenen Positionen siehe Folz, Zur Frage der
Bindung Neuer Staaten an das Völkerrecht, 2 Der Staat (1963), S. 319, 324 ff.; Schweitzer,
Das Völkergewohnheitsrecht und seine Geltung für neuentstehende Staaten (1969), S. 59 ff.).
Die Völkerrechtswissenschaftler in der Dritten Welt verneinten die gewohnheitsrechtliche
Geltung einer solchen Norm an. Vgl. Okoye, International Law and the New African States
(1972), S. 53. Letztlich handelte es sich hierbei jedoch um eine eher randständige Debatte,
bei der die westliche Position ebenfalls auf einer nonkonsensual-utopische Argumentation
aufbauen musste.
173
Zu Rosennes Biografie siehe Who’s Who in the United Nations and Related Agencies
(1975), S. 486.
174
Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the Annual
Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 35.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 73
Argumente für eine Bindung der neuen Staaten waren damit Stabilität und die Ver-
meidung eines rechtlichen Vakuums. Mit derselben Schlagrichtung betonte O’Con-
nell das Bedürfnis nach der Wahrung juristischer Integrität.175 Er stellte die neuen
Staaten vor die Wahl, das Allgemeine Völkerrecht zu akzeptieren oder aber ihre
eigene Existenz zu verleugnen.176 Zwar stünde es ihnen offen, nach ihrem Beitritt
zur Staatengemeinschaft an der Änderung des Gewohnheitsrechts mitzuwirken;
durch eine auch nur partielle Zurückweisung des Gewohnheitsrechts würden sie
jedoch die menschliche Gesellschaft an und für sich herausfordern.177 Auch Jenks
meinte in Bezug auf multilaterale Konventionen:
[I]t is no longer in the interest of either the older or new members of the international com-
munity, or of their citizens, that the emergence of a new member of the community should
disrupt the law based on conscious legislative effort the maintenance and development of
which is required in the interests of all alike. Political freedom cannot be made real against
a background of economic chaos, and to an increasing extent it is the law based on multi-
partite instruments which constitutes the basis of international economic life.178
Der telos einer Bindung von neuen Staaten an das Allgemeine Völkerrecht war nach
diesen Narrativen die Sorge, dass die Internationale Ordnung ohne die völkerrecht-
liche Bindung ihrer neuen Mitglieder erschüttert würde und es zu gravierenden
Unwägbarkeiten kommen könne. Augenfällig ist hierbei, dass die Dekoloniali-
sierung für keine der genannten Auffassungen eine besondere Rolle spielte: Für
die meisten westlichen Autoren unterschieden sich die ehemaligen Kolonien nicht
von früheren neuen Staaten, ihr Entstehungsgrund und -hintergrund wurde schlicht
nicht für erheblich erachtet.
Gegen diese Argumentation wandten sich Völkerrechtler aus der Dritten Welt, ohne
jedoch die beschriebene Position ihrer Heimatländer völlig unbesehen zu überneh-
men. Anders als viele westliche Autoren stellte sich aus ihrer Sicht die Bindungs-
frage nicht abstrakt für alle neuen Staaten, sondern spezifisch für die neuen Staaten
nach der Dekolonialisierung und vor dem Hintergrund ihrer Kritik an der etablierten
Völkerrechtsordnung. So schrieb Sinha über die etablierte Völkerrechtsordnung:
If these so-called rules are statements of western interests and of their superior position to
the interests of the emerging nations, the new states of Asia and Africa are not disposed to
accepting them as creating legal obligations upon them, because this is precisely what they
had rebelled against under the rubric of independence from colonialism.179
175
O’Connell, Independence and Problems of State Succession, in O’Brien (Hrsg.), The New
Nations in International Law and Diplomacy (1965), S. 7, 12 f.
176
O’Connell, International Law, Band I (2. Auflage 1970), S. 5.
177
O’Connell, International Law, Band I (2. Auflage 1970), S. 5.
178
Jenks, State Succession in Respect of Law-Making Treaties, 29 British Yearbook of Inter-
national Law (1952), S. 105, 144.
179
Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967), S. 144.
74 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
Sie gingen dabei zwei argumentative Wege: Zum einen argumentierten sie ähnlich
wie ihre Heimatstaaten mit der Souveränität der neuen Staaten, wobei sie jedoch
auch auf die Gefahren eines souveränitätsbasierten Standpunktes hinwiesen (a.).
Deshalb nutzten sie zusätzlich ihre soziologisch inspirierte Methodik als Argument
gegen eine vollumfängliche Bindung der neuen Staaten an die etablierten Völker-
rechtsordnung (b.).
a. Souveränitätsdebatte
In vielen Texten von Völkerrechtlern aus der Dritten Welt finden sich zwar schein-
bar neutrale Schilderungen über die Positionen, welche die neuen Staaten einnah-
men.180 Nichtsdestoweniger haben solche Texte häufig auch implizit die Positionen
der Autoren wiedergegeben; dies gilt insbesondere dann, wenn Völkerrechtler die
von ihnen geschilderten Positionen ihrer Heimatländer nicht kritisch hinterfragten
oder diese sogar noch argumentativ unterfütterten.181 So ist es sicherlich als Partei-
nahme zu werten, wenn etwa Sinha und Abi-Saab meinten, dass die unbedingte
Anerkennung der Verbindlichkeit des etablierten Völkerrechts durch die neuen
Staaten einer Anerkennung der westlichen Vorherrschaft und Kompetenz als Welt-
gesetzgeber gleichkäme und Unabhängigkeit und souveräne Gleichheit der ehema-
ligen Kolonien damit bedeutungslos würden.182
Eine unverhohlenere Form der Parteinahme findet sich bei Bedjaoui, der sich
bei seiner Vorlesungen an der Haager Akademie für Völkerrecht mit der Frage der
Bindung der neuen Staaten an das Allgemeine Völkerrecht auseinandersetzte.183
Für ihn stellte sich das Dilemma der Bindungsfrage folgendermaßen dar: Entweder
würden neue Staaten in eine Welt mit unveränderlichen Regeln geboren, die sie zu
respektieren hätten, auch wenn sie ohne oder sogar gegen ihren Willen und ihre
Interessen entwickelt wurden; oder neue Staaten träten in eine sich stetig wandelnde
Rechtsordnung, „to whose actions it of course submits, but on which it imprints its
own reactions, thereby giving it the opportunity to sift through certain customary
rules“.184 Bereits diese Schilderung der Grundsituation durch Bedjaoui entbehrte
nicht einer gewissen Polemik, da das Recht der neuen Staaten, nach ihrem Beitritt
zur Staatengesellschaft an der Änderung des Völkerrechts mitzuwirken, zu keinen
180
Zu dieser Position in der Frage um die Bindung an das Allgemeine Völkerrecht siehe oben.
181
Siehe hierzu schon oben, Kapitel 2.
182
Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967), S. 143; Abi-Saab, The Newly Inde-
pendent States and the Rules of International Law: An Outline, 8 Howard Law Journal
(1962), S. 95, 107.
183
Bedjaoui, Problèmes Récents de Succession d’Etats dans les Etats Nouveaux, 130 Recueil
des Cours (1970 II), S. 455, 472 ff.
184
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 134; ders., Problèmes
Récents de Succession d’Etats dans les Etats Nouveaux, 130 Recueil des Cours (1970 II),
S. 455, 472.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 75
Zeitpunkt zur Debatte stand. Hier zeigt sich Bedjaouis Hang zur Zuspitzung von
Gegensätzen bis hin zur Übertreibung als rhetorisches Stilmittel. Bedjaoui plädierte
entsprechend der Position der neuen unabhängigen Staaten für die erste Alternative.
Zwar könnten sich die ehemaligen Kolonien der Bindung an das Völkerrecht nicht
entziehen; trotzdem sei die allseitige Akzeptanz des Rechts erforderlich.185 Entspre-
chend meinte Bedjaoui:
Cela implique que le nouvel Etats sache, en contrepartie en quelque sorte, à quelles normes
il doit obéir et à quoi il s’engage. L’essence même d’une communauté ouverte est que le
choix de la ‘règle du jeu’ soit effectué d’une commun accord.186
Gegen die erste Alternative sprach für Bedjaoui, dass Normen des Gewohnheits-
rechtes historisch betrachtet nicht selten bestritten worden seien; die UdSSR etwa
habe ihre Bindung an die klassischen Regeln der Staatennachfolge geleugnet, indem
sie sich weigerte, für Schulden und Verträge des Zarenreichs einzustehen.187 Hierin
sah Bedjaoui die Grundsteinlegung dafür, dass der freie Wille Basis des zeitgenös-
sischen Völkerrechts und die Zustimmung zum exklusiven Mittel der Völkerrechts-
setzung geworden sei.188 Dabei hielt Bedjaoui das Gewohnheitsrecht per se für anti-
demokratisch, da es letztlich nur die politischen Entscheidungen der Großmächte
perpetuiere und außerdem angesichts seiner voluntaristischen Begründung nicht zu
erklären vermöge, wieso die neuen Staaten an Normen gebunden sein sollten, an
deren Entstehung sie nicht mitgewirkt hatten und die zu ihrem Nachteil wirkten.189
Der rückwärtsgewandte Formalismus des Gewohnheitsrechts lief für ihn dem Ent-
wicklungsvölkerrecht zuwider.190 Letztlich bezog Bedjaoui daher eine streng volun-
taristisch-souveränitätsorientierte Position der neuen Staaten, wobei er sich auf den
sozialistisch inspirierten französischen Völkerrechtler Charles Chaumont bezog:
Charles Chaumont was right when he said that ‘because the (new) States are completely
sovereign and sovereignty is presumed to be without limitations, they must therefore reveal
their attitude towards any given customary rule, either explicitly or implicitly. By virtue of
the principle of equality, new States, like established States, have the right to participate in the
formulation of rules that apply to them, or at least to accept these rules freely. Consequently
any theory according to which certain States try to impose rules of law upon others, or which
confuses international law with municipal law, is domination under legal cover. This holds
true for custom, as it does for general law of a binding character and for treaties’.191
185
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 135.
186
Bedjaoui, Problèmes Récents de Succession d’Etats dans les Etats Nouveaux, 130 Recueil
des Cours (1970 II), S. 455, 479.
187
Bedjaoui, Problèmes Récents de Succession d’Etats dans les Etats Nouveaux, 130 Recueil
des Cours (1970 II), S. 455, 472, 477.
188
Bedjaoui, Problèmes Récents de Succession d’Etats dans les Etats Nouveaux, 130 Recueil
des Cours (1970 II), S. 455, 477.
189
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 135 f.
190
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 138. Zum Entwick-
lungsvölkerrecht siehe unten, Kapitel 4.
191
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 136; Chaumont, Cours
Général de Droit International Public, 129 Recueil des Cours (1970, I) S. 333, 439.
76 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
192
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 133.
193
Siehe hierzu Kapitel 4 und Teil II Teil III.
194
Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale Elias,
21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 317, 346.
195
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 104.
196
GA, UN Doc A/Res/29/3281 (12. Dezember 1974); siehe auch Tomuschat, Die Charta der
wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten: Zur Gestaltungskraft von Deklarationen
der UN-Generalversammlung, 36 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völ-
kerrecht (1976), S. 444, 457.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 77
As with so many other jurists affiliated or sympathetic to the interests of the Third World,
he was willing to temper his general commitment to anti-formalism with a suspicion of
casual and excessive deformalization, a phenomenon that found expression through the
1970s in increasing efforts to dilute sovereign power by recourse to ‘soft law’ and ‘trans-
national law’.198
197
Zu diesem Begriff siehe Falk, On the Quasi-Legislative Competence of the General
Assembly, 60 American Journal of International Law (1966), S. 782, 785.
198
Özsu, „In the interests of mankind as a whole“: Mohammed Bedjaoui’s New International
Economic Order, 6 Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism,
and Development (2015), S. 129, 134.
199
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 72.
200
Besson, Sovereignty, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2011), Rn. 45.
201
Brierly, The Law of Nations (5. Auflage 1955), S. 46 f.
78 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
Dies entsprach der Position der Völkerrechtler in der Dritten Welt. Besonders deut-
lich fiel Elias’ Kritik am Konzept der Souveränität aus:
Sovereignty is clearly an inconvenient and unnecessary postulate introduced by analytical
jurists to confuse the nature of law with its political presuppositions. Sovereignty has thus
stood in the way not only of a universal acceptance of public international law and other
customary bodies of law as law of property so called, but also making it possible for the
Nation States of the world to accept a supranational authority as the cornerstone of a world
government. In short, sovereignty has given birth to the ever-recurrent crisis of the modern
Nation States.206
Trotz dieser klaren Worte verwarf aber auch Elias das Dogma der staatlichen Sou-
veränität in seiner Konzeption nicht völlig, sondern wollte es im Sinne der Charta
der Vereinten Nationen lediglich eingeschränkt wissen.207 Anand hielt es ebenso
für sinnvoll, an der staatlichen Souveränität in einer eingeschränkteren Konzep-
tion festzuhalten. Angesichts des niedrigen Organisationsgrades der Internationalen
Beziehungen war der souveräne Staat für Anand kein Mythos, sondern notwendige
202
Siehe oben Kapitel 2.
203
Friedman, Half a Century of International Law, 50 Virginia Law Review (1964), S. 1333, 1354.
204
Jessup, A Modern Law of Nations (1949), S. 40.
205
Waldock, General Course on Public International Law, 106 Recueil des Cours (1962, II),
S. 5, 156.
206
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 45.
207
Vgl. auch die Analyse von Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition
of Taslim Olawale Elias, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 317, 326 ff.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 79
The positivists, the strong and faithful champions of such a theory, assume it as a logical
conclusion that the will of states is necessarily the sole source of international law. There is
little doubt, however, that such a theory would amount to a negation of all law and society.
[…] This theory fails to take into account the actual interdependence of states and the need
to curb their independence to suit the conditions of life.210
208
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 77 f.
209
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 82.
210
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 82.
211
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 83. Anand zitierte Lauerpacht, The Development of International Law by the Per-
manent Court of International Justice (1934).
212
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 80.
213
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 87.
214
Siehe hierzu sogleich.
215
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 103.
216
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 103. Abi-Saab stellte die Nähe soziologischer Ansätze
zu den Gesellschaftsvertragstheorien, aber auch zu Triepels Vereinbarungslehre heraus
80 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
Letztlich stand der von Anghie und Chimni beobachteten starken Betonung der
staatlichen Souveränität durch Völkerrechtler in der Dritten Welt also auch eine
gewisse Distanz zu diesem Konzept gegenüber.217 Anghies Kritik am Prinzip der
staatlichen Souveränität geht jedoch weit über die Vorbehalte zeitgenössischer
Autoren hinaus. So war die Souveränitätsdoktrin für Anghie aus der kolonialen
Herausforderung heraus entstanden:
Colonialism was not an example of the application of sovereignty; rather, sovereignty was
constituted through colonialism.218
[S]overeignty is a flexible instrument which readily lends itself to the powerful imperatives
of the civilizing mission, in part because it is through engagement with that mission that
sovereignty extends and expands its reach and scope.220
Die staatliche Souveränität habe daher gegen die Versuche der TWAIL I etwa im
Zusammenhang mit der Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung gearbei-
tet.221 Während Völkerrechtler in der Dritten Welt sich also von der Souveränität
der neuen Staaten einen Neuanfang und den Aufbau eines auf tatsächlicher Zustim-
mung basierenden Systems versprochen hätten, gingen westliche Autoren laut
Anghie von einem bedingten Souveränitätsverständnis aus, dass als europäisches
Konzept nur unter der Voraussetzung der Anerkennung des europäisch geprägten
Völkerrechts greifen sollte.222 Ähnlich meint Pahuja, dass die TWAIL I Souveränität
als die Möglichkeit verstanden, Recht zu setzen, wobei die europäische Herkunft
des Souveränitätsprinzips für sie im Hintergrund stand:223 Es ging also um kein
stringentes juristisches Konzept, sondern um ein politisches:
I argue that the Third World’s invocation of sovereignty as a political capacity with juridical
and economic effects (rather than a juridical capacity with political and economic effects)
was a call on and for ‘bare sovereignty’, or sovereignty as such. A juridical understan-
ding of sovereignty logically presupposes a legal order in which that juridical form is itself
recognised as valid, or legal. A call to political sovereignty, on the other hand, does not
presuppose an external determinant.224
217
Siehe Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual
Responsibility in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 81.
218
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 38.
219
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 235.
220
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 114.
221
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 11.
222
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 201, 213.
223
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 110 ff.
224
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 112.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 81
Anand stellte damit die Effektivität des Völkerrechts ins Zentrum der Überlegungen
und maß ihr dementsprechend eine größere Bedeutung bei als abstrakten Erwägungen
juristischer Logik. Dabei half Anand seine soziologisch inspirierte Methodik, welche
die vom Westen oft verurteilte Politisierung des Rechts durch die Dritte Welt nicht
nur erlaubte, sondern geradezu geboten scheinen ließ. In der soziologischen Jurispru-
denz wurde Recht als Mittel zum Zweck und nicht als Selbstzweck gesehen.227 Das
Recht galt als wichtigstes Instrument sozialer Kontrolle. Anand sah das Völkerrecht
dabei als in Wechselwirkung zu kontextualen Veränderungen stehenden, in ständiger
225
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 112 f.
226
Anand, New States and International Law (1972), S. 70 ff. Anand zitiert O’Connel, Inde-
pendence and Problems of State Succession, in O’Brien (Hrsg.), The New Nations in Inter-
national Law and Diplomacy (1965), S. 12 f. Zur Frage, nach welchen Bestimmungsfaktoren
sich diese Interessen richteten, siehe unten, Kapitel 4.
227
Vgl. Pound, Jurisprudence, Band I (1959, Nachdruck 2008), S. 293.
82 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
Bewegung befindlichen Prozess an.228 So sei eine Norm nur dann als effektiv zu
betrachten, wenn sie auf eine gewisse Resonanz in der Gesellschaft träfe:
Law, it has been well said, is not a constant in a society, but is a function. In order that
it may be effective, it ought to change with changes in view, powers, and interests in the
community.229
Anand kannte also einerseits Jenks’ Idee der Weltgemeinschaft an, entwickelte
hieraus jedoch nicht wie Jenks eine automatische Bindung der neuen Staaten an
das Allgemeine Völkerrecht; stattdessen kam er zu der Folgerung, das Recht müsse
sich mit den Bedürfnissen der Weltgemeinschaft fortentwickeln und könne, sofern
es diese Entwicklung nicht berücksichtige, nicht verbindlich sein. Anand war dabei
stark von Falks Ansatz geprägt, nach dessen Ansicht es schlicht nicht den Realitäten
des internationalen Lebens entspräche, dass ein Staat nicht am Verkehr innerhalb
der Staatengemeinschaft teilhaben könne und dürfe, solange er nicht das Völker-
recht akzeptiert hätte, dessen Regeln ihn erst zum Staat machten.230 Damit gehörte
Falk zu den wenigen westlichen Autoren, die sich gegen eine automatische Bindung
der neuen Staaten an das Allgemeine Völkerrecht aussprach.231 Vielmehr, so Falk,
stehe etwa der Beitritt zu den Vereinten Nationen den neuen Staaten ungeachtet
dieser angeblichen Voraussetzung offen und erfolge beinahe automatisch.232 Falk
bevorzugte in diesem Zusammenhang dementsprechend eine funktionale Lösung:
But it may also be true that the partial repudiation or alteration of the inherited system is
of greater benefit to a particular new state than is the maintenance of a legal framework
of inherited rights and duties. No approach based on juristic logic can handle the choice,
which is in the nature of balancing values and interests from the perspective of each state.
The rational exercise of the choice depends on the particular or existential balance of percei-
ved interests in relation to outstanding disputes, rather than upon any principle of logic.233
Tatsächlich könne das Völkerrecht seine Funktion des Interessenausgleichs und der
Kooperation nur dann erfüllen und insofern effektiv sein, wenn die verschiedenen staat-
lichen Interessen in einem für alle Parteien zufriedenstellendem Maße berücksichtigt
228
Anand, New States and International Law (1972), S. 71. Anand zitiert hier McDougal,
International law, Power and Policy: A Contemporary Conception, 82 Recueil des Cours
(1953, I), S. 137, 156.
229
Anand, New States and International Law (1972), S. 46.
230
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II),
S. 1, 27.
231
Einige weitere Ausnahmen finden sich in der französischen zeitgenössischen Völkerrechts-
wissenschaft, siehe beispielsweise Chaumont, Cours Général de Droit International Public,
129 Recueil des Cours (1970, I) S. 333, 439.
232
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II),
S. 1, 27.
233
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II),
S. 1, 27 f.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 83
würden.234 Gegen das Genügen eines impliziten Konsenses führte Falk also die soziale
Funktion des Völkerrechts an. Eine Bindung der neuen Staaten an das Allgemeine
Völkerrecht ohne oder gegen deren tatsächlichen Willen lehnte Falk ab und forderte
stattdessen eine Evaluierung und Überarbeitung der bestehenden völkerrechtlichen
Normen, um diese auch den Interessen der neuen Staaten anzugleichen und zum gegen-
seitigen Vorteil aller Staaten zu gestalten.235 Dementsprechend folgerte auch Anand:
It is no use arguing that a state once it is recognized as a state is bound by each and every
rule of international law.236
Auch Abi-Saab maß dem Völkerrecht die Funktion bei, einen akzeptablen Grad
an Weltordnung aufrechtzuerhalten.237 Zentral hierfür war laut Abi-Saab eine
gewisse Stabilität, die aber nicht mit unreflektierter Aufrechterhaltung des status
quo gleichzusetzen sei.238 Vielmehr müsse die Völkerrechtsordnung den Interes-
sen der Staaten insoweit entsprechen, dass nicht ständige Versuche unternommen
würden, die Ordnung zu ändern.239 Erforderlich sei ein in diesem Sinne effektives
Völkerrecht:
Thus, it is only if the international legal order provides the means and procedures for its
own adaption to its social and physical environment and for orderly social change and a
measure of distributive justice in the relations it regulates (…) that the international legal
order would be reflecting the necessary conditions of world order.240
234
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II),
S. 1, 28 f.
235
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1,
31. Zur Überarbeitung der Völkerrechtsordnung siehe unten, Kapitel 4.
236
Anand, New States and International Law (1972), S. 71.
237
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 27.
238
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 28.
239
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 28.
240
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 29.
241
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 106.
242
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 111.
84 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
das soziale Gleichgewicht, könne die Norm damit nur bis zu einem gewissen Grad
umgehen.243 War dieser Grad überschritten, so habe das Recht sich selbst überlebt.
Formales Recht außerhalb des relevanten sozialen Kontexts war für Bedjaoui eine
reine Fiktion.244
[B]y detaching law in this way from the reality it governs and imprisoning it in legal for-
malism, lawyers end by mummifying law and worshipping it for its own sake. This legal
paganism turns law into a new religion centered on itself, whereas it is in fact a science
embedded in reality and performing the eminently social function of regulating relation-
ships between individuals internally and between States externally.245
Vor diesem Hintergrund sei eine vollumfängliche Bindung an die etablierte Völker-
rechtsordnung unabhängig vom Willen der neuen Staaten abzulehnen. Die neuen
Staaten müssten dem Allgemeinen Völkerrecht zumindest implizit zustimmen:
If, in addition, this agreement is lacking as far as the majority of States is concerned, the
rule inevitably loses some of its obligatory force.246
Nach Ansicht der soziologisch wie der sozialistisch geprägten Völkerrechtler musste
sich das Recht den neuen Entwicklungen anpassen, da es andernfalls seine Exis-
tenzgrundlage und -berechtigung verlieren und in die Irrelevanz abdriften würde.
An solche Normen konnten die neuen Staaten aus Sicht der Völkerrechtler in der
Dritten Welt nicht gebunden sein. Die Steuerungskraft des Völkerrechts würde nur
durch einen festen Rückhalt in der Staatengemeinschaft gesichert werden können.247
Das Völkerrecht müsse von den neuen Staaten tatsächlich akzeptiert werden, um
seiner sozialen Funktion gerecht werden zu können.248 Anknüpfend an die uto-
pische Idee einer Weltgemeinschaft, mit der das Völkerrecht auch und gerade im
Wandel untrennbar verbunden sei, kamen die Völkerrechtler in den neuen unabhän-
gigen Staaten also zu einer apologetischen Argumentation, welche letztlich wie die
Berufung auf die staatliche Souveränität und Gleichheit an den staatlichen Willen
anknüpfte. Erst bei diesem zweiten Argumentationsstrang der Völkerrechtler in den
neuen Staaten wird jedoch deutlich, dass diese die Stabilität der Völkerrechtsord-
nung für ebenso essentiell hielten wie die Autoren in den neuen Staaten. Während
die konservative Sicht Stabilität mit einer weitestgehenden Aufrechterhaltung des
243
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 106.
244
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 99.
245
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 100.
246
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 102.
247
Vgl. Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An
Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 102, 121.
248
Castañeda, The Underdeveloped Nations and the Development of International Law, 15
International Organization (1961), S. 39; Abi-Saab, The Newly Independent States and the
Rules of International Law: An Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 101; Anand,
New States and International Law (1972), S. 46, 49, 83; Poulose, Succession in International
Law: A Study of India, Pakistan, Ceylon and Burma (1974), S. 2.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 85
status quo und die Bindung neuer Staaten an denselben assoziierten, verbanden
die progressiven Ansätze Stabilität mit stetiger Veränderung. Hier zeigt sich, dass
sich innerhalb des völkerrechtlich zulässigen Argumentationsrahmens verschiedene
konkurrierende Ergebnisse in einer beliebigen rechtlichen Debatte rechtfertigen
lassen und jede Position im rechtlichen Diskurs damit gleichzeitig eine politische
Position darstellt. In der Frage um die Bindung an das Allgemeine Völkerrecht
machten sowohl Völkerrechtler im Westen wie auch jene aus der Dritten Welt die
Stabilität der Völkerrechtsordnung zu ihrem Ziel, das der Westen durch eine utopi-
sche und die neuen Staaten durch eine apologetische Argumentation zu erreichen
suchten und dadurch zu gegensätzlichen Norminhalten gelangten.
Auffallend ist weiter, dass die Völkerrechtler in der Dritten Welt das Recht ihrer
Heimatstaaten zum „pick and choose“ im Ergebnis bestätigten. Es ging gerade nicht
um eine grundsätzliche theoretische Evaluierung der gesamten Völkerrechtsord-
nung;249 stattdessen sollten die neuen Staaten ganz pragmatisch entsprechend ihrer
Interessen entscheiden können. Dies läuft der Diagnose der Völkerrechtler in der
Dritten Welt bezüglich des kolonialen Impetus der etablierten Völkerrechtsordnung
insofern zuwider, als dass nicht erklärt wird, inwiefern manche der im kolonialen
System entstandene Normen in ihrer spezifischen Funktion im Geflecht der etablier-
ten Völkerrechtsordnung grundsätzlich den Interessen der neuen Staaten entspre-
chen können sollten und andere nicht. Dieses Problem zeigt sich bereits dadurch,
dass die Völkerrechtler in den neuen Staaten das Souveränitätsprinzip durchaus
ambivalent betrachteten. Aber auch die auf soziologischen bzw. sozialistischen
Ideen fußende Position der Völkerrechtler in den neuen Staaten führte letztlich zu
einem voluntaristischen Standpunkt in der Frage nach der Bindung der ehemali-
gen Kolonien an das Allgemeine Völkerrecht und stand so im Widerspruch zu der
Vision der Völkerrechtler in der Dritten Welt von einer neuen globalsolidarischen
Völkerrechtsordnung.250 Insofern ist der Vorwurf an die erste Generation von Völ-
kerrechtlern in der Dritten Welt, praktikable Lösungen der theoretischen Stringenz
vorgezogen zu haben,251 durchaus berechtigt.
249
Dies betont Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 135.
250
Siehe unten, Kapitel 4.
251
Siehe beispielsweise Rajagopal, International Law from Below: Development, Social
Movements and Third World Resistance (2004), S. 26 ff.
Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler
in der Dritten Welt in das Völkerrecht
Aus der Kritik an der etablierten Völkerrechtsordnung und der mangelnden Bindung
ergab sich die Notwendigkeit der Änderung völkerrechtlicher Regelungen: Denn
das Wahlrecht der ehemaligen Kolonien, welche Regeln des Allgemeinen Völker-
rechts sie akzeptierten und welche nicht, führte im Fall der negativen Ausübung
zu neuen völkerrechtlichen Regelungslücken. Um diese zu beseitigen, sollten neue
Regeln des Völkerrechts entwickelt werden, welche die Interessen aller Staaten in
hinreichendem Maße berücksichtigten. Die Völkerrechtler in den neuen Staaten
glaubten dabei an die Möglichkeit und auch die Notwendigkeit, das Völkerrecht aus
sich heraus evolutiv zu verändern und eine wahrhaft universale Völkerrechtsord-
nung zu errichten (I.). Die Vorstellungen der Völkerrechtler in den neuen Staaten,
wie eine solche universale Völkerrechtsordnung auszusehen hätte, lässt sich dabei
als „Globalsolidarisches Projekt“ beschreiben, dessen Verwirklichung die Debatte
um die Bindungsfrage letztlich dienen sollte (II.).
Auf Grund der staatlichen Souveränität und der sich hieraus ergebenden souveränen
Gleichheit der neuen Staaten und ausgehend von der soziologisch bzw. sozialistisch
geprägten Theoriebildung der Völkerrechtler in der Dritten Welt verweigerte sich
der globale Süden einer nonkonsensualen Bindung an die etablierte Völkerrechts-
ordnung. Die ehemaligen Kolonien sollten das Recht haben, jede Norm dahinge-
hend zu überprüfen, ob sie den Interessen der Dritten Welt entsprach oder nicht.
War letzteres der Fall, so musste das Recht aus der Perspektive der Völkerrechtler in
den neuen unabhängigen Staaten geändert werden. Dieses Bedürfnis bestand dabei
laut Abi-Saab gänzlich unabhängig von der völkerrechtstheoretischen Ausrichtung:
Even naturalist and contractualist theories allow for the right of revolution when the legal
system becomes intolerable to its recipients and is at variance with their interests. This is
exactly the moral basis for the demand for a transformation of international law by the
newly independent states.1
Die Völkerrechtler in den neuen Staaten hielten eine solche Transformation des
Völkerrechts für erforderlich. Dabei spielte die koloniale Vergangenheit der neuen
Staaten wiederum eine Sonderrolle gegenüber anderen Fällen der Entstehung neuer
Staaten, wie Abi-Saab betonte:
Revision has come to be considered, both in the inter-war period and at present, as a dirty
word, an excuse or the aggressors to grab what they can lay their hands on. But the situation
is now radically different. Revision is needed not to redistribute colonies and spheres of
influence between a few big powers, but to redress the balance of centuries of domination
and exploitation by these big powers of the newly independent states. The justice of the
latter’s claim for revision is beyond doubt. Revision is needed now not only in specific
situations, subjective rights or contract-treaties, but also in the general rules of international
law themselves.2
1
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 103.
2
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 119. Zu den von Anand erwähnten spezifischen Fragen
der Bindung siehe unten, Teil II und Teil III.
3
Anand, New States and International Law (1972), S. 46.
I. Das Universalisierungspotential des Völkerrechts89
Andernfalls bestünde die Gefahr, dass das Völkerrecht seine Effektivität und die
Internationale Ordnung damit ihre Stabilität einbüße.4 Anand bezog sich hier auf
Röling, der davon ausging, dass die Menschheit nur durch den Wandel der etab-
lierten Völkerrechtsordnung in ein universales System einer globalen Katastrophe
entgehen könne, da das Scheitern einer friedlichen Evolution auf globaler Ebene zur
blutigen Revolution führen würde.5 Ziel dieser Evolution war die Errichtung einer
Völkerrechtsordnung, die den Interessen aller Staaten dienen sollte und insofern
universal war. Mit den Worten von Anand:
Today, with the reappearance of the new African-Asian states, the international society
has become universal. The traditional international law, the parochial law of the European
Powers, is bound to be affected by the new sociological structure of the society. While a
large part of this law is fairly reasonable, useful and adjustable to the new international
social structure, and cannot and should not be discarded, it requires complete overhaul and
adaption to new circumstances. Like the present society and the classical international law,
it must become universal to serve the interests of all the states, and help in the establishment
of peace and security. In order to command respect to all the states it must extend from a
European national law to a common law of mankind.6
Auch hier kommt die bereits oben beschriebene7 Verknüpfung einer apologetischen
Position in Bezug auf die Einzelinteressen der souveränen Staaten mit der utopi-
schen Position in Bezug auf die Interessen der Weltgemeinschaft zum Ausdruck,
welche für die – sich als Kompromiss zwischen voluntaristischen und naturalisti-
schen Ansätzen verstehende – „soziologische Jurisprudenz“ typisch ist.
Durch Anands Zitat wird außerdem deutlich, dass Universalität für die Völker-
rechtler der ersten Generation in der Dritten Welt ein durchweg positiv besetzter
Begriff war. Für Anand hatte die Dekolonialisierung zur Universalisierung der
Internationalen Gemeinschaft geführt, da die ehemaligen Kolonien nun auch zu
den Mitgliedern der Weltgemeinschaft gehörten und diese insofern weltumfassend
sei. Diese Frage der Ausdehnung der Internationalen Ordnung wird heute auch als
formale Universalität bezeichnet.8 Entscheidend sei dabei nicht allein die globale
Geltung des Völkerrechts, die schon zur Jahrhundertwende bestanden hatte, sondern
die Tatsache, dass die ehemaligen Kolonien nun Subjekte und nicht mehr bloße
Objekte dieses Völkerrechts waren.9 Aus der formalen Universalität ergab sich für
4
Siehe oben, Kapitel 3.
5
Konkret bestand die Sorge einer Revolution nach den Vorbildern in Frankreich und Russ-
land, nur auf globaler Ebene. Röling, International Law in an Expanded World (1960),
S. 124 f.; Anand, New States and International Law (1972), S. 115.
6
Anand, New States and International Law (1972), S. 114.
7
Siehe oben, Kapitel 3.
8
Siehe auch Nollkaemper, Universality, Max Planck Encyclopedia of Public International
Law (2013), Rn. 1 ff.; Simma, Universality of International Law from the Persepctive of a
Practitioner, 20 European Journal of International Law (2009), S. 265, 267.
9
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 97 f.
90 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
Anand die Notwendigkeit, dass das Völkerrecht den Interessen aller Staaten dienen
müsse und insofern Universalität erreichen müsse. Dieses Ziel der Völkerrechtler
in der Dritten Welt kann als materielle Universalität bezeichnet werden.10 Diese
unterschiedlichen Universalitätsbegriffe haben jedoch mit der Zeit eine Deutungs-
verschiebung erfahren, so dass sich Vertreter der TWAIL II heute kritisch mit dem
Begriff der Universalität auseinandersetzen. Dies zeigt das folgende Zitat von
Pahuja:
[A] certain set of parochial values came to be elevated to the universal at precisely that
moment that the international community now celebrates in retrospect as the origin of the
‘real’ or ‘true’ universalisation of international law. Unpacking this concentrated moment
of ‘universalisation’ calls into question one of international law’s abiding myths, namely
the equivalence drawn between formal decolonization and the ‘universalisation’ of inter-
national law.11
In den Jahrzehnten nach der Dekolonialisierung sei diese also mit der Universa-
lisierung der Völkerrechtsordnung begrifflich gleichgesetzt worden, womit die
Universalität zum kritischen Begriff wurde, der die tatsächlichen Strukturprob-
leme verschleiere. Aus der ante-hoc-Sicht vieler Vertreter der TWAIL II waren die
meisten Projekte der ersten Generation von Völkerrechtlern in den neuen Staaten
gescheitert; durch die Dekolonialisierung habe sich die Völkerrechtsordnung daher
wenig verändert.12 In der Bedeutungszuschreibung der TWAIL I galt jedoch nur
die Völkerrechtsgemeinschaft als (formal) universal; die (materielle) Universalität
der Völkerrechtsordnung sollte durch die Überschreibung völkerrechtlicher Normen
mit kolonialem Impetus gerade erst hergestellt werden.
Dabei war die Errichtung einer materiell universalen Völkerrechtsordnung nach
der Dekolonialisierung nicht nur das Ziel der Autoren in der Dritten Welt, sondern
auch vieler Völkerrechtler im Westen gewesen. Sogar Völkerrechtler in der Sowjet-
union, in der das Völkerrecht eigentlich nur als Rechtsordnung der Übergangszeit
10
Siehe auch Nollkaemper, Universality, Max Planck Encyclopedia of Public International
Law (2013), Rn. 5 ff.; Simma, Universality of International Law from the Persepctive of a
Practitioner, 20 European Journal of International Law (2009), S. 265, 267 f.
11
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 101. Anghies Universalitätsbegriff ähnelt dem von Pahuja: „Inter-
national law is universal. It is a body of law which applies to all states regardless of their
specific and distinctive cultures, belief systems and political organizations. It is a common
set of doctrines which all states, whether from Europe or Latin America, Africa or Asia use to
regulate relations with each other. The association between international law and universality
is so ingrained that pointing to this connection appears tautologous; it is today hard to con-
ceive of an international law which is not universal. And yet, the universality of international
law is a relatively recent development. It was not until the end of the nineteenth century that a
set of doctrines was established as applicable to all states, whether these were in Asia, Africa
or Europe.“ Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008),
S. 32.
12
Pahuja, Decolonization and the Eventness of International Law, in Johns/Joyce/Pahuja
(Hrsg.), Events: The Force of International Law (2011), S. 91, 101.
I. Das Universalisierungspotential des Völkerrechts91
betrachtet wurde,13 hielten dieses Ziel für realistisch. So meinte der polnische Jurist
Marion Mushkat:
[I]n spite of the political disunity of the world there exists a growing prospect that human
society may yet witness a development of international law of such dimensions that it will
ultimately become a law of a universal community of men.14
Viele Studien setzten sich dabei überwiegend wohlwollend mit den Besonderhei-
ten und Bedürfnissen der ehemaligen Kolonien in den Internationalen Beziehungen
auseinander. In akademischen Kreisen war man sich weitgehend einig, dass die eta-
blierte Völkerrechtsordnung den geänderten Umständen angepasst werden sollte.15
Nur vereinzelt wurde die Eingliederung der neuen Staaten in die etablierte Ordnung
als Rückschritt empfunden:
Too little weight has been given to the devastating inroads which the myth of universality has
chiseled into the very foundations of traditional international law. Some, it is true, appear to
regard this as a good thing; but a complete evaluation must impeach the practice of admitting
into the Society of Nations primeval entities which have no real claim to international status
or the capacity to meet international obligations, and whose primary congeries of contributi-
ons consists in replacing norms serving the common interest of mankind by others releasing
them from inhibitions upon irresponsible conduct. (…) An undignified compulsion to admit
these entities as full-blown members of the international society upon achieving ‘indepen-
dence’ has impeded, not advanced, the emergence of a mature code of conduct.16
13
Zur sowjetischen Völkerrechtsdoktrin siehe bereits oben, Kapitel 3.
14
Mushkat, Some Remarks on the Factors Influencing the Emergence and Evolution of Inter-
national Law, 8 Netherlands International Law Review (1961), S. 341, 359.
15
So auch die Einschätzung von Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of Inter-
national Law (2008), S. 201.
16
Freeman, Professor McDougal’s “Law and Minimum World Public Order”, 59 American
Journal of International Law (1964), S. 711, 712. Freeman setzte sich mit dieser Äußerung
harscher Kritik aus, siehe Falk, International Legal Order: Alwyn V. Freeman vs. Myres
McDougal, 59 American Journal of International Law (1965), S. 66, 67. Den vereinzelt
beachtlichen Gegenwind von Westen nahmen auch Völkerrechtler aus den neuen Staaten
wahr, vgl. Anand, New States and International Law (1972), S. 66; Abi-Saab, The Newly
Independent States and the Rules of International Law: An Outline, 8 Howard Law Journal
(1962), S. 95, 120.
17
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 33.
92 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
establish a universal legal system. All agree on the desirability of universality as an ideal for
international law. All agree also that international law must be liberated from a provincial
identification with a particular culture. Disagreement centers upon the degree of existence
and feasibility of legal universality, given the present structure and climate of international
affairs.18
18
Falk/Mendlovitz, Some Criticism of C. Wilfred Jenks’ Approach to International Law.
14 Rutgers Law Review (1959-1960), S. 1, 4 f.
19
Friedmann, The Changing Structure of International Law (1964), S. 322.
20
Friedmann, The Changing Structure of International Law (1964), S. 298.
21
Friedmann, The Position of Underdeveloped Countries and the Universality of Interna-
tional Law, 1 & 2 Columbia Journal of Transnational Law (1961-1963), S. 78, 79. Dabei
sah Friedmann zumindest einen wesentlichen Teil der völkerrechtlichen Normen auf Grund
übereinstimmender Interessen aller Staaten als universell an, so insbesondere das Koexis-
tenzrecht. Friedmann namentlich über das Koexistenzrecht. Ders., The Changing Structure
of International Law (1964), S. 297.
22
Vgl. Naturalistic and Cultural Foundations for a More Effective International Law, 59 Yale
Law Journal (1950), S. 1430, 431 ff.; ähnlich Mus, Buddhism and World Order, 95 Daedalus
(1966), S. 813, 827.
I. Das Universalisierungspotential des Völkerrechts93
Pluralismus aufbauen.23 Northrop hielt damit anders als Friedmann die nationalen
Interessen nicht für den einzig relevanten Bestimmungsfaktor der Außenpolitik
eines Staates:
To suppose, therefore, that a trustworthy theory for relating nations can be grounded upon
a mere balancing of them as power factors is like treating the ninety-odd chemical elements
with their radically diverse reactions in different combinations as if they were identical
physical entities determined as to their behavior by one physical property only, namely their
respective masses.24
Auch für Jenks bestand der Weg zu einer materiell universalen Völkerrechtsordnung
in einem multikulturellen Völkerrecht, das auf den Rechtstraditionen der alten wie
der neuen Staaten fußen solle und dadurch universale Autorität für sich beanspru-
chen können würde.25
Nach der Rechtstheorie des Völkerrechtlers Myres Smith McDougal und des Poli-
tikwissenschaftlers Harold Dwight Lasswell, beide US-Amerikaner und Begründer
der Schule von New Haven,26 versuchten Menschen in einem weltweiten gesellschaft-
lichen Prozess, durch verschiedene Institutionen und unter der Verwendung von
Ressourcen bestimmte Werte zu verfolgen.27 Die Universalität des Rechts setzte für
McDougal und Lasswell daher die Universalität dieser Werte voraus.28 Dabei wollten
McDougal und Lasswell die für einen solchen Wertekonsens ausschlaggebenden
nationalen Interessen nicht isoliert von ihrer kulturellen Prägung betrachtet wissen:
Friedmann’s general assumption (which even he cannot follow) that cultural factors do
not affect interests, would not appear to have much support in history. His inconsistency
here seems to stem from a confusion of objectives and strategies. Arguably, a democratic
and a totalitarian state will conduct their formal interstate relations by means of the same
23
Northrop, The Taming of Nations (1952), S. 308. Methodisch forderte er eine neue Wissen-
schaft von den Internationalen Beziehungen, die sich auf kultursoziologische, kulturanthro-
pologische und kulturphilosophische Erkenntnisse stützen solle, siehe ders., The Taming of
the Nations (1952), S. 3.
24
Northrop, The Taming of the Nations (1952), S. 3.
25
Vgl. Jenks, The Common Law of Mankind (1958), S. 87 ff. Jenks ging dabei jedoch davon
aus, dass die etablierte Völkerrechtsordnung bereits weitgehend materiell universal sei.
26
Siehe zur Schule von New Haven Reisman/Wiessner/Willard, The New Haven School:
A Brief Introduction, 959 Faculty Scholarship Series Paper (2007), S. 575, 575, Fn. 2.
27
McDougal/Lasswell, The Identification and Appraisal of Diverse Systems of Public Order,
53 American Journal of International Law (1959), S. 1, 6 ff.
28
McDougal/Lasswell, The Identification and Appraisal of Diverse Systems of Public Order,
53 American Journal of International Law (1959), S. 1, 2 f. Ein entsprechender Wertekonsens
bestand für McDougal und Lasswell in Mitten des Kalten Krieges jedoch gerade nicht. Sie
hielten das Postulat einer materiell universalen Völkerrechtsordnung sogar für gefährlich,
da durch diese Mystifizierung die tatsächliche Uneinigkeit über die Regelungen des Völker-
rechts verschleiert würde. Der Fokus lag bei McDougal und Lasswell freilich nicht auf der
unterschiedlichen Ideologie von neuen und alten Staaten; ihre Aufmerksamkeit galt vielmehr
dem Kampf gegen den Totalitarismus der UdSSR.
94 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
strategies; but their objectives in terms of immediate and long-range value allocation will be
affected by the more general perspectives that condition all of their actions, and may differ
greatly in particular context.29
29
McDougal/Reisman, The Changing Structure of International Law: Unchanging Theory for
Inquiry, 65 Columbia Law Review (1965), S. 810, 831.
30
McDougal/Lasswell, The Identification and Appraisal of Diverse Systems of Public Order,
53 American Journal of International Law (1959), S. 1, 4 f.
31
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 16.
32
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 40.
33
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 31.
34
Anand, New States and International Law (1972), S. 51; Okoye, International Law and the
New African States (1972), S. 208 ff.; anders Elias, Africa and the Development of Interna-
tional Law (1972), S. 33: „[M]odern international law must be based on a wider consensus, in
the sense that it must be a reflection of the principal legal systems and cultures of the world.
There is already emerging an ‘international law in a changing world’.”
35
Anand, New States and International Law (1972), S. 116; Abi-Saab, The Third World and
the Future of the International Legal Order, 29 Revue Egyptienne de Droit International
(1973), S. 27, 37; Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967), S. 11.
I. Das Universalisierungspotential des Völkerrechts95
the fact that major legal systems, whether of the West or the East, are in many fundamental
respects unified and contain similar principles of law and justice, such views, as Professor
Lissitzyn correctly points out, not only tend to ‘overlook the diversity of approaches to law
that exist both in the Western as well as the non-Western part of the world’, but ignore the
fact that even ‘the Western cultural tradition is no guarantee of adherence to the ‘rule of law’
in either domestic or internal affairs.’36
Die Tatsache, dass sich die Großzahl der westlichen Autoren für die kulturellen
Besonderheiten der neuen Staaten sensibler gezeigt hatten, als die Völkerrechtler in
den ehemaligen Kolonien selbst, veranlasste Anand zu folgender Äußerung:
In fact, strange as it may seem, there is no noticeable tendency amongst the Asian and African
states to regard international law as a product of the Western civilization or reject it on that
basis. Such views are generally expressed by Western scholars who advocate a ‘new approach’
to international law and its diversification. These Western scholars are of course sometimes
quoted by authors from new states to express discontent with international law. But, as Pro-
fessor Boutros-Ghali points out, ‘It appears that Western scholars are more enthusiastic to see
a ‘new approach’ on the part of the Afro-Asians than the Afro-Asians themselves.’37
Die Betonung der politischen Interessen gegenüber der spezifischen Kultur stand
dabei auch im Zeichen der Idee der Dritten Welt an sich, die Staaten mit unter-
schiedlichen kulturellen Hintergründen auf Grund ihrer gemeinsamen politischen
Interessen einen sollte.38 Diese Position bot jedoch auch Zündstoff für Situationen,
in denen die ehemaligen Kolonien auf Grund nationaler Besonderheiten unter-
schiedliche Interessen vertraten.39 Gleichzeitig warben die Völkerrechtler in den
neuen Staaten, indem sie Friedmanns Position übernahmen, auch um Verständnis
für ihre Heimatländer: Sie stellten deren Verhalten in den Internationalen Bezie-
hungen nicht als Spezifikum des globalen Südens dar, sondern als von der politi-
schen und ökonomischen Lage geprägte Position, die Staaten in derselben Lage in
West und Ost ebenso eingenommen hätten bzw. tatsächlich eingenommen haben.40
Gleichzeitig diente das Herunterspielen der Bedeutung kultureller Unterschiede
auch dazu, Vorurteilen und Diskriminierung vorzubeugen41 und stand auch im
36
Anand, New States and International Law (1972), S. 50; Lissitzyn, International Law in a
Divided World, 542 International Conciliation (1963), S. 3, 59 f.
37
Anand, New States and International Law (1972), S. 52. Anand zitierte hierzu Shihata, The
Attitude of New States Toward the International Court of Justice, 19 International Organiza-
tion (1965), S. 203, 213 f.
38
Vgl. Anand, New States and International Law (1972), S. 51.
39
Siehe hierzu Teil II und Teil III.
40
Anand, New States and International Law (1972), S. 51.
41
Ein Beispiel bildet die angebliche Zurückhaltung der neuen Staaten gegenüber Streitbei-
legungsmechanismen wie dem IGH, siehe Anand, New States and International Law (1972),
S. 49; Shihata, The Attitude of New States Toward the International Court of Justice, 19 Inter-
national Organization (1965), S. S. 203, 203 ff.; Romano, International Justice and Deve-
loping Countries: A Quantitative Analysis, 1 Law and Practice of International Courts and
Tribunals (2002), S. 367, 367 ff.
96 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
Für die Völkerrechtler in den neuen Staaten war eine materielle Universalisierung
des Völkerrechts das erklärte Ziel, das es unter Beachtung der nationalen Interessen
der ehemaligen Kolonien zu erreichen galt; nur wenige von ihnen beschäftigten sich
jedoch auch ausführlich mit der Frage, ob dieses Ziel durch das etablierte Völker-
recht überhaupt erreicht werden konnte. Von der Notwendigkeit der Anpassung der
etablierten Völkerrechtsordnung ging beispielsweise Anand direkt zu deren Mitteln
und Wegen über, ohne in Frage zu stellen, ob eine solche Anpassung möglich war;
dies schien er vielmehr vorauszusetzen.43 Er war wie viele westliche Autoren ohne
Weiteres davon überzeugt, dass das Völkerrecht in seinem bestehenden Rahmen
zu einer materiell universalen Rechtsordnung verändert werden könne.44 Dies
überrascht deshalb, weil die Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt an der
etablierten Völkerrechtsordnung Probleme bei der Realisierung eines materiellen
Völkerrechts durch die etablierte Völkerrechtsordnung mit ihrer kolonialen Prägung
durchaus nahelegte.
Manche Völkerrechtler nahmen sich der Thematik an, behandelten sie jedoch als
weitgehend unproblematisch. Für Abi-Saab hatten die geänderten Umstände und
die Forderungen der Dritten Welt die internationale Ordnung destabilisiert, was
jedoch nicht unbedingt nachteilig sein musste:
Stability is not a virtue in itself, however. Stability is a positive value only from a formal
or systems point of view; it is not necessarily so from the qualitative point of view of the
content of the system, i.e. the functions it purports to perform and the values and interests
in purports to protect. Thus, initial disruption may be beneficial if it leads to qualitative
improvement in the system, hence to a higher level of satisfaction of needs and demand.45
42
Siehe oben, Kapitel 2.
43
Vgl. Anand, New States and International Law (1972), S. 72 f.
44
Für die westliche Debatte siehe beispielsweise Mus, Buddhism and World Order, 95 Dae-
dalus (1966), S. 813, 827; McDougal/Lasswell, The Identification and Appraisal of Diverse
Systems of Public Order, 53 American Journal of International Law (1959), S. 1, 4 f.; Falk,
The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 31;
Mushkat, Some Remarks on the Factors Influencing the Emergence and Evolution of Inter-
national Law, 8 Netherlands International Law Review (1961), S. 341, 359.
45
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 64.
I. Das Universalisierungspotential des Völkerrechts97
Das Völkerrecht habe sich dabei durchaus anpassungsfähig gezeigt.46 Abi-Saab war
jedoch davon überzeugt, dass das Völkerrecht sich nicht nur den Realitäten anpas-
sen musste und konnte, sondern dass es sogar umgekehrt positiven Einfluss auf die
Internationalen Beziehungen ausüben könnte:
This means that the international legal order should not just reflect the actual existing situa-
tion, the existing international system with […] all its imperfections, but should be a factor
in remedying these imperfections and bringing about a change in the international system
[…].47
Bedjaoui stellte zunächst fest, dass Regeln des Völkerrechts wie alles Recht grund-
sätzlich durchaus geändert werden könnten. Auch hier trieb Bedjaoui die angebliche
Position des Westens wieder ins Extreme: Er bezeichnete es als „rechtliches Hei-
dentum“, dass westliche Regierungen das Völkerrecht scheinbar für unabänderlich
hielten und es so in eine auf sich selbst referierende Religion verwandelten, in Recht
um des bloßen Rechtes willen.51 Er hielt es für methodologisch und philosophisch
absurd, jede Veränderung des Rechts als Anti-Recht zu sehen; dies sei lediglich eine
Manifestation des rechtlichen Imperialismus.52 So stellte Bedjaoui fest:
46
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 64.
47
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 65.
48
Vgl. Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 65.
49
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 106.
50
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 105.
51
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 97 ff.; Gathii, A Critical
Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale Elias, 21 Leiden Journal of
International Law (2008), S. 317, 345.
52
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 101.
53
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 101.
98 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
Entwicklung konnte für Bedjaoui dabei nur erreicht werden, wenn das soziale Gleich-
gewicht gestört wurde.54 Mit der Dekolonialisierung war dies geschehen und Bedjaoui
sah die Zeit gekommen, das Völkerrecht zu befreien.55 Das Völkerrecht hatte für ihn
die Fähigkeit, Spannungen in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung
aufzudecken.56 Die veränderte Realität würde durch das Völkerrecht wie durch einen
Zerrspiegel dargestellt und die Notwendigkeit einer Anpassung des Rechts an die
geänderten Umstände würde dadurch umso evidenter.57 Das Recht müsse sich, wenn
auch mit einer gewissen Verzögerung, den gewandelten Umständen anpassen.58
Allerdings versuchten die etablierten Rechtsstrukturen laut Bedjaoui, die kolo-
nialen Gesellschaftsstrukturen aufrechtzuerhalten. Die gesellschaftliche Funktion
des Rechts sei grundsätzlich konservativ, es solle Situationen festigen und Stabilität
herstellen.59 Trotzdem hielt Bedjaoui das Recht für evolutionär und glaubte, dass es
nicht nur passiv Veränderungen aufnehmen, sondern auch aktiv an ihnen mitwirken
könne.60 Das Völkerrecht könne laut Bedjaoui Indikator und Katalysator zugleich
sein.61 Dabei bezog er sich auf die auf den deutschen Gesellschaftstheoretiker Fried-
rich Engels zurückgehende klassisch-marxistische Prämisse, nach der das Recht als
Teil der Superstruktur auch Einfluss auf die Basis ausübe und nicht nur umgekehrt, so
dass Recht und Gesellschaft in einem dialektischen Verhältnis zueinander stünden.62
At such a time, one is conscious of the amazing yet fruitful contradiction contained in law,
the contradiction between its true nature and its real function. On the one hand, it reflects a
social reality which is changing and which it is obliged to try to keep up with, though there
is bound to be some discrepancy and lag. In this, it appears as something evolutionary, On
the other hand, by being the expression of social relations, it fixes or stabilizes the social
milieu of which it is the product. It thus reinforces and protects established practices, rejec-
ting any change which might threaten them, and in this aspect its function is conservative.
Movement and inertia, change and conservatism are the two factors permanently activating
what it is and what it is becoming.63
Dieses dialektische und stark von der sozialistischen Theoriebildung geprägte Ver-
ständnis zeigte sich auch bei Umozurike, der den Neokolonialismus für eine notwen-
dige Übergangsphase im materiellen Dekolonialisierungsprozess hielt, welche durch
die strukturelle Neuaufstellung des Völkerrechtes überwunden werden könnte.64
54
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 109.
55
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 110.
56
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 11.
57
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 111.
58
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 112.
59
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 14.
60
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 97 f.
61
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 111.
62
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 112 f.
63
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 112.
64
Vgl. Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 126.
I. Das Universalisierungspotential des Völkerrechts99
Colonialism was once tolerated by international law, which, like everything else, is subject
to the principle of dialectics. Viewed in historical perspective, the law has been evolving
towards perfection. The concrete situation at any particular time generates a law that takes
care of the situation. The law is the thesis which, lacking perfection, produces its anti-the-
sis. The represents the new concrete situation for which the law becomes outmoded and
unsuitable. There is a conflict between the two, and this may be violent (according to pure
dialectism) but it may also be peaceful. A new law then emerges in response to the new situ-
ation. This becomes a new thesis and the dialectic progression continues towards a perfect
law that not only provides for, but secures, the human rights and the self-determination of
all peoples.65
Noch weiter ging an dieser Stelle Bedjaoui, für den eine materielle Universali-
sierung des Völkerrechts aus der Völkerrechtsordnung heraus nicht nur möglich,
sondern die einzige Möglichkeit war:
In addition, this order ought of necessity to be based on a new international legal order and
could be neither conceived of nor achieved without it.68
Auch jene Völkerrechtler, die sich mit der Frage nach der Möglichkeit, das Völker-
recht aus sich heraus in eine materiell universale Ordnung zu verwandeln, ausei-
nandergesetzt hatten, sprachen der etablierten Völkerrechtsordnung evolutionäres
Potential zu. Dies setzt die erste Generation von Völkerrechtlern aus den neuen
Staaten der Kritik der TWAIL II aus. Schon das Ziel einer materiell universalen
Völkerrechtsordnung, aber auch der Glaube an die Erreichung dieses Ziels aus dem
Völkerrecht selbst implizierte eine grundsätzliche Achtung der rechtlichen Form.
Diese stand jedoch im Spannungsverhältnis zu Bedjaouis Kritik am Formalismus
des Rechts.69 Craven kritisiert Bedjaoui exemplarisch für die unter den Völkerrecht-
lern in der Dritten Welt verbreitete Auffassung, dass das Völkerrecht universalisiert
65
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 138 f.
66
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 144.
67
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 144; Gathii meint,
dass für Umozurike jedoch eine Abkehr von den Internationalen Beziehungen nicht ausge-
schlossen erschien, Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim
Olawale Elias, 21 Leiden Journal of International Law (2008), 317, 341.
68
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 244.
69
Özsu, „In the interests of mankind as a whole“: Mohammed Bedjaoui’s New International
Economic Order, 6 Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism,
and Development (2015), S. 129, 134. Zu Bedjaouis Kritik am Formalismus des Völkerrechts
siehe oben, Kapitel 3.
100 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
werden könne.70 Zwar schlägt Cravens Einwand, dies beruhe auf einer mangeln-
den theoretischen Reflexion über die historisch gewachsenen, strukturellen Mecha-
nismen der etablierten Völkerrechtsordnung, gerade in Bezug auf Bedjaoui nicht
durch.71 Bedjaoui kämpfte für Universalität, war der Universalitätsrhetorik gegen-
über aber auch durchaus kritisch eingestellt, da sie aus seiner Sicht allzu häufig dazu
gedient hatte, den tatsächlichen Mangel an Universalität zu überdecken.72 In der
Konsequenz hat Craven jedoch Recht:
Bedjaoui’s decolonization thus implied as much continuity in the form of ideas and institu-
tions of politics and law, as it did rupture.73
Ähnlich hält Anghie Autoren wie Anand, Bedjaoui und Elias zwar für ausgespro-
chen wichtig, sein Ansatz bezüglich des Verhältnisses von Kolonialismus und Völ-
kerrecht weicht jedoch von ihrem insofern ab, als dass letztere das Völkerrecht von
seinen kolonialen Altlasten befreien und ein neues, offenes und nicht-koloniales
Völkerrecht schaffen wollten.74 Er meint:
It is now hardly disputable that classical international law was complicit in the imperial
project and the exploitation which accompanied it. If, however, the colonial encounter, with
all its exclusions and subordinations, shaped the very foundations of international law, then
grave questions must arise as to whether and how it is possible for the post-colonial world
to construct a new international law that is liberated from these origins.75
Tatsächlich wollte die erste Generation von Völkerrechtlern in der Dritten Welt
die ungerechte Weltordnung mit ihren eigenen Mitteln, nämlich denen des Völ-
kerrechts, schlagen, wozu die Akzeptanz bestimmter völkerrechtlicher Prämissen
erforderlich zu sein schien.76 Bedjaoui etwa versuchte, dies aus einem dialekti-
schen Rechtsverständnis heraus zu plausibilisieren, möglicherweise aber ohne an
dieser Stelle die strukturelle Problematik hinreichend zu berücksichtigen. Dies
hätte jedoch aus seiner Perspektive auch kaum seinem rechtspolitischen Programm
genutzt, für dessen Realisierung er nur den Weg über die etablierte Völkerrechts-
ordnung sah.
70
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 86.
71
Siehe hierzu oben, Kapitel 3.
72
Siehe hierzu oben, Kapitel 3. Ähnlich Özsu, „In the interests of mankind as a whole“:
Mohammed Bedjaoui’s New International Economic Order, 6 Humanity: An International
Journal of Human Rights, Humanitarianism, and Development (2015), S. 129, 132.
73
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 88.
74
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 7 f.
75
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 8.
76
Vgl. Lim, Neither Sheep nor Peacocks: T. O. Elias and Postcolonial International Law, 21
Leiden Journal of International Law (2008), S. 295, 301
II. Das Globalsolidarische Projekt101
The new states, which comprise the largest majority of the new society, have come to
acquire a new influence in the present-day divided world society. Even if weak and under-
developed, they can no longer be ignored or by-passed. They can make their voices heard in
the world forum and hardly lose an opportunity to air their views. Despite all the differen-
ces in their political, social, cultural religious and ethical backgrounds, they have enough
in common to form a group, if not a bloc, and take concerted action in pursuance of their
interests. It is only natural that the new majority should try to mould the law according to
their own view and interests.78
Völkerrechtler haben früh eine Vorstellung davon entwickelt, wie diese gemein-
samen Interessen der Dritten Welt aussehen würden.79 Ein wichtiger Aspekt war
sicherlich der Kampf gegen Rassismus und Kolonialismus.80 Die Dekolonialisie-
rung stellte für die Völkerrechtler in den neuen Staaten jedoch lediglich ein Etap-
penziel dar; langfristig strebten sie nach ökonomischer Unabhängigkeit.81 Anand
schrieb hierzu:
Apart from this struggle against colonialism, international law requires new orientation to
help the poor and underdeveloped states of the third world in their development.82
77
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 203.
78
Anand, New States and International Law (1972), S. 114 f.
79
Auch hier waren westliche Autoren wie Röling und Friedmann Vordenker für die Völker-
rechtler in den neuen Staaten. Siehe Tomuschat, Die Charta der wirtschaftlichen Rechte und
Pflichten der Staaten: Zur Gestaltungskraft von Deklarationen der UN-Generalversammlung,
36 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (1976), S. 444, 459.
80
Anand, New States and International Law (1972), S. 115.
81
Anand, New States and International Law (1972), S. 86; Fatouros, International Law and
the Third World, 50 Virginia Law Review (1964), S. 783, 786.
82
Anand, New States and International Law (1972), S. 115.
102 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
Das wichtigste Ziel der Völkerrechtler in den neuen Staaten und in ihren Heimat-
ländern selbst war deren wirtschaftliche Entwicklung. So wurden die 60er-Jahre
des letzten Jahrhunderts von den Generalversammlung der Vereinten Nationen zur
„Decade of Development“ erklärt, um die global immer weiter auseinanderklaf-
fende Schere zwischen Arm und Reich zu schließen.83 Entwicklung war dabei in den
1960er-Jahren aus der Perspektive der Dritten Welt noch ein gänzlich positiv besetz-
ter Begriff.84 Später geriet der Begriff der Entwicklung bei vom Postkolonialismus
geprägten Völkerrechtlern in der Dritten Welt in die Kritik. So steht für Rajago-
pal hinter dem Begriff Entwicklung ein spezifisch westliches Modell von Moderne
und Fortschritt.85 Für Anghie diente die Unterscheidung zwischen entwickelten und
unterentwickelten Staaten darüber hinaus als neue Spielart der Dynamik des Unter-
schiedes, welche die Dichotomie der zivilisierten und der unzivilisierten Staaten
ersetzte.86 Außerdem sei durch diese Begrifflichkeiten die ethnische Identität der
neuen Staaten marginalisiert worden.87 Für Pahuja waren Armut und Ungleichheit
in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung der Vereinten Nationen allzu leicht-
fertig auf Unterentwicklung geschoben worden, ohne sich mit imperialistischen
83
GA, UN Doc A/Res/1710 (XVI.) (19. Dezember 1961), Abschnitt 1. Drei weitere Entwick-
lungsdekaden sollten bis zum Jahr 2000 folgen.
84
Von Bernstorff, Das Recht auf Entwicklung, in Dann/Kadelbach/Kaltenborn (Hrsg.), Ent-
wicklung und Recht: Eine systematische Einführung (2014), S. 71, 74. Siehe hierzu auch
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 66 ff.
85
Rajagopal, International Law from Below: Development, Social Movements and Third
World Resistance (2004), S. 26.
86
Die Dynamik des Unterschiedes entwickelte in dieser Zeit laut Anghie eine neue Form: Die
Entwicklung wurde zum zentralen Thema für die neuen Staaten, da die Lücke zwischen den
Kolonialmächten und den ehemaligen Kolonien nicht mehr am Zivilisierungs- sondern am
Entwicklungsgrad festgemacht wurde. Innerhalb der neuen Staaten habe der Kampf gegen die
Kolonialherrschaft die verschiedenen ethnischen Gruppen zusammengehalten, die mit dem
Erreichen der Souveränität nun auseinanderzufallen drohten und häufig eine Eigenstaatlich-
keit zum Ziel hatten. Dies habe insbesondere für Afrika gegolten, wo die kolonialen Grenzen
ohne Rücksicht auf die ursprünglichen politischen Einheiten gezogen wurden. Die Dynamik
des Unterschiedes spielte laut Anghie so im Inneren des postkolonialen Staates eine Rolle.
Der Staat habe dabei als Vermittler für Entwicklung fungiert, durch die kulturelle Unter-
schiede überbrückt werden sollten, wozu der Staat in viele Bereiche hineingewirkt habe, die
zuvor dem Brauchtum überlassen gewesen seien. Der Entwicklungsstaat habe universelle
Interessen repräsentiert, die den Interessen der Minderheiten vorgingen. Durch Industriali-
sierung und Modernisierung seien ethnische Identität marginalisiert worden und der Natio-
nalstaat zur relevanten Einheit geworden, in welche Minderheiten assimiliert wurden. Die
Dynamik des Unterschiedes führte laut Anghie also dazu, dass die Minderheit als primitiv
empfunden und im Interesse des modernen, universellen Staates kontrolliert werden musste.
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 203 ff.
87
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 206.
II. Das Globalsolidarische Projekt103
Tendenzen auseinanderzusetzen.88 In dieser Form hatte auch Papst Paul der VI.
in seinem Populorum Progressio im Jahr 1967 die Entwicklung der Völker zum
Thema gemacht und für eine solidarische Entwicklung der gesamten Menschheit
geworben.89 Entwicklung wurde so „zu einem zentralen Gerechtigkeitstopos, ver-
standen als eine progressive Heranführung der dekolonisierten Staaten an den wirt-
schaftlichen und sozialen Standard der Industrienationen.“90
Für Staaten und Völkerrechtler in der Dritten Welt stand die Entwicklungsthema-
tik auch im Zusammenhang mit Überlegungen der Kompensation für die Kolonial-
zeit, da sie nach der Dependenztheorie ihre eigene ökonomische Unterentwicklung
als Kehrseite der wirtschaftlichen Entwicklung der ehemaligen Kolonialherren
betrachteten.91 Es ging den Völkerrechtlern in den neuen Staaten insofern darum,
dass die ökonomisch entwickelten Staaten der Weltgemeinschaft sich ihrer Verant-
wortung gegenüber den minderentwickelten Staaten bewusst und dieser durch die
Übernahme besonderer rechtlicher Verpflichtungen gerecht wurden.92 Jenseits von
solchen Fragen der Umverteilung bzw. der ausgleichenden Gerechtigkeit betonten
die Völkerrechtler in den neuen Staaten jedoch, dass die Entwicklung der Dritten
Welt nicht nur im Interesse dieser Staatengruppe allein stehe, sondern dass der
Wohlstand aller auch dem Frieden und damit den Interessen der Staatengemein-
schaft als Ganzer diene.93 Die Erfüllung des Interesses der neuen Staaten an ihrer
Entwicklung stand beispielsweise für Bedjaoui auch im Interesse der Industriena-
tionen, da nur so die Stabilität des internationalen Systems gewährleistet werden
88
Pahuja, Decolonization and the Eventness of International Law, in Johns/Joyce/Pahuja
(Hrsg.), Events: The Force of International Law (2011), S. 91, 101.
89
Paul VI., Populorum Progressio über die Entwicklung der Völker (1967), abrufbar über
http://w2.vatican.va/content/paul-vi/de/encyclicals/documents/hf_p-vi_enc_26031967_
populorum.html (zuletzt abgerufen am 02.12.2015), Rn. 43 ff. Zur engen Verknüpfung von
katholischer Soziallehre und dem „Standardvokabular des Entwicklungsvölkerrechts“ siehe
Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht und Neugestaltung der internationalen Ordnung:
Rechtstheoretische und rechtspolitische Aspekte des Nord-Süd-Konflikts (1998), S. 136.
90
Von Bernstorff, Das Recht auf Entwicklung, in Dann/Kadelbach/Kaltenborn (Hrsg.), Ent-
wicklung und Recht: Eine systematische Einführung (2014), S. 71, 74.
91
Vgl. Anand, New States and International Law (1972), S. 102; Bedjaoui, Towards a New
International Economic Order (1979), S. 66 ff. Zur Dependenztheorie siehe Dann/Kadel-
bach/Kaltenborn, Dependenztheorie und Entwicklung durch teleologisches Völkerrecht, in
Dann/Kadelbach/Kaltenborn (Hrsg.), Entwicklung und Recht: Eine systematische Einfüh-
rung (2014), S. 23, 23 ff.
92
Vgl. García-Amador, Current Attempts to Revise International Law – A Comparative Ana-
lysis, 77 American Journal of International Law (1983), S. 286, 194.
93
Siehe beispielsweise Anand, New States and International Law (1972), S. 101; Bedja-
oui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 196. So auch viele westliche
Autoren, siehe Tomuschat, Die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten:
Zur Gestaltungskraft von Deklarationen der UN-Generalversammlung, 36 Zeitschrift für
ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (1976), S. 444, 490.
104 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
könne.94 So waren Entwicklung und Frieden für Bedjaoui gemeinsame Ziele aller
Mitglieder der Weltgemeinschaft, zu deren Erreichung die Dritte Welt als Vertrete-
rin der Weltgemeinschaft auftrat und konkrete Forderungen formulierte.95 Bedjaoui
meinte:
[W]hat is at stake is of vital importance to the peace and development of the planet.96
Dabei war die Vision der Völkerrechtswissenschaftler in den neuen Staaten von
einer materiell universalen Völkerrechtsordnung von westlichen Vordenkern inspi-
riert. Um der Entwicklung der neuen Staaten zu dienen, musste sich das Völkerrecht
für Abi-Saab, der sich insofern auf Röling bezog, aus seinem sozialen Embryonal-
stadium herausentwickeln:
A welfare attitude affords protection and help to the weaker members of the community
rather than prescribes theoretical faculties which can, in fact, only be used by the strong
members to the detriment of the weaker ones.97
Wohlstand und Schutz der Schwachen waren auch bei Anand anzutreffende
Motive. Dieser erklärte, die neuen Staaten wollten das Völkerrecht in ein „inter-
national law of protection“ verwandeln, das die wirtschaftlich schwachen Staaten
vor der überbordenden Macht der wirtschaftlich starken Staaten schütze, sowie in
ein „international law of welfare“, das die einheimische Wirtschaft stärke und so
zur wirtschaftlichen Entwicklung der Dritten Welt beitrage.98 Die rechtspolitischen
Initiativen der neuen Staaten sollten zu sozialer Gerechtigkeit und zur wirtschaft-
lichen, sozialen, kulturellen, wissenschaftlichen und technologischen Zusammen-
arbeit aller Staaten führen.99 Anand bezog sich insofern explizit auf Jenks Idee vom
gemeinsamen Recht der Menschheit sowie auf die von Friedmann ausgemachte
Entwicklung vom Koordinations- zum Kooperationsvölkerrecht:100
International law must develop beyond the old concept of coexistence to a new law of
cooperation. We should not let the world hover between endemic chaos, and the prospect
of annihilation precariously restrained by a balance of terror. It is not easy to discard our
94
Vgl. Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 140.
95
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 196.
96
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 176. Dabei bezog sich
Bedjaoui auch auf Papst Paul den VI., für den Entwicklung letztlich schlicht ein neues Wort
für Frieden darstelle, siehe Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979),
S. 197; Paul VI., Populorium Progressio über die Entwicklung der Völker (1967), abrufbar
über http://w2.vatican.va/content/paul-vi/de/encyclicals/documents/hf_p-vi_enc_26031967_
populorum.html (zuletzt abgerufen am 02.12.2015), Rn. 87.
97
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 120; vgl. Röling, International Law in an Expanded
World (1960), S. 68.
98
Anand, New States and International Law (1972), S. 60 f.
99
Vgl. Anand, New States and International Law (1972), S. 62.
100
Zu Jenks und Friedmann siehe bereits oben, Kapitel 3 und 4.
II. Das Globalsolidarische Projekt105
inhibitions and intellectual habits and predilections which are no longer valid in the pre-
sent-day world. But only by discarding old prejudices can we survive the challenge of the
present and enjoy the boundless promise of the future. A vast majority of the people in the
developing countries have nothing to live on and a large majority of men in the developed
countries have nothing to live for. Only by mutual cooperation they can develop a happy
and healthy international society. It must develop from anarchy, which has characterized
international relations throughout history towards an organized world community. It must
become, as has been stressed time and again, the common law of mankind.101
Hinter diesen Worten stand die nach der Dekolonialisierung nicht nur unter Völ-
kerrechtlern in der Dritten Welt verbreitete Forderung nach Solidarität innerhalb
der vielbeschworenen Internationalen Gemeinschaft.102 Letztlich lässt sich die
Forderung der Völkerrechtler in den neuen Staaten damit als – die auch von
der katholischen Soziallehre proklamierte – Entwicklung der Dritten Welt durch
eine solidarische Weltgemeinschaft begreifen. Das rechtspolitische Projekt der
Völkerrechtler in der Dritten Welt, ausgehend von der Frage der Bindung der
ehemaligen Kolonien an das postkoloniale Völkerrecht die Völkerrechtsordnung
materiell zu universalisieren, kann daher vorliegend unter dem Begriff „Global-
solidarisches Projekt“ zusammengefasst werden.103 Der Weg zu einem materiell
universellen Völkerrecht führte über die Verwirklichung dieses Globalsolida-
rischen Projekts, wobei die Bindungsfrage gleichsam als Türöffner fungierte,
der die Debatte um die Reform des Völkerrechts erst notwendig machte. Özsu
schreibt:
101
Anand, New States and International Law (1972), S. 116. Ähnlich auch Abi-Saab, The
Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue Egyptienne de Droit
International (1973), S. 27, 65.
102
Vgl. beispielsweise Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979),
S. 127; Röling, International Law in an Expanded World (1960), S. 124 ff.
103
Der hier gewählte Begriff des „Globalsolidarischen Projekts“ hat eine große Schnittmenge
mit einem weiten Begriffsverständnis der Neuen Weltwirtschaftsordnung, wie es vereinzelt
in der Literatur anzutreffen ist: „[D]espite its title, the New International Economic Order is
not exclusively ‘economic’ in character. It contains much broader dimensions, consequently
making it look rather like a proposal to review and restructure the entire existing international
order. The reaffirmation of such principles as the sovereign equality of States, self-determi-
nation, and non-intervention, along with the extension of assistance to developing countries,
peoples, and territories under colonial and alien domination, seem to indicate that the idea is
to ensure the realization of NIEO's developmental goals by incorporating such principles into
the proposed new order.” García-Amador, The Proposed New International Economic Order:
A New Approach to the Law Governing Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of
The Americas (1980), S. 1, 14 f. Zur Neuen Weltwirtschaftsordnung siehe sogleich. Der
Begriff „Globalsolidarisches Projekt“ soll über diese Neuordnung der Internationalen Bezie-
hungen hinaus deren für die vorliegende Arbeit bedeutsame ideologische und zeitgeschicht-
liche Hintergründe – die Kritik an der kolonialen Prägung des Völkerrechts, die Frage der
Bindung der neuen Staaten an das etablierte Völkerrecht, die Idee von Gerechtigkeit und
Frieden durch Entwicklung im Rahmen einer solidarischen Weltgemeinschaft – betonen.
106 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
The rhetoric of ‘solidarity’ was ubiquitous at the time, made all the more fashionable by its
elasticity and imprecision.104
Während die Völkerrechtler in der Dritten Welt also mit der Souveränität der neuen
Staaten apologetisch gegen deren Bindung an das etablierte Völkerrecht argumen-
tiert hatten, sollte nun der Westen auf Grund der – in der genannten Debatte als
Bindungsgrund von den ehemaligen Kolonien zurückgewiesenen – Internationalen
Gemeinschaft Änderungen der Völkerrechtsordnung im Sinne einer Solidarität mit
der Dritten Welt mittragen. Die Antwort des Westens sollte eine spiegelbildliche
Änderung der Argumentation sein.105 Außerdem konnte die Idee der Weltgemein-
schaft in anderem Kontext wieder gegen die eigentlichen Interessen der Dritten
Welt verwendet werden, wie Pahuja betont:
The idea that the development of the underdeveloped is in the global interest foreshadows
the way that the political and economic teeth were removed from attempts to assert a New
International Economic Order and to make Permanent Sovereignty over Natural Resources
through a casting of those resources as something belonging to the ‘international commu-
nity’ as a whole […].106
Aus dem Ziel der wirtschaftlichen Entwicklung der Dritten Welt ergab sich eine
stark ökonomische Orientierung des Globalsolidarischen Projekts. Im Zentrum
stand dabei – sowohl seitens der Völkerrechtler in den neuen Staaten wie auch
seitens der Regierungen ihrer Heimatländer – die Forderung nach der Errichtung
104
Özsu, „In the interests of mankind as a whole“: Mohammed Bedjaoui’s New International
Economic Order, 6 Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism,
and Development (2015), S. 129, 130.
105
Hierzu sogleich und unten, Teil II und Teil III.
106
Pahuja, Decolonization and the Eventness of International Law, in Johns/Joyce/Pahuja
(Hrsg.), Events: The Force of International Law (2011), S. 91, 100.
107
Pahuja, Decolonization and the Eventness of International Law, in Johns/Joyce/Pahuja
(Hrsg.), Events: The Force of International Law (2011), S. 91, 100.
II. Das Globalsolidarische Projekt107
Hierfür nutzte die Dritte Welt insbesondere die Vereinten Nationen (a.); ihr Versuch, auf
diesem Wege eine neue Weltwirtschaftsordnung zu errichten, schlug jedoch fehl (b.).
Das System der Vereinten Nationen erkennt die Entwicklung der Weltwirtschaft
in Artikel 55 VN-Charta zwar als wesentlich an, sieht zu deren Implementierung
mit Art. 56 aber kaum wirksame Mechanismen innerhalb der Weltorganisation vor.
Diese wurde nach dem Zweiten Weltkrieg primär den auf der Konferenz von Bretton
Woods im Jahr 1944 gegründeten und von den Industrienationen kontrollierten Ins-
titutionen, nämlich dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, über-
lassen, während eine angedachte Internationale Handelsorganisation nie zustande
kam.111 Stattdessen bildete das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (General
Agreement of Tariffs and Trade, kurz GATT) mit dem Meistbegünstigungsprinzip
108
Zur Erläuterung des Globalsolidarischen Projekts sollen hier lediglich die Grundzüge der
Debatte um die Neue Weltwirtschaftsordnung dargestellt werden. Ausführlicher siehe bei-
spielsweise Agarwala, The New International Economic Order: An Overview (1983); Muk-
herjee/Mukherjee, A New International Economic Order (1985); Oppermann/Petersmann
(Hrsg.), Reforming the International Economic Order: German Legal Comments (1987).
109
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 128; Anand, New
States and International Law (1972), S. 97 f.; García-Amador, The Proposed New Interna-
tional Economic Order: A New Approach to the Law Governing Nationalization and Com-
pensation, 12 Lawyer of The Americas (1980), S. 1, 10 ff.; Anghie/Chimni, Third World
Approaches to International Law and Individual Responsibility in Internal Conflicts, 2(1)
Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 82.
110
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 197; Paul VI., Populo-
rium Progressio über die Entwicklung der Völker (1967), abrufbar über http://w2.vatican.va/
content/paul-vi/de/encyclicals/documents/hf_p-vi_enc_26031967_populorum.html (zuletzt
abgerufen am 02.12.2015), Rn. 87.
111
Sacerdoti, New International Economic Order (NIEO), Max Planck Encyclopedia of
Public International Law (2013), Rn. 6.
108 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
den Rahmen für den Welthandel. Die neuen Staaten waren bestrebt, dieses frag-
mentierte und liberal ausgerichtete Weltwirtschaftssystem zu ihren Gunsten umzu-
gestalten, wobei es ihnen konkret insbesondere darum ging, die Kontrolle über
ihre natürlichen Ressourcen sowie Handlungsspielräume gegenüber ausländischen
Investoren zurückzuerhalten.112 Dabei wählten sie insbesondere den Weg über die
Generalversammlung der Vereinten Nationen.113
Die Vereinten Nationen dienten den ehemaligen Kolonien als Plattform, auf der
sie ihre Forderungen für eine breite Weltöffentlichkeit zugänglich artikulieren und
so Druck auf die Großmächte ausüben konnten.114 Die Weltorganisation hatte bereits
eine wesentliche Rolle im Dekolonialisierungsprozess eingenommen, etwa in den
Fällen von Indonesien, Tunesien, Marokko und Algerien.115 Internationale Organi-
sationen wie die Vereinten Nationen bargen für die Völkerrechtswissenschaft in den
neuen Staaten aber das Problem, dass sie Institutionen darstellten, die ebenso wie
das traditionelle Völkerrecht ohne Mitwirkung der ehemaligen Kolonien entstanden
waren. So sah Abi-Saab Internationale Organisationen als von Anfang an w estlich
geprägte Institutionen an.116 Die Staaten der Dritten Welt hätten an der Entste-
hung des Systems der Internationalen Organisationen nach den Zweiten Weltkrieg
112
Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual Responsibi-
lity in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 82.
113
Anand, New States and International Law (1972), S. 73; Mazower, Die Welt regieren: Eine
Idee und ihre Geschichte (2013), S. 263 ff.
114
Vgl. Anand, New States and International Law (1972), S. 73 f.; Elias, Africa and the
Development of International Law (1972), S. 24.
115
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 104; Mazower, Die Welt regieren: Eine Idee und ihre
Geschichte (2013), S. 259 ff. Dabei lässt sich die Rolle der Vereinten Nationen im Dekolo-
nialisierungsprozess durchaus ambivalent beurteilen, siehe Pahuja, Decolonization and the
Eventness of International Law, in Johns/Joyce/Pahuja (Hrsg.), Events: The Force of Inter-
national Law (2011), S. 91, 92, 94 ff.
116
Abi-Saab, Introduction, in ders. (Hrsg.), The Concept of International Organization
(1981), S. 20. Abi-Saab beschrieb auch das Verhältnis der Ersten und Zweiten Welt zu Inter-
nationalen Organisationen: Während westliche Staaten ursprünglich dazu tendiert hätten, die
Befugnisse Internationaler Organisation extensiv zu interpretieren, führten das Anwachsen
der Neuen Staaten und der damit einhergehende Kontrollverlust des Westens zu einer dis-
tanzierteren Haltung. Diese Entwicklung ginge mit einer verstärkten regionalen Zusammen-
arbeit insbesondere in Europa einher, so Abi-Saab. Die Sowjetunion nutzte Internationale
Organisationen trotz negativer Erfahrungen mit dem Völkerbund, um ihre Stellung als Welt-
macht zu stärken. Als Teil der Superstruktur reflektierten Internationale Organisationen für
die UdSSR jedoch den Klassenkampf und wurden zu dessen Schauplatz. Solange sich die
sozialistischen Staaten also in der Minderheit befanden, verfolgte die Sowjetunion eine sehr
restriktive Politik gegenüber den Kompetenzen Internationaler Organisationen. Mit Entspan-
nungen im Kalten Krieg und dem Anwachsen der Dritten Welt ging jedoch auch die UdSSR
flexibler mit Internationalen Organisationen um. Abi-Saab, Introduction, in ders. (Hrsg.), The
Concept of International Organization (1981), S. 21 f.
II. Das Globalsolidarische Projekt109
Elias sah in dem unerwartet raschen Anwachsen der Zahl Internationaler Organi-
sationen die neben der Dekolonialisierung einflussreichste Entwicklung auf dem
Gebiet des Völkerrechts seit dem Zweiten Weltkrieg.119 Dabei nahmen die Vereinten
Nationen als erste Organisation mit universeller Mitgliedschaft eine Sonderrolle ein:
Membership of the Organization proved to be a status symbol for all newly independent
States everywhere.120
Die Vereinten Nationen boten laut Elias neue Entfaltungsmöglichkeiten für die neu-
begründete Souveränität der neuen Staaten.121 Von diesen würden die neuen Staaten
zukünftig immer mehr Gebrauch machen:
Independence has led to membership of the United Nations and its organs and the conse-
quent widening of the international horizon of all member nations, resulting in the estab-
lishment of new institutions and processes and in the enlargement of participation in the
making and development of contemporary international law. […] The contribution which
the third world in general, and Africa in particular, is making to contemporary international
law will in time increase both in quantity and quality especially within the framework of
the United Nations.122
Strukturell war der Sicherheitsrat mit seinen ständigen Mitgliedern, zu denen mit
Großbritannien und Frankreich zwei große ehemalige Kolonialmächte gehörten,
für die neuen Staaten aber problematisch.123 Die Generalversammlung erließ ihre –
allerdings nach der Charta in den meisten Fällen rechtlich unverbindlichen – Reso-
lutionen hingegen nach dem System „one state, one vote“ und wurde somit zum
Schauplatz vieler Initiativen der Dritten Welt, die hier eine solide Mehrheit für sich
beanspruchen konnte.124 Die Generalversammlung wurde von Völkerrechtlern in
den neuen Staaten als demokratisches Weltparlament gefeiert:
117
Abi-Saab, Introduction, in ders. (Hrsg.), The Concept of International Organization
(1981), S. 22 f.
118
Abi-Saab, Introduction, in ders. (Hrsg.), The Concept of International Organization
(1981), S. 23.
119
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. V.
120
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 23.
121
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 24.
122
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 33.
123
Bedjaoui, A Third World View of International Organizations. Actions Towards a New
International Economic Order, in Abi-Saab (Hrsg.), The Concept of International Organiza-
tion (1981), S. 159, 223.
124
Siehe hierzu Art. 9 ff. VN-Chata.
110 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
Die Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung sollte demnach auf der sou-
veränen Gleichheit der Staaten fußen und materielle Ungleichheiten in Bezug auf
die Entwicklung ausgleichen. Diese Resolution wurde von einer zweiten flankiert,
die ein Aktionsprogramm zur Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung auf-
stellte, welches auch die zügige Annahme der Charta der wirtschaftlichen Rechte
und Pflichten der Staaten (NIEO-Charta) beinhaltete.130 Ein zeitgenössischer Beob-
achter schrieb:
125
Anand, New States and International Law (1972), S. 73 f.
126
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 202.
127
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 140; vgl. auch Schrij-
ver, Sovereignty over Natural Ressources: Balancing Rights and Duties (1997), S. 34.
128
GA, UN Doc A/Res/1995 (XIX), (30. Dezember 1964). Zu den Anfängen der UNCTAD
siehe Koul, The Legal Framework of UNCTAD in World Trade (1977), S. 3 ff.
129
GA, UN Doc A/Res/3201 (S-VI) (1. Mai 1974), Präambel.
130
GA, UN Doc A/Res 3202 (S-VI) (1. Mai 1974); GA, UN Doc A/Res/29/3281 (12. Dezem-
ber 1974).
II. Das Globalsolidarische Projekt111
Die Charta [der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten] sollte als ergänzender
Rechtsakt die Völkerrechtsgesellschaft endgültig als Solidargemeinschaft konstituieren.
Durchaus nicht ohne Berechtigung läßt sich daher eine Parallele herstellen zu den völker-
rechtlichen Instrumenten des Menschenrechtsschutzes. So wie der Pakt über bürgerliche
und politische Rechte im wesentlichen die Freiheiten des selbstverantwortlich handeln-
den Individuums garantiert und für sich allein genommen unvollständig wäre, wenn nicht
der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte die existenziellen Grundlagen
sichern würde, auf die der einzelne für die Entfaltung seiner Persönlichkeit dringend ange-
wiesen ist, sollten sich auch die Erklärung über freundschaftliche Beziehungen und die
Charta zu einem geschlossenen Ordnungsrahmen für den zwischenstaatlichen Verkehr
zusammenfügen.131
Die Wahl der Generalversammlung als Rahmen für die Umsetzung der NIEO wurde
von den Völkerrechtlern in der Dritten Welt unterstützt und führte auch im Westen
zu neuen Ansätzen in der Rechtsquellenlehre; so sollten nach einer im Vordringen
befindlichen, dabei aber insbesondere von konservativen, positivistisch argumen-
tierenden Völkerrechtlern bestrittenen Ansicht per Mehrheitsentscheidung ver-
abschiedete Resolutionen neben völkerrechtlichen Verträgen ein zentrales Mittel
zum Wandel der etablierten Völkerrechtsordnung und zu ihrer Anpassung an die
veränderten sozialen Realitäten werden.132 Gerade die Völkerrechtler in den neuen
Staaten maßen Resolutionen der Generalversammlung zumindest eine begrenzte
legislative Wirkung bei.133 Dieser „trend from consent to consensus“, wie Falk die
Entwicklung beschrieb,134 war der voluntaristischen Konzeption der neuen Staaten
131
Tomuschat, Die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten: Zur Gestal-
tungskraft von Deklarationen der UN-Generalversammlung, 36 Zeitschrift für ausländisches
öffentliches Recht und Völkerrecht (1976), S. 444, 460.
132
Zu der Debatte siehe Higgins, The Development of International Law Through the Politi-
cal Organs of the United Nations (1963), S. 5; Falk, On the Quasi-Legislative Competence
of the General Assembly, 60 American Journal of International Law (1966), S. 782, 782 ff.;
Bedjaoui, A Third World View of International Organizations. Actions Towards a New Inter-
national Economic Order, in Abi-Saab (Hrsg.), The Concept of International Organization
(1981), S. 210 ff.; Anand, New States and International Law, Max Planck Encyclopedia of
Public International Law (2013), Rn. 22.; Castañeda, The Underdeveloped Nations and the
Development of International Law, 15 International Organization (1961), S. 43 f.; Abi-Saab,
The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline, 8 Howard
Law Journal (1962), S. 95, 109 f.; Anand, New States and International Law (1972), S. 73
f.; Tomuschat, Die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten: Zur Gestal-
tungskraft von Deklarationen der UN-Generalversammlung, 36 Zeitschrift für ausländisches
öffentliches Recht und Völkerrecht (1976), S. 444 ff.; Asamoah, The Legal Significance of
the Declarations of the General Assembly of the UN (1966), S. 46 ff. Siehe hierzu auch ICJ,
ICJ-Reports 1966, S. 6, 50 f., Rn. 98.
133
Anand, New States and International Law (1972), S. 74.
134
Falk, On the Quasi-Legislative Competence of the General Assembly, 60 American Journal
of International Law (1966), S. 782, 785.
112 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
in der Frage nach ihrer Bindung an das Allgemeine Völkerrecht aber diametral ent-
gegengesetzt und entsprechend angreifbar.135
Tatsächlich stand etwa Bedjaouis Forderung nach einem „Völkerrecht der Teil-
habe“,136 das durch eine Demokratisierung der Internationalen Beziehungen auf der
Grundlage der souveränen Gleichheit entstehen solle,137 in einem Spannungsver-
hältnis zu der ebenfalls souveränitätsorientierten, aber dabei stark voluntaristisch
geprägten Position der Neuen Staaten in der Frage nach deren Bindung an das All-
gemeine Völkerrecht. Hier ging es gerade nicht um eine Zustimmung jedes einzel-
nen Staates zu einer neuen Norm, wie sie die Völkerrechtler in den ehemaligen
Kolonien für ihre Heimatstaaten in der Bindungsfrage eingefordert hatten; statt-
dessen wurde das Grundprinzip der souveränen Gleichheit hier mehr im Sinne einer
Wahlrechtsgleichheit bemüht. Hier wird offenkundig, dass die Völkerrechtler in den
neuen Staaten diesem Prinzip keinen klar definierten Inhalt gaben, sondern flexibel
zur Unterstützung ihrer Position nutzten. Dies gilt umso mehr mit Blick auf die
Forderung der Völkerrechtler in den neuen Staaten sowie ihrer Heimatländer, die
neue Weltwirtschaftsordnung auf Grundlage der souveränen Gleichheit der Staaten
zu errichten.138 Während beispielsweise Abi-Saab in der Bindungsdebatte nämlich
erklärt hatte, die neuen Staaten würden alle effektiv-reziproke Völkerrechtsnormen
anerkennen, wurde gerade im Weltwirtschaftsrecht eine nicht-reziproke Behand-
lung der Entwicklungsländer gefordert.139 So meinte in diesem Kontext etwa Anand,
die unmittelbare Reziprozität müsse als Prinzip aufgegeben werden, beispielsweise
durch „[o]ne-way free trade of tropical products; the revision of tariff structures
in favour of the developing world; permission to protect infant-industries in deve-
loping countries; preferential entry for their manufactured goods into Western
markets“.140 Beispiele für eine solche bevorzugte und damit ungleiche Behandlung
135
Viele westliche Staaten und Völkerrechtler hielten dies für problematisch, da auf diese Art
Staaten, die nur einen Bruchteil der Weltbevölkerung ausmachten und gleichzeitig auch einen
nur sehr geringen Anteil zum Budget beitrugen, eine Zwei-Drittel-Mehrheit formten und
so Beschlüsse fassen konnten. Solche Resolutionen wurden als rücksichtslos und friedens-
gefährdend bezeichnet; den neuen Staaten wurde vorgeworfen, Druck auf die alten Staaten
auszuüben und sich unverantwortlich zu verhalten: „Majority decisions in the equilitarian
[sic!] General Assembly are likely to be undemocratic in the sense that they do not represent a
majority of the world’s population, unrealistic in the sense that they do not reflect the greater
portion of the world’s real power, morally unimpressive in the sense that they cannot be iden-
tified as expression of the dominant will of a genuine community, and for all these reasons
ineffectual and perhaps even dangerous.” Claude, Swords into Plowshares (2. Auflage 1963),
S. 139. Siehe auch Anand, New States and International Law (1972), S. 74.
136
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 12.
137
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 196.
138
Siehe GA Res 3201 (S-VI), Declaration on the Establishment of a New International Eco-
nomic Order, 1. Mai 1974, Präambel.
139
Siehe Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An
Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 106; vgl. auch Anand, New States and Inter-
national Law (1972), S. 63, 109.
140
Anand, New States and International Law (1972), S. 109.
II. Das Globalsolidarische Projekt113
der Entwicklungsländer finden sich auch in den Artikeln 8, 9, 11, 13, 17, 19 der
NIEO-Charta. Ein zeitgenössischer Beobachter schrieb:
As paradoxical as it may seem, the principle of the legal equality of States has been invoked
to rationalize the claim of unequal, preferential treatment in favor of the developing
countries.
[…] Logically speaking, the foregoing construction of the old, almost venerable princi-
ple of the legal equality of States (or for that matter, a similar construction of the modem,
though somewhat equivocal expression adopted by the UN Charter – the principle of the
"sovereign equality" of the Members of the Organization) does not seem to be a sound
rationale for advocating that unequal and preferential treatment be given to countries in
certain stages of development.141
Das Globalsolidarische Projekt stellt damit eine utopische Idee dar. Die Völker-
rechtler in den neuen Staaten argumentierten also zum einen gegen eine Bindung
der neuen Staaten an das etablierte Völkerrecht und zum anderen für eine Bindung
141
García-Amador, The Proposed New International Economic Order: A New Approach to the
Law Governing Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of The Americas (1980), S. 1, 19.
142
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 127.
143
Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht und Neugestaltung der internationalen Ordnung:
Rechtstheoretische und rechtspolitische Aspekte des Nord-Süd-Konflikts (1998), S. 131.
144
Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht und Neugestaltung der internationalen Ordnung:
Rechtstheoretische und rechtspolitische Aspekte des Nord-Süd-Konflikts (1998), S. 132.
145
Schröder, Die Dritte Welt und das Völkerrecht (1970), S. 44; vgl. auch Kaltenborn, Ent-
wicklungsvölkerrecht und Neugestaltung der internationalen Ordnung: Rechtstheoretische
und rechtspolitische Aspekte des Nord-Süd-Konflikts (1998), S. 132.
114 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
der alten Staaten an die Neue Weltwirtschaftsordnung und beriefen sich jeweils
zumindest auch auf den Willen der Weltgemeinschaft, den sie mit einer Reihe vom
Werten assoziierten, welche insbesondere den Interessen der neuen Staaten dienen
sollten. Das Globalsolidarische Projekt ergab sich insofern aus einem programma-
tischen Völkerrechtsverständnis, wie es auch dem in der französischen Literatur
dieser Zeit prominenten Begriff des Entwicklungsvölkerrechts zugrunde lag.146
Obwohl Teile der Völkerrechtswissenschaft in Ost und West durchaus mit der über-
positiven Ausrichtung des Völkerrechts entsprechend den Werten einer solidarischen
Weltgemeinschaft sympathisierten, scheiterte das Globalsolidarische Projekt der Völ-
kerrechtler in den neuen Staaten mit den Initiativen ihrer Heimatländer am Widerstand
der Industrienationen, die sich unter Berufung auf das Konsensprinzip gegenüber
einer Änderung der Völkerrechtsordnung verschlossen und dabei spiegelbildlich zu
den Völkerrechtlern in der Dritten Welt den argumentativen Standpunkt wechselten.147
Die Bemühungen der Entwicklungsländer in der UNCTAD führten zwar im Jahr
1965 zur Aufnahme nicht-reziproker Vereinbarungen in das GATT von 1947 und
somit zu einem Etappensieg im Kampf um eine Neue Weltwirtschaftsordnung.148
Das Verhältnis dieser Staatengruppen zueinander ist seitdem von einer Art Doppel-
standard geprägt, der Diskriminierungen zugunsten von Entwicklungsländern – bei
Abschleifung bisheriger Prinzipien wie der „most favoured nation“-Regel – legi-
timiert.149 Darüberhinausgehend hielt die weitere Debatte um die Errichtung einer
146
Virally, Le droit international au service de la paix, de la justice et du développement
(1991); Bouveresse, Droit et politiques du développement et de la coopération (1990); Ben-
nouna, Droit international du développement, Berger-Levrault Paris (1983). Vgl. Kaltenborn,
Entwicklungsvölkerrecht und Neugestaltung der internationalen Ordnung: Rechtstheoreti-
sche und rechtspolitische Aspekte des Nord-Süd-Konflikts (1998), S. 143. Der Begriff des
Entwicklungsvölkerrechts beschreibt dabei kein eigenes Teilrechtsgebiet des Völkerrechts,
sondern erstreckte sich auf unterschiedliche (insbesondere wirtschafts-)völkerrechtliche
Prinzipien. Im selben Kontext entstand auch das Menschenrecht auf Entwicklung. Krajew-
ski, Wirtschaftsvölkerrecht (2. Auflage 2009), S. 259 ff.; zur Debatte über diesen Begriff
siehe Neß, Das Menschenrecht auf Entwicklung: Sozialpolitisches Korrektiv der neolibera-
len Globalisierung (2004), S. 24 ff.; von Bernstorff, Das Recht auf Entwicklung, in Dann/
Kadelbach/Kaltenborn (Hrsg.), Entwicklung und Recht: Eine systematische Einführung
(2014), S. 71, 71 ff.; García-Amador, The Proposed New International Economic Order:
A New Approach to the Law Governing Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of
The Americas (1980), S. 1, 15.
147
Siehe Kapitel 2 sowie Teil II und Teil III.
148
Siehe Schütz, Solidarität im Wirtschaftsvölkerrecht: Eine Bestandsaufnahme zentraler ent-
wicklungsspezifischer Solidarrechte und Solidarpflichten im Völkerrecht (1994), S. 57 ff.
149
Vgl. hierzu García-Amador, The Proposed New International Economic Order: A New
Approach to the Law Governing Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of The Ame-
ricas (1980), S. 1, 20.
II. Das Globalsolidarische Projekt115
Neuen Weltwirtschaftsordnung bis Mitte der 1980er-Jahre an, flaute aber bis zum
Ende des Kalten Krieges ab, bekam dann neuen Aufwind und scheiterte schließlich.150
In anderen vom Globalsolidarischen Projekt erfassten Rechtsbereichen fällt die
Bilanz aus heutiger Sich ähnlich aus: So wollten Völkerrechtler und Staaten der
Dritten Welt unter Berufung auf das kollektive Interesse der Weltgemeinschaft bei-
spielsweise auch eine Neue Informationsordnung151 errichten, die nukleare Abrüs-
tung152 fördern und das Seerecht153 reformieren und dabei auch präkoloniale rechtli-
che Konzepte des globalen Südens einbringen.154 Letztlich konnten die ehemaligen
Kolonien sich jedoch in keiner dieser Fragen durchsetzen; das Globalsolidarische
Projekts sollte damit in allen Teilbereichen scheitern. Als Gründe hierfür gelten
heute beispielsweise die Schuldenkrise sowie die Uneinigkeit zwischen den ölpro-
duzierenden und den nicht-ölproduzierenden Staaten der Dritten Welt.155
Mit Blick auf die gescheiterten Initiativen der Dritten Welt in den Vereinten
Nationen resümiert der britische Historiker Mark Mazower:
Die Entkolonialisierung brachte nicht mehr Macht, sondern einen Bedeutungsverlust mit
sich. Weit entfernt davon, die Ambitionen der Großmächte besser kontrollieren zu können,
geriet die Generalversammlung zunehmend in die Rolle eines Debattierclubs. In der Politik
ging es in der UN immer mehr um Symbolisches, immer weniger um Substanzielles. Es
war, als ob die Entkolonialisierung nicht nur den Triumph der UN markierte, sondern ihren
welthistorischen Höhepunkt.156
150
Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht und Neugestaltung der internationalen Ordnung:
Rechtstheoretische und rechtspolitische Aspekte des Nord-Süd-Konflikts (1998), S. 21 ff.
151
Pavlič/Hamelink, The New International Economic Order: Links between Economics and
Communications (1985), S. 13 ff.
152
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 118; Asian-African Legal Consultative Committee,
Report of the Sixth Session held at Cairo from 24th February to 6th March 1964, The Legality
of Nuclear Tests: Report of the Committee and Background Material, S. 1 ff.; siehe auch Khan,
Group of 77 (G77), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2011), Rn. 8.
153
So sollte nach der Vorstellung vieler Völkerrechtler in der Dritten Welt eine Internatio-
nale Meeresbodenbehörde gegründet werden, welche die Erforschung und Ausbeutung der
Ressourcen innerhalb der internationalisierten Gewässer überwachen sollte. Siehe hierzu
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 216; Anand, Origin
and Development of the Law of the Sea: History of International Law Revisited (1983);
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 118; Zu der ganzen Debatte siehe Graf Vitzthum/Platz-
öder, Pro und Contra Seerechtskonvention, 19 Europa Archiv: Zeitschrift für Internationale
Politik (1982), S. 567, 567 ff.
154
Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual Responsi-
bility in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 80 f.; siehe
hierzu schon oben, Kapitel 2.
155
Salomon, From NIEO to Now and the Unfinished Story of Economic Justice, 62 Inter-
national and Comparative Law Quarterly (2013), S. 31, 46 f.; Mickelson, Rhetoric and Rage:
Third World Voices in International Legal Discourse, 16 Wisconsin International Law Journal
(1997-1998), S. 353, 373.
156
Mazower, Die Welt regieren: Eine Idee und ihre Geschichte (2013), S. 281.
116 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
Rajagopal kritisiert heute das unreflektierte Verhältnis der TWAIL I gegenüber dem
Entwicklungsbegriff einerseits und den Vereinten Nationen andererseits:
It is my suggestion that most, if not all, of these international lawyers of the post-WWII
period shared an essential belief in the emancipatory ideas of western modernity and pro-
gress embedded in the new discipline of development, and looked upon international insti-
tutions as embodiments of the peculiar western modernity that would advance their respec-
tive projects. This convergence – in pragmatism and institutionalism – played a major role
in consolidating international institutions as apparatuses of management of social reality
in the Third World. Such convergence ensured that even the most radical critiques of inter-
national law by Third World lawyers were not directed at development or international
institutions, while the renewalist attempts by First World lawyers were also firmly located
within this dialectic of institutions and development.157
Now the non-European world presents itself not as the tribal chief whose legal personality
has to be determined, or the mandate peoples seeking self-government, but a sovereign
entity intent on reversing the effects of imperialism by changing the rules of international
law in order to achieve development. Consequently, the West had to confront the challenge
of preventing the disruption of the international order which would follow from the deve-
loping world’s campaign to articulate its history of exploitation and to change the rules
of international law that had both justified and furthered this system of exploitation. The
non-European world, the Third World, must be distanced now, not because it is barbaric or
threatening or underdeveloped – although these ideas continue to have powerful residual
influence – but because it seeks this changes.159
Aus diesem Grund musste sich der Westen laut Anghie der NIEO verschließen.160
Deutlich wird hierbei jedoch auch, dass Anghie nicht die mangelnde Reflexion der
TWAIL I allein, sondern auch die Unwilligkeit des Westens, einen Wandel mitzu-
tragen, als Ursachen des Scheiterns der NIEO betrachtet.
157
Rajagopal, International Law from Below: Development, Social Movements and Third
World Resistance (2004), S. 26.
158
Rajagopal, International Law from Below: Development, Social Movements and Third
World Resistance (2004), S. 35.
159
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 235.
160
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 235.
Gleichzeitig agierte die Dynamik des Unterschiedes laut Anghie im Rahmen der Entwick-
lung der Rechte transnationaler Unternehmen, siehe hierzu auch Teil III.
II. Das Globalsolidarische Projekt117
Mit Pahujas Argumentation lässt sich das weitgehende Scheitern der Projekte der
ersten Generation von Völkerrechtlern in der Dritten Welt auf die Rolle des Völker-
rechts in der Geschichte zurückführen, wobei die Ähnlichkeit zu der Argumentation
der Völkerrechtler der ersten Generation in den neuen Staaten ebenso auffällt wie
die zu deren Position gegenteilige Schlussfolgerung:161
Law has contradictory dimensions: it is both regulatory and emancipatory, both imperial
and anti-imperial. In my argument, the duality hinges on a ‘critical instability’ at the heart
of international law. The instability is ‘critical’ in both senses of the word – critical of and
critical to – in that it both undoes and impels international law. It arises from the way in
which international law first claims to be universal, and secondly, carries with it a certain
promise of justice, whether that promise be symbolic or imaginative. In relation to the
universal claim, law is the ‘place’ or ‘moment’ where the generality of rules meets the
specificity of the facts to which they apply. And yet both ‘law’ and ‘fact’ are mutually
reconstituted in that moment. In relation to the second, it is the place where positive rules or
actual institutions meet and always fall short of the promise of justice; the enlightenment’s
legacy to positive law. And yet international law’s failure to live up to its promise of justice
continually breathes life back into it, as people continue to make demands for justice in the
idioms of law and rights.162
Die Konsequenz von Pahujas Überlegungen ist letztlich, dass das Völkerrecht nicht
im Sinne des Globalsolidarischen Projekts materiell universalisiert werden kann.
Die TWAIL II haben sich insofern auch der Kritik ausgesetzt, ihr Ansatz sei nihi-
listisch.163 Koskenniemi hingegen beschreibt die Debatte um die Neue Weltwirt-
schaftsordnung aus dekonstruktivistischer Sicht folgendermaßen:
161
Zur Funktionsweise des Rechts in der Theorie der TWAIL I siehe oben, Kapitel 4.
162
Pahuja, Decolonization and the Eventness of International Law, in Johns/Joyce/Pahuja
(Hrsg.), Events: The Force of International Law (2011), S. 91, 92.
163
Siehe Fidler, Revolt Against or From Within the West? TWAIL, the Developing World, and
the Future Direction of International Law, 2 Chinese Journal of International Law (2003),
S. 29, 29 ff.; Alvarez, My Summer Vacation (Part III): Revisiting TWAIL in Paris, abrufbar
unter http://opiniojuris.org/2010/09/28/my-summer-vacation-part-iii-revisiting-twail-in-pa-
ris/ (zuletzt abgerufen am 02.12.2015).
118 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
of sovereigns in favour of another one or deciding between competing communal values of,
for example, economic efficiency and just distribution. Both choices are eminently political
and seem incapable of being resolved by any distinctly legal technic.164
Dies legt wiederum nahe, dass sich zumindest theoretisch die politische Position
des globalen Nordens genauso gut wie die des Südens im Diskurs in der Debatte
um die Neue Weltwirtschaftsordnung hätte durchsetzen können. Faktisch obsiegte
jedoch auf Grund seiner größeren politischen und wirtschaftlichen Macht überwie-
gend die Position des Westens. In Bezug auf die Bindungsfrage hat die vorliegende
Arbeit darüber hinaus bereits gezeigt, dass in derselben Großdebatte gegensätzliche
Auffassungen teils mit den gleichen Argumenten belegt werden können und auch
paradoxe Positionswechsel nicht ausgeschlossen sind. Die Flexibilität völkerrecht-
licher Grundprinzipien wie der souveränen Gleichheit unterstützt solche diskursive
Praktiken, in denen sowohl die neuen wie auch die alten Staaten zur Begründung
ihrer rechtpolitischen Position nutzen konnten. Insofern sind in Bezug auf die Bin-
dungsdebatte ähnliche Argumentationsstrukturen zu erkennen, wie sie Kosken-
niemi im Zusammenhang mit der Debatte um eine Neue Weltwirtschaftsordnung
ausgemacht hat. Ob und wie das Globalsolidarische Projekt in der Debatte um die
Bindung der Dritten Welt im Übrigen scheiterte, ist in den nächsten beiden Teilen
der vorliegenden Arbeit zu vermessen.
Im Barcelon Traction-Fall des IGH wurde darum gestritten, ob jenseits der Regel,
nach welcher der Sitzstaat einer Gesellschaft für deren diplomatischen Schutz ver-
antwortlich ist, ausnahmsweise auch der Heimatstaat der Aktionäre der Gesellschaft
diplomatischen Schutz für indirekte Schäden seiner Staatsangehörigen ausüben
darf.165 Hierzu wurden auf der Suche nach einer Regel des Völkergewohnheitsrechts
auch diverse Verträge untersucht, in denen sich vergleichbare Regelungen fanden.166
Diesbezüglich meinte der libanesische Richters IGH Fouad Ammoun in seinem
Sondervotum:
Among the treaties which have been in question, it is necessary to go back to those which
organized international society in the eighteenth and nineteenth centuries, and at the begin-
ning of the twentieth century. It is well known that they were concluded at the instigation
of certain great Powers which were considered by the law of the time to be sufficiently
representative of the community of nations, or of its collective interests. Moreover, the
same was the case in customary law: certain customs of wide scope became incorporated
164
Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argument
(2005), S. 485 f.
165
ICJ, ICJ-Reports 1970, S. 3, 48 ff., Rn. 92 ff.
166
Siehe Ammoun, ICJ-Reports 1970, S. 286, 303 ff., Rn. 11 ff.
III. Fazit zu Teil I119
into positive law when in fact they were the work of five or six Powers. This was certainly
an exercise open to criticism, and even to serious criticism. In addition, of the norms which
had thus become established, and which survived the recent fundamental transformations
of international society marked by the League of Nations Pact and the Charter of the United
Nations, taking into account the liberal interpretation continually given to the latter inst-
rument, some, as we have seen, are disputed by the States which did not take part in their
elaboration, and which consider them to be contrary to their vital interests. […]
It thus becomes easier to understand the fears of a broad range of new States in three
continents, who dispute the legitimacy of certain rules of international law, not only because
they were adopted without them, but also because they do not seem to them to correspond
to their legitimate interests, to their essential needs on emerging from the colonialist epoch,
nor, finally, to that ideal of justice and equity to which the international community, to
which they have at long last been admitted, aspires. What the Third World wishes to subs-
titute for certain legal norms now in force are other norms profoundly imbued with the
sense of natural justice, morality and humane ideals. It is, in short, a matter of a change of
course towards natural law as at present understood, which is nothing other than the natural
sense of justice a change of course towards a high ideal which sometimes is not clearly to
be discerned in positive law, peculiarly preoccupied as it is with stability: the stability of
treaties and the stability of vested rights.167
Dieses Zitat fasst die Position der Völkerrechtler in der Dritten Welt in Bezug auf die
Bindung der neuen Staaten an das Völkerrecht eindrücklich zusammen. Der Diskurs
um die Bindung der neuen Staaten an das postkoloniale Völkerrecht kann dabei als
die Schlüsseldebatte für das Verständnis aller weiteren rechtspolitischen Initiativen
der Völkerrechtler in der Dritten Welt bezeichnet werden: Laut der Autoren in den
neuen Staaten konnten diese Normen des etablierten Völkerrechts ihren nationalen
Interessen entsprechend anerkennen oder ablehnen; aus diesem Wahlrecht ergab sich
die Notwendigkeit, neue Regelungen zu schaffen. Diese Regelungen müssten vom
Konsens aller Staaten getragen werden, wodurch sich die Völkerrechtler in den neuen
Staaten adäquate Einflussmöglichkeiten der Dritten Welt auf den Norminhalt ver-
sprachen. Nachteiliger Regelungen könnten sich die neuen Staaten auf diese Weise
entledigen. Das Recht des „pick and choose“ sowie die Forderung nach der Errich-
tung einer materiell universalen Völkerrechtsordnung wurden unterstützt durch eine
historisierende Kritik der TWAIL I an der etablierten Völkerrechtsordnung, die von
soziologischen wie auch von sozialistischen Einsichten inspiriert war und zum Teil
bis auf die Strukturebene des Völkerrechts reichte. Vor dem Hintergrund der etwa
von Bedjaoui entwickelten Systemkritik an der kolonialen Prägung der etablierten
Völkerrechtsordnung erscheinen das pragmatische Vorgehen der Völkerrechtler in
den neuen Staaten sowie das Vertrauen in das Universalisierungspotential des Völ-
kerrechts möglicherweise naiv. Im Ergebnis ging beispielsweise Bedjaoui nämlich
167
Ammoun, ICJ-Reports 1970, S. 286, 309 ff., Rn. 16, 19. Ammoun meinte, dass diese Posi-
tion der neuen Staaten bei der Bestimmung des Gewohnsheitsrechts beachtet werden müsse.
Nach Ammouns Analyse würde es in Folge dessen weitgehend an beachtlicher Staatenpraxis
für den Nachweis einer gewohnheitsrechtlichen Regelung, nach der Aktionäre diplomati-
schen Schutz für indirekte Rechtsverletzungen geltend machen können, fehlen. Ders., ICJ-
Reports 1970, S. 286, 315 f., Rn. 21 f.
120 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
davon aus, dass sich die Forderung nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung im
dialektischen Spiel zwischen Stabilität und Wandel durchsetzen würde.168 Dabei
schrieb Bedjaoui sein Hauptwerk zu einem Zeitpunkt, als der Kampf um eine NIEO
schon fast verloren schien.169 Entsprechend kritisiert Rajagopal Bedjaouis Hoffnung
in die Vereinten Nationen als fetischistischen Rückfall in längst überholte Argumen-
tationsmuster.170 Auch in anderen Fragen wurde in Teil I der vorliegenden Arbeit die
von den TWAIL II formulierte Kritik an der mangelnden Stringenz bzw. kritischen
Reflexion der Völkerrechtler in den neuen Staaten dargestellt, der in einigen Punkten
auch Recht zu geben ist. Dabei darf jedoch eine Besonderheit der Völkerrechtler in
den neuen Staaten nicht vergessen werden: So schreibt Mickelson über Bedjaoui:
Bedjaoui is speaking not for a theory but for a vision.171
Viewed through the Westphalian myth, international law thus seems to promise a metapho-
rical meeting place, or the ‘universal’ recognition of particular sovereignty, each with the
ability to make its own laws. This promised ability would seem to include the capacity to
decide what ‘law’ is.173
168
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 245.
169
Mickelson, Rhetoric and Rage: Third World Voices in International Legal Discourse,
16 Wisconsin International Law Journal (1997-1998), S. 353, 373.
170
Rajagopal, International Law from Below: Development, Social Movements and Third
World Resistance (2004), S. 89 ff.
171
Mickelson, Rhetoric and Rage: Third World Voices in International Legal Discourse,
16 Wisconsin International Law Journal (1997-1998), S. 353, 369.
172
Vgl. auch Lim, Neither Sheep nor Peacocks: T. O. Elias and Post-colonial International
Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 295, 308 f.
173
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 111.
III. Fazit zu Teil I121
Aus dekonstruktivistischer Sicht kann auch eine so offene Rechtspolitik als in völ-
kerrechtlichen Diskurs legitim betrachtet werden, da sie sich im Rahmen der ord-
nungsinherenten Strukturen bewegt und in diesem Rahmen letztlich jede rechtliche
Entscheidung auch eine politische Entscheidung darstellt.
Das später von Koskenniemi beschriebene Hin- und Herpendeln des völkerrecht-
lichen Diskurses zwischen Dichotomien174 wurde dabei bereits von Bedjaoui in
Bezug auf die Diskussionen um eine Neue Weltwirtschaftsordnung beobachtet:
But in these changing times, the fact of economic interdependence between nations is the
subject of two contradictory interpretations, one justifying the need for profound economic
change, the other objecting to it. Old ideas such as ‘economic interdependence’ or ‘collec-
tive economic security’, ‘international co-operation’ or ‘world-wide solidarity’, are then put
forward one on side or the other in a game of reciprocal dialectical ‘co-option’ to support
contrary attitudes as to whether we need establish a new international economic order.175
174
Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argument
(2005). Siehe hierzu auch oben, Einleitung.
175
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 244.
Teil II: Die Bindungsfrage im Recht
der Verträge
eingenommen hat und welche Erkenntnisse sich daraus hinsichtlich der Bindung
der Dritten Welt an das postkoloniale Völkerrecht und in Bezug auf die Kritik der
TWAIL II gewinnen lassen, rekapituliert.
Strukturell stellen die Debatten um Ungleiche Verträge im Rahmen des Vertrags-
rechts erneut ein Beispiel für die Taktik der Völkerrechter in den neuen Staaten,
Grundprinzipien des Völkerrechts wie die souveräne Gleichheit und das Selbst-
bestimmungsrecht der Völker argumentativ für ihr Globalsolidarisches Projekt
zu nutzen, dar. Beide Seiten beriefen sich dabei auf den Schutz der Stabilität der
Vertragsbeziehungen. Hinzu kam die Taktik des Westens und entsprechende argu-
mentative Gegenwehr der Dritten Welt, ein gewünschtes rechtspolitisches Ergebnis
durch das Verschieben rechtlicher Grenzen zu forcieren. So wurde in Bezug auf den
späteren Artikel 52 WVK von westlichen Völkerrechtlern eine reine Flankierung des
Gewaltverbots im völkerrechtlichen Recht der Verträge gewünscht, während Völker-
rechtler in der Dritten Welt den allgemeinen Schutz der Willensfreiheit der Staaten
zum umfassenden Schutz vor Ungleichen Verträgen anstrebten. Da ein umfassender
Schutz der Willensfreiheit von westlicher Seite strikt abgelehnt wurde, verlagerte
sich die Debatte hin zur Definition des Gewaltbegriffs. Je nachdem, ob man unter
das Gewaltverbot auch wirtschaftlichen und politischen Druck fasste (wie die Dritte
Welt) oder nicht (wie der Westen), wurde die argumentative Grenze des Gewalt-
verbots hin- und her verschoben. Im Ergebnis wurde die Position der Dritten Welt
ins soft law verschoben, jene des Westens setzte sich damit politisch durch. Ähnlich
kam es bezüglich des Prinzips rebus sic stantibus zu einer Verschiebung der Frage
kolonialer Grenzverträge heraus aus dem Vertragsrecht hin zum gewohnheitsrecht-
lichen Prinzip uti possidetis und schließlich heraus aus dem Völkerrecht überhaupt
und hinein in die politische Sphäre.
Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um
Ungleiche Verträge und die WVK
Dieses Kapitel beschäftigt sich zunächst mit der bereits in Teil I der vorliegenden Arbeit
angerissenen Kritik der Völkerrechtler in den neuen Staaten an Ungleichen Verträgen,
wobei zunächst die Geschichte der Ungleichen Verträge geschildert werden soll (I.),
aus der sodann das Konzept Ungleicher Verträge in der Völkerrechtswissenschaft
der Dritten Welt entwickelt wird (II.). Im Anschluss soll untersucht werden, wie
die Debatte um Ungleiche Verträge im Recht der Verträge verortet wurde und so im
Rahmen der Arbeiten an der WVK relevant werden sollte (III.).
Der Begriff der Ungleichen Verträge tauchte häufig in den Schriften von Völker-
rechtlern aus der Dritten Welt auf.1 Ursprünglich hatte dieser Begriff im Zusam-
menhang mit dem Kolonialismus des 19. Jahrhunderts und mit kommunistischen
Angriffen auf das Völkerrecht Mitte des 20. Jahrhunderts Bedeutung erlangt.2
Schon klassische Autoren wie Grotius, Wolff und de Vattel hatten den Begriff des
Ungleichen Vertrages für Vereinbarungen mit nichtreziprokem Inhalt verwendet,
1
Siehe oben Teil I.
2
Kulski, Soviet Comments on International Law and Relations, 48 American Journal of Inter-
national Law (1954), S. 640, 640; Scott, Chinese Treaties: The Post-Revolutionary Restora-
tion of International Law and Order (1975), S. 85 ff.; Craven, What Happened to Unequal
Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74 Nordic Journal of International Law
(2005), S. 335, 335 f.
3
Grotius, De Jure Belli ac Pacis Libri Tres, in quibus Jus Naturae et Gentium, item Juris
Publici Praecipua Explicantur (1651); de Vattel, Das Völkerrecht oder Grundsätze des Natur-
rechts, angewandt auf das Verhalten und die Angelegenheiten der Staaten und Staatsober-
häupter (1758, Übersetzung 1959); von Wolff, Ius Gentium Methodo Scientifica Pertrac-
tatum, In Quo Ius Gentium Naturale Ab Eo, Quod Voluntarii, Pactitii Et Consuetudinarii
Est, Accurate Distinguitur, Renger Halae Magdeburgicae (1749). Siehe auch Peters, Unequal
Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007), Rn. 3; Chen, State
Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 28 f.
4
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 4; Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 29; Craven, What
Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74 Nordic Journal of
International Law (2005), S. 335, 335 f.; Scott, Chinese Treaties: The Post-Revolutionary
Restoration of International Law and Order (1975), S. 85 ff.
5
Siehe beispielsweise die Diskussionen beim jährlichen Treffen der American Society of
International Law im Jahr 1927 zum Thema “The Termination of Unequal Treaties”, bei-
spielsweise Putney, Termination of Unequal Treaties, American Society of International Law
Proceedings (1927), S. 87, 89 f. Für weitere Nachweise siehe Craven, der sich ebenfalls auf
die chinesischen Fälle konzentriert, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of
Informal Empire, 74 Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 336 f.
6
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 7; Chiu, The People’s Republic China and the Law of Treaties (1972), S. 63 f.
7
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 10.
8
Vgl. Poulose, Succession in International Law: A Study of India, Pakistan, Ceylon and
Burma (1974), S. 9; Taracouzio, The Soviet Union and International Law (1935), S. 235 ff.;
Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 29; Lipson, The Soviet View
on International Law, 61 International Law Studies Series US Naval War College (1980),
S. 101, 102.
9
Bracht, Ideologische Grundlagen der sowjetischen Völkerrechtslehre (1964), S. 138 f.
I. Die Geschichte Ungleicher Verträge127
würden.10 Letztlich warf die Sowjetunion dem Westen hier imperialistische Prak-
tiken vor.11 Auch China und die Sowjetunion hatten in ihrer Geschichte allerdings
selbst schwächere Staaten in Ungleiche Verträge gezwungen.12
Neuen Auftrieb erhielt die Debatte um Ungleiche Verträge mit der Unabhängig-
keit vieler ehemaliger Kolonien, als einige der neuen Staaten alte vertragliche Ver-
pflichtungen wegen ihrer Entstehung und ihres Inhalts angriffen. Dabei übernahmen
die Völkerrechtler in der Dritten Welt den Begriff der Ungleichen Verträge für ganz
unterschiedliche Vertragstypen, die zu Beginn, während oder zu Ende der Kolonial-
herrschaft abgeschlossen und aus zeitgenössischer Sicht als ungerecht betrachtet
wurden. Anands Schilderungen über die Geschichte des Kolonialismus geben einen
Eindruck von der Vielfalt Ungleicher Verträge.13 So seien die Staaten Afrikas und
Asiens insbesondere im 19. Jahrhundert gezwungen worden, sogenannte „Kapitu-
lationsverträge“ („capitulation treaties“) zu unterzeichnen, durch welche Auslän-
der aus Europa auf dem Staatsgebiet des Gaststaates ihrer heimischen Jurisdiktion
unterstellt und von jener des Gaststaates befreit wurden.14 Dies sei damit begrün-
det worden, dass die unterentwickelten Rechtssysteme der Gaststaaten nicht zum
Schutz von Staatsbürgern zivilisierter Staaten ausreichten.15 Diese Extraterritoriali-
tät sei jedoch zum Teil vom Westen für illegale Aktivitäten wie Schmuggel ausge-
nutzt worden.16 Diese Verträge basierten nicht auf dem freien Willen der Gaststaa-
ten, sondern waren diesen unter Zwang oder Täuschung aufgenötigt worden und
beinhalteten für sie nachteilige Regelungen. Die Verträge galten oft zeitlich unbe-
grenzt und es war auch keine Revision vorgesehen.17 Lediglich durch Artikel 19
der Völkerbundsatzung konnten solche Verträge gelegentlich überprüft werden, was
jedoch niemals tatsächlich zur Revision eines Vertrages geführt hatte.18 Der Westen
war nur dann bereit, Ungleiche Verträge neu zu verhandeln, wenn die Gaststaaten
10
Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 29; dieser zitiert Stalin nach
Triska/Slusser, The Theory, Law and Policy of Soviet Treaties (1962), S. 42.
11
Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 29.
12
Siehe die Ausführungen bei Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public
International Law (2007), Rn. 34.
13
Anand, New States and International Law (1972), S. 23 ff.
14
Anand, New States and International Law (1972), S. 23.
15
Anand, New States and International Law (1972), S. 23. Solche Kapitulationsverträge beruh-
ten zwar laut Anand auf einem Brauch aus der asiatischen Antike und beruhten ursprünglich
auf der Gleichheit der Parteien; im 19. Jahrhundert seien solche Verträge jedoch unwider-
rufbar geworden und implizierten zivilisatorische Minderwertigkeit und Unterentwicklung.
16
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007), Rn. 26.
17
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 18; Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire,
74 Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 348.
18
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 18. Abi-Saab schrieb hierzu: „At the San Francisco Conference, several Latin-American
and newly independent states tried to introduce an article similar to article 19 of the covenant
128 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
of the League of Nations concerning the revision of treaties by the organization. This attempt
was partially defeated because of the resistance of the big powers. Article 14 of the Charter
does include, although implicitly, such a possibility. It has not been frequently invoked for
this purpose, however.” Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of Internatio-
nal Law: An Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 108 f.
19
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 19 ff.; Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal
Empire, 74 Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 348.
20
Anand, New States and International Law (1972), S. 28 f. Oft waren damit auch einseitige
“most-favoured-nation”-Klauseln verbunden, siehe Peters, Unequal Treaties, Max Planck
Encyclopedia of Public International Law (2007), Rn. 17.
21
Anand, New States and International Law (1972), S. 29. Craven beschreibt, wie die Unglei-
chen Verträge in China, Siam und Japan zum Brennpunkt der Entwicklung nationalistischer
Strömungen gerieten, die unter anderem zum Untergang der Ming-Dynastie führten. Craven,
What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74 Nordic
Journal of International Law (2005), S. 335, 344.
22
Zur Quasi-Souveränität siehe oben Kapitel 2 und Anghie, Imperialism, Sovereignty and the
Making of International Law (2005), S. 75.
23
Zu der Entwicklung in Afrika siehe Nguluma, Unequal Treaties (with Special Reference
to the African Experience in Unequal Exchange and Cession of Land), 5(2) Journal of the
Faculty of Arts and Social Science (1980), S. 217, 218 ff.; vgl. auch Anand, New States and
International Law (1972), S. 29. Anders als in Afrika standen Annexionen in Ostasien nicht
zur Diskussion; stattdessen wollte sich der Westen möglichst weitreichende Rechte gegen-
über diesen unabhängigen Entitäten sichern. Alle Ungleichen Verträge in Ostasien hatten
aber letztlich einen ähnlichen Inhalt: Sie öffneten die Häfen für den Außenhandel, etablierten
extraterritoriale Jurisdiktion, begründeten Importpflichten und Konzessionen für ausländi-
sche Gesellschaften, beinhalteten ein Recht auf friedliche Durchfahrt, den Schutz christlicher
Missionare sowie die Abtretung oder Verpachtung von Territorien und waren mit most-favou-
red-nation-Klauseln versehen. Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continui-
ties of Informal Empire, 74 Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 43 f., 352.
I. Die Geschichte Ungleicher Verträge129
beispielsweise ein Protektorat über den Kongo vereinbart und somit das Belgische
Imperium König Leopolds errichtet worden.24 Während Anand hier das wider-
sprüchliche Vorgehen der westlichen Staaten (welche die Rechtspersönlichkeit
der Entitäten einerseits in Asien und Afrika in Frage stellten und andererseits mit
ihnen Verträge abschlossen) herausstellte,25 betonte Elias mit kontributionistischer
Schlagrichtung die Verbindlichkeit solcher Verträge.26 Der Gipfel dieser völker-
vertragsrechtlichen Entwicklung weg vom Erfordernis der freien Einwilligung
der betroffenen Gebiete waren – in Jenks Worten – Verträge „concluded by the
great powers on behalf of the international community“,27 wie die Kongoakte von
1885, auf deren Grundlage die europäischen Mächte in den folgenden Jahren ganz
Afrika unter sich aufteilten, ohne dass die afrikanischen Staaten daran in irgend-
einer Form beteiligt worden wären.28 Diese Verträge wirkten sich nicht nur inhalt-
lich nachteilig für die betroffenen Entitäten aus, sondern waren nicht einmal unter
Zwang, sondern schlicht ohne die Entitäten selbst geschlossen worden.
Im Verlauf der Völkerrechtsgeschichte wurden somit aus der Perspektive der Völker-
rechtswissenschaft in der Dritten Welt zahlreiche Ungleiche Verträge abgeschlossen.29
Hinzu kam, dass häufig auch korrupte Herrscher bereit waren, Verträge zum Nach-
teil ihrer Bevölkerung abzuschließen.30 Und auch mit der Dekolonialisierung trat ein
neuer Typus Ungleicher Verträge, der Devolutionsvertrag, hinzu, dessen Unterzeich-
nung etwa von der britischen Kolonialmacht vielfach zur Bedingung der Entlassung
einer Kolonie in die Unabhängigkeit gemacht wurde. Hierzu zitierte Anand Abi-Saab:
[T]reaties have been used to sanctify subjugation and exploitation of the smaller and weaker
states. They have, moreover, been used to impose protection and to extort exclusive econo-
mic privileges. Many newly independent states had to sign unequal treaties or to adhere to
24
Anand, New States and International Law (1972), S. 32. Zu solchen Schutzverträgen siehe
auch Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 19.
25
Vgl. Anand, New States and International Law (1972), S. 18 f., 23. So später auch Craven,
What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74 Nordic
Journal of International Law (2005), S. 335, 352; Anghie, Imperialism, Sovereignty and the
Making of International Law (2005), S. 73 ff.; Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations:
The Rise and Fall of International Law 1870–1960, (2002), S. 98 ff.
26
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 19. Siehe hierzu schon
oben Teil I.
27
Jenks, The Common Law of Mankind (1958), S. 96 f.
28
Anand, New States and International Law (1972), S. 33. In diesem Zusammenhang
erwähnte Abi-Saab auch den von Jenks verwendeten Begriff von Verträgen „concluded by
the great powers on behalf of the international community“, worunter er beispielsweise
den Berlin-Akt aus dem Jahre 1885 meint, durch welchen die Kolonialmächte Afrika unter
sich aufteilten. Diese könnten die neuen Staaten nicht als für sich bindend akzeptieren, da
sie die Großmächte ansonsten implizit als übergeordnete Gesetzgeber anerkennen würden.
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline, 8
Howard Law Journal (1962), S. 95, 107 f.
29
Anand, New States and International Law (1972), S. 43.
30
Anand, New States and International Law (1972), S. 43.
130 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
military alliances under strong pressures. Sometimes, independence is granted only after
such a treaty is signed, granting the colonial Power economic and military concessions. The
newly independent States have little choice in such a situation.31
Dabei traten die Autoren in der Dritten Welt wiederum als Fürsprecher ihrer Hei-
matstaaten auf, die sich der Bindungskraft gewisser kolonialer Verträge entziehen
wollten. Aus dieser an den praktischen Interessen ihrer Heimatstaaten orientierten
Schlagrichtung erklärt sich, dass sich die Autoren in den neuen Staaten nur wenig
mit Begriff und Konzept Ungleicher Verträge befassten und sich stattdessen mit den
einzelnen Verträgen auseinandersetzten, die sie als Ungleiche Verträge erachteten.
Gemeinsame Merkmale Ungleicher Verträge sollten demnach zum einen Zwang oder
ähnliche Umstände bei Vertragsabschluss, welche der Freiwilligkeit der übernomme-
nen Verpflichtungen entgegenstanden, und zum anderen die Unausgeglichenheit der
vertraglichen Verpflichtungen sein. Ungleiche Verträge konnten damit grundsätzlich
sowohl prozedural als auch materiell begriffen werden. Manche Autoren betonten
zwar hauptsächlich den materiellen Aspekt Ungleicher Verträge, für die charakte-
ristisch sei, dass ihr Inhalt ein unausgeglichenes Verhältnis von Rechten und Pflich-
ten zwischen den Vertragsparteien schuf.34 Nicht-reziproke Verträge widersprachen
31
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 108; zitiert bei Anand, Attitude of the Asian-African
States Toward Certain Problems of International law, 15 International & Comparative Law
Quarterly (1966), S. 55, 62.
32
Afro-Asian Jurists’ Conference (1957), S. 77.
33
Afro-Asian Jurists’ Conference (1957), S. 233.
34
So schreibt Anghie: “The resulting ‘unequal treaties’ – unequal not because they were the
product of unequal power, but because they embodied unequal obligations – were humilia-
ting to the non-European states, which sought to terminate such treaties at the earliest oppor-
tunity.” Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2005), S. 72.
Auch andere Autoren gehen von einem rein materiellen Begriff der Ungleichen Verträge
aus. Siehe Caflisch, Unequal Treaties, 35 German Yearbook of International Law (1992),
S. 52, 78 f.; Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of
International Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 123 f.
II. Das Konzept Ungleicher Verträge in der Völkerrechtswissenschaft der Dritten Welt131
jedoch wie bereits dargestellt35 nicht grundsätzlich den Interessen der neuen Staaten
und wurden von Völkerrechtlern in der Dritten Welt zum Teil – etwa im Bereich von
Weltwirtschaftsrecht und Entwicklungszusammenarbeit – explizit gefordert.36 Dies
machte das von der Afro-Asiens Jurists’ Conference angeführte prozedurale Element
Ungleicher Verträge notwendig; diese mussten deshalb zustande gekommen sein,
weil eine Partei in irgendeiner Form Druck auf die andere ausgeübt hatte. Häufig
hingen das prozedurale und das materielle Element Ungleicher Verträge jedoch eng
zusammen, da die ungleiche Ausgangsposition der Vertragsparteien bei Vertrags-
schluss der einen Partei Druckmittel in die Hand gab, durch welche diese der anderen
Partei einen für jene nachteiligen Vertragsinhalt aufdiktieren konnte.37 Letztlich
ließen sich Ungleiche Verträge also dadurch kennzeichnen, dass sie weder ihrer Ent-
stehung noch ihrem Inhalt nach auf dem freien Willen aller Vertragsparteien fußten.
Gegen ihre Bindung an Ungleiche Verträge wehrten sich nach der Dekolo-
nialisierung viele neue Staaten, als deren Fürsprecher die Völkerrechtler aus der
Dritten Welt auftraten. Sie standen vor dem Problem, dass ein völlig freier Wille
35
Siehe oben, Teil I.
36
Anand, New States and International Law (1972), S. 109; Tomuschat, Die Charta der wirt-
schaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten: Zur Gestaltungskraft von Deklarationen der
UN-Generalversammlung, 36 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völker-
recht (1976), S. 444, 457; Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of Inter-
national Law: An Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 104.
37
Damit entsprach das Konzept Ungleicher Verträge in der Völkerrechtswissenschaft der
Dritten Welt im Wesentlichen auch jenem in der westlichen Literatur. Röling betrachtete das
Problem der Ungleichen Verträge vor dem Hintergrund der freien Einwilligung als Grund-
lage der Einhaltung eines Vertrages, welche in vielen afro-asiatischen Verträgen gerade
fehle. Der Brite Anthony Lester machte folgende vier Elemente Ungleicher Verträge aus:
Abschluss unter Zwang, ungleiches Kräfteverhältnis zwischen den Parteien bei Vertrags-
schluss, Änderung ursprünglich gerechter Verträge auf Grund des Wandels der Umstände und
mangelnde Befugnisse des Vertreters der schwächeren Partei, diese wirksam zu verpflichten.
Lester, Bizerta and the Unequal Treaty Theory, 11 International and Comparative Law Quar-
terly (1962), S. 847, 851. Für die schwedische Völkerrechtlerin Ingrid Detter war die Idee
Ungleicher Verträge insbesondere vom Konzept der souveränen Gleichheit geprägt. Dieses
beinhalte zum einen die meist unproblematische, „forensische“ Gleichheit aller Staaten vor
dem Völkerrecht. Daneben bedeute Gleichheit aber auch die entsprechende Fähigkeit, Rechte
auszuüben und Pflichten wahrzunehmen; der letztere Aspekt der Gleichheit sei jedoch dann
nicht gegeben, wenn etwa neue Staaten sich international nicht Gehör verschaffen könnten
und sich gezwungen sähen, Verträge zu Gunsten mächtigerer Staaten zu unterzeichnen,
obschon diese ihren eigenen nationalen Interessen zuwiderliefen. Detter, The Problem of
Unequal Treaties, 15 International and Comparative Law Quarterly (1966), S. 1069, 1070.
Den Begriff “forensisch” entleiht Detter von McNair, Equality in International Law, Michi-
gan Law Journal (1927), S. 136. Der Taiwaner Lung-Fong Chen schlug folgende Definition
der Ungleichen Verträge vor: „[A]n unequal treaty is a treaty of unequal and nonreciprocal
nature contrary to the principles of equality of states and reciprocity in the making, obliga-
tions, rights and performance of the treaty.” Chen, State Succession Relating to Unequal
Treaties (1974), S. 34. Auch in der westlichen Literatur dominierte also eine Verknüpfung
formaler und materieller Elemente des Konzepts der Ungleichen Verträge.
132 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
Die Verurteilung Ungleicher Verträge beruhte für Sinha also zum einen auf den
nationalen Interessen der ehemaligen Kolonien, stand aber auch im Zeichen der
Gleichheit in Bezug auf die Völkerrechtssetzungskompetenz. Diese beiden Punkte
hob auch Abi-Saab hervor.41 Die Afro-Asian Jurists’ Conference bezeichnete Unglei-
che Verträge ähnlich als Verstoß gegen die VN-Charta und klassifizierte sie darüber
hinaus als Gefahr für den Weltfrieden.42 Solche Verträge wurden als koloniale und
imperialistische Instrumente der mächtigen Staaten zur Subordination der Sou-
veränität schwächerer Nationen betrachtet.43 Die Ungleichen Verträge waren aus
38
Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74
Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 361. Siehe hierzu im Detail unten, ins-
besondere Kapitel 6 und Kapitel 8.
39
Anand, New States and International Law (1972), S. 31.
40
Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of International
Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 123.
41
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 107 f.
42
Afro-Asian Jurists’ Conference (1957), S. 233.
43
Vgl. Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of International
law, 15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 65; Koskenniemi, Interna-
tional Law and Imperialism, in Freestone/Subedi/Davidson (Hrsg.), Contemporary Issues in
International Law: A Collection of the Josephine Onoh Memorial Lectures (2002), S. 197 ff.;
Simpson, Great Powers and Outlaw States: Unequal Sovereigns in the International Legal
Order (2004), S. 243 ff. Für Craven war das Ziel dieser Ungleichen Verträge nie die imperia-
listische Annexion der Staaten, sondern vielmehr das Ideal des freien Handels. So wurde die
Errichtung extraterritorialer Regime mit der Andersartigkeit der ostasiatischen Kulturen und
nicht mit ihrer Unterlegenheit gerechtfertigt, was allerdings deren nicht-reziproke Grundlage
nicht erklären konnte. Im Ergebnis bedienten sich die Westmächte hier aber der gleichen
Sprache und kulturellen Projektionen wie später im Kolonialismus. Craven, What Happened
to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74 Nordic Journal of International
Law (2005), S. 335, 345 f.
II. Das Konzept Ungleicher Verträge in der Völkerrechtswissenschaft der Dritten Welt133
44
Vgl. Udokang, The Role of the New States in International Law, 15 Archiv des Völkerrechts
(1971/72), S. 145, 190; Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of
Informal Empire, 74 Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 350 ff.
45
Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74
Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 352 ff.
46
Zur Möglichkeit einer solchen Argumentation siehe schon oben Teil I; Pahuja, Decolo-
nising International Law: Development, Economic Growth and the Politics of Universality
(2011), S. 112 f.
47
Vgl. Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of International
law, 15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 65.
48
Vgl. Teil I.
49
So beispielsweise Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding
Quality of International Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965),
S. 121, 123 f.
50
Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of International law,
15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 65.
51
Afro-Asian Jurists’ Conference (1957), S. 101.
134 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
loszusagen.52 Dabei waren sie von der sowjetischen Position inspiriert, die selbst
solche Verträge für unwirksam hielt, die zwar reziproke Verpflichtungen beinhalte-
ten, aber materielle Ungerechtigkeiten verfestigten.53 Sowjetische Wissenschaftler
gingen davon aus, dass es sich bei den Vereinbarungen gar nicht um Verträge handelte
und das Prinzip „pacta sunt servanda“ daher keine Anwendung finden könnte.54 Die
Völkerrechtler in der Dritten Welt betrachteten Ungleiche Verträge entweder ebenso
als von Anfang an unwirksam oder bestanden zumindest auf ein Recht der neuen
Staaten, sich durch einseitige Erklärung von diesen Verträgen zu lösen.55 Entspre-
chend hatte die Afro-Asian Jurists’ Conference den Staaten, die Opfer eines solchen
Vertrages geworden waren, gestattet, sich selbst von dessen Bürde zu befreien, ihnen
letztlich also ein unilaterales Lösungsrecht zuerkannt, ohne dabei einen besonderen
Feststellungsmechanismus einzufordern.56 Während also das Völkerrecht der Kolo-
nialzeit aus der Perspektive der Völkerrechtswissenschaft aus der Dritten Welt Dis-
kriminierung, Ausbeutung und Unterordnung nicht-westlicher Völker erlaubte, die
Anwendung von Gewalt und Einmischungen in die inneren Angelegenheiten eines
Staates als Mittel zwischenstaatlicher Beziehungen anerkannt und damit Kolonialis-
mus und erzwungene Ungleiche Verträge legitimiert hatte, stellten Völkerrechtswis-
senschaftler in den neuen Staaten die Gültigkeit dieser Normen nach Gründung der
Vereinten Nationen und mitten im Dekolonialisierungsprozess in Frage.57
52
Afro-Asian Jurists’ Conference (1957), S. 233.
53
Kulski, Soviet Comments on International Law and Relations, 48 American Journal of
International Law (1954) S. 640, 640 ff.; Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia
of Public International Law (2007), Rn. 5; Chiu, The People’s Republic China and the Law of
Treaties (1972), S. 63 ff.; Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 29.
54
Zum Beispiel Haraszti, Some Fundamental Problems of the Law of Treaties (1973), S. 390.
Siehe auch Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law
(2007), Rn. 33.
55
Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of International
Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 124.
56
Vgl. Afro-Asian Jurists’ Conference (1957), S. 233.
57
Anand, New States and International Law (1972), S. 44. Siehe auch Elias, Africa and the
Development of International Law (1972), S. 19.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge135
neuen Staaten zum einen ganz grundsätzlich an, um im Rahmen ihres Globalsoli-
darischen Projekts auf eine materiell universale Völkerrechtsordnung hinzuarbeiten
(1.). Zum anderen eröffneten ihnen insbesondere die Arbeiten der ILC am Recht der
Verträge die Möglichkeit, die Bindung der neuen Staaten an Ungleiche Verträge im
Speziellen zu bekämpfen (2.).58
Die ILC wurde im Jahr 1947 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen als
Unterorgan eingesetzt, um gemäß Artikel 13 VN-Charta die Kodifikation und die pro-
gressive Weiterentwicklung des Völkerrechts voranzutreiben.59 Eine Erläuterung dieser
beiden Begriffe findet sich in Artikel 15 ILC-Statut:60
58
Siehe zum Kampf gegen Ungleiche Verträge im Rahmen des Rechts der Staatennachfolge
in Verträge unten, Teil III.
59
GA, UN Doc A/Res/174 (II) (21. November 1947); Rao, International Law Commission
(ILC), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2006), Rn. 3; vgl. auch Artikel
1 und 15 ILC-Statut. Faktisch hat sich die ILC trotz der offenen Formulierung von Artikel 1
ILC-Statut stets nur mit völkerrechtlichen Fragen beschäftigt und Probleme des Internationa-
len Privatrechts nur dort thematisiert, wo der Zusammenhang dies forderte. Wood, Statute of
the International Law Commission, United Nations Audiovisual Library of International Law
(2009), S. 2. Vgl. dazu auch Kapitel 10 zum Thema Erworbene Rechte.
Die ILC war nicht die erste Institution in der Völkerrechtsgeschichte, welche eine Fest-
schreibung und Fortbildung des Völkerrechts fördern sollte. Die Kodifizierungsbewegung im
Völkerrecht fand ihren Ursprung bereits in den ad hoc-Konferenzen des 19. Jahrhunderts. Sie
wurde im Völkerbund unter dem Committee of Experts for the Progressive Codification of
International Law stärker systematisiert und gipfelte im Jahr 1930 in der Hague Codification
Conference, die jedoch wenig Erfolg beschieden war. Der Ruf der Kodifizierung auf Bestreben
von Regierungen litt darunter erheblich. Nach der Gründung der Vereinten Nationen bereiteten
das von der Generalversammlung eingesetzte Committee on the Progessive Development of
International Law and its Codification sowie das Subcommittee 2 des Sechsten Komitees der
Generalversammlung den Weg für die Gründung der ILC. Während der Vertreter der UdSSR
im Committee on the Progessive Development of International Law and its Codification for-
derten, die künftige ILC mit Staatenvertretern zu besetzen, zog die Mehrheit der Komiteesmit-
glieder ihre Lehre aus der Völkerbundzeit und favorisierte ein Expertengremium. Diese Ansicht
setzte sich letztlich durch; die ILC sollte das weltweit einzige Expertengremium werden, das
bei seiner Arbeit die Staaten unmittelbar miteinbindet und seine Empfehlungen direkt an die
Staaten richten kann. Wood, Statute of the International Law Commission, United Nations
Audiovisual Library of International Law (2009), S. 1; Briggs, The Work of the International
Law Commission, 17 Judge Advocate General of the Navy Journal (1963), S. 56, 57.
60
Praktische Probleme der Trennung zwischen Kodifikation und progressiver Weiterentwick-
lung wurden bei Verabschiedung des Statuts bereits vorhergesehen; es handelte sich letzt-
lich um einen politischen Kompromiss. Briggs, The International Law Commission, S. 141;
Wood, Statute of the International Law Commission, United Nations Audiovisual Library of
International Law (2009), S. 2.
136 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
In der Praxis der ILC wurde jedoch nie grundlegend zwischen Kodifikation und pro-
gressiver Weiterentwicklung unterschieden.62 Stattdessen nutzt die ILC in beiden
Fällen dasselbe, allerdings recht flexible Verfahren.63 Besondere Bedeutung für die
61
Artikel 15 ILC-Statut. Das Statut der ILC ist kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern kann
mittels Generalversammlungsresolution verändert werden. Obwohl solche Änderungen
bereits vorgenommen wurden, ergeben sich die tatsächlichen Arbeitsmethoden der ILC nicht
unmittelbar aus dem Statut, sondern sind im Lichte der Praxis zu betrachten. Briggs, The
International Law Commission, S. 141; Wood, Statute of the International Law Commission,
United Nations Audiovisual Library of International Law (2009), S. 2.
62
Zu dem Bestreben, das ILC-Statut entsprechend abzuändern, siehe Wood, Statute of the Interna-
tional Law Commission, United Nations Audiovisual Library of International Law (2009), S. 2.
63
Wood, Statute of the International Law Commission, United Nations Audiovisual Library
of International Law (2009), S. 4.
Das Plenum ernennt in beiden Fällen einen Sonderberichterstatter auf Vorschlag des Vor-
sitzenden; gelegentlich wird im Vorfeld eine Arbeitsgruppe oder ein Unterkomitee einge-
setzt. Der Sonderberichterstatter leitet die Arbeiten: er erstellt einen Arbeitsplan, analysiert
Forschungsstand und Staatenpraxis und erarbeitet auf dieser Grundlage Vorschläge, die er in
seinen Berichten dem Plenum unterbreitet. Das Plenum debattiert die Berichte der Spezial-
berichterstatter; sofern das Plenum (zumeist unter maßgeblichem Einfluss des Sonderbericht-
erstatters, der die Ergebnisse der Debatte zusammenfasst, bevor das Plenum abstimmt) zu
einer Einigung kommt, übergibt es diese an das Drafting Committee; andernfalls wird eine
Arbeitsgruppe einberufen. Das Arbeitsergebnis der ILC ist eng mit den persönlichen Kompe-
tenzen und Urteilen des Sonderberichterstatters verknüpft und ihm entsprechend zuzurech-
nen. Schließlich verabschiedet das Plenum die Entwurfsartikel vorläufig nach einer ersten
Lesung; die zweite Lesung findet seit 1959 erst ein Jahr später statt, um den Staaten die
Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben, sofern sie diese nicht ohnehin bereits bei der Dis-
kussion des alljährlichen ILC-Berichts im Sechsten Komitee der Generalversammlung wahr-
genommen haben. Diese Diskussionen des ILC-Berichts stellt, obgleich keine Rechtspflicht
der ILC nach ihren Gründungsdokumenten, einen wesentlichen Input für die Arbeit der ILC
dar; so hätte das Aussetzen dieses Verfahrens in der 19. Sitzung der Generalversammlung im
Jahr 1964 beinahe die zeitige Fertigstellung der Arbeiten der ILC zum Vertragsrecht verhin-
dert. Während das Plenum der ILC seine Beschlüsse ursprünglich per Mehrheitsentscheidung
traf, hat sich bald eine Praxis der einstimmigen Entscheidung etabliert. Hierfür war die Arbeit
des Drafting Committee von so weitreichender Bedeutung, dass ohne diese die WVK wohl
nie zustande gekommen wäre, vgl. Rosenne, The Role of the International Law Commis-
sion, 64 Proceedings of the Annual Meeting (American Society of International Law) (1970),
S. 24, 34; ILC, UN Doc A/CN.4/SR.972, ILC-Yearbook (1968, I), S. 164, 169, Rn. 83. Das
Endprodukt übermittelt die ILC der Generalversammlung gemeinsam mit einer Handlungs-
empfehlung. Siehe zum Ganzen Rao, International Law Commission (ILC), Max Planck
Encyclopedia of Public International Law (2006), Rn. 11 ff.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge137
Arbeit der ILC kommt dabei der Generalversammlung und dort insbesondere dem
Sechsten Ausschuss (Rechtsausschuss) zu, da in diesem Forum bestimmt werden
kann, wie viel politische Bereitschaft für die Kodifikation oder Weiterentwicklung
eines bestimmten Themas besteht.64
Das Maß, in welchem die ILC Recht kodifizierte oder progressiv weiterent-
wickelte, war von Anfang an stark von den sie dominierenden Persönlichkeiten
geprägt.65 Die Besetzung der ILC erfolgt nach einem regionalen, durch General-
versammlungsresolution festgelegten Schlüssel.66 Die einzelnen Mitglieder werden
von den VN-Mitgliedsstaaten nominiert und von der Generalversammlung gewählt,
wobei nur Personen mit anerkannten völkerrechtlichen Kompetenzen in das Exper-
tengremium aufgenommen werden sollen und die gesamte Kommission die wesent-
lichen Zivilisationsformen und Rechtssysteme widerspiegeln soll.67 Hieraus (und aus
der Entstehungsgeschichte der ILC) ergibt sich, dass die Mitglieder auf der Grund-
lage ihrer persönlichen Eigenschaften und nicht als Staatenvertreter agieren sollen.68
Die ILC sollte das weltweit einzige Expertengremium werden, das bei seiner Arbeit
die Staaten unmittelbar miteinbindet und seine Empfehlungen direkt an die Staaten
richten kann.69 Auf diese Weise gelangten, insbesondere in den 1960er-Jahren, eine
Reihe prominenter Völkerrechtswissenschaftler aus den neuen Staaten in die ILC.70
Nicht zuletzt diesen herausragenden Persönlichkeiten war es zu verdanken, dass
die früheren Misserfolge der Kodifikationsbewegung zumindest zwischen 1958 und
1969 von einer produktiveren und erfolgreicheren Phase abgelöst wurden.71 Für die
64
Briggs, The Work of the International Law Commission, 17 Judge Advocate General of the
Navy Journal (1963), S. 56, 80.
65
Vgl. El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a
New Direction (1981), S. 8.
66
Siehe Artikel 9 Absatz 2 ILC-Statut. Dabei wurde die Mitgliederzahl entsprechend der
wachsenden Anzahl an Mitgliedern in den Vereinten Nationen von ursprünglich 15 im Jahr
1956 auf 21, weiter im Jahr 1961 auf 25 und schließlich im Jahr 1984 auf 34 angehoben,
siehe Rao, International Law Commission (ILC), Max Planck Encyclopedia of Public Inter-
national Law (2006), Rn. 4; Briggs, The Work of the International Law Commission, 17
Judge Advocate General of the Navy Journal (1963), S. 56, 56.
67
Artikel 2 Absatz 1, Artikel 3, 4 und 8 ILC-Statut.
68
Wood, Statute of the International Law Commission, United Nations Audiovisual Library
of International Law (2009), S. 3.
69
Rao, International Law Commission (ILC), Max Planck Encyclopedia of Public Internatio-
nal Law (2006), Rn. 40.
70
Hierzu gehörten neben Elias (ILC-Mitglied 1962-1975) und Bedjaoui (1965-1981) bei-
spielsweise der Kubaner F. García-Amador (1954-1961), der Mexikaner Jorge Castañeda
(1967-1986), der Uruguayer Jiménz de Aréchaga (1961-1969), der Iraker Mustafa Kamil
Yasseen (1960-1976), der Afghane Abdul Hakim Tabibi (1962-1981). Siehe hierzu auch die
näheren Ausführungen unten in Kapitel 6, Kapitel 7 und Teil III.
71
Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the Annual
Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 26. Speziell zum Vertrags-
recht siehe Ranganathan, Strategically Created Treaty Conflicts and the Politics of Interna-
tional Law (2014), S. 47 ff.
138 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
vorliegende Arbeit sind die Debatten in der ILC auch deshalb so interessant, weil
die ILC als Expertengremium zwar die Aufgabe einer objektiven Untersuchung des
Rechts hat, die Völkerrechtsexperten der ILC jedoch stets vor der – zumindest auch
politischen – Wahl standen, in einem beliebigen Rechtsbereich eher den Weg der
Kodifikation oder jenen der progressiven Weiterentwicklung des Völkerrechts zu
gehen. Hierzu musste jedes ILC-Mitglied eine eigene Position entwickeln, die als
vermeintlich objektive Expertenmeinung nicht notwendigerweise mit der Haltung
der jeweiligen Heimatstaaten im Einklang stehen musste, auch wenn dies gewiss
häufig der Fall war. Anders als in der Literatur konnten sich Völkerrechtler hier
also nicht vordergründig neutral hinter die Staaten der Dritten Welt stellen, sondern
mussten selbst Stellung beziehen.
Insgesamt herrschte bei den Staaten wie bei der Völkerrechtswissenschaft in der
Dritten Welt in der Zeit nach der Dekolonialisierung ein Enthusiasmus bezüglich
der Vereinten Nationen vor,72 der sich auch auf die ILC erstreckte. Die neuen Staaten
wünschten sich dabei eine aktive Rolle im völkerrechtlichen Rechtssetzungsprozess
im Rahmen der Vereinten Nationen durch aus ihrer Region entsandte Mitglieder der
ILC.73 Dies ergab sich schon in Bezug auf die Rechtsquellenlehre: Die Hauptarbeit
der ILC war die Ausarbeitung von völkerrechtlichen Verträgen. Die neuen Staaten
zogen das Vertragsrecht dem Gewohnheitsrecht vor, da hiervon nur dann Bindungs-
wirkung ausging, sofern ein Staat dieser zugestimmt hatte.74 Zwar hielt Bedjaoui
wie viele Völkerrechtler in der Dritten Welt das Vertragsrecht für schwerfällig und
zeitaufwendig.75 Trotzdem nannte er völkerrechtliche Verträge „the basis of inter-
national relations and the firmest fabric of international law.“76
Allerdings war die Ausarbeitung völkerrechtlicher Verträge durch die ILC für die
neuen Staaten nicht einfach ein weiterer Schritt in der Geschichte der völkerrecht-
lichen Kodifikationsbewegung, sondern hatte eine weit darüber hinaus reichende
Bedeutung. Im Abschluss neuer völkerrechtlicher Verträge, die im Rahmen der ILC
unter Beteiligung der ehemaligen Kolonien erarbeitet wurden, lag für viele Völker-
rechtler der Dritten Welt die Lösung der völkerrechtstheoretischen Probleme, die zu
Beginn der vorliegenden Arbeit dargestellt wurden. Sowohl die neuen Staaten als
72
Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale Elias, 21
Leiden Journal of International Law (2008), S. 317, 331; siehe hierzu schon Teil I.
73
Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of International
Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 124.
74
Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of Internatio-
nal Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 122 f.; Bedjaoui,
Towards a New International Economic Order (1979), S. 138. Siehe zu der Problematik der
Bindung der neuen Staaten an das Völkergewohnheitsrecht Teil I.
75
So hatten die Verhandlungen zur UN-Seerechtskonvention für Bedjaoui gezeigt, dass auch
multilaterale Verträge zügig verabschiedet werden konnten; dies allerdings nur, sofern dies
auch im Interesse der Großmächte lag. Die neuen Staaten begegneten den Industrienationen
nun aber faktisch nicht auf Augenhöhe. Bedjaoui, Towards a New International Economic
Order (1979), S. 138 f
76
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 138.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge139
auch die Völkerrechtswissenschaft in der Dritten Welt betrachteten die ILC dabei
als das wesentlichste Instrument, um eine materielle Universalisierung des Völker-
rechts zu erreichen. Aus Allgemeinem Völkerrecht, dessen Bindungswirkung für
die neuen Staaten umstritten war,77 wollten diese Vertragsrecht machen, an dem die
neuen Staaten mitgewirkt hatten.
So hielt Elias die Erfolge der Kodifikationsbewegung für eine der bedeutendsten
Entwicklungen auf dem Gebiet des Völkerrechts in seiner Zeit.78 Für Elias war die
Kodifizierung durch die ILC der Weg in eine universelle Völkerrechtsordnung. Zu
einer Zeit, als die WVK gerade verabschiedet worden war und die ILC sich mit
Fragen der Staatennachfolge befasste, prophezeite er:
It must be conceded that, when these and the other subjects now under study […] are com-
pleted, international law will have been rewritten and re-stated to an extent that it will have
ceased to be an European-oriented law and become a modern world law.79
Indem es die ILC den neuen Staaten ermöglichte, bei der Entwicklung des Völker-
rechts mitzuwirken, sollte beispielsweise das Vertragsrecht auf ein breites, solides
Fundament gestellt werden.81 Hinzu kam insbesondere aus Sicht der Dritten Welt
die enge Zusammenarbeit zwischen der ILC und dem AALCC.82 So wurde den
77
Siehe zum Ganzen oben Teil I.
78
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 65 f.
79
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 67. Ähnlich beteuerte
der algerische Vertreter in der Generalversammlung das tiefe Interesse seines Landes an
der Kodifikation und der progressiven Entwicklung des Völkerrechts, welches getragen sei
von der Hoffnung, die Anpassung des Völkerrechts an die modernen Umstände würde einen
besseren Schutz legitimer Interessen sowie eine fruchtbarere Zusammenarbeit der Staaten
fördern. Algerien selbst sei Opfer des traditionellen Völkerrechtes geworden, welches errich-
tet wurde, um den Interessen der Kolonialmächte zu dienen und Eroberungen sowie Unglei-
che Verträge zu rechtfertigen. Official Records of the General Assembly, Eighteenth Session,
Sixth Committee, 789th Meeting, Rn. 28.
80
Briggs, The Work of the International Law Commission, 17 Judge Advocate General of the
Navy Journal (1963), S. 56, 59.
81
GA, UN Doc A/C.6/SR.793, GAOR (1963), Rn. 3.
82
Syatauw, Newly Established Asian States and the Development of International Law
(1961), S. 237 ff.
140 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
Befürchtungen begegnet, ein nur formal universelles, materiell aber rein europäi-
sches Völkerrecht müsse angesichts der veränderten sozialen Realitäten mit vielen
neuen Mitgliedern in der Staatengemeinschaft in die Marginalität abrutschen.83 Für
die Völkerrechtler in den neuen Staaten war die ILC eine willkommene Möglich-
keit, an der Reformierung des Völkerrechts aktiv mitzuarbeiten und die Völker-
rechtsordnung mitzugestalten.84
Auch der Streit um die Frage der Bindung der neuen Staaten an das Allgemeine
Völkerrecht und damit insbesondere an das Völkergewohnheitsrecht85 konnte sich
durch die Arbeit der ILC letztlich erledigen, da neue vertragliche Regelungen altes
Gewohnheitsrecht ablösen würden. Es ging der Dritten Welt vielfach nicht unbe-
dingt darum, das traditionelle Völkerrecht zu ändern; sie wollte aber selbst bestim-
men können, welchen Normen sie sich unterwarf und welchen nicht.86
Für Rosenne, der ebenfalls zu den Mitgliedern der ILC zählte, kam der ILC auch
die Aufgabe zu, das Vertrauen der neuen Staaten in das Völkerrecht zu stärken:
The needs of the international community have of course changed over the period. Fol-
lowing the march of decolonization it has become a question of much more than simply
refashioning the classic notions of customary international law and bringing them into
tune with the realities of today. There is now a very real and urgent necessity – a political
83
Siehe oben, Kapitel 2.
84
Beispielsweise Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 65 ff.
85
Siehe oben Kapitel 3.
86
Auch dort, wo die ILC wie beispielsweise bei den Wiener Diplomaten- und Konsularrechts-
konferenzen 1961 und 1963 weitgehend bestehendes Gewohnheitsrecht nur niederschrieb,
waren die Implikationen ihrer Arbeit für die Bindung der Dritten Welt an das Völkerrecht
bedeutend, wie Briggs schrieb:
„The major significance of this result lies in its refutation of sedulously cultivated state-
ments that existing customary international law was capitalist, imperialist or colonial law and
ill-suited to the needs of Communist States or newly emerged States.
The increase in the number of new States whose relations are governed by international law
has given an entirely new perspective to the codification of that law. […] Representatives of
more than one new State have asked in United Nations debates why they should be considered
bound by rules of international law in whose development they had no part. The actual beha-
vior of these new States belies the implication contained in the challenge: in fact, there has
been no general repudiation of universally binding rules of international law by new States but
some have asserted the right to be selective. The best way to meet this challenge is provide all
the new States with the opportunity to participating, along with older States, in the reformula-
tion of international law to meet contemporary needs.” Briggs, The Work of the International
Law Commission, 17 Judge Advocate General of the Navy Journal (1963), S. 56, 58. Tatsäch-
lich hatten unter anderem die neuen Staaten bei der Wiener Diplomatenrechtskonferenz 1963
über 300 Änderungsvorschläge angebracht; diese wurden jedoch weitestgehend aus Respekt
vor der Arbeit der ILC zurückgezogen oder überstimmt; letztlich wurde die Konvention ein-
stimmig angenommen. Es ging den neuen Staaten hier offenbar nicht ausschließlich darum,
ihre Interessen durchzusetzen, sondern schlicht darum, am Rechtssetzungsprozess aktiv betei-
ligt zu sein; hierfür spricht auch, dass viele Staaten der Dritten Welt zu den ersten Unter-
zeichnern des Vertrages gehörten. Briggs, The Work of the International Law Commission, 17
Judge Advocate General of the Navy Journal (1963), S. 56, 58 f.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge141
necessity – to create for all the newly independent countries in all corners of the globe a
sense of confidence in the law and an appreciation that it is not, or does not have to be, an
instrument of colonialism and of extortion but is rather the embodiment of the sinews of the
very concept of the sovereign equality of states. This means in practical terms […] that the
organ primarily responsible for the groundwork, the International Law Commission, should
itself be broadly representative of the different trends, and conduct its affairs in such a way
that would elicit maximum response from the governments.87
So erfolgreich die ILC in den ersten Jahrzehnten auch war und so enthusiastisch
sie von den Autoren in den neuen Staaten gepriesen wurde, sah sie sich doch im
Laufe der Jahrzehnte auch zunehmender Kritik gerade seitens der Dritten Welt aus-
gesetzt. Es gehörte seit Beginn ihrer Arbeit zum Selbstverständnis der ILC, sich
stärker der Kodifizierung als der progressiven Entwicklung des Völkerrechts zuzu-
wenden.88 Die ILC hatte sich nach der Dekolonialisierung auch weitestgehend auf
den Kern des traditionellen Völkerrechts beschränkt.89 Damit wurde sie jedoch, wie
zeitgenössische Beobachter feststellten, den sich ändernden Bedürfnissen der Staa-
tengemeinschaft nicht gerecht.90 Die neuen Staaten wollten, dass sich die Arbeit
der ILC insbesondere auf solche Gebiete konzentrierte, in denen es an ausführli-
cher Staatenpraxis und etablierter wissenschaftlicher Theorie fehlte.91 So waren es
gerade die ILC-Mitglieder aus der Dritten Welt, die eine progressive Weiterentwick-
lung des Völkerrechts durch die ILC für notwendig erachteten.92 Die Mehrheit der
87
Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the Annual
Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 26 f. Für Rosenne konnte die
psychologische Bedeutung der Teilnahme der gesamten Staatengemeinschaft einschließlich
der ehemaligen Kolonien an Konferenzen zur Kodifizierung des Rechts gar nicht hoch genug
eingeschätzt werden. Für ihn war die Entwicklung der Staatengemeinschaft eng verknüpft mit
dem wachsenden Partizipationsgrad von Staaten aller Teile der Erde bei Kodifikationskonferen-
zen, wobei er die Konferenz zur Wiener Vertragsrechtskonvention als Höhepunkt betrachtete.
Dabei sah er die Beteiligung neuen Staaten als Bereicherung für die Staatengemeinschaft an:
„The conference on the law of treaties epitomizes the full-blown, Athena-like, appearance of
Africa without whose insistence, along with the personal skill of the African Chairman of the
Committee of the Whole, the Vienna Convention would probably never have been completed.”
Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the Annual
Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 36. Der Vorsitzende, von
dem Rosenne hier spricht, war Elias, siehe unten.
88
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1143, ILC-Yearbook (1971, I), S. 372, 376, Rn. 51; El Baradei/
Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New Direction
(1981), S. 8.
89
Vgl. Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the
Annual Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 33.
90
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 5.
91
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 5.
92
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 9; siehe hierzu auch Kapitel 6, Kapitel 7 und insbesondere Teil III.
142 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
Mitglieder der ILC wollte jedoch keine Veränderung des Rechts, hatte Respekt vor
interdisziplinär angelegten Themen oder die Sorge, bei politisch brisanten Themen
keine tragfähigen Lösungen entwickeln zu können.93
Die Folge war die Errichtung von ad hoc-Organen durch die Vereinten Nationen
wie etwa des Ausschusses für die friedliche Nutzung des Weltraums im Jahr 1959
oder des United Nations Institute for Training and Research (UNITAR) im Jahr
1965, welche damit betraut wurden, Rechtsbereiche einer Regelung zuzuführen,
die grundsätzlich auch von der ILC hätten eruiert werden können.94 Aus Unzufrie-
denheit mit den langwierigen Prozessen innerhalb der Generalversammlung und
insbesondere im Sechsten Komitee wurde auf Initiative der neuen Staaten auch ein
Spezialkomitee für Völkerrechtsprinzipien bezüglich der freundlichen Beziehungen
von Staaten (Special Committee on Principles of International Law Concerning
Friendly Relations and Co-operation among States) errichtet, um das traditionelle
Völkerrecht zu prüfen und den neuen Gegebenheiten anzupassen.95 Die ILC war
ihrer Aufgabe in dieser Hinsicht aus Perspektive der neuen Staaten nicht ausrei-
chend nachgekommen.96 So meinte ein zeitgenössischer Beobachter:
[T]he impatience and dissatisfaction of the neutralist, uncommitted countries with all the
slowness and procedural cumbrousness and simple obstructionism in the U.N. Sixth (Legal)
Committee and the General Assembly, and with the seeming unimaginativeness, even timo-
rousness, of the International Law Commission, which too often, perhaps, in the eyes of
the “new” countries, has appeared to be preoccupied with the petit-point needlework of
international law rather than to be concerned with the imaginative reshaping and rewriting
of international law to meet new conditions in international society.97
Zwar bestand eine – oft auch durch personelle Identität ihrer Mitglieder begründete –
enge Zusammenarbeit zwischen der ILC, dem UNITAR, dem Sechsten Ausschuss
und den Staatenvertretern auf internationalen Konferenzen.98 Trotzdem wurden mit
93
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 10 ff.
94
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 6 f.
95
Anand, New States and International Law (1972), S. 76; McWhinney, The „New“ Count-
ries and the „New“ International Law: The United Nations Special Conference on Friendly
Relations and Co-operation among States, 60 American Journal of International Law (1966),
S. 1, 2; GA/Res/1966 (XVIII), 16. Dezember 1963.
96
Anand, New States and International Law (1972), S. 76; McWhinney, The “New” Count-
ries and the ”New” International Law: The United Nations Special Conference on Friendly
Relations and Cooperation among States, 60 American Journal of International Law (1966),
S. 1, 3 ff., 30 f.
97
McWhinney, The „New“ Countries and the „New“ International Law: The United Nations
Special Conference on Friendly Relations and Co-operation among States, 60 American
Journal of International Law (1966), S. 1, 3.
98
Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the Annual
Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 25.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge143
99
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 7; Rao, International Law Commission (ILC), Max Planck Encyclopedia
of Public International Law (2006), Rn. 36 f. Eine Ausnahme bildete die most-favoured-na-
tions-clause, mit der die ILC bis heute befasst ist.
100
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 13.
101
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 13.
102
ICJ, ICJ-Reports 1966, S. 6, 6 ff.; El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law
Commission: The Need for a New Direction (1981), S. 14; siehe hierzu ausführlich unten.
103
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 41, Fn. 73; Rao, International Law Commission (ILC), Max Planck
Encyclopedia of Public International Law (2006), Rn. 29, 33.
104
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 41, Fn. 76.
105
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 14.
106
Auch wurde und wird der ILC vorgeworfen, nicht der rule of law in den Internationalen
Beziehungen, sondern vielmehr staatlichen Einzelinteressen zu dienen. Auch das Verhält-
nis zwischen ILC und Generalversammlung barg und birgt Schwierigkeiten (die ILC sei zu
technisch und unverständlich, Mitgliedsstaaten beantworteten Anfragen der ILC nicht, dies
allerdings auch, weil Dritte Welt-Staaten damit aus personellen Gründen überfordert waren).
Auch kritisiert wurde die teils geringe Ratifikationszahl von Konventionen, die durch die
ILC ausgearbeitet wurden; allerdings haben auch Konventionen mit wenigen Ratifikationen
144 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
Gerade im Bereich des Vertragsrechts vermochte die ILC jedoch der ihr von Völker-
rechtlern aus der Dritten Welt zugedachten Aufgabe, das Völkerrecht nicht nur zu kodi-
fizieren, sondern auch weiterzuentwickeln, zumindest bedingt gerecht zu werden.107
In der ILC wurde das Problem Ungleicher Verträge in verschiedene, mehr oder weniger
etablierte Normen des Rechts der Verträge übertragen. Dabei bot sich das Recht der Ver-
träge im Kampf der Völkerrechtler in der Dritten Welt gegen Ungleiche Verträge durchaus
an: Angesichts des Wiederaufflammens der Debatte um Ungleiche Verträge anlässlich der
Dekolonialisierung und der hiermit verbundenen Entstehung neuer bzw. neuen unabhängi-
ger Staaten war diese Problematik zwar eng verknüpft mit Fragen der Staatennachfolge.108
Das gewohnheitsrechtliche Recht der Verträge beschäftigte sich jedoch – unabhängig von
den Regeln der Staatennachfolge – mit allgemeinen Fragen der Wirksamkeit von Verträgen
und kannte bereits einige Tatbestände, welche zumindest bestimmte Aspekte Ungleicher
Verträge aufnahmen. Im Zusammenhang mit den Versuchen Chinas und der Sowjetunion,
sich von Ungleichen Verträgen zu lösen, ging beispielswiese der US-Amerikaner Albert
H. Putney bereits 1927 bei der jährlichen Sitzung der American Society of International
Law davon aus, dass das Völkerrecht Ungleiche Verträge zwar grundsätzlich für wirksam
erachtete, aber eben nur außerhalb der geltenden Regeln zu Verträgen unter Gewaltein-
wirkung und zum Prinzip rebus sic stantibus.109 Die Völkerrechtler in der Dritten Welt
gerieten ins Fahrwasser solcher westlicher Völkerrechtler, die schon zur Zeit der Debatte
um Ungleiche Verträge in China und Russland versucht hatten, diese Thematik anhand
bestehender völkergewohnheitsrechtlicher Regelungen des Rechts der Verträge zu lösen.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit der Völkerrechtler in den neuen Staaten standen dabei die
gewohnheitsrechtlich bereits ausgebildeten bzw. zumindest diskutierten Normen zu unter
wie die Wiener Vertragsrechtskonvention sich im Laufe der Zeit behaupten können. Andere
Kritikpunkte waren die Gefahr einer zu stark akademischen Herangehensweise an praktische
Probleme und die hohen Kosten. Seit 1977 wurde in der Planungsgruppe über eine Rationali-
sierung der Arbeitsweise der ILC diskutiert. Siehe zum Ganzen El Baradei/Franck/Trachten-
berg, The International Law Commission: The Need for a New Direction (1981), S. 14 ff.;
Rao, International Law Commission (ILC), Max Planck Encyclopedia of Public International
Law (2006), Rn. 38.
107
Siehe insofern etwa die Regelung zum Prinzip rebus sic stantibus, Kapitel 7. Vgl auch
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 38, Fn. 28.
108
Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. xi, 4. Siehe hierzu auch
Teil III.
109
Putney, Termination of Unequal Treaties, American Society of International Law Procee-
dings (1927), S. 87, 89 f. Ähnlich knüpfte in den 1960er-Jahren Detter an bestehende Kon-
zepte an. Detter, The Problem of Unequal Treaties, 15 International and Comparative Law
Quarterly (1966), S. 1069, 1089. Sie forderte jedoch eine Feststellung der Nichtigkeit bei-
spielsweise durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen, um nicht nur den Interes-
sen der schwächeren Staaten, sondern auch dem Prinzip pacta sunt servanda Genüge zu tun.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge145
(gewaltsamem) Zwang erwirkten Verträgen sowie zu dem Prinzip rebus sic stantibus.110
Entsprechend argumentierten Völkerrechtswissenschaftler der Dritten Welt wie Sinha als
Advokaten ihrer Heimatstaaten:On becoming independent, these States increasingly rely
on the argument that ‘unequal’ or ‘inequitable’ treaties thus extracted, and treaties imposed
by duress, are invalid ab initio. Accordingly, they declare that it is the right of the State
which was obliged to enter into such treaties to terminate them by denunciation.
Rebus sic stantibus is frequently resorted to by the newly independent States in order
to terminate their inherited burdens. The doctrine is invoked by them not only on the basis
of justice but also because a treaty fails to accord with the present position of power in the
world.111
Auch Abi-Saab setzte sich mit den Unwirksamkeitsgründen nach dem Recht der
Verträge auseinander:
The law of treaties is very primitive in comparison with municipal law systems. It does not
recognize coercion as a vice of consent if it is directed to the country as a whole, although it
recognizes duress as a vice of consent if it is directed to the representatives of a contracting
party! It does not require a consideration for the treaty to be valid, nor does it impose a limit
to the inequalities of the burdens created at the behest of the different parties. […]
The result is that they [d. h. die neuen Staaten, Anmerkung der Verfasserin] take a very
liberal attitude as to the modes of extinction of treaties. The doctrine rebus sic stantibus is
widely referred to by the newly independent states. It seems it will be increasingly invoked
by them not only on the basis of justice but also because ‘certain contents of the treaty … no
longer accord with the present position of power.’ The recourse to the unilateral denunciation
of treaties by the newly independent states on the basis of fundamental changes in circumstan-
ces is made easier by the prohibition of war by the Charter (art. 2 par. 4) and the cold war situ-
ation. It is likely to go on as long as there is no international organ to discharge this function.112
110
Siehe hierzu im Detail unten, Kapitel 6 und Kapitel 8.
111
Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of Internatio-
nal Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 123 f. Siehe auch
Okoye, International Law and the New African States (1972), S. 191.
112
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 107 ff. Abi-Saabs Direktzitat stammt von Röling, Inter-
national Law in an Expanded World (1960), S. 89.
146 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
113
Briggs, Procedures for Establishing the Invalidity or termination of Treaties under the
International Law Commissions 1966 Draft Articles on the Law of Treaties, 61 American
Journal of International Law (1967), S. 976, 977.
114
So schon beispielsweise bei Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/
CN.4/63, Yearbook of the International Law Commission (1953, II), S. 90, 93, 147.
115
Vgl. Briggs, Procedures for Establishing the Invalidity or termination of Treaties under
the International Law Commissions 1966 Draft Articles on the Law of Treaties, 61 American
Journal of International Law (1967), S. 976, 977 f.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge147
116
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.834, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 78, 79, Rn. 9.
117
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 188.
118
Krieger, Article 65, in Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Trea-
ties: A Commentary (2012), S. 1137 ff., Rn. 17 ff.
119
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 85.
120
Siehe im Ergebnis Artikel 4 WVK, nach dem eine retroaktive Anwendung letztlich nur
indirekt im Rahmen der Kodifikation von geltendem Gewohnheitsrecht in Betracht kommt.
Zur Debatte in der ILC siehe Rosenne, The Temporal Application of the Vienna Convention
on the Law of Treaties, 4 Cornell International Law Journal (1970-1971), S. 1, 5 ff. Siehe
außerdem Malawer, Studies in International Law (2. Auflage 1977), S. 36.
121
Siehe Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 4.
122
Vgl. Malawer, Studies in International Law (2. Auflage 1977), S. 37 ff.
123
Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. xi, 4.
148 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
124
Vgl. Hogg, The International Law Commission and the Law of Treaties, 59 Proceedings of
the Annual Meeting (American Society of International Law) (1965), S. 8, 12.
125
Hogg, The International Law Commission and the Law of Treaties, 59 Proceedings of the
Annual Meeting (American Society of International Law) (1965), S. 8, 12. Dabei war für eine
solche materielle Universalisierung die formale Beteiligung am Rechtssetzungsakt für die
neuen Staaten nach Einschätzung mancher Beobachter wichtiger als die tatsächliche Durch-
setzung ihrer materiellen Interessen: So erklärte Rosenne die vielen Änderungsvorschläge
zur WVK aus der psychologischen Situation der neuen Staaten heraus; tatsächlich hätte die
Annahme der meisten Vorschläge gar nicht zu gravierenden Änderungen geführt und die Vor-
schläge, welche angenommen wurden, hätten fast durchweg Verbesserungen der Entwurfs-
artikel bedeutet. Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of
the Annual Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 36.
126
Brierly, UN Doc A/CN.4/23, ILC-Yearbook (1950, II), S. 222, 223; Fitzmaurices Ent-
würfe sollten zwar mehr die Form kommentierter Verhaltensstandards als einer verbindlichen
Konvention annehmen. Dies war wohl der nicht gänzlich unberechtigten Sorge geschuldet,
keinen ausreichenden Konsens für einen erfolgreichen multilateralen Vertrag erreichen zu
können. Vgl. ILC, UN Doc A/6309/Rev.l, ILC-Yearbook (1966/II), S. 169, 174, Rn. 13.
Waldock kehrte jedoch zur Form des völkerrechtlichen Vertrags zurück. Zum Ganzen siehe
Hogg, The International Law Commission and the Law of Treaties, 59 Proceedings of the
Annual Meeting (American Society of International Law) (1965), S. 8, 11.
127
Zu Lachs’ Biografie siehe Who’s Who in the United Nations and Related Agencies (1975),
S. 318.
128
Hogg, The International Law Commission and the Law of Treaties, 59 Proceedings of the
Annual Meeting (American Society of International Law) (1965), S. 8, 11.
129
Hogg, The International Law Commission and the Law of Treaties, 59 Proceedings of the
Annual Meeting (American Society of International Law) (1965), S. 8, 11.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge149
the treaties through a multilateral convention would give all the new States the opportunity
to participate directly in the formulation of the law if they so wished; and their participation
in the work of codification appears to the Commission to be extremely desirable in order
that the law of treaties may be placed upon the widest secure foundations.130
Insofern stand die Kodifikation des Rechts der Verträge von Anfang an im Zeichen
des Globalsolidarischen Projekts. Der marokkanische Vertreter erklärte dabei,
dass es im Rahmen der Kodifikation des Rechts der Verträge und im Kampf gegen
Ungleiche Verträge für die neuen Staaten auch darum ging, materielle Gerechtigkeit
herzustellen:
An international treaty which was not consistent with the principles of the equality and
freedom of action of the contracting parties and did not respect their constitutional procedu-
res was ipso facto invalid because it was illegal. The new independent States, for example,
must guard against entering into treaties which, although apparently fair and equal, actu-
ally placed serious restrictions on the exercise of their free will. Since such treaties were
frequently concluded when States were under the impact of specific historical or political
circumstances, inequities were bound to result and it was precisely in order to obviate such
injustice that a codification of the law of treaties was essential.131
Die Hoffnungen der Autoren in den neuen Staaten in die WVK wurden dadurch geschürt,
dass Völkerrechtler aus der Dritten Welt in der ILC und bei der Wiener Vertragsrechts-
konferenz eine wichtige Rolle spielten. So war Elias ab 1962 Mitglied der ILC, arbei-
tete am Entwurf der WVK mit und war Berichterstatter (General Rapporteur) bei den
letzten Sitzungen der Kommission 1965 in Genf und 1966 in Monaco, bei denen die
WVK zu der Version zusammengesetzt wurde, in welcher sie schließlich auf Vorschlag
des 6. Komitees der Generalversammlung im Jahr 1966 angenommen wurde.132 Bei der
Wiener Vertragsrechtskonferenz hatte Elias außerdem eine Doppelrolle als Vertreter der
Dritten Welt und als Chairman of the Committee of the Whole inne.133
Nicht nur in der Völkerrechtswissenschaft der Dritten Welt war die Kodifika-
tion des Rechts der Verträge stets als wichtig erachtet worden.134 Die Kodifikation
des Vertragsrechtes galt als Prüfstein für die moderne Kodifikationsbewegung; ein
Scheitern musste ausgeschlossen werden.135 Dabei barg das Recht der Verträge als
130
ILC, UN Doc A/5209, ILC-Yearbook (1962/II), S. 157, 160, Rn. 17; Elias, Africa and the
Development of International Law (1972), S. 65
131
GA, UN Doc A/C.6/SR.792, GAOR (1963), Rn. 15.
132
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 5; vgl. GA, UN Doc GA/Res/2166 (XXI)
(5. Dezember 1966).
133
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 6. Im Rahmen der Verankerung der Nichtig-
keit Ungleicher Verträge in der WVK sollte Elias allerdings äußerste Zurückhaltung zeigen.
Siehe unten zu den einzelnen Normen der WVK. Elias’ Zurückhaltung im Bereich der
positivrechtlichen Ächtung Ungleicher Verträge zeigt sich auch darin, dass er diese für sich
genommen in seinem Buch The Modern Law of Treaties von 1974 nicht thematisiert.
134
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 46.
135
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 47, 76.
150 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
sehr technisches Rechtsgebiet das Problem, aber auch die Chance, dass viele Staaten
hier eine grundlegende politische Position beziehen sollten.136 Einerseits waren
große Teile des Rechts der Verträge nicht allzu umstritten, sie boten auf Grund ihrer
reziproken Anwendbarkeit schlicht wenig politisches Konfliktpotential.137 Entspre-
chend wurde in vielen Bereichen eher eine Kodifikation des geltenden Gewohnheits-
rechts zum Recht der Verträge erwartet und auch vorgenommen.138 Allerdings gab
es gerade bei den Normen, die Anwendung auf Ungleiche Verträge hätten finden
können, politische Grabenkämpfe, zumal es in diesen Fällen oft auch an einer ein-
deutigen, etablierten Staatenpraxis fehlte.139 Hier propagierte die Dritte Welt häufig
eine progressive Fortentwicklung des Völkerrechts, wie die folgende Bemerkung des
ghanaischen Vertreters in der Generalversammlung illustriert:
With respect to the draft articles on the law of treaties, his Government would distinguish
between the traditional international law which favoured colonialism and an international
law adapted to the progress of international society. The new codification must consider the
aspirations of the new nations as well as of the old. International law must be purged of any
rules authorizing the exploitation of a weaker Power by a stronger, so as to place all States
on an equal footing. Many existing treaties had been concluded without the real consent of
one or more of the parties. The Organization of African Unity would seek to abrogate all
obligations arising from such treaties. The new African States would therefore not support
the traditional forms of international law which had been designed to exploit and dominate
them.140
Manche Beobachter mahnten, die ILC dürfte bei ihrer hochtechnischen Arbeit
solche allgemeinen Probleme wie das der Ungleichen Verträge, welches gerade
für die neuen Staaten von großer Bedeutung war, nicht aus den Augen verlieren.141
Währenddessen betonte insbesondere der Westen die Verlässlichkeit und Beständig-
keit von Verträgen; er wollte daher nur eine Kodifikation der bestehenden Normen
zum Recht der Verträge mittragen.142
136
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 47.
137
Gottlieb, The International Law Commission, 4 Canadian Yearbook of International Law
(1966), S. 64, 70; Briggs, Procedures for Establishing the Invalidity or termination of Treaties
under the International Law Commissions 1966 Draft Articles on the Law of Treaties, 61
American Journal of International Law (1967), S. 976, 976; Rosenne, The Law of Treaties: A
Guide to the Legislative History of the Vienna Convention (1970), S. 50, 74.
138
Vgl. Briggs, Procedures for Establishing the Invalidity or Termination of Treaties under
the International Law Commissions 1966 Draft Articles on the Law of Treaties, 61 American
Journal of International Law (1967), S. 976, 976.
139
Hogg, The International Law Commission and the Law of Treaties, 59 Proceedings of the
Annual Meeting (American Society of International Law) (1965), S. 8, 13.
140
GA, UN Doc A/C.6/SR.791, GAOR (1963), Rn. 34.
141
Wyzner, Selected Problems of the United Nations Program for the Codification and Pro-
gressive Development of International Law, 56 Proceedings of the Annual Meeting (Ameri-
can Society of International Law) (1962), S. 90, 96.
142
Siehe hierzu unten die Belege zu den einzelnen WVK-Normen, Kapitel 6 und Kapitel 7.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge151
Insgesamt sollten die Arbeiten an der WVK in Bezug auf Ungleiche Verträge
daher im Spannungsfeld zwischen dem Ruf nach gesellschaftlichem Wandel im
Sinne des Globalsolidarischen Projekts einerseits und dem Prinzip pacta sunt ser-
vanda, das als wiederkehrendes Motiv die Sicherheit und Stabilität in den Vortrags-
bezeichnungen schützen sollte, andererseits verlaufen.143
143
Vgl. hierzu auch Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the
Vienna Convention (1970), S. 76.
Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang
abgeschlossene Verträge in der WVK
In diesem Teil der vorliegenden Arbeit soll dargestellt werden, wie die Dritte Welt
die Norm zu unter gewaltsamem Zwang abgeschlossenen Verträgen in der späteren
Wiener Vertragsrechtskonvention zu nutzen versuchte, um sich Ungleicher Verträge
zu entledigen. Dabei sollen zunächst die ersten Schritte der ILC auf dem Weg zu
einer entsprechenden Norm bis hin Waldocks erster Formulierung des Verbots von
Verträgen unter gewaltsamem Zwang beleuchtet werden (I.). Sodann ist auf deren
Diskussion in der ILC einzugehen (II.). Der von der ILC korrigierte Entwurf wurde
von diversen Regierungen diskutiert (III.), von Waldock erneut überarbeitet, von
der ILC wieder diskutiert und schließlich verabschiedet (IV.). Nach dem diese Ent-
wicklungen nachgezeichnet wurden, ist schließlich auf die Debatten bei der Wiener
Vertragsrechtskonvention zum Verbot von Verträgen unter gewaltsamem Zwang
einzugehen (V.). Abschließend ist auf die Rezeption dieser Norm im Recht der Ver-
träge und ihre Wirksamkeit im Kampf gegen Ungleiche Verträge einzugehen (VI.).
Im Jahr 1949 hatte die ILC zur Erfüllung ihrer Aufgabe nach Artikel 18 ILC-Statut
auf der Grundlage eines Gutachtens des Generalsekretärs der Vereinten Nationen eine
Liste mit 25 Themen erstellt, die als Lauterpacht-Memorandum bekannt wurde und
der ILC fortan als Arbeitsplan dienen sollte.1 Unter den aufgelisteten Bereichen des
1
GA, UN Doc A/925, GAOR (1949), Supplement No. 10, Rn. 16, zitierte nach Rao, Interna-
tional Law Commission (ILC), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2006),
Rn. 7; Wood, Statute of the International Law Commission, United Nations Audiovisual
Völkerrechts, mit denen sich die ILC befassen sollte, befand sich auch das Recht der
Verträge, dem die ILC auf Bitten der Generalversammlung Priorität einräumte.2 Bei
ihrem 33. Treffen ernannte die ILC Brierly zum Sonderberichterstatter für das Völ-
kervertragsrecht.3 Dieser beschäftigte sich in seinen drei Berichten zum Vertragsrecht
ausschließlich mit allgemeinen Definitionen, der Kompetenz zum Vertragsschluss und
dem Entstehungsprozess von Verträgen.4 Als Brierly die ILC 1952 und damit nur drei
Jahre vor seinem Tod verließ, wurde Lauterpacht zu seinem Nachfolger.5 Bereits in
seinem ersten Entwurf der Artikel einer zukünftigen Vertragsrechtskonvention für das
Vertragsrecht sah Lauterpacht dabei ein völkervertragsrechtliches Verbot des Zwangs
gegen einen Staat durch Androhung oder Anwendung von Gewalt vor, welches die
neuen Staaten im Verlauf der Debatte zum Instrument gegen Ungleiche Verträge
machen wollten und das schließlich in Artikel 52 WVK seinen Ausdruck finden sollte.6
Lauterpachts erster Bericht bezweckte dabei vorwiegend die Kodifikation
bestehenden Rechts und gerade keine progressive Rechtsentwicklung.7 Der Bericht
enthielt in seinem zweiten Abschnitt („Reality of consent“) einen mit „Absence of
compulsion“ überschriebenen Artikel 128 mit folgendem Inhalt:
Treaties imposed by or as the result of the use of force or threats of force against a State in
violation of the principles of the Charter of the United Nations are invalid if so declared by
the International Court of Justice at the request of any State.9
Library of International Law (2009), S. 4. Frühe Arbeiten zur Kodifikation des völkerrecht-
lichen Rechts der Verträge waren die Havana Convention on Treaties und der Konventions-
entwurf zum Vertragsrecht der Harvard Research in International Law. An diese schloss die
Arbeit der ILC an. Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the
Vienna Convention (1970), S. 33.
2
GA, UN doc A/Res/16/1686 (18 December 1961); Briggs, The Work of the International
Law Commission, 17 Judge Advocate General of the Navy Journal (1963), S. 56, 59.
3
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.633, ILC-Yearbook (1949), S. 236, 238.
4
Brierly, UN Doc A/CN.4/23, ILC-Yearbook (1950, II), S. 222, 224, Rn. 1; Brierly, UN Doc
A/CN.4/43, ILC-Yearbook (1951, II), S. 70 ff.; Brierly, UN Doc A/CN.4/54, ILC-Yearbook
(1952, II), S. 50 ff.
5
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.179, ILC-Yearbook (1952, I), S. 226, 227, Rn. 5.
6
Vgl. Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90 ff.
7
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the Inter-
national Law Commission (1953, II), S. 90, 90, Rn. 3.
8
Hinweis: Artikel ohne Nennung entsprechen immer der zeitgenössischen Nummerierung
im jeweils diskutierten Regelwerk (Bericht, Vertragsentwurf) zum jeweiligen Zeitpunkt der
Debatte; alle anderen Artikel sind durch Nennung des fraglichen Regelwerks gekennzeichnet.
9
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the Inter-
national Law Commission (1953, II), S. 90, 93, 147.
I. Von der Vorgeschichte der Arbeiten an der Wiener Vertragsrechtskonvention… 155
unter Verletzung der Prinzipien der VN-Charta aufgezwungen worden war. Dabei
räumte Lauterpacht ein, dass Gewalt in der Vergangenheit als Mittel in den inter-
nationalen Beziehungen erlaubt gewesen sei und unter deren Eindruck zustande
gekommene Verträge folgerichtig als wirksam angesehen worden waren.10 Er stellte
jedoch gleichzeitig klar, dass hierin eine faktische Absage an die Idee des freien
Willens der Parteien als Grundlage des Vertrages liege, die symptomatisch sei für
einen grundlegenden Defekt in der völkerrechtlichen Struktur.11 Dieser Defekt sei
als Ergebnis einer seit dem Ersten Weltkrieg andauernden Entwicklung behoben
worden; denn mittlerweile schreibe Artikel 2 Nr. 4 VN-Charta vor, dass alle Mit-
glieder in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unver-
sehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst
mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung
von Gewalt zu unterlassen hätten.12 Dieses Gewaltverbot gehörte für Lauterpacht
unterdessen auch zum gewohnheitsrechtlich gesicherten Bestand des Allgemeinen
Völkerrechts.13 Aus dieser Entwicklung resultiere auch das Verbot gewaltsamen
Zwangs beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge:
It follows that a treaty imposed by or as the result of force or threats of force resorted to
in violation of the principles of these instruments of a fundamental character is invalid by
virtue of the operation of the general principle of law which postulates freedom of consent
as an essential condition of the validity of consensual undertakings.14
Es ergab sich für Lauterpacht also nicht nur aus dem von der Stimpson-Doktrin
gespiegelten Prinzip ex iniria ius non oritur, dass ein Staat aus seinem rechtswid-
rig erzwungenen Vertrag keine rechtlichen Vorteile erlangen durfte, sondern gerade
auch aus dem Erfordernis der freien Willensbildung als Grundlage vertraglicher
Verpflichtungen.15 Die Summe dieser Faktoren ergab für Lauterpacht die Unwirk-
samkeit von Verträgen unter gewaltsamem Zwang.16
10
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 147, Rn. 1. Siehe hierzu auch Peters,
Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007), Rn. 27.
11
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 147, Rn. 1.
12
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 147 f., Rn. 2.
13
Lauterpachts Untersuchung ergab, dass das Gewaltverbot auch in anderen Vertragswerken
wie dem Inter-American Treaty on Reciprocial Assistance von 1947 niedergelegt war. Lau-
terpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the Interna-
tional Law Commission (1953, II), S. 90, 148, Rn. 2.
14
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 148, Rn. 3.
15
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 148, Rn. 3 f.
16
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 149, Rn. 5.
156 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Allerdings erschien ihm die Missbrauchsgefahr einer solchen Norm groß zu sein.17
Zum Schutz der Stabilität völkerrechtlicher Verträge beschränkte Lauterpacht die
Unwirksamkeitsfolge auf solche Verträge, die auf der Androhung oder Anwendung
von Gewalt beruhten;18 eine Taktik, die von vielen anderen westlichen Völkerrechtlern
in der weiteren Debatte aufgegriffen werden sollte. Er bediente sich hier des Wortlauts
von Artikel 2 Nr. 4 VN-Charta.19 Gewalt verstand Lauterpacht dabei rein physisch,
Zwangswirkungen unterhalb dieser Schwelle schloss er vom Anwendungsbereich
der Norm aus.20 Dies entsprach der zu dieser Zeit ganz herrschenden Lehre in der
westlichen Literatur.21 Außerdem musste der Zwang gegen den Staat gerichtet sein,
der Zwang gegen Staatsvertreter war schon nach traditionellem Völkerrecht verboten
gewesen und fiel unter andere Normen.22 Daneben musste die Androhung oder Anwen-
dung von Gewalt die VN-Charta verletzen, durfte also nicht rechtmäßig im Sinne des
VII. Kapitels sein.23 Durch Lauterpachts Schilderung der Entstehung des Verbots von
gewaltsam erzwungenen Verträgen wird deutlich, dass es ihm um eine Flankierung des
Gewaltverbots im völkerrechtlichen Recht der Verträge ging und nicht um den Schutz
der Willensfreiheit von Staaten bei Vertragsschluss. Die seitens der Völkerrechtler in der
Dritten Welt und ihrer Heimatländer geübte Kritik an Ungleichen Verträgen ließ Lau-
terpacht dabei außer Acht. Entsprechend wollte er erzwungene Verträge nur insoweit
sanktionieren, wie diese unter dem Eindruck von Gewalt im Sinne von Artikel 2 Nr. 4
VN-Charta entstanden waren. Hier nutzte Lauterpacht also das Gewaltverbot als Allge-
meines Grundprinzip argumentativ, um eine thematische Grenze im Recht der Verträge
zu ziehen. Nur bis zu dieser Grenze schien ihm die Willensfreiheit der Staaten bei Ver-
tragsschluss als apologetischer Debattenpol schützenswert; dem stand die Verlässlich-
keit des Vertragsrechts als utopische Idee gegenüber, der Lauterpacht Tribut zollte. In
Abweichung vom geltenden Recht forderte Lauterpacht darüber hinaus die Schaffung
einer obligatorischen Gerichtsbarkeit des IGH für die Feststellung der Unwirksamkeit
entsprechender Verträge, um einer missbräuchliche Praxis vorzubeugen.24
17
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 151, Rn. 1.
18
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 149, Rn. 7.
19
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 149, Rn. 7.
20
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 149, Rn. 7.
21
Statt vieler siehe Brownlie, International law and the Use of Force by States (1963), S. 361.
22
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 150, Rn. 8. Siehe Artikel 11, Lauterpacht,
First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the International Law
Commission (1953, II), S. 90, 92.
23
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 150, Rn. 9.
24
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 150 f., Rn. 11.
I. Von der Vorgeschichte der Arbeiten an der Wiener Vertragsrechtskonvention… 157
Lauterpachts erster Bericht, welcher der ILC bei ihrer fünften Sitzung 1953
vorlag, wurde im Plenum aus Zeitmangel aber ebenso wenig diskutiert wie sein
zweiter Bericht bei der sechsten Sitzung der ILC 1954. Auf Grund seiner Wahl zum
Richter am IGH musste mit Lauterpacht auch der zweite Sonderberichterstatter für
das Vertragsrecht seinen Posten aufgeben; seine Nachfolge trat ab 1955 der Brite Sir
Gerald Gray Fitzmaurice an.25
Fitzmaurice nahm als Sonderberichterstatter zwar auf die Berichte seiner Vor-
gänger Bezug, erarbeitete jedoch einen komplett neuen Entwurf.26 In seinem dritten
Bericht führte er einen mit dem Titel „Duress“ überschriebenen Artikel 14 ein,
in dem Verträgen die Wirksamkeit abgesprochen wurde, welche unter Zwang auf
einen Staatenvertreter zustande gekommen waren.27 Den Zwang gegen Staaten
wollte Fitzmaurice entgegen der aktuellen, von Lauterpacht zum Teil aufgezeigten
Entwicklungen aus praktischen Gründen – und insbesondere auf Grund der Miss-
brauchsgefahr – nicht sanktionieren.28 So würde bei einem Vertrag, dessen Abschluss
mit physischer Gewalt erzwungen wurde, in der Regel auch dessen Durchset-
zung erzwungen, deren Rückabwicklung abermals gewaltsam erfolgen müsste.29
Fitzmaurice betrachtete Frieden unter diesen Umständen als ein höheres Gut als
abstrakte Gerechtigkeit, der gewaltsame Zwang gegen Staaten war für ihn daher
völkervertragsrechtlich unbeachtlich.30 Damit führte Fitzmaurice wie Lauterpacht
die Stabilitätsproblematik an, leitete daraus aber sogar die umfassende Fortwirkung
Ungleicher Verträge ab. Von den insgesamt fünf Berichten, die Fitzmaurice bis zum
Jahr 1960 vorlegte,31 fand die ILC lediglich Zeit, Fitzmaurice allerersten Bericht im
Jahr 1959 zu diskutieren.32 Seine Ausführungen zu Verträgen unter Zwang wurden
ebenso wenig im Plenum diskutiert wie die seines Vorgängers.
Im Jahr 1960 wurde auch Fitzmaurice wie vor ihm Lauterpacht zum IGH-Rich-
ter gewählt und übergab den Stab an den Briten Sir Humphrey Waldock,33 der den
25
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.296, ILC-Yearbook (1955, I), S. 75, 75, Rn. 3.
26
Vgl. ILC, UN Doc A/6309/Rev.l, ILC-Yearbook (1966/II), S. 169, 174, Rn. 13.
27
Fitzmaurice, UN Doc A/CN.4/115 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1958, II), S. 20, 26.
28
Fitzmaurice, UN Doc A/CN.4/115 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1958, II), S. 38, Rn. 62.
29
Fitzmaurice, UN Doc A/CN.4/115 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1958, II), S. 38, Rn. 62.
30
Vgl. Fitzmaurice, UN Doc A/CN.4/115 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1958, II), S. 38, Rn. 62.
31
Fitzmaurice, UN Doc A/CN.4/101, ILC-Yearbook (1956, II), S. 104-128; UN Doc A/
CN.4/107, ILC-Yearbook (1957, II), S. 16-70; ders., UN Doc A/CN.4/115 and Corr. 1,
ILC-Yearbook (1958, II), S. 20 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/120, ILC-Yearbook (1959, II),
S. 37-81; ders., UN Doc A/CN.4/130, ILC-Yearbook (1960, II), S. 69-107.
32
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.480, ILC-Yearbook (1959, I), S. 3, 3 Rn. 1 ff.
33
Zu Waldocks Biografie siehe Who’s Who in the United Nations and Related Agencies
(1975), S. 604. Waldock verfasste sechs Berichte zum Recht der Verträge: Waldock, UN Doc
A/CN.4/144 and Add. 1, ILC-Yearbook (1962, II), S. 27 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/156 and
Add. 1-3, ILC-Yearbook (1963, II), S. 36 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/167 and Add. 1-3, ILC-
Yearbook (1964, II), S. 5 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/177 and Add. 1-2, ILC-Yearbook (1965,
II), S. 3 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook (1966, II), S. 1 ff.; ders.,
UN Doc A/CN.4/186 and Add. 1-7, ILC-Yearbook (1966, II), S. 51 ff.
158 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Posten des Sonderberichterstatters für Vertragsrecht von 1961 bis zum Abschluss
der Arbeiten innehatte.34 Bis 1962 hatte die ILC nur wenig Zeit auf die Arbeit
am Vertragsrecht verwendet und die Berichte der Sonderberichterstatter nur spo-
radisch diskutiert; ab 1962 folgten sechs erfolgreiche Berichte.35 Die ILC tastete
sich dabei vorsichtig an die Materie heran und schloss die Arbeiten jeden Jahres
mit einem eigenen Bericht ab.36 Waldock widmete sich in seinem zweiten Bericht
der Frage von Verträgen unter Zwang und nahm mit Artikel 12 eine Vorschrift auf,
die wie zuvor bei Lauterpacht und im Gegensatz zur Arbeit von Fitzmaurice die
Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen Staaten völkervertragsrechtlich
sanktionierte:
1. If a State is coerced into entering into a treaty through an act of force, or threat of force,
employed against it in violation of the principles of the Charter of the United Nations, the
State in question shall be entitled —
(a) to declare that the coercion nullifies its consent to be bound by the treaty ab initio; or
(b) to denounce the treaty, subject to the reservation of its rights with respect to any loss
or damage resulting to it from having been coerced into the treaty; or
(c) to affirm the treaty, subject to the same reservation, provided always that no such
affirmation shall be considered binding unless made after the coercion has ceased.
2. Paragraph 1 does not apply, however, where after the coercion has ceased the State has
so conducted itself as to bring the case within the provisions of article 4 of this part.37
34
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.597, ILC-Yearbook (1961, I), S. 96, 99, Para 33.
35
Vgl. bereits zu den ersten drei Berichten, Hogg, The International Law Commission and the
Law of Treaties, 59 Proceedings of the Annual Meeting (American Society of International
Law) (1965), S. 8, 8.
36
Vgl. bereits Hogg, The International Law Commission and the Law of Treaties, 59 Procee-
dings of the Annual Meeting (American Society of International Law) (1965), S. 8, 8.
37
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3, Year-
book of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 51.
38
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3,
Yearbook of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 51, Rn. 4.
39
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3,
Yearbook of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 52, Rn. 4.
40
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3,
Yearbook of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 52, Rn. 5.
II. Waldocks Artikel 12 in der ILC159
Waldocks Artikelentwurf erfasste damit Ungleiche Verträge, wie sie in der Völker-
rechtswissenschaft in den neuen Staaten geächtet wurden, nur bedingt; durch die
Beschränkung auf unter dem Eindruck physischen Zwangs abgeschlossene Verträge
fielen Fälle rein politischen und ökonomischen Zwangs aus dem Anwendungsbe-
reich der Norm heraus. Die Sanktionierung dieser Zwangsformen wurde von der
Dritten Welt aber gerade als essentiell eingestuft. Dies ging auch aus der Debatte
von Waldocks zweiten Bericht in der ILC deutlich hervor.
Die ILC diskutierte Waldocks Artikelentwurf bei ihrer 15. Sitzung vom 6. Mai bis
zum 12. Juli 1963. Bereits in dieser Debatte wurde deutlich, dass sich viele Mit-
glieder der ILC, obschon Mitglieder eines unabhängigen Expertengremiums, doch
deutlich entsprechend der Interessen ihrer Heimatländer positionierten. Jene ILC-
Mitglieder aus Staaten der Dritten Welt, die zu dem Thema Stellung bezogen, waren
allesamt der Ansicht, dass sich Staaten nicht nur gegen unter dem Eindruck physi-
scher Gewalt, sondern auch gegen unter ökonomischem oder politischem Zwang
entstandene Verträge zu Wehr setzen dürfen sollten. So hielt es der Ecuadorianer
41
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3,
Yearbook of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 52, Rn. 5.
42
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3,
Yearbook of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 52, Rn. 5.
43
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3,
Yearbook of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 52, Rn. 5.
160 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Angel M. Paredes für sinnvoll, Artikel 12 nicht auf bewaffnete Gewalt zu beschrän-
ken, sondern auch andere Formen des Zwangs zu erfassen, da beispielsweise
Wirtschaftsblockaden ernstzunehmende Auswirkungen hätten.44 Dieser Einschät-
zung schloss sich Milan Bartoš aus Jugoslawien, das als sozialistisches Land nach
anfänglicher Zusammenarbeit mit der Sowjetunion in den 1940er-Jahren unter Tito
mit der UdSSR gebrochen hatte und seitdem zum Teil mit dem Westen und zum
Teil mit den Blockfreien Staaten sympathisierte, an.45 Demgegenüber wollte eine
Reihe von westlichen Mitgliedern der ILC ebenso wie Waldock Artikel 12 auf phy-
sische Gewalt beschränkt wissen.46 Briggs sah beispielsweise die Gefahr, mit einer
Regelung der Verträge unter Zwang einen neuen Weg zu schaffen, vertragliche Ver-
pflichtungen aufzuweichen.47 Er forderte eine präzisere Formulierung der Norm,
um Missbrauch vorzubeugen.48 Auf Grund dieser Frontstellung innerhalb der ILC
sprach sich der Uruguayer Eduardo Jiménez de Aréchaga dafür aus, den Wortlaut
von Artikel 2 Nr. 4 VN-Charta in Artikel 12 zu übernehmen, um so den Gewaltbe-
griff nach der Charta weder zu beschränken noch auszuweiten und dessen nähere
Deutung den hierzu kompetenten Organen der Vereinten Nationen zu überlassen.49
Der Sinn von Artikel 12 war nach dieser Lesart zumindest vordergründig wie bei
Waldock der Schutz des Gewaltverbots im Recht der Verträge. Zu diesem Zeitpunkt
war die Generalversammlung bereits mit dem Entwurf des Special Committee on
Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Co-operation
among States, der sich unter anderem mit Inhalt und Grenzen des Gewaltverbots der
Vereinten Nationen beschäftigte, befasst.50 Mittels Generalversammlungsresolutio-
nen wurden in dieser Zeit insbesondere solche Themenbereiche geregelt, in denen es
an einem Konsens über Detailregelungen mangelte und sich daher nur grundlegende
Prinzipien fassen lassen konnten.51 Es war in diesem Rahmen also zumindest mit
einer Spezifizierung des Gewaltbegriffs zu rechnen. Artikel 12 wurde auf Grundlage
dieses Vorschlags von de Aréchaga zur Überarbeitung an das Drafting Committee52
44
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.681, ILC-Yearbook (1963, I), S. 46, 52, Rn. 69.
45
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.682, ILC-Yearbook (1963, I), S. 53, 53, Rn. 5.
46
So explizit der Finne Erik Castrén, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.681, ILC-Yearbook (1963, I),
S. 46, 52, Rn. 76.
47
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.682, ILC-Yearbook (1963, I), S. 53, 54, Rn. 14.
48
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.682, ILC-Yearbook (1963, I), S. 53, 54, Rn. 17.
49
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.682, ILC-Yearbook (1963, I), S. 53, 59, Rn. 71.
50
Resolution Adopted by the General Assembly 1966 (XVIII), Consideration of Principles of
International Law Concerning Friendly Relations and Co-operation among States in accor-
dance with the Charter of the United Nations, UN Doc A/RES/18/1966.
51
Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht und Neugestaltung der internationalen Ordnung:
Rechtstheoretische und rechtspolitische Aspekte des Nord-Süd-Konflikts (1998), S. 103.
52
Mitglieder des Drafting Committee waren Roberto Ago, Herbert W. Briggs, Abdullah El-
Erian, André Gros, Luís Padilla Nervo, Shabtai Rosenne, Grigory I. Tunkin, Sir Humphrey
Waldock und Milan Bartoš. ILC, UN Doc A/CN.4/SR.677, ILC-Yearbook (1963, I), S. 21,
21, Rn. 1.
II. Waldocks Artikel 12 in der ILC161
der ILC überwiesen.53 Dieses änderte als Resultat seiner Diskussion den Wortlaut
von Artikel 12 folgendermaßen ab:
Any treaty the conclusion of which was procured by the threat or use of force in violation
of the principles of the Charter of the United Nations shall be void.54
Der Österreicher Alfred Verdross deutete an, dass Artikel 12 mit diesem Wortlaut
sehr weit ging und alle relevanten Fälle erfasse.55 Am Wortlaut der VN-Charta fest-
halten wollten auch der Finne Erik Castrén sowie der Franzose André Gros.56 Dabei
gingen sie jedoch davon aus, dass sich das Gewaltverbot nach der VN-Charta auf
physische Gewalt beschränke.57 Für ihre Position sprach die Entstehungsgeschichte
des Gewaltverbots unter der VN-Charta: Ein Antrag Brasiliens, das Gewaltverbot in
der VN-Charta auf ökonomischen Zwang auszudehnen, war nämlich bereits bei der
Konferenz von San Francisco 1945 explizit zurückgewiesen worden.58
Innerhalb der ILC-Mitglieder in den neuen Staaten bildeten sich hingegen im
weiteren Verlauf der Debatte – zum Teil unterstützt von einzelnen Mitgliedern der
Völkerrechtskommission aus Ost und West – zwei Lager heraus:
Eine Reihe dieser Völkerrechtler aus der Dritten Welt begrüßten den Formulie-
rungsvorschlag als geeigneten Schritt im Kampf gegen Ungleiche Verträge, so etwa
der Afghane Abdul Hakim Tabibi. Der im Jahr 1924 geborene Tabibi hatte Rechts-
wissenschaften in Afghanistan und den USA studiert und war seit 1954 Stellvertre-
tender Leiter der ständigen Vertretung der afghanischen Regierung im VN-Haupt-
quartier in New York City. Er war 1962 Mitglied der ILC geworden und sollte in den
folgenden Jahren nicht nur als afghanischer Botschafter in verschiedenen Ländern
tätig sein, sondern wurde im Jahr 1965 auch Justizminister von Afghanistan. Afgha-
nistan war zwar selbst offiziell nie eine Kolonie gewesen, war aber nichtsdestowe-
niger im neunzehnten Jahrhundert gewaltsam unter britische Vorherrschaft geraten,
aus der es sich erst im Jahr 1919 wieder lösen konnte.59 Afghanistan litt wie der
Irak und viele andere arabische Staaten unter den Öl-Konzessionen, die noch aus
dieser Zeit der Fremdherrschaft stammten.60 Tabibi war – wie viele Völkerrecht-
ler in der Dritten Welt und ihre Heimatstaaten –61 zwar ein starker Verfechter des
53
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.683, ILC-Yearbook (1963, I), S. 60, 62, Rn. 22.
54
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 211, Rn. 31.
55
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 40.
56
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 213, Rn. 50 f.
57
So explizit der Finne Erik Castrén, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.681, ILC-Yearbook (1963, I),
S. 46, 52, Rn. 76.
58
Siehe beispielsweise Schmidl, The Changing Nature of Self-defence in International Law
(2009), S. 37.
59
Zingel, Afghanistan, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organisationen,
Theorien, Begriffe, Personen (1985), S. 17 ff.
60
Vgl. Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law
(2007), Rn. 62; Zingel, Afghanistan, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder,
Organisationen, Theorien, Begriffe, Personen (1985), S. 17 ff.
61
Siehe oben, Teil I.
162 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
62
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.682, ILC-Yearbook (1963, I), S. 53, 59, Rn. 66.
63
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.682, ILC-Yearbook (1963, I), S. 53, 59, Rn. 67.
64
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 42.
65
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 42.
66
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 213, Rn. 52.
67
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.682, ILC-Yearbook (1963, I), S. 53, 56, Rn. 33.
68
Siehe Kotthaus, Irak, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organisationen,
Theorien, Begriffe, Personen (1985), S. 294 ff.
II. Waldocks Artikel 12 in der ILC163
ihr Abschluss nicht auf dem freien Willen des Iraks beruht habe.69 Yasseen ging es
in Bezug auf Artikel 12 daher anders als Waldock nicht allein um die Auswirkungen
des Gewaltverbots auf das Recht der Verträge, sondern um den umfassenden Schutz
der Willensfreiheit der Staaten bei Abschluss von Verträgen im Allgemeinen. Yasseen
stellte daher im Zusammenhang mit dem durch das Drafting Committee ebenfalls
neu formulierten Artikel 11, der jeglichen Zwang gegen Staatenvertreter erfasste, die
Frage, ob die Diskrepanz zu Artikel 12, der nur gewaltsamen Zwang sanktionierte,
intendiert gewesen sei.70 Hiermit brachte Yasseen seine Befürchtung zum Ausdruck,
dass das Gewaltverbot unter der VN-Charta wirtschaftlichen und politischen Zwang
möglicherweise nicht erfassen und Artikel 12 somit unter nicht-physischem Zwang
entstandene Verträge nicht sanktionieren könne. Er war insofern weniger optimistisch
als Tabibi und Paredes und befürchtete – zu Recht, wie die spätere Friendly Rela-
tions Declaration zeigen sollte –, dass eine restriktive Interpretation des Gewaltver-
bots unter der VN-Charta durch den Verweis in Artikel 12 eine Vielzahl Ungleicher
Verträge legitimieren könne. Für den Sonderberichterstatter Waldock war klar, dass
Yasseen damit die Problematik des Gewaltbegriffes unter der VN-Charta zur Diskus-
sion stellen wollte; dies hielt Waldock jedoch gerade nicht für den Wunsch der ILC.71
Zwar deutete Waldock erneut an, dass ökonomischer Zwang seiner Ansicht nach wohl
nicht unter Artikel 12 fallen solle.72 Diese Frage solle nach dem neuen Wortlaut des
Artikels aber gerade offen bleiben.73 Dem entgegnete Yasseen, dass es erforderlich sei,
im Recht der Verträge alle Arten des Zwangs auch jenseits der physischen Gewalt zu
ächten.74 Yasseen verkündete, dass es seiner Ansicht nach nicht die Aufgabe der ILC
sei, eine Norm der VN-Charta in das Vertragsrecht einzuverleiben, sondern vielmehr,
sich mit Zwang im Allgemeinen auseinanderzusetzen.75 Er wandte sich dabei nicht
gegen einen Bezug auf das Gewaltverbot der VN-Charta, wollte den Anwendungsbe-
reich von Artikel 12 jedoch nicht darauf beschränken.76 Hierfür führte er – ebenso wie
zuvor schon die Gegenseite, die den Missbrauch einer solchen Norm befürchtete –
die Stabilität von völkerrechtlichen Verträgen als Argument an.77 Insofern zeigte sich
bereits zu diesem frühen Zeitpunkt der Debatte um die Bindung an Ungleiche Ver-
träge in der ILC das aus der Debatte um die Bindung der neuen Staaten an das All-
gemeine Völkerrecht bekannte78 Motiv der doppelten Inanspruchnahme des Ideals
69
Vgl. Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law
(2007), Rn. 62; Kotthaus, Irak, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organi-
sationen, Theorien, Begriffe, Personen (1985), S. 294 ff.
70
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 33.
71
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 34.
72
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 34.
73
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 34.
74
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 35.
75
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 43.
76
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 43.
77
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 35.
78
Siehe hierzu Teil I.
164 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
79
Vgl. hierzu bereits Teil I.
80
Siehe hierzu bereits Teil I.
81
Siehe Noonan, Antonio de Luna Garcia (1901-1967): In Memoriam, 136 Natural Law
Forum (1968), S. vii, vii f.
82
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 38.
83
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 39.
84
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 44.
85
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 45.
86
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 45.
II. Waldocks Artikel 12 in der ILC165
Diese Formulierung implizierte, dass das Völkerrecht unabhängig von der Reich-
weite des Gewaltverbotes wirtschaftlichen und ökonomischen Zwang verbietet,
eine Idee, welche später in der Debatte über die in Rede stehende Regelung in der
Generalversammlung Bedeutung erlangen sollte. Innerhalb der ILC fand dieser
Vorstoß Yasseens jedoch kaum Beachtung. Ohne seinen Vorschlag weiter zu dis-
kutieren, nahm die ILC Artikel 12 ohne Gegenstimme, aber mit der angekündigten
Enthaltung von Bartoš an.87 So hatte auch Yasseen, der bis zum Ende der Debatte
nicht von der aktuellen Version von Artikel 12 überzeugt gewesen war, für diesen
Artikel gestimmt. Daneben hatte sich eine Reihe von ILC-Mitgliedern aus den
neuen Staaten gar nicht zu Artikel 12 geäußert und diesem schlicht zugestimmt.88
Bei Elias überrascht dies insofern wenig, als dass dieser die Akzeptanz Ungleicher
Verträge durch die etablierte Völkerrechtsordnung stets anerkannt und im Rahmen
seiner kontributionistischen Kritik sogar betont hatte.89 Die große Zustimmung
innerhalb der ILC zu einer so umstrittenen Vorschrift lässt sich indes aus der Taktik
der ILC erklären, die stets versuchte, ihren Arbeiten mit Einstimmigkeit größtmög-
liches Gewicht zu verleihen.90 Außerdem standen die Stellungnahmen der Regie-
rungen und eine zweite Diskussionsrunde in der ILC noch bevor, so dass es vielen
verfrüht erschienen sein mochte, Artikel 12 bereits zum damaligen Zeitpunkt abzu-
lehnen. Angesichts der Vorreiterrolle, welche die UdSSR im Kampf gegen Unglei-
che Verträge in der Vergangenheit eingenommen hatte, überrascht jedoch, dass
sich Tunkin bis dato in der Debatte um Artikel 12 nicht zu dem Thema positioniert
hatte. So waren es innerhalb der ILC neben Bartoš insbesondere Völkerrechtler aus
der Dritten Welt gewesen, die versucht hatten, Ungleiche Verträge über Artikel 12
umfassend zu ahnden.
Die von der ILC angenommenen Artikel wurden – in neuer, durchlaufender Num-
merierung und mit Kommentierung – an die Regierungen der Mitglieder der Verein-
ten Nationen übermittelt.91 Die Norm zu Verträgen unter gewaltsamem Zwang lief
87
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 213, Rn. 52.
88
Dies sind Elias, Abdullah El-Erian aus der Vereinigten Arabischen Republik und Obed
Pessou aus Dahomey, dem heutigen Benin. Die drei genannten waren jedoch (auf Grund ihrer
Redebeiträge zu anderen Themen nachweislich) bei mindestens zwei der Treffen, bei denen
auch Artikel 12 diskutiert wurde, anwesend. ILC, UN Doc A/CN.4/SR.681, ILC-Yearbook
(1963, I), S. 46, 47, Rn. 12, S. 48, Rn. 22, S. 51, Rn. 53; ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705,
ILC-Yearbook (1963, I), S. 210, Rn. 40, S. 213, Rn. 60, S. 214, Rn. 66. Victor Kanga aus
Kamerun war auf Grund von Terminüberschneidungen während der gesamten Sitzung nicht
anwesend, siehe ILC, UN Doc A/CN.4/SR.700, ILC-Yearbook (1963, I), S. 176, 182, Rn. 77.
Hier zeigte sich die häufige, aber alles andere als unproblematische Mehrfachbelastung von
Völkerrechtlern aus der Dritten Welt.
89
Siehe oben, Teil I.
90
Siehe Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the
Annual Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 34.
91
ILC, UN Doc A/CN.4/163, ILC-Yearbook (1963, II), S. 187, 189, Rn. 12, 13. Siehe hierzu
auch Artikel 16 und 21 ILC-Statut.
166 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
nunmehr unter Artikel 36.92 Im Kommentar zu Artikel 36 kam zum Ausdruck, wie
gespalten sich die ILC in der Frage des Gewaltbegriffs gezeigt hatte: So wurde zur
Begründung der nur mäßigen Missbrauchsanfälligkeit der Norm angeführt, dass die
ILC diese auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt beschränken wollte.93
Während manche Mitglieder das Konzept des Zwangs auch auf andere Formen wie
wirtschaftlichen Druck ausdehnen wollten, hatte die ILC beschlossen, den genauen
Anwendungsbereich des Artikels einer Interpretation der VN-Charta durch die
Praxis zu überlassen.94 Zu dem so kommentierten Artikel bezogen mehrere Regie-
rungen Stellung. Die Frontstellung zwischen Nord und Süd, die sich schon in der
Debatte der ILC abgezeichnet hatte, wurde dabei von den Staatenvertretern vielfach
fortgeführt.
92
ILC, UN Doc A/CN.4/163, ILC-Yearbook (1963, II), S. 187, 197.
93
ILC, UN Doc A/CN.4/163, ILC-Yearbook (1963, II), S. 187, 198, Rn. 3.
94
ILC, UN Doc A/CN.4/163, ILC-Yearbook (1963, II), S. 187, 198, Rn. 3.
95
Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the Annual
Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 29.
96
GA, UN Doc A/C.6/SR.784, GAOR (1963), Rn. 1.
97
GA, UN Doc A/C.6/SR.792, GAOR (1963), Rn. 12.
98
GA, UN Doc A/C.6/SR.787, GAOR (1963), Rn. 15.
III. Artikel 36 des ILC-Entwurfes in der Generalversammlung und die Debatte… 167
den Respekt der Internationalen Gemeinschaft vor Verträgen steigern würde.99 Der
ungarische Vertreter stellte dabei die ambivalente Rolle des Grundsatzes pacta sunt
servanda heraus: dieser sei zwar grundsätzlich essentiell für die Aufrechterhaltung
der freundlichen Beziehung, könne diese aber bei zu strenger Auslegung wie einer
Anwendung auf Ungleiche Verträge auch gefährden.100
In der Generalversammlungsdebatte kam darüber hinaus bald Streit über die
Reichweite des Gewaltbegriffs auf. In Stellungnahmen der westlichen Regierungen
zu Artikel 36 wurde zumeist auf die Notwendigkeit einer Beschränkung der Norm
auf physische Gewalt zum Schutz der Stabilität der politischen Organisation der
Internationalen Gemeinschaft herausgestellt.101 Wie auch schon in der ILC bildeten
sich auch in der Debatte in der Generalversammlung innerhalb der Dritten Welt
demgegenüber zwei unterschiedliche Ansichten heraus: Die einen Staaten waren
der Meinung, dass Artikel Nr. 4 VN-Charta ökonomischen Druck schon de lege lata
verbiete. Die indonesische Vertreterin wartete hier mit einem systematischen Argu-
ment auf: Artikel 36 erfasse jede Form von Druck, der ausgeübt wurde, um einen
Staat zu einem seinen eigenen Interessen widersprechenden Handeln zu zwingen
und somit auch ökonomischen Druck, da Artikel 2 Nr. 4 UN-Charta ganz allgemein
von Gewalt spreche, während in der Präambel von Waffengewalt die Rede sei.102
Der algerische Vertreter meinte, dass ein weiter Gewaltbegriff, der auch ökonomi-
schen Zwang erfasse, das Vertrauen der neuen Staaten in das Völkerrecht stärken
würde.103 Die Vertreter einer Reihe weiterer Staaten wie die Weißrussische Sozialis-
tische Sowjetrepublik, die Vereinte Arabische Republik, Nigeria, Ghana, Kamerun,
Marokko und der Irak subsumierten unter ökonomischem Zwang entstandene Ver-
träge unter Artikel 36.104 Spanien kam zum selben Ergebnis, ohne jedoch die Not-
wendigkeit zu sehen, dies in Artikel 36 explizit zu machen; stattdessen wurde einer
Interpretation durch die Praxis gelassen entgegengesehen.105
Andere Staaten verurteilten wirtschaftlichen Druck hingegen ausschließlich de
lege ferenda. Ecuador beispielsweise sah wirtschaftlichen und politischen Druck
vom geltenden Recht nicht erfasst und forderte eine entsprechende Ausweitung von
Artikel 36.106
99
GA, UN Doc A/C.6/SR.793, GAOR (1963), Rn. 17.
100
GA, UN Doc A/C.6/SR.789, GAOR (1963), Rn. 9.
101
So etwa die Vertreter der Niederlande und aus Schweden, Polen, Großbritannien und den
USA, siehe UN Doc A/CN.4/182 and Corr. 1&2 and Add. 1, 2/Rev. 1&3, ILC-Yearbook
(1966, II), S. 285, 317, 324, 340; Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Year-
book (1966, II), S. 1, 16.
102
GA, UN Doc A/C.6/SR.785, GAOR (1963), Rn. 8.
103
GA, UN Doc A/C.6/SR.789, GAOR (1963), Rn. 30.
104
GA, UN Doc A/C.6/SR.791, GAOR (1963), Rn. 13, 15, 35, 42; GA, UN Doc A/C.6/
SR.792, GAOR (1963), Rn. 16; Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook
(1966, II), S. S. 1, 17; siehe Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook
(1966, II), S. S. 1, 18.
105
GA, UN Doc A/C.6/SR.792, GAOR (1963), Rn. 8.
106
GA, UN Doc A/C.6/SR.789, GAOR (1963), Rn. 25.
168 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Um den Kampf gegen Ungleiche Verträge jenseits der Frage nach der Reich-
weite des Gewaltverbots voranzubringen, bemühte der sowjetische Vertreter eine
Argumentation, die schon in Yasseens alternativem Formulierungsvorschlag ange-
legt gewesen war: Sollte nämlich das Gewaltverbot selbst ökonomischen und politi-
schen Zwang bei Vertragsschluss nicht verbieten, so ergäbe sich ein entsprechendes
Verbot aus anderen Grundprinzipien des Völkerrechts, auf welche im Folgenden
schlagwortartig rekurriert wurde, ohne diese Begründung mit detailliert juristischen
Argumenten zu untermauern. Für die UdSSR verstieß die Knüpfung vertraglicher
Bedingungen an die Unabhängigkeit einer ehemaligen Kolonie gegen die von der
VN-Charta garantierte souveräne Gleichheit und belaste somit die zwischenstaat-
lichen Beziehungen.107 Für kleine Staaten könnten vor Jahrzehnten abgeschlossene
Verträge ihre Souveränität und Unabhängigkeit derogieren und so zum Entwick-
lungshemmnis werden, so der Vertreter der UdSSR.108 Damit war die Unwirksam-
keit Ungleicher Verträge für die UdSSR eine Voraussetzung für die Entwicklung
der neuen Staaten.109 Eine ähnliche Argumentation unter Betonung der souveränen
Gleichheit der ehemaligen Kolonien war schon im Rahmen der Debatte um die
Bindung an das Allgemeine Völkerrecht vorgebracht worden.110 Mit einem neuen
Grundprinzip des Völkerrechts argumentierte der Vertreter der Tschechoslowakei:
So sei seiner Ansicht nach die Aufrechterhaltung Ungleicher Verträge im Lichte des
Selbstbestimmungsrechts der Nationen nicht akzeptabel und wirke als Bedrohung
des internationalen Friedens und der globalen Sicherheit.111 Der algerische Vertre-
ter führte nebeneinander die souveräne Gleichheit, das Selbstbestimmungsrecht der
Völker und das Erfordernis eines freien Willens als Grundlage stabiler Verträge an,
um zu begründen, warum von Ungleichen Verträge ein erhebliches Konfliktpoten-
zial ausgehe.112 So vermischte sich der Schutz der Willensfreiheit argumentativ
immer mehr mit verschiedenen Grundprinzipien des Völkerrechts.
Dabei übte das von dem tschechoslowakischen und dem algerischen Delegier-
ten zur Sprache gebrachte Selbstbestimmungsrecht der Völker113 eine besondere
argumentative Anziehungskraft auf die neuen Staaten aus.114 Die Idee des Selbstbe-
stimmungsrechts war im nationalen Kontext schon seit dem Mittelalter bekannt;115
107
GA, UN Doc A/C.6/SR.787, GAOR (1963), Rn. 15.
108
Vgl. GA, UN Doc A/C.6/SR.787, GAOR (1963), Rn. 16.
109
GA, UN Doc A/C.6/SR.787, GAOR (1963), Rn. 16.
110
Siehe oben, Teil I.
111
GA, UN Doc A/C.6/SR.787, GAOR (1963), Rn. 27; siehe auch UN Doc A/CN.4/182 and
Corr. 1&2 and Add. 1, 2/Rev. 1&3, ILC-Yearbook (1966, II), S. 285, 286.
112
GA, UN Doc A/C.6/SR.789, GAOR (1963), Rn. 29 f.
113
Zur Problematik des Rechtsträgers des Selbstbestimmungsrechts siehe beispielsweise
Umozurike, Self-Determination in International Law (1972), S. 177 ff.
114
Siehe von Bernstorff, Das Recht auf Entwicklung, in Dann/Kadelbach/Kaltenborn (Hrsg.),
Entwicklung und Recht: Eine systematische Einführung (2014), S. 71, 77.
115
Hier bezweckte es eine freie, demokratische Verfassungsordnung. Sinha, Is Self-Determi-
nation Passé?, 12 Columbia Journal of Transnational Law (1973), S. 260, 260 f.
III. Artikel 36 des ILC-Entwurfes in der Generalversammlung und die Debatte… 169
Ende des Ersten Weltkrieges hatte der Präsident der Vereinigten Staaten Thomas
Woodrow Wilson das Selbstbestimmungsrecht der Völker in den internationalen
Kontext gebracht, in seinem 14-Punkte-Programm jedoch auf die Völker Osteuro-
pas und des Balkans beschränkt und ihm über eine Befriedung dieses spezifischen
Konflikts hinaus keinerlei Wirkung zugedacht, weshalb es auch in der Völkerbund-
satzung nicht auftauchte.116 Der Begriff erlebte eine Reinkarnation in Bezug auf die
Mandatsgebiete des Völkerbunds und die späteren Treuhandgebiete der Vereinten
Nationen bzw. auf die Dekolonisierung allgemein.117 So schrieb Sinha:
The newly independent States have used the concept of self-determination as an instrument
of political pressure for the emancipation of colonies from western rule.118
Die VN-Charta nennt das Prinzip explizit in Artikel 1 Nr. 2, wo von „friendly rela-
tions among nations based on respect for the principle of equal rights and self-deter-
mination of peoples, and to take other appropriate measures to strengthen universal
peace“ die Rede ist, und in Artikel 55, nach dem die wirtschaftliche Zusammen-
arbeit der Vereinten Nationen erfolgen soll „with a view to the creation of con-
ditions of stability and well-being which are necessary for peaceful and friendly
relations among nations based on respect for the principle of equal rights and self-
determination of peoples“. Die neuen Staaten trieben die Entwicklung des Selbst-
bestimmungsrechts – trotz seiner Entstehung als westliches Konzept der Unabhän-
gigkeit in Form des Nationalstaates –119 im Rahmen der Vereinten Nationen voran.
Dies geschah zum einen über Resolutionen der Generalversammlung, allen voran
die Declaration on Granting Independence to Colonial Countries and Peoples aus
dem Jahr 1960, in der zu lesen ist:
All peoples have the right to self-determination; by virtue of that right they freely determine
their political status and freely pursue their economic, social and cultural development.120
Auch die beiden VN-Menschenrechtspakte von 1966 erkennen das Recht der Völker
auf Selbstbestimmung an.121 Eine nähere Ausgestaltung erfuhr das Selbstbestim-
mungsrecht in der Friendly Relations Declaration von 1970.122 Sein konkreter
Inhalt blieb jedoch umstritten; so wurde etwa auch ökonomische Selbstbestimmung
116
Emerson, Self-Determination, 60 American Society of International Law Proceedings
(1966), S. 135, 137.
117
Vgl. Emerson, Self-Determination, 60 American Society of International Law Proceedings
(1966), S. 135, 137; Umozurike, Self-Determination in International Law (1972), S. 272.
118
Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of Internatio-
nal Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 125.
119
Siehe hierzu die Kritik bei Pahuja, Decolonising International Law: Development, Econo-
mic Growth and the Politics of Universality (2011), S. 57.
120
GA, UN Doc A/Res/15/1514, (14. Dezember 1960), Rn. 2.
121
Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte und
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.
122
GA, UN Doc A/RES/2625 (XV) (24. Oktober 1970).
170 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
als Teilaspekt diskutiert.123 Viele gingen ohnehin davon aus, dass sich das Selbstbe-
stimmungsrecht mit Ende der Dekolonialisierung erledigt haben würde.124 Andere
widersprachen der These von der Konsumtion des Selbstbestimmungsrechts, da
dieses sich nicht mit der Dekolonialisierung erschöpfe, sondern allgemein „justice
for the individual in the sense that the scope of his participation in value choices
be made as large as possible“ als Ziel habe.125 Außerdem bestand Streit über die
Rechtsnatur des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Der US-Amerikaner Rupert
Emerson fühlte sich „bewitched because of the illimitable vastness of the claims
and promises which it appears to be making, and bewildered because of the drastic
limitations which are imposed, I believe, inevitably, on any actual resort to self-de-
termination.“126 Für Emerson war das Selbstbestimmungsrecht ein Teil des Rechts
auf Revolution, das jedoch keinen Rechtscharakter aufwies.127 Auch Sinha schrieb:
It must, however, be pointed out that states have used the principle more as a tool of political
convenience than as a prime mover of an international act, more as a device to improve or
secure the posture of the actor than as a raison d’etre for the posture taken. The application
of the principle to a particular situation has almost always been secondary to other factors
active in the crisis, rather than the primary activating force for the resolution of that crisis.128
At best, it appears that once the basic decision for political reorganization or redistribution
of power has been made, the principle of self-determination is invoked to attain the result
in a desirable fashion. The principle is thus one of political expediency which states may or
may not use, rather than one of international law which the states are obliged to follow.129
123
Siehe Umozurike, Self-Determination in International Law (1972), S. 177 ff.
124
Emerson, Self-Determination, 60 American Society of International Law Proceedings
(1966), S. 135, 138.
125
Sinha, Is Self-Determination Passé?, 12 Columbia Journal of Transnational Law (1973),
S. 260, 272.
126
Emerson, Self-Determination, 60 American Society of International Law Proceedings
(1966), S. 135, 135.
127 „
The right of revolution, stated in its generality, is one to which the philosopher may pay
his respects, but not one which the statesman or the proprietor of any established political
system can incorporate within his system as a regularly operative and available right.” Er
schreibt weiter: „The United Nations, increasingly dominated by the newly self-determined,
has become the principal platform from which the right of self-determination is proclaimed,
translating into a right the principle of self-determination to which the Charter twice refers.”
Letztlich kam Emerson zu dem Ergebniss „that all people do not have the right of self-deter-
mination: they have never had it, and they never will have it.” Emerson, Self-Determination,
60 American Society of International Law Proceedings (1966), S. 135, 136.
128
Sinha, Is Self-Determination Passé?, 12 Columbia Journal of Transnational Law (1973),
S. 260, 265.
129
Sinha, Is Self-Determination Passé?, 12 Columbia Journal of Transnational Law (1973),
S. 260, 271.
III. Artikel 36 des ILC-Entwurfes in der Generalversammlung und die Debatte… 171
Umgekehrt mag die flexible Verwendung durch Völkerrechtler und Vertreter der
ehemaligen Kolonien ein Grund dafür sein, dass der Inhalt des Selbstbestim-
mungsrechts bis heute strittig ist und sich dieses Prinzip bisweilen schwer in das
bestehende Völkerrechtssystem einpasst. Auf diese Weise wurde das Selbstbestim-
mungsrecht immer wieder im Kampf um Ungleiche Verträge bemüht.134
130
Umozurike, Self-Determination in International Law (1972), S. 271; Elias, Africa and
the Development of International Law (1972), S. 57. Der chinesiche Völkerrechtler Chin
Leng Lim schreibt: „The new legal principles of self-determination that emerged during the
decolonization period, as with the reform of international economic law principles, did not
truly receive full critical reflective attention until the late 1970s, since self-determination was
for some time, even following the adoption of the UN Charter, considered to be governed by
political precepts, not legal principle. Indeed, the legal right to immediate self-determination
was put into practice by the Afro-Asian lobby in the General Assembly ahead of its scho-
larly justification. Elias was at the very forefront of such scholarship. But he also stood out,
with an array of complex but clear and systematic lines of thought, as a great synthesizer.”
Lim, Neither Sheep nor Peacocks: T. O. Elias and Postcolonial International Law, 21 Leiden
Journal of International Law (2008), 295, 299 f.
131
Siehe hierzu ausführlich Umozurike, Self-Determination in International Law (1972),
S. 177 ff.
132
Vgl. auch Lim, Neither Sheep nor Peacocks: T. O. Elias and Post-colonial International
Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 295, 308 f.
133
Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argument
(2005), S. 504.
134
Siehe dazu auch unten, Kapitel 7 und Kapitel 8. Zur Bedeutung des Selbstbestimmungs-
rechts im Recht der Staatennachfolge siehe unten, Teil III.
172 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Auf der Grundlage dieser Stellungnahmen verfasste Waldock seinen fünften Bericht
zum Völkervertragsrecht, den er im Jahr 1966 vorlegte.136 Waldock erkannte, dass sich
zwar eine große Zahl von Staaten für einen weiten Gewaltbegriff, der insbesondere
Ungleiche Verträge unter wirtschaftlichem Zwang erfassen sollte, ausgesprochen hatte,
dass sich dem aber mächtige Industrienationen wie Großbritannien oder die USA
vehement widersetzten. Um diesen Konflikt nicht ausfechten zu müssen, rekurrierte
Waldock auf die Lösung, die sich schon in der ersten Debatte der Artikelentwürfe in der
ILC durchgesetzt hatte: nämlich die Definition des Gewaltbegriffes der Praxis zu über-
lassen.137 So hatte das Special Committee on Principles of International Law Concer-
ning Friendly Relations and Co-operation among States schon im November 1964 die
Frage diskutiert, ob ökonomischer Druck unter den Gewaltbegriff subsumiert werden
könne; dabei war es zwar wegen der Frontstellung zwischen Nord und Süd, die sich
auch schon früher in der Debatte in der ILC gezeigt hatte, zu keiner Einigung gekom-
men.138 Trotzdem war klar, dass die Definition des Gewaltbegriffs somit einem anderen
Unterorgan der Generalversammlung übertragen worden war. Dementsprechend plä-
dierte Waldock dafür, die Formulierung in Artikel 36 offen zu lassen.139 Die Alternative,
Artikel 36 unabhängig von und ohne Bezug auf Wortlaut und Bedeutung des Gewalt-
verbots nach der VN-Charta als Allgemeine Vorschrift zum Schutz der Willensfreiheit
der Staaten zu formulieren, räumte Waldock damit allerdings nicht aus dem Weg.
135
GA, UN Doc A/C.6/SR.789, GAOR (1963), Rn. 9, 10.
136
Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook (1966, II), S. 1, 2, Rn. 4.
137
Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook (1966, II), S. 1, 19, Rn. 5.
138
Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook (1966, II), S. 1, 19, Rn. 3 f.
139
Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook (1966, II), S. 1, 19, Rn. 5.
IV. Waldocks Artikel 36 in der ILC173
In diese Lücke in Waldocks Argumentation stieß wiederum Yasseen, als die Völ-
kerrechtkommission Waldocks fünften Bericht bei ihrer 18. Sitzung diskutierte.
Für ihn sollte die Aufgabe von Artikel 36 nach wie vor sein, Zwang zu verbieten,
der die Vereinbarung beeinträchtigte, und dies unabhängig davon, welche Form der
Zwang konkret annahm.140 Der Verweis auf das Gewaltverbot in der VN-Charta war
deshalb in seinen Augen nicht ausreichend; die ILC müsse vielmehr ein allgemei-
nes Konzept zur Rechtswidrigkeit von Zwang gegen Staaten im Recht der Verträge
entwickeln, wie sie es in Bezug auf den Zwang gegen Staatenvertreter bereits getan
hatte.141 Zwar hielt Yasseen die enge Auslegung des Gewaltbegriffes unter der VN-
Charta für falsch.142 Davon unabhängig schien es ihm angesichts der anderen Prin-
zipien der VN-Charta wie der souveränen Gleichheit und dem Interventionsverbot
jedenfalls schwer vertretbar, wirtschaftlichen oder politischen Zwang als völker-
rechtskonform zu betrachten.143 Diese Prinzipien würden jeden Zwang verbieten,
welcher den Willen eines Staates betreffen und ihn zu von seinem Willen abwei-
chenden Erklärungen nötigen könnte.144 Dabei bezog sich Yasseen auf die Ansicht
der rund vierzig Staaten, die bei der Konferenz der Blockfreien Staaten in Kairo
1964 wirtschaftlichen und politischen Druck gleichermaßen verurteilt hatten.145
Diese Position begrüßte Yasseen im Sinne einer progressiven Entwicklung des Völ-
kerrechts und einer soliden Fundierung der Internationalen Beziehungen.146 Inter-
essant ist dabei, dass Yasseen nicht das Selbstbestimmungsrecht der Völker in seine
Argumentation aufnahm; stattdessen bezog er sich als einiger der Wenigen in der
Debatte auf das Interventionsverbot, was vor dem Hintergrund zu sehen ist, dass der
Streit um das Verbot wirtschaftlichen und politischen Zwangs sich im Rahmen des
Special Committee on Principles of International Law Concerning Friendly Rela-
tions and Co-operation among States zunehmend vom Gewaltverbot zum Interven-
tionsverbot hin verlagert hatte.147 Hier versuchte Yasseen abermals, die ILC davon
zu überzeugen, die Willensfreiheit insbesondere der neuen Staaten im Kampf gegen
Ungleiche Verträge schützen.
Unterstützung fand Yasseen dabei zu diesem Zeitpunkt in der Debatte nur noch
von drei Mitgliedern der ILC: De Luna machte nochmals die Vergleichbarkeit der
Androhung oder Anwendung der Atombombe mit dem Aushungern der Bevölke-
rung deutlich.148 Tunkin schaltete sich erst zu diesem Zeitpunkt – und damit vor dem
140
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 32, Rn. 10.
141
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 32, Rn. 11.
142
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 32, Rn. 12.
143
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 32, Rn. 12.
144
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 32, Rn. 12.
145
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 32, Rn. 14.
146
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 33, Rn. 15.
147
Vgl. McWhinney, The „New“ Countries and the „New“ International Law: The United
Nations Special Conference on Friendly Relations and Co-operation among States, 60 Ame-
rican Journal of International Law (1966), S. 1, 7 ff.
148
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 31, Rn. 8.
174 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
149
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 34, Rn. 35.
150
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 34, Rn. 35.
151
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 34, Rn. 35.
152
Pessou äußerte sich ebenso wenig zu dem Thema, wie es sein Heimatland im Kontext
von Artikel 36 getan hatte. (Pessou wurde in diesem Jahr von der ILC als Staatsbürger des
Senegals statt von Dahomey geführt. International Law Commission, Members of the Com-
mission, Yearbook of the International Law Commission (1966, I, 1), S. vii.) Die Vereinigte
Arabische Republik hatte in der Generalversammlung klar Stellung zu den Ungleichen Ver-
trägen bezogen; El-Erian ließ sich jedoch aus Gesundheitsgründen in der ILC entschuldigen.
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.823, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 4, 5, Rn. 2. Mit Paredes war ein
großer Fürsprecher der Sanktionierung Ungleicher Verträge aus der Dritten Welt ebenfalls
krankgemeldet. ILC, UN Doc A/CN.4/SR.823, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 4, 5, Rn. 2.
153
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 35, Rn. 52.
154
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 35, Rn. 52.
155
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 35, Rn. 52.
IV. Waldocks Artikel 36 in der ILC175
der Staaten und zur Ächtung Ungleicher Verträge, wobei er jedoch wie Tunkin eine
solche Norm mit dem Gewaltverbot verknüpft wissen wollte. Vor dem Hintergrund
dieser Debatte wurde Artikel 36 dem Drafting Committee überwiesen.156
Als das Drafting Committee Artikel 36 nach seinen Treffen der ILC ohne jeg-
liche Änderungen wieder vorlegte, wagte Yasseen einen letzten Vorstoß, um den
Anwendungsbereich für Ungleiche Verträge weiter auszudehnen.157 Er schlug eine
Novellierung von Artikel 36 mit folgendem, seinem früheren Vorschlag ähnlichem
Wortlaut vor:
A treaty is void if its conclusion has been procured by the coercion of a State by acts or
threats in violation of the principles of the Charter of the United Nations.158
Yasseen betonte nochmals seinen Wunsch, den freien Willen der Vertragsparteien
zu schützen und sie nicht lediglich vor Gewalteinwirkung zu bewahren.159 Er hatte
den Wortlaut von Artikel 2 Nr. 4 VN-Charta bewusst vermieden, um eine entspre-
chende Beschränkung auszuschließen.160 Yasseen stellte heraus, dass die Mehrheit
der Staaten hinter seiner Forderung stehe, entsprechend der Entwicklung des Völ-
kerrechts jeglichen Zwang zu ächten.161 Dabei ging Yasseen mit seinem Änderungs-
vorschlag aber wiederum nicht so weit, diesen zur Bedingung für den Erfolg der
Arbeit der ILC in Bezug auf Artikel 36 zu machen. Vielmehr stellte er klar, dass
er auch für den seiner Ansicht nach unvollkommenen alten Artikel 36 stimmen
würde, falls die ILC seinen Antrag zurückweisen sollte.162 Sicherlich war es die
verfahrene Situation mit klarer Frontstellung in Generalversammlung und ILC, die
Yasseen zu diesem entgegenkommenden Verhalten bewegte und seine Forderung
damit deutlich schwächte. Lachs hielt es für falsch, das Gewaltverbot nicht aus-
drücklich zu nennen und Tunkin pflichtete ihm insofern bei.163 Obwohl Yasseen, auf
diesen Einwand vorbereitet, noch eine entsprechende Alternativformulierung vor-
legte,164 stand er innerhalb der ILC letztlich auf verlorenem Posten. Waldock griff
in die Debatte ein und stellte fest, dass Artikel 36 sehr gründlich diskutiert worden
sei und in seiner jetzigen Form einen sorgfältig ausbalancierten Kompromiss dar-
stelle, der einstimmig angenommen werden könne.165 Durch neuerliche Änderun-
gen könnten sich hingegen manche Mitglieder gezwungen sehen, dem Artikel ihre
Zustimmung zu entziehen, was das Ergebnis der Arbeit an dem Vertragsentwurf
156
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 36, Rn. 63.
157
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 119, Rn. 85 ff.
158
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 119, Rn. 85.
159
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 119, Rn. 86.
160
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 119, Rn. 94.
161
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 119, Rn. 86.
162
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 119, Rn. 87.
163
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 119, Rn. 95 f.
164
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 119 f., Rn. 98.
165
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 120, Rn. 100.
176 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
massiv schwächen würde.166 Der offen formulierte Artikel 36 war für Waldock die
beste Lösung, die die ILC in dieser Situation finden konnte.167 Yasseen fügte sich
an diesem Punkt Waldocks Machtwort und erklärte sich aus Gründen der Zweck-
mäßigkeit bereit, auf eine Abstimmung über seinen Vorschlag zu verzichten, wenn
er diesen auch nicht zurückziehen wollte.168 Mit de Luna erklärte sich letztlich auch
ein anderer Gegner Ungleicher Verträge mit dem Text von Artikel 36 einverstanden,
allerdings nicht ohne nochmals zu betonen, dass dieser seiner Auslegung nach auch
ökonomische Gewalt erfasse.169 Und auch Bedjaoui sollte am Ende für den unver-
änderten Wortlaut von Artikel 36 stimmen. Trotz allen Entgegenkommens wurde
also, wie der Franzose Paul Reuter bemerkte, deutlich, dass sich die ILC über den
Inhalt von Artikel 36 keinesfalls einig war.170 Obschon diese Tatsache von einigen
Mitgliedern bestritten wurde,171 veranlasste sie Briggs dazu, sich bei der ansonsten
einstimmigen Abstimmung der ILC für Artikel 36 der Stimme zu enthalten.172
Später in der Sitzung war die ILC mit organisatorischen Fragen bezüglich der
anstehenden Vertragsrechtskonferenz befasst.173 Hier wurde die ILC zum ersten Mal
überhaupt auch über die praktischen Abläufe einer diplomatischen Konferenz mit
bevollmächtigten Staatenvertretern informiert, was sie für entsprechende Probleme
sensibilisierte.174 So stand etwa zur Debatte, ob die Konferenz (wie von Tunkin vor-
geschlagen) zweigeteilt werden sollte, wann und wo sie stattfinden könnte, wie die
Arbeit dort sinnvollerweise aufzuteilen sei, welche Rolle Experten spielen würden
und mit welcher Mehrheit Entscheidungen getroffen werden sollten.175 Rosenne
empfahl der Konferenz, sich an der erfolgreichen Praxis der ILC zu orientieren,
die niemals über einen Entwurf abstimmte, bevor dieser vom Drafting Committee
wieder vorgelegt und abschließend diskutiert worden war.176 Durch diese Technik
würden dem Drafting Committee nicht frühzeitig die Hände gebunden und die
166
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 120, Rn. 100.
167
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 120, Rn. 100.
168
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 120, Rn. 101.
169
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 120, Rn. 102 f.
170
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 120, Rn. 106.
171
Nämlich von Tunkin und Jiménz de Aréchaga, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Year-
book (1966, I, 1), S. 115, 120, Rn. 109 f.
172
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 120 f., Rn. 107, 118.
173
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.879, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 240 f.; ILC, UN Doc A/CN.4/
SR.880, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 246 ff.
174
Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the Annual
Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 29; ILC, UN Doc A/CN.4/
SR.879, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 240, 243, Rn. 34.
175
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.879, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 240 f.; ILC, UN Doc A/CN.4/
SR.880, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 246 ff.
176
International Law Commission, Summary Record of the 879th Meeting, UN Doc A/CN.4/
SR.879, Yearbook of the International Law Commission (1966, I, 2), S. 240, 43 f., Rn. 43.
V. Artikel 49 in der Wiener Vertragsrechtskonferenz177
Artikel 49 wurde in der ersten Wiener Vertragsrechtskonferenz 1968 (1.) und in der
zweiten Wiener Vertragsrechtskonferenz 1969 (2.) diskutiert.
Die erste von zwei Sitzungen der Wiener Vertragsrechtskonferenz fand vom 26.
März bis zum 24. May 1968 statt.182 Die starke Involvierung von Mitgliedern der
ILC bei dieser Konferenz wird bereits deutlich, wenn man die Ergebnisse der
Wahlen betrachtet, welche zu Konferenzbeginn durchgeführt wurden: So bekleidete
177
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.879, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 240, 43 f., Rn. 43.
178
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.880, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 246, 247, Rn. 16.
179
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.890, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 307, 308, Rn. 29; ILC, UN
Doc A/CN.4/SR.893, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 327, 331.
180
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.892, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 321, 322 Rn. 18.
181
Resolution Adopted by the General Assembly 2166 (XXI), International Conference of
Plenipotentiaries on the Law of Treaties, UN Doc A/RES/2166 (XXI).
182
Die Konferenz wurde von Anfang an von Protesten gegen die Beschränkung der Konfe-
renzteilnehmer überschattet. Durch die Resolution der Generalversammlung war die Mit-
wirkung an der Konferenz auf Staaten begrenzt worden, welche Mitglieder der Vereinten
Nationen bzw. Parteien des IGH-Statuts waren oder auf besonderen Wunsch der General-
versammlung eingeladen wurden, an der Konferenz teilzunehmen. Der Vertreter der UdSSR
brandmarkte dieses Vorgehen der Generalversammlung als Diskriminierung und Verletzung
des Prinzips der souveränen Gleichheit der Staaten, welches es verbiete, dass eine Gruppe
von Staaten eine andere von der Teilnahme an der Lösung von Problemen von Gemein-
interesse ausschloss. Er beschuldigte offen die USA und Großbritannien, zur Förderung
178 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Elias das Amt des Vorsitzenden des Committe of the Whole, wobei er gleichzeitig
der Vertreter der afroasiatischen Gruppe bei der Konferenz war; Yasseen fungierte
als Vorsitzender des Drafting Committee.183 Daneben fanden sich in den Delegatio-
nen verschiedenster Staaten Mitglieder der ILC.184 Bereits in der Eröffnungsrede
wurde die herausragende Bedeutung der Konferenz für die Entwicklung und Kodi-
fikation des Völkerrechts herausgestellt.185
In Bezug auf das Problem der Ungleichen Verträge und den in diesem Zusam-
menhang besonders relevanten Teil V des Konventionsentwurfes, in dem sich auch
Artikel 49 befand, sollte Rosenne später schreiben:
Indeed, it would not be an exaggeration to say that this was the most political charged mate-
rial, and that the success of failure of the conference – on which also depended in the view
of many the future of the whole codification effort of the United Nations – depended on the
degree of statesmanship and juridical skill which could be devoted to finding a satisfactory
and acceptable solution to those problems. […] The underlying issue of course is that posed
by the so-called unequal, inequitable or leonine treaties, which no one was prepared to define
and which may well defy definition. Behind the slogan evoked by that controversy lie the hard
core issues of the implications of the rapidly changing political, economic and social facets
of international relationships on existing and future treaty patterns, In brief, all the issues of
stability and change in international relations had become concentrated on this phase of the
codification of international law (although closer inspection of them shows that in part at least
they would better be “sited” in the context of State succession than in the law of treaties).186
ihrer eigenen politischen Interessen die Verletzung der souveränen Rechte einer Reihe von
sozialistischer Staaten in Kauf zu nehmen. Tatsächlich waren die Volksrepublik China, die
Deutsche Demokratische Republik, die Demokratische Republik Vietnam und die Volksre-
publik Korea von der Konferenz ausgeschlossen worden. Die sowjetische Delegation erhielt
in dieser Sache Unterstützung von Indien, der Vereinigten Arabischen Republik, Rumänien,
Ceylon, Ungarn, der Ukraine, der Mongolei, Tansania, Polen, Weißrussland, Bulgarien,
Kuba, Guinea, Jugoslawien, Syrien, Kongo (Brazzaville) und der Tschechoslowakei. Der
Vertreter Chinas (Taiwans) entgegnete, dass die Republik China völkerrechtsgemäß vertreten
sei. Daneben beanstandete Tansania im Namen aller afrikanischen Staaten die Anwesenheit
der Vertreter Südafrikas. Siehe hierzu Resolution Adopted by the General Assembly 2166
(XXI), International Conference of Plenipotentiaries on the Law of Treaties, UN Doc A/
RES/2166 (XXI), Rn. 4; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.1,
Meeting Records (1968), S. 1, 1 ff., Rn. 15 ff.; UN Conference on the Law of Treaties, UN
Doc A/CONF.39/SR.2, Meeting Records (1968), S. 6, 6, Rn. 1.
183
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.1, Meeting Records
(1968), S. 1, 5, Rn. 53; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.2,
Meeting Records (1968), S. 6, 6, Rn. 7, 9; Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 6.
184
So war beispielsweise Briggs in der Delegation der USA, Jimenez de Arechaga in der von
Uruguay, UN Conference on the Law of Treaties, List of Delegations (1968), S. xiii, xxii.
185
Daneben betonte der indische Vertreter die herausragende Bedeutung der Konferenz für
die neuen Staaten; durch die Kodifikation des Vertragsrechts könnten sich diese auf geschrie-
benes Recht berufen und müssten nicht mehr auf Gewohnheitsrecht zurückgreifen, das häufig
veraltet und überholt erschien. UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/
SR.1, Meeting Records (1968), S. 1, 1, Rn. 4 ff.
186
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 76.
V. Artikel 49 in der Wiener Vertragsrechtskonferenz179
Während Tabibi in der ILC-Debatte den Wortlaut des damaligen Artikel 12 noch für
ausreichend gehalten hatte, da er es für wenig praktikabel hielt, die verschiedenen
Arten der Ausübung oder Androhung von Gewalt – wozu für ihn schon damals auch
wirtschaftlicher Druck und intensive Propaganda zählten – anzuführen, plädierte er
als afghanischer Delegierter für die explizite Nennung von ökonomischem und poli-
tischem Druck in Artikel 49, was sicherlich auch auf die zwischenzeitlichen Ent-
wicklungen im Special Committee on Principles of International Law Concerning
Friendly Relations and Co-operation among States zurückgeführt werden kann.189
Er führte aus, es sei gerade der Unterschied zwischen der Völkerbundsatzung und
der VN-Charta, dass letztere auch die Rolle anerkenne, welche gerade ökonomischer
Druck in den internationalen Beziehungen spiele.190 Die wirtschaftliche Notlage von
mehr als drei Vierteln der Weltgemeinschaft verschärfe sich zunehmend und rufe
immer kraftvollere Reaktionen hervor; die echte Gewalt dieser Zeit sei wirtschaft-
lich-soziale Gewalt und diese beeinflusse auch das Völkerrecht.191 Wirtschaftlicher
187
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 269, Rn. 21 ff. Zuvor hatte der Vertreter des Kongos (Brazzaville) verlaut-
baren lassen, sein Land sei keineswegs Miteinreicher dieses Änderungsvorschlages. Der
afghanische Delegierte bat daraufhin um eine Unterbrechung, um sich mit den Vertretern der
anderen Staaten, die den Änderungsentwurf unterstützten, abzusprechen; der Kongo wurde
schließlich doch als Miteinreicher des Änderungsvorschlages geführt. UN Conference on the
Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records (1968), S. 268, 269, Rn. 19 f.
Die neunzehn Staaten waren Afghanistan, Algerien, Bolivien, Kongo (Brazzaville), Ecuador,
Ghana, Guinea, Indien, Iran, Kenia, Kuwait, Mali, Pakistan, Sierra Leone, Syrien, Vereinigte
Arabische Republik, Vereinigte Republik Tansania, Jugoslawien und Sambia, wobei Afgha-
nistan den Entwurf einbrachte. United Nations Conference on the Law of Treaties, First
Session, Vienna, 26 March – 24 May 1968, Official Records, Documents of the Conference,
S. 171 f., Para 448 f.
188
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/C.1/L.67/Rev. 1/Corr. 1,
Official Records (1968/1969), S. 172, Rn. 449.
189
Siehe oben.
190
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 269, Rn. 22.
191
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 269, Rn. 22.
180 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
192
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 270, Rn. 26.
193
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records
(1968), S. 287, 293, Rn. 60.
194
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 270, Rn. 28. Bereits auf seiner sechsten Sitzung vom 23. Februar bis zum
6. März 1964 hatte sich das AALCC in Kairo mit dem Vertragsrecht beschäftigt. Davon
berichtete der Beobachter H.E. Hafez Sabek des AALCC bei der ILC bei deren 16. Sitzung.
Sabek schilderte, wie wichtig die progressive Entwicklung des Völkerrechts gerade für die
afrikanischen und asiatischen Staaten sei; diese hätten ihre Ansicht lange Zeit über nicht
kundtun können und unter Imperialismus und ungerechten, ihre Interessen und Bedürfnisse
missachtenden Verträgen gelitten. Die neuen Staaten waren erpicht darauf, sich von allen
kolonialen Fesseln zu befreien. Dabei gehörte es zu den Aufgaben der AALCC, sich mit den
in der ILC diskutierten Themen auseinanderzusetzen und dadurch einen Beitrag zu der Ent-
wicklung des Völkerrechts entsprechend der internationalen Bedürfnisse zu leisten. Dabei
schätzte es das AALCC, wie sehr die ILC die Standpunkte der Staaten Asiens und Afrikas in
ihrer Arbeit berücksichtigte. Trotz der wesentlichen Bedeutung der Ungleichen Verträge für
die Staaten Afrikas und Asiens ist dem Tagungsband des AALCC jedoch keine inhaltliche
Stellungnahme zu diesem Thema zu entnehmen. Dies mag dem Umstand geschuldet sein,
dass im selben Jahr eine Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen in Genf stattfand und
das Thema Atomwaffen, mit dem sich der Tagungsband im Wesentlichen beschäftigt, daher
dringlicher erschien. Das AALCC griff die Ächtung Ungleicher Verträge jedoch während
seiner neunten Sitzung 1967 in Neu Delhi anlässlich der Wiener Vertragsrechtskonferenz
erneut auf und bezog trotz seiner ansonsten eher knappen und politisch uneindeutigen Aus-
führungen zur künftigen Wiener Vertragsrechtskonvention eine klare Dritte-Welt-Position in
Bezug auf das Verbot von Verträgen unter gewaltsamem Zwang: So forderte es die Einbezie-
hung ökonomischen und politischen Drucks unter diese Vorschrift. Siehe zum Ganzen ILC,
UN Doc A/CN.4/SR.745, ILC-Yearbook (1964, I), S. 139, 140, Rn. 3; Asian-African Legal
Consultative Committee, Report of the Sixth Session held at Cairo from 24th February to 6th
March 1964, The Legality of Nuclear Tests: Report of the Committee and Background Mate-
rial, S. 1 ff.; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting
Records (1968), S. 268, 270, Rn. 28; Fatouros, Report of the Ninth Session held in New
Delhi from 18th to 29th December, 1967 by Asian African Legal Consultative Committee, 19
American Journal of Comparative Law (1971), S. 139, 140.
V. Artikel 49 in der Wiener Vertragsrechtskonferenz181
Präsident Josip Broz Tito und Indiens Premierministerin Indira Gandhi ebenso wie
Ägyptens Ministerpräsident Gamal Abdel Nasser wirtschaftliche Gewalt als Herr-
schaftsmittel bestimmter Staaten über die Entwicklungsländer identifiziert und ver-
urteilt.195 Die meisten Vertreter der 19 Staaten, die den Änderungsentwurf einge-
bracht hatten, gingen wie Tabibi davon aus, dass das Gewaltverbot auf Grund der
Entwicklungen seit der Verabschiedung der VN-Charta nunmehr auch politischen
und insbesondere ökonomischen Zwang erfasse, so dass ihrem Änderungsvorschlag
lediglich klarstellender Charakter zukäme.196 Der Vertreter Tansanias war hingegen
der Auffassung, dass das Gewaltverbot unter der VN-Charta ökonomischen Zwang
nicht erfasse und dieser in Artikel 49 explizit genannt werden müsse, um von der
Norm erfasst zu werden.197 Der Vertreter Syriens wies ebenfalls darauf hin, dass
der flexible Verweis in Artikel 49 auf die VN-Charta möglicherweise nicht aus-
reichen könnte, um bereits in der Gegenwart inakzeptable Situationen befriedigend
zu lösen.198 Er erkannte an, dass es schwierig sei, wirtschaftlichen Zwang präzise
zu definieren; nichtsdestoweniger handele es sich dabei um kein subjektives Phä-
nomen, sondern um eine Tatsache, die sich in Handlungen manifestieren würde,
welche identifizierbar seien.199 Tatsächlich sah eine ganze Reihe von Staaten der
Dritten Welt ökonomischen Zwang als die Waffe des Neokolonialismus überhaupt
an. Besonders scharf stellte dies der algerische Delegierte heraus:
It was true that the era of the colonial treaty was past or disappearing, but there was no
overlooking the fact that some countries had resorted to new and more insidious methods,
suited to the present state of international relations, in an attempt to maintain and perpetuate
bonds of subjection. Economic pressure, which was a characteristic of neo-colonialism,
was becoming increasingly common in relations between certain countries and the newly
independent States.
Political independence could not be an end in itself; it was even illusory if it was not
backed by genuine economic independence. That was why some countries had chosen the
political, economic and social system they regarded as best calculated to overcome under-
development as quickly as possible. That choice provoked intense opposition from certain
195
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 270, Rn. 30.
196
So etwa die Vertreter von Ecuador, Ghana und Sambia, UN Conference on the Law of
Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records (1968), S. 268, 273, Rn. 63; UN
Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records (1968),
S. 287, 288, Rn. 4; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50,
Meeting Records (1968), S. 280, 287, Rn. 65.
197
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 270 f., Rn. 33 f.
198
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting Records
(1968), S. 274, 274, Rn. 4.
199
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting Records
(1968), S. 274, 274, Rn. 5. So auch Guinea, United Nations Conference on the Law of Trea-
ties, First Session, Vienna, 26 March – 24 May 1968, Summary Records of the Plenary Mee-
tings and of the Meetings of the Committee of the Whole, 51st Meeting of the Committee of
the Whole, UN Doc A/CONF.39/SR.51, S. 287, 288, Rn. 9.
182 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
interests which saw their privileges threatened and then sought through economic pressure
to abolish or at least restrict the right of peoples to self-determination. Such neo-colonialist
practices, which affected more than two-thirds of the world’s population and were retarding
or nullifying all efforts to overcome under-development, should therefore be denounced
with the utmost rigour.200
Der bolivianische Delegierte lenkte die Aufmerksamkeit hingegen weg vom Gewalt-
verbot und stattdessen hin zum Einfluss wirtschaftlichen Zwangs auf den souveränen
Willen eines Staates und auf das grundlegende Prinzip der freien Zustimmung.201
Um ihn bildete sich eine Fraktion von Staaten, die das Nineteen-State-Amendment
zwar nicht mitvorgelegt hatten, es jedoch unterstützten. Sie strebten wie Yasseen in
der ILC eine allgemeine Regelung zum Schutz der Willensfreiheit der Staaten an; die
im Nineteen-State-Amendment vorgenommene Ausweitung des Gewaltbegriffs war
für sie damit mehr Mittel zum Zweck. Sie verzichteten dabei jedoch darauf, einen
eignen Änderungsvorschlag vorzulegen und entschieden sich stattdessen dafür, die
Kräfte im Kampf gegen Ungleiche Verträge durch Unterstützung des Nineteen-
State-Amendment zu bündeln. Ihre vom Wortlaut des Nineteen-State-Amendment
abweichende Schlagrichtung erklärt jedoch, warum beispielsweise der Irak, bei
dessen Delegation Yasseen den Vorsitz innehatte,202 nicht zu den 19 Staaten gehör-
ten, die den Änderungsentwurf eingebracht hatten, den der Irak nun aber nichts-
destoweniger zu unterstützen bereit war. Im Übrigen hielt Yasseen es möglicher-
weise auch für ratsam, in der Wiener Vertragsrechtskonferenz seine Vorreiterrolle
im Kampf gegen Ungleiche Verträge abzugeben: Zum einen war er in der ILC mit
seiner Position weitgehend isoliert gewesen, zum anderen musste er bei der Wiener
Vertragsrechtskonferenz nicht nur seiner Rolle als Vertreter des Irak, sondern auch
seiner Aufgabe als Vorsitzender des Drafting Committee gerecht werden. So unter-
stützte der Delegierte des Iraks das Nineteen-State-Amendment und argumentierte,
dass Willensfreiheit und Gleichheit als Teile der staatlichen Souveränität wesent-
lich seien, um die Stabilität von Verträgen und deren Umsetzung in gutem Glauben
sicherzustellen.203 Instabilität würden hingegen solche Staaten hervorrufen, welche
das Verbot wirtschaftlichen Zwangs zurückwiesen, um ihre Interessen und ihre Vor-
machtstellung zu schützen, ihren Willen schwächeren Staaten aufzudiktieren und
ihre illegalen Machenschaften zu rechtfertigen; der Irak würde daher für den Ände-
rungsantrag stimmen.204 Der Vertreter Polens sah im Schutz der Willensfreiheit der
200
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting Records
(1968), S. 274, 276, Rn. 27 f.
201
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 270, Rn. 31.
202
UN Conference on the Law of Treaties, List of Delegations (1968), S. xiii, xvii.
203
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 272, Rn. 52. So auch die Philippinen, UN Conference on the Law of Treaties,
UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records (1968), S. 280, 287, Rn. 68.
204
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 273, Rn. 55.
V. Artikel 49 in der Wiener Vertragsrechtskonferenz183
Staaten die eigentliche Bedeutung von Artikel 49, so dass ihm eine Beschränkung
auf bestimmte Formen von Zwang unter Ausschluss anderer grundlos erschien und
verkündete, sich den 19 Antragstellerstaaten anschließen zu wollen.205 Die Vertre-
terin Indonesiens schätzte daneben die Missbrauchsgefahr einer solchen Norm als
gering ein, zumal ein Staat, der sich ungerechtfertigter Weise auf Artikel 49 beriefe,
sein internationales Prestige riskieren würde.206 Des Weiteren sprachen sich auch
China, Kuba, die Mongolei, Zypern, Ungarn, Weißrussland, die UdSSR und Rumä-
nien für das Nineteen-State-Amendment aus,207 wobei der rumänische Vertreter die
Vorteile des Änderungsvorschlags im Hinblick auf Ungleiche Verträge folgender-
maßen zusammenfasste:
By including economic and political pressure among the forms of violation of the principle
prohibiting the use or threat of force, article 49 would gain efficacy; its preventive force
would be increased, and it would represent a sounder and more certain legal means of sub-
stituting the rule of law for the rule of force.208
205
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 281, Rn. 13. So auch Guinea, UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc
A/CONF.39/SR.51, Meeting Records (1968), S. 287, 288, Rn. 7.
206
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 285, Rn. 43.
207
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 272, Rn. 49; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/
SR.49, Meeting Records (1968), S. 274, 275, Rn. 14 f., S. 277, Rn. 41, S. 279, Rn. 61; UN
Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records (1968),
S. 280, 282, Rn. 24, S 287, Rn. 67; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/
CONF.39/SR.51, Meeting Records (1968), S. 287, 288 f., Rn. 14.
208
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 284 f., Rn. 41.
184 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Nigeria, das in der Generalversammlung noch für einen weiten Gewaltbegriff plä-
diert hatte, äußerte sich in der Debatte um Artikel 49 bei der Wiener Vertragsrechts-
konferenz interessanterweise überhaupt nicht. Auch gehörte es nicht zu den Staaten,
die das Nineteen-State-Amendment eingebracht hatten. Ein Grund hierfür mag sein,
dass Elias Vorsitzender der nigerianischen Delegation war.209 Er hatte beim Thema
Ungleiche Verträge schon in der ILC Zurückhaltung gezeigt. Bei der Wiener Ver-
tragsrechtskonferenz nahm er als Vorsitzender des Committee of the Whole einer-
seits und als Vertreter der Dritten Welt andererseits eine schwierige Doppelrolle ein,
die großes diplomatisches Geschick erforderte und eine einseitige Positionierung
Nigerias in einer derart umstrittenen Frage politisch nur schwer möglich machte.
Uruguay sprach sich trotz seiner Zugehörigkeit zur Dritten Welt gegen den Ände-
rungsvorschlag aus, und dies nicht nur wegen der Vagheit seiner Begrifflichkei-
ten; der Vertreter hielt ihn schlicht für unnötig, da der verwendete Gewaltbegriff
besonders schwere Fälle von politischem oder wirtschaftlichem Zwang nicht aus-
schloss.210 Dagegen bestünde die Gefahr, dass aus einer Annahme des Nineteen-
State-Amendment im Gegenteil geschlossen werden könnte, dass Artikel 2 Nr. 4
VN-Charta solche Formen von Druck gerade nicht erfasse.211 Außerdem hielt er die
im Prinzip völlig legitimen ökonomischen und sozialen Forderungen der Entwick-
lungsländer im Rahmen einer Kodifikationskonferenz für nicht angebracht.212 Die
Position Uruguays entsprach dabei jener, die ihr Delegationsvorsitzender Jiménez
de Aréchaga bereits in der ILC vertreten hatte, nämlich es bei einem schlichten
Verweis auf Artikel 2 Nr. 4 VN-Charta zu belassen.
Der Westen ging hinsichtlich Artikel 49 des Entwurfs der Vertragsrechtskonven-
tion weitestgehend in Opposition zur Mehrheitsmeinung in der Dritten Welt. Der
australische Delegierte machte deutlich, dass Artikel 2 Nr. 4 VN-Charta politischen
und ökonomischen Druck aktuell genauso wenig erfasse wie 1945.213 Er meinte
jedoch später in der Debatte, dass seine Abordnung einen neuerlichen Änderungs-
vorschlag der 19 Antragssteller mit konkret definiertem Anwendungsbereich des
verbotenen wirtschaftlichen und politischen Zwangs zu prüfen bereit wäre; alter-
nativ könnte eine Art Deklaration in dieser Frage erarbeitet werden.214 Häufig war
209
UN Conference on the Law of Treaties, List of Delegations (1968), S. xiii, xix.
210
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting Records
(1968), S. 274, 277, Rn. 35 f.
211
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting Records
(1968), S. 274, 277, Rn. 35. Auch Italien wies auf dieses Dilemma hin, UN Conference on the
Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records (1968), S. 287, 289, Rn. 16.
212
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting Records
(1968), S. 274, 277, Rn. 39.
213
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 271, Rn. 44. Dem pflichtete Portugal bei, UN Conference on the Law of Trea-
ties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting Records (1968), S. 274, 278, Rn. 45 f.
214
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 282, Rn. 20. Ähnlich Chile, UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc
A/CONF.39/SR.50, Meeting Records (1968), S. 280, 285, Rn. 48.
V. Artikel 49 in der Wiener Vertragsrechtskonferenz185
hingegen vom Westen das Argument zu hören, dass die Konferenz gar nicht über die
Kompetenz verfüge, die VN-Charta auszulegen;215 eine Einschätzung, die für solche
Alternativen wenig Spielraum ließ. Die Niederlande sahen durch das Nineteen-
State-Amendment die Stabilität der Vertragsbeziehungen gefährdet.216 Diesen Punkt
führte der kanadische Delegierte weiter aus, der das Prinzip pacta sunt servanda in
Bedrängnis sah:217
Except where a treaty was negotiated between two super-powers of equal enormous eco-
nomic and political strength, or between two small States of equal weakness, the inclusion
of that expression would be an invitation to States to invalidate treaties by using it as an
excuse whenever a State party to a treaty decided later that it had made a bad bargain. The
long-term interests of small and new States, and those of the world order as a whole, would
not be served by the inclusion of the excessively broad language thus proposed.218
Politischer und ökonomischer Zwang seien ein übliches Mittel, durch welches
Staaten in Vertragsverhandlungen ihre Interessen vertreten.219 Die USA sahen den
Interessen der Entwicklungsländer durch eine (nach Ansicht der USA abzuleh-
nende) Ausweitung des Gewaltbegriffs dabei gar nicht gedient; vielmehr sei das
Gegenteil der Fall, da Investoren ihr steigendes Risiko kostentechnisch an diese
Länder weitergeben würden.220 Großbritannien argumentierte ähnlich, gestand aber
ein, dass bestimmte Fälle von eklatantem politischem oder ökonomischem Zwang
die Verurteilung eines Vertrages rechtfertigen könnten.221 Allerdings würden die
wirtschaftlichen Probleme der Dritten Welt durch die Annahme des Änderungsvor-
schlages nicht gelöst werden.222 Japan war zwar nicht grundsätzlich gegen das Nine-
teen-State-Amendment, hielt aber den Begriff des wirtschaftlichen und politischen
Drucks noch für zu unscharf, um als Grund für die Unwirksamkeit eines Vertrages in
215
Zum Beispiel Neuseeland, UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/
SR.51, Meeting Records (1968), S. 287, 290, Rn. 25; Schweiz und USA, UN Conference on
the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records (1968), S. 287, 291 f.,
Rn. 42, 49.
216
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting Records
(1968), S. 274, 275, Rn. 21. Ähnlich Belgien, UN Conference on the Law of Treaties, UN
Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records (1968), S. 280, 287, Rn. 70.
217
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 281, Rn. 6.
218
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 281, Rn. 6.
219
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 281, Rn. 8.
220
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records
(1968), S. 287, 292, Rn. 51.
221
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 283, Rn. 31.
222
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 283 f., Rn. 32.
186 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
223
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 272, Rn. 47. Noch deutlicher wurde hier Argentinien, das schon den Gewalt-
begriff (im physischen Sinne verstanden) für zu vage hielt und deswegen gegen eine Aus-
weitung war. UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting
Records (1968), S. 274, 280, Rn. 68.
224
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records
(1968), S. 287, 291, Rn. 36.
225
Beispielsweise Schweden, UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/
SR.49, Meeting Records (1968), S. 274, 279, Rn. 56, sowie Großbritannien, UN Conference
on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records (1968), S. 280, 284,
Rn. 37.
226
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records
(1968), S. 287, 293, Rn. 55.
227
United Nations Conference on the Law of Treaties, First Session, Vienna, 26 March – 24
May 1968, Summary Records of the Plenary Meetings and of the Meetings of the Committee
of the Whole, 51st Meeting of the Committee of the Whole, UN Doc A/CONF.39/SR.51,
S. 287, 293, Rn. 62.
228
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records
(1968), S. 287, 293, Rn. 62.
229
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records
(1968), S. 287, 293, Rn. 63.
230
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.57, Meeting Records
(1968), S. 328, 329. Rn. 3.
V. Artikel 49 in der Wiener Vertragsrechtskonferenz187
Diese Erklärung knüpfte an die souveräne Gleichheit der Staaten und deren Willens-
freiheit an und verurteilte die Ausübung militärischen, politischen und wirtschaftli-
chen Zwangs bei Vertragsabschluss. Sie entfernte sich damit von der Koppelung an
das Gewaltverbot nach der VN-Charta und stellte vielmehr ein allgemeines Verbot
der Ausübung von Zwang im Recht der Verträge dar, wodurch sie in großer Nähe
zu Yasseens Forderung zu sehen ist. Allerdings war die Deklaration als Teil der
Schlussakte konzipiert und stand damit außerhalb der zukünftigen, rechtlich ver-
bindlichen Vertragsrechtskonvention. Damit war absehbar, dass der Rechtscharak-
ter der Deklaration künftig mit eben diesem Argument bestritten werden könnte.232
Hier wurde also erneut eine argumentative Grenzziehung angelegt, diesmal jedoch
nicht auf Tatbestands-, sondern auf Rechtsquellenebene: Dem Nineteen-State-
Amendment würde zukünftig schlicht entgegengebracht werden können, es handele
sich nicht um geltendes Völkerrecht.
Das Committee of the Whole billigte die Erklärung ohne weitere Debatte; das
Nineteen-State-Amendment wurde im Gegenzug nicht zur Abstimmung gebracht.233
Nachdem über andere Änderungsvorschläge entschieden worden war, wurde Artikel
49 an das Drafting Committee übermittelt.234 Dieses legte Artikel 49 mit leicht ver-
ändertem Wortlaut vor:
231
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.57, Meeting Records
(1968), S. 328, 328 f., Rn. 1.
232
Siehe unten Fazit.
233
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.57, Meeting Records
(1968), S. 328, 329, Rn. 4 f.
234
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.57, Meeting Records
(1968), S. 328, 330, Rn. 24.
188 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
A treaty is void if its conclusion has been procured by the threat or use of force in violation
of the principles of international law embodied in the Charter of the United Nations.235
Artikel 49 wurde mit diesem Wortlaut angenommen, wobei es sich der irakische
Delegierte auch hier nicht nehmen ließ, darauf hinzuweisen, dass Artikel 49 seiner
Ansicht nach auch politischen und ökonomischen Druck sanktioniere.236
Der Präsident appellierte an alle Teilnehmer, sich ihre Verantwortung gegenüber der
Internationalen Gemeinschaft bewusst zu machen, da die Konferenz eine Art Gesetz-
gebungsorgan der Weltgemeinschaft darstelle.238 Nach Abschluss der Arbeiten im
Committee of the Whole müsse die Konferenz ihre Verantwortung annehmen.239
Artikel 49 gehörte zwar grundsätzlich zu den Artikeln, für deren Ausgestaltung
schon bei der ersten Konferenz ein Kompromiss gefunden wurde; die Debatte um
die Norm ging jedoch trotzdem noch weiter. Eine Reihe von Staaten, die bei der
letzten Konferenz das Nineteen-State-Amendment unterstützt hatte, machte deut-
lich, dass sie dieses nur deshalb nicht zur Abstimmung gestellt hatte, um einen mög-
lichst breiten Konsens der Konferenz zu garantieren.240 Das ILC-Mitglied Tabibi
235
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.78, Meeting Records
(1968), S. 463, 465, Rn. 25.
236
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.78, Meeting Records
(1968), S. 463, 465, Rn. 33 f.
237
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.6, Meeting Records
(1969), S. 1, 1, Rn. 3.
238
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.6, Meeting Records
(1969), S. 1, 1, Rn. 4.
239
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.6, Meeting Records
(1969), S. 1, 1, Rn. 9.
240
Beispielsweise Tansania und Syrien, UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/
CONF.39/SR.18, Meeting Records (1969), S. 84, 91 f., Rn. 71, 77.
V. Artikel 49 in der Wiener Vertragsrechtskonferenz189
betonte als afghanischer Delegierter nochmals die Bedeutung von Artikel 49 für die
Entwicklungsländer.241 Während Artikel 49 mit 98 Ja-Stimmen, ohne Gegenstimme,
aber mit fünf Enthaltungen angenommen wurde,242 unternahm der Vertreter Afgha-
nistans einen letzten Anlauf, um einen weitverstandenen Gewaltbegriff durchzuset-
zen: Seine Delegation brachte einen Resolutionsentwurf ein, der die Erklärung zu
Artikel 49 ergänzen sollte.243 Der Entwurf lautete folgendermaßen:
Tabibi drückte sein Bedauern aus, dass der Änderungsentwurf zu Artikel 49, der
seiner Ansicht nach lediglich geltendes Gewohnheitsrecht widerspiegelte und von
der Mehrheit der Konferenzteilnehmer unterstützt worden war, nicht in den Kon-
ventionstext einfließen würde.245 Dieser Kompromiss müsse vor dem Hintergrund
gesehen werden, dass der präzise Umfang des Gewaltverbots sich im Rahmen der
Chartainterpretation herauskristallisieren würde.246 Für die vorliegende Konven-
tion sei es nun aber aus prozessualer Sicht erforderlich, Artikel 49 der Konvention
und die zugehörige Erklärung organisch zu verbinden.247 Offenbar sah Tabibi die
Gefahr, dass zukünftig bei der Auslegung von Artikel 2 Nr. 4 UN-Charta auf die
Vertragsrechtskonvention mit dem Argument rekurriert werden könne, Artikel 49
sehe vom Gewaltverbot lediglich militärische Gewalt erfasst. Das Nineteen-State-
Amendment barg das Risiko, nicht als verbindlicher Teil der späteren Konvention
241
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.18, Meeting Records
(1969), S. 84, 92, Rn. 81.
242
Der Stimme enthielten sich die Schweiz, Tunesien, die Türkei, Großbritannien und
Belgien. UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.19, Meeting
Records (1969), S. 92, 93, Rn. 1. Offenbar wurde die Ja-Stimme Marokkos versehentlich
nicht gezählt, siehe UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.34,
Meeting Records (1969), S. 185, 197, Rn. 106.
243
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.19, Meeting Records
(1969), S. 92, 93, Rn. 6.
244
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/L.32/Rev. 1, Official Records
(1968/1969), S. 269.
245
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.19, Meeting Records
(1969), S. 92, 93, Rn. 5.
246
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.19, Meeting Records
(1969), S. 92, 93, Rn. 5.
247
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.20, Meeting Records
(1969), S. 100, 100, Rn. 2.
190 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
248
Dies waren im Einzelnen die Demokratische Republik Kongo, Kuba, Rumänien und die
Tschechoslowakei, UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.20,
Meeting Records (1969), S. 100, 100 f., Rn. 5 ff.
249
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.20, Meeting Records
(1969), S. 100, 101, Rn. 13.
250
Der Text lautete schließlich folgendermaßen:
Declaration on the prohibition of military, political or economic coercion in the conclu-
sion of treaties
The United Nations Conference on the Law of Treaties,
Upholding the principle that every treaty in force is binding upon the parties to it and must
be performed by them in good faith,
Reaffirming the principle of the sovereign equality of States,
Convinced that States must have have complete freedom in performing any act relating to
the conclusion of a treaty,
Deploring the fact that in the past States have sometimes been forced to conclude treaties
under pressure exerted in various forms by other States,
Desiring to ensure that in the future no such pressure will be exerted in any form by any
State in connexion with the conclusion of a treaty,
1. Solemnly condemns the threat or use of pressure in any form, whether military, politi-
cal, or economic, by any State in order to coerce another State to perform any act rela-
ting to the conclusion of a treaty in violation of the principles of the sovereign equality
of States and freedom of consent;
2. Decides that the present Declaration shall form part of the Final Act of the Conference
on the Law of Treaties.
Resolution relating to the declaration on the prohibition of military, political or economic
coercion in the conclusion of treaties
The United Nations Conference on the Law of Treaties,
Having adopted the Declaration on the prohibition of military, political or economic coer-
cion in the conclusion of treaties as part of the Final Act of the Conference,
1. Requests the Secretary-General of the United Nations to bring the declaration to the
attention of all Member States and other States participating in the Conference, and of
the principal organs of the United Nations;
2. Requests Member States to give the Declaration the widest possible publicity and
dissemination.
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.31, Meeting Records
(1969), S. 168, 168, Rn. 1 ff.
VI. Ausgang der Konferenz, Resonanz und Rezeption191
Verträgen unter gewaltsamem Zwang als Artikel 52 Einzug in die Wiener Vertrags-
rechtskonvention.251 Waldocks Ansatz, ein Korrelat zum Gewaltverbot im Recht der
Verträge zu schaffen, setzte sich somit letztlich gegenüber Yasseens Forderung nach
dem umfassenden Schutz der staatlichen Willensfreiheit durch. Das weite Gewalt-
begriffsverständnis der Mehrheit der Staaten fand lediglich im Nineteen-State-
Amendment Ausdruck.
Trotzdem wäre die Konferenz beinahe gescheitert, da bis zu ihren letzten Tag die
Durchsetzungsfrage ungelöst geblieben war. Viele Bedenken insbesondere west-
licher Staaten waren durch die Gefahr des Missbrauchs von Nichtigkeitsnormen
motiviert, was vor allem im Streit um die Verträge im Widerspruch zu zwingendem
Recht zum Ausdruck gekommen war;252 entsprechend machten sie es zur Bedingung
des Abschlusses der WVK, dass diese einen Mechanismus zur Durchsetzung von
Nichtigkeitsgründen beinhalte, der über die unilaterale Inanspruchnahme solcher
Gründe durch einen Staat hinaus nicht nur Informations- und Gesprächspflichten
erfasse, sondern darüber hinaus eine obligatorische Streitbeilegungsinstanz fest-
schreibe.253 Die Staaten des Ostblocks und der Dritten Welt favorisierten demgegen-
über ein Verfahren nach Artikel 33 VN-Charta ohne verbindliche Streitbeilegungs-
instanz.254 Mit der Durchsetzungsfrage hatte sich daher schon die ILC eingehend
beschäftigt und letztlich das Verfahren nach Artikel 33 VN-Charta vorgeschlagen.255
Die Vorbehalte der neuen Staaten gegenüber gerichtlicher Konfliktlösung im All-
gemeinen und jener durch den IGH im Speziellen hatten bereits vor längerer Zeit
eine Debatte in der Völkerrechtswissenschaft und -praxis ausgelöst, welche diese
Position vor dem Hintergrund der europäischen Prägung des geltenden Völker-
rechtes, welches der IGH anwendete, plausibilisierte.256 Der Grund hierfür wurde
251
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.36, Meeting Records
(1969), S. 202, 203, Rn. 12; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/27,
Official Records (1968/1969), S. 289, 296.
252
Siehe beispielsweise UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.53,
Meeting Records (1968), S. 299, 305, Rn. 61; Vgl. auch Elias, The Modern Law of Treaties
(1974), S. 7, 188.
253
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 7, 189 ff.
254
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 7, 188 ff.
255
ILC, UN Doc A/6309/Rev. 1, ILC-Yearbook (1966, II), S. 169, 185.
256
Siehe hierzu schon oben, Teil I. Vgl. auch McWhinney, The „New“ Countries and the
„New“ International Law: The United Nations Special Conference on Friendly Relations and
Co-operation among States, 60 American Journal of International Law (1966), S. 1, 19 f.;
Friedmann, The Position of Underdeveloped Countries and the Universality of International
Law, 1 & 2 Columbia Journal of Transnational Law (1961-1963), S. 78, 81, 86; Castañeda,
The Underdeveloped Nations and the Development of International Law, 15 International
Organization (1961), S. 38, 41; Anand, New States and International Law (1972), S. 50 ff.
192 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
257
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 116.
258
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 116.
259
Elias meinte jedoch auch, dass entgegen landläufiger Behauptungen nicht nur die Staaten
der Dritten Welt, sondern auch jene der Ersten und Zweiten Welt dem IGH gegenüber eine
gewisse Zurückhaltung an den Tag legten. Elias, Africa and the Development of International
Law (1972), S. 52.
260
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 51.
261
Schwelb, Some Aspects of International Jus Cogens as Formulated by the International
Law Commission, 61 American Journal of International Law (1967), S. 946, 973 f.
262
ICJ, ICJ-Reports 1966, S. 6, 6 ff. Siehe hierzu auch Bernhardt, Homogenität, Kontinuität:
Eine Fall-Studie zum Südwestafrika/Namibia-Komplex und Dissonanzen in der Rechtspre-
chung des Internationalen Gerichtshofs, 33 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht
und Völkerrecht (1973), S. 1, 1 ff.
VI. Ausgang der Konferenz, Resonanz und Rezeption193
Auf Grund der jüngsten negativen Erfahrungen mit dem IGH gestaltete sich die
Suche nach einer geeigneten Streitbeilegungsinstanz für Unwirksamkeitsgründe
nach der WVK höchst schwierig. Während der Konferenz wurden diverse Anträge
zur Durchsetzungsfrage gestellt, die sich allesamt nicht durchsetzen konnten.265
Gegen Ende der Konferenz zeichnete sich daher zunächst ein Scheitern der Ver-
handlungen ab.266 Bahnbrechend war aber schließlich ein Textvorschlag für Artikel
66 der WVK und den Anhang der Konvention, welcher unter der Leitung von Elias
durch 13 Staaten Afrikas und Asiens eingebrachte wurde.267 Diesen auf der Kom-
bination von Elementen aus verschiedenen zuvor gestellten Anträgen aufbauenden
Entwurf stellte Elias der Konferenz als „package deal“ vor, über den nur im Ganzen
abgestimmt werden solle.268 Tatsächlich nahm die Konferenz diesen Vorschlag an.269
Letztlich wurde die Wiener Vertragsrechtskonvention mit überwältigender Mehrheit
263
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 189.
264
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 51. Auch McWhinney
kritisiert an der Entscheidung des IGH in den South-West Africa-Fällen, dass der IGH sich
nicht zu materiellen Themen wie der Vereinbarkeit des Apartheitssystems mit dem Völker-
recht eingelassen hat, McWhinney, The „New“ Countries and the „New“ International Law:
The United Nations Special Conference on Friendly Relations and Co-operation among
States, 60 American Journal of International Law (1966), S. 1, 67 f. Jessup hielt diese Mehr-
heitsentscheidung des Gerichts für „completely unfounded in law. In my opinion, the Court
is not legally justified in stopping at the threshold of the case, avoiding a decision on the
fundamental question whether the policy and practice of apartheid in the mandated territory
of South West Africa is compatible with the discharge of the "sacred trust" confided to the
Republic of South Africa as Mandatory.“ Jessup, ICJ- Reports 1966, S. 325, 325.
265
Siehe hierzu im Detail Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 189 ff.
266
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 85; Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 7.
267
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.34, Meeting Records
(1969), S. 185, 188, Rn. 27; Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 7, 192; Rosenne, The
Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Convention (1970), S. 85.
268
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 7, 192 f.
269
Nach diesem Vorschlag sollte der IGH als obligatorische Gerichtsbarkeit bei ius cogens-
Verletzung zuständig sein, während Streitigkeiten über Nichtigkeitsgründe im Übrigen von
einer im Streitfall aus einer vom Generalsekretär der Vereinten Nationen geführten Liste qua-
lifizierter Juristen zu berufenden Vergleichskommission entschieden werden sollten, siehe
Artikel 66 WVK und Anhang zur WVK.
194 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Diese Interpretation wurde von Großbritannien abgelehnt, da sie nicht mit den
Ergebnissen der Konferenz übereinstimme.272 Schweden verwies diesbezüglich auf
zukünftige Entwicklungen in der Interpretation der VN-Charta.273
Während die Entwurfsartikel der ILC selbst nur geringe Resonanz in der Völ-
kerrechtswissenschaft auslösten,274 löste die Verabschiedung der WVK lange vor
ihrem Inkrafttreten 1980 eine Publikationswelle aus.275 Dabei lief die Ratifikation
anfangs eher schleppend,276 was darauf zurückzuführen sein mag, dass viele Staaten
einerseits mit dem gewohnheitsrechtlich etablierten Recht der Verträge zufrieden
waren und dass andererseits die WVK in wichtigen Bereichen wie den Unwirksam-
keitsgründen sowie den Verfahrensvorschriften eine progressive Weiterentwick-
lung des Rechts darstellte.277 Erstaunlich unterschiedlich bewerteten verschiedene
Autoren den Grad an Kodifikation bzw. Rechtsfortbildung in der WVK. Insgesamt
wurde die WVK jedoch als Erfolg gewertet. Rosenne setzte große Hoffnung in
die WVK, die er weitestgehend als Kodifikation des geltenden Gewohnheitsrechts
270
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.36, Meeting Records
(1969), S. 202, 206 f., Rn. 51; Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative
History of the Vienna Convention (1970), S. 87. Zu Artikel 66 wurden jedoch zahlreiche Vor-
behalte abgegeben, siehe United Nations, Treaty Series, Vol. 1155, S. 499 ff.
271
United Nations, Treaty Series, Vol. 1155, S. 506.
272
United Nations, Treaty Series, Vol. 1155, S. 509.
273
United Nations, Treaty Series, Vol. 1155, S. 511.
274
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Con-
vention (1970), S. 63. Siehe aber Lissitzyn, Treaties and Changed Circumstances (Rebus Sic
Stantibus), 61 American Journal of International Law (1967), S. 895, 895 ff. und Strebel,
Preliminary Remarks, 27 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
(1967), S. 408, 408 ff.
275
Siehe beispielsweise Rosenne, The Settlement of Treaty Disputes under the Vienna Con-
vention of 1969, 31 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (1971),
S. 1, 1 ff.; Magallona, The Concept of Jus Cogens in the Vienna Convention on the Law of
Treaties, 51 Philippine Law Journal (1976), S. 521, 523 ff.; Rosenne, The Law of Treaties: A
Guide to the Legislative History of the Vienna Convention (1970); Elias, The Modern Law
of Treaties (1974); Sinclair, The Vienna Convention on the Law of Treaties (1973); Sztucki,
Jus Cogens and the Vienna Convention on the Law of Treaties: A Critical Appraisal (1974).
276
Siehe auch die pessimistische Prognose von Nahlik, The Grounds of Invalidity and Termi-
nation of Treaties, 65 American Journal of International Law (1971), S. 736, 756.
277
Aust, Vienna Convention on the Law of Treaties (1969), Max Planck Encyclopedia of
Public International Law (2006), Rn. 4.
VI. Ausgang der Konferenz, Resonanz und Rezeption195
betrachtet.278 Er hoffte auf einen positiven Einfluss der WVK auf die völkerver-
tragsrechtliche Praxis.279 Daneben baute Rosenne auf die prophylaktische Wirkung
der Konvention, die Konflikte nicht nur lösen, sondern schon im Vorfeld verhindern
zu können.280 Sinclair stellte heraus, dass mit der WVK die erste große Konvention
unter voller Beteiligung der neuen Staaten entstanden war und dass die Erweiterung
der Staatengemeinschaft folglich trotz mancher Unkenrufe im Vorfeld der Kodi-
fikation und der progressiven Weiterentwicklung des Völkerrechts nicht im Wege
stand.281 Für Elias war die WVK zu weiten Teilen eine progressive Weiterentwick-
lung des Rechts:282
By outlawing fraud, coercion and the use or threat of force from the sphere of inter-State
relations, this convention is laying down a revolutionary standard of international morality
which, under the over-all aegis of jus cogens, represents the high water-mark of internatio-
nal legislation in the history of international law. Whether or not it eventually enters into
force, international law cannot be the same again.283
Der IGH habe die Konvention laut Elias im Barcelona Traction-Fall angewendet,
als ob sie bereits in Kraft getreten sei.284 Die WVK wurde von Elias in den 1970er-
Jahren daher bereits als Teil des geltenden Völkerrechts betrachtet,285 und zwar trotz
des schleppenden Ratifikationsprozesses und der vielen progressiven Elemente in
der WVK.286 Damit sah Elias die WVK als Meilenstein in der Kodifikationsbewe-
gung an, der als wesentlicher Schritt hin zu einer materiell universellen Völker-
rechtsordnung zu werten sei.287
Bei den Verträgen unter Zwang war zunächst die rechtliche Einordnung der
Erklärung zu ökonomischem Zwang interessant. Häufig wird diese Erklärung ohne
rechtliche Einordnung lediglich erwähnt.288 Auch Elias ging diese Frage in seinem
278
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 90.
279
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 91.
280
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 91.
281
Sinclair, Vienna Conference on the Law of Treaties, 19 International and Comparative Law
Quarterly (1970), S. 47, 47 f., 69.
282
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 67.
283
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 67.
284
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 5.
285
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 5.
286
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 67.
287
Siehe auch Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 68.
288
Z.B. bei Depra, Das Gewaltverbot der Vereinten Nationen und die Anwendung nichtmili-
tärischer Gewalt (1970), S. 50.
196 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Buch zur WVK nicht direkt an, sondern verwies lediglich im Ergebnis auf das Son-
dervotum des mexikanischen IGH-Richters Luis Padilla Nervo im Fisheries Juris-
diction-Fall, in dem dieser sich explizit auf Artikel 52 bezog:
A big power can use force and pressure against a small nation in many ways, even by the
very fact of diplomatically insisting on having its view recognized and accepted. The royal
navy did not need to use armed force, its mere presence on the seas inside the fishery limits
of the coastal State could be enough pressure. It is well known by professors, jurists and
diplomats acquainted with international relations and foreign policies, that certain ‘Notes’
delivered by the government of a strong power to a government of a small nation, may have
the same purpose and the same effect as the use of threat or force.
There are moral and political pressures which cannot be proved by the so-called docu-
mentary evidence, but which are in fact indisputably real and which have, in history, given
rise to treaties and conventions claimed to be freely concluded and subjected to the princi-
ple of pacta sunt servanda.289
Diese Hoffnung wurde in der Praxis jedoch enttäuscht. Allgemein wurde die Dekla-
ration als nicht rechtsverbindlich erachtet.291 So schrieb der Schweizer Völkerrecht-
ler Lucius Caflisch später, dass bereits der Wortlaut der Deklaration gegen ihre Ver-
bindlichkeit spreche, da Verträge unter Zwang zwar verurteilt würden, hieran aber
keine Rechtsfolge geknüpft werde.292 Entsprechend könne der Erklärung höchstens
eine moralische, jedoch keine rechtliche Wirkung zugesprochen werden.293
Von der rechtlichen Einordnung der Deklaration weitgehend unabhängig
blieb die Bedeutung des Wortes Gewalt in Artikel 52 WVK bzw. Artikel 2 Nr. 4
289
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 175; Nervo, ICJ-Reports 1974, S. 36, 46 f.
290
Murphy, Economic Duress and Unequal Treaties, 11 Virginia Journal of International Law
(1970-716), S. 51, 69.
291
Schmalenbach, Article 52, in Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law
of Treaties: A Commentary (2012), S.885, Rn. 30.
292
Caflisch, Unequal Treaties, 35 German Yearbook of International Law (1992), S. 52, 74.
293
Caflisch, Unequal Treaties, 35 German Yearbook of International Law (1992), S. 52, 75;
ähnlich Murphy, Economic Duress and Unequal Treaties, 11 Virginia Journal of International
Law (1970), S. 61; anders aber Chiu, The People’s Republic of China and the Law of Treaties
(1972), S. 62.
VI. Ausgang der Konferenz, Resonanz und Rezeption197
294
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 53.
295
Siehe beispielsweise Partridge, Political and Economic Coercion: Within the Ambit of
Article 52 of the the Vienna Convention on the Law of Treaties?, 5 International Lawyer
(1971), S. 755, 767.
296
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 54; GA, UN Doc A/RES/2625 (XV) (24. Oktober 1970).
297
Nguluma, Unequal Treaties (with Special Reference to the African Experience in Unequal
Exchange and Cession of Land), 5(2) Journal of the Faculty of Arts and Social Science
(1980), S. 217, 233; Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Infor-
mal Empire, 74 Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 371.
298
Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74
Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 372.
299
Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74
Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 373; vgl. hierzu auch Artikel 75 WVK.
300
Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74
Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 374.
198 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Neben der Regelung zu Verträgen über gewaltsamen Zwang gerieten zwei weitere
Normen im Recht der Verträge in den Fokus der Debatte um Ungleiche Verträge.
Dies war zum einen die Regelung zu Verstößen gegen zwingendes Recht, über die
materiell Ungleiche Verträge geächtet werden sollten (I.). Darüber hinaus beriefen
sich Teile der Dritten Welt in ihrem Kampf gegen die Bindung an Ungleiche Ver-
träge zum einen aus Gerechtigkeitsgründen, zum anderen unter Berufung auf die
veränderten Machtverhältnisse in der Welt auf das Prinzip rebus sic stantibus (II.).
1
Schmalenbach, Article 64, in Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of
Treaties: A Commentary (2012), S. 1122, Rn. 4.
2
Zu dieser Frage siehe auch die Ausführungen bei Schwelb, Some Aspects of International
Jus Cogens as Formulated by the International Law Commission, 61 American Journal of
International Law (1967), S. 946, 968 ff.
entstandene Artikel 13 von Waldock in der ILC (2.) und später als Artikel 37 in der
Generalversammlung (3.) und erneut in der ILC diskutiert wurde. Dann ist darauf
einzugehen, wie die Norm zu Verträgen in Widerspruch zu zwingendem Recht als
Artikel 50 von der Wiener Vertragskonferenz aufgenommen wurde (4.). Schließlich
ist auf Resonanz und Rezeption des heutigen Artikel 53 WVK einzugehen (5.).
Bereits in Lauterpachts erstem Bericht fand sich mit Artikel 15 eine Vorschrift, die
Verträge für unwirksam erklärte, deren Ausführung gegen Allgemeines Völkerrecht
verstieß, sofern diese Unwirksamkeit vom IGH erklärt worden sei.3 Bei dieser sehr
allgemein formulierten Norm ging es Lauterpacht insbesondere um „inconsistency
with such overriding principles of international law which may be regarded as consti-
tuting principles of international public policy (ordre international public)“.4 Wie der
Begriff der Weltgemeinschaft war die Idee einer „ordre international public“ bereits in
frühen naturrechtlichen Konzeptionen aufgetaucht.5 Dabei hatte es sich jedoch immer
weitestgehend um ein wissenschaftliches Axiom gehandelt, das sich auf keine Staa-
tenpraxis stützen konnte.6 Auch für Völkerrechtslehrbücher handelte es sich lange Zeit
um ein eher exotisches Thema.7 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg rückte das Konzept
der ordre international public als Überbegriff für eine Reihe von Normen, welche die
grundlegenden Werte und Interessen der Weltgemeinschaft wiederspiegelten, gemein-
sam mit der Idee der Existenz einer solchen Internationalen Gemeinschaft ins Blickfeld
völkerrechtlicher Debatten.8 So schrieb der deutsche Völkerrechtler Hermann Mosler:
The public order of the international community, however, consists of principles and rules
the enforcement of which is of such vital importance to the international community as a
whole that any unilateral action or any agreement which contravenes these principles can
have no legal force.9
3
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the Inter-
national Law Commission (1953, II), S. 93.
4
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the Inter-
national Law Commission (1953, II), S. 154 f., Rn. 1 ff.
5
Z. B. Suárez, Tractatus de Legibus ac Deo Legislatore (1612); von Wolff, Ius Gentium
Methodo Scientifica Pertractatum, In Quo Ius Gentium Naturale Ab Eo, Quod Voluntarii,
Pactitii Et Consuetudinarii Est, Accurate Distinguitur (1749); de Vattel, Das Völkerrecht
oder Grundsätze des Naturrechts, angewandt auf das Verhalten und die Angelegenheiten der
Staaten und Staatsoberhäupter (1758, Übersetzung 1959).
6
Schwelb, Some Aspects of International Jus Cogens as Formulated by the International Law
Commission, 61 American Journal of International Law (1967), S. 946, 949 f.
7
Für einen Überblick siehe Verdross, Jus Dispositivum and Jus Cogens in International Law,
60 American Journal of International Law (1966), S. 55, 55.
8
Hoffmeister/Kleinlein, International Public Order, Max Planck Encyclopedia of Public
International Law (2013), Rn. 2; siehe zur Idee der Weltgemeinschaft bereits oben, Teil I.
9
Mosler, The International Society as a Legal Community, 140 Recueil des Cours (1974), S. 1, 34.
I. Verträge in Widerspruch zu zwingendem Recht in der WVK201
In der Nachkriegszeit wurde die Idee einer ordre international public auf diese
Weise gleichgesetzt mit der Idee von zwingendem Völkerecht oder ius cogens.10 Ins-
besondere naturrechtlich inspirierte Völkerrechtler wie Verdross nahmen jedoch das
Konzept des zwingenden Rechts als überpositive Werteordnung der Völkerrechts-
gemeinschaft auch mit Blick auf das Recht der Verträge auf:
These principles concerning the conditions of the validity of treaties cannot be regarded as
having been agreed upon by treaty; they must be regarded as valid independently of the will
of the contracting parties. That is the reason why the possibility of norms of general inter-
national law, norms determining the limits of freedom of the parties to conclude treaties,
cannot be denied a priori.11
Das maßgebliche Kriterium für die Qualifikation einer Regelung als zwingendes
Völkerrecht war für Verdross dabei, dass diese Norm nicht nur im Interesse einzel-
ner Staaten, sondern im höheren Interesse der ganzen Internationalen Gemeinschaft
stand und damit nicht relativ, sondern absolut war.12 Hierbei handelte es sich um
eine utopische Idee, die jedoch durch Staatenpraxis rückgekoppelt war. Allerdings
war die Existenz zwingenden Völkerrechts in der Literatur durchaus umstritten; der
deutsch-britische Völkerrechtler Georg Schwarzenberger etwa leugnete die Exis-
tenz von völkerrechtlichen Normen, von denen einzelne Staaten auch durch Vertrag
nicht abweichen dürften.13 Dieser schrieb:
International public order in the sense in which the term ordre public international is used
means jus cogens. As distinct from jus dispositivum, it means rules of international law
which, even in their mutual relations, subjects of international law are not free to vary by
consent.14
10
Hoffmeister/Kleinlein, International Public Order, Max Planck Encyclopedia of Public
International Law (2013), Rn. 9.
11
Verdross, Forbidden Treaties in International Law, 31 American Journal of International
Law (1937), S. 571, 572.
12
Verdross, Jus Dispositivum and Jus Cogens in International Law, 60 American Journal of
International Law (1966), S. 55, 58.
13
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3, Year-
book of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 52, Rn. 1; Schwarzenberger,
International Law as Applied by International Courts and Tribunals, Volume I (3. Auflage
1957), S. 426 f.
14
Schwarzenberger, International Law as Applied by International Courts and Tribunals,
Volume I (3. Auflage 1957), S. 425.
15
Schwarzenberger, International Law as Applied by International Courts and Tribunals,
Volume I (3. Auflage 1957), S. 425.
202 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
16
Schwarzenberger, International Law as Applied by International Courts and Tribunals,
Volume I (3. Auflage 1957), S. 426 f.
17
Schwarzenberger, International Law as Applied by International Courts and Tribunals,
Volume I (3. Auflage 1957), S. 427.
18
McNair, The Law of Treaties (1961), S. 213 ff.
19
McNair, The Law of Treaties (1961), S. 213 ff.
20
Kelsen, Principles of International Law (2. Auflage 1967), S. 483.
21
Tunkin, Das Völkerrecht der Gegenwart (1963), S. 97.
22
Tunkin, Das Völkerrecht der Gegenwart (1963), S. 99.
23
Verdross, Jus Dispositivum and Jus Cogens in International Law, 60 American Journal of
International Law (1966), S. 55, 58; ICJ, ICJ-Reports 1951, S. 15, 23.
24
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 154 f., Rn. 1 ff.
25
Fitzmaurice, UN Doc A/CN.4/115 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1958, II), S. 20, 26, Para 2.
I. Verträge in Widerspruch zu zwingendem Recht in der WVK203
A treaty is contrary to international law and void if its object or its execution involves the
infringement of a general rule or principle of international law having the character of jus
cogens.26
Für Waldock setzte die VN-Charta mit ihrem Gewaltverbot und der Entwicklung
eines internationalen Strafrechts die Existenz einer internationalen öffentlichen
Ordnung voraus, der zwingende Regeln zugrunde lägen.27 So ließe etwa Artikel
103 der VN-Charta zumindest eine gewisse Hierarchie völkerrechtlicher Verträge
erahnen.28 Aus diesem Grund und der Entwicklung in der Völkerrechtswissenschaft
entsprechend hatte sich Waldock entschieden, Artikel 13 in seinen Entwurf auf-
zunehmen. Dabei nannte er im zweiten Absatz der Norm einige Beispiele solcher
ius-cogens-Normen, darunter auch das Gewaltverbot. Nicht genannt wurden hin-
gegen die souveräne Gleichheit oder das Selbstbestimmungsrecht, welche später im
Verlauf der Debatte von den Ostblockstaaten und der Dritten Welt angeführt werden
sollten. Vor diesem Hintergrund wurde Waldocks Bericht in der ILC diskutiert.
Artikel 13 stellte die ILC vor eine komplett neue Herausforderung: Während sie sich
bisher mit Fragen des Parteiwillens bei Vertragsschluss und der Beeinträchtigung
von Willenserklärungen beschäftigt hatte, ging es nun um den materiellen Inhalt
eines geschlossenen Vertrages.29 Dabei begegnete die ILC zwar Schwierigkeiten,
was die Definition bzw. die Voraussetzungen des zwingenden Völkerrechts betraf;30
trotzdem war die grundsätzliche Resonanz des Verbots von Verträgen im Wider-
spruch zu zwingendem Recht innerhalb der ILC positiv, wenn auch weniger eupho-
risch als bei dem Verbot von Verträgen unter gewaltsamem Zwang.31 Die rechtliche
Existenz von zwingendem Recht wurde dabei nicht in Frage gestellt, lediglich deren
rechtstheoretische Einordnung bereitete gewisse Schwierigkeiten. Die Tauglichkeit
einer Norm zu Verträgen im Widerspruch zu zwingendem Recht im Kampf gegen
Ungleiche Verträge wurde hingegen sehr kontrovers beurteilt.
26
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3, Year-
book of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 52.
27
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3, Year-
book of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 52.
28
Vgl. Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3,
Yearbook of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 55 f., Rn. 10.
29
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.683, ILC-Yearbook (1963, I), S. 60, 64, Rn. 50.
30
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.683, ILC-Yearbook (1963, I), S. 60, 63, Rn. 40; ILC, UN Doc A/
CN.4/SR.685, ILC-Yearbook (1963, I), S. 73, 73 f., Rn. 7.
31
Siehe ILC, UN Doc A/CN.4/SR.683, ILC-Yearbook (1963, I), S. 60, 62 ff.
204 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
Waldocks Aufnahme der Idee des zwingenden Rechts in das Recht der Verträge
traf innerhalb der ILC durchweg auf Zustimmung. Insbesondere die ILC-Mitglie-
der aus der Dritten Welt sowie jene des Ostblocks setzten sich dabei intensiv mit
dem Konzept des ius cogens auseinander. So stellte Yasseen die Frage der Exis-
tenz zwingenden Völkerrechts in den rechtsphilosophischen Kontext der Debatte
darüber, ob es überhaupt eine internationale öffentliche Ordnung im Sinne Wald-
ocks geben könne, von deren Normen Staaten auch nicht mittels Vereinbarung
abweichen könnten.32 Dadurch, dass im Völkerrecht anders als im nationalen Recht
die vertragsschließenden Parteien selbst als eine Art Gesetzgeber fungierten, waren
Fragen der Rangordnung des Rechts laut Yasseen sehr komplex.33 Weder die Zahl
der Staaten, die eine Norm anerkannten, noch die Rechtsquelle, aus der heraus sie
entstanden war, schienen ihm sachdienlich zur Lösung des Hierarchieproblems.34
Einzig der materielle Inhalt einer Norm erschien Yasseen ein brauchbares Kriterium:
Voraussetzung für die Zuordnung einer Regelung zum zwingenden Völkerrecht sei
dabei, dass die fragliche Regel als für das internationale Leben notwendig empfun-
den werde und tief im internationalen Bewusstsein verwurzelt sei, welches sich in
allgemeinen multilateralen Verträgen widerspiegele.35 Dabei war das Konzept einer
internationalen öffentlichen Ordnung für Yasseen nicht notwendigerweise natur-
rechtlich fundiert, sondern konnte auch von der Gesamtheit des positiven Rechts
abgeleitet werden.36 Radhabinod Pal aus Indien unterstütze Yasseens Position und
stellte dabei die enge Verbindung zwischen dem Konzept der Weltgemeinschaft und
der Idee des zwingenden Rechts heraus:
The whole perspective of United Nations policy could be characterized as a value-orien-
tated jurisprudence, directed towards the emergence of a public order in the internatio-
nal community under the rule of law. The Charter sought to establish a process by which
the world community could regulate the international abuse of naked force and promote a
world public order embodying values of human dignity in a society dedicated to freedom
and justice.37
Ähnlich wie die ILC-Mitglieder aus den ehemaligen Kolonien betonten Völker-
rechtler des Ostens die positive Fundierung des zwingenden Rechts und lehnten
damit naturrechtliche Konzepte wie das von Verdross ab. Für Tunkin musste das
Konzept der internationalen öffentlichen Ordnung naturgemäß auf einer historisch-
materialistischen Grundlage beruhen:
History showed, however, that in the long run the laws governing the development of
human society were decisive, and that once rules of international law ceased to correspond
to those laws and to meet the demands of life, they sooner or later became a dead letter and
disappeared. But the laws of development were certainly not legal in character, though they
32
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.683, ILC-Yearbook (1963, I), S. 60, 63, Rn. 37.
33
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.683, ILC-Yearbook (1963, I), S. 60, 63, Rn. 39.
34
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.683, ILC-Yearbook (1963, I), S. 60, 63, Rn. 39.
35
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.683, ILC-Yearbook (1963, I), S. 60, Rn. 40, 43.
36
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.683, ILC-Yearbook (1963, I), S. 60, 63, Rn. 41.
37
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.683, ILC-Yearbook (1963, I), S. 60, 65, Rn. 64.
I. Verträge in Widerspruch zu zwingendem Recht in der WVK205
did ultimately condition the creation of rules of law by States through agreement, which he
held to include not only treaties, but also custom.38
Normen des zwingenden Völkerrechts beruhten dabei für Tunkin auf einer ebensol-
chen Vereinbarung, welche dem ius cogens seinen spezifischen Charakter verlieh,
so Tunkin.39 Bartoš sah die ordre international public als Superstruktur der inter-
nationalen Gemeinschaft im Sinne der marxistischen Rechtslehre.40 Dabei griff
er die völkerrechtswissenschaftliche Debatte um die Bindung neuer Staaten und
das Völkerrecht im Allgemeinen und damit insbesondere an das Allgemeine Völ-
kerrecht auf.41 Wie schon in Lauterpachts Entwürfen zum Recht der Verträge klar
geworden war, handelte es sich bei Normen des zwingenden Rechts nämlich zumin-
dest auch um Regelungen des Allgemeinen Völkerrechts.42 Bartoš verschränkte die
Debatte um die Bindung neuer Staaten an Allgemeines Völkerrecht daher mit jener
der Unwirksamkeit von Verträgen im Widerspruch zu zwingendem Völkerrecht. Er
wandte sich daher gegen Kelsen, welcher meinte, dass die Prinzipien der VN-Charta
nur für solche Staaten verbindlich seien, die die Charta auch akzeptiert hätten; viel-
mehr sei er mit Oppenheim der Ansicht, dass ein Staat die Grundprinzipien der
internationalen Gemeinschaft anerkennen müsse, um Mitglied derselben werden
zu können.43 Diese positivistische Ansicht übernahm also die Fiktion einer Willens-
erklärung durch die neuen Staaten, die von vielen Autoren aus der Dritten Welt, aber
auch von der sowjetischen Völkerrechtswissenschaft scharf kritisiert worden war.44
De Luna wendete sich gegen solche positivistischen Ansätze und nahm dabei
einen soziologisch inspirierten Standpunkt ein: Für ihn mussten Normen in ihrem
gesellschaftlichen Zusammenhang betrachtet werden.45 Der Positivismus konnte
für ihn weder die Existenz einer internationalen öffentlichen Ordnung noch von
zwingendem Recht erklären; im modernen Völkerrecht gehe es aber um die Koor-
dination verschiedener ideologischer Systeme und um deren friedliche Koexistenz,
ein gesellschaftlicher Zweck, dem das zwingende Völkerrecht diene, indem es den
autonomen Willen der Staaten beschränke.46 De Lunas Argumentation gliedert sich
insofern in die soziologisch inspirierten Schriften westlicher Völkerrechtler ein, wie
38
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.684, ILC-Yearbook (1963, I), S. 67, 69, Rn. 24.
39
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.684, ILC-Yearbook (1963, I), S. 67, 69, Rn. 26.
40
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.685, ILC-Yearbook (1963, I), S. 73, 76, Rn. 33. Zum Sozialistsi-
chen Völkerrecht siehe schon oben, Teil I.
41
Siehe hierzu oben, Teil I.
42
Siehe oben.
43
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.683, ILC-Yearbook (1963, I), S. 60, 66 f., Rn. 83; Bartoš zitierte
Kelsen, The Law of the United Nations: A Critical Analysis of Its Fundamental Problems
(1950), S. 106 ff., siehe aber S. 107; Oppenheim, International Law, Band 1 (8. Auflage
1955), S. 928 f.
44
Siehe oben Teil I.
45
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.684, ILC-Yearbook (1963, I), S. 67, 71, Rn. 58 ff.
46
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.684, ILC-Yearbook (1963, I), S. 67, 72, Rn. 62.
206 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
47
Siehe auch hierzu oben, Teil I.
48
Siehe auch hierzu oben, Teil I.
49
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.684, ILC-Yearbook (1963, I), S. 67, 68, Rn. 6.
50
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.684, ILC-Yearbook (1963, I), S. 67, 69, Rn. 28.
51
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.684, ILC-Yearbook (1963, I), S. 67, 69, Rn. 28.
52
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.684, ILC-Yearbook (1963, I), S. 67, 69, Rn. 28.
53
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.684, ILC-Yearbook (1963, I), S. 67, 70, Rn. 33.
I. Verträge in Widerspruch zu zwingendem Recht in der WVK207
forderten.54 Jiménez de Aréchaga hielt die Debatte Ungleicher Verträge unter Artikel
13 für völlig verfehlt. Er meinte, eine Ächtung Ungleicher Verträge im Rahmen von
Artikel 13 würde Fälle eines unvollkommenen Willens betreffen, obwohl es hier um
die Frage des Inhalts von Verträgen ohne Willensmängel gehen sollte.55 Das Völker-
recht kenne keine ius-cogens-Norm, welche ungleiche Verpflichtungen in Verträgen
verbiete; vielmehr sei umgekehrt dem Willen der Parteien Vorrang einzuräumen.56
Das aus dem römischen Recht stammende Konzept laesio enormis, das übermäßige
(Selbst-)Schädigung verboten hatte und in Frankreich als lésion bekannt war, sei
wegen seiner Missbrauchsanfälligkeit in Verruf geraten.57 Entsprechend sei auch
auf völkerrechtlicher Ebene kein Raum für diese rechtliche Konstruktion:
Contemporary international law could not accept the concept of lésion, since its acceptance
might, in practice, involve contractual incapacity for certain States, instead of absolute
equality prevailing today, and might affect the sovereignty and independence of States,
which manifested itself, among other forms, in the capacity to enter into any treaty.58
Für Jiménez de Aréchaga war Tunkins rein materiell verstandenes Konzept Unglei-
cher Verträge damit nicht nur kein Teil des zwingenden Völkerrechts, sondern stand
sogar im Widerspruch zur souveränen Gleichheit der Staaten, welche auch das Recht
beinhalte, Verträge jedweden Inhalts abzuschließen. So sah Jiménez de Aréchaga
die Gefahr, dass beispielsweise in Lateinamerika die über ein Jahrhundert alten
Grenzverträge angegriffen werden könnten und man damit gleichsam die Büchse
der Pandora öffnen würde.59 Während Pal also einen gemischt formell-materiellen
Ansatz des Konzepts Ungleicher Verträge für möglich hielt, schloss Jiménez de Aré-
chaga in letzter Konsequenz jedes materielle Element kategorisch aus. Die anderen
ILC-Mitglieder aus der Dritten Welt stellten gar keine Verbindung zwischen Artikel
13 und dem Konzept Ungleicher Verträge her. Damit fand sich in der ILC kein ein-
ziger Völkerrechtler aus den neuen Staaten, der den Kampf gegen Ungleiche Ver-
träge zumindest auch im Artikel 13 auszutragen willens war. Offenbar sahen sie die
Regelung zu Verträgen im Widerspruch zu zwingendem Recht nicht als den rechten
Schauplatz für den Kampf gegen Ungleiche Verträge an.60 Vielmehr scheuten sie
eine so weitgehende, materiell-rechtliche Vertragsinhaltskontrolle. Eine utopische
Idee wie jene des zwingenden Völkerrechts konnte anfällig für imperialistische oder
totalitäre Interpretationen und Ausgestaltungen sein. Im Übrigen war das Konzept
der Ungleichen Verträge wenig ausgearbeitet; Verträge allein auf Grund ihrer inhalt-
lichen Unausgeglichenheit die Wirksamkeit abzusprechen stand im Kontrast zu
54
Siehe oben, Kapitel 5.
55
Vgl. ILC, UN Doc A/CN.4/SR.684, ILC-Yearbook (1963, I), S. 67, 70, Rn. 45.
56
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.684, ILC-Yearbook (1963, I), S. 67, 70, Rn. 44.
57
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.684, ILC-Yearbook (1963, I), S. 67, 70, Rn. 45.
58
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.684, ILC-Yearbook (1963, I), S. 67, 70, Rn. 45.
59
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.684, ILC-Yearbook (1963, I), S. 67, 71, Rn. 47. Siehe hierzu
auch sogleich beim Prizip rebus sic stantibus sowie in Teil III.
60
Siehe Kapitel 5, Kapitel 6 und Kapitel 8.
208 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
Article 13: Treaties conflicting with a peremptory norm of general international law (jus
cogens)
A Treaty is void if it conflicts with a peremptory norm of general international law from
which no derogation is permitted and which can be modified only by a subsequent norm of
general international law having the same character.63
In dieser Form wurde Artikel 13 ohne weitere Diskussion des Problems der Unglei-
chen Verträge einstimmig angenommen.64 Nach einer Neunummerierung wurde diese
Regelung als Artikel 37 geführt.65 Im Kommentar zu Artikel 37 war dabei zu lesen,
dass einige Mitglieder der ILC auch das Selbstbestimmungsrecht zum Bestand des
zwingenden Rechts zählen würden.66 Tatsächlich war das Selbstbestimmungsrecht
jedoch in der dargestellten Debatte nie zur Sprache gekommen. Allerdings hatte
Tunkin seine Aussage, dass Ungleiche Verträge gegen zwingendes Recht verstoßen
würden, in der Debatte um das Prinzip rebus sic stantibus folgendermaßen abgeändert:
[A] treaty imposed on a former colony which had since become an independent State would
certainly be void for illegality, because it would violate such rules of jus cogens as the prin-
ciple of self-determination and the principle of the sovereignty of States. Unequal treaties
had also been mentioned, but they were covered by other articles of the draft.67
61
Siehe hierzu schon Kapitel 5 und Teil I.
62
Siehe ILC, UN Doc A/CN.4/SR.684, ILC-Yearbook (1963, I), S. 67, 71, Rn. 53, S. 72,
Rn. 65, 72; ILC, UN Doc A/CN.4/SR.686, ILC-Yearbook (1963, I), S. 73, 78, Rn. 48.
63
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.717, ILC-Yearbook (1963, I), S. 290, 291, Rn. 20. Vgl. zuvor
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 213, Rn. 53.
64
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.717, ILC-Yearbook (1963, I), S. 290, 292, Rn. 39. Vgl. zuvor
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 215, Rn. 89.
65
ILC, UN Doc A/CN.4/163, ILC-Yearbook (1963, II), S. 187, 198.
66
ILC, UN Doc A/CN.4/163, ILC-Yearbook (1963, II), S. 187, 199, Rn. 3.
67
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.696, ILC-Yearbook (1963, I), S. 150, 155, Rn. 56.
I. Verträge in Widerspruch zu zwingendem Recht in der WVK209
Hier argumentierte Tunkin also nicht mehr, dass das Verbot materiell Ungleicher Verträge
selbst eine Norm des zwingenden Rechts sei, sondern dass das Selbstbestimmungsrecht
Ungleiche Verträge verbiete – ein aus der Diskussion zu unter gewaltsamem Zwang
entstandenen Verträgen bekanntes Argument – und dass das Selbstbestimmungsrecht
Teil des zwingenden Völkerrechts sei. Gleichzeitig wird in Tunkins Statement auch die
Unschärfe des Begriffs der Ungleichen Verträge nochmals deutlich: Tunkins Verweis,
nach dem Ungleiche Verträge gegen andere Normen als jene zum zwingenden Völker-
recht verstoßen würden, kann dabei nur so zu verstehen sein, dass das Verbot gewaltsa-
men Zwanges der Hauptanwendungsbereich Ungleicher Verträge darstelle, obwohl es
hierbei primär nicht um Ungleichheiten im materiellen Vertragsinhalt, sondern wiede-
rum um die Situation bei Vertragsschluss ging. Tunkin selbst distanzierte sich hier also
von seinem materiell verstandenen Begriff Ungleicher Verträge und schwenkte auf die
prozedurale Komponente des Konzepts Ungleicher Verträge ein.
Während sich die Staatenpraxis bis dato kaum mit dem Konzept zwingenden Rechts
auseinandergesetzt hatte, änderte sich dies mit der Veröffentlichung von Artikel 37
des ILC-Entwurfs zum Recht der Verträge schlagartig. Hier machte die ILC ihrem
Ruf als Teil eines aus Artikel 13 Absatz 1 a) VN-Charta hervorgegangenen Rechts-
setzungsapparats68 alle Ehre. Die meisten Regierungen nahmen Artikel 37 des Ent-
wurfes sehr positiv auf und nur wenige kritisierten seine mangelnde Präzision.69
Unter den Stellungnahmen der Regierungen zu Artikel 37 fällt insbesondere jene
der Ukraine ins Auge, da sie sich ausgiebig mit der Frage Ungleicher Verträge im
Zusammenhang mit zwingendem Völkerrecht auseinandersetzte. Der ukrainische
Delegierte in der Generalversammlung sah auch Verträge von Artikel 37 erfasst,
welche gegen die Declaration on the granting of independence to colonial count-
ries and peoples der Generalversammlung verstießen.70 Damit zählte er wie zuvor
Tunkin offenbar das in der Erklärung genannte Selbstbestimmungsrecht oder
jedenfalls die Ächtung des Kolonialismus zum zwingenden Recht. Für die Ukraine
waren Ungleiche Verträge ein schwieriges Problem, da offenkundig ungerechte Ver-
träge, die dem einen Staat alle Vorteile gewährten und dem anderen keine, selten
geworden seien.71 Dagegen würden die neuen Staaten akut Gefahr laufen, Verträge
68
Siehe hierzu Jennings, Recent Developments in the International Law Commission:
Its Relation to the Sources of International Law, 13 International and Comparative Law
Quarterly (1964), S. 385, 385 ff.
69
Schwelb, Some Aspects of International Jus Cogens as Formulated by the International
Law Commission, 61 American Journal of International Law (1967), S. 946, 960.
70
GA, UN Doc A/C.6/SR.784, GAOR (1967), Rn. 8.
71
GA, UN Doc A/C.6/SR.784, GAOR (1967), Rn. 9.
210 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
72
GA, UN Doc A/C.6/SR.784, GAOR (1967), Rn. 9.
73
GA, UN Doc A/C.6/SR.784, GAOR (1967), Rn. 10 ff.
74
GA, UN Doc A/C.6/SR.784, GAOR (1967), Rn. 13.
75
GA, UN Doc A/C.6/SR.787, GAOR (1967), Rn. 15, 27; UN Doc A/CN.4/182 and Corr.
1&2 and Add. 1, 2/Rev. 1&3, ILC-Yearbook (1966, II), S. 285, 286.
76
Siehe GA, UN Doc A/C.6/SR.789, GAOR (1967), Rn. 9.
77
Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook (1966, II), S. 1 ff.
78
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.890, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 307, 310, Rn. 63; ILC, UN
Doc A/CN.4/SR.893, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 327, 331; ILC, UN Doc A/6309/Rev. 1,
ILC-Yearbook (1966, II), S. 169, 248, Rn. 3.
79
Siehe The Concept of Jus Cogens in International Law: Papers and Proceedings, Geneva
(1967) (Report of a Conference organized by the Carnegie Endowment for International
Peace, Lagonissi (Greece), April 1966).
80
The Concept of Jus Cogens in International Law: Papers and Proceedings, Geneva (1967)
(Report of a Conference organized by the Carnegie Endowment for International Peace,
Lagonissi (Greece), April 1966), S. 7.
I. Verträge in Widerspruch zu zwingendem Recht in der WVK211
The smaller States had an even greater interest than the larger ones in the adoption of that
rule of international public order which placed checks upon the freedom to conclude trea-
ties and safeguarded small States against the dangers which might be exposed by ‘unequal
and inequitable’ treaties. The notion of jus cogens was not merely theoretical; it had a very
real practical value.85
Ähnlich stellte der Delegierte aus Mali heraus, dass das zwingende Völkerrecht die
Staaten vor ihrer eigenen Schwäche gegenüber der überlegenen Macht zukünftiger
Vertragspartner schütze und so gegen Ungleichheiten in der Verhandlungsposition
wirke und damit bedeutsam für die Internationale Gemeinschaft als Ganze sei.86
81
The Concept of Jus Cogens in International Law: Papers and Proceedings, Geneva (1967)
(Report of a Conference organized by the Carnegie Endowment for International Peace,
Lagonissi (Greece), April 1966), S. 10, 13.
82
The Concept of Jus Cogens in International Law: Papers and Proceedings, Geneva (1967)
(Report of a Conference organized by the Carnegie Endowment for International Peace,
Lagonissi (Greece), April 1966), S. 13 f.
83
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.52, Meeting Records
(1968), S. 293, 294, Rn. 3; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/
SR.53, Meeting Records (1968), S. 299, 300, Rn. 9, S. 301, Rn. 16, S. 306, Rn. 69.
84
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.54, Meeting Records
(1968), S. 306, 307, Rn. 9; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/
SR.56, Meeting Records (1968), S. 321, 322, Rn. 6.
85
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.53, Meeting Records
(1968), S. 299, 305, Rn. 66.
86
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.56, Meeting Records
(1968), S. 321, 327, Rn. 72.
212 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
Hier bediente sich also eine Reihe von Staaten der Dritten Welt der im Kontext
zwingenden Rechts insbesondere von Tunkin entwickelten Argumente gegen mate-
riell Ungleiche Verträge. Gerade die Äußerungen des Vertreters aus Mali bestäti-
gen jedoch die Befürchtung mancher Völkerrechtler aus den neuen Staaten, dass
ehemalige Kolonien im Namen des „Schutzes des Schwachen vor seiner eigenen
Schwäche“ entmündigt werden könnten.
Für viele andere Delegationen blieb Artikel 50 insgesamt zu vage,87 wobei das
Prinzip des zwingenden Völkerrechts im Grunde durchaus von der Konferenz ange-
nommen wurde.88 Das Drafting Committee bemühte sich daher um eine Definition
des zwingenden Rechts und legte folgende Neufassung von Artikel 50 vor:
A treaty is void if, at the time of its conclusion, it conflicts with a peremptory norm of
general international law. For the purpose of the present Convention, a peremptory norm of
general international law is a norm accepted and recognized by the international community
of States as a whole as a norm from which no derogation is permitted and which can only
be modified by a subsequent norm of general international law having the same character.89
87
Aus diesen Grund drohte beispielsweise die Schweiz, Artikel 50 ihre Zustimmung zu
verweigern, UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.57, Meeting
Records (1968), S. 328, 334, Rn. 93.
88
So auch das Fazit des Vorsitzenden Elias am Ende der Debatte, UN Conference on the Law
of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.57, Meeting Records (1968), S. 328, 334, Rn. 96.
89
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.80, Meeting Records
(1968), S. 471, 471, Rn. 2.
90
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.80, Meeting Records
(1968), S. 471, 472, Rn. 16. Die Gegenstimmen stammten von Monaco, der Schweiz und
der Türkei, die Enthaltungen von Libyen, Neuseeland, Norwegen, Senegal, Südafrika, UK,
Australien, Österreich, Belgien, Kanada, Chile, Dänemark, BRD, Frankreich, Gabun, Irland,
Italien und Japan.
91
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.19, Meeting Records
(1969), S. 92, 94, Rn. 9.
92
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.19, Meeting Records
(1969), S. 92, 94, Rn. 12.
93
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.19, Meeting Records
(1969), S. 92, 95, Rn. 20.
I. Verträge in Widerspruch zu zwingendem Recht in der WVK213
alle Staaten als Mitglieder der Internationalen Gemeinschaft einer höheren inter-
nationalen Ordnung unterworfen seien, könne man die Existenz zwingenden Rechts
unmöglich leugnen.94 Die gegen Artikel 50 vorgebrachten Argumente bezeichnete
er als haltlos; sie seien lediglich Ausdruck der politischen Interessen einiger Staaten,
die ihre unrechtmäßig erworbenen Privilegien aufrechterhalten wollten.95 Der
Delegierte aus Polen sah Artikel 50 als Mittel, durch welches sich die neuen Staaten
von Überbleibseln der Kolonialherrschaft befreien könnten.96 Dabei hätten sich die
bestehenden Normen des zwingenden Rechts, darunter das Selbstbestimmungs-
recht, in der Vertragsrechtskonferenz sowie in der Konferenz von Lagonissi klar
herauskristallisiert.97 Kamerun forderte, dass im Rahmen der materiellen Univer-
salisierung des Völkerrechts auch die neuen Staaten mitbestimmen sollten, welche
Regeln zum Bestand des zwingenden Rechts zu zählen seien, um ein neues Völker-
recht entsprechend der neuen Situation zu begründen und die Fortsetzung einer ein-
seitigen Rechtssetzung durch „zivilisierte Staaten“ zu verhindern.98 Es handelt sich
damit um die Gegenposition zu jener von Bartoš, der die neuen Staaten mit Eintritt
in die Völkerrechtsgemeinschaft an das geltende ius cogens gebunden sah; statt-
dessen sei für eine entsprechende Bindungswirkung laut dem Vertreter Kameruns
eine Mitwirkung der neuen Staaten erforderlich. Hier zeigte sich erneut, dass gerade
die neuen Staaten das zwingende Völkerrecht als Werteordnung der internationalen
Gemeinschaft in ihrem Prozess der materiellen Universalisierung sahen.
Ohne letztlich eine für alle Seiten befriedigende Definition des zwingenden
Völkerrechts gefunden zu haben, verabschiedete die Konferenz Artikel 50 mit 87
Ja-Stimmen, acht Nein-Stimmen und 12 Enthaltungen.99 Das Verbot von Verträ-
gen im Widerspruch zu ius cogens wurde letztlich als Artikel 53 Teil der Wiener
Vertragsrechtskonvention.100
94
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.19, Meeting Records
(1969), S. 92, 96, Rn. 31.
95
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.19, Meeting Records
(1969), S. 92, 97, Rn. 40.
96
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.19, Meeting Records
(1969), S. 92, 99, Rn. 68.
97
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.19, Meeting Records
(1969), S. 92, 99, Rn. 71.
98
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.19, Meeting Records
(1969), S. 92, 98, Rn. 59.
99
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.20, Meeting Records
(1969), S. 100, 106 f., Rn. 65. Mit nein stimmten die Schweiz, die Türkei, Australien,
Belgien, Frankreich, Liechtenstein, Luxemburg und Marokko. Der Stimme enthielten sich
Neuseeland, Norwegen, Portugal, Senegal, Südafrika, Tunesien, UK, Gabun, Irland, Japan,
Malaysia und Malta.
100
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.36, Meeting Records
(1969), S. 202, 203, Rn. 12; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/27,
Official Records (1968/1969), S. 289, 296.
214 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
Die Idee des zwingenden Völkerrechts wurde mit Artikel 53 WVK zum ersten
Mal völkervertragsrechtlich verankert.101 Trotz der wenig scharfen Konturen des
Begriffs des ius cogens wurde Artikel 53 WVK als progressive Entwicklung gedeu-
tet, welche die unbeschränkte Macht der Staaten zum Vertragsschluss erstmalig
begrenze.102 Ein Beobachter prognostizierte:
It is a landmark that may shift the whole perspective of the theory of international law,
and determine its future course on the basis of the same social forces that ushered in the
concept of jus cogens into the modern law of treaties. However, as shown by the terms of
the Convention, recognition of jus cogens by the international community of States does
not mean at all the existence of superior norms independent of the will of States, contrary
to the hypothesis of publicists represented by Verdross. That certain rules are normatively
superior to others is brought about only by the concordance of wills of States themselves.103
Dieses positivistische Konzept des zwingenden Völkerrechts wurde auch in der sow-
jetischen Völkerrechtswissenschaft geteilt, wobei Tunkin Artikel 53 WVK sinnge-
mäß auch auf Gewohnheitsrecht im Widerspruch zu ius cogens anwenden wollte.104
Auch der IGH machte sich das Konzept des zwingenden Völkerrechts in seinem
Barcelona Traction-Fall zu eigen:
Solche Rechtsnormen ergaben sich für den IGH „from the outlawing of acts of
aggression, and of genocide, as also from the principles and rules concerning the
basic rights of the human person, including protection from slavery and racial
discrimination“.106 Seit diesem Urteil setzte der IGH die Existenz zwingenden Völ-
kerrechts in einer Reihe von Fällen voraus.107 Der Katalog von ius cogens-Normen
101
Magallona, The Concept of Jus Cogens in the Vienna Convention on the Law of Treaties,
51 Philippine Law Journal (1976), S. 521, 523.
102
Magallona, The Concept of Jus Cogens in the Vienna Convention on the Law of Treaties,
51 Philippine Law Journal (1976), S. 521, 541.
103
Magallona, The Concept of Jus Cogens in the Vienna Convention on the Law of Treaties,
51 Philippine Law Journal (1976), S. 521, 541. Magallona zitiert Verdross, Forbidden Trea-
ties in International Law, 31 American Journal of International Law (1937), S. 571, 572.
104
Tunkin, Jus Cogens in Contemporary International Law, 3 Toledo Law Review (1971),
S. 107, 115.
105
ICJ, ICJ-Reports 1970, S. 3, 32, Rn. 33.
106
ICJ, ICJ-Reports 1970, S. 3, 32, Rn. 34.
107
Frowein, Ius Cogens, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2013), Rn. 4;
ICJ, ICJ- Reports 1996, S. 226, 258, Rn. 83.
II. Das Prinzip rebus sic stantibus in der WVK215
ist dabei nach wie vor und gerade auch mit Blick auf das Selbstbestimmungs-
recht der Völker umstritten.108 Dabei ist die Idee zwingenden Rechts im Völker-
recht weiterhin eng mit dem Axiom der Internationalen Gemeinschaft verknüpft,
wie insbesondere die jüngere Konstitutionalisierungsdebatte im Völkerrecht klar
herausstellt.109 Während die Idee des ius cogens also mit der WVK kodifiziert
wurde, spielte die fragliche Norm im Zusammenhang mit Ungleichen Verträgen
im Ergebnis keine große Rolle. Dies kann als vertane Chance der Völkerrechtler
in der Dritten Welt bewertet werden, die aus Angst vor Neokolonialismus lange
Zeit nicht bereit waren, ihre Kräfte mit denen der sowjetischen Völkerrechtler zu
bündeln. Gleichzeitig ist zu bemerken, dass sich auch die sowjetischen Vorstöße
im Kampf gegen Ungleiche Verträge unter Stärkung des Selbstbestimmungsrechts
nicht durchsetzen konnten.
Schließlich soll dargestellt werden, wie der Kampf der Völkerrechtler in den neuen
Staaten gegen Ungleiche Verträge im Zusammenhang mit der Norm zu dem Prinzip
rebus sic stantibus in der WVK verlief. Nach ersten Berichten in der ILC (1.) wird
die Debatte über Waldocks Artikel 22 in der ILC (2.) abgebildet. Dann wird gezeigt,
wie dieser als Artikel 37 von der Generalversammlung (3.) aufgenommen und dem-
entsprechend von Waldock abgeändert und erneut in der ILC diskutiert (4.) wurde.
Nachdem gezeigt wurde, wie diese Regelung als Artikel 50 von der Wiener Ver-
tragsrechtskonferenz diskutiert und als Artikel 92 WVK verabschiedet wurde (5.),
ist auf Resonanz und Rezeption der Norm einzugehen (6.).
Das Prinzip rebus sic stantibus tauchte zum ersten Mal in Fitzmaurices zweitem
Bericht auf.110 Nach Artikel 17 II B xiv konnte eine Vertragspartei sich auf die Sus-
pendierung eines Vertrages berufen, sofern sich die Umstände essentiell geändert
hatten.111 Von dieser Vorschrift sollten nur zeitlich unbegrenzt geltende Verträge
erfasst werden, sofern sich die von den Parteien als wesentlich erachteten Umstände
bei Vertragsschluss auf fundamentale und unvorhergesehene Weise gewandelt
hatten; daneben war eine (schieds-)gerichtliche Feststellung der Suspendierung
108
Vgl. beispielsweise ICJ, ICJ-Reports 2004, S. 136, 199, Rn. 156 f.
109
Siehe Knauff, Konstitutionalisierung im inner- und überstaatlichen Recht – Konvergenz
oder Divergenz?, 68 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (2008),
S. 453, 466.
110
Fitzmaurice, UN Doc A/CN.4/107 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1957, II), S. 16, 30 ff.
111
Fitzmaurice, UN Doc A/CN.4/107 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1957, II), S. 16, 30.
216 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
erforderlich.112 Erforderlich war laut Fitzmaurice ein objektiver Wandel der fakti-
schen Situation, während eine Änderung der Motive einer Partei für sich genommen
nicht genüge.113
Waldock nahm das Prinzip rebus sic stantibus in seinem zweiten Bericht
ebenfalls auf, wobei er jedoch zum Teil von Fitzmaurice’ Konzeption abwich:
Waldock stellte zunächst fest, dass so gut wie alle Völkerrechtler der Gegen-
wart die Geltung des Prinzips rebus sic stantibus anerkennen würden.114 Tatsäch-
lich war das Prinzip jedoch stark umstritten.115 In der Völkerrechtswissenschaft
bestand jahrhundertelang keine Einigkeit über dieses Thema, und zwar weder in
frühen naturrechtlichen noch in späteren positivistischen Konzeptionen.116 Auch
während der Völkerbundära blieb das Konzept trotz Artikel 19 Völkerbundsat-
zung umstritten.117 Nach dem Zweiten Weltkrieg erkannte eine Reihe von west-
lichen Völkerrechtlern wie McNair das Prinzip rebus sic stantibus als implizite
Vertragsvereinbarung an.118 In solchen Konzeptionen wurde davon ausgegangen,
dass eine clausula rebus sic stantibus in jedem Vertrag impliziert sei; es han-
delte sich dabei also um einen subjektiven Ansatz.119 Andere kritisierten mit Jenks
hingegen das Fehlen objektiver Kriterien für die Bestimmung des Anwendungs-
bereiches des Prinzips rebus sic stantibus; zwar könne es im nationalen Recht
Englands, Frankreichs und der UdSSR nachgewiesen werden, jedoch fehle es an
umfassenden Studien über seine Geltung als Allgemeines Rechtsprinzip.120 Für
Jenks kam die Ablehnung des Prinzips einer Einladung zum Rechtsbruch gleich,
während seine Anerkennung umgekehrt die Bindungskraft von Verträgen in Frage
stellte.121 Er befand:
112
Artikel 21 1, Fitzmaurice, UN Doc A/CN.4/107 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1957, II),
S. 16, 32.
113
Artikel 22 2 I, ii, iv, Fitzmaurice, UN Doc A/CN.4/107 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1957,
II), S. 16, 32 f.
114
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3, Year-
book of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 80, Rn. 1.
115
Lissitzyn, Treaties and Changed Circumstances (Rebus Sic Stantibus), 61 American
Journal of International Law 81967), S. 895, 995; Heintschel von Heinegg, Treaties, Fun-
damental Change of Circumstances, Max Planck Encyclopedia of Public International Law
(2006), Rn. 4, 31 ff.
116
Siehe beispielsweise Gentilis, De Iure Belli Libri Tres (1612, Nachdruck 1931); Grotius,
De Jure Belli ac Pacis Libri Tres, in quibus Jus Naturae et Gentium, item Juris Publici Prae-
cipua Explicantur (1651); Triepel, Völkerrecht und Landesrecht (1899).
117
Heintschel von Heinegg, Treaties, Fundamental Change of Circumstances, Max Planck
Encyclopedia of Public International Law (2006), Rn. 23.
118
McNair, The Law of Treaties (1961), S. 436 ff.
119
Heintschel von Heinegg, Treaties, Fundamental Change of Circumstances, Max Planck
Encyclopedia of Public International Law (2006), Rn. 27.
120
Jenks, The Common Law of Mankind (1958), S. 150 f.
121
Jenks, The Common Law of Mankind (1958), S. 150.
II. Das Prinzip rebus sic stantibus in der WVK217
There is no more crucial problem in international law at any stage of its development. Once
treaty obligations can be lightly set aside good faith is corroded, mutual confidence is fatally
impaired, and the whole basis of the civilized international relations is undermined.122
Jenks führte auch in Bezug auf das Prinzip rebus sic stantibus die Gefahr für die
Stabilität des Rechts der Verträge an; allerdings stellte er einer solchen Erosion
der Grundlage der Internationalen Beziehungen andererseits auch Gerechtig-
keitserwägungen gegenüber. Diese Problemgemengelage erkannte auch Waldock
an.123 Sie sollte die Grundlage für die Berufung von Völkerrechtlern in der Dritten
Welt auf das Prinzip rebus sic stantibus im Kampf gegen Ungleiche Verträge
werden.
Obwohl Waldock versuchte, das Prinzip rebus sic stantibus auf ein völkerrecht-
wissenschaftlich fundiertes Fundament zu stellen, musste er doch auch eingestehen,
dass die einschlägige Staatenpraxis zu wünschen übrig lasse; der Ständige Inter-
nationale Gerichtshof (StIGH) etwa hatte in seinem Free Zones of Upper Savoy
and District of Gex-Fall zu der gewohnheitsrechtlichen Geltung und Reichweite des
Prinzips nicht abschließend Stellung bezogen.124 In dem Fall hatte sich Frankreich
auf das Prinzip rebus sic stantibus berufen: Durch den Vertrag von Turin hatten die
Schweiz und Sardinien im Jahr 1816 ihre politischen Grenzen festgesetzt und für das
sardonische Gebiet St. Gindolph Beschränkungen für das Erheben von Zollstrafen
festgelegt. Sardinien trat St. Gindolph 1860 an Frankreich ab, dass die Beschrän-
kungen aus dem Vertrag von Turin zunächst einhielt, sie im Jahr 1919 mit dem Ver-
sailler Vertrag jedoch abschaffen wollte, wogegen sich die Schweiz verweigerte. Der
StIGH gab der Schweiz Recht, da Frankreich die faktischen Voraussetzungen des
Prinzips rebus sic stantibus nicht hinreichend darlegen konnte. In diesem Fall hatte
der StIGH festgestellt, dass ein Wandel der Umstände allenfalls dann beachtlich
sei, wenn er in der Vorstellung der Vertragsparteien bei Vertragsabschluss wesent-
lich gewesen wäre, womit der Vertragsabschluss unter der Einwirkung von Zwang
nicht per se unter die clausula fiel.125 Unter den von Waldock genannten Beispie-
len, in denen sich Staaten auf das Prinzip rebus sic stantibus berufen hatten, fand
sich auch der Denunciation of the Sino-Belgian Treaty of 1865-Fall des StIGH: hier
hatte sich China auf die gewandelten Umstände gestützt, um einen 61 Jahre alten
Vertrag mit Belgien aufzukündigen, was China auch mit Blick auf Artikel 19 Völ-
kerbundsatzung begründete, während Belgien die unilaterale Vertragsbeendigung
122
Jenks, The Common Law of Mankind (1958), S. 151 f.
123
Vgl. Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3,
Yearbook of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 82, Rn. 6.
124
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3, Year-
book of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 80, Rn. 1 f.; PCIJ, PCIJ Series
A No. 22, S. 4 ff.; PCIJ, PCIJ Series A/B No. 46, S. 96, 156 ff.
125
Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74
Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 368; PCIJ, PCIJ Series A/B No. 46,
S. 96, 156 ff.
218 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
verurteilte.126 Der Sachverhalt war zeitweilig dem StIGH unterbreitet, aber schließ-
lich einvernehmlich gelöst worden.127 Insbesondere die Gründung der Volksrepub-
lik China war hier als gewandelter Umstand angesehen worden, eine Position, für
welche Chinas Regierung jedoch abgesehen von der Sowjetunion keine Unterstüt-
zung erhalten hatte.128 Chinesische Autoren argumentierten trotzdem für ein Recht,
nach dem Ungleiche Verträge unter Berufung auf die clausula rebus sic stantibus
gekündigt oder nachverhandelt werden könnten.129 Weiter führte Waldock den Streit
um die fortwährende Gültigkeit des Anglo-Ägyptischen Freundschafts- und Bei-
standsvertrages von 1936 an, den Ägypten unter sinngemäßer Berufung auf die
geänderten Umstände im Jahr 1947 dem Sicherheitsrat vorgelegt hatte; zwar wurde
keine Resolution beschlossen, doch äußerten einige Staaten in diesem Zusammen-
hang Bedenken bezüglich der unilateralen Berufung Ägyptens auf das Prinzip rebus
sic stantibus, ohne dass dessen Vorliegen gerichtlich festgestellt worden wäre.130
Das Vorgehen Ägyptens wurde in der Völkerrechtswissenschaft als Staatenpraxis
dafür gewertet, dass Ungleiche Verträge nichtig seien,131 obschon das Prinzip rebus
sic stantibus von Ägypten in diesem Konflikt nie explizit in Anspruch genommen
worden war.132 Außerhalb des Ostblocks ließ sich jedoch kein Staat im Sicherheitsrat
von dem ägyptischen Vorbringen überzeugen.133 Letztlich entschied sich Waldock
aber, die Doktrin rebus sic stantibus mit Artikel 22 in seinen Vertragsentwurf auf-
zunehmen.134 Waldock wählte dabei wie Fitzmaurice einen objektiven Ansatz und
schloss gemäß Artikel 22 Absatz 3 Wechsel in der politischen Strategie eines Staates
vom Anwendungsbereich der Norm aus.135 Anders als Fitzmaurice wollte er das
126
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3, Year-
book of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 81, Rn. 4; PCIJ, PCIJ Series A
No. 8 (1927), S. 3, 4 f.
127
Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74
Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 368.
128
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 57.
129
Chiu, Comparison of the Nationalist and Communist Chinese Views of Unequal Trea-
ties, in Cohen (Hrsg.), China’s Practice of International Law: Some Case Studies (1972),
S. 239, 267.
130
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3, Year-
book of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 82, Rn. 5.
131
Sehe zum Beispiel Röling, International Law in an Expanded World (1960), S. 73, Fn. 3.
132
(1974), S. 51; Malawer, Imposed Treaties and International Law, 7 California Western
International Law Journal (1977), S. 1, 94
133
Ro’i, From Encroachment to Involvement: A Documentary Study of Soviet Policy in the
Middle East, 1945-1973 (1974), S. 44; Korowin/Krylow/Koschewnikow/Jewgenew/Molod-
zow/Schurschalow, Völkerrecht (1960), S. 290.
134
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3, Year-
book of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 36 f.
135
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3, Year-
book of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 80, 83, Rn. 8.
II. Das Prinzip rebus sic stantibus in der WVK219
Prinzip rebus sic stantibus jedoch nicht auf unbefristete Verträge beschränken,
sondern auch langfristige Verträge erfassen, da dieser Doktrin letztlich Gerechtig-
keitserwägungen zugrundlägen, die für beide Vertragsgruppen gleichermaßen Gül-
tigkeit beanspruchten.136 Dafür schloss Waldock Vorschriften in Grenzverträgen und
solchen über die Übertragung von Staatsgebiet und anderen territorialen Rechten
gemäß Artikel 22 Absatz 5 a vom Anwendungsbereich der Norm aus:
An essential change in the circumstances forming the basis of a treaty may not be invoked
for the purpose of terminating –
(a) stipulations of a treaty which effect the transfer of territory, the settlement of a boundary,
or a grant of territorial rights;
(b) stipulations which accompany a transfer of territory or boundary settlement and are
expressed to be an essential condition of such transfer or settlement; […].“137
Grundsätzlich nahm die ILC Artikel 22 positiv auf. Tabibi äußerte, Artikel 22 sei von
ebenso großer Wichtigkeit wie die Vorschriften zur Wirksamkeit von Verträgen, dar-
unter die Verbote von Verträgen unter gewaltsamem Zwang und im Widerspruch zu
136
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3, Year-
book of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 83, Rn. 9 f.
137
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3, Year-
book of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 80.
138
Siehe hierzu oben, Kapitel 5.
139
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 57.
220 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
zwingendem Recht, wobei diese Fragen insbesondere für die Staaten in Afrika und
Asien von großer Bedeutung seien, da diese ihre Verpflichtungen aus bestimmten
Verträgen nicht erfüllen könnten.140 Er machte insofern die Bedeutung von Artikel
22 für den Kampf gegen Ungleiche Verträge von Anfang an deutlich. Tabibi forderte
daher allerdings auch die Löschung des fünften Absatzes von Artikel 22, da der
Ausschluss von Grenz- und anderen Territorialverträgen vom Anwendungsbereich
des Prinzips rebus sic stantibus gegen das Selbstbestimmungsrecht verstoße.141
Dem stimmten auch Bartoš und Pal zu.142 Hintergrund dieser Forderung waren ins-
besondere die Landesgrenzen in Afrika, die von den alten Kolonialmächten völker-
vertraglich gezogen worden waren und die nach der „uti-possidetis“-Doktrin auch
nach der Dekolonialisierung aufrechterhalten werden sollten.143 Diese Doktrin war
im Rahmen der Dekolonialisierung im lateinamerikanischen Raum entstanden.144
Die lateinamerikanischen Staaten wollten nach dem Untergang des spanischen
Kolonialreichs mit dem uti possidetis juris-Prinzip die von der Kolonialverwaltung
gezogenen Grenzen sichern.145 Es diente insofern dem Schutz ehemaliger Kolonien,
als dass es deren Staatlichkeit und Unabhängigkeit sicherte:
Das ursprünglich nur regional verbreitete Prinzip wurde nach der Dekolonialisierungs-
phase im 20. Jahrhundert insbesondere in Bezug auf die Grenzen Afrikas übernom-
men.147 Hier ist insbesondere die Position der Organisation für Afrikanische Einheit
(Organization of African Unity, OAE)148 herauszuheben. Die OAE-Charta schrieb in
140
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.694, ILC-Yearbook (1963, I), S. 135, 139, Rn. 29.
141
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.694, ILC-Yearbook (1963, I), S. 135, 139, Rn. 34.
142
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.695, ILC-Yearbook (1963, I), S. 143, 149, Rn. 64; ILC, UN Doc
A/CN.4/SR.696, ILC-Yearbook (1963, I), S. 150, 150, Rn. 7.
143
Siehe Nesi, Uti possidetis Doctrine, Max Planck Encyclopedia of Public International Law
(2011), Rn. 4.
144
Lalonde, Determining Boundaries in a Conflicted World: The Role of Uti Possidetis
(2002), S. 103 ff.
145
Milano, Unlawful Territorial Situations in International Law: Reconciling Effectiveness,
Legality and Legitimacy (2006), S. 109; Vernet, Decolonization: Spanish Territories, Max
Planck Encyclopedia of Public International Law (2013), Rn. 7 ff.; Fisch, Das Selbstbestim-
mungsrecht der Völker: Die Domestizierung einer Illusion (2010), S. 105 ff. Zum Ursprung
des Prinzips siehe Lalonde, Determining Boundaries in a Conflicted World: The Role of Uti
Possidetis (2002), S. 10 ff.
146
Milano, Unlawful Territorial Situations in International Law: Reconciling Effectiveness,
Legality and Legitimacy (2006), S. 109 f.
147
Siehe hierzu Lalonde, Determining Boundaries in a Conflicted World: The Role of Uti
Possidetis (2002), S. 103 ff.
148
Ab 2002 Afrikanische Union.
II. Das Prinzip rebus sic stantibus in der WVK221
Artikel 3 Absatz 3 nicht nur die territoriale Integrität der Mitgliedsstaaten fest; auch die
Heads of State and Government der OAE erklärten im Jahr 1964 und damit ein Jahr
nach der Gründung der OAE in Kairo mittels einer Resolution, die kolonialen Grenzen
in Afrika im Interesse der Stabilität der Region achten zu wollen.149 In Afrika sollten
die mit der Berliner Konferenz 1885 gezogenen Grenzen aufrechterhalten werden, um
Chaos zu vermeiden.150 Damit erklärte sich ein wesentlicher Teil der neuen Staaten
grundsätzlich mit der Fortgeltung von Grenzen, welche auf Ungleichen Verträgen
beruhten, einverstanden. Marokko und Somalia brachten hingegen wegen ihrer Grenz-
konflikte mit Nachbarn Vorbehalte gegen diese Resolution an.151 Auch die OAE pro-
klamierte jedoch nicht die Perpetuierung kolonialer Grenzen, sondern versuchte ledig-
lich auf der Grundlage der vorläufigen Anerkennung der kolonialen Grenzen durch
ad-hoc-Kommissionen, Grenzstreitigkeiten wie jene zwischen Marokko und Algerien
sowie zwischen Somalia und Äthiopien friedlich zu lösen.152 Sowohl in Afrika wie
auch in Lateinamerika führte die uti-possidetis-Doktrin jedoch oft zu langwierigen
und teils mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikten.153 Daher sah etwa Bedjaoui die
Aufrechterhaltung der Grenzen zwiegespalten: zum einen schützten sie vor Expansio-
nismus, zum anderen bildeten sie ein Hindernis für eine Anpassung der Grenzen, die
durch die oft unnatürliche Grenzziehung der Kolonialmächte notwendig erschien.154
Letztlich folgte Bedjaoui jedoch eindeutig der Linie der OAE:
The attitude of the founders of the Organization of African Unity, is urging all the new
States, after they attained their independence, to respect the status quo with regard to boun-
daries, was inspired by realism and political wisdom.155
Die Angst vor Grenzstreitigkeiten war dabei nur ein Grund für eine Vielzahl neuer
Staaten, die uti-possidetis-Doktrin zu übernehmen. Darüber hinaus etablierte dieses
Prinzip die Stabilität der Grenzen wie bereits in Lateinamerika auch vor dem Hin-
tergrund, dass ein definiertes Staatsgebiet Teil der Staatsmerkmale ist, welche ein
neuer Staat erfüllen muss. Craven beschreibt das Problem folgendermaßen:
149
Lalonde, Determining Boundaries in a Conflicted World: The Role of Uti Possidetis
(2002), S. 103 ff.
150
Siehe Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 113.
151
Elias, The Charter of the Organisation of African Unity, 59 American Journal of Internatio-
nal Law (1965), S. 243, 243 ff.; siehe auch Maluwa, International Law-making in the Orga-
nization of African Unity, 12 African Journal of international and Comparative Law (2000),
S. 201, 215 f.; siehe zum Prinzip uti possidetis in Lateinamerika weiter Lalonde, Determining
Boundaries in a Conflicted World: The Role of Uti Possidetis (2002), S. 24 ff.
152
Brownlie, African Boundaries: A Legal and Diplomatic Encyclopaedia (1979), S. 55 ff.,
826 ff.; Shaw, Title to Territory in Africa: International Legal Issues (1986), S. 196 ff.; Shaw,
International Law (5. Auflage 2003), S. 930.
153
Siehe hierzu auch Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II),
S. 94, 113.
154
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 113.
155
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 112.
222 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
(T)he old opposition between self-determination and uti possidetis lost its decisive import
by reason of the impossibility of self-determination meaning anything but independence
within inherited borders – once the ‘self’ had been identified, any determination could
operate only within the parameters of its own existence.156
Im Recht der Verträge kam es daher zu einer Verschiebung der Frage Ungleicher
Verträge über Grenzverläufe heraus aus dem Vertragsrecht hin zum gewohnheits-
rechtlichen Prinzip uti possidetis. Auch bei dieser diskursiven Grenzziehung sollte
die Matrixwahl ausschlaggebend für das Ergebnis des völkerrechtlichen Diskurses
werden, das das Prinzip uti possidetis zumindest die vorläufige Fortgeltung bereits
umgesetzter Ungleicher Grenzverträge festschrieb.
Hiergegen wehrten sich viele Völkerrechtler aus den neuen Staaten. Daneben
ging es bei den Territorialverträgen beispielsweise auch um Pachtverträge, welche
etwa die Errichtung von Militärbasen durch ehemalige Kolonialmächte ermög-
lichten.157 Lachs bekräftigte Tabibis Einwand zu Absatz 5 in Bezug auf solche
Territorialverträge, deren Ausschluss vom Prinzip rebus sic stantibus er unan-
gebracht fand; er verwies auf die von den Staaten Afrikas vertretene Rechtsauf-
fassung, nach der ein Landpachtvertrag von unbegrenzter Dauer mit der Souve-
ränität eines Staates unvereinbar sei.158 Auch in dieser Debatte wurden also das
Selbstbestimmungsrecht und die Souveränität der neuen Staaten angeführt, um
diesen ein Recht zur Lösung von Ungleichen Verträgen einzuräumen. Der ganze
internationale Schauplatz sei charakterisiert durch die vielen unzeitgemäßen Ver-
träge, welche durch neue ersetzt werden müssten, so Lachs.159 Einen ähnlichen
Standpunkt vertraten de Luna und Verdross.160 Auch Elias forderte die Streichung
von Absatz 5, den er für unbegründet hielt, da Streitigkeiten um überholte Terri-
torialverträge im Einzelfall entschieden werden sollten.161 Ähnlich kann Pessous
Vorschlag gedeutet werden, Territorialrechte flexibler zu handhaben, wobei er sich
auf die Praxis im Rahmen der Dekolonialisierung der französischen Gebiete in
Afrika bezog.162
Ago hingegen ermahnte die ILC, ihre Verantwortung in Bezug auf Artikel 22
Absatz 5 nicht aus dem Auge zu verlieren; durch die Anwendung der Doktrin rebus
sic stantibus könnten alle Territorialverträge nur noch als vorläufig betrachtet werden
und gerade die Beispiele aus der jüngsten Zeit würden die Gefahren einer solchen
Entwicklung aufzeigen.163 Dem pflichtete auch Waldock bei: Er habe die Kritik
an Absatz 5 so verstanden, dass dieser für unnötig gehalten würde, da ein einmal
156
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of
Treaties (2007), S. 205.
157
Vgl. Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 113 f.
158
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.694, ILC-Yearbook (1963, I), S. 135, 140, Rn. 48.
159
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.694, ILC-Yearbook (1963, I), S. 135, 140, Rn. 45.
160
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.696, ILC-Yearbook (1963, I), S. 150, 153, Rn. 31.
161
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.695, ILC-Yearbook (1963, I), S. 143, 147, Rn. 51.
162
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.696, ILC-Yearbook (1963, I), S. 150, 151, Rn. 11 ff.
163
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.696, ILC-Yearbook (1963, I), S. 150, 154, Rn. 45.
II. Das Prinzip rebus sic stantibus in der WVK223
164
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.697, ILC-Yearbook (1963, I), S. 156, 158, Rn. 16.
165
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.697, ILC-Yearbook (1963, I), S. 156, 158, Rn. 16.
166
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.697, ILC-Yearbook (1963, I), S. 156, 158, Rn. 17.
167
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.697, ILC-Yearbook (1963, I), S. 156, 158, Rn. 18.
168
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.694, ILC-Yearbook (1963, I), S. 135, 142, Rn. 61.
169
Siehe Tunkin (Hrsg.), International Law: A Textbook (1986), S. 48 f.; Peters, Unequal
Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007), Rn. 4.
170
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.694, ILC-Yearbook (1963, I), S. 135, 142, Rn. 61.
224 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
Tunkin pflichtete Yasseen insofern ebenso bei wie Pal.171 Elias schlug vor, Absatz
3 zu streichen und Änderungen in der Politik eines Staates im Kommentar zu Artikel
22 zu behandeln.172 Bartoš ging selbst dieser Kompromissvorschlag zu weit; er for-
derte eine restlose Löschung von Absatz 3 und schloss sich im Übrigen der Argu-
mentation von Yasseen an.173 Bartoš ergänzte, dass das Selbstbestimmungsrecht
nach der VN-Charta den Völkern gerade das Recht gebe, ihre politische Ordnung
nach Wunsch zu ändern.174 Jiménez de Aréchaga fand den Ausschluss willkürlich,
insbesondere da ökonomische Änderungen offenbar nicht davon erfasst seien.175
Auch Verdross und de Luna lehnten Absatz 3 ab.176
Während also viele Experten aus der Dritten Welt während der Debatte in der ILC
im Zusammenhang mit dem Prinzip rebus sic stantibus auf Konstellationen Unglei-
cher Verträge anspielten, findet sich dieses Stichwort in den Aufzeichnungen ihrer
Äußerungen nicht. Eine ebenso klare wie überraschende Position bezog hier allein
Tunkin. Für ihn fielen Ungleiche Verträge nämlich gar nicht unter den Anwendungs-
bereich des Prinzips rebus sic stantibus; diese würden über die gegenüber Artikel
22 vorrangigen Normen zu unter gewaltsamem Zwang abgeschlossenen Verträgen
und Verträgen im Widerspruch zu zwingendem Rechts bereits vollständig abge-
deckt.177 Abgesehen davon, dass Tunkin bei seinem Begriff Ungleicher Verträge
zwischen materiellen und formellen Elementen hin- und hersprang,178 wurde seine
Äußerung von verschiedenen Elementen des Prinzips rebus sic stantibus gestützt:
Zum einen handelte es sich von jeher um ein Prinzip, das allenfalls subsidiär zu
anderen Unwirksamkeitsgründen angeführt werden konnte.179 Zum anderen erfasste
es selbst ohne die von Waldock zur Diskussion gestellten Beschränkungen jeden-
falls weder prozedural Ungleiche Verträge noch von Anfang an materiell Ungleiche
Verträge als solche, sondern konnte ausschließlich auf Verträge Anwendung finden,
die nach ihrem Abschluss durch eine Änderung der Umstände materiell ungleich
wurden.
Das Drafting Committee überarbeitete Artikel 22 und legte folgende, stark
gekürzte Version vor:
171
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.694, ILC-Yearbook (1963, I), S. 135, 143, 145, Rn. 22; ILC, UN
Doc A/CN.4/SR.696, ILC-Yearbook (1963, I), S. 150, 150, Rn. 6.
172
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.695, ILC-Yearbook (1963, I), S. 143, 147, Rn. 49.
173
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.695, ILC-Yearbook (1963, I), S. 143, 149, Rn. 62. Bartoš zählte
das Prinzip rebus sic stantibus sogar zum zwingenden Völkerrecht, ILC, UN Doc A/CN.4/
SR.695, ILC-Yearbook (1963, I), S. 143, 148, Rn. 55.
174
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.695, ILC-Yearbook (1963, I), S. 143, 149, Rn. 62.
175
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.695, ILC-Yearbook (1963, I), S. 143, 150, Rn. 70.
176
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.696, ILC-Yearbook (1963, I), S. 150, 153, Rn. 31.
177
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.696, ILC-Yearbook (1963, I), S. 150, 155, Rn. 56.
178
Siehe dazu schon oben.
179
Heintschel von Heinegg, Treaties, Fundamental Change of Circumstances, Max Planck
Encyclopedia of Public International Law (2006), Rn. 29.
II. Das Prinzip rebus sic stantibus in der WVK225
Der Ausschluss von Änderungen in der Politik eines Staates wurde damit gestrichen.
Verträge zur Festsetzung von Territorialrechten wurden aber weiterhin vom Anwen-
dungsbereich der Norm ausgenommen. Hiergegen setzte sich erneut Tabibi zu Wehr,
der meinte, dass dadurch eine ganze Reihe von Verträgen von dem Prinzip rebus sic
stantibus ausgeschlossen würde, die in manchen Teilen der Erde gerade den Haupt-
anwendungsbereich der Norm ausmachten.181 Es gehe um das Schicksal von Millio-
nen Menschen, deren Marginalisierung die Integrität von Artikel 22 in Frage stellen
würde.182 Außerdem sei die Anwendung der Doktrin auf Grenzverträge keineswegs als
friedensgefährdend einzustufen; umgekehrt bilde die Aufrechterhaltung von Verträgen
entgegen den Wünschen des Volkes eine Gefahr für den Frieden.183 Auch in Bezug auf
Grenzverträge fand sich bei Tabibi also die unter Völkerrechtlern der neuen Staaten
häufig anzutreffende Argumentation, dass Stabilität nicht durch unreflektierte Konser-
vierung des status quo, sondern nur durch für alle Seiten akzeptable Lösungen garan-
tiert werden könne; eine Darlegung, die eng mit einem soziologisch oder sozialistisch
inspirierten Rechtsverständnis und den utopischen Gerechtigkeitserwägungen des
Globalsolidarischen Projekts verknüpft war.184 Bartoš war grundsätzlich der gleichen
Ansicht wie Tabibi, erkannte aber an, dass der neue Text zurückhaltender formuliert
war und möglicherweise dann akzeptiert werden könne, wenn es nur um Grenzziehun-
gen ginge.185 Verdross plädierte weiterhin dafür, die Ausnahme zu streichen und solche
Fälle im Einzelfall zu entscheiden.186 Dem pflichtete auch Paredes bei, der angesichts
der stürmischen Veränderungen des modernen internationalen Lebens für eine weite
180
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.710, ILC-Yearbook (1963, I), S. 247, 249 f., Rn. 27.
181
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.710, ILC-Yearbook (1963, I), S. 247, 251, Rn. 46.
182
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.710, ILC-Yearbook (1963, I), S. 247, 251, Rn. 46. Ähnlich auch
Pal, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.711, ILC-Yearbook (1963, I), S. 254, 254, Rn. 4.
183
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.711, ILC-Yearbook (1963, I), S. 254, 256, Para 25.
184
Siehe oben, Teil I.
185
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.710, ILC-Yearbook (1963, I), S. 247, 251, Rn. 52.
186
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.710, ILC-Yearbook (1963, I), S. 247, 251, Rn. 58.
226 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
Anwendung des Prinzips rebus sic stantibus plädierte.187 Es gehe bei Grenzverträgen
im Übrigen immer um verschiedene rechtliche Fragen in Bezug auf die Bevölkerung
sowie auch um Fragen der Wirtschaft, die wegen des Selbstbestimmungsrechts der
Völker nicht pauschal von Artikel 22 ausgeschlossen werden dürften.188 Diese Argu-
mentation zog Lachs in Zweifel; für ihn war es nämlich fraglich, ob es sich hierbei
wirklich um eine Frage des Selbstbestimmungsrechts handele, da Verträge unter
Verstoß gegen jenes Recht von anderen Normen wie denen zu zwingendem Völkerrecht
abgedeckt seien.189 Damit befand sich Lachs in argumentativer Nähe zu Tunkin. Auf
Grund dieser Uneinigkeit wurde Artikel 22 ein weiteres Mal dem Drafting Committee
übermittelt.190 Dieses präzisierte Absatz 3 a) dahingehend, dass nun nur noch „a treaty
fixing a boundary“ vom Anwendungsbereich der Norm ausgeschlossen wurde.191 Mit
einigen weiteren Änderungen wurde Artikel 22 mit einer Enthaltung angenommen und
als Artikel 44 den Regierungen übermittelt.192 Im Kommentar zu dem Artikel wurde
die Debatte in der ILC um Änderungen im politischen System eines Staates ebenso
nachgezeichnet wie jene um Grenzverträge und das Selbstbestimmungsrecht.193
Auch Artikel 44 des ILC-Entwurfs führte zwischen den Staaten zu hitzigen Debat-
ten. Die Vereinigten Staaten lehnten Artikel 44 grundsätzlich ab, da es sich dabei
nicht um geltendes Recht handele, das kodifiziert werden sollte, sondern um eine
progressive Weiterentwicklung des Rechts, die an dieser Stelle abzulehnen sei.194
Die meisten Staaten begrüßten die Vorschrift hingegen grundsätzlich.195 Der jamai-
kanische Vertreter betonte, dass Artikel 44 nicht nur für die ursprünglichen Vertrags-
parteien gelten dürfe, sondern auch im Rahmen der Staatennachfolge von neuen
Staaten in Anspruch genommen werden können müsse.196 Der Delegierte Perus
187
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.710, ILC-Yearbook (1963, I), S. 247, 252, Rn. 68.
188
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.710, ILC-Yearbook (1963, I), S. 247, 252, Rn. 71. Ähnlich
Tabibi, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.710, ILC-Yearbook (1963, I), S. 247, 253, Rn. 97.
189
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.710, ILC-Yearbook (1963, I), S. 247, 252, Rn. 78.
190
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.711, ILC-Yearbook (1963, I), S. 254, 256, Para 26.
191
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.717, ILC-Yearbook (1963, I), S. 290, 295, Para 76.
192
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.717, ILC-Yearbook (1963, I), S. 290, 295, Para 80; ILC, UN
Doc A/CN.4/163, ILC-Yearbook (1963, II), S. 187, 207. Enthalten hatte sich Briggs, siehe
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.833, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 70, 77, Rn. 74.
193
ILC, UN Doc A/CN.4/163, ILC-Yearbook (1963, II), S. 187, 210, Para 11 f.
194
GA, UN Doc A/C.6/SR.784, GAOR (1967), Rn. 36.
195
Beispielsweise die Tschechoslowakei und Jamaika, GA, UN Doc A/C.6/SR.787, GAOR
(1967), Rn. 27; GA, UN Doc A/C.6/SR.791, GAOR (1963), Rn. 22.
196
GA, UN Doc A/C.6/SR.791, GAOR (1963), Rn. 22; UN Doc A/CN.4/182 and Corr. 1&2
and Add. 1, 2/Rev. 1&3, ILC-Yearbook (1966, II), S. 285, 301.
II. Das Prinzip rebus sic stantibus in der WVK227
dachte ähnlich und setzte Artikel 44 in den Kontext der Ungleichen Verträge nach
der Dekolonialisierung im Zusammenhang mit dem Institut der Staatennachfolge:
Succession presupposed the voluntary acceptance, but the former colonies had not been
independent States when the treaties had been concluded and, while the metropolitan count-
ries had represented the countries under domination, they had not been authorized to do so.
On the other hand, the doctrine rebus sic stantibus might be applicable in such situations.
There was no problem of States succession between new States and former colonial
possessions except in so far as the old American principle of colonial uti possidetis could
be applied with respect to frontiers.197
Tatsächlich sollte die Debatte um das Prinzip rebus sic stantibus auch im Rahmen
der Staatennachfolge in Verträge nochmals Relevanz erlangen.198
Ghana nannte als Beispiel für Verträge, die neue Staaten von Kolonialmäch-
ten hätten übernehmen müssen und die sie nun über Artikel 44 angreifen können
sollten, Verträge, unter denen Konzessionen für Goldminen nur zu einer nominellen
Miete vergeben wurden, obwohl diese gegenwärtig Millionenbeträge abwürfen.199
Kamerun griff den Ausschluss von Grenzverträgen an: Zwar hätten viele afrika-
nische Staaten ihre aktuellen Grenzen mittlerweile hingenommen, solche Ver-
träge jedoch von Artikel 44 auszuschließen sei übertrieben, zumal solche Grenzen
zumindest bei völliger Nichtbeachtung geographischer und ethnischer Überlegun-
gen gegen das Selbstbestimmungsrecht verstoßen würden.200 Diese Position war
motiviert durch die Trennung Kameruns, das unter der Treuhand von Großbritan-
nien einerseits und Frankreich andererseits gewesen war.201 Der Vertreter Kameruns
bezweckte im Übrigen, die Aufmerksamkeit der ILC auf Ungleiche Verträge zu
lenken, die unter wirtschaftlichem Druck abgeschlossen wurden.202 Besonders pro-
gressiv im Kampf gegen Ungleiche Verträge zeigte sich der Vertreter Boliviens: Das
Prinzip rebus sic stantibus fand seiner Ansicht nach nämlich nicht nur Anwendung
auf Fälle, in denen sich die bei Vertragsschluss geltenden Umstände später geän-
dert hätten, sondern auch auf Ungleiche Verträge, welche dadurch, dass sie einem
Staat aufgezwungen worden waren, die Umstände selbst verändert und eine Situ-
ation geschaffen hätten, welche die freundlichen Beziehungen zwischen Staaten
gefährde.203 De Luna wollte als Vertreter Spaniens ebenfalls im Rahmen von Artikel
44 Ungleiche Verträge ächten und versuchte Gegenargumente zu entkräften, indem
er erklärte, das Prinzip pacta sunt servanda beruhe auf dem Grundsatz des guten
Glaubens und könne daher in Bezug auf Ungleiche Verträge nicht vorgebracht
werden.204
197
GA, UN Doc A/C.6/SR.789, GAOR (1967), Rn. 19 f.
198
Siehe dazu Teil III.
199
GA, UN Doc A/C.6/SR.791, GAOR (1963), Rn. 37.
200
GA, UN Doc A/C.6/SR.791, GAOR (1963), Rn. 41.
201
Vgl. ICJ, ICJ-Reports 1963, S. 15, 15 ff.
202
GA, UN Doc A/C.6/SR.791, GAOR (1963), Rn. 42.
203
GA, UN Doc A/C.6/SR.793, GAOR (1963), Rn. 21.
204
GA, UN Doc A/C.6/SR.792, GAOR (1963), Rn. 10; ähnlich argumentierte Bolivien, GA,
UN Doc A/C.6/SR.793, GAOR (1963), Rn. 21.
228 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
Dagegen machten andere Staaten deutlich, dass Artikel 44 nicht gegen Unglei-
che Verträge vorgebracht werden können sollte: Australien wollte die in Artikel 44
genannten Ausnahmen ähnlich Waldocks ursprünglichem Plan dahingehend ändern,
dass alle Bestimmungen territorialer Souveränität endgültig sein müssten.205 Hier
zeigte sich ganz deutlich, dass es nicht dem Willen vieler Industrienationen ent-
sprach, den neuen Staaten eine Loslösung von Ungleichen Verträgen zu gestatten.
1. A fundamental change which has occurred with regard to a fact or state of facts existing
at the time when a treaty was entered into may be invoked by a party as a ground for termin-
ating or withdrawing from the treaty only if:
The existence of that fact or state of facts constituted an essential basis of the consent of the
parties to be bound by the treaty;
The effect of the change is to transform in an essential respect the character of continuing
obligations undertaken in the treaty; and
The change has not been foreseen by the parties and its consequences provided in the treaty.
205
Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook (1966, II), S. 1, 39.
206
Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook (1966, II), S. 1, 42, Rn. 2.
207
Siehe oben, Kapite l 6.
208
Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook (1966, II), S. 1, 43, Rn. 7.
209
Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook (1966, II), S. 1, 43, Rn. 7.
210
Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook (1966, II), S. 1, 44, Rn. 11.
II. Das Prinzip rebus sic stantibus in der WVK229
Als dieser Artikel in der ILC diskutiert wurde, griff Rosenne die Ausführungen von
Tabibi sowie des Vertreters Kameruns zum Selbstbestimmungsrecht auf und mahnte
diesbezüglich zur Zurückhaltung.211 Die ILC dürfe sich wie schon beim Gewaltver-
bot auch hier nicht mit der Charta-Interpretation beschäftigen, zumal das Special
Committee on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and
Co-operation among States kürzlich mit seiner Arbeit zum Selbstbestimmungsrecht
begonnen habe.212 Das Drafting Committee ging trotzdem zumindest bedingt auf
die Forderungen dieser Staaten ein und veränderte Waldocks Entwurf dahingehend,
dass es aus „fixing a boundary“ „establishing a boundary“ machte und den letzten
Halbsatz strich; die Regelung lief nun unter Absatz 2 (a) und wurde von der ILC
mit einer Enthaltung angenommen und endlich zu Artikel 59 umbenannt.213 Die
Ausnahme für Territorialverträge in Artikel 59 war damit deutlich enger als von
Waldock und mancher westlichen Regierung gefordert, erfasste aber nach wie vor
Grenzverträge, wogegen sich viele Völkerrechtler aus den neuen Staaten gewendet
hatten. Im Kommentar fand sich dementsprechend die Ansicht der Kommissions-
mitglieder, die sich von Anfang an gegen den Ausschluss in Absatz 2 der Vorschrift
ausgesprochen hatten, wieder.214 Ihre Befürchtung, andernfalls einen Verstoß gegen
das Selbstbestimmungsrecht zu begehen, teilte die Mehrheit der Kommission laut
Kommentar jedoch nicht; das Selbstbestimmungsrecht sollte nicht als Anwendung
der vorliegenden Norm dargestellt werden.215 Durch den Ausschluss von Grenzver-
trägen von dem Prinzip rebus sic stantibus sollte jedoch durch diese Vorschrift auch
kein Anwendungsfall vom Selbstbestimmungsrecht ausgeschlossen werden, sofern
dessen Voraussetzungen erfüllt wären.216 Insofern sollte Artikel 59 also unbeschadet
des Selbstbestimmungsrechts der Völker gelten, was jedoch vor dem Hintergrund
von Waldocks Äußerungen zu sehen ist, dass der Konflikt zwischen kolonialen
Grenzen und Selbstbestimmungsrecht politisch zu lösen sei. Der Kommentar stellte
211
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.834, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 78, 79, Rn. 18.
212
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.834, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 78, 79, Rn. 18.
213
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.842, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 127, 130, Rn. 38, 42, 53;
ILC, UN Doc A/6309/Rev. 1, ILC-Yearbook (1966, II), S. 169, 256 f.
214
ILC, UN Doc A/6309/Rev. 1, ILC-Yearbook (1966, II), S. 169w Commission (1966, II),
S. 169, 259, Rn. 11.
215
ILC, UN Doc A/6309/Rev. 1, ILC-Yearbook (1966, II), S. 169w Commission (1966, II),
S. 169, 259, Rn. 11.
216
ILC, UN Doc A/6309/Rev. 1, ILC-Yearbook (1966, II), S. 169w Commission (1966, II),
S. 169, 259, Rn. 11.
230 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
weiter klar, dass unter den erweiterten Wortlaut von Absatz 2 (a) sowohl Zessions-
als auch Grenzverträge fallen würden.217
Auch auf der ersten Wiener Vertragsrechtskonferenz blieb der Ausschluss in Artikel
59 Absatz 2 (a) in der Debatte. Vietnam und Bolivien betonten erneut, dass Unglei-
che Verträge über Grenzen gerade den Hauptanwendungsbereich des Prinzips rebus
sic stantibus darstellten und deshalb von diesem erfasst werden müssten.218 Vietnam
brachte daher folgenden Änderungsvorschlag zu Absatz 2 (a) ein:
2. A fundamental change of circumstances may not be invoked:
(a) as a ground either for terminating a treaty establishing a boundary or confirming a nego-
tiated political settlement or for withdrawing from such a treaty […].219
Dem Vertreter der USA ging der Ausschluss in Absatz 2 (a) hingegen noch immer
nicht weit genug. Er führte die Missbrauchsgefahr als Begründung für einen
Änderungsvorschlag an, nach dem „fixing a boundary“ zu „drawing a boundary
or otherwise establishing territorial status“ abgeändert werden sollte, um auch
territoriale Statusverträge und Verträge zur Lösung von Territorialstreitigkeiten
zu erfassen.220 Diese Erweiterung des Ausschlusses wurde von Zypern als Verstoß
gegen das Selbstbestimmungsrecht als Teil des zwingenden Völkerrechts sowie
gegen die Generalversammlungsresolutionen zur Ächtung des Kolonialismus
gewertet.221 Die gleiche Position bezog Tabibi im Namen Afghanistans, wobei es
ihm dabei vorwiegend um Verträge aus der Kolonialzeit ging.222 Kenia erkannte
217
ILC, UN Doc A/6309/Rev. 1, ILC-Yearbook (1966, II), S. 169w Commission (1966, II),
S. 169, 259, Rn. 11.
218
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.63, Meeting Records
(1968), S. 365, 366, Rn. 4, S. 370, Rn. 43, 45.
219
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/C.1/L.299, Official Records
(1968/1969), S. 184.
220
United Nations Conference on the Law of Treaties, First and Second Session, Vienna, 26
March – 24 May 1968 and 9 April – 22 May 1969, Official Records, Documents of the Con-
ference, Vienna Convention on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/C.1/L.335, S. 184;
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.63, Meeting Records
(1968), S. 365, 367, Rn. 12.
221
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.64, Meeting Records
(1968), S. 370, 371, Rn. 7.
222
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.64, Meeting Records
(1968), S. 370, 373, Rn. 27 ff. Ähnlich auch Ecuador, Ungarn und Marokko, UN Confe-
rence on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.64, Meeting Records (1968), S. 370,
376, Rn. 66; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.65, Meeting
Records (1968), S. 378, 379, Rn. 15, S. 380, Rn. 17.
II. Das Prinzip rebus sic stantibus in der WVK231
Absatz 2 (a) hingegen in der von der ILC vorgelegten Version an, da Territorial-
verträge untrennbar mit der Souveränität und Integrität eines Staates verwoben
seien.223 Sowohl der US-amerikanische als auch der vietnamesische Änderungs-
vorschlag wurden mit großer Mehrheit abgelehnt.224 Die Vereinigte Arabische
Republik und Afghanistan erklärten, dass sie Artikel 59 Absatz 2 so interpretier-
ten, dass dadurch Ungleiche Verträge nicht vom Prinzip rebus sic stantibus aus-
schlossen würden.225
Daneben wurde die Frage, ob die Änderung der staatlichen Politik als Wandel
der Umstände zu beachten sei, wieder aufgegriffen. Der australische Delegierte
lehnte eine Anwendung des Prinzips rebus sic stantibus auf den politischen Wandel
eines Staates ab; sollte die Vertragsbeendigung im Einzelfall im Interesse beider
Staaten liegen, so spräche nichts gegen eine entsprechende Vereinbarung zwischen
den Staaten; eine unilaterale Aufkündigung sei aber unbedingt auszuschließen.226
Gegen diese Ansicht wendete sich die UdSSR:
223
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.65, Meeting Records
(1968), S. 378, 380 f., Rn. 26.
224
Der vietnamesische Entwurf zu Absatz 2 (a) wurde mit 64 zu 1 Stimmen bei 13 Enthal-
tungen abgelehnt. Der US-amerikanische Entwurf wurde ebenfalls zweigeteilt, der zweite
Teil („or otherwise establishing territorial status“) wurde mit 43 zu 14 Stimmen bei 28 Ent-
haltungen abgelehnt, der erste Teil („drawing a boundary“) wurde dem Drafting Committee
übermittelt. UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.65, Meeting
Records (1968), S. 378, 382, Rn. 38 f.
225
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.65, Meeting Records
(1968), S. 378, 382, Rn. 41 f.
226
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.64, Meeting Records
(1968), S. 370, 372, Rn. 23.
227
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.64, Meeting Records
(1968), S. 370, 374, Rn. 44.
228
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.64, Meeting Records
(1968), S. 370, 375, Rn. 53. So auch der Delegierte Weissrusslands, UN Conference on the
Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.65, Meeting Records (1968), S. 378, 379, Rn. 8.
232 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
Artikel 59 wurde dem Drafting Committee übermittelt.229 Dieses behielt den von
der ILC vorgeschlagenen Wortlaut von Absatz 2 (a) weitgehend bei:
Bolivien drückte nochmals seine Ablehnung aus, während Syrien und die Philip-
pinen Absatz 2 (a) unter der Bedingung für akzeptabel hielten, dass gewaltsame
Grenzverträge und solche unter Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht als von
Anfang an unwirksam betrachtet würden.231 Daraufhin wurde Artikel 59 vom Com-
mittee of the Whole der ersten Wiener Vertragsrechtskonferenz gebilligt.232
Bei der zweiten Wiener Vertragsrechtskonferenz wurde Artikel 59 im Plenum disku-
tiert.233 Hier meldete sich bezüglich Absatz 2 (a) erneut der Vertreter Syriens zu Wort:
His delegation felt strongly that illegal occupation or de facto possession of a territory
remained illegal however long it lasted. Neither stability in international relations nor
lasting peace could be expected if they were achieved at the expense of justice and the right
of peoples to self-determination, nor could they be sought by maintaining colonial treaties
under which territories had been ceded contrary to the wishes of the inhabitants. The rebus
sic stantibus principle should therefore be made to apply to that category of treaty.
The Syrian delegation was consequently unable to accept provision 2 (a), because it did
not wish to endorse the creation of a legal norm that contravened „jus cogens“.234
Diese Äußerung des syrischen Delegierten verdeutlicht nicht nur die Verknüpfung
der Debatte um das Selbstbestimmungsrecht als Teil des zwingenden Rechts mit
jener über den Anwendungsbereich des Prinzips rebus sic stantibus, sondern stellt das
Stabilitätsargument auch anschaulich in den Kontext des Globalsolidarischen Pro-
jekts. Eine ähnliche Position bezogen die Vertreter aus Afghanistan und Marokko.235
Der Delegierte aus Polen vertrat hingegen wie jene aus Russland und Weißrussland
die Ansicht, dass solche kolonialen Verträge gar nicht in den Anwendungsbereich
229
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.65, Meeting Records
(1968), S. 378, 382, Rn. 39.
230
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.81, Meeting Records
(1968), S. 476, 479, Rn. 39.
231
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.81, Meeting Records
(1968), S. 476, 480, Rn. 45 ff.
232
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.81, Meeting Records
(1968), S. 476, 480, Rn. 49
233
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.22, Meeting Records
(1969), S. 116, 116 ff.
234
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.22, Meeting Records
(1969), S. 116, 117, Rn. 11 f.
235
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.22, Meeting Records
(1969), S. 116, 118, Rn. 19 ff., S. 120 f., Rn. 40 ff.
II. Das Prinzip rebus sic stantibus in der WVK233
von Artikel 59 fallen würden, sondern vom Verbot von Verträgen im Widerspruch
zu zwingendem Recht abgedeckt seien.236 Die Konferenz nahm Artikel 59 letzt-
lich mit 93 Ja-Stimmen, 3 Nein-Stimmen und 9 Enthaltungen an.237 Die Delegation
Kameruns verkündete, die Entscheidung der Organisation für Afrikanische Einheit,
entsprechend der uti-possidetis-Doktrin koloniale Grenzen nunmehr anzuerkennen,
hätte ihre anfänglichen Zweifel an Absatz 2 (a) beseitigt.238 Tabibi machte deutlich,
dass Afghanistans Ablehnung von Artikel 59 nur auf dessen Absatz 2 (a) beruhe,
der koloniale Verträge schütze und aus politischen Motiven aufgenommen worden
sei.239 Ähnlich äußerte sich Syrien.240 In die Wiener Vertragsrechtskonvention wurde
das Prinzip rebus sic stantibus schließlich als Artikel 62 aufgenommen.241
Während der ILC in den 1960er-Jahren in Bezug auf das Prinzip rebus sic stantibus
nachgesagt worden war, mehr eine wünschenswerte Norm zu formulieren, als sich
mit dem geltenden Gewohnheitsrecht auseinanderzusetzen,242 gehört Artikel 62 WVK
heute zum gewohnheitsrechtlich anerkannten Regelungsbestand. Er entspricht im
Wesentlichen der Rechtsprechung des IGH und spätestens mit dem Inkrafttreten der
WVK 1980 auch dem geltenden Gewohnheitsrecht.243 Allerdings wird das Prinzip rebus
sic stantibus nach wie vor als subsidiär zu anderen Nichtigkeitsnormen betrachtet.244
236
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.22, Meeting Records
(1969), S. 116, 118, Rn. 16, S. 120, Rn. 37, S. 121, Rn. 45.
237
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.22, Meeting Records
(1969), S. 116, 121, Rn. 47.
238
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.22, Meeting Records
(1969), S. 116, 121, Rn. 49.
239
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.22, Meeting Records
(1969), S. 116, 121, Rn. 50.
240
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.22, Meeting Records
(1969), S. 116, 122, Rn. 53.
241
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.36, Meeting Records
(1969), S. 202, 203, Rn. 12; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/27,
Official Records (1968/1969), S. 289, 297.
242
Lissitzyn, Treaties and Changed Circumstances (Rebus Sic Stantibus), 61 American
Journal of International Law 81967), S. 895, 918.
243
ICJ, ICJ-Reports 1974, S. 3, 18, Rn. 36; Craven, What Happened to Unequal Treaties?
The Continuities of Informal Empire, 74 Nordic Journal of International Law (2005), S. 335,
369; Heintschel von Heinegg, Treaties, Fundamental Change of Circumstances, Max Planck
Encyclopedia of Public International Law (2006), Rn. 4, 19, 20, 26.
244
Heintschel von Heinegg, Treaties, Fundamental Change of Circumstances, Max Planck
Encyclopedia of Public International Law (2006), Rn. 26.
234 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
Unklar ist jedoch bis heute die gewohnheitsrechtliche Geltung von Artikel 62
Absatz 2 a). Afghanistan hatte einen Vorbehalt zur WVK angebracht, nachdem
Artikel 62 Absatz 2 a) keine rechtswidrigen und Ungleichen Verträge oder solche
unter Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht erfassen sollte.245 Ähnliche Vorbe-
halte wurden von Marokko und Syrien abgegeben.246 Die Einschränkung in Artikel
62 Absatz 2 a) wird vor dem Hintergrund des Selbstbestimmungsrechts bis heute
kritisch gesehen.247 Allerdings erscheint das Verhältnis von Selbstbestimmungsrecht
und rebus sic stantibus heute nach dem weitgehenden Abschluss der Dekoloniali-
sierungsphase als von untergeordnetem Interesse.248
Ursprünglich Ungleiche Verträge werden als solche nicht von Artikel 62 WVK
erfasst.249 Auch die Idee, dass die Dekolonialisierung eine wesentliche Änderung
der Umstände darstelle, führte letztlich nicht zur Ächtung Ungleicher Verträge unter
dem Prinzip rebus sic stantibus. Die Debatte um den späteren Artikel 62 WVK
sollte aber nochmals im Rahmen des Rechts der Staatennachfolge in Verträge rele-
vant werden, wo die Bindung der neuen Staaten an Grenz- und andere Territorial-
verträge erneut zur Debatte gestellt wurde.
Während sich die Idee der Ungleichen Verträge ursprünglich in der völkerrecht-
lichen Wissenschaft und Praxis Russlands und Chinas entwickelte, waren es bei
den Debatten zum Recht der Verträge in der ILC wie bei der Wiener Vertragsrechts-
konferenz insbesondere die Staaten der Dritten Welt, welche für eine umfassende
Ächtung Ungleicher Verträge eintraten und diese maßgeblich vorantrieben. Dabei
vertrat die Dritte Welt einen gemischt prozedural-materiellen, der Ostblock hin-
gegen einen rein materiellen Begriff Ungleicher Verträge, häufig traten jedoch auch
begriffliche Überschneidungen auf. Das Konzept Ungleicher Verträge stand für die
ehemaligen Kolonien in engem Zusammenhang mit ihrer Kritik an der europäisch
geprägten, materiell nicht universellen Völkerrechtsordnung. Letztlich scheiterten
der Bemühungen der Dritten Welt, durch die WVK ihre Bindung an Ungleiche Ver-
träge vollumfänglich auszuschließen. Ein zeitgenössischer Beobachter schrieb über
die Arbeiten der ILC zur WVK:
245
United Nations, Treaty Series, Vol. 1155, S. 496.
246
United Nations, Treaty Series, Vol. 1155, S. 500, 505.
247
Heintschel von Heinegg, Treaties, Fundamental Change of Circumstances, Max Planck
Encyclopedia of Public International Law (2006), Rn. 30.
248
Heintschel von Heinegg, Treaties, Fundamental Change of Circumstances, Max Planck
Encyclopedia of Public International Law (2006), Rn. 30.
249
Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74
Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 369; Caflisch, Unequal Treaties, 35
German Yearbook of International Law (1992), S. 52, 77 f.
III. Fazit zu Teil II235
The doctrines of error vitiating consent, and coercion have been covered. But it is doubtful
whether the Commission’s draft squares directly up to the contentious issues and basis of
the disagreement between East and West on problems of indirect or economic coercion or
the Soviet doctrine of ‘unequal treaties’.250
Eine echte Lösung der Frage der Ungleichen Verträge im Rahmen der WVK war von
vielen zeitgenössischen Autoren auch gar nicht ernstlich erwartet worden.251 Dies
führte zum Teil zu sehr vagen Formulierungen, die letztlich Kompromissformeln
und keine echte Lösung des Problems der Ungleichen Verträge darstellten.252 Die
Ungültigkeit Ungleicher Verträge ist unter Geltung der WVK auf die dort genannten
Fälle, nämlich Artikel 52, 53 und 62 WVK, beschränkt.
Bei der Regelung zu Verträgen unter gewaltsamem Zwang entschied dabei die
Wahl der Matrix über die Gestaltung der Norm: Waldock hatte sie als Korrelat zum
Gewaltverbot konzipiert, Yasseen als Norm zum Schutz der Willensfreiheit. Wald-
ocks Position setzte sich durch. Besonders interessant ist insofern der Verlauf der
Wiener Vertragsrechtskonferenz: Hier sollte die Kodifikation des Vertragsrechts die
Dritte Welt in den Rechtssetzungsprozess einbinden; gleichzeitig wurde etwa ihrer
Position zum Gewaltverbot nicht entgegengekommen, sondern diese wurde mit
dem Nineteen-State-Amendment ins soft law verschoben, an den äußersten Rand
der völkerrechtlichen Sphäre. Die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht hatte
in dieser Debatte im Übrigen keine Auswirkungen gezeigt.
Die Norm zu Verträgen im Widerspruch zu ius cogens stand im engen Zusam-
menhang zu der Idee einer Internationalen Gemeinschaft und einer ordre inter-
national public. Dabei beriefen sich insbesondere die Staaten des Ostblocks auf
das Selbstbestimmungsrecht und auf die souveräne Gleichheit der Völker als zwin-
gendes Recht, gegen das Ungleiche Verträge verstoßen würden. Anders als bei der
Norm zu Verträgen unter gewaltsamem Zwang, die von der Dritten Welt im Kampf
gegen prozedural Ungleiche Verträge verwandt wurde, ging es hier um materiell
Ungleiche Verträge, also solche, deren Inhalt so ungleich war, dass er in Konflikt
mit Regelungen des zwingenden Völkerrechts geriet. Die Völkerrechtswissenschaft-
ler in den neuen Staaten scheuten eine solche Vertragsinhaltskontrolle zunächst aus
Angst vor Neokolonialismus. Außerdem stand ein rein materielles Konzept Unglei-
cher Verträge im Konflikt mit vielen Forderungen der Völkerrechtler in den neuen
Staaten im Zusammenhang mit ihrem Globalsolidarischen Projekt. Die Argumenta-
tion der sowjetischen Völkerrechtler wurde von der Dritten Welt erst im Verlauf der
Debatte zumindest teilweise übernommen. Während die Idee des ius cogens also
mit der WVK kodifiziert wurde, spielte die fragliche Norm im Zusammenhang mit
Ungleichen Verträgen im Ergebnis keine große Rolle. Dies kann als vertane Chance
250
Hogg, The International Law Commission and the Law of Treaties, 59 Proceedings of the
Annual Meeting (American Society of International Law) (1965), S. 8, 13.
251
Hogg, The International Law Commission and the Law of Treaties, 59 Proceedings of the
Annual Meeting (American Society of International Law) (1965), S. 8, 13.
252
Vgl. Hogg, The International Law Commission and the Law of Treaties, 59 Proceedings of
the Annual Meeting (American Society of International Law) (1965), S. 8, 13.
236 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
der Völkerrechtler in der Dritten Welt bewertet werden, die aus Angst vor der neo-
kolonialen Verwendung des zwingenden Völkerrechts lange Zeit nicht bereit waren,
ihre Kräfte mit denen der sowjetischen Völkerrechtler zu bündeln. Gleichzeitig ist
zu bemerken, dass auch die sowjetischen Vorstöße im Kampf gegen Ungleiche Ver-
träge unter Stärkung des Selbstbestimmungsrechts sich nicht durchsetzen konnten.
Die Norm zum Prinzip rebus sic stantibus wurde durch Waldocks Ausschluss von
Grenz- und anderen Territorialverträgen schon von Anfang an derartig begrenzt, dass
sie kaum Ungleiche Verträge erfassen konnte, weil die wichtigsten Fallbeispiele aus
dem Anwendungsbereich herausfielen. Hier führte die Berufung auf das Selbstbe-
stimmungsrecht letztlich zur Marginalisierung der Debatte um Ungleiche Verträge,
weil diese aus dem „harten“ Recht der Verträge heraus in den hiervon vermeintlich
zu trennenden Bereich der Politik verschoben wurde. Insofern trifft ein Kernpunkt
der Kritik der TWAIL II zu: Denn in der Debatte um das Prinzip rebus sic stantibus
beriefen sich die Völkerrechtler in den neuen Staaten auf ein (von ihnen in der jüngs-
ten Zeit mitgeprägtes) Grundprinzip des Völkerrechts, dessen koloniale Implikatio-
nen sie übersahen. Dies und die Tatsache, dass das Selbstbestimmungsrecht durch
die Dekolonialisierung auch antikoloniale Implikationen verinnerlicht hatte, machten
das Grundprinzip zum argumentativen Spielball zwischen Nord und Süd, zwischen
Waldock und Tabibi. Durch seine konzeptionelle Vagheit ließ es das Selbstbestim-
mungsrecht der Völker zu, argumentativ zur völkerrechtlichen Ächtung Ungleicher
Verträge im Rahmen des Rechts der Verträge genutzt zu werden, und erlaubte gleich-
zeitig, die Lösung des Problems aus dem Recht der Verträge und sogar aus dem völ-
kerrechtlichen Rahmen überhaupt in die politische Sphäre zu verschieben. Die völ-
kerrechtliche Argumentationsstruktur ließ beides zu; für beide Standpunkte konnten
dieselben Argumente – Stabilität, Sicherheit, Weltfrieden – angeführt werden. Durch
die Beschränkung des Ausschlusses auf Grenzverträge schafften es die Völkerrecht-
ler in den Neuen Staaten mit Unterstützung von Völkerrechtlern aus Ost und West,
den Anwendungsbereich Ungleicher Verträge im Rahmen der Norm zum Grundsatz
rebus sic stantibus zwar etwas zu öffnen; durch den Ausschluss der Änderung des
politischen Systems von den wesentlichen Veränderungen wurde er aber wiederum
so massiv beschränkt, dass letztlich kaum mehr Anwendungsfälle übrig blieben. Die
Debatte um das Prinzip rebus sic stantibus sollte dabei nochmal im Rahmen des
Rechts der Staatennachfolge in Verträge relevant werden, wo die Bindung der neuen
Staaten an Grenz- und andere Territorialverträge erneut zur Debatte stehen sollte.253
Letztlich hatten die Industrienationen schlicht kein Interesse an der Aufhebung
Ungleicher Verträge gehabt, da solche Verträge als Konzessions- oder Pachtver-
träge häufig ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen dienten. Es brachte ihnen
auch keinen Vorteil, Grenzkonflikte in Afrika zu schüren. Sie lehnten die Ächtung
Ungleicher Verträge im Rahmen des Rechts der Verträge daher ab und setzten sich
auch durch, da die neuen Staaten nicht das Scheitern der Wiener Vertragsrechtskon-
ferenz in Kauf nehmen wollten. Entsprechend begrenzt konnten Ungleicher Ver-
träge durch Artikel 52, 53 und 62 WVK geächtet werden.
253
Siehe unten, Teil III.
III. Fazit zu Teil II237
Zudem könnten auch diese Regelungen gemäß Artikel 4 WVK auch keine Rück-
wirkung für sich beanspruchen, wobei hierdurch allerdings bereits vor der WVK
existierendes Gewohnheitsrecht unberührt bleibt.254 Dieser Schlupfwinkel im
schließlich weitgehend verlorenen Kampf gegen Ungleiche Verträge erklärt, warum
in den Debatten rund um Ungleiche Verträge auch immer wieder Streit aufkam,
ob ein Konzept bereits gewohnheitsrechtlich anerkannt war oder nicht. Die WVK
selbst leistete jedenfalls nur einen begrenzten Beitrag im Kampf gegen Ungleiche
Verträge. Konsens wird in der heutigen Konzeption der WVK nicht Ausdruck des
autonomen Willens der Parteien, sondern vielmehr eine formaler Mechanismus zur
Akzeptanz eines Vertrages gesehen, der losgelöst von der Psychosoziologie der
Zustimmung betrachtet werden muss.255 Das Problem wird so auf subtile Weise
vom Recht in die Politik verschoben.256 Während das Problem des (gewaltsamen)
Kontextes bei Vertragsschluss durch die WVK partiell gelöst wurde, blieben die
Probleme der Subordination von Souveränität und der mangelnden Reziprozität bis
heute (wenn auch im Verborgenen) bestehen.257 Das heutige Völkerrecht knüpft an
Ungleiche Verträge als solche und außerhalb der WVK-Normen keine besonderen
rechtlichen Konsequenzen.258 Bis heute werden etwa der Versailler Vertrag, manche
Status of Forces Agreements oder das Atomwaffenregime als ungleich bezeichnet.259
Daneben gibt es eine neue Gruppe Ungleicher Verträge: Das GATT etwa sieht eine
bevorzugte Behandlung von Entwicklungsländern vor und alle Umweltverträge
nach Rio gehen von einer gemeinsamen aber unterschiedlichen Verantwortung der
Mitgliedsstaaten aus.260 Im Gegensatz zu klassischen Ungleichen Verträgen versu-
chen solche Verträge jedoch, durch formale Ungleichbehandlung nicht materielle
Ungleichheiten aufrechtzuerhalten, sondern materielle Gleichheit zu schaffen.261
Sie können also trotz mangelnder Reziprozität zumindest zum Teil als Verwirkli-
chung des Globalsolidarischen Projekts der neuen Staaten betrachtet werden.262
254
Siehe hierzu auch Sinclair, Vienna Conference on the Law of Treaties, 19 International and
Comparative Law Quarterly (1970), S. 47, 49.
255
Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74
Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 374.
256
Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74
Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 375.
257
Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74
Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 380.
258
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007), Rn. 2.
259
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 61, 63.
260
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 61.
261
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 61.
262
Vgl. Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An
Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 106.
238 Kapitel 7: Andere Normen zur Ächtung Ungleicher Verträge in der WVK
Trotz der mangelhaften Sanktionierung Ungleicher Verträge wurde die WVK all-
gemein und gerade auch in den neuen Staaten als Erfolg gewertet. Dies erklärt sich
dadurch, dass die neuen Staaten hier zum ersten Mal überhaupt die Möglichkeit
hatten, in vollem Umfang an einem multilateralen Vertragswerk mitzuarbeiten. Für
die Völkerrechtler aus den neuen Staaten war diese Tatsache allein Grund genug zu
der Annahme, einen wesentlichen Schritt hin zu einer materiell universellen Völ-
kerrechtsordnung gegangen zu sein. So kündigte Elias nach Abschluss der WVK
an, nach der bevorstehenden Beendigung der Arbeiten zur Frage der Staatennach-
folge und einigen anderen Themen „international law will have been re-written and
re-stated to an extend that it will have ceased to be a European-oriented law and
become a modern world law.“263 Es wurde also betont, dass durch den Abschluss der
WVK das Recht der völkerrechtlichen Verträge zumindest für die Zukunft materiell
universell geworden sei, obwohl dies die Gültigkeit der Ungleichen Verträge aus der
Kolonialzeit und auch aus der Phase der Dekolonialisierung gar nicht berührte. Die
Kodifizierung und formal universelle Beteiligung wurde als Heilmittel gegen die
europäische Völkerrechtsordnung betrachtet. Aus Allgemeinem Völkerrecht, dessen
Bindungswirkung für die neuen Staaten umstritten war,264 wurde Vertragsrecht, an
dem die neuen Staaten mitgewirkt hatten und das sie auch band. Damit war aus Sicht
der Völkerrechtler in den neuen Staaten, wenn schon nicht mit Wirkung für alte bila-
terale Verhältnisse, so doch zumindest ad hoc multilateral ein Schritt in Richtung
materielle universale Völkerrechtsordnung gegangen. Obwohl sich die umfassende
Ächtung Ungleicher Verträge nicht durchgesetzt hat, war der Kampf hierum für die
neuen Staaten für sich schon ein Mittel der Befreiung und bietet bis heute zumindest
rechtspolitisch, aber auch rechtstheoretisch eine kritische Perspektive im Umgang
mit dem Imperialismus.265 Von den TWAIL II der Gegenwart wird das Scheitern der
umfassenden Ächtung Ungleicher Verträge durch die WVK – anders als von den
TWAIL I, die wenigstens einen prozessualen Schritt in Richtung materielle Univer-
salität feierten – als Neoimperialismus stigmatisiert. So schreibt Anghie:
The point, however, is that it is international law that legitimized, through the doctrines of
conquest and by upholding unequal treaties, the imbalances and inequalities in social and
political power that are inevitably reflected in international contracts which are then cha-
racterized as expressing the free will of the parties. The old international law of conquest
creates the inequalities that the new international law of contracts perpetuates, legalizes and
substantiates when it ‘neutrally’ enforces the agreements, however one-sided, entered into
by sovereign Third World states. It is in this way that the ‘old’ international law of imperia-
lism, based on conquest, is connected with the new international law of imperialism, based
on contract.266
263
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 68.
264
Siehe oben Kapitel 3.
265
Vgl. Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law
(2007), Rn. 69; Caflisch, Unequal Treaties, 35 German Yearbook of International Law
(1992), S. 52, 78 f
266
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2005), S. 241.
III. Fazit zu Teil II239
Neben ihrer Bedeutung für die Dritte Welt damals und heute, war sie auch mit Blick
auf die Geschichte der Kodifikationsbewegung von Belang. Bei der WVK waren
anders als bei früheren Arbeiten der ILC viele wichtige Normen umstritten gewesen;
ihren Erfolg in dieser Sache führte Rosenne auf vorsichtige, auf Kompromiss aus-
gelegte Verhandlungen zurück, deren Gelingen es der ILC später erst ermöglichte,
auch so heikle Probleme wie das Recht der Staatennachfolge anzufassen, welches
von der WVK gemäß deren Artikel 73 unberührt geblieben war.267 Jenem Recht der
Staatennachfolge widmet sich das nächste Kapitel.
Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the Annual
267
Die Frage der Ungleichen Verträge, die in Teil II mit Bezug auf die WVK thema-
tisiert wurde, spielte auch eine bedeutende Rolle im Recht der Staatennachfolge:
Hier gehörten das Schicksal von aus Territorialverträgen entstandenen Territori-
alregimen sowie von aus Konzessionsverträgen Erworbenen Rechten Privater zu
den umstrittensten Materien.1 In Teil III der vorliegenden Arbeit sollen daher die
Debatten in der ILC um die beiden Wiener Konventionen zur Staatennachfolge von
1978 und 1983 in Bezug auf diese beiden Themen dargestellt werden. Während bei
der WVK nur einzelne Regelungen für die Ächtung Ungleicher Verträge relevant
waren und sich die Debatte um die Bindung der neuen Staaten an das postkoloniale
Völkerrecht in materiell-rechtlicher Sicht auf diese Normen beschränkte – wobei
natürlich die gesamte Konvention als solche aus Sicht der Dritten Welt einen Schritt
in Richtung materieller Universalität der Völkerrechtsordnung bedeutete – betrafen
die WKSV und die WKSVAS von ihrer Thematik her in Gänze die Frage nach
der Bindung der neuen Staaten an das postkoloniale Völkerrecht.2 Zunächst werden
daher die Entstehungsgeschichte der Konventionen, ihre Struktur und die grund-
legenden Regelungen angesprochen (Kap. 8). Sodann sollen die Debatten in der
ILC über Territorialrechte (Kap. 9) und Erworbene Rechte (Kap. 10) im Detail
1
Zu Territorialverträgen und Konzessionverträgen als Ungleiche Verträge siehe schon oben,
Teil II.
2
Siehe zum Recht der Staatennachfolge in der Dekolonialisierung allgemein Craven, The
Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties (2007). In
diesem Werk untersucht Craven die historische Entstehung der WKSV, wobei er völker-
rechtswissenschaftliche Literatur sowie verschiedene Dokumente der ILC auswertet. Sein
methodischer Ansatz ähnelt dabei jenem der vorliegenden Arbeit, Craven konzentriert sich
jedoch nicht auf die spezifische Perspektive der Völkerrechtler in der Dritten Welt und auch
nicht auf die Bindungsfrage als solche; ihm geht es mehr darum, wie das Recht der Staaten-
nachfolge auf die Herausforderungen durch die Dekolonialisierung reagierte. Um Cravens
bereits geleistete Forschungsarbeit zu würdigen, wird im folgenden Kapitel auf seine Arbeit
aufgebaut bzw. verwiesen.
242 Teil III: Die Bindungsfrage im Recht der Staatennachfolge
dargestellt werden. Diese beiden Regelungsbereiche sind nicht nur wegen ihrer
Verbindung mit der Debatte um Ungleiche Verträge und ihrer Kontroversität von
besonderem Interesse für die vorliegende Arbeit, sondern wurden auch maßgeblich
durch ein unter Einfluss der Dritten Welt neu entstandenes und geprägtes Grund-
prinzip des Völkerrechts, die permanente Souveränität über natürliche Ressour-
cen, beeinflusst. Hierdurch wurde die ökonomische Dimension der Debatte um die
Bindung der neuen Staaten an das postkoloniale Völkerrecht zunehmend deutlicher.
Den Darstellungen schließt sich ein kurzes Fazit zur Rolle der Völkerrechtler in der
Dritten Welt in den Debatten der ILC zum Recht der Staatennachfolge an. Schließ-
lich finden sich Schlussbetrachtungen (Kap. 11) zur vorliegenden Arbeit.
Strukturell argumentierten die Völkerrechtler in der Dritten Welt im Recht der
Staatennachfolge erneut mit Grundprinzipien, insbesondere mit dem Selbstbestim-
mungsrecht und der Permanenter Souveränität über Natürliche Ressourcen. Insbe-
sondere in Bezug auf Territorialregime und Erworbene Rechte sollte das Stabilitäts-
argument für Völkerrechtler des globalen Nordens wie Südens dabei von zentraler
Bedeutung sein. Obwohl das Recht der Staatennachfolge als besonders politisches
Rechtsgebiet betrachtet wurde, wollten die Völkerrechtler aus der Dritten Welt hier,
wie auch sonst in der Bindungsdebatte, grundsätzlich rechtliche Lösungen finden
und eine Grenzverschiebung ins Politische vermeiden; Ausnahmen bildeten insofern
(die Debatten um Territorialregime und Erworbene Rechte. Hier spielte die Wahl
der rechtlichen Matrix erneut eine grundlegende Bedeutung. So nutzte Waldock
das Vertragsrecht als Blaupause für das Recht der Staatennachfolge in Verträge und
rechtfertigte so bei der Staatennachfolge in Grenzregime eine Parallelregelung zum
Prinzip rebus sic stantibus in Artikel 62 Absatz 2 a) WVK. Während die meisten
Völkerrechtler aus der Dritten Welt die kolonialen Grenzen trotz aller Probleme
faktisch anerkannten, versuchte beispielsweise Tabibi die Zementierung dieser
Grenzen zu verhindern, indem er das Thema der Kompetenz der Generalversamm-
lung als politisches Organ zusprach. Inder Debatte um Erworbene Rechte wurde die
individualrechtliche, vornehmlich apologetische Eigentumskonzeption (aufbauend
auf utopischem Liberalismus) des Westens konfrontiert mit einer auf den ersten
Blick utopischen Idee des Kollektiveigentums an Ressourcen (das aber nur einem
Staat und nicht allen zustehen soll und so wieder apologetisch wirkt) der Dritten
Welt. Auch hier fanden verschiedene Grenzziehungen im völkerrechtlichen Diskurs
statt: Die Frage Erworbener Rechte wurde erst dem Recht der Staatenverantwort-
lichkeit, dann dem Recht der Staatennachfolge und schließlich dem Fremdenrecht
zugeordnet. Im Streit um das Entschädigungserfordernis bei der Enteignung Erwor-
bener Rechte versuchten Völkerrechtler, die Materie der nationalen Jurisdiktion der
neuen Staaten zu unterstellen, während westliche Völkerrechtler einen internatio-
nalen Mindeststandard propagierten. Insgesamt erhielt die Bindungsfrage im Recht
der Staatennachfolge zunehmend eine bedeutende wirtschaftsrechtliche Dimension.
Hier schafften es die neuen Staaten zunehmend, ihre Positionen in den maßgebli-
chen Konventionen zu verwirklichen. Dies führte jedoch nicht dazu, dass sich ihre
Auffassung tatsächlich politisch durchsetzte; vielmehr verweigerten sich die west-
lichen Staaten den Konventionen und marginalisierten die Position der Dritten Welt
auf diese Weise.
Kapitel 8: Die völkerrechtliche Debatte das um
Recht der Staatennachfolge
Um die Bedeutung des Rechts der Staatennachfolge für die Völkerrechtler in der
Dritten Welt herauszuarbeiten, ist zunächst auf die verschiedenen Theorien zum
Grundprinzip der Staatennachfolge einzugehen (1.). Vor diesem Hintergrund kann
die Bedeutung der Dekolonialisierung für das Recht der Staatennachfolge beleuch-
tet werden (2.). Hieraus ergeben sich die Erwartungen, welche Völkerrechtler aus
Nord und Süd an die Arbeiten der ILC am Recht der Staatennachfolge richteten (3.).
Das Recht der Staatennachfolge gehörte stets zu den umstrittensten Bereichen des
Völkerrechts.1 Ein Kommentator stellte Ende der 1970er-Jahre fest:
The succession practice of States in modern times reflects the controversy among scholars
and the lack of settled rules of international law, and has contributed to political instability
1
Schoenborn, Staatensukzession (1913), S. 3; Merican, The Third World and International
Law (1976), S. 72; Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 1.
around the world. A survey of States practice yields a sampling of contradictions and incon-
sistencies, and underscores the unique complexity of the problems of State succession.2
Dies lag zum einen an der Verschiedenartigkeit der historischen Fälle der Staaten-
nachfolge und der damit einhergehend uneinheitlichen Praxis.3 Für Völkerrechtler
in Nord wie Süd sollte das Recht der Staatennachfolge die schwierige Aufgabe
erfüllen, einen durch innerstaatliche Umwälzungen entstandenen transitorischen
Zustand, der zumeist mit einem Souveränitätswechsel auf einem Territorium ein-
herging,4 in seinen internationalen Auswirkungen zu regeln.5 Dabei ging es um die
Frage, welche Verpflichtungen des Vorgängerstaates der Nachfolgerstaat zu tragen
hatte und welche nicht.6 Die Völkerrechtler in der Dritten Welt maßen dem Recht
der Staatennachfolge dabei im Zusammenhang mit der Dekolonialisierung eine
besondere Bedeutung im Rahmen ihres Globarsolidarischen Projekts7 bei. Im Recht
der Staatennachfolge lag für sie die Möglichkeit, die Frage nach der Bindung der
Dritten Welt an das postkoloniale Völkerrecht zumindest in einem Teilbereich ent-
sprechend dem Wunsch der neuen Staaten – dem clean-slate- oder tabula-rasa-
Prinzip –8 zu lösen. Für die Völkerrechtler aus der Dritten Welt sollte das Recht
der Staatennachfolge gewährleisten, dass keine kolonialen Verpflichtungen auf die
ehemaligen Kolonien übergingen und diese ihre künftigen Rechtsverhältnisse selbst
ausverhandeln konnten.9 Dabei war das Thema Staatennachfolge seit hunderten von
Jahren umstritten und blickte auf verschiedene grundlegende Theorien zurück, die
sich primär auf die Staatennachfolge in Verträge bezogen, jedoch auch auf andere
Bereiche wie etwa die Nachfolge in Staatseigentum, -schulden und -vermögen
ausstrahlten.10
Ausgehend vom römischen Recht galt im Recht der Staatenverantwortlichkeit bis
in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein das Prinzip der Universalsukzes-
sion, nach dem der Nachfolgerstaat in die Rechte und Pflichten des Vorgängerstaates
2
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 895.
3
Schoenborn, Staatensukzession (1913), S. 4; O’Connell, International Law (1970), S. 368.
4
Siehe beispielsweise Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 11. Zur
Rechweite des Begriffs der Staatennachfolge siehe sogleich.
5
Siehe Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 8; O’Connell, The
Law of State Succession (1956), S. 3; Craven, The Decolonization of International Law:
State Succession and the Law of Treaties (2007), S. 23.
6
Näheres zur Rechweite des Begriffs der Staatennachfolge siehe sogleich.
7
Siehe dazu Teil I.
8
Siehe Teil I.
9
Siehe Hierzu auch Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and
the Law of Treaties (2007), S. 86.
10
Vgl. hierzu allgemein O’Connell, State Succession in Municipal Law and International
Law, Band I (1967), S. 8 ff.
I. Die Bedeutung des Rechts der Staatennachfolge für die Völkerrechtler in der Dritten Welt245
eintrat.11 Die Idee der Universalsukzession mochte auf Grund der ständigen Verän-
derungen der Grenzen Europas etwa durch die napoleonischen Kriege und die Auf-
lösung des osmanischen Reiches einen hohen praktischen Nutzen gehabt haben;12
dieses aus dem Zivilrecht stammende Prinzip wurde jedoch später als unangemes-
sene Gleichstellung zwischen Individuen und Staaten kritisiert.13 Es passte nach
verbreiteter Ansicht nicht zu der immer weiter steigenden Anzahl von Verträgen und
der Staatenpraxis.14
Zu Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich unter dem Eindruck rechtspositivisti-
scher Ansätze als Gegenentwurf zur Universalsukzession daher der Negativismus
durch, der davon ausgeht, dass höchstpersönliche Verpflichtungen eines Vorgänger-
staates nicht auf den Nachfolgerstaat übergehen.15 Eine der diskutierten Ausnahmen
bildeten bereits damals verfügende Verträge, also solche, die wie beispielsweise
Grenzverträge keine andauernden Handlungspflichten beinhalteten.16 Der Brite
Matthew Craven beschreibt diesen Theoriewandel aus heutiger Perspektive so:
[T]he doctrine of succession in the period prior to decolonialization was marked by a shift
away from 19th century notions favoring succession, to one that prioritised consent on the
part of the ‘new’ sovereign to the inheritance of public obligations, but which secured, at
the same time, the rights of individuals in their private capacity.17
Diese Theorie basiert im Wesentlichen auf der Trennung zwischen der Nachfolge
von Regierungen, bei denen Kontinuität angenommen wurde, und der Staaten-
nachfolge, wobei die Abgrenzung im Einzelfall durchaus problematisch war.18 Am
11
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 886 f.; Craven, The Decoloniza-
tion of International Law: State Succession and the Law of Treaties (2007), S. 30 ff. Zu den
Vertretern gehörten u. a. Grotius, De Jure Belli ac Pacis Libri Tres, in quibus Jus Naturae
et Gentium, item Juris Publici Praecipua Explicantur (1651); de Vattel, Das Völkerrecht
oder Grundsätze des Naturrechts, angewandt auf das Verhalten und die Angelegenheiten der
Staaten und Staatsoberhäupter (1758, Übersetzung 1959); Huber, Die Staatensuccession:
Völkerrechtliche und staatsrechtliche Praxis im XIX. Jahrhundert (1889).
12
Udokang, Succession of New States to International Treaties (1972), S. 122.
13
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 887.
14
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, Fn. 2
15
Ein bekanntes Beispiel für diesen Negativismus bildet Keith, The Theory of State Succes-
sion: With Special Reference to English and Colonial Law (1907), S. 1 ff.
16
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 888. Siehe hierzu unten, Kapitel 9.
17
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 50 f. Siehe hierzu auch unten, Kapitel 10.
18
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 888.
246 Kapitel 8: Die völkerrechtliche Debatte das um Recht der Staatennachfolge
19
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 889.
20
Siehe oben, Teil I.
21
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 889.
22
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 135; Beispielsweise O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 266 ff.
23
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 82.
24
Siehe O’Connell, Independence and State Succession to Treaties, 38 British Year Book
of International Law (1962), S. 84 ff.; O’Connell, State Succession and Problems of Treaty
Interpretation, 58 American Journal of International Law (1964), S. 41 ff.; O’Connell, State
Succession in Municipal Law and International Law (1967) Band I und Band II.
25
De Vattel, Das Völkerrecht oder Grundsätze des Naturrechts, angewandt auf das Verhalten
und die Angelegenheiten der Staaten und Staatsoberhäupter (1758, Übersetzung 1959); siehe
auch Keith, The Theory of State Succession: With Special Reference to English and Colonial
Law (1907), S. 17 ff.
26
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 15.
27
O’Connell, Reflections on the State Succession Convention, 39 Zeitschrift für ausländi-
sches öffentliches Recht und Völkerrecht (1979), S. 725, 738.
I. Die Bedeutung des Rechts der Staatennachfolge für die Völkerrechtler in der Dritten Welt247
1. Unless the treaty otherwise provides, a State, on attaining independence may invoke and
may have invoked against it a treaty which was internationally in force with respect to the
entity or territory corresponding with it prior to independence if:
(a) The newly independent State has been notified or otherwise knows that the treaty has
been internationally in force with respect to the entity or territory corresponding with
it prior to independence, and
(b) (i) The newly independent State and the other party or parties have expressly agreed
to be bound by the terms of the treaty; or
(ii) The newly independent State and the other party or parties have applied the
terms of the treaty inter se; or
(iii) In the case of a bilateral treaty, neither the newly independent State nor the other
party has declared, within a reasonable time after the attaining of independence,
that the treaty is regarded as no longer in force between them; or
(iv) In the case of a multilateral treaty, the newly independent State has not declared,
within a reasonable time after the attaining of independence, that the treaty is not
in force with respect to it.33
28
Siehe oben Teil II.
29
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 275 f. Dies galt laut O’Connell jeweils
für eine Gesamtrechtsnachfolge. Bei der Teilrechtsnachfolge sollten seiner Ansicht nach per-
sönliche Verträge in Kraft bleiben, sofern dies mit den geänderten Umständen vereinbar sei.
Zum Begriff der dispositiven Verträge siehe unten.
30
Siehe hierzu Kapitel 10.
31
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 276 ff.
32
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 83. Im Jahr 1961 setzte die ILA ein 14-köpfiges Komitee ein, um das Thema „The
Succession of New States to the Treaties and Certain Other Obligations of their Predeces-
sors” zu erforschen. Vorsitzender des Komitees war der Franzose Charles Rousseau, Bericht-
erstatter wurde O’Connell. Der Zwischenbericht des Komitees wurde auf der 52. Konferenz
der ILA 1966 in Helsinki diskutiert. Dabei verabschiedete die ILA vier Empfehlungen, die
darauf abzielten, weitestgehend Kontinuität in die Vertragsbeziehungen der aus der Deko-
lonialisierung hervorgegangenen Staaten zu bringen. Bei der 53. ILA-Konferenz 1968 in
Buenos Aires hatte das Komitee einen weiteren Zwischenbericht mit dem Entwurf von neun
Resolutionen zum Thema vorgelegt. Diese Resolutionen nahm die ILA unverändert an. Siehe
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 47, Rn. 13.
33
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2,, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 48,
Rn. 15.
248 Kapitel 8: Die völkerrechtliche Debatte das um Recht der Staatennachfolge
Die ILA wollte im Ergebnis also durchaus wie O’Connell weitreichende Konti-
nuität in den Vertragsbeziehungen erreichen, dies jedoch nicht gegen den erklärten
Willen der neuen Staaten, sondern nur auf Grund deren expliziter oder implizi-
ter Zustimmung bzw. nach dem Verstreichen einer bestimmten Zeit. Auch Jenks
lehnte den Negativismus zumindest für multilaterale rechtssetzende Verträge ab.34
Vertreter der verschiedenen Spielarten der Kontinuitätstheorie argumentierten
dabei empirisch oder normativ und fürchteten die Rechtsunsicherheit, die durch
den Negativismus entstehen könnte.35 Jenks meinte, die Kontinuitätstheorie bezwe-
cke nicht „perpetuating the dead hand of the past, but avoiding a legal vacuum“.36
Hierin lag eine starke Betonung von utopischen Idealen wie der Rechtssicherheit;
gleichzeitig baute die Kontinuitätstheorie auf der apologetischen Idee des Schut-
zes der bestehenden Rechte einzelner Staaten und Individuen im Verhältnis zu dem
von der Nachfolge betroffenen Staat auf. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die
Kontinuitätstheorie letztlich nur die Fortwirkung bestimmter, als besonders wichtig
empfundener Vertrags- und Rechtsverhältnisse statuierte und damit nicht allzu fern
vom Negativismus war.
Ebenfalls im Zusammenhang mit der Dekolonialisierung erlebte der Negativis-
mus eine Renaissance: Vertreter der clean-slate-Theorie hielten ausgehend von der
Vertragsinterpretation die Staatennachfolge grundsätzlich für ausgeschlossen, es sei
denn, sie sei wie etwa bei dispositiven Verträgen der Intention der Parteien zu ent-
nehmen.37 So meinte beispielsweise McNair:
In spite of some evidence to the contrary, emanating mainly from diplomatic rather than
legal sources, it is submitted that the general principle is that newly established States which
do not result from a political dismemberment and cannot fairly be said to involve political
continuity with any predecessor, start with a clean slate in the matter of treaty obligations,
save in so far as obligations may be accepted by them in return for the grant of recognition
to them or for other reasons, and except as regards the purely local or ‘real’ obligations of
the State formerly exercising sovereignty over the territory of the new State.38
Diese von westlichen Völkerrechtlern wie McNair vertretene Theorie wurde auch
von Völkerrechtlern der Dritten Welt als Advokaten ihrer Heimatländer aufgenom-
men: So meinte etwa Abi-Saab in Anlehnung an McNair, dass die neuen Staaten
34
Jenks, State Succession in Respect of Law-Making Treaties, 29 British Yearbook of Inter-
national Law (1952), S. 105, 142. Siehe hierzu schon oben, Teil I.
35
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 890.
36
Jenks, State Succession in Respect of Law-Making Treaties, 29 British Yearbook of Inter-
national Law (1952), S. 105, 109. Siehe hierzu auch oben, Teil I.
37
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 892 f.
38
McNair, The Law of Treaties (1961), S. 601. McNair stützte sich für diese Theorie im
Folgenden allerdings auf die Staatenpraxis im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit von
den Vereinigten Staaten, den ehemals spanischen Gebieten in Südamerika, Belgien, Polen,
der Tschechoslowakei, Finnland, den baltischen Staaten, Panama und Pakistan, jedoch nicht
auf solche der Dekolonialisierung.
I. Die Bedeutung des Rechts der Staatennachfolge für die Völkerrechtler in der Dritten Welt249
es bevorzugen würden, „to start with a tabula rasa, a clean slate“.39 Das Recht
der Staatennachfolge war in den 1960er- und 1970er-Jahren ein allgegenwärtiges
Thema in Publikationen von Völkerrechtlern aus der Dritten Welt.40 Dabei handelte
es sich fast ausschließlich um scheinbar neutrale Analysen der verschiedenen Theo-
rien der Staatennachfolge insbesondere anhand der neueren Staatenpraxis.41 Wie
bereits beim Recht der Verträge42 war die Position der Völkerrechtler in der Dritten
Welt zum Recht der Staatennachfolge dabei maßgeblich geprägt von ihrer histori-
sierenden Sichtweise auf und ihrer Kritik am etablierten Völkerrecht.43 Die Frage
der Staatennachfolge in Verträge war daher auch eng mit der Debatte um Ungleiche
Verträge verknüpft.44 Zwar bestand bereits im Recht der Verträge in engem Rahmen
die Möglichkeit, sich von Ungleichen Verträgen zu lösen;45 dies löste das Bindungs-
problem jedoch nicht umfassend, und Beobachter meinten, neue Staaten wollten
ihre Existenz auch nicht damit beginnen, Verträge etwa mit der Begründung zu
denunzieren, die Umstände hätten sich fundamental geändert.46 Soweit Ungleiche
Verträge nicht von der WVK geächtet wurden, war das Recht der Staatennachfolge
in Verträge eine weitere Hürde, welche diese Verträge überwinden mussten, um die
neuen Staaten binden zu können. Abhängig vom materiellen Inhalt der Ungleichen
Verträge wirkten sich diese mittelbar auch auf andere Bereiche des Rechts der Staa-
tennachfolge aus: So stellte sich die Frage des Schutzes Erworbener Rechte Pri-
vater47 etwa aus Konzessionsverträgen gerade vor dem Hintergrund der von den
ehemaligen Kolonien als ungleich empfundenen Umstände des zugrundeliegenden
Vertragsschlusses.
Aus der Praxis einiger neuer Staaten heraus entwickelte sich aus Kontinuitäts- und
clean-slate-Theorie eine Mischform, die sogenannte „Nyerere-Doktrin“, welche
39
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline, 8
Howard Law Journal (1962), S. 95, 113. Vgl. auch Sinha, Perspective of the Newly Indepen-
dent States on the Binding Quality of International Law, 14 International and Comparative
Law Quarterly (1965), S. 121, 126.
40
Beispielsweise Okoye, International Law and the New African States (1972), S. 46 ff.;
Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967), S. 69 ff.; Mutiti, State Succession to
Treaties in Respect of Newly Independent African States (1976); Udokang, Succession of
New States to International Treaties (1972); Merican, The Third World and International
Law (1976), S. 72 ff.; Poulose, Succession in International Law: A Study of India, Pakistan,
Ceylon and Burma (1974).
41
Siehe zu dieser weit verbreiteten Vorgehensweise oben, Teil I.
42
Siehe oben, Teil II.
43
Siehe oben, Teil I.
44
Merican, The Third World and International Law (1976), S. 74, siehe auch Chen, State
Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 53 ff.
45
Siehe oben, Teil II.
46
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 893.
47
Siehe hierzu Kapitel 10.
250 Kapitel 8: Die völkerrechtliche Debatte das um Recht der Staatennachfolge
große Aufmerksamkeit erfuhr und insbesondere von Völkerrechtlern aus den neuen
Staaten begrüßt wurde.48 Der tanganjikische Ministerpräsident Julius Kambarage
Nyerere hatte anlässlich der Unabhängigkeit seines Landes, das zuvor Mandats-
gebiet gewesen war und später von Großbritannien treuhänderisch verwaltet wurde,
die Ansicht geäußert, dass ein neuer Staat innerhalb von zwei Jahren nach seiner
Unabhängigkeit erklären dürfe, alle zum Zeitpunkt seiner Unabhängigkeit in Kraft
befindlichen Verträge vorläufig einzuhalten; innerhalb dieser Zeitspanne habe der
Staat jedoch das Recht, die Verträge zu prüfen; nach Ablauf der zwei Jahre könnten
nur jene Verträge weiter Geltung beanspruchen, denen der neue Staat zwischenzeit-
lich explizit zugestimmt hatte.49 Durch diese Taktik sollte den sich im Dekoloniali-
sierungsprozess befindlichen Staaten Bedenkzeit verschafft werden.50
Mit der clean-slate-Theorie und der Nyerere-Theorie gab es zwei Ansätze für
die Völkerrechtler in den neuen Staaten, gegen eine automatische Bindung ihrer
Heimatstaaten an Verpflichtungen durch die ehemaligen Kolonialmächte zu argu-
mentieren. So meinte auch Bartoš, die ehemaligen Kolonien seien zwar mit Verträ-
gen ihrer ehemaligen Kolonialherren nicht einheitlich umgegangen, stimmten aber
zumindest insofern überein, als dass die alte Theorie der Universalsukzession nicht
angewendet werden könne.51 Neben der Kontinuitätstheorie, der clean-slate-Theo-
rie und der Nyerere-Theorie entstanden diverse Variationen und Mischformen.52 Auf
Grund der verschiedenen Theorien stellte sich das Recht der Staatennachfolge nach
der Dekolonialisierung als unklar und umstritten dar. Völkerrechtlern in den neuen
Staaten wie Bedjaoui kam es deshalb darauf an, das traditionelle Recht der Staaten-
nachfolge zu reformieren. Gelänge es, so Bedjaoui, das Recht der Staatennachfolge
so auszugestalten, dass die ehemaligen Kolonien nicht für Verpflichtungen der ehe-
maligen Kolonialmacht in Bezug auf ihr Gebiet einstehen müssten, seien die neuen
Staaten in die Position gesetzt, ihre Rechtsbeziehungen selbst zu gestalten. Damit
wurde eine entsprechende Entwicklung des Rechts der Staatennachfolge als Schritt
in Richtung einer materiell-universellen Rechtsordnung betrachtet, die letztlich zur
Verwirklichung ihres Globalsolidarischen Projekts beitragen solle.53 Insofern lagen
48
Diese in Tanganjika entwickelte Theorie wurde auch von Uganda, Kenya, Malawi, Bots-
wana und Lesotho angewandt. Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The
Vienna Convention of 1978, 19 Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885,
894.
49
Nyerere, Problems of State Succession in Africa: Statement of the Prime Minister of Tanga-
nyika, International and Comparative Law Quarterly (1962), S. 1210, 1211 f.
50
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 895.
51
Bartoš, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 293, 294. Siehe auch
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 23.
52
Siehe hierzu Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention
of 1978, 19 Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 893 ff.
53
Vgl. Hierzu auch Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and
the Law of Treaties (2007), S. 203.
I. Die Bedeutung des Rechts der Staatennachfolge für die Völkerrechtler in der Dritten Welt251
der Position der Völkerrechtler in der Dritten Welt utopische Gerechtigkeits- und
Rechtssicherheitserwägungen zugrunde, wobei auch apologetisch auf die postkolo-
niale Staatenpraxis abgestellt werden konnte.
Zentrale Forderung der Völkerrechtler in der Dritten Welt war die Fokussierung auf
die Staatenpraxis der Dekolonialisierung statt gleichberechtigter Auswertung aller
Staatenpraxis bei der Ausarbeitung von Regelungen der Staatennachfolge; dieses
Vorgehen sei erforderlich, weil die Dekolonialisierung zu grundlegenden Verän-
derungen im internationalen Gefüge geführt habe.54 Ein wesentlicher Impuls ging
dabei von östlichen Völkerrechtlern aus. So stellte Bartoš die herausragende Rolle
der Dekolonialisierung im Recht der Staatennachfolge heraus.55 Bartoš meinte, dass
das Recht der Staatennachfolge als Teil des Allgemeinen Völkerrechts nicht als sta-
tisches Dogma betrachtet werden dürfe, sondern sich mit der Evolution der Inter-
nationalen Gemeinschaft weiterentwickelt habe.56 Bei ehemaligen Kolonien müsse
das Recht der Staatennachfolge dazu beitragen, die neuen Staaten erst in die Lage
vollständiger politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Unabhängigkeit zu
versetzen.57 Dies wiederum sei notwendig, um dem Prinzip der Selbstbestimmung
und jenem der permanenten Souveränität über natürliche Ressourcen Genüge zu
tun.58 Autoren aus dem Ostblock begründeten die Auswahl der relevanten Staaten-
praxis mit der Notwendigkeit, ein bestimmtes materiell-rechtliches Ergebnis zu
erhalten, wobei diese Notwendigkeit wiederum auf Existenz und Inhalt der genann-
ten Völkerrechtsprinzipien zurückgeführt wurde – eine Argumentationsweise, der
sich auch Völkerrechtler aus der Dritten Welt wie Tabibi bedienten.59 Das Phänomen
54
Siehe beispielsweise Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II),
S. 94, 99.
55
Bartoš, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 293, 293. Zur Posi-
tion vieler östlicher Autoren in Bezug auf Ungleiche Verträge siehe bereits Teil II.
56
Sub-Committee on Succession of States and Governments, UN Doc A/CN.4/160 and
Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 263, 264.
57
Bartoš, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 293, 293 ff.
58
Bartoš, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 293, 293 f. Zur per-
manenten Souveränität über natürliche Ressourcen siehe unten, Kapitel 9.
59
Ähnlich auch Tabibi: „He [Tabibi] had emphasized in his own working paper that the study
of State succession should be based on State practice. He agreed that undue emphasis on
State practice might involve some dangers because the former colonial Powers had, in past
practice, imposed some of the solutions. However, the general rules of international law
were inadequate to provide the answer to all the problems involved; in any event, many of
252 Kapitel 8: Die völkerrechtliche Debatte das um Recht der Staatennachfolge
Bedjaoui hatte ebenfalls von Anfang an die Bedeutung des „Ursprungs“ der Staa-
tennachfolge und hier insbesondere die Besonderheiten der Entstehungen neuer
Staaten im Wege der Dekolonialisierung betont:
[T]he rules regulating succession vary considerably according to the origin of the succes-
sion, which seems to introduce so many elements of diversification into the forms of suc-
cession law that State succession changes not only in degree but also in nature according
to its origin. […] In fact, however, these differences are so great that they are no longer
variations but "novations", indicating the evolution in State succession which has occurred
as a result of the phenomenon of decolonization. The origin of succession may all the more
justifiably be taken as the required point of departure for the classification of forms of
succession because the General Assembly resolutions seem in some respects to refer to it
by contrasting traditional succession with succession resulting from decolonization, to the
study of which the Assembly wishes special attention to be paid.64
Insgesamt ließ Bedjaoui keine Zweifel daran, dass er die Dekolonialisierung nach
dem Zweiten Weltkrieg für die wichtigste Form der Staatennachfolge hielt.65 Dabei
those rules had also been formulated in the past by former colonial Powers. His conclusion
on that point was similar to that of Mr. Bartos, namely that due attention should be paid to
the principles of the United Nations Charter and to the practice and principles of the United
Nations — in particular, the principle of self-determination — and the extent to which the
general rules of international law had been modified by the Charter, principles and practice
of the United Nations.” Sub-Committee on Succession of States and Governments, UN Doc
A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 266, 267.
60
Sub-Committee on Succession of States and Governments, UN Doc A/CN.4/160 and
Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 263, 264.
61
Sub-Committee on Succession of States and Governments, UN Doc A/CN.4/160 and
Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 270, 274.
62
Milan UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 293, 297.
63
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.702, ILC-Yearbook (1963, I), S. 189, 193, Rn. 35.
64
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 98. Zu der
Position der Generalversammlung, auf die Bedjaoui anspielt, siehe sogleich.
65
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 99.
I. Die Bedeutung des Rechts der Staatennachfolge für die Völkerrechtler in der Dritten Welt253
Für die Völkerrechtler in den neuen Staaten spielte die Dekolonialisierung also eine
ganz wesentliche Rolle im Recht der Staatennachfolge, da das Recht der Staaten-
nachfolge als Mittel zur Erlangung einer vollständigen Unabhängigkeit der ehema-
ligen Kolonien dienen sollte. Das Recht der Staatennachfolge und die Dekoloniali-
sierung standen für sie somit in einem unmittelbaren Wechselwirkungsverhältnis,
wobei das Ziel eine Veränderung des etablierten Völkerrechts im Rahmen des Glo-
balsolidarischen Projekts war.
Für die meisten westlichen Autoren sollte das Recht der Staatennachfolge hingegen
eher die Rückkehr zum Normalzustand der Internationalen Beziehungen sicher-
stellen; die Dekolonialisierung wurde insofern nur als eine Umbruchsituation unter
vielen betrachtet. So bezweckte das Recht der Staatennachfolge etwa laut O’Con-
nell, die Konsequenzen der Unterbrechung des gewohnten Gangs der Internationa-
len Beziehungen zu minimieren.70 Damit tendierten viele westliche Autoren und
insbesondere die Vertreter der Kontinuitätstheorie auch materiell dazu, den status
quo der sich auf ein Territorium beziehenden Rechte und Pflichten zu schützen.71
66
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 100.
67
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 100 f.
68
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 101; ders.,
Problemès Récents de Succession d’Etats dans les Etats Nouveaux, 130 Recueil des Cours
(1970, II). S. 457, 489 f.
69
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 101.
70
O’Connell, International Law (1970), S. 365.
71
Siehe Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of
Treaties (2007), S. 203: „On the one side there were those, like O’Connell, Rosenne, and
Keith who understood decolonization as a largely ordered process of governmental devolu-
tion characterized by high degrees of legal continuity at both the local and the international
level (indeed, on some accounts, these processes were intertwined).”
254 Kapitel 8: Die völkerrechtliche Debatte das um Recht der Staatennachfolge
Die Staatennachfolge dürfe nicht zu einem rechtlichen Vakuum führen und so das
Vertrauen in das Völkerrecht erschüttern.72 Es ging ihnen also lediglich darum, die
Probleme, welche sich aus der Übergangsphase der Staatennachfolge ergaben, zu
bewältigen.73 Für die westlichen Völkerrechtler wie O’Connell war das Recht der
Staatenverantwortlichkeit die juristische Reaktion des Rechts auf tragische politi-
sche Geschehnisse, deren Folgen abgemildert werden sollten.74 Ähnlich ging auch
Lauterpacht davon aus, dass das Recht der Staatenverantwortlichkeit rechtliche
Unsicherheiten verhindern sollte.75 Das Recht der Staatenverantwortlichkeit wurde
also als Reaktion auf faktische Entwicklungen gesehen,76 während es für die Völ-
kerrechtler in den ehemaligen Kolonien ein gestalterisches Potential barg. Craven
stellte die unterschiedlichen Auffassungen über die Bedeutung der Dekolonialisie-
rung anhand der gegensätzlichen Positionen von Bedjaoui und O’Connell aus heu-
tiger Sicht folgendermaßen dar:
What Bedjaoui took to be a seminal example – such as the Congolese denunciation of the
concession rights of the Belgian Union Minière, or the Zambian rejection of the claims of
the British South African Mining Company – O’Connell took to be an exception.77
Die Erwartungen an die Kodifizierung des Rechts der Staatennachfolge fielen deut-
lich unterschiedlicher aus, als dies im Recht der Verträge der Fall gewesen war. Sie
standen dabei in engem Zusammenhang mit der Frage nach Bedeutung des Rechts
der Staatennachfolge im Allgemeinen und in Bezug auf die Dekolonialisierung im
72
Vgl. Jenks, State Succession in Respect of Law Making Treaties, 29 British Yearbook of
International Law (1952), S. 105, 108.
73
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 203.
74
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 3; Craven, The Decolonization of Inter-
national Law: State Succession and the Law of Treaties (2007), S. 23 f.
75
Lauterpacht, Private Law Sources and Analogies of International Law: With Special Refe-
rence to International Arbitration (1927), S. 129; Craven, The Decolonization of International
Law: State Succession and the Law of Treaties (2007), S. 24.
76
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 24.
77
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 86.
I. Die Bedeutung des Rechts der Staatennachfolge für die Völkerrechtler in der Dritten Welt255
Das Projekt der materiellen Universalisierung des Völkerrechts wurde zumindest als
rein prozessuale Forderung nach der Beteiligung der neuen Staaten am Rechtsset-
zungsprozess also im Bereich der Staatennachfolge von Völkerrechtlern der Indust-
rienationen wie der Entwicklungsländer anerkannt und gefördert.83
78
Siehe GA, UN Doc A/Res/16/1686 (18. December 1961); GA, UN Doc A/Res/1902
(XVIII) (18. November 1963).
79
Siehe hierzu sogleich.
80
Siehe oben, Teil II.
81
Anderer Ansicht war von Anfang an Rosenne, der einen Prinzipienkatalog oder Richtlinien
bevorzugt hätte, vgl. Rosenne, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II),
S. 285, 286.
82
Sub-Committee on Succession of States and Governments, UN Doc A/CN.4/160 and
Corr. 1, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 263, 265. Ähnlich
auch Castrén, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 290, 291.
83
Zwar wollte sich Waldock in seinem ersten Bericht bezüglich der Form, welche die Artikel-
entwürfe zur Staatennachfolge in Verträge am Ende annehmen sollten, noch nicht festlegen;
er ging aber davon aus, dass es sich dabei um ein autonomes Instrument handeln würde,
welches die Existenz der – zu diesem Zeitpunkt gerade bei der Wiener Vertragsrechtskonfe-
renz in Verhandlung befindlichen – WVK voraussetzte. Siehe Waldock, UN Doc A/CN.4/202,
ILC-Yearbook (1968, II), S. 87, 89, Rn. 11. Bedjaoui machte bereits in seinem ersten Bericht
256 Kapitel 8: Die völkerrechtliche Debatte das um Recht der Staatennachfolge
Die Erwartungen der Völkerrechtler in den neuen Staaten waren darüber hinaus
eng verknüpft mit der Bedeutung, die sie dem Recht der Staatennachfolge beima-
ßen: Sie bezweckten eine weitgehende Befreiung der ehemaligen Kolonien von
den ihnen durch die Kolonialmächte auferlegten Verpflichtungen, weshalb sie der
Staatenpraxis während der Dekolonialisierung besonders Rechnung tragen und das
Recht der Staatennachfolge entsprechend reformieren wollten.84 Damit stellte sich
die Frage, ob das Recht der Staatennachfolge in den künftigen Konventionen kodi-
fiziert oder progressiv weiterentwickelt werden sollte. Bedjaoui machte früh klar,
dass es ihm nicht allein um die Kodifikation des bestehenden Völkergewohnheits-
rechts ging, sondern vielmehr um eine Fortentwicklung des gewohnheitsrechtlichen
Bestandes.85 Indem er sich – ohne nähere Untersuchungen – auf Widersprüche in
der Staatenpraxis berief, öffnete Bedjaoui die Tür für eine progressive Entwick-
lung völkerrechtlicher Normen.86 Hier betonte Bedjaoui auch die soziale Funktion,
welcher das Völkerrecht gerecht werden müsse:
[I]nternational law, which can only be progressively developed by incorporating those new
rules, will be a body of law based on the agreement of States in relation to a set of norms
known and accepted by them to a greater extent than traditional law, in whose formulation
most existing States took no part.87
Für Bedjaoui war dies zum einen eine Frage der internationalen Ethik, zum anderen
aber auch der Harmonisierung des Völkerrechts entsprechend aktueller völker-
rechtlicher Entwicklungen.88 Die soziologischen Fortschritte in der Internationa-
len Gemeinschaft seien für die Kodifizierung des Rechts der Staatenverantwort-
lichkeit wesentlich.89 Für Bedjaoui war die alte Staatenpraxis weitgehend hinfällig.
Bartoš Argumentation kam letztlich zum selben Ergebnis, ging aber einen etwas
anderen Weg: Er beschränkte den Kreis der relevanten Staatenpraxis weitgehend
auf jene der Dekolonialisierung, welche dadurch weniger widersprüchlich erschien
und auch ein größeres Maß an Kodifizierung erlaubte, da lex lata und lex ferenda
klar, dass er die Kodifizierung in Form eines völkerrechtlichen Vertrages einem rechtlich
unverbindlichen Kodex vorzog. Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook
(1968, II), S. 94, 100. Dies entsprach dem Mehrheitswillen der ILC, wobei erst später ent-
schieden werden sollte, welche Form die vorzubereitenden Artikelentwürfe letztlich anneh-
men würden, siehe ILC, UN Doc A/CN.4/206, ILC-Yearbook (1968, II), S. 191, 217 f.
84
Siehe oben.
85
Diese Ansicht teilten die anderen Mitglieder der ILC grundsätzlich, siehe ILC, UN Doc A/
CN.4/206, ILC-Yearbook (1968, II), S. 191, 217.
86
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 98. Ähnlich
El-Erian, Sub-Committee on Succession of States and Governments, UN Doc A/CN.4/160
and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 263, 264 f.; Sub-Committee on Succession of States
and Governments, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 274, 277.
87
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 98.
88
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 98.
89
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 99.
I. Die Bedeutung des Rechts der Staatennachfolge für die Völkerrechtler in der Dritten Welt257
90
Siehe hierzu oben.
91
Vgl. Sub-Committee on Succession of States and Governments, UN Doc A/CN.4/160 and
Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 270, 273. Bartoš argumentierte hier jedoch nicht einheit-
lich, zum Teil sprach er sich auch schlicht für eine progressive Weiterentwicklung des Rechts
aus, siehe Bartoš, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 293, 297.
92
Siehe hierzu Teil II.
93
O’Connell, Independence and State Succession to Treaties, 38 British Yearbook of Inter-
national Law (1962), S. 84, 179; Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook
(1969, II), S. 69, 87, Rn. 87; Craven, The Decolonization of International Law: State Succes-
sion and the Law of Treaties (2007), S. 25.
94
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 28.
95
Siehe Teil I.
96
Siehe hierzu Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69 ff.
97
Siehe z.B. Castrén, On State Succession in Practice and Theory, 24 Nordisk Tidsskrift for
International Ret (1954), S. 55, 68 f.
98
Beispielsweise Kearney, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57,
61, Rn. 34.
258 Kapitel 8: Die völkerrechtliche Debatte das um Recht der Staatennachfolge
dass diese von der Existenz eines „unpolitischen“ Rechts der Staatennachfolge aus-
gingen, welches seitens der Völkerrechtler aus den neuen Staaten einer im recht-
lichen Diskurs unzulässigen Politisierung ausgesetzt wurde.99 Diese Trennung von
Recht und Politik lässt sich freilich nicht aufrechterhalten: Die Entscheidung, was
im Gegensatz zum Recht politisch ist, ist stets eine politische; es geht also nicht
darum, ob politisch argumentiert wird, sondern vielmehr darum, wessen politisches
Argument sich durchsetzt.100
Den Hoffnungen der Völkerrechtler in den neuen Staaten in die Arbeiten der ILC
am Recht der Staatennachfolge setzten Völkerrechtler des Westen aber noch weitere
kritische Überlegungen entgegen. Rosenne beschrieb zwei Probleme der Kodifika-
tion des Rechts der Staatennachfolge: Zum einen stellten sich seiner Ansicht nach
viele Probleme in diesem Bereich nur bilateral und seien daher nicht zur Kodifizie-
rung in einer multilateralen Konvention geeignet; zum anderen hätten nur wenige
alte Staaten überhaupt ernsthaftes Interesse an dem Thema Staatennachfolge.101 Das
Hauptproblem war für viele westliche Völkerrechtler jedoch, dass die zukünftigen
Staatennachfolgekonventionen, wenn sie sich denn hauptsächlich auf die Dekolo-
nialisierung konzentrieren würden, bis zum Zeitpunkt ihrer Verabschiedung bereits
überholt sein könnten.102 So meinte Ago, das Thema Staatennachfolge sei zwar nie
so wichtig gewesen wie zur Zeit der Dekolonialisierung; nichtsdestoweniger sei
eine tiefgehende Untersuchung der Praxis aus der älteren Vergangenheit ebenso
erforderlich.103 Manche sahen wie O’Connell die Gefahr, künftig viel häufiger
auftretende Umstände der Staatennachfolge außer Acht zu lassen, so dass die Ent-
wurfsartikel unausgewogen und kurzlebig geraten könnten; aus dieser Perspektive
erschien die Dekolonialisierung nur als ein Fall der Entstehung neuer Staaten unter
vielen, der keine Abweichung von den hergebrachten Normen erforderte.104 Auch
die ILA sah die Dekolonialisierung nicht als besondere Form der Entstehung neuer
Staaten an, die nach einer gesonderten rechtlichen Würdigung verlangte.105 Für
den englisch-französischen Völkerrechtler Sir Francis Vallat106 sprach die Tatsache,
99
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 25 f.
100
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 26 f.
101
Rosenne, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 285, 286.
102
Vgl. Kearney, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.961, ILC-Yearbook (1968, I), S. 105, 108, Rn. 42.
Die Fokussierung auf die Dekolonialisierung sollte letztlich auch ein Grund für das Scheitern
der Staatennachfolgekonventionen werden, siehe unten.
103
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.702, ILC-Yearbook (1963, I), S. 189, 190 f., Rn. 16 f.
104
ILC, UN Doc A/CN.4/206, ILC-Yearbook (1968, II), S. 191, 218 f.; Craven, The Deco-
lonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties (2007), S. 84;
O’Connell, Recent Problems of States Succession in Relation to New States, 130 Hague
Recueil (1970, II), S. 95, 102.
105
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 49,
Rn. 19.
106
Who’s Who in the United Nations and Related Agencies (1975), S. 585.
II. Das Recht der Staatennachfolge in der Debatte der Völkerrechtskommission259
dass sich der Dekolonialisierungsprozess dem Ende zuneigte, hingegen gerade für
die Dringlichkeit der Kodifizierung der hierfür maßgeblichen Normen.107 Verdross
meinte vermittelnd, das Recht der Staatennachfolge sei der kontroverseste Bereich
des Allgemeinen Völkerrechts und man könne aus der bestehenden Praxis keine all-
gemeinen Regeln ableiten, sondern müsse neue, vernünftige Lösungen im Interesse
der Internationalen Gemeinschaft finden.108
Trotz der sehr ambivalenten Bewertung des Themas Staatennachfolge sollte sich die
ILC mit diesem Rechtsgebiet intensiv beschäftigen. Wie schon zuvor das Thema Ver-
tragsrecht, tauchte auch jenes der Staatennachfolge bereits im Lauterpacht-Memo-
randum109 auf, wobei dem Recht der Staatennachfolge die Aufgabe zukam, zu verhü-
ten, dass die Folgen von Wechseln in der Souveränität allein dem Recht des Stärkeren
unterworfen seien.110 Die ILC nahm das Thema in ihre Kodifizierungsliste auf,111
beschäftigte sich jedoch erst ab Beginn der 1960er-Jahre damit, nachdem dutzende
Kolonien unabhängig und Fragen der Staatennachfolge somit drängender geworden
107
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 5, Rn. 13 f.
108
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.702, ILC-Yearbook (1963, I), S. 189, 190, Rn. 12.
109
Siehe hierzu bereits Teil II.
110
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 93.
111
ILC, UN Doc A/CN.4/13 and Corr. 1-3, GOAR, Fourth Session, Supplement No. 10,
S. 277, 281.
260 Kapitel 8: Die völkerrechtliche Debatte das um Recht der Staatennachfolge
waren.112 Noch viel stärker als bei der WVK standen die WKSV und die WKSVAS
von Anfang ihrer Debatte in der ILC an im Zeichen der Dekolonialisierung. Die
Generalversammlung der Vereinten Nationen hatte der ILC im Jahr 1961 empfohlen,
das Thema Staatennachfolge auf ihre Prioritätenliste aufzunehmen.113 Da innerhalb
der ILC jedoch Uneinigkeit über die Reichweite des Themas und den geeignetsten
Ansatz zu seiner Untersuchung bestand, setzte sie im Mai 1962 ein Sub-Committee
on the Succession of States and Governments (Subkomitee) ein.114 Daneben wurde
das Sekretariat mit drei Studien zur Staatennachfolge beauftragt, die dem Subkomi-
tee bei seinen Beratungen vorlagen.115 Die Mitglieder des Subkomitees wurden damit
betraut, individuelle Memoranden einzureichen, in denen sie sich mit Reichweite
und Ansatz des Rechts der Staatennachfolge auseinandersetzen sollten.116 Hiervon
machten die Mitglieder des Subkomitees Elias, Tabibi, Rosenne, Castrén und Bartoš
Gebrauch;117 ihre Memoranden wurden vom Subkomitee im Jahr 1963 diskutiert.118
Das Subkomitee teilte das Recht der Staatennachfolge in Folge seiner Beratun-
gen in drei Bereiche auf, nämlich die Nachfolge in Verträge, jene in Rechte und
Pflichten aus anderen Rechtsquellen als Verträgen und schließlich jene in Bezug auf
die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen.119 Innerhalb des Rechts der
Staatennachfolge räumte das Subkomitee der Staatennachfolge in Verträge Priorität
ein und machte zugleich deutlich, dass diese Problematik seiner Ansicht nach im
Zusammenhang mit dem Recht der Staatennachfolge und nicht mit dem Recht der
Verträge behandelt werden sollte.120
112
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 96; GA, UN Doc A/Res/16/1686 (18 December 1961).
113
General Assembly Resolution 1686 (XVI), Rn. 3: „Recommends the International Law
Commission: (a) To continue its work in the field of the law of treaties and of State respon-
sibility and to include on its priority list the topic of succession of States and Governments;
(b) To consider at its fourteenth session its future programme of work, on the basis of sub-
paragraph (a) above and in the light of the discussion in the Sixth Committee at the fifteenth
and sixteenth sessions of the General Assembly and of the observations of Member States
submitted pursuant to resolution 1505 (XV), and to report to the Assembly at its seventeenth
session on the conclusions it has reached”.
114
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.636, ILC-Yearbook (1962, I), S. 45, 45, Rn. 2. Manfred Lachs
wurde als Vorsitzender des Subkomitees eingesetzt; weitere Mitglieder waren Bartoš, Briggs,
Castrén, El-Erian, Elias, Liu, Rosenne, Tabibi und Tunkin. ILC, UN Doc A/CN.4/SR.637,
ILC-Yearbook (1962, I), S. 45, 45, Rn. 1 ff.
115
Lachs, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 260, 260, Rn. 1,
S. 261, Rn. 4.
116
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.668, ILC-Yearbook (1962, I), S. 254, 267, Rn. 164.
117
Lachs, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 260, 261, Rn. 3.
118
Das Subkomitee tagte im Januar 1963, wobei der erkrankte Lachs als Vorsitzender von Erik
Castrén vertreten wurde. Das Subkomitee tagte erneut zu Beginn der 15. Sitzung der ILC, um
seinen Bericht in Anwesenheit von Lachs zu approbieren. Lachs, UN Doc A/CN.4/160 and
Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 260, 260 f., Rn. 2.
119
Lachs, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 260, 261, Rn. 13.
120
Lachs, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), 260, 261, Rn. 9 f.
II. Das Recht der Staatennachfolge in der Debatte der Völkerrechtskommission261
Insgesamt befürwortete die ILC den Bericht des Subkomitees, welchen sie als
Wegweiser für den zukünftigen Sonderberichterstatter betrachtete, an welchen
dieser jedoch nicht im Detail gebunden sein sollte.121 Lachs wurde zum Sonderbe-
richterstatter für die Nachfolge von Staaten und Regierungen ernannt.122 Als Lachs
jedoch – wie schon so mancher Sonderberichterstatter der ILC vor ihm – zum IGH-
Richter berufen wurde, teilte die ILC auf Grundlage des Berichts des Subkomi-
tees und auf Empfehlung von Lachs das Thema Staatennachfolge in drei Bereiche
auf.123 Als Sonderberichterstatter für die Staatennachfolge in Verträge setzte die ILC
mit Waldock den früheren Sonderberichterstatter für das Vertragsrecht ein; für das
Recht der Staatennachfolge bezüglich der Rechte und Pflichten aus anderen Quellen
als Verträgen wurde Bedjaoui als Sonderberichterstatter ernannt und das Recht der
Staatennachfolge in Bezug auf die Mitgliedschaft in Internationalen Organisatio-
nen wurde zurückgestellt.124 Interessant an dieser Besetzung ist einerseits, dass mit
Waldock der Sonderberichterstatter für Vertragsrecht auch Sonderberichterstatter
für die Staatennachfolge in Verträge wurde, obwohl die meisten Mitglieder der ILC
die beiden Materien für sehr unterschiedlich hielten.125 Diese Personalentscheidung
sollte sich als wesentliche Weichenstellung in Bezug auf die zukünftigen Arbeiten
der ILC im Recht der Staatennachfolge in Verträge herausstellen.126 Andererseits ist
nicht nur beachtlich, dass mit Bedjaoui erstmals ein Völkerrechtler aus der Dritten
Welt Sonderberichterstatter für ein in Bezug auf die Bindungsfrage höchst relevan-
tes Thema wurde, sondern auch, dass Bedjaoui diese Aufgabe übernommen und
auch schon zuvor überhaupt die Arbeit in der ILC als deren Mitglied mitgestal-
tet hatte, obwohl er selbst nur begrenzt an Verträge als geeignete Rechtsquelle zur
Umsetzung des Globalsolidarischen Projekts glaubte und grundsätzlich die Rechts-
setzung durch Generalversammlungsresolution favorisierte.127
Waldock lieferte zwischen 1968 und 1972 insgesamt fünf Berichte zum Recht der
Staatennachfolge in Verträge ab, bis ihn Vallat als Sonderberichterstatter ablöste und
im Jahr 1974 seinen ersten und letzten Bericht zu diesem Thema fertigstellte.128 Vallat
hielt es, nachdem viele Staaten Waldocks Berichte im Wesentlichen gebilligt hatten,
nicht für sinnvoll, große Neuerungen anzubringen.129 Er beschränkte sich darauf, die
121
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.702, ILC-Yearbook (1963, I), S. 189, 194, Rn. 63.
122
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.702, ILC-Yearbook (1963, I), S. 189, 194, Rn. 65.
123
ILC, UN Doc A/6309/Rev. 1, ILC-Yearbook (1966, II), S. 169, 368, Rn. 38 f.
124
ILC, UN Doc A/6309/Rev. 1, ILC-Yearbook (1966, II), S. 169, 368, Rn. 39 ff.
125
Siehe hierzu unten.
126
Siehe hierzu sogleich.
127
Vgl. Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 138 ff., sowie
Teil I.
128
Waldock, UN Doc A/CN.4/202, ILC-Yearbook (1968, II), S. 87 ff.; ders., UN Doc A/
CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/224
and Add. 1, ILC-Yearbook (1970, II), S. 25 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/249,, ILC-Yearbook
(1971, II, 1), S. 143 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II),
S. 1 ff.; Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1 ff.
129
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 3, Rn. 2.
262 Kapitel 8: Die völkerrechtliche Debatte das um Recht der Staatennachfolge
Kommentare der Generalversammlung, welche diese bei den Sitzungen des Sechs-
ten Ausschusses in den Jahren 1972 und 1973 abgegeben hatte, sowie die schrift-
lichen Stellungnahmen von Staatenvertretern, welche die ILC bis zum 1. Mai 1974
erreicht hatten, auszuwerten und Waldocks Artikelentwürfe entsprechend zu über-
arbeiten.130 Die ILC diskutierte die Staatennachfolge in Verträge in den Jahren 1968
bis 1974 und nahm schließlich einen Vertragsentwurf an.131 Die Generalversammlung
beschloss, diesen Entwurf bei einer Staatenkonferenz diskutieren und verabschie-
den zu lassen.132 Die beiden Wiener Konferenzen zur Staatennachfolge in Verträge
(United Nations Conference on Succession of States in Respect of Treaties) fand vom
4. April bis zum 6. Mai 1977 und vom 31. Juli bis zum 23. August 1978 in Wien statt.
Bedjaoui verfasste 13 Berichte in den Jahren 1968 bis 1981.133 Im selben Zeitraum
diskutierte die ILC jene Berichte und verabschiedete einen Vertragsentwurf über die
Staatennachfolge in Vermögen, Archive und Schulden.134 Auch hier entschied sich
die Generalversammlung für eine Staatenkonferenz.135 Die Wiener Konferenz zur
Staatennachfolge in Vermögen, Archive und Schulden (United Nations Conference
on Succession of States in Respect of State Property, Archives and Debts) fand vom
4. Mai bis zum 24. Juli 1981 in Wien statt.
Ihrem Mandat von der Generalversammlung entsprechend entwickelte die ILC
für die beiden Staatennachfolgekonventionen eine Reihe von Regelungen, welche
speziell auf aus der Dekolonialisierung hervorgegangene Staaten Anwendung
fanden. Diese werden im Folgenden überblicksartig dargestellt. Dabei fällt auf, dass
sich bei Entwicklung und Verhandlung dieser Normen grundsätzlich Völkerrechtler
aus allen Teilen der Welt aufgeschlossen gegenüber einer besonderen Behandlung
der ehemaligen Kolonien zeigten und sich hier gegen die meisten Einzelregelungen
(anders als letztlich gegen die Konventionen im Ganzen)136 kein allzu großer Wider-
stand formierte. Zwei Ausnahmen von dieser Beobachtung bilden die Regelung zu
Territorialregimen in der WKSV und die Debatte um Erworbene Rechte Privater im
130
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 3, Rn. 5.
131
International ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1301, ILC-Yearbook (1974, I), S. 283, 285, Rn. 23.
132
GA, UN Doc A/Res/3496 (XXX (15 December 1975).
133
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94 ff.; ders., UN
Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/226,
ILC-Yearbook (1971, II), S. 131 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/247 and Add. 1, ILC-Yearbook
(1972, II, 1), S. 157 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/259, ILC-Yearbook (1972, II), S. 61 ff.; ders.,
UN Doc A/CN.4/267, ILC-Yearbook (1973, II), S. 3 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/282, ILC-
Yeabook (1974, II, 1), S. 91 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/292, ILC-Yearbook (1976, II, 1),
S. 55 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/301 and Add. 1, ILC-Yearbook (1977, II, 1), S. 45 ff.; ders.,
UN Doc A/CN.4/313, ILC-Yearbook (1978, II, 1), S. 229 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/322
and Corr. 1 & Add. 1 & 2, ILC-Yearbook (1979, II, 1), S. 67 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/333,
ILC-Yearbook (1980, II, 1), S. 1 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/345 and Add. 1-3, ILC-Yearbook
(1981, II, 1), S. 3-42.
134
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1301, ILC-Yearbook (1981, I), S. 278, 278 ff., Rn. 1 ff.
135
GA, UN Doc Res/36/113 (10. Dezember 1981).
136
Siehe hierzu Fazit.
II. Das Recht der Staatennachfolge in der Debatte der Völkerrechtskommission263
Zu Beginn ihrer Arbeiten musste sich die ILC mit dem Begriff der Staatennach-
folge und seiner Reichweite auseinandersetzen. So wurde in der Literatur kritisiert,
der Begriff der Staatennachfolge impliziere bereits, dass der Nachfolgerstaat in die
Rechte und Pflichten des Vorgängerstaates eintrete, eine Frage, welche das Recht
der Staatennachfolge eigentlich gerade klären sollte.138 So wurde etwa angemerkt,
es handele sich um die unreflektierte Übertragung einer Konstruktion des nationalen
Rechts auf das Völkerrecht.139 In diesem Zusammenhang steht auch die Unterschei-
dung zwischen der faktischen Nachfolge bei einem staatlichen Identitätswechsel
und der Rechtsnachfolge als Konsequenz aus diesem Wechsel.140 Diese Kritik nahm
auch Waldock in seinem ersten Bericht zur Staatennachfolge in Verträge auf.141
Waldock verwendete den Begriff der Staatennachfolge trotz der dargestellten Prob-
lematik, benutzte ihn jedoch ausschließlich „as referring to the fact of the replace-
ment of one State by another in the possession of the competence to conclude trea-
ties with respect to a given territory“,142 also im Sinne der rein faktischen Nachfolge
und nicht als Festsetzung der Rechtsnachfolge. Während in der Literatur häufig ein
Souveränitätswechsel das maßgebliche Definitionsmerkmal der Staatennachfolge
war,143 umging Waldock diesen Begriff, um eine größere Spannbreite von staatli-
chen Veränderungen zu erfassen.144 Er reagierte damit auf die bereits im Subkomi-
tee aufgekommene Frage, inwiefern Regeln der Staatennachfolge, welche im Falle
der Unabhängigkeit einer ehemaligen Kolonie unstreitig zur Anwendung gelangen
sollten, auch auf abhängige Gebiete, Protektorate, Mandats- und Treuhandgebiete
übertragen werden könnten.145 Bedjaoui schloss ebenso wie Waldock in den Begriff
137
Siehe Kapitel 9 und Kapitel 10.
138
O’Connell, State Succession in Municipal Law and International Law, Band I (1967), S. 3.
139
Schoenborn, Staatensukzession (1913), S. 9; Waldock, UN Doc A/CN.4/202, ILC-Year-
book (1968, II), S. 87, 91, Rn. 3.
140
Siehe Udokang, Succession of New States to International Treaties (1972), S. 107 f.
141
Waldock, UN Doc A/CN.4/202, ILC-Yearbook (1968, II), S. 87, 91, Rn. 3 f.
142
Waldock, UN Doc A/CN.4/202, ILC-Yearbook (1968, II), S. 87, 91, Rn. 4.
143
Siehe beispielsweise Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 11.
144
Siehe ILC, UN Doc A/CN.4/206, ILC-Yearbook (1968, II), S. 191, 217, Rn. 47.
145
Sub-Committee on Succession of States and Governments, UN Doc A/CN.4/160 and
Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 266, 271 f.; siehe hierzu auch Bartoš, UN Doc A/
CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 293, 293 f. Siehe zu den verschiedenen
Arten der Dekolonialisierung bereits oben, Einleitung.
264 Kapitel 8: Die völkerrechtliche Debatte das um Recht der Staatennachfolge
der Staatennachfolge die genannten Fälle ein, in denen kein vollständiger Souverä-
nitätswechsel stattgefunden, sondern den betroffenen Entitäten nur vorübergehend
die vollständige Souveränität gefehlt hatte.146 Entsprechend ergaben sich jedoch
Abgrenzungsschwierigkeiten zu den Fällen, in welchen staatliche Kontinuität ange-
nommen wurde. Die Nachfolge von Staaten und Regierungen fielen oft zusammen
und waren daher insbesondere im Falle dramatischer politischer Veränderungen
schwer voneinander zu trennen.147 Während aus sowjetischer Sicht auch grundle-
gende gesellschaftliche Umwälzungen das Recht der Staatennachfolge auslösten,
wurden solche Fälle ansonsten eher dem Bereich des Regierungswechsels zuge-
teilt, welcher die staatliche Identität unberührt lasse und daher zur Kontinuität des
Staates führe.148 Dementsprechend entschied sich die ILC auf Empfehlung des Sub-
komitees, Regierungswechsel beim Recht der Staatennachfolge so weit wie möglich
auszublenden.149 Der gemeinsame Artikel 2 Absatz 1 b) von WKSV und WKSVAS
definierte den Begriff der Staatennachfolge schließlich als „the replacement of one
State by another in the responsibility for the international relations of territory“,
worunter neben der Unabhängigkeit ehemals abhängiger Gebiete etwa im Rahmen
der Dekolonialisierung auch Fusion, Abspaltung und Zerfall eines Staates fallen.
Damit waren die verschiedenen Fälle der Unabhängigkeit zuvor abhängiger
Gebiete vom Begriff der Staatennachfolge erfasst; über die materiell-rechtlichen
Folgend dieser Art der Entstehung neuer Staaten war damit jedoch noch keine
Aussage getroffen. Dabei hatte es innerhalb der ILC auch bei Völkerrechtlern jen-
seits der Dritten Welt von Anfang an eine gewisse Bereitschaft gegeben, der Deko-
lonialisierung als aktuellem Fall der Staatennachfolge besondere Aufmerksamkeit
zu schenken. So entsprach es der Auffassung aller Mitglieder des Subkomitees, dass
die Situation der neuen Staaten nach der Dekolonialisierung besondere Berücksich-
tigung bei den Arbeiten der ILC zum Recht der Staatennachfolge finden sollte.150
Aus der jedoch im Detail umstrittenen Bedeutung der Dekolonialisierung für das
Recht der Staatennachfolge151 zog Waldock einen bemerkenswerten Schluss: Er ent-
schied sich dafür, das Recht der Staatennachfolge in Verträge aus der Perspektive
des Vertragsrechts zu betrachten.152 Mit dieser Entscheidung wich Waldock zwar
von der Empfehlung des Subkomitees, das Recht der Staatennachfolge in Verträge
aus dem Blickwinkel der Staatennachfolge zu betrachten, ab.153 Wähle man aber,
146
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 103. Siehe
hierzu auch unten zum Begriff der neuen unabhängigen Staaten.
147
Siehe Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 14.
148
Vgl. Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 11.
149
Lachs, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 260, 261, Rn. 9.
150
Lachs, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), 260, 261, Rn. 6.
151
Siehe oben.
152
Waldock, UN Doc A/CN.4/202, ILC-Yearbook (1968, II), S. 87, 89, Rn. 9. Vgl. Craven,
The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties (2007),
S. 118 f.
153
Lachs, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 260, 261, Rn. 10.
II. Das Recht der Staatennachfolge in der Debatte der Völkerrechtskommission265
so Waldock, das Vertragsrecht als Ausgangspunkt der Erwägungen über Fragen der
Staatennachfolge in Verträge, so zeige sich, dass diese Fragen alte wie neue Staaten
gleichermaßen tangierten, da es sich eben gerade um einvernehmliche Rechtsbezie-
hungen handele.154 Waldock wollte daher der Staatenpraxis der Dekolonialisierung
als aktuellem Problem der internationalen Beziehungen besondere Bedeutung bei-
messen, ohne sich dabei auf die Sichtweise der neuen Staaten zu beschränken.155 Die
Präambeln der WKSV und der WKSVAS beginnen daher auch mit einem Verweis
auf „the profound transformation of the international community brought about by
the decolonization process“, verweisen aber auch auf die Bedeutung anderer Fälle
der Staatennachfolge. Indem Waldock den Fokus für die Arbeiten der ILC am Recht
der Staatennachfolge in Verträge weg vom Recht der Staatennachfolge und hin zum
Recht der Verträge, das Ungleiche Verträge weitgehend aufrechterhielt,156 verschob,
bereitete Waldock für die folgende Debatte den Boden für eine Argumentation im
Bereich der Territorialregime, welche der Position vieler Völkerrechtler in den neuen
Staaten zuwiderlaufen sollte.157 Bereits hier zog er durch die Wahl des rechtlichen
Blickwinkels argumentative Grenzen für die Debatten im Recht der Staatennachfolge.
Darüber hinaus entschied sich Waldock, dem Wunsch der Völkerrechtler in den
neuen Staaten und ihrer Heimatländern nach der besonderen Berücksichtigung der
Staatenpraxis der Dekolonialisierung besonderen Raum zu geben, indem er hierfür
Sonderregelungen entwarf.158 Nach den allgemeinen Regelungen der beiden ersten
Berichte enthielt Waldocks dritter Bericht einen zweiten Teil, der mit dem Titel
„New States“ überschreiben war.159 Mit diesem Begriff meinte Waldock „a succes-
sion where a territory which previously formed part of an existing State has become
an independent State.“160 Hiervon sah Waldock ehemalige Kolonien erfasst, schloss
dabei jedoch einstige Protektorate sowie Mandats- und Treuhandgebiete anfangs
vom Anwendungsbereich der Normen aus, um zunächst die Grundregeln für frühere
Kolonien zu erarbeiten und danach solche Spezialfälle zu erörtern, wobei er es
nicht für ausgeschlossen hielt, dass am Ende auf all diese Fälle dieselben Normen
angewendet und der Begriff der neuen Staaten neu definiert werden könnte.161
154
Waldock, UN Doc A/CN.4/202, ILC-Yearbook (1968, II), S. 87, 90, Rn. 14. In der Präam-
bel der WKSV findet sich daher ein Verweis auf die WVK. Allerdings lässt die WKSV die
Frage der Wirksamkeit von Verträgen nach der WVK unberührt, Artikel 14 WKSV. Ähnlich
verweist die Präambel der WKSVAS auf die WVK und die WKSV. Die drei Konventionen
basieren insofern aufeinander.
155
Waldock, UN Doc A/CN.4/202, ILC-Yearbook (1968, II), S. 87, 90, Rn. 14.
156
Siehe Teil II.
157
Siehe unten, Kapitel 9.
158
Zum Inhalt dieser Sonderregelungen siehe unten.
159
Waldock, UN Doc A/CN.4/224 and Add. 1, ILC-Yearbook (1970, II), S. 25, 27, Rn. 7 f.,
S. 29.
160
Article 1 e), Waldock, UN Doc A/CN.4/224 and Add. 1, ILC-Yearbook (1970, II), S. 25,
27, Rn. 9, S. 28.
161
Waldock, UN Doc A/CN.4/224 and Add. 1, ILC-Yearbook (1970, II), S. 25, 27 f., Rn. 9.
266 Kapitel 8: Die völkerrechtliche Debatte das um Recht der Staatennachfolge
Für solche neuen unabhängigen Staaten – die letztlich alle Spielarten ehemals
abhängiger Gebiete umfassten – treffen beide Staatennachfolgekonventionen Son-
derregelungen.166 Diese wurden dabei nach folgender Systematik integriert:
Die WKSV besteht aus sechs verschiedenen Teilen. Im ersten Teil der Konven-
tion finden sich allgemeine Regelungen, welche für alle Fälle der Staatennachfolge
gleichermaßen gelten. Während sich der zweite Teil der Konvention mit der Staa-
tennachfolge in Gebietsteile befasst, enthalten Teil III und IV Sonderregelungen für
bestimmte Entstehungstatbestände der Staatennachfolge: Teil III beschäftigt sich
mit neuen unabhängigen Staaten, Teil IV hingegen mit der Fusion und Abspaltung
von Staaten. Der fünfte Teil enthält sonstige Regelungen, Teil VI widmet sich der
Streitbeilegung und in Teil VII finden sich Schlussbestimmungen.
Die WKSVAS verwendete nicht nur nahezu identische Definitionen wie die
WKSV, ihr Aufbau war auch an der fünf Jahre älteren Konvention orientiert. Nach
den allgemeinen Regelungen im ersten Teil kommen im zweiten, dritten und vierten
Teil Regelungen zu Staatseigentum, Staatsarchiven und Staatsschulden, wobei
jeweils erst allgemeine Regelungen für alle Formen der Staatennachfolge und
sodann Sonderreglungen für die verschiedenen Entstehungstatbestände der Staat-
nachfolge (neue unabhängige Staaten, Fusion, Abspaltung und Zerfall) getroffen
werden. Die Regeln zur Streitbeilegung und die Schlussbestimmungen in Teil V
und VI der Konvention entsprechen jenen der WKSV. Die WKSVAS verwendete
162
Siehe oben.
163
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 147 ff.
164
Siehe oben.
165
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 3, Rn. 3, Siehe
aber auch Artikel 18, Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II),
S. 1, 3.
166
Siehe hierzu sogleich sowie Craven, The Decolonization of International Law: State Suc-
cession and the Law of Treaties (2007), S. 131 ff.
II. Das Recht der Staatennachfolge in der Debatte der Völkerrechtskommission267
nicht nur nahezu identische Definitionen wie die WKSV, ihr Aufbau war auch an
der fünf Jahre älteren Konvention orientiert.
Die Debatte in der ILC um die Grundregel der Staatennachfolge in Verträge für
neue unabhängige Staaten verlief zwischen Kontinuitätsprinzip, clean-slate-Theo-
rie und Nyerere-Doktrin. Dabei hatte sich schon im Subkomitee herauskristallisiert,
dass die ILC-Mitglieder aus der Zweiten und Dritten Welt die clean-slate-Theorie
sowie die Nyerere-Doktrin für aus der Dekolonialisierung hervorgegangene Staaten
bevorzugten. Tabibi sowie Bartoš sprachen sich dabei insbesondere für die clean-
slate-Theorie aus, da einzig diese ihrer Meinung nach den Willen des betroffenen
Volkes berücksichtige und somit dem Selbstbestimmungsrecht genüge.167 Für die
ehemaligen Kolonien schloss Elias die Theorie der Universalsukzession aus, da
diese zum einen nicht für persönliche Verträge der Metropole gelten könne und er
zum anderen solche Fälle als kritisch erachte, in denen die ehemaligen Kolonien
Verträge vor ihrer Übernahme nicht ausführlich prüfen und öffentlich zur Diskus-
sion stellen konnten.168 Elias stellte heraus:
The scope and variety of the problems posed by the new States and by contemporary inter-
national practice emphasize the urgent need for an objective and analytical re-appraisal of
the law of State succession today. The alternative to the rule of law in this sphere is chaos.
There could be an all too easy recourse to the plea of the doctrine of the clausula rebus sic
stantibus.169
Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die ILC im selben Jahr, in dem das Sub-
komitee tagte, auch Waldocks zweiten Bericht zum Vertragsrecht inklusive dessen
Artikel 22 zum Prinzip rebus sic stantibus diskutiert und Elias sich hier für die Strei-
chung des Absatzes über den Ausschluss von Territorialverträgen ausgesprochen
hatte.170 Elias hatte sich damit im Rahmen des Rechts der Verträge für einen weiten
Anwendungsbereich des Prinzips rebus sic stantibus ausgesprochen. Hier argumen-
tierte er nun, dass die so geschaffene Möglichkeit der Berufung auf dieses Prinzip
sich stabilitätsgefährdend auswirken könnte, wenn das Recht der Staatennachfolge
sich nicht der neuen Praxis anpassen würde. Damit machte er deutlich, dass das
167
Sub-Committee on Succession of States and Governments, UN Doc A/CN.4/160 and
Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 266, 267; Bartoš, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1,
ILC-Yearbook (1963, II), S. 293, 293 f.
168
Elias, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 282, 283.
169
Elias, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 282, 284.
170
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.695, ILC-Yearbook (1963, I), S. 143, 147, Rn. 51. Siehe hierzu
ausführlich oben, Teil II
268 Kapitel 8: Die völkerrechtliche Debatte das um Recht der Staatennachfolge
Recht der Staatennachfolge in Verträge seiner Ansicht nach den neuen unabhängi-
gen Staaten grundsätzliche keine kolonialen Verpflichtungen auferlegen dürfe; denn
andernfalls bestünde ja die Gefahr, dass sich die neuen Staaten auf das Prinzip rebus
sic stantibus beziehen. Letztlich gab es für Elias keine Alternative zu einer genauen
Analyse der Praxis der neuen Staaten sowie jener des Generalsekretärs der Verein-
ten Nationen als Depositär vieler völkerrechtlicher Verträge.171
[T]here is need to rethink and redefine certain aspects of the traditional law on the subject
in the light of the phenomena of decolonization and the progressive development and codi-
fication of international law.172
Hier zeigt sich, dass selbst Elias als Völkerrechtler in der Dritten Welt mit seiner
eher liberalen Auffassung nicht bereit war, als ungerecht empfundene völkerrecht-
liche Normen ohne Weiteres hinzunehmen.173 Dabei strebte Elias eine juristische
statt einer rein politischen Lösung des Problems der Staatennachfolge an, wie er
ausdrücklich betonte.174 Hiermit reagierte Elias zum einen auf den Vorwurf, die
Völkerrechtler in den neuen Staaten würden das Recht der Staatennachfolge unzu-
lässig politisieren; zum anderen machte er deutlich, dass dieser Bereich der nach-
kolonialen Beziehungen vom Völkerrecht gelöst werden müsse und nicht – wie es
Waldock im Rahmen des Prinzips rebus sic stantibus im Recht der Verträge mit dem
Selbstbestimmungsrecht getan hatte –175 allein in die politische Sphäre verschoben
werden dürfe. Insofern unternahm Elias hier den Versuch einer Rückverschiebung
der argumentativen Grenzen.
Rosenne ging hingegen in seinem Memorandum davon aus, dass sowohl Literatur
als auch Praxis in Richtung automatische Sukzession und damit Kontinuitätstheorie
tendierten.176 Bereits im Subkomitee zeichnete sich aber mehrheitlich eine Sympa-
thie für die Interessen der ehemaligen Kolonien im Recht der Staatennachfolge ab,
wobei Waldock diese Position auch vom lex lata bestätigt sah. So meinte Waldock
in Bezug auf die der Kontinuitätstheorie folgenden Resolutionen der ILA,177 die er
in seinem zweiten Bericht auswertete:
In formulating that presumption the International Law Association was no doubt influenced
by the ever-increasing interdependence of States, the consequential advantages of promo-
ting the continuity of treaty relations in cases of succession and the considerable extent to
which in the era of decolonization newly independent States have accepted the continuance
of the treaties of the predecessor sovereigns. It is, however, one thing to admit as a matter of
policy the general desirability of a certain continuity in treaty relations upon the occurrence
171
Elias, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 282, 284.
172
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 23.
173
Lim, Neither Sheep nor Peacocks: T. O. Elias and Postcolonial International Law, 21
Leiden Journal of International Law (2008), 295, 303.
174
Elias, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 282, 283.
175
Siehe oben, Teil II.
176
Rosenne, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 285, 287.
177
Siehe oben.
II. Das Recht der Staatennachfolge in der Debatte der Völkerrechtskommission269
of a succession and another thing to express that policy in terms of a legal presumption. On
this point, quite independently of the question whether such a presumption is compatible
with the modern State practice, the Commission may have to consider the possible rele-
vance in this regard of the principle of self-determination.178
178
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 50, Rn. 22.
179
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 50, Rn. 23.
180
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 50, Rn. 23.
181
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 50, Rn. 23.
182
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 62.
270 Kapitel 8: Die völkerrechtliche Debatte das um Recht der Staatennachfolge
Nach Artikel 4 des zweiten Entwurfs von Waldock konnte ein neuer Staat durch
einseitige Erklärung gegenüber einer Vertragspartei seines Vorgängerstaates die
vorläufige Anwendbarkeit von vom Vorgängerstaat und dem dritten Staat geschlos-
senen Verträgen in Bezug auf den neuen Staat erklären; widersprach der Drittstaat
dem nicht binnen drei Monaten, war der fragliche Vertrag vorläufig zwischen neuem
Staat und Drittstaat anwendbar.183 Die vorläufige Anwendbarkeit konnte aber vom
neuen Staat jederzeit beendet werden.184 Waldock gab den neuen Staaten damit das
Recht, Verträge ihrer Vorgänger fortzusetzen. Ähnlich verfuhr er in Bezug auf mul-
tilaterale Verträge.185 Waldock formulierte für die neuen Staaten damit ein „right to
participation“.186 Damit war jedoch noch nichts darüber gesagt, ob ein neuer Staat
auch zu selbigem verpflichtet war. Waldocks dritter Bericht enthielt dann den fol-
genden Artikel:
Article 5. General rule regarding a new Stateʼs obligations in respect of its predecessor’s
treaties
Subject to the provisions of the present articles, a new State is not bound by any treaty by
reason only of the fact that the treaty was concluded by its predecessor and was in force in
respect of its territory at the date of the succession. Nor is it under any obligation to become
a party to such treaty.187
Mit dieser Regelung folgte Waldock in Bezug auf die Pflichten eines Staates der
clean-slate-Regel. Für ihn korrespondierte ein Recht der neuen Staaten auf Ver-
tragsübernahme durch die neuen Staaten nicht notwendig mit einer entsprechenden
Pflicht; etwas anderes ergab sich für Waldock auch nicht aus dem Grundsatz der
Reziprozität.188 Waldock sah diese „traditionelle“ Ansicht mehrheitlich vom Schrift-
tum und Staatenpraxis bestätigt.189
Waldock griff auch den Ansatz von Jenks auf, nach dem neue Staaten zumin-
dest an multilaterale rechtssetzende Verträge automatisch gebunden sein sollten.190
Obwohl Waldock Jenks’ Ansicht einiges abgewinnen konnte, war er der Ansicht,
dass nur der gewohnheitsrechtliche Kern solcher Verträge für neue Staaten verbind-
lich war, nicht aber die Verträge als solche:
183
Artikel 4 Absatz 2 c), Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook
(1969, II), S. 45, 62.
184
Artikel 4 Absatz 3 a), Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook
(1969, II), S. 45, 62.
185
Waldock, UN Doc A/CN.4/224 and Add. 1, ILC-Yearbook (1970, II), S. 25, 37.
186
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 135.
187
Waldock, UN Doc A/CN.4/224 and Add. 1, ILC-Yearbook (1970, II), S. 25, 31.
188
Waldock, UN Doc A/CN.4/224 and Add. 1, ILC-Yearbook (1970, II), S. 25, 31, Rn. 1.
189
Waldock, UN Doc A/CN.4/224 and Add. 1, ILC-Yearbook (1970, II), S. 25, 32, Rn. 2 f.;
Waldock zitierte hierzu McNair, The Law of Treaties (1961), S. 600 ff., sowie O’Connell,
State Succession in Municipal Law and International Law, Band II (1967), S. 90 ff.
190
Waldock, UN Doc A/CN.4/224 and Add. 1, ILC-Yearbook (1970, II), S. 25, 32, Rn. 3;
Jenks, State Succession in Respect of Law Making Treaties, 29 British Yearbook of Inter-
national Law (1952), S. 105, 105 ff. Siehe oben Teil I.
II. Das Recht der Staatennachfolge in der Debatte der Völkerrechtskommission271
Clearly, the law contained in the treaty, in so far as it reflects customary rules, will affect the
new State by its character as generally accepted customary law. But it is quite another thing
to say that, because a multilateral treaty embodies custom, a new State must be considered
as contractually bound by the treaty as a treaty.191
Dabei stehe es dem neuen Staat und jedem Drittstaat frei, sich darauf zu einigen,
dass bilaterale Verträge des Vorgängerstaates auf den neuen Staat übergehen
sollten.192 Eine solche Einigung sah Waldock vor dem Hintergrund der Grundprin-
zipien der VN-Charta jedoch nicht als Hinweis auf eine Kontinuitätsregel, sondern
als Ausnahme vom clean-slate-Prinzip an, das dieses gerade bestätigte:
Accordingly, both the frequency with which the question of continuity is dealt with in
practice as a matter of mutual agreement and the principle of self-determination appear
to the Special Rapporteur to indicate that the conduct of the particular States in relation to
the particular treaty should be the basis of the general rule for bilateral treaties, rather than
the general fact that a considerable measure of continuity is found in the practice of many
States.193
Waldock hatte den Vorteil, Staatenpraxis, in der neue Staaten alte vertragliche Ver-
pflichtungen akzeptierten, nicht als Indiz für das Kontinuitätsprinzip deuten zu
müssen, sondern hierin den Konsens des neuen Staates zu dem Vertrag erblicken
zu können.194 Die Kontinuität bilateraler Verträge wurde zu erheblichen Teilen erst
nach Briefwechseln zwischen den betroffenen Staaten angenommen und war für
Waldock daher keine Frage des Rechts der Staatennachfolge, sondern von neuerli-
chen Abmachungen.195 Waldock nutzte diesen Argumentationsweg, anstatt die Fälle
von Kontinuität zu leugnen und sich etwa auf die gegenläufige Praxis in Algerien,
Israel und Obervolta (heute Burkina Faso) zu beziehen.196
Es war Vallat, dem es schließlich oblag, die von Waldock gewählte clean-slate-
Regel auf ihre Vereinbarkeit mit der Rechtsauffassung der Staaten zu überprüfen.
So waren laut Vallat die meisten Staaten im Sechsten Ausschuss für dieses Prinzip,
obschon einige nicht das Selbstbestimmungsrecht, sondern die staatliche Souve-
ränität als dessen Basis ansahen und auch bezüglich Grenzen und Ausnahmen
Differenzen bestanden.197 Streitpunkte waren zum einen Territorialverträge198 und
191
Waldock, UN Doc A/CN.4/224 and Add. 1, ILC-Yearbook (1970, II), S. 25, 34, Rn. 9.
192
Siehe Artikel 1, Waldock, UN Doc A/CN.4/249, ILC-Yearbook (1971, II, 1), S. 143, 145.
193
Waldock, UN Doc A/CN.4/249, ILC-Yearbook (1971, II, 1), S. 143, 150, Rn. 19.
194
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 137.
195
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 144.
196
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 145.
197
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 7, Rn. 25 mit
entsprechenden Nachweisen.
198
Für Territorialverträge siehe unten.
272 Kapitel 8: Die völkerrechtliche Debatte das um Recht der Staatennachfolge
zum anderen soziale Revolutionen,199 zwei Fallgruppen, in denen nach der Ansicht
einiger Staaten das clean-slate-Prinzip ebenfalls gelten sollte.200 Gegen die clean-
slate-Theorie wandten sich jedoch eine Reihe westlicher Staaten.201 Schweden
lehnte sie auf Grund mangelnder gewohnheitsrechtlicher Verwurzelung ab; es
handele sich dabei nicht nur um eine fehlerhafte Anwendung des ohnehin vagen
Selbstbestimmungsrechts; darüber hinaus sei die Aufgabe der ILC im Bereich der
Staatennachfolge „mainly a legislative task where abstract principles and juridical
logic were less important than common sense and a will to conciliate conflicting
interests and to maintain friendly and orderly relations within the international
community.“202 Auch Großbritannien äußerte Zweifel an der clean-slate-Regel:
[W]hilst a succession of States marked a time of change, it was usually in the interests of
all States concerned to maintain as much of the essential fabric of international society
(in which treaties played an important part) as was consistent with the change. This was
especially the case with multilateral treaties of a law-abiding character or which established
international standards.203
Schon zu diesem Zeitpunkt war klar, dass es eine ganze Reihe der westlichen
Staaten den von Völkerrechtlern aus der Dritten Welt durchgesetzten Ansatz der ILC
nicht unterstützten. Trotzdem machte Vallat eine deutliche Stimmung zugunsten der
199
Siehe beispielsweise die Positionen von der UdSSR, Mongolei, Ungarn, Weißrussland,
Bulgarien und DDR, Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1),
S. 1, 14 f., Rn. 51.
200
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 7, Rn. 24.
201
Überraschenderweise sprach sich außerdem auch Tonga gegen den von der ILC gewählten
Ansatz aus:
„The Government of Tonga complained that the Commission had not taken adequate
account of the general declaration of succession made by Tonga on 18 June 1970 and addres-
sed to the Secretary-General of the United Nations. It maintained that the theoretical basis
of article 11 was not supported by the modern practice of newly-independent States which
had made general declarations of succession to treaties, with the intention of keeping rights
gained by them from treaties, except where the treaties were inapplicable in the new circums-
tances or "involved fundamental and not merely incidental restraints upon sovereignty". The
Commission had put too much stress on the burdens as distinct from the benefits of treaties
[…].[…]The intention of the Government of Tonga when it issued its general declaration was
not to claim freedom to pick and choose but freedom to examine its treaties by reference to
objective legal criteria to ascertain if they were in force.”
Vallat ordnete diese Äußerung Tonga als atypisch für einen neuen Staat ein:
„[T]he attitude of the Government of Tonga seems to be coloured by its own assessment of
its position as a former "protected State", which is not typical of the position of most formerly
dependent territories.”
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 7, Rn. 26 f.,
mit weiteren Nachweisen.
202
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 7, Rn. 26 mit
entsprechendem Nachweis.
203
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 9, Rn. 27 mit
entsprechendem Nachweis.
II. Das Recht der Staatennachfolge in der Debatte der Völkerrechtskommission273
clean-slate-Regel aus.204 So kam es letztlich dazu, dass sich in der WKSV die Posi-
tion der ehemaligen Kolonien widerspiegelt.
Bezüglich der Pflicht der neuen unabhängigen Staaten zur Achtung von Verträgen
des Vorgängerstaates folgt die WKSV heute daher der clean slate- bzw. Nyerere-
Theorie. Bei Vereinigung und Abspaltung hingegen besteht das Grundprinzip der
Kontinuität, siehe Artikel 31 ff. WKSV.
4. Devolutionsverträge
204
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 9, Rn. 29.
205
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 54.
206
Siehe Teil II.
207
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 54 f.,
Rn. 2.
208
Bartoš, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 293, 297.
209
Bartoš, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 293, 297.
210
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 104, Rn. 66.
211
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 55,
Rn. 4.
274 Kapitel 8: Die völkerrechtliche Debatte das um Recht der Staatennachfolge
Article 3. Agreements for the devolution of treaty obligations or rights upon a succession
1. A predecessor Stateʼs obligations and rights under treaties in force in respect of a
territory which is the subject of a succession do not become applicable as between the
successor State and third States, parties to those treaties, in consequence of the fact that
the predecessor and the successor States have concluded an agreement providing that such
obligations or rights shall devolve upon the successor State.
2. When a predecessor and a successor State conclude such a devolution agreement, the
obligations and rights of the successor State in relation to third States under any treaty in
force in respect of its territory prior to the succession are governed by the provisions of the
present articles.212
Anders aber als Bedjaoui, der Devolutionsverträge als Ungleiche Verträge einord-
nete und ihren Inhalt kritisierte, meinte Waldock, Kolonialmächte hätten Devolu-
tionsverträge abgeschlossen, um Lücken in den Vertragsbeziehungen zu verhindern
und ihre eigene Verantwortung für Verträge in Bezug auf das Territorium des neuen
Staates auszuschließen.215 Es gehe nicht darum, Regelungen für die Rechte und
Pflichten von Drittstaaten zu treffen, sondern lediglich um dem Übergang von Ver-
tragsrechten und Vertragspflichten von dem Vorgänger- auf den Nachfolgerstaat.216
Dabei hegt Waldock jedoch selbst an dieser beschränkten Wirkung von Devolu-
tionsverträgen Zweifel, da er es völkerrechtlich nicht für möglich hielt, Rechte und
212
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 54.
213
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 55 f.,
Rn. 8. Siehe hierzu schon oben, Teil II, Kapitel 2. Ähnlich meint Koskenniemi, das Recht der
Staatennachfolge sei aus dem Problem des fundamentalen Wandels der Umstände aus dem
Recht der Verträge erwachsen. Koskenniemi, Report of the Director of Studies of the Eng-
lish-speaking Section of the Centre, in Eisemann/Koskenniemi (Hrsg.), Hague Academy of
International Law: State Succession: Codification Tested against the Facts (2000), S. 65, 103.
214
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 104 f., Rn. 70.
215
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 56, Rn. 8.
216
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 56, Rn. 9.
II. Das Recht der Staatennachfolge in der Debatte der Völkerrechtskommission275
Pflichten ohne die Zustimmung aller Vertragsparteien und damit auch von Drittstaa-
ten zu übertragen.217 Devolutionsverträge waren für Waldock lediglich im Innenver-
hältnis zwischen Vorgänger- und Nachfolgerstaat verbindlich.218 Sie konnten für ihn
hingegen keine Rechte und Pflichten übertragen, die nicht schon nach Allgemeinem
Völkerrecht übergegangen wären.219
Heute ergibt sich aus Artikel 8 und Artikel 9 WKSV, dass Devolutionsverträge
ebenso wie einseitige Erklärungen des Nachfolgerstaates für sich genommen
keinen Rechtsgrund darstellen, durch welchen Verpflichtungen von Vorgänger- auf
den Nachfolgerstaat übergehen würden. Hierin lag ein Etappensieg im Kampf der
Völkerrechtler aus der Dritten Welt gegen Ungleiche Verträge, der jedoch letztlich
wohl weitgehend auf der vertragsrechtlichen Ausrichtung des renommierten euro-
päischen Völkerrechtlers Waldocks gründete.220
217
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 56, Rn. 10.
218
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 56, Rn. 10.
219
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 57, Rn. 14.
220
Vgl. dazu allgemein auch Craven, The Decolonization of International Law: State Succes-
sion and the Law of Treaties (2007), S. 120 ff.
221
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 106, Rn. 78 ff.
222
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 106 f., Rn. 82 ff.
276 Kapitel 8: Die völkerrechtliche Debatte das um Recht der Staatennachfolge
economic domination of the colonial type in some sectors and enabling the predecessor
State to establish itself as an important landowner or industrialist – a development which
might conflict with the economic policy of the new State. […]
In the present state of law and practice it would seem possible for the Commission
to support the principle of the existence of a rule of automatic and total transfer without
payment.223
Zu guter Letzt stellten sich die Probleme der zeitlichen Anwendbarkeit und der
Rechtsdurchsetzung bei den Staatennachfolgekonventionen ähnlich dar wie schon
bei der WVK.229
223
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 106, Rn. 81.
224
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 109, Rn. 96.
225
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 109, Rn. 97.
226
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 109, Rn. 101.
227
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 110, Rn. 103.
228
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 110, Rn. 104.
229
Siehe oben, Teil II.
II. Das Recht der Staatennachfolge in der Debatte der Völkerrechtskommission277
Nicht nur in Bezug auf ehemalige Kolonien stellte sich bei beiden Staatennach-
folgekonventionen die Frage der Rückwirkung, welche für Verträge in der Regel
ausgeschlossen war: Sofern die neuen Staaten gewohnheitsrechtlich nämlich nicht
an Verträge ihrer Vorgänger gebunden waren, konnte eine solche Bindung nur
durch Vertrag, nämlich durch die WKSV, herbeigeführt werden; sollte die WKSV
nun aber der clean-slate-Regel folgen, so wären die neuen Staaten, auf welche die
Konvention Anwendung finden sollte, mangels Rückwirkung gerade nicht an eine
solche bereits existente und eventuell vom Vorgängerstaat ratifizierte Konvention
gebunden.230 Sofern das Gewohnheitsrecht den Übergang vertraglicher Verpflich-
tungen auf den Nachfolgerstaat anordnete und die WKSV hiervon abweichen sollte,
bestünde durch eine nicht rückwirkende Anwendbarkeit der Konvention die Gefahr,
dass neue Staaten gar nicht in den Genuss der Rechte der Konvention kommen
konnten, da sie zum Zeitpunkt der Staatennachfolge denklogisch noch nicht Par-
teien gewesen sein konnten.231 Dabei handelte es sich jedoch nach verbreiteter
Ansicht mehr um ein theoretisches als um ein praktisches Problem; zum einen
würde eine Konvention zur Staatennachfolge auf das Gewohnheitsrecht einwirken,
zum anderen würde eine an den Interessen der neuen Staaten orientierte Konven-
tion auch von diesen ratifiziert werden.232 Dänemark brachte zudem die Idee einer
Klausel, welche die Rückwirkung der Konvention für neue Staaten bewirken sollte,
ins Spiel.233 Heute ist daher gemäß Artikel 7 Absatz 1 WKSV die erste Staatennach-
folgekonvention zwar grundsätzlich nur auf Fälle der Staatennachfolge anwendbar,
die sich nach ihrem Inkrafttreten ereigneten; jedoch besteht nach Absatz 2 und 3
der Regelung die Möglichkeit, die rückwirkende Anwendung der Konvention zu
vereinbaren.234
Geteilter Ansicht war des Weiteren bereits das Subkomitee hinsichtlich der Frage,
ob in den späteren Konventionen ein Streitbeilegungsmechanismus festgelegt
werden sollte.235 Letztlich wurde das für die WVK entwickelte Streitbeilegungs-
verfahren ohne obligatorische Gerichtsbarkeit des IGH in Artikel 41 ff. WKSV und
Artikel 42 ff. WKSVAS mit ihrem gemeinsamen Annex übernommen.
230
Siehe Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 10,
Rn. 31.
231
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 905 f.
232
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 10, Rn. 31.
233
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 10, Rn. 32.
234
Eine ähnliche Regelung findet sich in Artikel 4 WKSVAS.
235
Lachs, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 260, 261, Rn. 14.
Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
Bereits im Rahmen des Subkomitees – und damit zeitlich parallel zu den ersten
Debatten der ILC um eine Ausnahme für Territorialverträge vom Prinzip rebus sic
stantibus im Recht der Verträge und lange bevor sich die ILC auf das Grundprinzip
1
Siehe Teil II.
der Staatennachfolge für neuerlich unabhängige Staaten verständigt hatte – war die
Frage der Bindung neuer Staaten an koloniale Territorialverträge im Recht der Staa-
tennachfolge aufgekommen. Bartoš schilderte die Problemstellung mit Blick auf
die Interessen der ehemaligen Kolonien folgendermaßen: Eine absolute Zurückwei-
sung eines neuen Staates gegenüber allen Verträgen seines Vorgängers stelle zwar
sicher, dass ein neuer Staat keine für ihn nachteiligen Verträge einhalten müsse, die
von dem früheren Kolonialherrn ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse des befreiten
Gebietes und seiner Bewohner abgeschlossen worden waren; gleichzeitig könnten
dadurch aber Schwierigkeiten für die neuen Staaten erwachsen, wenn dadurch auch
Verträge über Grenzen, Wasserversorgung und ähnliches aufgehoben würden.2
Wenn solche Verträge jedoch nach der Unabhängigkeit eine neuen Staates in Kraft
blieben, so würden für Bartoš erneut Selbstbestimmung und Souveränität dieser
Staaten sowie das Recht des betroffenen Volkes auf die Quellen seines nationalen
Wohlstandes in Frage gestellt.3
Vor diesem Hintergrund entwickelte sich im Subkomitee eine Debatte um soge-
nannte verfügende („dispositive“, „real“, „localised“) Verträge, wie Territorial-
verträge in der Terminologie des Rechts der Staatennachfolge bezeichnet wurden.
Bereits Vattel hatte zwischen politischen und verfügenden Verträgen unterschie-
den, wobei die Rechte aus letzteren für ihn unabhängig von der Existenz des
Staates, welcher sie gewährt hatte, fortgalten.4 O’Connell nahm diese Unterschei-
dung im Ergebnis auf und erklärte den besonderen Effekt verfügender Verträge
folgendermaßen:
Treaties which create real rights are described as ‘dispositive’. Their legal effect is to
impress on a territory a status which is intended to be permanent, and which is independent
of the personality of the State exercising sovereignty. […]
The effect of change of sovereignty on such dispositive treaties is not really a question
of the law of State succession at all, and still less of treaty law. The restrictions imposed
by the treaty are not of contractual character, but constitute equitable property of the bene-
ficiary State. The treaty is thus more of conveyance than an agreement, and as such is an
instrument for the delimitation of sovereign competence within the impressed territory. The
State accepting the dispositive obligations possesses for the future no more than the con-
veyance assigned to it, and a Power which subsequently succeeds in sovereignty to the area
in question can take over only what its predecessor possessed. The basis of the restrictions
imposed on the territory is therefore not destroyed by the change of sovereignty, or even by
the lapse of the treaty.5
2
Bartoš, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 293, 293.
3
„[I]f such treaties are recognized as remaining in force, the question arises whether the
people concerned have really gained their freedom, or whether these treaties do not represent
the vestiges of colonialism and the basis for what is now called ‘neocolonialism’ — one of
the phenomena contrary to the principle of decolonization which, deriving as it does from
the right of self-determination, has become one of the guiding principles of the internatio-
nal practice established by the will of States within the framework of the United Nations.”
Bartoš, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 293, 293.
4
De Vattel, Das Völkerrecht oder Grundsätze des Naturrechts, angewandt auf das Verhalten
und die Angelegenheiten der Staaten und Staatsoberhäupter (1758, Übersetzung 1959).
5
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 49 f.
I. Vom Subkomitee bis zu Waldocks Artikel 4 in der ILC281
Auch McNair ging davon aus, dass bezüglich bestimmter Verträge ein allgemeines
Einverständnis dahingehend herrsche, dass diese Verträge Wechsel der Souveräni-
tät überleben müssten.12 Es handelte sich für McNair dabei um Verträge all jene
6
Grenzverträge fielen nach O’Connells Ansicht unter diese Kategorie, da ein Staat von einem
anderen nur so viel Gebiet erhalten könnte, wie jener auch auf der Grundlage von Grenzverträ-
gen mit seinen Nachbarstaaten besaß. Zu internationalen Dienstbarkeiten zählten für O’Connell
beispielsweise Wegerechte, Rechte zur Instandhaltung internationaler Eisenbahnverbindungen,
Fischerei- und Navigationsrechte bezüglich nationaler Wasserstraßen sowie das Recht, diese zu
Zwecken der Bewässerung anzuzapfen, ebenso wie die Neutralisation und Entmilitarisierung
von Gebieten. Kapitulationsverträge waren für O’Connell eher historisch von Bedeutung:
„During the past centuries European Powers acquired by treaty in Islamic or other less
developed territories rights of extra-territorial jurisdiction over their subjects. […] They were
acquired by European or American States because the local administration of justice was
ineffective to guarantee their subject adequate protection, trial or redress.” O’Connell, The
Law of State Succession (1956), S. 50, 59.
7
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 53. Diese Ansicht vertrat beispielsweise
auch Oppenheim, International Law, Band 1 (8. Auflage 1955), S. 536 ff.
8
PCIJ, Free Zones of Upper Savoy and District of Gex (France v. Switzerland), Order (19.
August 1929), PCIJ Series A No. 22, S. 4, 4 ff. S. 145. Siehe bereits oben, Teil II.
9
League of Nations Official Journal, Oktober 1920, Special Supplement, No. 3.
10
Siehe hierzu insbesondere Kapitel 10.
11
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 63.
12
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 45, Rn. 2;
McNair, The Law of Treaties (1. Auflage 1961), S. 655.
282 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
13
McNair, The Law of Treaties (1. Auflage 1961), S. 656.
14
Rosenne, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 285, 288.
15
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 52. Beispiele hierfür bilden Schoen-
born, La Nature Juridique du Territoire, 30 Recueil des Cours (1929), S. 81, 108 ff.; Keith,
The Theory of State Succession: With Special Reference to English and Colonial Law (1907),
S. 22; Brierly, Règles Générales du Droit de la Paix, 58 Recueil des Cours (1938), S. 5, 227.
16
Cavaglieri, Règles Générales du Droit de la Paix, 26 Recueil des Cours (1929), S. 315, 375 f.
17
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 48, Rn. 6;
Marcoff, Accession a l’Independance et Succession d'Etats aux Traites Internationaux
(1969), S. 205 f.
18
Mutiti, State Succession to Treaties in Respect of Newly Independent African States
(1976), S. 3 f.
19
Sub-Committee on Succession of States and Governments, UN Doc A/CN.4/160 and
Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 266, 267.
20
Elias, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 282, 282, Rn. 3.
I. Vom Subkomitee bis zu Waldocks Artikel 4 in der ILC283
entsprach die Position von Tabibi und Elias derjenigen, welche beide bereits bei der
Debatte um das Prinzip rebus sic stantibus vertreten hatten.21
Letztlich einigte sich das Subkomitee darauf, dass Territorialrechte im Recht
der Staatennachfolge näher untersucht werden sollten, wobei kein expliziter Bezug
auf Grenzen genommen wurde.22 Die sich bereits im Subkomitee abzeichnende
Uneinigkeit der ILC-Mitglieder über das Schicksal von Territorialverträgen veran-
lasste Waldock dazu, in Bezug auf das für ihn besonders bedeutsame Thema der
Grenzen folgenden Artikelentwurf in seinen ersten Bericht aufzunehmen:
21
Siehe oben Teil II.
22
Lachs, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 260, 261.
23
Waldock, UN Doc A/CN.4/202, ILC-Yearbook (1968, II), S. 87, 92.
24
Waldock, UN Doc A/CN.4/202, ILC-Yearbook (1968, II), S. 87, 92, Rn. 1.
25
Waldock, UN Doc A/CN.4/202, ILC-Yearbook (1968, II), S. 87, 92, Rn. 1. Siehe hierzu
oben Kapitel 4.
26
Waldock, UN Doc A/CN.4/202, ILC-Yearbook (1968, II), S. 87, 93, Rn. 2.
284 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
Tabibis Kritik zielte dabei nur zum Teil auf die kolonialen Grenzen selbst ab,
mit denen sich Waldocks Artikel 4 direkt beschäftigte; er bezog sich auch auf die
ungleichen Grenzverträge selbst, für die keine Ausnahme vom clean-slate-Prinzip
gemacht werden dürfe. Natürlich verurteilt er aber auch den Vollzug Ungleicher
Verträge. Als Reaktion auf Waldocks Versuch, die Geltung kolonialer Grenzen
unabhängig vom Recht der Staatennachfolge festzuschreiben, versuchte Tabibi
durch eine Politisierung der Frage, diese in den Kompetenzbereich der Generalver-
sammlung zu verlagern. Hier drehte sich die bei der Ausnahme zum Prinzip rebus
sic stantibus angebrachte Argumentationsweise30 von Tabibi und Waldock also zu
einem gewissen Grad um. Dabei ging Tabibi davon aus, dass die überwiegende
Literaturmeinung seine Auffassung teile.31
27
Diese Behauptung Tabibis lässt sich andhand der ILC-Dokumente nicht nachvollziehen,
vgl. Lachs, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 260, 260 ff.
28
Diese Äußerung Tabibis ist im Kontext von Grenzverträgen gewagt, weil beide genannten
Resolutionen von der Kontinuität kolonialer Grenzen ausgehen:
„
Any attempt aimed at the partial or total disruption of the national unity and the territorial
integrity of a country is incompatible with the purposes and principles of the Charter of the
United Nations.“ General Assembly, UN Doc A/Res/15/1514 (14. Dezember 1960), Rn. 6.
29
International Law Commission, Summary Record of the 965th Meeting, UN Doc A/CN.4/
SR.965, Yearbook of the International Law Commission (1968, I), S. 127, 132, Rn. 65 f.
30
Siehe oben, Teil II.
31
Tabibi bezog sich beispielsweise auf Cukwurah, The Settlement of Boundary Disputes in
International Law (1967); Boggs, Samuel Whittemore: International Boundaries: Study of
Boundary Functions and Problems (1940).
I. Vom Subkomitee bis zu Waldocks Artikel 4 in der ILC285
Bedjaoui hatte im Jahr 1968, in dem Waldocks Artikel 4 diskutiert wurde, selbst in
seinem ersten Bericht zur Staatennachfolge in nichtvertragliche Rechte und Pflichten
ebenfalls Stellung zu Territorialfragen bezogen. Probleme der Staatennachfolge in
Bezug auf das Territorium waren für Bedjaoui der Inbegriff des Problems der Staa-
tennachfolge, die definitionsgemäß (allerdings nicht nach der Definition der WKSV,
sondern nach den Definitionen in der Literatur)33 den Wechsel der Souveränität über
ein Territorium behandele.34 Definierte Gebietsgrenzen seien hierfür unerlässlich.35
Grundsätzlich ging laut Bedjaoui das Territorium in seinen bestehenden Grenzen auf
den neuen Staat über.36 Damit bezog Bedjaoui erneut die Position der OAE.37
Castrén versuchte, Tabibi zu beschwichtigen; er ging anders als Bedjaoui davon
aus, dass Artikel 4 lediglich einen Vorbehalt enthalte und noch keine inhaltliche
Stellungnahme darstelle, obschon er selbst die Kontinuität von Grenzverträgen für
erforderlich hielt.38 Rosenne zweifelte daran, dass Artikel 4 zum Recht der Staa-
tennachfolge in Verträge gehöre, da es hierbei mehr um Vertragsfolgen und das
uti-possidetis-Prinzip gehe.39 Abdullah El-Erian40 aus der Vereinigten Arabischen
32
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.967, ILC-Yearbook (1968, I), S. 139, 141, Rn. 27 f.
33
Siehe Kapitel 8.
34
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 112.
35
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 112. Siehe
auch Bedjaoui, Problemès Récents de Succession d’´Etats dans les Etats Nouveaux, 130
Recueil des Cours (1970, II), S. 457, 522.
36
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 112.
37
Siehe oben Teil II.
38
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.966, ILC-Yearbook (1968, I), S. 133, 134, Rn. 11.
39
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.967, ILC-Yearbook (1968, I), S. 139, 141, Rn. 21.
40
Geboren 1920, gestorben 1981. Studium der Rechtswissenschaft in Kairo, Harvard und
Columbia. Tätigkeit im ägyptischen Außenministerium (1959-1968). Ständiger Vertreter
Ägyptens beim Büro der Vereinten Nationen in Genf und Stellvertreter des ständigen Vertreters
286 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
Republik hielt es für verfrüht, Fragen wie Vorbehalte oder Ausnahmen zu disku-
tieren, bevor nicht die Grundregeln der Staatennachfolge in Verträge feststünden
und schlug daher vor, die Debatte auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.41
Waldock nahm diesen Vorschlag auf, jedoch nicht ohne abermals darauf hinzu-
weisen, dass Artikel 4 der bei der Wiener Vertragsrechtskonferenz zum Ausdruck
gekommenen opinio iuris entspräche und die Stabilität von Grenzen zur Sicherung
des Weltfriedens erforderlich sei.42 Tatsächlich sollte Waldock sich der Territorial-
frage erst wieder widmen, nachdem er sich für eine Grundregel für die Staatennach-
folge in Verträge entschieden hatte.
beim UN-Hauptquartier in New York City (1968-1979). Mitglied der ILC (1957/1958 und
1962-1978, 1976 als Vorsitzender). Ägyptischer Botschafter in Frankreich und der Schweiz.
Richter am Internationalen Gerichtshof (1978-1981). Professor an der Universität Kairo.
Siehe Obituaries: Abdullah el-Erian, 60; Judge at World Court, The New York Times (15.
Dezember 1981), abrufbar unter http://www.nytimes.com/1981/12/15/obituaries/abdullah-
el-erian-60-judge-at-world-court.html (zuletzt abgerufen am 02.12.2015).
41
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.967, ILC-Yearbook (1968, I), S. 139, 144, Rn. 64.
42
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.968, ILC-Yearbook (1968, I), S. 144, 146, Rn. 21 f.
43
Waldock, UN Doc A/CN.4/224 and Add. 1, ILC-Yearbook (1970, II), S. 25, 37, Rn. 18.
44
Die ILC diskutierte Waldocks zweiten und dritten Bericht in ihrer 22. Sitzung nur vorläufig
und ohne große Debatte über Territorialregime; Tabibi verwies lediglich auf seine Ausfüh-
rungen in der 20. Sitzung der ILC. Nichtsdestoweniger nahm die Generalversammlung den
Bericht der ILC über diese Sitzung zum Anlass, diese Frage im Sechsten Ausschuss ausführ-
lich zu erörtern. Manche Staaten begrüßten die Grundregel, nach der die neuen Staaten nicht
in die Rechte und Pflichten ihrer Vorgänger eintreten sollten; sie erachteten diese aber nicht
als absolut, so dass sich die ILC nun auf deren Ausnahmen konzentrieren müsse. Andere
machten ihre Zustimmung zur Grundregel von der Existenz von Ausnahmen in Bezug auf
Territorialrechte abhängig. Dem entgegengesetzt sahen andere Staaten in diesen verfügenden
Verträgen den Hauptanwendungsbereich des clean-slate-Prinzips. ILC, UN Doc A/CN.4/
SR.1068, ILC-Yearbook (1970, I), S. 138, 141, Rn. 30; Waldock, UN Doc A/CN.4/249, ILC-
Yearbook (1971, II, 1), S. 143, 144, Rn. 5.
II. Waldocks Artikel 22 und 22 (bis)287
1. The continuance in force of a treaty is not affected by reason only of the occurrence of
a succession of States in respect of a party if the treaty creates obligations and rights
relating to the user or enjoyment of territory of a party and it appears from the treaty or
is otherwise established that the parties intended such obligations to attach indefinitely
or for a specified period to the particular territory in question and such rights either:
(a) Correspondingly to attach indefinitely or, as the case may be, for a specified period,
to the territory of the other party as a particular locality;
(b) To be accorded to a group of States or to States generally. […]
ALTERNATIVE B
1. A succession of States shall not by reason only of its occurrence affect the continuance
in force of obligations and rights arising from a treaty and relating to the user or enjoy-
ment of territory of a party if it appears from the treaty or is otherwise established that
the parties intended such obligations to attach indefinitely or for a specified period to the
particular territory in question and such rights either:
(a) Correspondingly to attach indefinitely or, as the case may be, for a specified period,
to the territory of the other party as a particular locality;
(b) To be accorded to a group of States or to States generally. […]48
In der jeweils ersten Formulierung dieser Normen ging Waldock also von der Konti-
nuität der jeweiligen Territorialverträge aus, während sich die zweite Alternative nicht
45
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1–4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1 ff.
46
Vgl. Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 44 f., Rn. 1.
47
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1–4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 44.
48
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1–4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 44.
288 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
auf das Fortbestehen der Verträge selbst, sondern auf jenes der aus diesen Verträgen
erwachsenden Rechte und Pflichten bezog.49 Waldock hatte sich dafür entschieden,
Artikel 22 und Artikel 22 (bis) eine gemeinsame Kommentierung anzuhängen. In
beiden Fällen bedeuteten die Artikelentwürfe Ausnahmen vom clean-slate-Prinzip
in Bezug auf den moving treaty frontiers-Grundsatz.50 Dies entsprach laut Waldock
nicht nur der Ansicht der Mehrheit der Mitglieder der ILC, sondern auch dem über-
wiegenden Teil der Fachliteratur.51 Waldock stellte folgende Diagnose:
The diversity of opinion amongst writers makes it difficult to discern whether and, if so, to
what extent and upon what basis, international law today recognizes any special category
or categories of treaties of a territorial character which are inherited automatically by a
successor State.52
Deswegen griff Waldock auf die Ausnahme vom Prinzip rebus sic stantibus in
Artikel 62 Absatz 2 a) WVK zurück, welche für Verträge gilt, die eine Grenze fest-
legen.55 Hier hatte Waldock als Berichterstatter für das Recht der Verträge in seinem
zweiten Bericht zwar vorgeschlagen, Territorialrechte im Allgemeinen zu erfas-
sen; dieser Ansatz hatte sich jedoch nicht durchsetzen können.56 Folglich trennte
Waldock in seiner Argumentation zwischen Grenzverträgen bzw. -regimen und
anderen Territorialverträgen bzw. -regimen:
Waldocks Hauptargument für eine Sonderregelung zu Grenzverträgen bzw.
Grenzregimen war die entsprechende Regelung in der WVK. Artikel 62 Absatz 2
a) WVK beschränkte sich auf Grenzverträge und schloss andere Territorialrechte
49
Siehe dazu ausführlich unten.
50
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 44 f., Rn. 1.
51
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 44 f., Rn. 1,
S. 48, Para 6.
52
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 49, Rn. 9.
53
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 49, Rn. 9.
54
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 49, Rn. 11.
55
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 49, Rn. 12.
56
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3, Year-
book of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 85, Rn. 17. Siehe oben, Teil II.
II. Waldocks Artikel 22 und 22 (bis)289
aus.57 Die hier zum Ausdruck kommende Rechtsaufassung der Staaten der Wiener
Vertragsrechtskonferenz und ihre Argumente schienen für Waldock auch in Bezug
auf die Staatennachfolge in Verträge sachdienlich.58 Entsprechend nahm Waldock
an, dass auch für der Staatennachfolge in Verträge eine solche Ausnahme gefunden
werden musste:
Such an exception would relate exclusively to the effect of the succession of States on the
boundary settlement. It would leave untouched any other ground of claiming the revision
or setting aside of the boundary settlement, whether self-determination or the invalidity or
termination of the treaty.59
Diese Lösung war laut Waldock aber strenggenommen keine Ausnahme vom cle-
an-slate-Prinzip, sondern eher ein allgemeiner Vorbehalt zum Recht der Staaten-
nachfolge, wie ihn Waldock schon in seinem ersten Bericht formuliert hatte.60 Hier
nutzte Waldock die Orientierung des Rechts der Staatennachfolge in Verträge am
Recht der Verträge statt am Recht der Staatennachfolge, um Grenzverträge und
Grenzen aufrecht zu erhalten; die Wahl der Orientierung seiner Studie an einem
bestimmten Rechtsgebiet (dem Recht der Verträge) gegenüber einem anderen mög-
lichen (dem Recht der Staatennachfolge) war damit ausschlaggebend für das Ergeb-
nis seiner Untersuchung.
Nach Waldocks Ansicht sprach die Staatenpraxis in Afrika für die Regelung in
Artikel 22:
Furthermore, despite their initial feelings of reaction against the maintenance of ‘colonial’
frontiers, the newly independent States of Africa have come to endorse the principle of
respect for established boundaries. Article III, paragraph 3 of the Charter of the Organiza-
tion of African Unity, it is true, merely proclaimed the principle of ‘respect for the sover-
eignty and territorial integrity of each State and for its inalienable right to independent
existence.’ But in 1964, with reservations only from Somalia and Morocco, the Assembly of
Heads of State and Government adopted a resolution which after reaffirming the principle
in article III, paragraph 3, solemnly declared that ‘all Member States pledge themselves to
respect the borders existing on their achievement of national indepenence’. A similar reso-
lution was adopted by the Conference of Heads of State and Government of Non-Aligned
Countries held in Cairo in October 1964. This does not, of course, mean that boundary
disputes have not arisen or may not arise between African States. But the legal grounds
invoked must be other than the mere effect of the occurrence of a succession of States on
a boundary treaty.61
Damit griff Waldock Bedjaouis Anmerkungen und die Position der OAE auf. Er
beließ es jedoch nicht bei einer pauschalen Einordnung der afrikanischen Praxis,
sondern analysierte im Anschluss die Grenzstreitigkeiten zwischen Somalia und
57
Siehe oben Teil II.
58
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 52, Rn. 21. Zu
Details siehe oben, Teil I.
59
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 54, Rn. 27.
60
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 54, Rn. 28.
Siehe oben.
61
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 52, Rn. 22.
290 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
Äthiopien einerseits und Somalia und Kenia andererseits.62 Der Grenzkonflikt zwi-
schen Somalia und Äthiopien beruhte zwar auch auf Konflikten von vor der Zeit
der Kolonialisierung, war aber insbesondere geprägt durch die Folgen des Kolo-
nialismus, insbesondere von den Grenzziehungen der Kolonialmächte in diesem
Gebiet.63 Somalia hatte im Jahr 1960 seine Unabhängigkeit erklärt. Das kulturell
und ethnisch recht homogene Volk der Somali war jedoch durch koloniale Demar-
kationen über von Großbritannien, Frankreich, Italien und Äthiopien beherrschte
Gebiete verteilt worden, aus somalischer Sicht eine Ungerechtigkeit, die nach
der Dekolonialisierung durch Gebietsübertragungen rückgängig gemacht werden
müsse.64 Der Vielvölkerstaat Äthiopien begründete seine Identität hingegen durch
seine lange Reichstradition und bestand auf der Unantastbarkeit seiner Landesgren-
zen.65 Ähnlich war die Position des kenianischen Staates, dem im Rahmen seiner
Unabhängigkeit einige ehemals somalische Gebiete von der britischen Kolonial-
macht zugeteilt worden waren. Waldock stellte fest, dass Somalia sich in diesen
Streitigkeiten auf das Selbstbestimmungsrecht, ethnische Erwägungen und die
Unwirksamkeit der fraglichen Verträge berufen hatte und zog daraus den wagemu-
tigen Schluss, dass Somalia scheinbar nicht davon ausgehe, im Wege der Staaten-
nachfolge ipso iure nicht an die fraglichen Grenzverträge gebunden zu sein.66 Auch
Äthiopien und sogar Kenia, selbst ehemalige Kolonie, gingen laut Waldock von der
Fortgeltung der Grenzvereinbarungen aus.67
Als nicht-afrikanische Staatenpraxis nannte Waldock weiter den Vertrag von
Kabul von 1921, durch welchen Afghanistan einerseits und Großbritannien als
Kolonialmacht Indiens andererseits die Grenze zwischen Indien und Afghanistan
festgelegt hatten.68 Die auf Grund dieses Vertrages gezogenen Grenzen hielt Groß-
britannien auch nach der Unabhängigkeit Indiens (und Pakistans) für weiterhin
gültig, während sich Afghanistan auf den ungleichen Charakter des Vertrages von
62
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 52 f., Rn. 23 ff.
Zur Zeit von Waldocks fünftem Bericht befand sich der Grenzkonflikt zwischen Somalia und
Äthiopien in einer Entspannungsphase, in der die Vermittlung durch die OAE eine bedeu-
tende Rolle gespielt hatte. Matthies, Der Ogadenkrieg zwischen Somalia und Äthiopien von
1977/78: Ursachen, Folgen und Verlauf, 22 Africa Spectrum (1987), S. 237, 247 f.
63
Matthies, Der Ogadenkrieg zwischen Somalia und Äthiopien von 1977/78: Ursachen,
Folgen und Verlauf, 22 Africa Spectrum (1987), S. 237, 237.
64
Die Forderung des neuen Staates nach einer Wiedervereinigung Somalias ging einher mit
einem schwierigen Prozess der Staaten- und Nationenbildung; der pansomalische Nationa-
lismus sollte der Identitätsbildung dienen und das Recht des somalischen Volkes auf Selbst-
bestimmung verwirklichen, die Gesellschaft solidarisieren und der Regierung Legitimität
und Herrschaft sichern. Matthies, Der Ogadenkrieg zwischen Somalia und Äthiopien von
1977/78: Ursachen, Folgen und Verlauf, 22 Africa Spectrum (1987), S. 237, 238.
65
Matthies, Der Ogadenkrieg zwischen Somalia und Äthiopien von 1977/78: Ursachen,
Folgen und Verlauf, 22 Africa Spectrum (1987), S. 237, 238.
66
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 52 f., Rn. 23.
67
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 53, Rn. 23.
68
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 53,, Rn. 25.
II. Waldocks Artikel 22 und 22 (bis)291
Kabul berief und auch meinte, dass die neuen Staaten auf Grund des clean-slate-
Prinzips nicht an diesen gebunden seien.69 Solche gegenläufigen Rechtsauffassun-
gen wurden für Waldock jedoch von der überwältigenden opinio iuris, welche die
Wiener Vertragsrechtskonferenz bezüglich Artikel 62 Absatz 2 a) WVK zu Tage
gebracht hatte, weitgehend marginalisiert.70
Artikel 62 Absatz 2 a) WVK bezog sich dabei schon vom Wortlaut her auf den
Grenzvertrag selbst und nicht auf die Grenze, die er festsetzte. In Bezug auf die
Staatennachfolge in Verträge ging es laut Waldock jedoch nicht um das Inkraftblei-
ben eines Vertrages, sondern darum, welche Rechte und Pflichten auf den Nach-
folger übergingen.71 Daher erschien es ihm möglich, auch nur die Fortwirkung der
Grenze selbst und nicht notwendigerweise auch des Grenzvertrages anzunehmen.72
Diese Möglichkeit hatte Waldock in seinem Artikel 22 Alternative B aufgenommen.
Jene zweite Alternative entsprach auch dem Ansatz der ILA, die sich in ihrer achten
Resolution zu durch Vertrag gezogene Grenzen geäußert hatte:
When a treaty which provides for the delimitation of a national boundary between two
States has been executed in the sense that the boundary has been delimited and no further
action needs to be taken, the treaty has spent its force and what is succeeded to is not the
treaty but the extent of national territory so delimited […].73
Obwohl Waldock der ILC also zwei Formulierungen für Artikel 22 vorlegte, war
seiner Kommentierung bereits eine gewisse Tendenz zur zweiten Alternative – einer
Sonderregelung für Grenzregime statt für Grenzverträge – zu entnehmen.
In Bezug auf andere Territorialrechte konnte die WVK Waldock nicht wei-
terhelfen, weshalb er sich intensiv mit der Staatenpraxis auseinandersetzte.74
Als aufschlussreich bezeichnete Waldock hier den Streit um die 1921 und 1951
geschlossenen Belbases-Abkommen, mit denen Großbritannien im Namen seines
Mandats- bzw. Treuhandgebiets Tansania durch einen Pachtvertrag Nutzungsrechte
an dem tansanischen Hafen Dar-es-Salaam für die Ewigkeit an Belgien abtrat, damit
die zentralafrikanischen Gebiete Belgiens (Zaire, Ruanda und Burundi) nicht von
ihrem natürlichen Hafen abgeschnitten wurden.75 Mit seiner Unabhängigkeit teilte
Tansanias Großbritannien mit, die Belbases-Abkommen als ungültig behandeln zu
wollen. Der tansanische Ministerpräsident Nyerere verkündete mit Blick auf die
Begrenzungen von Mandat und Treuhand:
69
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 53, Rn. 25.
70
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 54, Rn. 27.
71
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 54, Rn. 28.
72
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 54, Rn. 28.
73
Waldock, UN Doc A/CN.4/214 and Add. 1 and 2, ILC-Yearbook (1969, II), S. 45, 48, Rn. 15.
74
Zur Auswertung der Staatenpraxis zog Waldock einen Bericht des Sekretariats der Ver-
einten Nationen heran. Die europäische Praxis deutete für Waldock darauf hin, eine Sonder-
regelung für bestimmte Territorialverträge bzw. -regime zu treffen. Waldock, UN Doc A/
CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 55, Rn. 31 f.
75
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 55, Rn. 33.
292 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
A lease in perpetuity of land in the territory of Tanganyika is not something which is com-
patible with the sovereignty of Tanganyika when made by an authority whose own rights in
Tanganyika were for a limited duration.76
Großbritannien hielt die Verträge weiterhin für gültig, sah sich als nunmehr ehema-
lige Kolonialmacht von dieser Frage jedoch nicht mehr betroffen und informierte
die Regierungen der betroffenen Staaten. Zaire, Ruanda und Burundi beriefen sich,
mittlerweile selbst von Belgien unabhängig geworden, auf ihre Nachfolge in die
Belbases-Abkommen. Hier interpretierte Waldock die Praxis Tansanias ähnlich
gewagt, wie er schon es schon bei der Position Somalia in Bezug auf dessen Grenz-
streitigkeiten getan hatte:
The point made by Tanganyika as to the limited character of the competence of an admi-
nistering Power is clearly not one to be lightly dismissed without, however, expressing any
opinion on the correctness or otherwise of the positions taken by the various interested
States in this case, the Special Rapporteur thinks it sufficient here to stress that Tanganyika
herself did not rest her claim to be released from the Belbase Agreements on the “clean
slate” principle. On the contrary, by resting her claim specifically on the limited character
of an administering Powerʼs competence to bind a mandated or trust territory, she seems by
implication to have recognized that the free port base and transit provisions of the Agree-
ments were such as would otherwise have been binding upon a successor State.77
76
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 56, Rn. 33.
77
Die Begrenztheit der Befugnisse einer Kolonialmacht betonte Waldock auch im Zusam-
menhang von Militärbasen auf den Karibischen Inseln, welche Großbritannien für 99 Jahre
an die USA verpachtet hatten. Als die Karibischen Inseln ihre Unabhängigkeit erlangten,
gingen diese – ebenso wie die USA – davon aus, dass die Pachtverträge nicht weiter gelten
konnten. Für Waldock lag der Grund für diese Praxis zum einen im kolonialen, zum anderen
im persönlichen und politischen Charakter der fraglichen Verträge.Waldock, UN Doc A/
CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 56, Rn. 34 f.; Esgain, Military Servi-
tudes and the New Nations, in O'Brien (Hrsg.), The New Nations in International Law and
Diplomacy (1965), S. 42, 78 f.
78
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 56, Rn. 36 ff.
79
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 57, Rn. 40.
80
Waldock, UN Doc A/CN.4/167 and Add. 1-3, ILC-Yearbook (1964, II), S. 5, 26 ff., Rn 1 ff.
II. Waldocks Artikel 22 und 22 (bis)293
Diese Verträge sollten jedoch noch eine wesentliche Rolle im Streit um Erworbene
Rechte spielen.86 Auch Verträge über die Errichtung von Militärbasen sah Waldock
als politische Verträge als nicht von Artikel 22 (bis) erfasst an.87
Letztlich fehlte es jedoch selbst Waldock in Schrifttum und Praxis an klaren
Kriterien, die bestimmten, für welche Territorialverträge Kontinuität gelten solle.88
Trotzdem legte er auch Artikel 22 (bis) in zwei Alternativen vor, wobei sich die erste
auf den Vertrag selbst, die zweite hingegen auf die Territorialrechte und -pflichten
aus dem Vertrag bezog.
81
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 50, Rn. 14, 16.
Siehe oben.
82
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 51, Rn. 16.
83
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 57, Rn. 40.
84
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 58, Rn. 42 ff.
85
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 57, Rn. 39.
86
Siehe unten, Kapitel 10.
87
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 56, Rn. 34 f.
88
Waldock, UN Doc A/CN.4/256 an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 59, Rn. 45.
294 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
Die ILC diskutierte Waldocks Artikel 22 und 22 (bis) bei ihrer 24. Sitzung 1972.
Wie sich schon früher abgezeichnet hatte, war es auch bei dieser Debatte Tabibi,
der sich mit Vehemenz gegen die mit Artikel 22 und 22 (bis) getroffenen Ausnah-
men vom clean-slate-Prinzip aussprach:
He did not accept the permanency of boundary treaties and the succession of States in
respect of such treaties if they were not lawful in the first place, and if their continuation was
a source of tension and political instability. Nor did he believe that it was possible to lump
other territorial treaties together and create a single rule that could be applied to all of them.89
Für Tabibi mussten im modernen Völkerrecht Rechte in Bezug auf das Territorium
eines Staates solchen in Bezug auf das Volk Vorrang einräumen.90 Tabibi nutzte also
erneut das Stabilitätsargument sowie das Selbstbestimmungsrecht zur Stärkung
seiner Position. Die Staatennachfolge in Verträge erfolgte für Tabibi lediglich durch
stillschweigende Übereinstimmung der benachbarten Staaten; wo es an einer solchen
fehle, dürfe ein Grenzvertrag dem neuen Staat nicht gegen seinen Willen aufgezwun-
gen werden.91 Tabibi argumentierte, dass auch die ILA nicht zwischen Verträgen mit
und ohne Territorialcharakter getrennt und daher jedenfalls keine Staatennachfolge
in Territorialverträge ipso iure angenommen habe.92 Dass die ILA trotzdem von der
Kontinuität der Grenzen ausging,93 lies Tabibi unerwähnt. Auch die Analogie zu
Artikel 62 Absatz 2 a) WVK hielt Tabibi in ihrer Absolutheit für unzulässig:
It had been made quite clear at the United Nations Conference on the Law of Treaties that
the exception in article 62, paragraph 2 (a), in no way impeded the independent operation
of the principle of self-determination, and the article had been accepted on the understan-
ding that it dealt only with lawful boundary treaties. In his view, to apply that provision in
a different context and in a different convention would create more problems than it would
solve. Article 22 (bis) would be acceptable only if the Commission carefully differentiated
between various categories of localized and territorial treaties, and included only those
which had a real and permanent character and were in the interests of a group of States or
of States generally.94
Hier geht Tabibi von der von ihm proklamierten Deutung der WVK aus. Auch die
Praxis der OAE sowie der Staaten in Lateinamerika ließ für Tabibi keine andere
Auffassung zu:
The Special Rapporteur had referred, in paragraph (22) of his commentary, to the endorse-
ment by the newly independent States of Africa, in article III, paragraph 3, of the Charter
89
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1192, ILC-Yearbook (1972, I), S. 241, 248, Rn. 75.
90
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1192, ILC-Yearbook (1972, I), S. 241, 248, Rn. 76.
91
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1192, ILC-Yearbook (1972, I), S. 241, 248, Rn. 76.
92
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1192, ILC-Yearbook (1972, I), S. 241, 248, Rn. 77.
93
Siehe oben.
94
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1192, ILC-Yearbook (1972, I), S. 241, 248, Rn. 78.
III. Artikel 22 und 22 (bis) in der ILC295
of the Organization of African Unity, of the principle of respect for established boundaries.
That paragraph merely proclaimed a well-known principle of international law, “respect
for the sovereignty and territorial integrity of each State”, which was also embodied in
the Charter of the United Nations. Moreover, the question of African boundaries was a
special case, because they had been established to serve the interests of the colonial Powers
and not on the basis of geographical, ethnic, racial, linguistic or historical factors. To alter
African boundaries would shatter the whole fabric of the African States, but it was wrong
to apply the case of Africa to the rest of the world. It was argued by some jurists that in
Latin America the principle of uti possidetis was applied, but that was clearly not the case,
since most boundary disputes there had been settled by arbitration. Moreover, many jurists
believed that international boundaries concerned only the neighbouring countries and that
any disputes should be settled by international adjudication or arbitration.95
Waldock bemühte sich, Tabibis Bedenken zu zerstreuen. Wie schon bei Artikel 4
stellte er auch hier klar, dass von Artikel 22 und 22 (bis) sonstige Rechte eines
Staates, sich auf die Unwirksamkeit einer Grenze zu berufen, unberührt bleiben
sollten.96 Artikel 22 „was designed solely to exclude the idea that, by virtue of the
"clean slate" principle of the "moving treaty-frontiers" rule, the mere occurrence of
a succession could open the way to every kind of claim with regard to boundaries.
In his view, to accept that idea would have disastrous consequences.“97
Tatsächlich sprachen sich einige der Völkerrechtler aus der Dritten Welt, die sich
in den Arbeiten zum Recht der Verträge vehement gegen die Fortwirkung Ungleicher
Verträge gestellt hatten, in der Debatte um Artikel 22 und 22 (bis) für diese Regelun-
gen aus, die aus Tabibis Sicht ein Konservierung dieser kolonialen Verträge bedeu-
teten. Der Brasilianer José Sette Câmara Filho argumentierte, dass dingliche Rechte
im Völkerrecht grundsätzlich erga omnes gelten würden und die Ausnahme vom cle-
an-slate-Prinzip im Interesse der internationalen Gemeinschaft läge.98 Er stellte klar:
The rule of continuity did not mean that boundary treaties were sacrosanct or that the injus-
tices and errors of the past must be perpetuated. Such treaties could, and indeed had been,
challenged, but on grounds other than the “clean slate” principle.99
Diese Position, die in engem Zusammenhang mit jener der OAE in Bezug auf
das Prinzip uti possidetis stand, entsprach nicht nur, wie sich bereits in der 20.
Sitzung der ILC gezeigt hatte, jener Bedjaouis, sondern beispielsweise auch der
von El-Erian100 oder der von Gonzalo Alcívar aus Ecuador.101 In Bezug auf solche
95
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1192, ILC-Yearbook (1972, I), S. 241, 248 f., Rn. 79.
96
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1192, ILC-Yearbook (1972, I), S. 241, 249, Rn. 83.
97
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1192, ILC-Yearbook (1972, I), S. 241, 249, Rn. 83.
98
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1193, ILC-Yearbook (1972, I), S. 249, 250, Rn. 8 f.
99
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1193, ILC-Yearbook (1972, I), S. 249, 250, Rn. 9. Ähnlich
Yasseen, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1193, ILC-Yearbook (1972, I), S. 249, 252, Rn. 16.
100
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1193, ILC-Yearbook (1972, I), S. 249, 253 f., Rn. 41 f.
101
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1193, ILC-Yearbook (1972, I), S. 249, 258, Rn. 56: „Although
that rule had been expressed in terms of a "fundamental change of circumstances", the article
in fact embodied the clausula rebus sic stantibus. What had until then been considered as an
296 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
Territorialverträge wurde von vielen Völkerrechtlern in der Dritten Welt damit die
utopische Idee von Stabilität und Rechtssicherheit, die sonst von westlichen Autoren
vertreten wurde, geteilt; materielle Gerechtigkeit sollte hinter diesen Erwägungen
zurücktreten. Elias betonte die große Bedeutung der Frage der Territorialverträge
für alle aus der Dekolonialisierung hervorgegangenen Staaten und insbesondere für
jene Afrikas.102 Er billigte eine entsprechende Ausnahme vom clean-slate-Prinzip
grundsätzlich, wollte es jedoch lieber bei dem Vorbehalt in Artikel 4 belassen.103
Während Artikel 22 an das Drafting Committee überstellt wurde,104 diskutierte
die ILC Artikel 22 (bis) im Speziellen. Die Reaktionen entsprachen hier weitgehend
jenen zu Artikel 22.105 Wie sich aber schon an der mangelnden Präzision von Wald-
ocks Definition der zu erfassenden Territorialrechte abgezeichnet hatte, bestand
Klärungsbedarf dahingehend, welche Fälle von Artikel 22 (bis) erfasst werden
sollten und welche nicht. Der Senegalese Doudou Thiam stellte beispielsweise
heraus, dass es keine ipso-iure-Kontinuität von Territorialverträgen für die neue
Staaten nach der Dekolonialisierung geben dürfte, da die Kolonialmächte Verträge
über das Territorium der abhängigen Gebiete oft ausschließlich im Eigeninteresse
getroffen hätten.106 Dem schloss sich Elias an:
His own country, Nigeria, for example, had taken the unusual step of breaking off diplom-
atic relations with France in 1961, when France had insisted on carrying out atomic tests in
the Sahara. Nigeria, together with other African countries, had protested, first through the
United Kingdom before independence, and then directly to France after the attainment of
independence. After relations had been broken off, Nigeria had forbidden French aircraft
to land on Nigerian territory and French vessels to dock in Nigerian ports. France had then
invoked a provision of a treaty concluded between France and Great Britain in 1923, by
which Great Britain had given France the right in perpetuity to land aircraft on Nigerian
territory and to use Nigerian ports. Nigeria had objected to the application of that treaty
on the grounds of fundamental change of circumstances, non-representation in the treaty
and non-consent, and had refused to be bound by it. That decision had been respected by
France, although not necessarily for the legal reasons invoked. That kind of problem should
be taken into account in the formation of article 22 (bis).107
implied clause in a treaty had been transformed by the Vienna Convention into an objective
rule of the law of treaties. His country's delegation had strongly opposed the inclusion of the
exception relating to boundary treaties, set out in article 62, paragraph 2 (a) of that Conven-
tion. He himself still thought that the inclusion of that exception had been unfortunate, but it
was, of course, now part of the Vienna Convention. The point he wished to make was that the
provisions of article 62, paragraph 2 (a) of the Vienna Convention did not constitute the basis
of the rules embodied in article 22 and 22 (bis).”
102
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1193, ILC-Yearbook (1972, I), S. 249, 252, Rn. 22 ff.
103
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1193, ILC-Yearbook (1972, I), S. 249, 252, Rn. 25.
104
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1193, ILC-Yearbook (1972, I), S. 249, 260, Rn. 75.
105
Siehe beispielsweise ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1193, ILC-Yearbook (1972, I), S. 249, 260,
Rn. 79, 81.
106
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1193, ILC-Yearbook (1972, I), S. 249, 261, Rn. 87.
107
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1193, ILC-Yearbook (1972, I), S. 249, 261, Rn. 88.
III. Artikel 22 und 22 (bis) in der ILC297
Dies bedeutet für Elias jedoch wie auch für Thiam keinesfalls eine Ablehnung von
Artikel 22 (bis); es ging lediglich darum, den konkreten Anwendungsbereich der
Norm abzustecken.108 Auch für den Russen Nikolai Ushakov war die Kontinuität
politischer Verträge in Bezug auf das Territorium eines neuen Staates, also über
Truppenstationierungen und Militärbasen im Rahmen politischer Allianzen, inak-
zeptabel.109 Er war aber insgesamt kritischer gegenüber Artikel 22 (bis):
He doubted that there was any justification for excepting localized treaties or treaties of a
territorial character from the “clean slate” principle, and thus forcing newly independent
States to maintain a situation whose lawfulness was not proved and which had been created
by treaties concluded by the former metropolitan State.110
Letztlich war die Resonanz in der ILC zu Artikel 22 (bis) jedoch ebenso wie zu
Artikel 22 insgesamt positiv. Die ILC-Mitglieder aus den neuen Staaten, die sich
grundsätzlich gegen Ungleiche Verträge stemmten, akzeptierten – mit Ausnahme
Tabibis – diese Regelungen als im Interesse der Internationalen Gemeinschaft
liegend und als notwendig für die Ausübung ihrer eigenen Souveränität in siche-
ren Grenzen. Auch Artikel 22 (bis) wurde an das Drafting Committee übergeben.111
Dieses legte zunächst Artikel 22 mit verändertem Text vor:
Article 22
Boundary regimes
A succession of States shall not as such affect:
(a) A boundary established by a treaty; or
(b) Obligations and rights established by a treaty and relating to the regime of a boundary.112
Das Drafting Committee hatte sich damit auf Grund der mehrheitlichen Meinung
der ILC für Waldocks zweite Alternative, die dingliche Lösung, entschieden. Die
Worte „as such“ sollten herausstellen, dass der Artikel sich lediglich auf die Regeln
der Staatennachfolge beziehe und andere Normen unberührt lasse.113 Sie sind damit
als Zugeständnis an Tabibi zu sehen. Artikel 22 (bis) wurde in Waldocks zweiter
Alternative vom Drafting Committee ähnlich verändert:
Article 22 (bis)
Other territorial regimes
1. A succession of States shall not as such affect:
(a) Obligations relating to the use of a particular territory, or to restrictions upon its use,
established by a treaty specifically for the benefit of a particular territory of a foreign
State and considered as attaching to the territories in question;
108
Vgl. ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1193, ILC-Yearbook (1972, I), S. 249, 261, Rn. 89.
109
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1195, ILC-Yearbook (1972, I), S. 261, 263, Rn. 12.
110
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1195, ILC-Yearbook (1972, I), S. 261, 263, Rn. 10.
111
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1195, ILC-Yearbook (1972, I), S. 261, 266, Rn. 48.
112
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1197, ILC-Yearbook (1972, I), S. 275, 275, Rn. 1.
113
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1197, ILC-Yearbook (1972, I), S. 275, 275, Rn. 3.
298 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
(b) Rights established by a treaty specifically for the benefit of a particular territory and
relating to the use, or to restrictions upon the use of a particular territory of a foreign
State and considered as attaching to the territories in question.
2. A succession of States shall not as such affect:
(a) Obligations relating to the use of a particular territory, or to restrictions upon its use,
established by a treaty specifically for the benefit of a group of States or of all States
and considered as attaching to that territory;
(b) Rights established by a treaty specifically for the benefit of a group of States or of all
States and relating to the use of a particular territory or to restrictions upon its use and
considered as attaching to that territory.114
Diese geänderten Artikel reflektierten die mehrheitliche Position in der ILC, aber
gerade auch der ILC-Mitglieder aus den neuen Staaten, unterstützt vom AALCC,115
aber mit Ausnahme Tabibis. Beide Artikel nahm die ILC ohne weitere Diskussion
an.116 Im Rahmen einer Neugliederung der Konventionsentwürfe wurde aus Artikel
22 und 22 (bis) Artikel 29 und 30, deren Kommentare die ILC ebenfalls annahm.117
Vallat beschränkte sich als neuer Berichterstatter für die Staatennachfolge in Ver-
träge insgesamt und auch mit Blick auf die Regelungen zu Territorialregimen
darauf, die Reaktionen der Staaten in der Generalversammlung auszuwerten.118
Wie schon im Zusammenhang mit der Ausnahme vom Prinzip rebus sic stantibus
im Recht der Verträge meldete auch hier Afghanistan erhebliche Bedenken insbe-
sondere in Bezug auf Artikel 29 an: Grenzregime gehörten für Afghanistan nicht
zum Recht der Staatennachfolge und sollten daher als hochexplosives Thema auch
nicht in diesem Bereich geregelt, sondern vielmehr durch bilaterale Übereinkünfte
der betroffenen Parteien festgelegt werden.119 Insbesondere hielt Afghanistans Ver-
treter die Aufrechterhaltung solcher Grenzen für unmöglich, welche auf rechts-
widrigen Verträgen basierten und deren Fortwirkung Spannungen und Instabilität
hervorriefen.120 Dabei spiegelte die Position der afghanischen Regierung Tabibis
Ausführungen in der ILC.121 Der Delegierte Sambias schloss sich an und betonte,
dass koloniale Grenzen aus strategischen und ökonomischen Gründen und ohne
114
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1197, ILC-Yearbook (1972, I), S. 275, 275, Rn. 4.
115
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1194, ILC-Yearbook (1972, I), S. 254, 256 ff., Rn. 21 ff.
116
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1197, ILC-Yearbook (1972, I), S. 275, 275 f., Rn. 3, 8.
117
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1199, ILC-Yearbook (1972, I), S. 284, 284, Rn. 2.
118
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 73, Rn. 417 ff.
119
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 73, Rn. 417.
120
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 73, Rn. 417.
121
Zwar sei die stillschweigende Übereinkunft über eine Nachfolge in die bestehenden
Grenzen durchaus möglich, sofern die der Grenze zugrundeliegenden Verträge rechtmä-
ßig wären; gegen den Willen des neuen Staates und im Widerspruch zum Prinzip rebus sic
IV. Vallats Artikel 29 und 30 und die permanente Souveränität über natürliche Ressourcen299
stantibus sei eine solche Nachfolge jedoch unangemessen. Es gehe im modernen Völker-
recht weniger um dingliche Rechte als solche, sondern um die Rechte des ein Territorium
bewohnenden Volkes. Die Position der Organisation für Afrikanische Einheit in dieser Frage
sowie die Anwendung der uti-possidetis-Doktrin in Lateinamerika seien spezielle Fälle,
deren Handhabung nicht auf alle Staaten weltweit übertragen werden könne. Zwar hätte
sich bei der Wiener Vertragsrechtskonferenz die Mehrheit der Staaten für die Ausnahme von
Grenzverträge von Artikel 62 WVK ausgesprochen; der Sonderberichterstatter Waldock hätte
jedoch ebenso klargestellt, dass hierdurch nicht Anwendungsfälle des Selbstbestimmungs-
rechts betroffen sein sollten. Siehe Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1–6, ILC-Yearbook
(1974, II, 1), S. 1, 73, Rn. 417 mit weiteren Nachweisen.
122
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 76, Rn. 417
mit entsprechendem Nachweis.
123
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 76, Rn. 417
mit entsprechendem Nachweis.
124
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 75 f., Rn. 417
mit entsprechendem Nachweis.
125
Siehe oben.
126
Auch hier versuchte die OAE nach dem offenen Ausbruch der Spannungen bei der Kon-
ferenz im Mai 1973 zu vermitteln und setzte eigens hierfür ein Komitee unter der Leitung
Nigerias ein, dessen Friedenspläne jedoch in den folgenden Jahren von den Konfliktparteien
abwechselnd abgelehnt wurden. In ihrem Rüstungswettlauf gegeneinander hatten sich beide
Konfliktparteien im Kalten Krieg auf militärische Allianzen eingelassen, wobei bis 1977
Somalia wirtschaftliche und militärische Unterstützung von der UdSSR erhielt und Äthio-
pien auf die Hilfe der USA baute. Während sich Somalia hier lange Zeit in der unterlege-
nen Position befunden hatte und auch innerhalb Afrikas außenpolitisch isoliert gewesen war
(Grenzen sollen bestehen bleiben!), betrieb Somalia nach der kurzen Entspannungsphase im
Grenzkonflikt mit Äthiopien mit Hilfe der Sowjetunion massive Aufrüstung und trat 1974
der Arabischen Liga bei, während eine innenpolitische Schwächung Äthiopiens das Kräfte-
gewicht weiter zu dessen Ungunsten veränderte. Bereits in dieser Zeit wurden jedoch die
Beziehungen beider Konfliktparteien zu ihren politischen Verbündeten brüchig und jede der
Großmächte bemühte sich um die abtrünnigen afrikanischen Staaten, die USA um Somalia
und die UdSSR um Äthiopien. Der Konflikt sollte später im Ogadenkrieg eskalieren, siehe
unten. Zum Ganzen siehe Matthies, Der Ogadenkrieg zwischen Somalia und Äthiopien von
1977/78: Ursachen, Folgen und Verlauf, 22 Africa Spectrum (1987), S. 237, 239 ff.
300 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
The Somali Democratic Republic does not recognize the legal validity of treaties concluded
between other parties against the interests and without the consent of its people. As far as
my country is concerned, we consider these treaties devoid of any legality since they were
stipulated between foreign colonial Powers without the supreme will, or even the know-
ledge, of our people. The treaties to which the report refers with regard to my country are
probably the 1897 Anglo-Ethiopian Treaty, the 1908 Italo-Ethiopian Treaty 1849 and the
1924 Anglo-Italian Treaty, none of which the Somali Democratic Republic recognizes for
the reasons I have just stated. […]
Furthermore, these treaties have, especially in Africa, caused tremendous problems to
many new nations. They have created fatal misunderstandings, and have even led to serious
conflicts among neighbouring States. The Somali Democratic Republic is ready, however,
to assume full obligations under present-day international law in conformity with the prin-
ciples of the Charter of the United Nations vis-a-vis treaties entered into freely by us with
any other party or parties. In fact, when the historic event of our revolution took place on
21 October 1969, the Supreme Revolutionary Council of my country announced in its first
declaration the basic guidelines of the general programme of the Revolutionary Govern-
ment, both in terms of internal and external policies. Article 6 of part II of that declaration
states that the Somali Democratic Republic recognizes and respects all legal international
commitments undertaken by the Somali people. […]
[T]he Somali Democratic Republic has chosen to resort to the policy of pacific settle-
ment of disputes between States as laid down in the Charter of the United Nations and in the
Charter of the Organization for African Unity to demonstrate its genuine desire for peace
in our region.127
127
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 77 f., Rn. 417
mit entsprechendem Nachweis.
128
Siehe zu dieser Position der Dritten Welt schon Teil I und Teil II.
129
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 78, Rn. 417
mit entsprechendem Nachweis.
130
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 75, Rn. 417
mit entsprechendem Nachweis.
IV. Vallats Artikel 29 und 30 und die permanente Souveränität über natürliche Ressourcen301
darstellen müsse;131 Nigeria positionierte sich damit, ähnlich wie Elias in der ILC,
als Vermittler zwischen den Lagern, ohne dabei die Interessen der Dritten Welt aus
dem Blick zu verlieren.
Eine neuartige Argumentation wurde seitens der rumänischen Delegation vor-
gebracht. Auch sie stellte sich gegen Artikel 29 und 30 und favorisierte demgegen-
über bilaterale Lösungen von Territorialkonflikten auf dem politischen Weg; dabei
insistierte sie jedoch, dass eine einvernehmliche Lösung zwischen den betroffenen
Konfliktparteien neben dem Selbstbestimmungsrecht auch die permanenten Souve-
ränität über natürliche Ressourcen (PSNR) wahren müsse.132
Die Idee der PSNR gewann im völkerrechtlichen Diskurs an Bedeutung, als die
Entwicklungsländer ab den frühen 1950er-Jahren den Kolonialvölkern die Ausbeu-
tung ihrer natürlichen Ressourcen zu sichern und die wirtschaftliche Souveränität der
neuen Staaten gegen die Ansprüche fremder Staaten und Unternehmen zu schützen
versuchten.133 Sie nutzten ihre Mehrheit in der Generalversammlung, um das Prinzip
durch Resolutionen zu entwickeln, so dass die PSNR an Popularität gewann, ihre
rechtliche Relevanz und auch ihr Inhalt, insbesondere die Frage des Rechtsträgers
der PSNR, aber kontrovers beurteilt wurden.134 Dabei entwickelte sich die PSNR im
Spannungsfeld zwischen klassischen Völkerrechtsprinzipien wie der Regel pacta
sunt servanda und modernen Prinzipien wie dem Selbstbestimmungsrecht.135
Die Debatte um die permanente Souveränität über natürliche Ressourcen verlief
anfangs unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten, nämlich der Selbstbestimmung
einerseits und der wirtschaftlichen Entwicklung andererseits.136 In beiden Bereichen
tauchte die Idee der permanenten Souveränität über natürliche Ressourcen etwa
zeitgleich auf:
131
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 75, Rn. 417
mit entsprechendem Nachweis.
132
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 75, Rn. 417
mit entsprechendem Nachweis.
133
Die Idee der permanenten Souveränität lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen; als
völkerrechtliches Prinzip entwickelte sie sich jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die
permanente Souveränität über natürliche Ressourcen wird zwar selbst nicht in der VN-Charta
genannt, wurzelte jedoch in verschiedenen Zielen und Normen der Vereinten Nationen, bei-
spielsweise der souveränen Gleichheit der Staaten, dem Interventionsverbot, der Selbstbe-
stimmung der Kolonialvölker und der ökonomischen Entwicklung der Entwicklungsländer
(Präambel, Artikel 1 Nr. 2, Artikel 2 Nr. 1, Artikel 55, Artikel 73 und Artikel 76 b) VN-Charta).
Tiewul, The Evolution of the Doctrine of Permanent Sovereignty over Natural Ressources,
15 Ghana Law Journal (1978-1981), S. 55, 56 ff.; Schrijver, Permanente Sovereignty over
Natural Ressources, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2008), Rn. 1.
134
Eine wichtige Rolle spielten daneben der Wirtschafts- und Sozialrat und UNCTAD. Schrij-
ver, Permanente Sovereignty over Natural Ressources, Max Planck Encyclopedia of Public
International Law (2008), Rn. 5; Schrijver, Sovereignty over Natural Ressources: Balancing
Rights and Duties (1997), S. 3.
135
Schrijver, Permanente Sovereignty over Natural Ressources, Max Planck Encyclopedia of
Public International Law (2008), Rn. 1.
136
García-Amador, The Emerging International Law of Development: A New Dimension of
International Economic Law (1990), S. 132.
302 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
137
Siehe hierzu ausführlich García-Amador, The Emerging International Law of Develop-
ment: A New Dimension of International Economic Law (1990), S. 132 ff.; Tiewul, The
Evolution of the Doctrine of Permanent Sovereignty over Natural Ressources, 15 Ghana Law
Journal (1978-1981), S. 55, 63 ff. Zu Entstehung und Inhalt des Selbstbestimmungsrechts
selbst siehe oben, Kapitel 6.
138
Es gelang den kapitalimportierenden Staaten mit Chile in der Vorreiterrolle, das Schlagwort
der permanenten Souveränität über natürliche Ressourcen während der Arbeiten der Menschen-
rechtskommission, des Wirtschafts- und Sozialrates und der Generalversammlung an Entwür-
fen für die beiden UN-Menschenrechtspakte im Menschenrechtsdiskurs zu etablieren. Ein-
fallstor hierfür war die Diskussion um die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts der Völker
in den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und in den Internationalen
Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Hier fand die permanente Souveränität
über natürliche Reichtümer und Ressourcen unter dem Schlagwort der „wirtschaftlichen Selbst-
bestimmung“ Einzug in das Vokabular der Menschenrechtskommission. Die USA, welche
ohnehin keinem Menschenrechtspakt beitreten wollten, sowie Großbritannien und die Nieder-
lande wollten die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts in den IPbpR und den IPwskR ver-
hindern, weil sie befürchteten, dass auf diesem Wege entschädigungslose Enteignungen von
privaten Investoren gerechtfertigt werden könnten. Kritiker hielten den unklaren Begriff der
permanenten Souveränität über natürliche Ressourcen für gefährlich und befürchteten, dass
unter Inanspruchnahme dieses Konzepts Verträge missachtet und Fremde ohne Entschädigung
enteignet werden könnten. Asiatische, afrikanische und arabische Staaten unterstützten die Auf-
nahme hingegen, da die wirtschaftliche Selbstbestimmung Bedingung ihrer politischen Selbst-
bestimmung sei. Wirtschaftliche Entwicklung einerseits und Investitionsschutz andererseits
spielten also auch im menschenrechtlichen Diskurs eine erhebliche Rolle. Auch der Begriff der
„Völker“ war heftig umstritten und sollte etwa nach der Ansicht des Vereinigten Königreichs
nur Staaten, nach Meinung von El Salvador jedoch auch Stämme und einzelne Bevölkerungs-
gruppen umschreiben. Siehe zum Ganzen Hyde, Permanent Sovereignty Over Natural Wealth
and Resources, 50 American Journal of International Law (1956), S. 854, 855 ff.; Visser, The
Prinicple of Permanent Sovereignty over Natural Ressource and the Nationalisation of Foreign
Interests, 21 Comparative and International Law Journal of South Africa (1988), S. 76, 76; Gar-
cía-Amador, The Proposed New International Economic Order: A New Approach to the Law
Governing Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of The Americas (1980), S. 1, 21.
Als Kompromiss sollte der erste Artikel beider VN-Menschenrechtspakte schließlich fol-
gendermaßen lauten:
„1. All peoples have the right of self-determination. By virtue of that right they freely determine
their political status and freely pursue their economic, social and cultural development.
2. All peoples may, for their own ends, freely dispose of their natural wealth and resources
without prejudice to any obligations arising out of international economic co-operation,
based upon the principle of mutual benefit, and international law. In no case may a people
be deprived of its own means of subsistence.”
IV. Vallats Artikel 29 und 30 und die permanente Souveränität über natürliche Ressourcen303
1. The right of peoples and nations to permanent sovereignty over their natural wealth
and resources must be exercised in the interest of their national development and of the
wellbeing of the people of the State concerned.
2. The exploration, development and disposition of such resources, as well as the import
of the foreign capital required for these purposes, should be in conformity with the rules
and conditions which the peoples and nations freely consider to be necessary or desira-
ble with regard to the authorization, restriction or prohibition of such activities.
3. In cases where authorization is granted, the capital imported and the earnings on that
capital shall be governed by the terms thereof, by the national legislation in force, and
by international law. The profits derived must be shared in the proportions freely agreed
139
GA, UN Doc A/Res/626 (VII) (21. Dezember 1952). Die Generalversammlungsresolutio-
nen zur permanenten Souveränität über natürliche Ressourcen aus den 1950er-Jahren knüpf-
ten an die Völker als Rechtsträger an, da diese als Korrelat der politischen und rechtlichen
Forderung nach Dekolonialisierung und Selbstbestimmung gesehen wurden. Für die Völker-
rechtler aus der Dritten Welt war die permanente Souveränität über natürliche Ressourcen ein
Ausdruck der ökonomischen Selbstbestimmung. Visser, The Prinicple of Permanent Sover-
eignty over Natural Ressource and the Nationalisation of Foreign Interests, 21 Comparative
and International Law Journal of South Africa (1988), S. 76, 77; García-Amador, The Propo-
sed New International Economic Order: A New Approach to the Law Governing Nationali-
zation and Compensation, 12 Lawyer of The Americas (1980), S. 1, 21.
140
García-Amador, The Emerging International Law of Development: A New Dimension
of International Economic Law (1990), S. 132; Hyde, Permanent Sovereignty Over Natural
Wealth and Resources, 50 American Journal of International Law (1956), S. 854, 855.
141
Visser, The Priniciple of Permanent Sovereignty over Natural Ressource and the Nationa-
lisation of Foreign Interests, 21 Comparative and International Law Journal of South Africa
(1988), S. 76, 76. Laut Hyde fand umgekehrt eine diskursive Verschiebung vom wirtschafts-
rechtlichen zum menschenrechtlichen Kontext statt, auf Grund derer die permanente Sou-
veränität über natürliche Reichtümer und Ressourcen kaum noch im Zusammenhang mit
privaten Investitionen in Entwicklungsländern, sondern unter (de-)kolonialistischen Frage-
stellungen erörtert wurde. Hyde, Permanent Sovereignty Over Natural Wealth and Resources,
50 American Journal of International Law (1956), S. 854, 855.
304 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
upon, in each case, between the investors and the recipient State, due care being taken
to ensure that there is no impairment, for any reason, of that State’s sovereignty over its
natural wealth and resources. […]
7. Violation of the rights of peoples and nations to sovereignty over their natural wealth and
resources is contrary to the spirit and principles of the Charter of the United Nations and
hinders the development of international cooperation and the maintenance of peace.142
Nach Resolution 1803 (XVII) waren nun nicht mehr nur Völker, sondern auch
Länder Rechtsträger der PSNR. Dabei enthielt die Resolution konkrete investi-
tionsschutzrechtliche Standards.143 Diese Resolution war die erste in einer ganzen
Reihe von Resolutionen zur permanenten Souveränität über natürliche Ressour-
cen.144 Das Prinzip der PSNR war dabei für sich genommen bei Weitem nicht so
umstritten wie die sich aus ihm in Bezug auf das internationale Wirtschaftsrecht
abzuleitenden Modalitäten.145 Tatsächlich hatte Resolution 1803 (XVII) letztlich die
142
GA, UN Doc A/Res/1803 (XVII) (14. Dezember 1962). Anlässlich der Vertragsentwürfe
der Menschenrechtskommission zu den späteren VN-Menschenrechtspakten, welche das
Selbstbestimmungsrecht der Völker und Staaten inklusive der PSNR anerkannte, hatte die
Generalversammlung bereits im Jahr 1958 eine Kommission errichtet, um Reichweite und
Charakter der permanenten Souveränität zu untersuchen. Siehe GA, UN Doc A/Res/1314
(XIII) (12. Dezember 1958), Rn. 1. Die Generalversammlung verabschiedete auf Grundlage
der Arbeit der Kommission Resolution 1803 (XVII).
143
Insbesondere GA, UN Doc A/Res/1803 (XVII) (14. Dezember 1962), Rn. 4. Siehe hierzu
unten, Kapitel 10.
144
Die Entstehungsgeschichte von Resolution 1803 (XVII) illustriert die Verschiebung der
Debatte um die permanente Souveränität über natürliche Ressourcen vom menschenrechtli-
chen in den investitionsrechtlichen Kontext. Dabei stellte die Resolution einen hart erkämpf-
ten Kompromiss zwischen Entwicklungsländern und Industrienationen dar:
„The debate […] was basically over the issue of whether a nation’s sovereign right over its
natural ressources was of the nature of a qualified right, limited by the obligations and respon-
sibilities of States arising out of international law or whether that right was an absolute one.”
Banerjee, The Concept of Permanent Sovereignty over Natural Ressources: An Analysis, 8
Indian Journal of International Law (1968), S. 515, 526 f. Siehe zum Ganzen García-Amador,
The Proposed New International Economic Order: A New Approach to the Law Governing
Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of The Americas (1980), S. 1, 21 ff.
145
So meinte etwa der Amerikaner und spätere IGH-Richter Stephen Myron Schwebel anläss-
lich der Verabschiedung von Resolution 1803(XVII):
„It was widely recognized that the importance of the resolution would lie not so much in its
abstract assertions of sovereignty as in the concrete conditions laid down for the exercise of
that sovereignty. Had the resolution simply consisted of recitals of sovereign rights, without
due regard to sovereign obligations, the United States presumably would have opposed it as
it did an earlier resolution on the subject.” Schwebel, The Story of the U.N.’s Declaration
on Permanent Sovereignty over Natural Ressources, 49 American Bar Association Journal
(1963), S. 463, 464. Siehe auch Visser, The Prinicple of Permanent Sovereignty over Natural
Ressource and the Nationalisation of Foreign Interests, 21 Comparative and International Law
Journal of South Africa (1988), S. 76, 76 f.; Tiewul, The Evolution of the Doctrine of Perma-
nent Sovereignty over Natural Ressources, 15 Ghana Law Journal (1978-1981), S. 55, 82 f.
IV. Vallats Artikel 29 und 30 und die permanente Souveränität über natürliche Ressourcen305
Unterstützung der Mehrheit aller Staaten aus allen Staatengruppen erhalten, so dass
das Prinzip der PSNR in dem in dieser Resolution dargestellten Umfang ab dem
Jahr 1962 als anerkannt gilt.146 Sie wurde in den Folgejahren immer wieder durch
neuerliche Generalversammlungsresolutionen bestätigt.147 Ausgehend von der
UNCTAD wandelte sich die Position der neuen Staaten jedoch dahingehend, dass
es zu den souveränen Rechten eines Landes gehöre, zu Gunsten der nationalen Ent-
wicklung frei über seine natürlichen Ressourcen zu verfügen, wobei sie an dieses
Recht progressive Folgen für den Investitionsschutz knüpfte.148 In diesem Geiste
erkannten im Jahr 1974 auch die Erklärung über die Errichtung einer neuen interna-
tionalen Wirtschaftsordnung (Declaration on the Establishment of a New Interna-
tional Economic Order, NIEO-Erklärung) und die Charta über die wirtschaftlichen
Rechte und Pflichten der Staaten (Charter of Economic Rights and Duties of States,
NIEO-Charta) die PSNR von nunmehr Staaten über ihre natürlichen Ressourcen
an.149 Dabei lag diesen Resolutionen ein absolutes Verständnis der wirtschaftli-
chen Souveränität des Staates insbesondere im Bereich des Investitionsschutzes
zu Grunde,150 das Seitens des Westens auf heftige Gegenwehr traf.151 Aus Sicht
der Völkerrechtler in den neuen Staaten aber war die PSNR spätestens durch ihre
Inkorporation in die Instrumente zur Verwirklichung einer Neuen Weltwirtschafts-
ordnung fester Bestandteil des „Rechts auf Entwicklung“ geworden.152 Dabei hatte
146
Vgl. Visser, The Prinicple of Permanent Sovereignty over Natural Ressource and the
Nationalisation of Foreign Interests, 21 Comparative and International Law Journal of South
Africa (1988), S. 76, 77 f. Dies beruht auf ihrem eher konservativen Inhalt der Resolution in
Bezug auf investitionsschutzrechtliche Fragestellungen, siehe unten, Kapitel 10.
147
GA, UN Doc A/Res/2158 (XXI) (25. November 1966); GA, UN Doc A/Res/2386 (XXIII)
(19. November 1968).
148
Siehe näher zur Position der UNCTAD Gelinsky, Der Schutz des Eigentums gemäss Art. 1
des Ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Mneschenrechtskonvention: Eine Analyse der
Rechtsprechung der Straßburger Organe (1996), S. 157.
149
GA, UN Doc A/Res/3201 (S-VI) (1. Mai 1974), Prinzip 5; GA, UN Doc A/Res/29/3281
(12. Dezember 1974). Dabei wurde die permanente Souveränität außerdem auf Wohlstand
und ökonomische Aktivität ausgedehnt:
„Every State has and shall freely exercise full permanent sovereignty, including posses-
sion, use and disposal, over all its wealth, natural resources and economic activities.” GA,
UN Doc A/Res/29/3281 (12. Dezember 1974), Artikel 2 Absatz 1.
150
Visser, The Prinicple of Permanent Sovereignty over Natural Ressource and the Nationa-
lisation of Foreign Interests, 21 Comparative and International Law Journal of South Africa
(1988), S. 76, 79.
151
Siehe hierzu Kapitel 10.
152
Siehe García-Amador, The Emerging International Law of Development: A New Dimen-
sion of International Economic Law (1990), S. 124. Siehe zum Recht auf Entwicklung auch
Neß, Das Menschenrecht auf Entwicklung: Sozialpolitisches Korrektiv der neoliberalen Glo-
balisierung (2004), S. 24 ff.; von Bernstorff, Das Recht auf Entwicklung, in Dann/Kadel-
bach/Kaltenborn (Hrsg.), Entwicklung und Recht: Eine systematische Einführung (2014),
S. 71, 71 ff. Zum Entwicklungsbegriff siehe oben, Teil I.
306 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
In der Entwicklung des Prinzips der PSNR kulminierte damit auf gewisse Weise
die Taktik der Völkerrechtler in den neuen Staaten, mit Grundprinzipien des Völker-
rechts im Interesse ihrer Heimatstaaten zu argumentieren. Die Völkerrechtler in der
Dritten Welt waren damit starke Verfechter der PSNR, dem ersten Grundprinzip des
Völkerrechts, dessen Entstehung sie selbst maßgeblich mitzuverantworten hatten
und dessen Inhalt sie so zu gestalten versuchten, dass er ihrem Globalsolidarischen
Projekt dienen würde.157 Das macht sie aus Pahujas Sicht wiederum angreifbar:
[T]he claim to PSNR was understood by the Third World as a political claim. This led
to the claim being cast in terms of sovereignty, an avenue available to the nascent Third
World precisely because of the universal promise of international law – in this instance, the
promise of equal recognition to particular sovereignty. This promise gives to international
law the paradoxical quality of a meeting place that is both structured by law and potentially
devoid of it.158
153
García-Amador, The Emerging International Law of Development: A New Dimension of
International Economic Law (1990), S. 123.
154
Bedjaoui, Problemès Récents de Succession d’Etats dans les Etats Nouveaux, 130 Recueil
des Cours (1970, II), S. 457, 496.
155
Bedjaoui, Problemès Récents de Succession d’Etats dans les Etats Nouveaux, 130 Recueil
des Cours (1970, II), S. 457, 496.
156
Abi-Saab, Permanent Sovereignty over Natural Ressources and Economic Activities, in
Bedjaoui (Hrsg.), International Law: Achievements and Prospects (1991), S. 597, 599.
157
Zum Globalsolidarischen Projekt siehe Teil I.
158
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 102.
159
Siehe Kapitel 10.
160
Schrijver, Sovereignty over Natural Ressources: Balancing Rights and Duties (1997),
S. 23; Hyde, Permanent Sovereignty Over Natural Wealth and Resources, 50 American
Journal of International Law (1956), S. 854, 855.
IV. Vallats Artikel 29 und 30 und die permanente Souveränität über natürliche Ressourcen307
Vallat zog aus einer Analyse der Staatenstimmen den Schluss, dass Artikel 29 und
zu einem geringeren Anteil auch Artikel 30 von den meisten Staaten unterstützt
wurden und sich nur wenig Widerstand regte.167 Er meinte:
A successor State which, for example, emerges to independence by seceding from another
State cannot by that act automatically enlarge its boundaries and acquire territory at the
expense of a third State.168
Entsprechend bestand für Vallat ein praktisches Bedürfnis nach einer Ausnahme vom
clean-slate-Prinzip für Territorialregime.169 Vallat sah in der einseitigen Loslösung
161
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 73, Rn. 417.
162
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 73 ff., Rn. 417.
163
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 77, Rn. 417
mit entsprechenden Nachweisen.
164
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 74, Rn. 417
mit entsprechenden Nachweisen.
165
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 74, Rn. 417
mit entsprechenden Nachweisen.
166
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 76, Rn. 417
mit entsprechenden Nachweisen.
167
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 82, Rn. 425.
168
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 83, Rn. 431.
169
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 83, Rn. 435.
308 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
Auf den rumänischen Einwand zur PSNR reagierte Vallat hingegen nicht.
Insgesamt wollte Vallat Artikel 29 und 30 beibehalten und veränderte diese
auch nicht; er legte jedoch, wie schon Waldock vor ihm, Wert auf die Feststellung,
dass die Wirkung des Selbstbestimmungsrechts durch diese Regelungen unberührt
bleiben sollte.173 Außerdem stellte Vallat wie zuvor schon Waldock nochmals klar,
dass Artikel 29 und 30 unabhängig von den das jeweilige Territorialregime errich-
tenden Verträgen gelten sollten und umgekehrt auch nicht einer Anfechtung dieser
Verträge im Wege stünden.174 Die Kritik an den Artikeln beruhte für Vallat auf der
falschen Vorstellung vieler Staaten von dem Ziel dieser Regelungen, die seiner
Ansicht nach lediglich als salvatorische Klauseln fungieren sollten und Fragen des
Rechts der Verträge außen vor ließen.175 Diese Diagnose bezog sich klar auch auf
die Position der afghanischen Regierung und konkret von Tabibi, der sich jedoch
auch von Vallat nicht beschwichtigen ließ.
Tabibi beharrte unbeirrt auf seiner bisherigen Position zu Artikel 29 und 30.
Zunächst zog Tabibi eine Reihe von westlichen Völkerrechtswissenschaftlern heran,
um zu untermauern, dass persönliche Verträge mit Bezug auf ein Territorium von
170
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 83, Rn. 435.
171
Siehe bereits Teil I und Teil II.
172
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 84, Rn. 437.
173
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 84, Rn. 440,
S. 87, Rn. 462.
174
Vallat, UN Doc A/CN.4/278 and Add. 1-6, ILC-Yearbook (1974, II, 1), S. 1, 83, Rn. 436.
175
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1286, ILC-Yearbook (1974, I), S. 199, 204, Rn. 51 f.
V. Vallats Artikel 29 und 30 in der ILC309
Statusverträgen zu trennen seien, dass die Übernahme der Erstgenannten durch neue
Staaten keine Frage der Staatennachfolge, sondern der politischen Zweckmäßigkeit
sei und dass jedenfalls die Staatengleichheit und das Selbstbestimmungsrecht in
solche Erwägungen mit einbezogen werden müssten.176 Noch im selben Atemzug
holte Tabibi zum Schlag gegen den Westen aus:
The present draft of the two articles was politically oriented and, for that reason, had attrac-
ted the political support of a number of nations, including the big Powers. In fact, it was
undeniable that those articles, like article 62 of the Vienna Convention on the Law of Trea-
ties, did no more than reflect the practice of the United Kingdom as a boundary-maker in
the eighteenth and nineteenth centuries.177
176
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1287, ILC-Yearbook (1974, I), S. 205, 206, Rn. 11 f. Tabibi
zitierte unter anderem Castren, Aspects Recents de la Succession d'Etats, 78 Recueil des
Cours (1951, I), S. 379, 436 ff.; Marcoff, Accession à l’Indépendance et Succession d'Etats
aux Traités Internationaux (1969), S. 205 ff.
177
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1287, ILC-Yearbook (1974, I), S. 205, 206 f., Rn. 13.
178
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1287, ILC-Yearbook (1974, I), S. 205, 207 f., Rn. 14 ff.
179
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1287, ILC-Yearbook (1974, I), S. 205, 208, Rn. 25.
180
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1287, ILC-Yearbook (1974, I), S. 205, 207, Rn. 15. Tabibi
bezog sich dabei auf folgende Stelle bei O’Connell: „Critics of the dispositive category have
correctly pointed out that the advocates of servitudes established their case by calling all
transmissible territorial treaties 'servitude', while the writers on State succession purportedly
delimited the category of transmissible territorial treaties by classifying them as servitudes,
so that a petitio principii was involved in the argument.” O'Connell, Independence and Suc-
cession to Treaties, 38 British Yearbook of International Law (1962), S. 84, 150.
310 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
the eighteenth and nineteenth centuries. Those settlements had taken no account of ethnic,
linguistic or cultural affinities and should not be preserved in defiance of the principle of
self-determination.181
Waldocks Hauptargument für Artikel 29, nämlich die Ausnahme für Grenzverträge
vom Prinzip rebus sic stantibus im Recht der Verträge, begegnet Tabibi mit dem
Verweis, dass sich die globalpolitische Landschaft seit der zweiten Wiener Vertrags-
rechtskonferenz stark verändert habe.182 Er ergänzte:
Moreover, article 62, paragraph 2 of the Vienna Convention was qualified by other articles
of that Convention, such as article 46 on competence to conclude treaties, article 47 on
restrictions on authority to express consent, article 48 on error, article 51 on coercion and,
above all, article 53 on jus cogens. Thus article 62 of the Vienna Convention could not serve
to legalize unequal treaties. In that connexion, the expert consultant at the Vienna Confe-
rence had given assurances that the establishment of a boundary by a treaty left untouched
any legal grounds that might exist for challenging that boundary, such as the principle of
self-determination or invalidity of the treaty. It was subject to those assurances that the
exception embodied in paragraph 2 (a) of article 62 had been adopted.183
Diese Aussage Tabibis steht im vollen Einklang mit der Position, die er bereits im
Rahmen der Verhandlungen der WVK bezogen hatte.184 Sie ist trotzdem insofern
bemerkenswert, als dass Waldock die gleichen Versicherungen wie bei Artikel 62
Absatz 2 WVK auch mit Blick auf die Sonderregelungen zu Territorialregimen in
seinen Entwürfen zum Recht der Staatennachfolge in Verträge abgegeben hatte und
er selbst und auch sein Nachfolger Vallat diese immer wieder bekräftigt hatten. Dies
schien Tabibi im Kontext des Rechts der Staatennachfolge anders als im Recht der
Verträge nicht zu genügen. Dies lässt sich jedoch schlicht damit erklären, das Tabibi
seine ursprünglich Position zu Artikel 62 Absatz 2 WVK – nämlich dessen Strei-
chung – nicht hatte durchsetzen können und ihm lediglich die Möglichkeit geblie-
ben war, die Regelung entsprechend seiner obigen Ausführungen auszulegen; Wald-
ocks Versicherungen hatten ihm auch im Recht der Verträge keinesfalls genügt.185
In Bezug auf die ihm nun vorliegenden Artikel 29 und 30 war der Kampf für Tabibi
jedoch noch nicht verloren und er erhoffte sich, eine für die neuen Staaten günstigere
Lösung durchzusetzen, als ihm dies mit Blick auf die Ausnahme für Grenzverträge
vom Prinzip rebus sic stantibus im Recht der Verträge gelungen war. Tabibi forderte
daher auf Grund der politischen Implikationen und der den Weltfrieden gefährden-
den Wirkung von Streitigkeiten über Territorialregime weiterhin, dass diese im Wege
friedlicher Verhandlungen und nicht mittels einer Konvention zur Staatennachfolge in
Verträge festgelegt werden sollten.186 Das Prinzip der PSNR nahm er jedoch nicht auf.
181
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1287, ILC-Yearbook (1974, I), S. 205, 206 f., Rn. 17.
182
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1287, ILC-Yearbook (1974, I), S. 205, 207, Rn. 18.
183
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1287, ILC-Yearbook (1974, I), S. 205, 207, Rn. 18.
184
Siehe oben, Kapitel 4.
185
Siehe oben, Kapitel 4.
186
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1287, ILC-Yearbook (1974, I), S. 205, 208, Rn. 26.
V. Vallats Artikel 29 und 30 in der ILC311
Tabibi war mit seiner Position in der ILC weitgehend isoliert. Lediglich Thiam
gab zu bedenken, dass insbesondere Artikel 29 wenig praktische Bedeutung haben
würde und teilte Tabibis Ansicht, dass dieser Artikel gestrichen werden sollte und
Grenzstreitigkeiten statt dessen im Wege der friedlichen Streitbeilegung beigelegt
werden sollten.187
Die meisten anderen Mitglieder der ILC äußerten zwar Verbesserungsvorschläge
in Bezug auf den Wortlaut von Artikel 29 und 30, billigten deren Inhalt und die von
Waldock und Vallat unterbreitete Auslegung aber im Wesentlichen.188 So machte
Ushakov Ziel und Reichweite der Normen folgendermaßen deutlich:
There was too often a tendency to visualize the emergence of a newly independent State
in the abstract, as if it had no boundaries. If that were so, not only would the newly inde-
pendent State not be obliged to recognize the boundaries previously established by treaty,
but adjacent States would be free not to recognize them and to encroach on its territory. In
reality, it was not by the birth of a State that boundaries could be altered, but by other means
recognized by international law.189
Der Norweger Edvard Hambro fügte ergänzend und auf Tabibis Berufung auf das
Selbstbestimmungsrecht antwortend hinzu:
Some speakers had suggested that article 29 might conflict with the principle of self-de-
termination, but he could not share that view. The principle of self-determination could
not and should not be invoked for the purpose of destroying all stability in international
relations.190
Bedjaoui beschäftigte sich – wie schon einige ILC-Mitglieder vor ihm –191 mit der
Frage, ob Artikel 29 und 30 überhaupt zum Recht der Staatennachfolge gehörten.192
Nachdem sich das Drafting Committee für die jeweils zweite Alternative von Wald-
ocks entsprechenden Artikelentwürfen in seinem fünften Bericht entschieden hatte,
187
Thiam sah diese Position von der Staatenpraxis getragen:
„In the case of Africa, for example, it was a fact that the Charter of the Organization of
African Unity had laid down a number of principles, one of which was that established fron-
tiers were no longer open to question. But it was also a fact that since that principle had been
laid down, the countries of Africa had been faced with problems relating to territorial claims
every year, and not once had they seen fit, on the basis of the principles established by the
OAU Charter, to refer such a claim to the Organization's Commission of Mediation, Concilia-
tion and Arbitration. The only dispute referred to a Commission—that between Algeria and
Morocco—had not been referred to the Commission of Mediation, Conciliation and Arbit-
ration provided for in the OAU Charter, but to an ad hoc commission whose role had never
been precisely defined, and the dispute had finally been settled by direct negotiation.” ILC,
UN Doc A/CN.4/SR.1287, ILC-Yearbook (1974, I), S. 205, 209, Rn. 37, 39.
188
Zum Beispiel ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1287, ILC-Yearbook (1974, I), S. 205, 205 ff.,
Rn. 1 ff.
189
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1287, ILC-Yearbook (1974, I), S. 205, 210, Rn. 49.
190
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1288, ILC-Yearbook (1974, I), S. 211, 213, Rn. 25.
191
Siehe oben.
192
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1288, ILC-Yearbook (1974, I), S. 211, 214, Rn. 31 ff.
312 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
war Bedjaoui der Ansicht, dass die Normen eigentlich zu seinem Tätigkeitsgebiet –
der Staatennachfolge in andere Bereiche als Verträge – gehöre.193 Bedjaoui plädierte
daher dafür, den Text der jeweils ersten Alternative der fraglichen Artikelentwürfe
von Waldocks fünftem Bericht zugrunde zu legen oder aber die Regelungen in
Artikel 29 und 30 in seinen Zuständigkeitsbereich zu übertragen.194 Des Weiteren
bekräftigte Bedjaoui erneut die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts, das die
Nichtigkeit Ungleicher Verträge bewirke, welche wiederum von den in Rede ste-
henden Artikeln unberührt bliebe.195 Praktisch alle Mitglieder der ILC hielten es für
geboten, ähnliche Stellungnahmen abzugeben.196 Es scheint, dass Tabibis immer
wieder geäußerte Bedenken gegen diese Artikel ihre Wirkung nicht gänzlich ver-
fehlten und zumindest vereinzelt Zweifel gesät haben. Hierdurch und durch Elias’
beeindruckendes diplomatisches Geschick ist auch der folgende Vermittlungsvor-
schlag zu erklären, den Elias der ILC schließlich unterbreitete:
There seemed to be general agreement that rules stated in articles 29 and 30 should not be
interpreted as in any way discouraging negotiations or arbitration for the peaceful settle-
ment of disputes. The possibility of such a misinterpretation might be avoided by prefacing
the articles with some such opening phrase as ‘Without prejudice to the rights of either
party to invoke the validity of the treaty..’.197
Elias’ Vorschlag beinhaltete damit keine Änderung des materiellen Inhalts der
Artikel; indem er die maßgeblichen Aussagen aus dem Kommentar jedoch unmit-
telbar in den Text der Artikel einfließen ließ, ging er zumindest symbolisch einen
wichtigen Schritt auf Tabibi zu. Elias zeigte sich hier einmal mehr als kluger Ver-
mittler zwischen den Lagern, der lösungsorientiert und pragmatisch den Interessen
der neuen Staaten zu dienen versuchte. Der US-Amerikaner Richard D. Kearney
entwickelte Elias Vorschlag weiter:
193
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1288, ILC-Yearbook (1974, I), S. 211, 214, Rn. 31: „In the
case of articles 29 and 30, however, a subtle distinction had been drawn between the treaty
itself, which would be ''consummated" and, having produced all its effects, become merely an
evidential instrument serving as a title of validity, and the territorial or boundary regime esta-
blished by the treaty and valid erga omnes. That represented a shift from succession of States
in respect of treaties towards succession of States in respect of matters other than treaties,
so that articles 29 and 30 should not normally be included in the draft under consideration.”
194
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1288, ILC-Yearbook (1974, I), S. 211, 214, Rn. 33.
195
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1288, ILC-Yearbook (1974, I), S. 211, 214, Rn. 33: „Regimes
imposed by force or in circumstances of inequality, and regimes incompatible with jus
cogens, were void. Nothing in the text of the articles or in the commentary should leave any
doubt that the right of self-determination was to be respected. The process of succession of
States could not, in itself, either consolidate or validate situations that were contrary to the
principles of contemporary international law. Thus territorial regimes of a political nature,
such as those of military bases, could not be guaranteed continuity. The same was true of
agreements concluded by a colonial Power at the expense of a territory it had administered.”
196
Siehe beispielsweise ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1288, ILC-Yearbook (1974, I), S. 211, 215,
Rn. 45.
197
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1288, ILC-Yearbook (1974, I), S. 211, 215, Rn. 44.
V. Vallats Artikel 29 und 30 in der ILC313
One possibility would be to introduce a separate article which would apply that principle
to articles 29 and 30. The new article, which would become either the first or the last in
part V, might be worded on the following lines: “Nothing in article 29 or in article 30 shall
be considered as prejudicing in any respect a question relating to the validity of a treaty.”
Although that point had already been made quite clear in the commentary, it would be psy-
chologically more effective if it was included in the text of the draft.198
Die Idee von Elias und Kearney fand sofort zahlreiche Anhänger.199 Sicherlich nicht
ohne Spannung wurde Tabibis Reaktion auf diesen Vorschlag erwartet. Bevor er
seine Haltung zu den Änderungsvorschlägen kundtat, resümierte er seine bisherige
Argumentation: die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts und des dieses Recht
jeweils ausübenden Volkes sowie die Illegalität Ungleicher Verträge; deren terri-
toriale Rechtsfolgen nicht aufrechterhalten werden dürften.200 Endlich schloss er:
[I]f the Commission decided to retain articles 29 and 30 in any form, it should also adopt
a saving clause, in the form either of a separate article or of provisos in the two articles.
The purpose of the saving clause would be to safeguard the right to challenge a boundary
or territorial treaty.201
Tabibi favorisierte zwar nach wie vor die Löschung von Artikel 29 und 30, war aber
offenbar bereit, die Artikel bei einer entsprechenden Ergänzung mitzutragen. Vallat
kam nicht umhin, Tabibi, „who had defended with great skill a view which had not
been accepted by the majority“, hierzu – sicher nicht ohne Ironie – zu gratulieren.202
Vallat mahnte die ILC, gerade bei Regelungen mit politischen Implikationen wie
Artikel 29 und 30 nach außen Einigkeit zu präsentieren.203 Vallat stellte fest, dass
Artikel 30 sowohl in der ILC als auch in der Generalversammlung weniger kont-
rovers war als der politisch brisantere Artikel 29, obwohl der erstgenannte größere
Schwierigkeiten bei seiner Formulierung verursacht hatte;204 eine Situation, die sich
bei den Wiener Konferenzen noch umdrehen sollte.205 Unter Hinweis auf die dis-
kutierten Änderungsvorschläge wurden beide Artikel an das Drafting Committee
verwiesen.206 Dieses nahm nur minimale Änderungen an Artikel 29 und 30 vor,
ergänzte sie jedoch durch einen neuen Artikel 30 bis:207
198
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1288, ILC-Yearbook (1974, I), S. 211, 217 f., Rn. 65.
199
Z. B. Alfred Ramangasoavina aus Madagaskar ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1288, ILC-Year-
book (1974, I), S. 211, 216, Rn. 51; El-Erian und Yasseen, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1289,
ILC-Yearbook (1974, I), S. 218, 218, Rn. 5, S. 219, Rn. 8.
200
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1289, ILC-Yearbook (1974, I), S. 218, 221 f., Rn. 26 ff.
201
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1289, ILC-Yearbook (1974, I), S. 218, 222, Rn. 32.
202
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1289, ILC-Yearbook (1974, I), S. 218, 222, Rn. 37.
203
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1289, ILC-Yearbook (1974, I), S. 218, 222, Rn. 43.
204
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1289, ILC-Yearbook (1974, I), S. 218, 223, Rn. 46.
205
Siehe unten.
206
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1289, ILC-Yearbook (1974, I), S. 218, 223, Rn. 49.
207
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1296, ILC-Yearbook (1974, I), S. 257, 260, Rn. 30.
314 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
Article 30 bis
Questions relating to the validity of a treaty
Nothing in the present articles shall be considered as prejudicing in any respect a question
relating to the validity of a treaty.208
Dabei war die Arbeit des Drafting Committee bis zum Ende spannend geblieben,
wie der Vorsitzende Hambro berichtete:
Several members had suggested the addition of a new article stating that nothing in article
29 or 30 should be considered as prejudicing in any respect a question relating to the validity
of a treaty. Others had objected to the wording of the proposed new article, which, in their
view, would imply that any article other than 29 or 30 could prejudice questions relating to
the validity of treaties. Finally, thanks to the goodwill of all concerned, a compromise had
been reached in the Drafting Committee, whereby the additional article would contain no
reference to any specific provision of the draft and would be worded in general terms.209
Die ILC nahm Artikel 29, 30 und 30 bis an und beschloss, sie als allgemeine Rege-
lungen in den ersten Teil des Entwurfes einzugliedern, wodurch sie zu Artikel 11,
12 und 13 des Vertragsentwurfes werden sollten.210 Auch die Kommentare zu den
Artikeln wurden angenommen.211
Vom 4. April bis zum 6. Mai 1977 fand in Wien die erste Konferenz zur Staatennach-
folge in Verträge (United Nations Conference on Succession of States in Respect of
Treaties) statt. Der Belgier Eric Suy eröffnete als kommissarischer Präsident die
Konferenz, die für ihn eine weitere Etappe der Bemühungen der Internationalen
Gemeinschaft um die Kodifizierung und die progressive Weiterentwicklung des
Völkerrechts darstellte.212 Als Vorsitzender das Committee of the Whole wurde der
208
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1296, ILC-Yearbook (1974, I), S. 257, 260, Rn. 30.
209
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1296, ILC-Yearbook (1974, I), S. 257, 261, Rn. 31.
210
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1296, ILC-Yearbook (1974, I), S. 257, 260, Rn. 35.
211
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1299, ILC-Yearbook (1974, I), S. 276, 279, Rn. 23 ff.
212
Suy betonte, dass der Artikelentwurf der ILC das Selbstbestimmungsrecht nach der VN-
Charta voll und ganz berücksichtige und dem Interesse der aus der Dekolonialisierung hervor-
gegangenen Staaten im Kampf gegen den Kolonialismus, aber schlussendlich auch der Interna-
tionalen Gemeinschaft diene. Als der Österreicher Karl Zemanek im Anschluss zum Präsident
der Konferenz gewählt wurde, bezeichnete der ihre Aufgabe als delikat, da die Staatennach-
folge sich weder in der Theorie noch in der Praxis als einfache Materie darstelle. Er fuhr fort:
„Moreover, it had taken on a new dimension as a result of the process of decolonization
which had begun after the Second World War, when, within roughly a decade, the interna-
tional community of States had more than doubled in number. It might be asked whether it
was not rather late to codify the law of State succession in respect of treaties and whether it
should not have been codified before the dawn of decolonization. To raise that question was,
VI. Artikel 11, 12 und 13 in der Wiener Konferenz zur Staatennachfolge in Verträge315
Ägypter Fuad Riad gewählt.213 Eine Reihe anderer Posten wurden wie auch schon
bei den Wiener Vertragsrechtskonferenzen von Mitgliedern der ILC bekleidet, die
an den Artikeln zur Staatennachfolge in Verträge mitgewirkt hatten: Ausgerechnet
Tabibi, der sich in der Debatte um Territorialregime von seiner unbequemen Seite
gezeigt hatte und auch der afghanischen Delegation bei der Wiener Konferenz über
die Staatennachfolge in Verträge angehörte, wurde Berichterstatter des Committee
of the Whole.214 Yasseen bekleidete wie schon bei der Wiener Vertragsrechtskonfe-
renz das Amt des Vorsitzenden des Drafting Committee.215
Als schließlich mit Artikel 11 das Thema der Grenzregime als Tagesordnungs-
punkt im Committee of the Whole aufgerufen wurde, meldete sich als erster Tabibi
in seiner Funktion als Delegierter Afghanistans zu Wort.216 Er stellte fest, das Afgha-
nistan in der Generalversammlung bereits seit 1962 eine sehr kritische Position zu
Territorialregimen bezogen hatte und erinnerte an seine eigenen Bemühungen in der
ILC, die Konservierung illegaler Grenzregime durch Artikel 11 zu verhindern.217
Er stellte heraus, dass Artikel 13 aus eben diesen Bemühungen heraus entstanden
sei.218 Nachdem er einige seiner Argumente aus der ILC wiederholt hatte, stellte
Tabibi fest, dass er Artikel 11 und 12 trotzdem nach wie vor für gefährlich hielt:
however, to misunderstand the function of codification, as distinct from the creation of new
law in a hitherto unregulated field; for codification, though to some extent always combi-
ned with the progressive development of the rules of law, was dependent on previous State
practice, from which it took its material and abstracted its rules. And it was only relatively
recently that the material on States' succession after decolonization had become available and
the effort of codification had thus been made possible.”
Damit bekannte sich der Präsident der Konferenz gleich zu Beginn derselben zu dem
Ansatz, den die Generalversammlung und die ILC verfolgt hatten, nämlich einen besonderen
Fokus auf die Staatenpraxis der Dekolonialisierung zu legen und sich damit mehr der Kodi-
fikation jener Praxis als der progressiven Weiterentwicklung zu verschreiben. Er griff dabei
den Vorwurf auf, dass die spätere Konvention zum Zeitpunkt ihrer Verabschiedung schon
überholt sei und benannte dabei in seiner ersten Rede unbewusst bereits einen der Gründe,
die für das Scheitern der späteren Konvention ausschlaggebend werden sollten. UN Confe-
rence on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/SR.1, Meeting
Records (1977), S. 1, 1, Rn. 1 ff.
213
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/SR.2,
Meeting Records (1977), S. 3, 3, Rn. 3.
214
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, Officers of the Conference
and its Committees, Meeting Records (1977), S. xi.
215
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/SR.2,
Meeting Records (1977), S. 3, 3, Rn. 7.
216
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.17, Meeting Records (1977), S. 112, 113, Rn. 10.
217
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.17, Meeting Records (1977), S. 112, 114, Rn. 10.
218
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.17, Meeting Records (1977), S. 112, 114, Rn. 11.
316 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
His delegation was in favour of deleting or merging articles 11 and 12, because it felt that
their inclusion in the draft might have the effect of prejudging a boundary dispute where
one of the parties challenged colonial or unequal treaties on the basis of the right of self-
determination, and that the articles would therefore be prejudicial to the position of newly
independent States when challenging a boundary on the grounds that it was established
by a treaty which itself was invalid. The argument that articles 11 and 12 were intended to
preserve the continuity of a boundary, as being important for maintaining peace, was not
a convincing one. If the changing of boundaries could cause disputes, maintaining illegal
boundaries against the wishes of border residents would in many cases be a permanent
source of tension and friction between States.219
Trotz des Kompromisses in der ILC hatte Tabibi sein Ziel – die Löschung von
Artikel 12 und 13 aus der zukünftigen Konvention mit dem Zweck, die Neuver-
handlung von kolonialen Grenzen auf politischem Wege nicht zu erschweren – also
nicht aufgegeben.
Der afghanische Vorstoß rannte bei der somalischen Delegation offene Türen
ein. Dabei war die Argumentation Somalias praktisch identisch mit jener Tabibis
in der ILC: so führte der Delegierte Somalias die Unvereinbarkeit mit zwingendem
Völkerrecht, insbesondere dem Selbstbestimmungsrecht, den kolonialen Impetus
der ausgewerteten Staatenpraxis und der durch die Kolonialmächte abgeschlosse-
nen Grenzverträge sowie die Rechtswidrigkeit der Letztgenannten an.220 Während
Tabibi jedoch Wert darauf gelegt hatte, klarzustellen, dass Afghanistan ein friedlie-
bendes Land sei,221 strengte der somalische Delegierte keine derartigen Bemühun-
gen an. Dies erklärt sich vor dem Hintergrund der Eskalation des Grenzkonflikts
mit Äthiopien, die just zum Zeitpunkt der Tagung der ersten Konferenz zur Staaten-
nachfolge in Verträge im Ausbruch des Ogadenkriegs gipfelte.222
219
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.17, Meeting Records (1977), S. 112, 114, Rn. 13.
220
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.17, Meeting Records (1977), S. 112, 115 f., Rn. 23 ff.
221
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.17, Meeting Records (1977), S. 112, 114, Rn. 12.
222
Der Ogadenkrieg war eine gewaltsame Phase im Grenzkonflikt am Horn von Afrika, der
von Sommer 1977 bis zum Frühling 1978 zwischen Somalia und Äthiopien ausgetragen
wurde. Somalia sah sich – mit den vermeintlich hinter ihnen stehenden USA im Rücken – im
Juli 1977 endlich in der Lage, den Territorialstreit mit Äthiopien militärisch zu gewinnen,
und marschierte in die Ogaden ein. Bereits im Vorjahr hatten irreguläre somalische Kämpfer
militärisch bedeutsame Ziele in der Region erreicht, so dass dem somalischen Militär schnell
Vorstöße in die Ogaden gelangen. Die USA lehnten diesen Schritt Somalias jedoch auf
Grund der Verletzung der territorialen Integrität Äthiopiens und des Verstoßes gegen die
OAE-Prinzipien, aber auch im Interesse ihrer Verbündeten (Israel und Kenia standen auf der
Seite Äthiopiens) und zur Vermeidung eines weiteren Stellvertreterkrieges ab. Somit fehlte
Somalia die Hilfe beider Großmächte und Äthiopien sollte es mit Unterstützung der UdSSR
und Kubas im März 1978 gelingen, die somalische Armee hinter die Grenze zurückzutreiben.
Siehe Matthies, Der Ogadenkrieg zwischen Somalia und Äthiopien von 1977/78: Ursachen,
Folgen und Verlauf, 22 Africa Spectrum (1987), S. 237, 237 ff.
VI. Artikel 11, 12 und 13 in der Wiener Konferenz zur Staatennachfolge in Verträge317
223
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.17, Meeting Records (1977), S. 112, 116, Rn. 28.
224
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.17, Meeting Records (1977), S. 112, 116, Rn. 29 ff.
225
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.17, Meeting Records (1977), S. 112, 117, Rn. 32 ff.
226
Anders allerdings Marokko, UN Conference on Succession of States in Respect of Trea-
ties, UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.18, Meeting Records (1977), S. 119, 120, Rn. 17, und
der Jemen, UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/
CONF.80/C.1/SR.18, Meeting Records (1977), S. 119, 122, Rn. 33.
318 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
227
Z. B. Senegal, UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc
A/CONF.80/C.1/SR.17, Meeting Records (1977), S. 112, 115, Rn. 21, und Kenia UN Con-
ference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.18,
Meeting Records (1977), S. 119, 121, Rn. 27. Unterstützung von der Norm kam auch von
Bedjaoui als Vertreter Algeriens. UN Conference on Succession of States in Respect of Trea-
ties, UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.18, Meeting Records (1977), S. 119, 122, Rn. 30.
Interessant sind dabei insbesondere die Ausführungen des Delegierten aus Ghana, der sich
intensiv mit den Implikationen des Selbstbestimmungsrechts auseinandersetzte:
„Nineteenth-century European history in particular had shown that, in general, strategic
and political considerations had outweighed the principle of self-determination in the settle-
ment of boundaries. That experience might be relevant to the similar territorial problems
in the developing countries during the past two decades, which showed an extraordinary
hostility to the notion of applying the principle of self-determination to the readjustment of
colonial boundaries. The reaction had been so strong as to prompt the [.. die Entscheidung
der Organisation für Afrikanische Einheit 1964, Anmerkung der Verfasserin], affirming the
validity of all borders as they existed at the date of independence. Boundaries thus remained
the one legacy of colonialism still zealously upheld.
The revision of boundaries could lead to secession movements contrary to the aims of
States to create multi-racial societies. Self-determination should be confined to the birth of
free nations and did not justify a country's partition into fragments which were not politically
or economically viable.
With regard to the difficulties of peaceful change, it should be noted, first, that the cause of
strife was not the principle of self-determination, but a desire to resist it; if all were prepared
to accept a result based on self-determination there was no reason to suppose that violence
would ensue […]. On the other hand, resistance to a plea for self-determination often led to
the formation of liberation movements and to costly internal strife.
Secondly, self-determination, in the context of territorial disputes between States, seemed
sometimes to involve a novel concept in treaty law, by which colonialist boundary treaties were
rejected because they were inconsistent with the principle of self-determination. It was almost
as though the doctrine of intertemporal law was being developed so as to imply that title to ter-
ritory, whatever its treaty origin, could be accepted only if consistent with the right of self-de-
termination within the context of the Charter.” UN Conference on Succession of States in Respect
of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.18, Meeting Records (1977), S. 119, 119 f., Rn. 8 f.
228
Z. B. Italien, UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/
CONF.80/C.1/SR.18, Meeting Records (1977), S. 119, 123, Rn. 45.
229
Z. B. Polen und die DDR, UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties,
UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.17, Meeting Records (1977), S. 112, 117 f., Rn. 38 ff.
230
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.19, Meeting Records (1977), S. 129, 129, Rn. 9.
VI. Artikel 11, 12 und 13 in der Wiener Konferenz zur Staatennachfolge in Verträge319
welches den Zielen der Nichtigkeitsgründe nach der WVK diene und klarstelle,
dass Artikel 11 und 12 in Einklang mit dem Selbstbestimmungsrecht stünden.231
Die übrigen Delegationen, die sich zu Artikel 13 äußerten, hielten die Regelung
für nicht notwendig, aber unschädlich.232 Auch Artikel 13 wurde daher nach kurzer
Debatte dem Drafting Committee überstellt.233 Artikel 11 und 13 wurden zunächst
vom Committee of the Whole und später auch vom Plenum abgesegnet.234
Das Hauptproblem stellte für die Konferenz jedoch die Regelung zu anderen
Territorialregimen in Artikel 12 dar, welche noch in der ILC für weniger Wider-
stand gesorgt hatte als die Norm zu Grenzregimen. Anders als zu Artikel 11 waren
bei der Konferenz aber eine ganze Reihe von Änderungsvorschlägen zu Artikel 12
eingebracht worden, wobei die drei Vorschlage der lateinamerikanischen Staaten
Mexiko, Argentinien und Kuba von besonderem Interesse sind.
Alle drei Änderungsvorschläge waren dabei Reaktionen auf den unklaren Anwen-
dungsbereich von Artikel 12. Ihnen war gemeinsam, dass sie darauf abzielten, Mili-
tärbasen vom Anwendungsbereich der Norm auszuschließen. Während der mexi-
kanische Änderungsvorschlag sich hierauf beschränkte,235 sollte der argentinische
Entwurf darüber hinaus solche Territorialregime ausklammern, die auf Verträgen
beruhten, welche die vollumfängliche Ausübung der Souveränität des Nachfolger-
staates über die natürlichen Reichtümer und Ressourcen auf seinem Territorium
verhindern würden.236 Die Delegation aus Argentinien nahm damit den vom
231
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.22, Meeting Records (1977), S. 151, 151, Rn. 1, S. 152, Rn. 9.
232
Z. B. Madagaskar und Italien, UN Conference on Succession of States in Respect of Trea-
ties, UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.22, Meeting Records (1977), S. 151, 151, Rn. 3.
233
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.22, Meeting Records (1977), S. 151, 153, Rn. 13.
234
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.33, Meeting Records (1977), S. 229, 232, Rn. 27; UN Conference on Succession of States
in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.34, Meeting Records (1977), S. 232,
232, Rn. 2; UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/
CONF.80/SR.5, Meeting Records (1977), S. 8, 9 ff.
235
Mexiko wollte Artikel 12 um einen dritten Absatz mit folgendem Inhalt ergänzen:
„Treaties relating to military, naval or air bases established in the territory of the successor
State for the benefit of the predecessor State or of other States are not subject to the effects of
this article. Such treaties shall cease to be in force by reason of the succession.“ UN Confe-
rence on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/L.19, Official
Records (1977/1978), UN Doc A/CONF.80/14, S. 98, 128.
Der Vertreter aus Mexiko bezeichnete die Fortgeltung solcher Regime, die zum Vorteil
des Vorgängerstaates oder anderer Staaten errichten worden seien, als Drohkulisse mit der
Gefahr für Gewaltanwendungen. UN Conference on Succession of States in Respect of Trea-
ties, UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.19, Meeting Records (1977), S. 129, 130, Rn. 11.
236
Der argentinische Vorschlag basierte auf jenem Mexikos und wollte dessen ersten Satz
durch folgenden Formulierung ersetzen:
„Obligations relating to the use of any territory of a successor State, or to restrictions upon
its use, imposed by a treaty relating to the establishment of military bases of the predecessor
320 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
State or of another State party, or by a treaty which impedes the full exercise by the successor
State of its sovereignty over the natural wealth and resources of its own territory, shall be
excluded from the application of the provisions of the foregoing paragraphs.” UN Confe-
rence on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/L.27, Official
Records (1977/1978), UN Doc A/CONF.80/14,S. 98, 128.
237
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.19, Meeting Records (1977), S. 129, 131, Rn. 23.
238
Siehe auch Teil I und Teil II.
239
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.19, Meeting Records (1977), S. 129, 130, Rn. 19.
240
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.19, Meeting Records (1977), S. 129, 131, Rn. 21.
241
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.19, Meeting Records (1977), S. 129, 131, Rn. 22; siehe schon Waldock, UN Doc A/
CN.4/256 an Add. 1–4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 57, Rn. 39. Zur Frage der Erworbenen
Rechte Privater siehe Kapitel 10.
242
Zu der Debatte um Erworbene Rechte im Rahmen von Konzessionen siehe unten, Kapitel 10.
243
Kuba wollte ebenfalls einen dritten Absatz an Artikel 12 anhängen und schlug folgenden
Wortlaut vor:
„Treaties which were concluded and concessions which were granted in conditions of inequa-
lity or which disregard or detract from the sovereignty of the successor State over any part of
its territory, particularly in the case of the establishment or attempted establishment of military,
naval or air bases, shall be excluded from the application of the provisions contained in the fore-
going paragraphs and shall be considered illegal, being contrary to the principles of the Charter
of the United Nations.” UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc
A/CONF.80/C.1/L.20, Official Records (1977/1978), UN Doc A/CONF.80/14,S. 98, 128.
VI. Artikel 11, 12 und 13 in der Wiener Konferenz zur Staatennachfolge in Verträge321
Waldock hatte diese Praxis so gedeutet, dass Tansania durch die ausschließliche
Berufung auf die begrenzte Bindungskompetenz des Treuhänders Großbritanniens
anerkannt hatte, andernfalls an die Pacht gebunden gewesen zu sein.249 Diese Inter-
pretation wies der Vertreter Tansanias nun explizit als hochgradig anmaßend zurück
und erklärte, dass die in Rede stehende Pacht auch ohne Tansanias besonderen Status
als Treuhand unvereinbar mit der Souveränität, der Unabhängigkeit und der terri-
torialen Integrität des Staates gewesen wäre.250 Tansania forderte die Löschung von
Artikel 12, erklärte sich alternativ jedoch zu Unterstützung der lateinamerikanischen
Änderungsvorschläge bereit.251 Einige Delegationen unterstützten insbesondere
244
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.19, Meeting Records (1977), S. 129, 130, Rn. 14.
245
Siehe Teil II.
246
So war die Hull-Formel in den USA in Bezug auf Verstaatlichungen in Mexiko entwickelt
worden; die hierauf reagierende Calvo-Doktrin entstand in Argentinien. Zu diesen investi-
tionsschutzrechtlichen Fragen siehe Kapitel 10.
247
Z. B. Madagaskar und Senegal, UN Conference on Succession of States in Respect of
Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.19, Meeting Records (1977), S. 129, 134, Rn. 48, 52.
248
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.19, Meeting Records (1977), S. 129, 131, Rn. 26.
249
Siehe oben.
250
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.19, Meeting Records (1977), S. 129, 131, Rn. 26.
251
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.19, Meeting Records (1977), S. 129, 132, Rn. 28.
322 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
den argentinischen Vorschlag, die PSNR zu garantieren.252 Die meisten Staaten der
Dritten Welt regten an, alle drei Änderungsvorschläge zu verknüpfen.253 Der Vertre-
ter Zaires betonte die ökonomische Bedeutung der Änderungsvorschläge zu Artikel
12 und ihre Auswirkungen auf das Projekt einer Neuen Weltwirtschaftsordnung:
If the purpose of such servitudes was to strengthen the ties of friendship between peoples
and to promote economic co-operation among States or the economic integration of a spe-
cific region, his delegation could only welcome the efforts made by the International Law
Commission, but if the international community was using such servitudes to try to curb
economic co-operation in various regions, it might be asked how the developing countries
were ever to be able to solve the problems they encountered in their relations with the
industrialized countries. His delegation was convinced that the establishment of a new inter-
national economic order was necessary and that it must be based on economic co-operation
among neighboring countries, which should be prepared to make certain sacrifices, particu-
larly with a view to promoting regional economic integration.254
Anhand dieser Äußerung wird die zunehmende Verknüpfung der Bindungsfrage mit
ökonomischen Implikationen im Rahmen des Globalsolidarischen Projekts deutlich.255
Einige Staaten der Dritten Welt sahen die Änderungsvorschläge kritischer.256 Die
Delegation aus Äthiopien hielt Artikel 12 für ebenso wichtig wie Artikel 11 und
befürchtete, dass dessen Löschung sich für die betroffenen Staaten ökonomisch
252
Beispielsweise United Nations Council for Namibia, UN Conference on Succession of
States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.19, Meeting Records (1977),
S. 129, 132, Rn. 32.
253
Beispielsweise Kenia, United Nations Conference on Succession of States in Respect of
Treaties, First Session, Vienna, 4 April – 6 May 1977, Summary Records of the Plenary Mee-
tings and of the Meetings of the Committee of the Whole, 20th Meeting of the Committee of
the Whole, UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.20, S. 135, 136, Rn. 2, oder Bedjaoui für Algerien,
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.21, Meeting Records (1977), S. 140, 144 f., Rn. 39.
254
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.21, Meeting Records (1977), S. 140, 142, Rn. 11. Ähnlich der delegierte der Philippinen,
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.21, Meeting Records (1977), S. 140, 148, Rn. 68.
255
Siehe für das Fortschreiten dieser Entwicklung Kapitel 10.
256
Malaysia kritisierte den politischen Unterton der lateinamerikanischen Änderungsvorschläge.
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.19, Meeting Records (1977), S. 129, 130, Rn. 17. Der irakische Delegierte ließ verlauten:
„His delegation also sympathized with the concern of Argentina over treaties restricting
the full exercise by a successor State of its sovereignty over its natural resources, but he
believed that the exception to article 12 proposed by Argentina was so broad that it might
empty the article of all content and might also lead to difficulties, particularly between neig-
hbouring States. Furthermore, the concept of permanent national sovereignty over natural
resources was well recognized and had been repeatedly reaffirmed by the United Nations
General Assembly and in existing international instruments. He doubted, therefore, whether
any useful purpose would be served by mentioning it in a convention on succession in respect
of treaties.” UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/
CONF.80/C.1/SR.21, Meeting Records (1977), S. 140, 145, Rn. 4.
VI. Artikel 11, 12 und 13 in der Wiener Konferenz zur Staatennachfolge in Verträge323
257
Bezüglich Militärbasen stellte der Kommentar zu Artikel 11 und 12 für den äthiopischen
Delegierten ausreichend klar dar, dass diese nicht von den Artikeln erfasst würden. UN Con-
ference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.19,
Meeting Records (1977), S. 129, 133, Rn. 42 f.
258
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.19, Meeting Records (1977), S. 129, 134, Rn. 56.
259
Die Diskussion eskalierte zwischenzeitlich, als wiederum der somalische Delegierte Posi-
tion zu Artikel 12 bezog. Er lehnte diese Regelung wie schon zuvor jene in Artikel 11 ab und
gab folgende Erklärung ab:
„By adopting article 11, the Committee of the Whole had taken a disturbing decision; for the
provisions of that article were not in conformity with international law and did not accurately
reflect the current thinking of the developing countries. There seemed to be some confusion in
the Committee between treaties establishing rights and obligations concluded between European
States and similar treaties of colonialist and imperialist countries. At the end of the nineteenth
century, certain African countries had entered into direct collusion with the European colonial
Powers to colonize Africa, and one State in particular had overtly taken part in the partition of the
Somali nation. His Government made no distinction between white and black colonial Powers.”
Dabei bezog sich der somalische Delegierte klar auf die Anerkennung des äthiopischen
Anspruchs auf die Ogaden durch die europäischen Mächte im Jahr 1910. Er forderte die
Löschung von Artikel 12. Der äthiopische Delegierte erwiderte:
„[A] conference for the codification of rules of international law was not an appropriate
occasion to bring up political controversies, as the representative of Somalia had just done.
The Conference should not be used as a forum for airing unfounded claims and opinions rela-
ting to other States, even though it was true that a neighbouring State to the east of Ethiopia
was participating in an international conspiracy to dismember Ethiopia.”
Dem entgegnete der somalische Vertreter unter Berufung auf eine Verfahrensfrage –
nämlich das Recht auf Gegendarstellung:
„[H]e failed to understand why his statement had caused such concern to the representa-
tive of Ethiopia, since he had confined himself to expressing his delegation's views on draft
articles 11 and 12, without expressly mentioning Ethiopia.”
Ebenfalls zum Recht auf Gegendarstellung äußerte wiederum der äthiopische Delegierte:
„[H]e had merely been replying to the insinuations of the representative of Somalia. While
it was a fact that Somalia had committed aggression against Ethiopia, the Conference had
not been convened to discuss political problems, but to make law. His delegation appealed
to all States to refrain from interfering in the internal affairs of countries represented at the
Conference, for otherwise it would be impossible to make any progress.”
Der Vorsitzende Riad äußerte sich daraufhin zur Reichweite des Rechts auf Gegendar-
stellung, woraufhin Tabibi den Schlagabtausch schließlich unterband, indem er von seinem
Recht Gebrauch machte, das Treffen unverzüglich zu vertagen. Siehe zum Ganzen UN Con-
ference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.19,
Meeting Records (1977), S. 129, 133 ff., Rn. 54 ff.
324 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
andere Wirkung haben würde, als von den neuen Staaten, die sich eine solche Norm
als Schutzschild gegen koloniale Verpflichtungen wünschten, offenbar erwartet wurde:
[I]f the notion of self-determination were introduced into article 12, it would apply essenti-
ally to relations between two newly independent neighbouring States. The principle would
not be invoked against a distant imperial Power but against a neighbouring State, usually
another newly independent State. In point of fact, the scope of article 12 was restricted
to relations between neighbouring States; it had nothing whatever to do with the usual
application of the permanent sovereignty principle to natural resources held by a former
imperial Power.260
260
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.20, Meeting Records (1977), S. 135, 136, Rn. 6.
261
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.20, Meeting Records (1977), S. 135, 136 f., Rn. 8 f.
262
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.21, Meeting Records (1977), S. 140, 149, Rn. 78.
263
Z. B. Großbritannien, UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN
Doc A/CONF.80/C.1/SR.20, Meeting Records (1977), S. 135, 137, Rn. 12 ff., und Italien
und Deutschland, UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/
CONF.80/C.1/SR.21, Meeting Records (1977), S. 140, 142, Rn. 16, S. 144, Rn. 34.
264
Z. B. Schweden, UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc
A/CONF.80/C.1/SR.21, Meeting Records (1977), S. 140, 147, Rn. 57.
265
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.21, Meeting Records (1977), S. 140, 141, Rn. 4.
266
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.21, Meeting Records (1977), S. 140, 145 f., Rn. 48.
VI. Artikel 11, 12 und 13 in der Wiener Konferenz zur Staatennachfolge in Verträge325
Nothing in the present Convention shall affect the principles of international law affirming
the permanent sovereignty of every people and every State over its natural wealth and
resources.272
267
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.21, Meeting Records (1977), S. 140, 150 f., Rn. 85 ff.
268
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.10, Meeting Records (1977), S. 69, 76, Rn. 56.
269
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.51, Meeting Records (1978), S. 116, 116, Rn. 1 f.
270
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.62, Meeting Records (1978), S. 131, 131, Rn. 1.
271
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/
C.1/L.19, Official Records (1977/1978), UN Doc A/CONF.80/14, S. 144, 154.
272
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.62, Meeting Records (1978), S. 144, 154.
273
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.54, Meeting Records (1978), S. 131, 131, Rn. 1.
274
Z. B. Angola und Indien, UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties,
UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.54, Meeting Records (1978), S. 131, 133, Rn. 20, S. 134, Rn. 31.
275
Z. B. die UdSSR und die Türkei, UN Conference on Succession of States in Respect of
Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.54, Meeting Records (1978), S. 131, 133 f., Rn. 27 ff.
326 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
276
Z. B. Indien, UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/
CONF.80/C.1/SR.54, Meeting Records (1978), S. 131, 134, Rn. 31 und der Irak, UN Con-
ference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.55,
Meeting Records (1978), S. 136, 136, Rn. 1.
277
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.55, Meeting Records (1978), S. 136, 136, Rn. 4. Mit Bezug auf Generalversammlungs-
resolution 1803 (XVII) und Artikel 12 bis meinte der spätere IGH-Richter Abdul Gadrie
Koroma als Delegierter von Sierra Leone:
„That article referred only to the principles of international law, whereas the Declaration
he had mentioned referred to both international and national law. In an instrument subsequent
to the Declaration, namely the Charter of Economic Rights and Duties of States, it was not
stated that the principles of international law should govern economic relations. In that respect,
article 12 bis marked no progress. Moreover, supposing that there was justification for men-
tioning the principles of international law in article 12 bis, some further clarification should
be given, because the content of those principles was uncertain. Neither the principle of acqui-
red rights nor that of national treatment clarified the question. The Declaration on permanent
sovereignty over natural resources militated against prompt, adequate and effective compen-
sation. Moreover, the principles of economic self-determination, independence, sovereignty
and equality were all principles of international law. Accordingly, although it appreciated the
efforts which the Informal Consultations Group had made in formulating the text of article
12 bis, his delegation considered that the article needed to be improved.” UN Conference on
Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.55, Meeting Records
(1978), S. 136, 137, Rn. 14. Zu diesen investitionsschutzrechtlichen Fragen siehe Kapitel 10.
VI. Artikel 11, 12 und 13 in der Wiener Konferenz zur Staatennachfolge in Verträge327
Position ersetzt worden waren.278 Eine ganze Reihe Delegierter weiterer Staaten
äußerte daher ihre Bedenken in Bezug auf Artikel 12 bis, der in Bezug auf Inhalt
und Reichweite der PSNR unklar sei.279 Der australische Delegierte vertrat ebenfalls
eine restriktive Position, die jener Kearneys ähnelte:
His country recognized the permanent sovereignty of every State over its natural
resources but considered that a State was also under an obligation not to prejudice the
legitimate interests of neighbouring States and other States dependent on shared natural
resources. The principles of international law did not confer on States the right to unres-
tricted exercise of their permanent sovereignty over their natural resources. The princi-
ples of international law beneficial to neighbouring States should be taken into account.
His delegation wondered whether the exception set forth in article 12 bis was not now so
general that it might prejudice riparian rights or rights of access that were essential to the
successor State or to another party to the treaty. Although his delegation was somewhat
reassured by the interpretation placed by a number of other delegations on article 12 bis,
it would have preferred the Group to use a formula such as “in accordance with inter-
national law”.280
Australien hätte also gerne eine Öffnungsklausel eingeführt, welche die Ausübung
der permanente Souveränität über natürliche Ressourcen unter den Vorbehalt der
Vereinbarkeit mit sonstigem Völkerrecht, also beispielsweise Wirtschafts- und
Fremdenrecht, gestellt hätte.281 Dass sie eine solche Öffnungsklausel jedoch nicht
durchsetzen konnten, führte bei einer Reihe von westlichen Staaten zur Ablehnung
von Artikel 12 bis.282 Die Stellungnahme des Delegierten der USA etwa muss den
Vertretern der Dritten Welt geradezu zynisch vorgekommen sein:
The Informal Consultations Group had, however, been unable to achieve a genuine con-
sensus on article 12 bis. Although the idea of adding words such as “in conformity with
international law” to that provision had been widely supported, it had unfortunately been
decided not to retain such wording in the text to be submitted to the Committee. His dele-
gation could therefore not support that text. It did, however, interpret the principles referred
to in article 12 bis in the light of General Assembly resolution 1803 (XVII), relating to
permanent sovereignty over natural resources. In view of those considerations, it would
abstain in the vote on article 12 bis. Nevertheless, it appreciated the close link between that
provision and article 12 and recognized the value of article 12 bis for newly independent
States.283
278
Siehe hierzu Kapitel 10.
279
Z. B. Japan, UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/
CONF.80/C.1/SR.54, Meeting Records (1978), S. 131, 133, Rn. 22.
280
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.55, Meeting Records (1978), S. 136, 138, Rn. 22.
281
Dieser Vorschlag stand im Gegensatz zu der Forderung vieler Staaten der Dritten Welt,
investitionsschutzrechtliche Fragen wie jene der Enteigung erworbener Rechte Privater aus
Wirtschaftskonzessionen rein nach nationalem Recht zu beurteilen, siehe Kapitel 10.
282
Z. B. Frankreich und die USA, UN Conference on Succession of States in Respect of
Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/SR.55, Meeting Records (1978), S. 136, 139, Rn. 33, 36.
283
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.55, Meeting Records (1978), S. 136, 139, Rn. 36.
328 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
Auch Großbritannien beschloss, die Norm einfach der gewünschten Ansicht ent-
sprechend zu interpretieren:
While recognizing the existence of that principle, it considered that its application was
governed by the principles of international law, which, in the final analysis, ought to be
able to resolve any possible conflict between the principle of permanent sovereignty and
other concepts, such as that of acquired rights. It was in that sense that his delegation would
interpret article 12 bis.284
Als Artikel 12 bis zur Abstimmung kam, wurde er der gespaltenen Meinung des
Committee of the Whole entsprechend mit 12 Enthaltungen bei 74 Ja-Stimmen
dem Drafting Committee überstellt.285 Artikel 12 wurde mit seinem neuen Absatz
3 von 86 Delegierten bei nur einer Enthaltung unterstützt.286 Beide Artikel wurden
vom Drafting Committee ebenso wie Artikel 11 kaum bzw. gar nicht verändert und
zunächst vom Committee of the Whole angenommen.287 Während Artikel 11 und
12 vom Plenum der Konferenz ohne Gegenstimmen angenommen wurden, wurde
Artikel 12 bis mit 73 Ja-Stimmen, 8 Enthaltungen und der Gegenstimme der USA
angenommen.288
Die Vienna Convention on Succession of States in Respect of Treaties wurde mit
76 Ja-Stimmen und vier Enthaltungen angenommen.289 In der Konvention wurden
die Artikel in aktualisierter Reihenfolge aufgeführt: Artikel 11 beschäftigte sich mit
Grenzregimen, Artikel 12 mit anderen Territorialregimen und Artikel 13 mit der
permanenten Souveränität über natürliche Ressourcen.290
284
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.55, Meeting Records (1978), S. 136, 140, Rn. 39.
285
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.55, Meeting Records (1978), S. 136, 140, Rn. 43.
286
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.55, Meeting Records (1978), S. 136, 140, Rn. 43.
287
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/C.1/
SR.56, Meeting Records (1978), S. 141, 144 f., Rn. 38, 41, 43.
288
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/
SR.14, Meeting Records (1978), S. 19, 19 ff., Rn. 8 ff. Der Stimme enthielten sich Belgien,
Kanada, Frankreich, die BRD, Israel, Japan, die Niederlande und Großbritannien.
289
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/
SR.14, Meeting Records (1978), S. 19, 22, Rn. 33. Die Enthaltungen basierten jedoch mehr
auf der Uneinigkeit über prozessuale Fragen als auf jener über Artikel 12 bis. Vgl. UN Con-
ference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/SR.15, Meeting
Records (1978), S. 24, 26, Para 20, S. 28, Para 32 und 35.
290
UN Conference on Succession of States in Respect of Treaties, UN Doc A/CONF.80/31,
Meeting Records (1978), S. 186, 189.
VII. Resonanz und Rezeption329
Die Konvention war stark durch die Dekolonialisierung geprägt und stellt letztlich
durch die Einflussnahme der neuen Staaten weniger eine Kodifikation als eine pro-
gressive Weiterentwicklung des Rechts der Staatennachfolge dar.294 Dabei wurde
die WKSV auf Grund der von Waldock eingeschlagenen Orientierung am Recht
der Verträge als eine Reminiszenz an die WVK betrachtet.295 Manche Völker-
rechtler lobten die WKSV als gelungenen Kompromiss zwischen dem Bestands-
interesse der alten Staaten und dem Wunsch der neuen Staaten nach rechtlicher
Flexibilität, wobei letztere ihre Interessen nach weit verbreiteter Ansicht stärker
hatten durchsetzen können.296 Dieser ideologische Sieg der Dritten Welt wurde
jedoch dadurch geschmälert, dass der Dekolonialisierungsprozess bereits weitest-
gehend abgeschlossen und die praktische Anwendbarkeit entsprechend beschränkt
291
Vgl. hierzu Zimmermann, Staatennachfolge in völkerrechtliche Verträge: Zugleich ein
Beitrag zu den Möglichkeiten und Grenzen völkerrechtlicher Kodifikation (2000), S. 221 ff.;
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 198 ff.
292
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 198; Elias, The Contribution of Asia and Africa to the Contemporary Inter-
national Law, 16 Africa Quarterly (1976), S. 60, 60 ff.
293
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 900.
294
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 902.
295
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 903.
296
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 911 f.
330 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
war.297 Trotzdem wurde die Konvention von Völkerrechtlern in den neuen Staaten
als Etappensieg in der Bindungsfrage und im Rahmen des Globalsolidarischen
Projekts verbucht. So meinte ein Kommentator aus der Dritten Welt:
The Vienna Convention on Succession of States in respect of Treaties reflects the evolu-
tionary changes in the world community resulting from the process of decolonization and
represents a step forward in the progressive development of international law. It has taken
into account the views of newly independent States and has given full recognition to the
practice of such States with respect to succession to treaties.
The Vienna Convention protects the right of new States to decide freely which of the
treaties concluded by metropolitan powers are binding on them. It takes into consideration
the vital interests and needs of these States guaranteeing them an opportunity to reject,
modify or accept the colonial treaties and thereby contributing to the implementation of
the principle of self-determination and to consolidation of their sovereignty. In the main, it
reflects current international practice aiming at further development of law. It also reflects
a balance between the two rather opposing principles. The principle of continuity derived
from the rule of pacta sunt servanda and the principle of clean slate derived from the right
to self-determination.298
297
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 912.
298
Menon, The Newly Independent States and Succession in Respect of Treaties, 18 Korean
Journal of Comparative Law (1990), S. 139, 172.
VII. Resonanz und Rezeption331
I say this not in mere cynicism, although it may sound like it. I have said that I have
advised ten newly independent countries about succession to treaties. I am not certain how
many of them have attended the Conference, but I can name several who have not, and I
am able to say that the richest one of them has not been present because it regards the Con-
ference as altogether unimportant and not worth expenditure of public funds. One cannot
resist the impression that many of the countries which are attending the Conference have
no immediate concern with, or experience of, succession to treaties such as have my ten
clients, and are meddling in an area of international law which they do not understand and
about which preconceived opinions abound.299
O’Connell führte den aus seiner Sicht verfehlten Inhalt der Konvention dabei auf das
Verhältnis zwischen der ILC einerseits und der Konferenz zur Staatennachfolge in
Verträge andererseits zurück. Laut O’Connell war es eine verbreitete Ansicht, dass
die Staaten bei der Wiener Konferenz zur Staatennachfolge in Verträge die Arti-
kelentwürfe für so heilig erachtet hätten, dass diese nicht herausgefordert werden
dürften.300 Dabei habe sich umgekehrt die ILC politisch verpflichtet gefühlt, die Arti-
kelentwürfe so wie geschehen zu gestalten, da sie andernfalls die Ablehnung durch
die Konferenz befürchtet habe.301 Tatsächlich sollten einige von O’Connells Kri-
tikpunkten verfangen; insbesondere das geringe Interesse vieler westlicher Staaten
an der Konvention auf Grund ihrer Fokussierung auf die Dekolonialisierung sollte
O’Connell zutreffend prophezeit haben. Die WKSV wurde von vielen Staaten für
wenig bedeutend gehalten; entsprechend schleppend liefen die Ratifizierungen an.302
Die WKSV sollte erst im Jahr 1996 in Kraft treten.303 Dies geschah paradoxer-
weise ausgerechnet in dem Moment, als der WKSV weitgehend die Relevanz abge-
sprochen wurde. Nachdem es zuvor eher ruhig um das Thema Staatennachfolge
gewesen war, geriet dieses nämlich in den 1990er-Jahren mit den Geschehnissen in
der Sowjetunion, Jugoslawien, der Tschechoslowakei und Deutschland wieder in
den Fokus. Nun zeigte sich aus Sicht vieler Völkerrechtler das Problem der Wiener
Konvention von 1979, die zwar die historischen Ereignisse ihrer Zeit beschrieben,
aber dabei möglicherweise anders gelagerte Vorfälle in der Zukunft aus dem Blick
verloren habe.304 Die Kodifizierung des Rechts der Staatenverantwortlichkeit in den
1960er- und 1970er-Jahren stand in einem engen Zusammenhang mit der Dekolo-
nialisierung, weshalb dieses Recht auch nach verbreiteter Ansicht nicht auf die Fälle
299
O’Connell, Reflections on the State Succession Convention, 39 Zeitschrift für ausländi-
sches öffentliches Recht und Völkerrecht (1979), S. 725, 726 f.
300
O’Connell, Reflections on the State Succession Convention, 39 Zeitschrift für ausländi-
sches öffentliches Recht und Völkerrecht (1979), S. 725, 725.
301
O’Connell, Reflections on the State Succession Convention, 39 Zeitschrift für ausländi-
sches öffentliches Recht und Völkerrecht (1979), S. 725, 733.
302
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 208; O’Connell, Reflections on the State Succession Convention, 39 Zeit-
schrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (1979), S. 725, 726 f.
303
Hute hat die WKSV 22 Vertragsparteien; weitere 19 Staaten haben die WKSV unterzeichnet.
304
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 212.
332 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
Auch die Rolle der Territorialregime in der WKSV wurde in der Rezeption der Kon-
vention aufgegriffen. Die in der WKSV vorgenommene Trennung zwischen persön-
lichen und dinglichen Verträgen kritisierte O’Connell dabei folgendermaßen:
305
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 4; Mülllerson, International Law, Rights and Politics: Developments in Eastern
Europe and the CIS (1990), S. 64 ff.
306
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 256 f.
307
Koskenniemi, Report of the Director of Studies of the English-speaking Section of the
Centre, in Eisemann/Koskenniemi (Hrsg.), Hague Academy of International Law: State Suc-
cession: Codification Tested against the Facts (2000), S. 65, 69.
308
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 212.
309
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 217.
310
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 263 f.
VII. Resonanz und Rezeption333
Instead of approaching the question of treaty succession from the general point of view of
the compatibility of the treaty with the changed situation, they approached it from a priori
categorisation, and arbitrarily assigned treaties to one of the two categories, personal trea-
ties and real treaties.311
It is evident that the dichotomy between personal and real treaties is unworkable, yet that
is exactly the essence of the State Succession Convention. It provides that treaties will bind
successor States if they relate to the use of a particular territory, or place restrictions upon its
use, established specifically for the benefit of a particular territory of a neighbouring State
or a region, and considered as attaching to the territories in question.
That obviously begs the question. How it would apply to the Ethiopia Somalia dispute is
anyone’s guess. What is striking about the State practice in respect of succession to treaties
in recent years is that it is the territorially connected treaties alone which have given rise to
controversy. The clearly personal treaties, such as commercial or extradition treaties, have
given rise to no problems. It is obvious, then, that the State Succession Convention does not
have rules that are likely to reduce the occasions of dispute. On the contrary, its rules are
more likely to stimulate dispute, not about the proper functioning of a treaty, but about its
characterisation as personal or real.
More ink has been expended on the question of State succession than on almost any
other branch of international law except the law of the sea since 1960 - not least by myself.
But I sometimes wonder if we have not created an artificial edifice somewhat detached
from diplomatic reality. We have set up a system for successor States to avoid maintaining
treaties and then an elaborate machinery, which is time-consuming and administratively
debilitating, to enable them to avoid the consequences of avoidance of the maintenance
of treaties, that is, to enable them to continue treaties which they want to continue while
adhering to the general idea of not being bound to do so.312
311
O’Connell, Reflections on the State Succession Convention, 39 Zeitschrift für ausländi-
sches öffentliches Recht und Völkerrecht (1979), S. 725, 735.
312
O’Connell, Reflections on the State Succession Convention, 39 Zeitschrift für ausländi-
sches öffentliches Recht und Völkerrecht (1979), S. 725, 736. Zu dem von O’Connell ange-
sprochenen Grenzstreit zwischen Äthiopie und Somalia siehe Kapitel 10.
313
Maloney, Succession of States in Respect of Treaties: The Vienna Convention of 1978, 19
Virginia Journal of International Law (1978/1979), S. 885, 895 f.
314
Siehe hierzu Kapitel 10.
315
Siehe Gille, Politik, Staat und Nation in der Dritten Welt: Probleme des Nationalismus in
den Entwicklungsländern (2. Auflage 1971), S. 48.
334 Kapitel 9: Territorialregime in der WKSV
An diesem Punkt erlitt die so laut beschworene Solidarität der Völker der Dritten Welt
zuerst Schiffbruch, und hier sind nach wie vor die Ansatzpunkte der kommenden und der
gegenwärtigen Konflikte gegeben.316
Die PSNR, die in der Debatte um Territorialregime in der WKSV bereits einige
Bedeutung erlangt hatte, sollte insbesondere im Zusammenhang mit investitions-
schutzrechtlichen Fragen noch zu kontroversen Debatten führen.317 Die PSNR
gehört heute zum etablierten Völkerrecht.318 Die mangelnde Klarheit und Präzision
der in den Dokumenten zur PSNR anzutreffenden Formulierungen und insbeson-
dere der vage Begriff der Völker lassen allerdings bis heute diverse widersprüch-
liche Interpretationen zu.319 Der niederländische Völkerrechtler Nicolaas Jan Schrij-
ver beispielsweise zieht heute folgendes Fazit zur permanenten Souveränität über
natürliche Ressourcen:
In conclusion, it is now commonly accepted that the principle of permanent sovereignty
precludes a State from derogating from the essence of the exercise of its sovereign rights
over its natural ressources or – as Dupuy puts it - ‘alienating’ its sovereignty over them, but
that a State may by agreement freely entered into accept a partial limitation of its soverei-
gnty in respect of certain resources in particular areas for a specified and limited period of
time.320
Dabei rekurriert Schrijvers Bezug auf den freien Vertragsschluss aber wiederum auf
das Problem der mangelnden Ächtung Ungleicher Verträge im Rahmen der WVK.321
316
Gille, Politik, Staat und Nation in der Dritten Welt: Probleme des Nationalismus in den
Entwicklungsländern (2. Auflage 1971), S. 48.
317
Siehe dazu Kapitel 10.
318
Duruigbo, Permanent Sovereignty and Peoples’ Ownership of Natural Resources in Inter-
national Law, 36 George Washington International Law Review (2006), S. 33, 39 f.; ICJ,
ICJ-Reports (1995), S. 90, 90 ff.; Weeramantry, ICJ-Reports (1995), S. 139, 204, und Sku-
biszewki, ICJ-Reports (1995), S. 224, 264.
319
Vgl. Anghie, „The Heart of My Home“: Colonialism, Environmental Damage, and the
Nauru Case, 34 Harvard International Law Journal (1993), S. 445, 473 ff.
320
Schrijver, Sovereignty over Natural Ressources: Balancing Rights and Duties (1997),
S. 264.
321
Siehe Teil II.
Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
I. Subkomitee
Bereits das Subkomitee warf die Frage nach dem Schicksal privater Rechte im Falle
der Staatennachfolge auf.2 Es ging dabei insbesondere um die Rechte von auslän-
dischen Unternehmen, die auf Grund von Verträgen mit den Vorgängerstaaten Kon-
zessionen erworben hatten, welche von Völkerrechtlern aus der Dritten Welt als
1
Siehe Kapitel 9.
2
Sub-Committee on Succession of States and Governments, UN Doc A/CN.4/160 and Corr.
1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 266, 266; Rosenne, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-
Yearbook (1963, II), S. 285, 288 f.; Castrén, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook
(1963, II), S. 290, 292; Bartoš, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II),
S. 293, 294.
Ungleiche Verträge betrachtet wurden.3 Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert waren
königlich privilegierte Handelsgesellschaften, denen von der Kolonialmacht sou-
veräne Rechte im Bereich des Militär-, Steuer- und Verwaltungswesens verliehen
wurden, ein wichtiges Instrument der Kolonialisierung gewesen.4 Sie hatten teils
von den noch nicht vollkommen abhängigen Kolonien selbst, teils von den Kolonial-
herren bestimmte Nutzungsrechte in Bezug auf die abhängigen Gebiete erworben.5
Dabei betrafen die Konzessionen oft die Nutzung von Vorkommen wesentlicher
einheimischer Ressourcen wie etwa Öl; nicht selten ging es auch um Territorialre-
gime, etwa im Fall von Kanalkonzessionen wie beim Suez-Kanal.6 In vielen Fällen
investierten die ausländischen Unternehmen erhebliche Summen zur Ausschöpfung
ihrer Konzessionen, bauten Anlagen zur Förderung von Öl oder auch Wasserstra-
ßen; gleichzeitig verzeichneten sie horrende Gewinne.7 In dieser Zeit waren auslän-
dische Gesellschaften aus Europa auf dem Staatsgebiet des Gaststaates außerdem
durch Kapitulationsverträge ihrer heimischen Jurisdiktion unterstellt und von jener
des Gaststaates befreit worden, so dass Streitigkeiten in Bezug auf die Konzessio-
nen zwischen Kolonie und Unternehmen in der Heimat des Unternehmens nach
dem dortigen nationalen Recht gelöst wurden.8 Der Schutz der aus solchen Kon-
zessionen „Erworbenen Rechte“ (acquired rights) war keine originäre Materie des
Völkerrechts, sondern eine kollisionsrechtliche Frage, die im Recht der Staaten-
nachfolge in Bezug auf den Schutz Privater vor staatlichem Handeln Bedeutung
erlangte.9 Die historische Entstehung der Doktrin der Erworbenen Rechte schilderte
O’Connell folgendermaßen:
The doctrine of acquired rights, although not adequately defined either in literature or in
juridical or diplomatic practice, has long been accepted in international law, and has been
sanctioned by a considerable body of decisions of international and municipal tribunals.
With the passing of the patrimonial State in the seventeenth century, and the consequent
possibility of drawing a distinction between imperium and dominium, it was recognized that
only sovereignty and its incidents expired with the personality of a State. The relationship
of the inhabitants one to another, and their rights of property were recognized to remain
undisturbed. This distinction was reinforced during the nineteenth century in England by
3
Siehe hierzu bereits Teil I und Teil II. Siehe zum Ganzen Ohler, Concessions, Max Planck
Encyclopedia of Public International Law (2013), Para. 1 ff.
4
Siehe auch Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 92,
Rn. 114. Siehe oben, Kapitel 2.
5
Vgl. Anand, New States and International Law (1972), S. 32.
6
Schrijver, Sovereignty over Natural Ressources: Balancing Rights and Duties (1997), S. 34;
Ohler, Concessions, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2013), Para. 2 f.
Zu Territoriralregimen siehe auch schon Kapitel 9.
7
Vgl. Ohler, Concessions, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2013),
Para. 2 ff.
8
Anand, New States and International Law (1972), S. 23.
9
O´Connell, Recent Problems of State Succession in Relation to New States, 130 Recueil des
Cours (1970), S. 95, 135 ff.
I. Subkomitee337
the laissez-faire philosophy of ownership, and in America by the provisions of the Consti-
tution referring to the rights of property.10
Damit lag der Doktrin der Erworbenen Rechte eine westlich-liberale, individual-
rechtlich-apologetische Eigentumskonzeption zu Grunde, die im Völkerrecht durch
das Fremdenrecht – durch utopische Erwägungen der Rechtssicherheit flankiert –
geschützt wurde.11 O’Connells Begriff der Erworbenen Rechte war dabei sehr weit,
er erfasste die Rechte Privater wie auch anderer Staaten oder Internationaler Orga-
nisationen und bezog wirtschaftliche Konzessionen ebenso mit ein wie Staatsschul-
den.12 Trotz der Schwierigkeiten, Erworbene Rechte zu definieren, versuchte sich
O’Connell, dem Begriff zumindest anzunähern:
Acquired rights, therefore, as understood in international law, are any rights, corporeal or
incorporeal, properly vested in a natural or juristic person, and of an assessable monetary
value. Within the scope of such Vermögensrechte fall rights which have their basis in con-
tract no less than those relating to the ownership of real property, providing they concern an
undertaking or investment of a more or less permanent character.13
In der Debatte um Erworbene Rechte in der ILC sollten dabei insbesondere die
Erworbenen Rechte Privater aus Wirtschaftskonzessionen im Fokus stehen. Wirt-
schaftskonzessionen definierte O’Connell folgendermaßen:
An economic concession is usually a licence granted by the state to a private individual or
corporation to undertake works of public character extending over a considerable period
of time, and involving the investment of more or less large sums of capital. It may also
consist in the grant of mining or mineral and other rights over State property. To this type
of concession there is usually annexed rights of marketing and export, as well as provisions
concerning royalties. Thirdly, a concession may be merely a grant of occupation of public
land for the carrying on of some public purpose, such concession taking the form of a con-
tract between the State and the concessionaire.14
10
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 78 f., mit weiteren Nachweisen. Siehe
hierzu auch Shoyele, Acquired Rights, State Succession and the African States: Perspectives
in International Law, 10 Sri Lanka Journal of International Law (1998), S. 243, 244 ff.
11
Vgl. O´Connell, Recent Problems of State Succession in Relation to New States, 130
Recueil des Cours (1970), S. 95, 137 ff.
12
Siehe O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 106 ff.
13
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 81. Unter diesem sehr weiten Begriff
subsumierte O´Connell beispielsweise auch Gebietsabtretungen, siehe O’Connell, The Law
of State Succession (1956), S. 107.
14
O’Connell, The Law of State Succession (1956), 106.
15
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 107.
338 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
Rahmen der Theorie der Erworbenen Rechte gegen die öffentlichen Interessen des
Nachfolgerstaates abzuwägen gelte, unterlägen dabei dem Zivilrecht.16 Das Prinzip,
nach dem Erworbene Rechte zu achten seien, wurde laut O’Connell kaum bezwei-
felt; strittig seien aber seine Natur und Reichweite.17
Insbesondere über das Schicksal Erworbener Rechte im Falle der Staatennach-
folge bestand Uneinigkeit in der völkerrechtswissenschaftlichen Literatur. Erwor-
bene Rechte sollten nach in der westlichen Völkerrechtsliteratur bis Anfang des 20.
Jahrhunderts weit verbreiteter Ansicht nicht von Wechseln der Souveränität berührt
werden.18 Vielfach war davon ausgegangen worden, dass die Inhaber Erworbener
Rechte – nicht nur in Fällen der Staatennachfolge – nicht vom Gaststaat enteignet
werden dürften; eine Enteignung galt aus dieser Perspektive als rechtswidrig und
löste Schadensersatzansprüche nach dem Recht der Staatenverantwortlichkeit aus,
die im Rahmen diplomatischen Schutzes durch den Heimatstaat geltend gemacht
werden konnten.19 Durch das Fremdenrecht, das Recht der Staatenverantwortlich-
keit und das Rechtsinstitut des diplomatischen Schutzes waren die Rechte Privater
also lange vor der völkerrechtlichen Geltung menschenrechtlicher Standards zur
völkerrechtlichen Materie erklärt und durch das Völkerrecht abgestützt worden.
Der Umgang vieler Völkerrechtler mit der Frage Erworbener Rechte hatte sich
nach dem Ersten Weltkrieg gewandelt. So war O’Connell der Ansicht, dass Erwor-
bene Rechte im Falle der Staatennachfolge nicht in ihrer ursprünglichen Form – der
Konzession – fortbestünden, da nicht die Rechtsbeziehung zwischen Vorgängerstaat
und Investor auf den Nachfolgerstaat übergehe, sondern lediglich die Interessen des
Investors nun den Nachfolgerstaat betreffen würden.20 Der Vertrag selbst hingegen
16
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 82, 107. Allerdings müssten die erwor-
benen Rechte auch ordnungsgemäß und gutgläubig erworben worden sein, wobei hierfür
das nationale Recht des Vorgängerstaates ausschlaggebend sei. O’Connell, The Law of State
Succession (1956), S. 83, 134.
17
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 99. Siehe auch den German Settlers
Case, in welchem der StIGH die Existenz erworbener Rechte feststellte, jedoch nicht zu
prüfen hatte, unter welchen Umständen ein Staat diese auf Grund seiner souveränen Gesetz-
gebungsbefugnis abschaffen konnte. PCIJ, PCIJ Series B No. 6, S. 5, 5 ff. Vgl. auch PCIJ,
Certain German Interests in Polish Upper Silesia, Judgment (Merits) (25. Mai 1926), PCIJ
Series A No. 7, S. 3, 22, 36.
18
Lauterpacht, Private Law Sources and Analogies of International Law: With Special Refe-
rence to International Arbitration (1927), S. 125 ff.; Feilchenfeld, Public Debts and State
Succession (1931), S. 396 ff. Vgl. auch Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of
International Law (2008), S. 213.
19
Diese Position bezogen die USA gegenüber Mexiko zur Zeit der Ausarbeitung der mexi-
kanischen Verfassung von 1917, durch welche Land und Ressourcen zu Staatseigentum und
damit amerikanischen Staatbürgern ihre erworbenen Rechte entzogen wurden. Siehe Fran-
cioni, Compensation for Nationalisation of Foreign Property: The Borderline between Law
and Equity, 24 International and Comparative Law Quarterly (1975), S. 255, 259 f. Siehe
auch O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 100 f.
20
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 99 f.
I. Subkomitee339
Change of sovereignty often involves corresponding changes in the social and economic
structure of the community, and a successor State must focus the principle of respect for
acquired rights against the demands made by these changes.25
Ein Nachfolgerstaat konnte daher für O’Connell nicht dazu gezwungen werden,
sich an Konzessionen zu halten, welche im Widerspruch zu seinen öffentlichen Inte-
ressen oder der Umsetzung seiner Vorstellungen von gesellschaftlicher Entwick-
lung stünden.26 Der Schutz Erworbener Rechte nach dem Fremdenrecht war nach
dieser Theorie nicht mehr absolut und nicht jede Enteignung Erworbener Rechts
löste folglich das Recht der Staatenverantwortlichkeit aus.
Dabei war jedoch strittig, welche Kriterien eine Enteignung Erworbener
Rechte nach fremdenrechtlichen Standards erfüllen musste.27 In der diplomati-
schen Praxis des Westens war hier zum Teil die Einhaltung eines völkerrechtlichen
21
Insofern handelte es sich um eine Ausnahme von der Kontinuitätstheorie, vgl. O’Connell,
The Law of State Succession (1956), 130. O´Connell schrieb:
„In placing itself into a relationship with this factual situation it occurs a new legal duty to
the title-holder, which duty is not necessarily coterminous with that which was previously owed
by the old State. An acquired right becomes in the act of the change of sovereignty subject to
the law of the successor State.” O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 100.
O´Connell stellte hier letztlich philosophische Gerechtigkeitserwägungen an, die sich
seiner Ansicht nach im Recht der Staatennachfolge manifestierten. Es ging ihm dabei jedoch
nur um einen gerechten Ausgleich mit Blick auf die erworbenen Rechte selbst; der sie begrün-
dende Vertrag bleib dabei außer Betracht. So ging O´Connell etwa davon aus, dass es für den
Fortbestand von Wirtschaftskonzessionen im Falle der Staatennachfolge unerheblich sei, ob
diese den öffentlichen Interessen des Nachfolgerstaates widersprachen oder ob sie dessen ver-
tragliche Verpflichtungen verletzten. O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 134.
22
Dies waren insbesondere die Staaten Lateinamerikas, die UdSSR sowie viele Staaten in
Afrika. Siehe hierzu sogleich.
23
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 100 f.
24
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 101.
25
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 101.
26
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 130 f.
27
Außerdem umstritten war die Frage, ob neben dem Heimatstaat auch die betroffenen Indi-
viduen Rechtsträger fremdenrchtlicher Ansprüche waren. Noch kurz nach Ende des Zweiten
Weltkrieges war man davon ausgegangen, dass Individuen keine Völkerrechtssubjekte sein
können und die erworbenen Rechte Privater daher letztlich nur Rechte ihres Heimatstaates
gegenüber dem Gaststaat seien. Jessup, Responsibility of States for Injuries to Individuals,
340 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
Minimumstandards, der sich aus dem Umgang der zivilisierten Nationen mit
Fremden ergeben solle, gefordert worden.28 Dieser setzte voraus, dass die Enteig-
nung für öffentliche Zwecke erfolge, nicht diskriminierend sei und dass der Ent-
eignete hierfür entschädigt werden solle.29 Allgemein wurde der Mindeststandard
dahingehend interpretiert, dass volle Kompensation für die Enteignung Erworbener
Rechte zu leisten sei.30 Eine Konkretisierung erfuhr die Theorie vom völkerrecht-
lichen Mindeststandard durch die Hull-Formel, benannt nach dem Staatssekre-
tär der Vereinigten Staaten Cordell Hull, der anlässlich der Verstaatlichungen in
Mexiko 1938 „prompt, adequat and effective“ Entschädigung gefordert hatte; sei
46 Columbia Law Review (1946), S. 903, 903. Siehe hierzu auch Kelly, Nationalization:
Effective Compensation and International Law, 4 Virginia Journal of International Law
(1964), S. 97, 98. Für O´Connell galt Mitte der 1950er-Jahre bereits als anerkannt, dass der
Schutz erworbener Rechte grundsätzlich von allen Individuen gegenüber jedem Staat geltend
gemacht werden könne; es gebe nur bis dato völkerrechtlich ausschließlich den Schutz-
mechanismus des diplomatischen Schutzes, den Heimatstaaten gegenüber dem Gaststaat
geltend machen könnten.
„The fact that a right cannot be enforced does not mean that it does not exist.“
Auch aus der act of state-Doktrin ergebe sich nichts anderes:
„The doctrine of act of State is one of English municipal law. It merely denies the English
court jurisdiction to inquire into the consequences of acts of the British Government which
are inseparable from the extension of its sovereignty. The court is not entitled to ask if such
acts are ‘just or unjust, politic or impolitic’, or what legal rights and duties have been carried
over in the change of sovereignty. The doctrine is not intended, however, to deny a rule of
international law.” O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 85 ff.
28
Auf einen solchen Mindeststandard hatten sich Frankreich, Großbritannien, die USA und
Deutschland berufen, nachdem Italien 1917 durch die Errichtung eines Versicherungsmono-
pols den diesbezüglichen Handlungsspielraum ausländischer Gesellschaften beschnitten
hatte. Siehe Francioni, Compensation for Nationalisation of Foreign Property: The Bord-
erline between Law and Equity, 24 International and Comparative Law Quarterly (1975),
S. 255, 262.
29
Muller, Compensation for Nationalization: A North-South Dialogue, 19 Columbia Journal
of Transnational Law (1981), S. 35, 36. Siehe Visser, The Prinicple of Permanent Soverei-
gnty over Natural Ressource and the Nationalisation of Foreign Interests, 21 Comparative
and International Law Journal of South Africa (1988), S. 76, 80; Schrijver, Sovereignty over
Natural Ressources: Balancing Rights and Duties (1997), S. 176 f.
30
Dieser Minimumstandard war jedoch in die Kritik geraten:
„Apart from the serious danger of maintaining in the present stage of evolution of inter-
national law a concept of ‘civilised nation’ – given its originally restrictive sense and the
old connotations that make it closely related to such ideas as colonialism and capitulation
regimes – the doctrine of ‘minimum standard’ does, in fact, beg the question that it purports
to answer. This is because it attempts to resolve in a positive way the problem whether there is
in international law an obligation to indemnify an alien victim of expropriation, by referring
to an international standard, which, instead of being the evidence of such an obligation, is the
norm of conduct which has to be proved. That compensation, in a given form and amount, is
part of a minimum standard of treatment of aliens is exactly the quid demonstrandum.” Fran-
cioni, Compensation for Nationalisation of Foreign Property: The Borderline between Law
and Equity, 24 International and Comparative Law Quarterly (1975), S. 255, 262 f.
I. Subkomitee341
eine derartige Kompensation vom Gaststaat nicht zu leisten, so dürften keine Ent-
eignungen vorgenommen werden.31 Durch ihr Erstarken zur Wirtschaftsgroßmacht
benötigten die USA zunehmend Energie und Rohstoffe; vor diesem Hintergrund ent-
stand der Versuch der USA, die Hull-Formel international zu etablieren.32 Enteignun-
gen waren für sie eine ideologische und – weil im Widerspruch zum Kapitalismus
stehend – unzulässige Verschmelzung von Politik und Wirtschaft.33 Die Anforderun-
gen an die zu zahlende Kompensation fielen jedoch in der westlichen Literatur eher
hinter jenen der Hull-Formel zurück. O’Connell stellte beispielsweise an die Ent-
eignung keine besonderen Bedingungen jenseits der Leistung von Kompensation;
er erwog zusätzlich allenfalls ein Diskriminierungsverbot.34 Rechtliche Grundlage
dieser Kompensationspflicht war für O’Connell wie für viele zeitgenössische Völker-
rechtler das Konzept der ungerechtfertigten Bereicherung, das für das wirtschaftliche
Opfer des Investors einen gerechten Ausgleich bringen solle.35 Der Konzessionär
habe Geld und Arbeit investiert und Verträge mit Dritten abgeschlossen im Vertrauen
darauf, dass sich seine Bemühungen langfristig für ihn finanziell lohnen würden;
diese Bemühungen müsse der Nachfolgerstaat berücksichtigen.36 Dieser völkerrecht-
liche Entschädigungsanspruch des Konzessionärs im Falle einer Enteignung galt für
O’Connell ebenso wie das grundsätzliche Fortbestehen der Erworbenen Rechte im
Falle der Staatennachfolge völlig unabhängig vom Inhalt des Konzessionsvertrages
und den Umständen seines Vertragsschlusses sowie der Art der Staatennachfolge.37
31
Francioni, Compensation for Nationalisation of Foreign Property: The Borderline between
Law and Equity, 24 International and Comparative Law Quarterly (1975), S. 255, 263 mit
weiteren Nachweisen.
32
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 106 f.
33
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 129 f. Pahuja meint, für die USA gehörten Rohstoffe der gesam-
ten Welt. Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the
Politics of Universality (2011), S. 139. Pahuja führt hierfür den Wortlaut der Atlantic Charta
zwischen USA und UK von 1941, des jeweilgen Artikel 1 der Articles of Agreement der
Inetrnational Bank of Reonstruction von 1944 und des International Monetary Fund von
1944 sowie die Präambel des GATT an. Raganathan sieht das Konzept des Gemeinsamen
Erbes der Menschheit als Gegenspieler zur PSNR, Raganathan, The Battle for International
Law in the Decolonization Era, 1955-1975, Workshop, 5. – 7. November 2015 in Berlin.
34
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 103.
35
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 103 f.
36
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 131. O’Connell konkretisiert dies fol-
gendermaßen: „The injustice is relieved by a payment which is reasonable and approximates
to the lowest market value of the interest. This is the standard established in diplomatic
practice, and it is as yet only rudimentary.“ Dabei müsse eine solche Enteignung spezifisch
und ausdrücklich durch ein eng auszulegendes Gesetz erfolgen. O’Connell, The Law of State
Succession (1956), S. 101, 104.
37
„The doctrine concerning the ‘odious’ character of certain concessions, which the United
States tended to develop after the Spanish-American War, has not been sanctioned by sub-
sequent practice, and remains as vague as when it was enunciated. The principle of restitution
342 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
Alle genannten Ansätze setzten sich jedoch einem gemeinsamen Kritikpunkt aus,
den der kubanische Völkerrechtler F. V. García-Amador, selbst Mitglied der ILC,
folgendermaßen formulierte:
Clearly, the rigid terms in which the doctrine of acquired rights purports to resolve the
issue of compensation for the taking of foreign property reflect a notion of equity which
has been influenced and shaped by an economic and social philosophy of an individuali-
stic nature. It takes into account ownership not in its social function, but exclusively as an
object of an absolute right of the individual. There is no doubt that its value remains limited
to a time when private ownership was the only conceivable postulate of socio-economic
organisation.38
is applicable to ‘odious’ concessions as much as to any others because the works undertaken
are useful to the successor State and do in fact enrich it. The origin of the concession is thus
immaterial. […] Similar reasoning disposes of the argument that concessions in underde-
veloped lands need not to be respected. Such concessions, it is true, may have been granted
precisely because the underdeveloped country was incapable of exploiting its own natural
resources. However, as the successor State is enriched by the work done it owes a duty of
compensation.” O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 135.
38
Francioni, Compensation for Nationalisation of Foreign Property: The Borderline between
Law and Equity, 24 International and Comparative Law Quarterly (1975), S. 255, 262.
39
Der diplomatische Schutz wurde von den Staaten Lateinamerikas als missbräuchlich emp-
funden, da er von europäischen Mächten immer wieder gewaltsam durchgesetzt worden war.
Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die Drago-Doktrin, benannt nach dem argentini-
schen Außenminister Luis M. Drago, nach der beispielsweise öffentliche Schulden nicht
als ausreichender Anlass für eine Intervention europäischer Staaten in Amerika angese-
hen wurden. García-Amador, The Proposed New International Economic Order: A New
Approach to the Law Governing Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of The Ame-
ricas (1980), S. 1, 2 ff.
40
Die Calvo-Doktrin sollte durchgesetzt werden, indem in Investitionsschutzverträgen der
diplomatische Schutz des Investors durch seinen Heimatstaat abbedungen wurde. Siehe
Oschmann, Calvo-Doktrin und Calvo-Klauseln: Wechselnde Realitäten im Internationalen
I. Subkomitee343
lateinamerikanischer Staaten gewesen, die Frage der Erworbenen Rechte aus dem
Völkerrecht heraus in die nationale Rechtsordnung zu ziehen; sie stellte damit nicht
nur einen Gegenentwurf zur Hull-Doktrin, sondern zu der Internationalisierung
Erworbener Rechte im Fremdenrecht allgemein und damit den Versuch einer neuen
rechtlichen Grenzziehung dar.41 Ähnlich, wie das Selbstbestimmungsrecht von Völ-
kerrechtlern aus Nord und Süd argumentativ zwischen Recht und Politik hin und
her verschoben wurde,42 entbrannte hier im Rahmen des Völkerrechts eine Debatte,
welche die Erworbenen Rechte mal ins Völkerrecht zog und mal in die nationalen
Rechtsordnungen drückte, je nachdem, wo die Akteure eher glaubten, ihren Willen
durchsetzen zu können. Dabei favorisierte der Westen überwiegend eine Behand-
lung der Frage Erworbener Rechte im Völkerrecht, wo er durch die koloniale Praxis
die fremdenrechtlichen Standards in der Hand gehabt hatte. Völkerrechtler in der
Zweiten und Dritten Welt tendierten demgegenüber wie die Staaten Lateinamerikas
zu einer nationalen Behandlung dieser Fragen:
Im 20. Jahrhundert nahm die Zahl der Verstaatlichungen als weniger direkte und
individuelle Form der Enteignung rasant zu.43 Die sowjetischen Verstaatlichungs-
programme nach der Oktoberrevolution 1917 waren angesichts ihrer Zieles, ein
kommunistisches System zu errichten, deutlich stärker flächendeckend als jene in
Lateinamerika.44 Die UdSSR weigerte sich dementsprechend grundsätzlich, Ent-
schädigung zu leisten.45 Hiervon inspiriert entwickelte sich eine Strömung in der
britischen, französischen und italienischen Literatur, welche enteigneten Fremden
keine Entschädigung zuerkannte.46 Ein zeitgenössischer Beobachter schrieb:
Equity is in such doctrine identified with the principles of socialist justice; in that view, the
suppression of private property, in so far as it implies a restitution of private wealth to the
collectivity from which it had been arbitrarily taken, is an act of justice that does not entail
any sort of reparation.47
Auch für viele Staaten in der Dritten Welt wurden Enteignungen zum Mittel, um
den Wohlstand in der Welt gerechter zu verteilen.48 Sie standen damit im Zeichen
einer utopischen Gerechtigkeitsidee. So führte etwa die Verstaatlichung der Anglo-
Iranian Oil Company im Jahr 1951 zum ersten großen Konflikt zwischen Nord und
Süd seit dem Zweiten Weltkrieg.49 Dabei knüpften viele Völkerrechtler aus den
neuen Staaten an die lateinamerikanische Calvo-Doktrin an und versuchten, die
Frage der Entschädigung ins nationale Recht der Heimatstaaten zu verschieben.
Interessant ist dabei, dass die Völkerrechtler aus den neuen Staaten diesen Teil der
lateinamerikanischen Dekolonialisierungsstrategie übernahmen, während sie sich
von deren Regionalismus abgegrenzt hatten.50 So hatte beispielsweise das AALCC
bei seiner vierten Sitzung im Jahr 1961 nach längerer Debatte eine Reihe von Prin-
zipen zur Aufnahme und Behandlung Fremder angenommen, unter denen sich auch
eine Regelung zur Enteignung fand:
Article 12
(I) The State shall, however, have the right to acquire, expropriate or nationalise the
property of an alien. Compensation shall be paid for such acquisition, expropriation or
nationalization in accordance with local laws, regulations and orders.51
Hiernach hatten die Staaten also das Recht, Erworbene Rechte zu enteignen;
für die Frage der Entschädigung war dabei das nationale Recht des Gaststaates
ausschlaggebend.
47
„Again it is on the basis of equity that this dogmatic position, which appears as a corol-
lary of Marxist philosophy, has been softened on both the practical and the theoretical level.
The cogent need to reconcile, in the name of peaceful co-existence, Marxist principles of
socio-economic organisation with other systems based on respect for private ownership has
led socialist writers to acknowledge the „equitable expectations“ of the investor's State as a
factor constituting in itself a minimum of world public order, beyond the conflict of political
ideologies.” Francioni, Compensation for Nationalisation of Foreign Property: The Borderline
between Law and Equity, 24 International and Comparative Law Quarterly (1975), S. 255, 268.
48
Muller, Compensation for Nationalization: A North-South Dialogue, 19 Columbia Journal
of Transnational Law (1981), S. 35, 45.
49
Schrijver, Sovereignty over Natural Ressources: Balancing Rights and Duties (1997), S. 34.
Zu diesem Konflikt zwischen Iran und Großbritannien siehe auch ICJ, ICJ-Reports 1952,
S. 93, 93 ff., in dem der IGH seine Jurisdiktion verneint hatte, da der in Rede stehende Kon-
zessionsvertrag nicht unter Artikel 38 Absatz 1 IGH-Statut falle.
50
Siehe Teil I.
51
Zitiert nach García-Amador/Sohn/Baxter (Hrsg.), Recent Codification of the Law of State
Responsibility for Injuries to Aliens (1974), S. 374. Dabei hatte Japan gegen diese Regelung
gestimmt, da sie nicht von gerechter Entschädigung spreche; Pakistan hielt jede Form von
Eigentumsentzug nur im nationalen Interesse oder aus Gemeinzweck für zulässig.
I. Subkomitee345
Diese Position versuchten die neuen Staaten zunächst eher vorsichtig durchzuset-
zen. Dies illustrieren insbesondere Generalversammlungsresolutionen zur PSNR,
bei denen die Frage der Entschädigung bei Enteignung eine wesentliche Rolle
spielte. In der 1962 verabschiedeten Resolution 1803 (XVII)52 wurde neben dem
nationalen Recht und als Kompromiss entgegen Bestrebungen der UdSSR auch
internationales Recht als anwendbares Recht für Verträge mit ausländischen Inves-
toren genannt.53 Paragraph 4 der Resolution lautete:
Beide Rechtsordnungen sollten also auch dann Anwendung finden, wenn der Gast-
staat auf Grund einer rechtmäßigen Enteignung eine angemessene Entschädigung
festgesetzt hatte. Trotz der vagen Formulierungen sahen Völkerrechtler aus Nord
und Süd in dieser Resolution die traditionellen völkerrechtlichen Regeln zu Ent-
eignung und Entschädigung bestätigt.55 Die algerische Delegation wollte unter
anderem mit Unterstützung Jugoslawiens in der Präambel der Resolution klarstel-
len, dass selbige nicht für Rechte anwendbar sei, die in Bezug auf eine ehemalige
Kolonie vor deren Unabhängigkeit angeblich erworben worden seien; nachdem
dieser Versuch am Widerstand von Großbritannien und den USA gescheitert war,
einigte man sich darauf, dass die Resolution Fälle der Staatennachfolge unberührt
lassen sollte.56 Paragraph 5 der Präambel der Resolution bekam daher folgenden
Wortlaut:
52
Siehe hierzu bereits Kapitel 9.
53
GA, UN Doc A/Res/1803 (XVII) (14. Dezember 1962); García-Amador, The Proposed
New International Economic Order: A New Approach to the Law Governing Nationalization
and Compensation, 12 Lawyer of The Americas (1980), S. 1, 29 f.
54
GA, UN Doc A/Res/1803 (XVII) (14. Dezember 1962), Rn. 4.
55
García-Amador, The Proposed New International Economic Order: A New Approach to the
Law Governing Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of The Americas (1980), S. 1,
21; Schwebel, The Story of the U.N.’s Declaration on Permanent Sovereignty over Natural
Ressources, 49 American Bar Association Journal (1963), S. 463, 469.
56
Siehe hierzu auch die Ausführungen bei Schwebel, The Story of the U.N.’s Declaration
on Permanent Sovereignty over Natural Ressources, 49 American Bar Association Journal
(1963), S. 463, 468, sowie bei Gess, Permanent Sovereignty over Natural Ressources: An
Analytical Review of the United Nations Declaration and its Genesis, 13 International and
Comparative Law Quarterly (1964), S. 398, 443 ff. Vgl. auch mit der Position von Bedjaoui
unten.
346 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
Considering that nothing in paragraph 4 below in any way prejudices the position of any
Member State on any aspect of the question of the rights and obligations of successor States
and Governments in respect of property acquired before the accession to complete soverei-
gnty of countries formerly under colonial rule […].57
Bereits zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich also deutlich eine Uneinigkeit zwischen
den Lagern über die Voraussetzungen der Enteignung sowie das anwendbare Recht
an. Im Subkomitee sah Rosenne in den wirtschaftlichen Rechten von Ausländern in
Folge dessen eines der wesentlichen Probleme des Rechts der Staatennachfolge.58
Dies ist besonders bemerkenswert, da sich die ILC schon Jahre vor der Gründung
des Subkomitees zur Staatennachfolge im Rahmen des Rechts der Staatenverant-
wortlichkeit mit Erworbenen Rechten auseinandergesetzt hatte:
García-Amador, der der erste Sonderberichterstatter der ILC für das Recht der
Staatenverantwortlichkeit gewesen war, betrachtete die Haltung der Völkerrechtler
aus der Dritten Welt nach dem Zweiten Weltkrieg in Bezug auf Erworbene Rechte
als Weiterentwicklung der alten lateinamerikanischen Position, wobei die neuen
Staaten nun nicht mehr vorrangig das Institut des diplomatischen Schutzes kritisie-
ren würden, sondern auch das materielle Recht der Staatenverantwortlichkeit für die
Verletzung von Fremdenrecht in Frage stellten.59 Dementsprechend fokussierte sich
García-Amador in seinen sechs Berichten, die er in den Jahren 1956 bis 1961 an
die ILC richtete, auf die Staatenverantwortlichkeit für Verstöße gegen Fremdenrecht
und insbesondere auf Eingriffe in das Eigentum von ausländischen Investoren.60 Für
García-Amador war die Debatte um Enteignung und Entschädigung dabei eng mit
der kritischen Haltung der neuen Staaten gegenüber dem Recht der Staatenverant-
wortlichkeit verknüpft.61 Tatsächlich übten viele Völkerrechtler in der Dritten Welt
Kritik an diesem Völkerrechtsgebiet. So meinte etwa Sinha:
In general, many states of Asia and Africa are critical of the institution of state responsi-
bility. They believe that it was established not merely without reference to small states but
against them. It was based upon unequal relations between great powers and small states
in the nineteenth century, and the inequality of strength was translated in an inequality of
rights.62
57
GA, UN Doc A/Res/1803 (XVII) (14. Dezember 1962), Präambel.
58
Rosenne, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 285, 287.
59
García-Amador, The Proposed New International Economic Order: A New Approach to the
Law Governing Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of The Americas (1980), S. 1, 9.
60
García-Amador, UN Doc A/CN.4/96, ILC-Yearbook (1956, II), S. 173 ff.; ders., UN Doc
A/CN.4/106, ILC-Yearbook (1957, II), S. 104 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/111, ILC-Yearbook
(1958, II), S. 47 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/119, ILC-Yearbook (1959, II), S. 1 ff.; ders., UN
Doc A/CN.4/125 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1960, II), S. 41 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/134
and Add. 1, ILC-Yearbook (1961, II), S. 1 ff. Siehe auch García-Amador/Sohn/Baxter
(Hrsg.), Recent Codification of the Law of State Responsibility for Injuries to Aliens (1974).
61
García-Amador, The Proposed New International Economic Order: A New Approach to the
Law Governing Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of The Americas (1980), S. 1, 8 ff.
62
Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967), S. 92.
I. Subkomitee347
Der indische Völkerrechtler Guha Roy formulierte die Kritik am Recht der Staaten-
verantwortlichkeit aus der Perspektive der Dritten Welt folgendermaßen:
First, a national of one state, going out to another in search of wealth or for any other
purpose entirely at his own risk, may well be left to the consequences of his own ventures,
even in countries known to be dangerous. For international law to concern itself with his
protection in a state without that state’s consent amounts to an infringement of that state’s
sovereignty. Secondly, a standard open only to aliens but denied to a state’s own citizens
inevitably widens the gulf between citizens and aliens and thus hampers, rather than helps,
free intercourse among peoples of different states. Thirdly, the standard is rather vague and
indefinite. Fourthly, the very introduction of an external yardstick for the internal machi-
nery of justice is apt to be looked upon as an affront to the national system, whether or not
it is below the international standard. Fifthly, a different standard of justice for aliens results
in a twofold differentiation in a state where the internal standard is below the international
standard. Its citizens as aliens in other states are entitled to a higher standard than their
fellow citizens at home. Again, the citizens of other states as aliens in it are also entitled to
a better standard than its own citizens.63
Aber auch progressivere westliche Autoren wie Jessup kritisierten das Recht der
Staatenverantwortlichkeit als „an aspect of the history of ‘imperialism’ and ‘dollar
diplomacy’.“64 Insgesamt erschien die Frage Erworbener Rechte damit zu den strit-
tigsten Materien im Recht der Staatennachfolge zu gehören.
Der Grund, warum viele Völkerrechtler die Frage Erworbener Rechte im Zusam-
menhang mit dem Recht der Staatenverantwortlichkeit diskutierten, lag in einem –
damals durchaus verbreiteten – materiell-rechtlichen Verständnis des Themas der
Staatenverantwortlichkeit, dass deutlich weiter in die verschiedenen Völkerteil-
rechtsgebiete hineinreichte als unser heutiges System sekundärrechtlicher Rege-
lungen.65 Auch García-Amador folgte als Sonderberichterstatter der ILC für das
Recht der Staatenverantwortlichkeit diesem Ansatz und propagierte einen interna-
tionalen Mindeststandard für die Behandlung aller Individuen unabhängig von ihrer
Staatsangehörigkeit flankiert von individualrechtlichen Durchsetzungsmechanis-
men.66 García-Amadors Berichte erweckten jedoch kaum Aufmerksamkeit in der
ILC, da diese zum einen mit der Ausarbeitung anderer Themen beschäftigt war
und sich zum anderen schon in der Debatte über García-Amadors ersten Bericht
gezeigt hatte, dass keine Aussicht auf Einigung über solche materiell-rechtlichen
63
Roy, Is the Law of Responsibility of States for Injuries to Aliens a Part of Universal Inter-
national Law?, 55 The American Journal of International Law (1961), S. 863, 889.
64
Jessup, Responsibility of States for Injuries to Individuals, 46 Columbia Law Review
(1946), S. 903, 906.
65
Weiler, An Historical Analysis on the Function of the Minimum Standard of Treatment in
International Investment Law, in Weiler/Baetens (Hrsg.), New Directions in International
Economic Law: In Memoriam Thomas Wälde (2001), S. 335, 357.
66
Siehe hierzu auch Weiler, An Historical Analysis on the Function of the Minimum Standard
of Treatment in International Investment Law, in Weiler/Baetens (Hrsg.), New Directions in
International Economic Law: In Memoriam Thomas Wälde (2001), S. 335, 357.
348 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
[T]hese allegedly legally established situation, mainly concessions […] (which are acts of
colonization) granted by the former sovereign Power to foreign States, to corporate bodies
set up under their private law (generally large companies) and to their nationals, often repre-
sent a burdensome colonial heritage detrimental to the economic freedom of the emancipa-
ted State. Consequently, this provisional respect allegedly due to rights acquired by virtue
of former treaties is also a dangerous influence for self-determination and one that cannot
be uniformly regulated.72
67
Siehe Crawford, State Responsibility, Max Planck Encyclopedia of Public International
Law (2006), Rn. 6.
68
Jimenez de Aréchaga, UN Doc A/5509, ILC-Yearbook (1963, II), S. 237 ff.
69
Ago, UN Doc A/CN.4/217, Corr. 1 and Add. 1ILC-Yearbook (1969, II), S. 125-156, 127,
Rn. 5 f.; siehe Crawford, State Responsibility, Max Planck Encyclopedia of Public Interna-
tional law (2006), Rn. 7.
70
Castrén, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 290, 292.
71
Elias, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 282, 282, Rn. 3.
72
Bartoš, UN Doc A/CN.4/160 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 293, 294.
II. Bedjaouis erster Bericht und die Debatte in der ILC349
Letztlich entschied sich das Subkomitee, das Thema Rechte aus Konzessionen auf
die Agenda der ILC zum Recht der Staatennachfolge zu setzen.73
Bereits in seinem ersten Bericht, den Bedjaoui im Jahr 1968 vorlegte, fand sich ein
Abschnitt zum Thema Erworbene Rechte.74 Dabei ging Bedjaoui zunächst und ohne
Auswertung der einschlägigen Literatur und Staatenpraxis davon aus, dass nach
dem traditionellen Recht der Staatenverantwortlichkeit Erworbene Rechte dem
Nachfolgerstaat die Pflicht auferlegten, vom Vorgängerstaat erteilte Konzessionen
zu achten.75 Zwar definierte Bedjaoui den Begriff der Erworbenen Rechte weder in
seinem ersten Bericht noch in einem der folgenden Berichte;76 tatsächlich beschäf-
tigte er sich jedoch hauptsächlich mit solchen Erworbenen Rechten, die auf Ver-
trägen beruhten, welche O’Connell als Wirtschaftskonzessionen bezeichnet hatte.77
Allerdings hielt Bedjaoui diese Norm des traditionellen Völkerrechts im Hinblick
auf die Dekolonialisierung für fraglich: So meinte Bedjaoui, dass die Rechte Priva-
ter nach der gegenwärtig im Zusammenhang mit der Dekolonialisierung vertretenen
Ansicht nicht als Erworbene Rechte auf den neuen Staat übergingen, sondern diesen
nur im Falle dessen Einverständnisses binden sollten; im Übrigen bleibe allenfalls
das Recht auf Kompensation.78 Zwar gäbe es verschiedentlich Verträge, welche die
Fortwirkung solcher Erworbenen Rechte festsetzten, so etwa der Devolutionsver-
trag zwischen Frankreich und Algerien;79 solche Verträge bestünden aber größten-
teils nur auf dem Papier. So seien beispielsweise Algeriens Petroleum-Probleme
in einem freieren Rahmen als jenem der Erworbenen Rechte gelöst worden.80 Für
Bedjaoui lag der Fokus im Recht der Staatennachfolge im Zusammenhang mit der
Dekolonialisierung nicht auf den Interessen der privaten Inverstoren, sondern auf
73
Sub-Committee on Succession of States and Governments, UN Doc A/CN.4/160 and
Corr. 1, ILC-Yearbook (1963, II), S. 260, 261, Rn. 15.
74
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 115 ff.,
Rn. 138 ff.
75
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 115, Rn. 138.
76
Siehe auch Bedjaoui, Problemès Récents de Succession d’Etats dans les Etats Nouveaux,
130 Recueil des Cours (1970, II), S. 457, 457 ff., in dem er den Begriff ebensowenig definiert.
77
Es ging für Bedjaoui stets um im Zusammenhang mit der Erteilung von Konzessionen
entstandene Rechte. Er beschränkte sich hierbei jedoch nicht immer auf die Rechte natürli-
cher und juristischer Personen, sondern erfasste zumTeil auch jene von Staaten, wobei diese
Aspekte nicht im Fokus der vorliegenden Studie liegen.
78
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 115, Rn. 139.
79
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 115, Rn. 141.
80
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 115, Rn. 142.
Siehe hierzu sogleich näher.
350 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
dem souveränen Willen des neuen Staates.81 Da die Konzessionen unter der ehema-
ligen nationalen Rechtsordnung erworben wurden und diese nach der Dekoloniali-
sierung nicht fort galt, könnten sie den neuen Staat laut Bedjaoui nicht binden.82
Bedjaoui hielt aus den genannten Gründen die Enteignung ausländischer Investoren
für ein unumstrittenes Recht der neuen Staaten und lehnte damit – wie O’Connell –
den absoluten Schutz Erworbener Rechte ab.83 Aber auch die in diesem Zusammen-
hang regelmäßig vorgebrachte Forderung des Konzessionärs nach Entschädigung
für die Enteignung hielt Bedjaoui im kolonialen Kontext für nicht gerechtfertigt.84
Für Bedjaoui waren die ökonomischen Umstände, unter denen die Konzession
gewährt wurde, wie auch das Bedürfnis des neuen Staates nach einer eigenen Wirt-
schaftspolitik maßgeblich.85 Durch eine Kompensationspflicht der neuen Staaten
würde außerdem ihre wirtschaftliche Entwicklung stark gehemmt.86 Wenn über-
haupt eine Pflicht des neuen Staates zu Kompensation bestünde, so müssten aus
Gerechtigkeitsgründen die Posten des Konzessionsgebers ebenso wie jene des Kon-
zessionärs Berücksichtigung finden:
This approach to the question would make it necessary for all profits earned by concessio-
nary enterprises, the reinvestment of which outside the territory was prejudicial to the latter,
to be taken into account in any dispute concerning compensation.87
81
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 115, Rn. 143.
82
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 115, Rn. 143.
83
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 115 f., Rn. 144 f.
84
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 115 f., Rn. 144.
85
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 116, Rn. 144.
86
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 116, Rn. 144 ff.
87
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 116, Rn. 146.
Bedjaoui ergänzt in Fn. 57: „A similar consideration led the Algerian Government to call
on mining companies to repatriate their assets situated outside Algeria before paying any
compensation for the nationalization of nine mining companies, carried out pursuant to Ordi-
nance No. 66-93 of 6 May 1966.”
88
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 115, Rn. 143.
89
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 115, Rn. 143.
Siehe hierzu bereits oben.
II. Bedjaouis erster Bericht und die Debatte in der ILC351
werden dürfen.90 Bedjaoui ging es hier zum einen darum, auch andere als die
westliche individual-rechtliche Eigentumskonzeption in die Erwägungen mit ein-
zuschließen. Solche Erwägungen stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis
zur PSNR, die die Rechte an Ressourcen einem bestimmten Volk zuordnet.91 Zum
anderen deutete er an, dass die Ressourcen, auf die sich die Konzessionen bezogen,
vor der Kolonialisierung dem jeweiligen Volk gehört hätten und es angesichts der
PSNR fragwürdig sei, den späteren Entzug dieser Ressourcen durch die Kolonial-
mächte aufrechtzuerhalten.92 Bedjaouis Idee der PSNR und die sich hieraus für die
Dritte Welt ergebenden Konsequenzen für das Investitionsschutzrecht waren damit
geprägt durch Marxismus und Dependenztheorie, basierten jedoch gleichzeitig auf
der Idee des Eigentums von einem Volk, Land oder Staat an diesen Ressourcen.93
Bereits in diesen frühen Ausführungen Bedjaouis wird deutlich, dass er den ehema-
ligen Kolonien ein Recht zu entschädigungslosen Enteignung Erworbener Rechte
zusprach.
Bedjaoui wollte dabei jedoch die Inverstoren bzw. ihre Heimatstaaten nicht völlig
rechtlos stellen. Ein zukunftsweisendes Beispiel war für Bedjaoui der Ausgang des
Konflikts zwischen Frankreich und Algerien um algerisches Erdöl, in dem Algerien
Frankreich vertraglich einerseits die Achtung der Erworbenen Rechte französischer
Unternehmen zugesagt hatte, aber andererseits auch dem Recht des algerischen
Volkes auf Ausbeutung ihrer natürlichen Reichtümer Genüge getan wurde, indem
durch eine neues Fiskalregime der algerischen Regierung das Eigentum Algeriens
an seinen Ressourcen anerkannt und deren lokale Weiterverarbeitung garantiert
wurden.94 Bedjaoui sah in dieser konsumgenossenschaftlichen Konstruktion die
ausgewogene Verbindung aus traditioneller Doktrin und den gegenwärtigen Inter-
essen der neuen Staaten.95
Zu diesem Zeitpunkt noch offen war für Bedjaoui die Frage, wie die ILC mit dem
Problem der Erworbenen Rechte umgehen sollte. Er formulierte hierfür in seinem
ersten Bericht verschiedene Vorschläge:
The subject is, however, a complex one. The Commission might either set it aside for the
moment (because it does not involve the recognition of indisputable rights and because
prior consideration should be given to public property) or consider it, by way of antithesis,
directly after property and debts; alternatively, it could be taken up third as part of the
study on the status of private persons or, more precisely, as part of an expanded section on
90
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 116, Rn. 144,
Fn. 54.
91
Das vor diesem Hintergund ebenso problematische Gegenkonzept zur PSNR wurde das
Gemeinsame Erbe der Menschheit, siehe Raganathan, The Battle for International Law in the
Decolonization Era, 1955-1975, Workshop, 5. – 7. November 2015 in Berlin.
92
Vgl. Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 212 ff.
93
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 125.
94
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 116 f., Rn. 150 ff.
95
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 116, Rn. 145.
352 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
“the status of private persons and their property”, because the two subjects are linked in a
number of ways; as yet another possibility, it could be made the subject of a final separate
section on concessionary rights.96
96
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/204 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1968, II), S. 94, 105 f., Rn. 75.
97
Wie im Verlauf der Diskussion noch deutlich werden sollte, war die Enteignung erworbener
Rechte für Bedjaoui – entsprechend der Calvo-Doktrin und wie auch für das AALCC – eine
rein nationale Angelegenheit; dies war für Bedjaoui jedoch ein völkerrechtlich verbürgtes
Recht jedes Staates. Siehe unten.
98
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.961, ILC-Yearbook (1968, I), S. 105, 105, Rn. 8. Ähnlich auch
Rosenne, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.962, ILC-Yearbook (1968, I), S. 111, 114, Rn. 35.
99
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.961, ILC-Yearbook (1968, I), S. 105, 105 f., Rn. 22 f.
II. Bedjaouis erster Bericht und die Debatte in der ILC353
gewährt werden müsse.100 Jedenfalls dürfe die ILC nicht zu dem von Bedjaoui anti-
zipierten Ergebnis kommen, dass der Nachfolgerstaat überhaupt nicht an solche
Verpflichtungen seines Vorgängers gebunden sei.101 Auch der Niederländer Arnold
J. P. Tammes betonte die menschenrechtliche Dimension der Frage:
Guidelines for the protection of acquired rights were provided not only by the first Protocol
to the European Convention on Human Rights, which made legislation on private property
and nationality subject to the limits derived from the general principles of international law,
but also by General Assembly resolution 1803 (XVII), section 1, paragraph 8, of which
laid down that ‘Foreign investment agreements freely entered into by or between sovereign
States shall be observed in good faith’. A number of recent agreements of that type contai-
ned provisions for the settlement of investment disputes by arbitration or adjudication.102
100
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.961, ILC-Yearbook (1968, I), S. 105, 106, Rn. 22.
101
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.961, ILC-Yearbook (1968, I), S. 105, 107, Rn. 23.
102
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.961, ILC-Yearbook (1968, I), S. 105, 109, Rn. 56.
103
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.961, ILC-Yearbook (1968, I), S. 105, 109, Rn. 53.
104
Siehe zu ähnlichen Klauseln bereits oben, Teil II sowie Kapitel 9.
105
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.961, ILC-Yearbook (1968, I), S. 105, 108, Rn. 35, 42.
354 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
Der Ungar Endre Ustor bezog eine typisch sowjetische Position, die sich praktisch
weitgehend mit jener Bedjaouis deckte:
There was no distinction in international law between the property of nationals and that of
aliens; the only question that had arisen in legal literature and State practice was whether
a claim for compensation could be made where a new legal regime adversely affected the
property of aliens. On that point, the preponderant view, at least in the socialist States, was
that when general, nondiscriminatory measures were introduced in the public interest, all
that an alien could claim as of right was equal treatment with nationals. The theory that
there was in international law a general principle of respect for private property rights had
been rejected after the First World War, at the time of the Hungarian-Romanian dispute over
the agrarian reforms.108
Where property was concerned, the attitude adopted to the compensation of expropriated
settlers who had obtained their land by evicting its former inhabitants depended on what
general view was taken of decolonization. The question was whether the nationals of the
newly independent territories were to be kept in a state of poverty, or whether independence
meant both political emancipation and economic liberation.109
With regard to the order of priority of concrete questions, public property and public debts
seemed to him to be secondary questions. What should be settled first was the question of
general economic and financial relations between the predecessor State and the successor
State. Everything else followed from that. The question of national wealth was surely of
prime importance; it came before property and debts.110
106
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.963, ILC-Yearbook (1968, I), S. 118, 120, Rn. 19: „The
international community intervened to prevent a de facto and necessarily provisional settle-
ment — usually the outcome of an attempt by the colonial Power to maintain its prerogatives —
from taking the place of a permanent solution of the problems of State succession. State suc-
cession in the context of decolonization therefore deserved special study.”
107
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.964, LC-Yearbook (1968, I), S. 127, 128, Rn. 8.
108
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.964, LC-Yearbook (1968, I), S. 123, 124, Rn. 19.
109
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.962, ILC-Yearbook (1968, I), S. 111, 117, Rn. 82.
110
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.962, ILC-Yearbook (1968, I), S. 111, 117, Rn. 81.
III. Bedjaouis zweiter Bericht355
Diesen Vorschlag nahm Bedjaoui auf, änderte ihn aber dahingehend ab, alle Fragen
der Nachfolge zu ökonomischen Ressourcen inklusive öffentlichen Eigentums und
öffentlicher Schulden in seinem nächsten Bericht zu thematisieren.111 Offenbar
hatten ihn die kritischen Stimmen in der ILC bereits zu diesem Zeitpunkt dazu
bewogen, in Erwägung zu ziehen entgegen seiner ursprünglichen Pläne das Thema
der Erworbenen Rechts vorzuziehen. Bedjaouis Vorschlag, sich zunächst mit wirt-
schaftlichen Fragestellungen zu beschäftigen, fand die grundsätzliche Unterstüt-
zung einiger Mitglieder der ILC;112 andere äußerten sich kritisch, hielten Bedja-
ouis Pläne für zu ambitioniert und gleichzeitig für begrifflich unklar.113 Letztlich
wurde die Freiheit des Sonderberichterstatters in seiner Vorgehensweise betont114
und beschlossen, das Bedjaoui wunschgemäß einen Bericht zum Thema „Succes-
sion of States in Economic and Financial Matters“ für die nächste Sitzung der ILC
vorbereiten sollte.115
Tatsächlich legte Bedjaoui im Jahr 1969 jedoch seinen zweiten Bericht unter dem
Titel „Economic and Financial Acquired Rights and State Succession“ vor.116
Diese Abweichung hielt Bedjaoui offenbar selbst für erklärungsbedürftig. Er war
seiner Schilderung nach im Nachgang der letzten Sitzung der ILC zu der Über-
zeugung gelangt, dass alle ökonomischen und finanziellen Fragen der Staatennach-
folge letztlich von der zentralen Entscheidung abhingen, ob Erworbene Rechte von
111
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.963, ILC-Yearbook (1968, I), S. 118, 121, Rn. 44. Bedjaoui
erklärte hierzu: „He had thought he could begin with the problems of public property and
public debts because they were important, because they also had a traditional aspect and
because they had evolved sufficiently to provide material for the prediction of future trends.
As that subject had seemed rather limited, he had thought of adding to it the whole associa-
ted field of concession rights and administrative contracts, in other words acquired rights,
and then making a general study of succession to the various economic resources (‘moyens
economiques’), which would include the question of the rights of peoples over their natural
resources. The subject was certainly very broad and rather vague. Moreover, the translation of
the wording into English seemed to present difficulties. The expression ‘economic interests’
would be even more vague, but at least economic interests could be contrasted with economic
rights. The study of succession to economic resources would cover all the interests and rights
involved.” ILC, UN Doc A/CN.4/SR.965, ILC-Yearbook (1968, I), S. 127, 128 f, Rn. 15.
112
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.964, LC-Yearbook (1968, I), S. 123, 127, Rn. 46, 54;
113
Beispielsweise ILC, UN Doc A/CN.4/SR.965, ILC-Yearbook (1968, I), S. 127, 129,
Rn. 21.
114
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.965, ILC-Yearbook (1968, I), S. 127, 129, Rn. 22, 27.
115
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.965, ILC-Yearbook (1968, I), S. 127, 130, Rn. 36, 38.
116
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 69.
356 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
Nachfolgerstaaten akzeptiert werden müssten oder nicht.117 Hier bezog sich Bedja-
oui auch die Erworbenen Rechte von Staaten, setzte sich im Folgenden aber haupt-
sächlich mit Wirtschaftskonzessionen auseinander. Bedjaoui hielt es für klüger, das
Problem der Erworbenen Rechte gleich zu Beginn anzugehen und dadurch auch
Klarheit in Bezug auf viele Folgefragen zu schaffen.118 In seinem zweiten Bericht
nahm sich Bedjaoui daher der Problematik der Erworbenen Rechte in Form einer
Streitschrift vertieft an und führte die Überlegungen aus seinem ersten Bericht fort.
Dabei stellte er rechtstheoretische (1.) und rechtshistorische (2.) Überlegungen an,
auf denen er seine Kritik am Fremdenrecht (3.) aufbaute. Bezüglich Enteignungen
diskutierte Bedjaoui deren allgemeine Voraussetzungen (4.) sowie die besonderen
Voraussetzungen im Kontext der Dekolonialisierung (5.). Schließlich machte er
einen allgemeinen Trend von der Kompensation zur Kooperation (6.) aus.
1. Rechtstheoretische Überlegungen
Bedjaoui eröffnete seine inhaltlichen Einlassungen mit der Feststellung, dass das
Problem der Erworbenen Rechte sowohl völkerrechtlich in Literatur und Praxis
als auch in nationalen Rechtsordnungen höchst umstritten sei.119 Dies sei insbeson-
dere deshalb der Fall, weil die Interessen der beteiligten Parteien einander oft dia-
metral entgegenständen.120 Diese Frontstellung war für Bedjaoui rechtssoziologisch
indiziert:
Basically, these conflicts are nothing more than a reflection of the struggle which inevitably
occurs, after every upheaval, between the old structures which resist with waning strength
and the new structures which assert themselves with increasing vigour. At the end of this
necessary transitional phase, which varies in length and is regulated by the intertemporal
law and is the sum and the reflection of the contradictions between what is accepted and
what is contested, a normalized period begins. This does not mean that “the fight is over,
because there is no one left to fight”, but simply that society has assimilated the new norms
and harmonized them into a new equilibrium. This situation will last until such time as it
is once again disrupted by further normative upheavals, when the same doctrinal conflicts
will break out anew. This is a problem as old as the world, constantly occurring and recur-
ring, and it is always solved without the supporters of acquired rights having fully learnt
the lesson that change is inevitable, because force of habit engenders a feeling of hostility
towards everything new and because it is in the nature of things that novelty should arouse
resistance for a time.121
117
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 71, Rn. 3.
118
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 71, Rn. 3.
119
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 71, Rn. 7.
120
Außerdem hielt Bedajoui den Begriff des erworbenen Rechts für zweifelhaft: Duguit habe
die Frage aufgeworfen, was denn nicht-erworbene Rechte sein sollten. Bedjaoui belegte
seinen Verweis auf Duguit dabei nicht. Außerdem werde die Idee erworbener Rechte im
nationalen wie im internationalen Recht diskutiert, was die Debatte weiter verkompliziere, so
Bedjaoui. Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 71, Rn. 7.
121
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 71, Rn. 7.
III. Bedjaouis zweiter Bericht357
In a debate in which at a given stage there may be almost as many reasons for supporting
acquired rights as for opposing them, it is of little importance in the final analysis which
camp a person chooses, according to his deep-seated convictions or his preferences. On
the other hand, it must be realized that the issue will unquestionably be settled by events.
However, the jurist has perhaps better things to do than to engage in a rearguard action
that leaves him supporting acquired rights when practice has definitively condemned them.
Similarly – the law being essentially conservative – he cannot single-handed take the oppo-
site course and lead the struggle. The jurist must possess an unerring skill in interpreting the
trends in society in order to perform his function, which is to help that society to produce
the new forms needed for social progress.124
Progress means a change for the better, but a change none the less; in other words, it usually
rejects acquired rights. If such rights were maintained, all human societies would be para-
lysed. Sociology demolishes the concept of acquired rights, for it teaches us that no social
group and no State can indefinitely retain its privileges, which are constantly called in
question. How could the law fully endorse a concept which is unknown in sociology?125
2. Rechtshistorische Betrachtungsweise
122
Siehe oben, Teil I.
123
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 72, Rn. 8.
124
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 72, Rn. 9. Bedja-
oui verweist hierfür auch auf
125
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 72, Rn. 10.
358 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
ein.126 Bedjaoui machte die Beobachtung, dass Befürworter wie Gegner des Schut-
zes Erworbener Rechte im Völkerrecht sich auf dieselben, offenbar mehrdeutigen
Urteile und Fälle aus der Staatenpraxis stützten.127 Als Beispiel für die unterschied-
liche Deutung der Praxis nannte Bedjaoui das Urteil des Ständigen Internationa-
len Gerichtshofs zu den deutschen Siedlern in Polen, das häufig als Indiz für eine
Verpflichtung zum Schutz Erworbener Rechte bemüht wurde: Hier beruhe die Ver-
pflichtung Polens zur Achtung der Erworbenen Rechte deutscher Siedler jedoch tat-
sächlich nicht auf Gewohnheitsrecht, sondern auf einem völkerrechtlichen Vertrag
und sei damit von geringer Aussagekraft für die Debatte.128 Bedjaoui stütze seine
Analyse dabei beinahe ausschließlich auf die Arbeiten des Italieners Arrigo Cavag-
lieri und auf jene O’Connells, wobei er die Gegensätze in den Positionen der beiden
Autoren herausarbeitete.129 Während, so Bedjaoui, Cavaglieri meine, es sei auf
Grund der widersprüchlichen Interpretation der Staatenpraxis unmöglich, auf eine
gewohnheitsrechtliche Norm zu schließen, welche das Eigentum fremder Staatsan-
gehöriger in diesem Kontext besonders schütze,130 hegte O’Connell an der Existenz
einer entsprechenden Regelung keinerlei Zweifel.131
Aufgrund dieser gegensätzlichen Positionen in der zeitgenössischen völker-
rechtswissenschaftlichen Debatte hielt es Bedjaoui für ratsam, die Problematik his-
torisch zu beleuchten. Für Bedjaoui war die Doktrin der Erworbenen Rechte ein
Kind des Liberalismus:
With the disappearance of the patrimonial State in the seventeenth century, a distinction
began to be drawn between imperium, which was reserved for the liberal State, and domi-
nium, which enabled individuals to exercise the right of property. When there was a change
of sovereignty, imperium alone changed hands, while dominium remained undisturbed. The
rights of individuals (dominium) constituted acquired rights. Traditional State succession
involved only the substitution of one sovereign – who was often a monarch – for another
and left the legal relationships between individuals intact. This trend was reinforced during
the nineteenth century in Great Britain by the laissez-faire doctrine of property and in the
126
Er erklärte, dass von manchen das Verbot rückwirkender Gesetze als Argument für das
Konzept der erworbenen Rechte angeführt würde. Für Bedjaoui übersah diese Argumenta-
tion den Unterschied zwischen erworbenen Rechten, die mit Wirkung für die Zukunft auf-
gehoben werden dürften, und den Früchten solcher erworbenen Rechte, die in der Vergangen-
heit gezogen wurden und damit nicht rückwirkend annihiliert werden dürften. Des Weiteren
seien Enteignungen auch im nationalen Recht zulässig. Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV.
1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 72, Rn. 11 f.
127
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 72, Rn. 13.
128
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 74, Rn. 16; PCIJ,
PCIJ-Series B No. 6, S. 5, 5 ff. Ähnlich verhielt es sich laut Bedjaoui mit einer Reihe anderer
Urteile, siehe hierzu Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69,
85, Rn. 78.
129
Vgl. Zu deren Positionen oben, Kapitel 8.
130
Cavaglieri, La Notion des Droits Acquis et son Application en Droit International Public,
38 Revue Generale de Droit International Public (1931), S. 257, 296.
131
O'Connell, State Succession in Municipal Law and International Law, Band I (1967), S. 263.
III. Bedjaouis zweiter Bericht359
United States by the provisions of the Constitution relating to property rights. […] Hence, if
the doctrine of acquired rights is, as has been seen, inseparable from political liberalism, it
may be expected a priori to be called in question again in an age and an environment where
the liberalism which nurtured it is itself under attack. From a more general standpoint, it
may be said that the political regime of a given community is linked to the private property
regime in the territory which it controls, and the political upheavals which affect it automa-
tically involve, sooner or later, new property arrangements. It is therefore not surprising that
failure to respect acquired rights in cases either of succession or of non-succession consti-
tutes a fairly marked trend in modern times, which are characterized by the growing denial
of the absolute nature of private property and by the possibility of creating other forms of
ownership. His Holiness Paul VI stated in his encyclical Populorum Progressio that “private
property does not constitute an absolute and unconditional right for anyone”.132
Während im Wirtschaftsliberalismus des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts die
Wahrung Erworbener Rechte aus Gerechtigkeitserwägungen und zum Erhalt der
gesellschaftlichen Stabilität geboten erschien, so Bedjaoui, habe sich die Situation
mittlerweile umgekehrt und die Aufrechterhaltung Erworbener Rechte stelle sich
nun als ungerecht, entwicklungshemmend und destabilisierend dar.134 Hier nutzte
Bedjaoui das in der Bindungsfrage allgegenwärtige Stabilitätsargument, nutzte es
jedoch im Sinne einer geschichtlichen Entwicklung und stellte die häufig bei west-
lichen Völkerrechtlern anzutreffende Gleichsetzung zwischen Stabilität und Erhal-
tung des status quo damit als historisch überholt dar.
3. Kritik am Fremdenrecht
132
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 73, Rn. 14.
133
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 89 f.
134
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 73, Rn. 15.
360 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
135
Bedjaouis Einlassungen zur souveränen Gleichheit sollen hier nochmals ausführlich dar-
gestellt werden: Ausgangspunkt von Bedjaouis Überlegungen war dabei das Recht eines
jeden Staates, frei über sein politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches System zu
entscheiden. Da das politische System einer Gemeinschaft eng mit deren Verständnis von
Eigentum verknüpft sei, könne ein Staat auch sein Eigentumssystem frei ändern. Hierin sah
Bedjaoui einen Ausdruck der Souveränität des Staates. Nun stellte sich für Bedjaoui die
Frage, ob das Prinzip der souveränen Gleichheit nicht dazu führen müsste, dass jeder Staat
und damit auch ein neuer Staat das Recht haben müsse, sein Eigentumssystem frei zu wählen.
Für die Frage der Gleichbehandlung wählte er zwei Vergleichsgruppen: Zunächst überlegte
Bedjaoui, ob ein im Wege der Staatennachfolge entstandener neuer Staat auf Grund der sou-
veränen Gleichheit zu nichts weiter verpflichtet wäre als jeder andere Staat, dass also keiner-
lei Pflichten mittels Staatennachfolge auf ihn übergingen. Eine solche mechanische Anwen-
dung des Prinzips der souveränen Gleichheit hielt Bedjaoui jedoch für zu idealistisch, da der
neue Staat in einem sozialen Kontext entstehe und sich nicht von Anfang an vollständig den
bereits existierenden Regelungen entziehen könne. Der Nachfolgerstaat würde laut Bedjaoui
übergangsweise das Recht seines Vorgängers anwenden und erst nach und nach einen Willen
bilden, wie die nationale Rechtsordnung zukünftig zu gestalten sei.
„This is the more specifically successional phase, during which the question of acquired
rights arises, leading to a conflict between the free will of the successor State, which is anxious
to change an old, alien juridical order, and the interests deriving from situations acquired
under that juridical order. The problem then is to decide whether the will of the successor State
must be respected by virtue of the equality and sovereignty of States, because the successor
State is a State like any other, or whether it is to be limited, precisely because it is a successor
State.” Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 76, Para. 23.
Bedjaoui erwog also als zweites eine andere Interpretation des Prinzips der souveränen
Gleichheit, nach welchem der neue Staat lediglich gleich behandelt werden müsse wie sein
Vorgänger und nicht mit weitergehenden Pflichten belastet werden dürfe. Dies war für Bed-
jaoui problematisch, da die Souveränität des neuen Staates sich nicht von seinem Vorgänger
ableite, sondern eine originäre sei. Da die Souveränität nicht transferiert wurde, sondern sich
aus dem Völkerrecht selbst ergab und substituiert wurde, konnten in Bedjaouis Bild auch
die Pflichten des Vorgängerstaates nicht auf den Nachfolgerstaat übertragen werden. Selbst
wenn es sich jedoch um eine transferierte Souveränität handeln sollte und ein entsprechender
rechtlicher Nexus zwischen altem und neuem Staat bestünde, dürften für den neuen Staat
jedenfalls nicht weiterreichende Pflichten gelten als für seinen Vorgänger. Da aber der Vor-
gängerstaat das Recht gehabt hätte, die erworbenen Rechte ausländischer Staatsangehöriger
mittels Enteignung zu entziehen, stünde dies dem neuen Staat jedenfalls ebenso zu. Denn der
Vorgängerstaat hätte unumstrittener Weise keine völkerrechtliche Pflicht gehabt, erworbene
Rechte zu achten; vielmehr galten hier nur die Normen des nationalen Rechts.
III. Bedjaouis zweiter Bericht361
„By some mysterious phenomenon of legal transmutation, however, these acquired rights,
which derived from an obligation under municipal law for the predecessor State, become
rights derived from an international obligation for the successor State.” Bedjaoui, UN Doc A/
CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 77, Para. 33.
Da Bedjaoui keine Begründung für eine solche Transformation der innerstaatlichen
Pflichten des Vorgängerstaates in internationale Verpflichtungen des Nachfolgerstaates finden
konnte, erwog er eine weitere Ebene der Bindung der neuen Staaten:
„It has been argued that the successor State is bound, not by an obligation derived from
that of its predecessor, but by an obligation imposed ab exteriore by public international law,
which would thus impose obligations on every new State, not by succession but through
the application of a principle. Some States – it is maintained – come into being with special
duties. Logically then, it is not acquired rights that constitute the basis of the obligation
imposed on new States to respect the legal situations defined by the predecessor States. The
successor State does not respect acquired rights simply because the predecessor State respec-
ted them; according to this theory, the attitude of the successor State is independent of that of
the predecessor State. Even if it is admitted that the latter is entitled to reconsider the acquired
rights which it has freely granted, a similar power would not necessarily be conferred on the
successor State, upon which obligations would be imposed by international law.” Bedjaoui,
UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 76, Para. 26.
Diese Idee hatte zwar für Bedjaoui den Vorteil, dass sie von der Doktrin der erworbenen
Rechte unabhängig war; allerdings etablierte sie für ihn ein System mit zwei Klassen von
Staaten, das in jedem Fall der souveränen Gleichheit widersprach. Eine entsprechende völkerge-
wohnheitsrechtliche Regel, welche die Pflichten des Vorgängerstaates auf den Nachfolgerstaat
übergehen ließe, würde die Souveränität des Letzteren minderwertig erscheinen lassen. Deshalb
ging Bedjaoui davon aus, dass der neue Staat nicht völkerrechtlich verpflichtet war, erworbene
Rechte zu achten, diese gleichwohl aber im Eigeninteresse nicht völlig außer Acht lassen sollte.
Siehe zum Ganzen Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69,
75 ff., Rn. 19 ff.
136
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 76 f., Rn. 24 ff.
137
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 77, Para. 33.
138
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 80, Rn. 49. Hierzu
zitiert Bedjaoui wiederum Cavaglieri, La Notion des Droits Acquis et son Application en Droit
International Public, 38 Revue Generale de Droit International Public (1931), S. 257, 284 ff.
362 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
Since aliens and nationals alike are seeking profit, they must run the risks and hazards
which that inevitably involves on an equal footing.146
Damit war Bedjaoui zu dem Ergebnis gekommen, dass Erworbene Rechte vom
Völkerrecht nicht absolut geschützt waren und ein neuer Staat somit eigene wie
auch fremde Staatsangehörige enteignen dürfe. Sodann wendete sich Bedjaoui den
Voraussetzungen einer solchen Enteignung zu.147 Dabei musste laut Bedjaoui das
Prinzip der Nichtdiskriminierung beachtet werden:
139
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 80, Rn. 51 f.
140
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 81 f., Para 58.
141
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 82, Para 58.
142
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 82, Rn. 63.
143
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 82, Rn. 64.
144
Siehe oben.
145
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 82, Rn. 64 f.
146
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 82 f., Rn. 65.
147
So griff Bedjaoui die Auffassung auf, nach welcher der Nachfolgerstaat zwar grundsätz-
lich an die erworbenen Rechte gebunden sei, sich dieser jedoch unter Berufung auf seine
Öffentliche Ordnung entledigen könnte. Bei dieser Theorie hörte Bedjaoui die Totenglocke
der Doktrin der erworbenen Rechte läuten, da schließlich kein anderer als der Nachfolger-
staat selbst in der Position sei, zu bestimmen, was zur Aufrechterhaltung der öffentlichen
III. Bedjaouis zweiter Bericht363
Ordnung erforderlich sei. Diese Kompetenz ergab sich für Bedjaoui aus der staatlichen Sou-
veränität. Außerdem konnten solche Akte nach der angloamerikanischen act of state-Doktrin
auch nicht durch andere Staaten überprüft werden. Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1,
ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 81 ff., Rn. 53 ff.
148
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 83, Rn. 69.
149
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 83, Rn. 67.
150
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 83, Rn. 71.
151
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 83, Rn. 70.
152
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 85, Rn. 81. Siehe
hierzu schon oben.
364 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
könnten, müsse selbiges auch für Fremde gelten.153 Weiter schloss Bedjaoui aus
dem Fehlen einer völkerrechtlichen Verpflichtung der neuen Staaten, Erworbene
Rechte zu achten, dass diese auch bei Enteignungen keine Kompensationspflicht
treffen könne; eine solche müsse sich aus dem Recht der Staatenverantwortlich-
keit ergeben, das aber gar nicht ausgelöst würde, da es an einem primären Völ-
kerrechtsverstoß fehle.154 Offenbar legte Bedjaoui seiner gesamten Argumentation
die alte Theorie vom absoluten Schutz Erworbener Rechte zugrunde, bei dem eine
Enteignung das Recht der Staatenverantwortlichkeit zur Anwendung gebrachte und
somit die Verpflichtung zur Zahlung von Schadensersatz im Staat-Staat-Verhältnis
ausgelöst hatte. Die Möglichkeit einer gewandelten fremdenrechtlichen Norm, die
die Enteignung Erworbener Rechte unter der Voraussetzung der Entschädigung des
Gaststaates gegenüber dem fremden Staatsangehörigen erlaubte und die beispiels-
weise von O’Connell vertreten wurde, erwog Bedjaoui nicht. Dies mag zum einen
seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Fremdenrecht als mystischem Mecha-
nismus zur Internationalisierung nationalrechtlicher Fragen geschuldet sein.155 Zum
anderen könnte der Grund hierfür auch in dem bis vor einigen Jahren noch von der
ILC verfolgten materiell-rechtlichen Ansatz in Bezug auf das Recht der Staaten-
nachfolge liegen.156 Letztlich greift Bedjaouis Argumentation aus heutiger Perspek-
tive, wohl aber auch schon aus damaliger Sicht eine wesentliche Dimension der
Frage Erworbener Rechte nicht auf.
Bedjaouis Argumentation blieb jedoch nicht an diesem Punkt stehen; jenseits der
Erwägungen über Fremdenrecht oder Recht der Staatenverantwortlichkeit müssten
nämlich die Besonderheiten der Dekolonialisierung in die Überlegungen zu Erwor-
benen Rechten miteinfließen. Selbst wenn nämlich, so Bedjaoui, grundsätzlich eine
Pflicht der Staaten zur Entschädigung bei Enteignung Erworbener Recht bestehen
sollte, so dürfe dies bei der Staatennachfolge im Rahmen der Dekolonialisierung
auf keinen Fall so sein.157 Hier war der stark politische Charakter der Haltung der
Staaten zum Thema Staatennachfolge der Ausgangspunkt von Bedjaouis Überle-
gungen. Dieser machte es für Bedjaoui erforderlich, zwischen verschiedenen Arten
der Staatennachfolge entsprechend ihrer unterschiedlichen politischen Hitergründe
zu differenzieren.158 Interessanterweise sah Bedjaoui die politische Bedeutung der
153
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 86, Rn. 82.
154
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 86, Rn. 85.
155
Siehe oben.
156
Siehe oben.
157
Vgl. Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 88, Rn. 93.
158
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 87, Rn. 88.
III. Bedjaouis zweiter Bericht365
Frage nicht als Grund dafür, die Materie einer rechtlichen Lösung zu entziehen und
eine solche der Politik zu überlassen, sondern knüpfte hieran eine rechtliche Dif-
ferenzierung an.159 So rechtfertige laut Bedjaoui etwa die Fusion mehrerer Staaten
zu einem neuen Staat eine andere Behandlung als die Dekolonialisierung, da bei
ersterer die Ziele und Ansichten der freiwillig fusionierenden Staaten in der Regel
homogen seien.160 Wie politisch das Thema war, zeigte sich für Bedjaoui in der
wechselhaften Attitude der westlichen Staaten in der Kolonialisierung einerseits
und der Dekolonialisierung andererseits:
Yet it is ironical to see how the same imperial Powers of the nineteenth century which, in
their colonial policies, vigorously denied the existence of any rule affording protection to
acquired rights—or shrugged it off in order to practice the principle of tabula rasa in this
matter—have felt able, in connexion with the reverse modern phenomenon of decoloniza-
tion, to demand the application of the same “traditional rules” that they once sought to ema-
sculate. It is child’s play for the student of politics to note that one and the same Power has
shifted its position, according as it was involved in the capacity of successor State (repudia-
ting all acquired rights in the colonial territory which it had just conquered), of third State
(conversely demanding respect for acquired rights, in the context of the colonial rivalries of
the time) or of predecessor State (claiming in the case of decolonization the protection of
rights similar to those which it had itself previously repudiated, since in some cases it was
the same territory that was involved).161
Dies sah Bedjaoui als Beleg dafür, dass das Konzept der Erworbenen Rechte für
sich genommen inhaltslos sei und lediglich zur Rechtfertigung politischer Interven-
tionen fungiere.162 Historisch hatten die Kolonialmächte laut Bedjaoui keine Erwor-
bene Rechte der einheimischen Bevölkerung in den Kolonien geachtet, da diese
keine Staaten gebildet hätten und das Völkerrecht in solch „rückständigen“ Berei-
chen keine Anwendung finden könne.163 Die Tatsache, dass lokale Souveräne exis-
tierten, habe daran nichts geändert, da die imperialistischen Kolonialmächte ihre
eigenen Kriterien eines Staates zugrunde gelegt hätten.164 Ähnliches gelte in Bezug
auf als „rückständig“ erachtete Staaten.165 Eine weitere Strategie sei es gewesen,
die Kolonien zwar grundsätzlich als Staaten anzuerkennen und die hier Erworbenen
Rechte folglich generell zu schützen, konkret aber Ausnahmen für anwendbar zu
159
Vgl. die umgekehrte Strategie in Kapitel 9.
160
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 87, Rn. 89.
161
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 87, Rn. 91.
162
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 88, Rn. 92. Als
Beispiel zog Bedjaoui die Argumentation von Pillet heran: „In the case of the annexation of
colonial peoples whom there can be no question of assimilating to the people of the metrop-
olitan country because of the difference in social conditions, there is nothing to prevent and
everything to commend the practice of drawing of a distinction between public policy in the
colonies and public policy in the metropolitan country.” Vgl. Pillet, Principes de Droit Inter-
national Prive, Pedone Paris (1903), S. 528.
163
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 88, Rn. 95.
164
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 88, Rn. 96.
165
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 88, Rn. 97.
366 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
erklären.166 Bedjaoui sprach auf Grund dieser verschiedenen Strategien von einer
Antinomie zwischen Eroberung und Erworbenen Rechten.167 Bei der Dekolonia-
lisierung hatten die ehemaligen Kolonialmächte laut Bedjaoui genau die umge-
kehrte Position bezogen; damit sei das Konzept der Erworbenen Rechte nicht durch
juristische Methode, sondern durch politische Opportunität bestimmt gewesen.168
Bemerkenswert ist, dass sich Bedjaoui hier die historischen Entwicklungen im
Kolonialismus, die er und andere Autoren aus der Dritten Welt stets anprangerten,
zunutze machte, um seine Argumentation gegen Erworbene Rechte zu untermau-
ern. Dass nach Ansicht der Völkerrechtler in der Dritten Welt eigentlich schon die
Rechte der vorkolonialen Völker von den Kolonialherren hätten geachtet werden
sollen und deren Missachtung als sträflich betrachtet wurde, scheint grundsätzlich
jedoch eher für den Schutz Erworbener Rechte zu sprechen. Dem entgegengesetzt
argumentierte Bedjaoui mit einer Antinomie zwischen Eroberung und Erworbenen
Rechten; in diesem Denkgebäude funktionierte das Konzept Erworbener Rechte
nur in Fällen gesellschaftlicher Kontinuität, grundlegende Umwälzungen machten
ihren Schutz hingegen unmöglich. Diese Argumentation Bedjaouis schmälerte aber
wiederum den Vorwurf, welchen er der kolonialen Praxis in diesem Bezug machen
konnte.
Parallel zur Antinomie zwischen Eroberung und Erworbenen Rechten exis-
tierte für Bedjaoui eine Antinomie zwischen Dekolonialisierung und Erworbenen
Rechten.169 Bedjaoui stellte zunächst die besondere Natur der Dekolonialisie-
rung gegenüber anderen Fällen der Staatennachfolge dar: Bei der Dekoloniali-
sierung handele es sich nicht um einen rein symbolischen Souveränitätswechsel,
da anders als in den sonstigen Fällen der Staatennachfolge das Verhältnis von
Vorgänger- und Nachfolgerstaat auf politsicher und insbesondere wirtschaftli-
cher Subordination und Hierarchie und auf der Verschiedenartigkeit der ökono-
mischen Situation basiere.170 Seit der Oktoberrevolution existierten Staaten mit
verschiedenen Gesellschaftssystemen; durch die Dekolonialisierung seien noch
Staaten mit unterschiedlichem Entwicklungsgrad hinzugekommen.171 Diese Ent-
wicklung wirke sich im Falle der Staatennachfolge auf das Konzept der Erwor-
benen Rechte aus:
It is for this reason that, while in the case of other types of succession respect for acquired
rights may be necessary for reasons of equity, in this case it clearly frustrates the whole
development of the nation. This peculiarity cannot be overemphasized if one is to unders-
tand (and how can anyone codify without understanding?) the strength of the movements
that are sweeping the world, where the real antagonism, according to Nehru, is between the
166
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 89, Rn. 98.
167
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 89, Rn. 100.
168
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 90, Rn. 104.
169
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 90, Rn. 105.
170
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 90, Rn. 105 ff.
171
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 90, Rn. 107.
III. Bedjaouis zweiter Bericht367
Für Bedjaoui war die Verwehrung Erworbener Rechte und der Kompensation im
Falle einer Enteignung erforderlich für die Neustrukturierung der nachkolonialen
Wirtschaft und wurde dabei von der PSNR flankiert. Bedjaoui befand diesbezüglich:
That the new States have the absolute, inalienable and permanent rights freely to dispose of
their natural resources, as proclaimed in resolution 1803 (XVII) of the General Assembly
of the United Nations of 14 December 1962, is no longer in doubt. This resolution, which
is the charter of combat of the poor against the rich and which was adopted by eighty-eight
States, lays down a number of principles which constitute an impressive whole possessing
considerable moral force, even if they are not yet binding legal rules. It is an instrument for
the economic liberation of formerly subject peoples. Resolution 1803 (XVII) is a powerful
conception expressing the contention of the proletarian peoples. It indicates the path to be
followed for the achievement of binding legal rules on the lines it has laid down.174
Bedjaoui erklärte wie schon in seinem ersten Bericht, dass die Kompensations-
pflicht nach Paragraph 4 der Resolution auf Grund der Formulierung der Präambel
nicht für ehemalige Kolonien gelte.175 In diesem Vorbehalt sah er eine tiefgreifende
172
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 90, Rn. 107.
173
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 91, Rn. 108.
174
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 91, Rn. 110.
175
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 91, Rn. 111.
Siehe oben.
368 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
Sovereignty either is or is not; its existence cannot depend on the capacity to pay. There
is incompatibility between the concept of acquired rights and the affirmation of the inalie-
nable and permanent right of peoples to dispose of their natural resources. If such a right
is inalienable, it is inconceivable that rights belonging to anyone other than the people can
arise, much less that they can have the status of inviolable acquired rights.177
[I]n accordance with the principle that peoples have a permanent and inalienable right over
their natural resources, newly independent States (like any others) should be recognized as
having the right to denounce those commitments which in the long run would be clearly
harmful to the economic development of their countries. The International Law Commis-
sion has had occasion to deal with some aspects of this subject in connexion with its work
on the law of treaties, and this is not the place to reopen that discussion. It may be noted,
however, that according to some recent writers excessive situations created by the successor
State itself do not merit being accorded inviolability. This being so, where the acquired
rights derived from similar situations were created by the predecessor State, it would be
even more objectionable to impose recognition of those rights on the successor State.182
176
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 91, Rn. 112.
177
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 91 f., Rn. 112.
178
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 92, Rn. 113.
179
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 92, Rn. 114.
Siehe oben, Kapitel 2.
180
Vgl. Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 92, Rn. 115.
181
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 92, Rn. 112.
182
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 93, Rn. 117.
Bedjaoui liefert hier keine Belege.
III. Bedjaouis zweiter Bericht369
Damit konnte der globale Ansatz der Dritten Welt für Bedjaoui auch mit Blick auf die
Grundsätze der Gerechtigkeit mehr Legitimität beanspruchen als das auf Individual-
schutz ausgelegte Konzept der Kompensation.187 Bedjaoui äußerte gegenüber dem
Konzept der ungerechtfertigten Bereicherung Bedenken allgemeiner Natur, hielt es
aber in jedem Fall im Bereich der Dekolonialisierung für keine Grundlage zur For-
derung nach Kompensation wegen Enteignung.188 So sei nicht der Nachfolgerstaat,
sondern vielmehr die jeweilige Gesellschaft aus historischer Sicht die Bereicherte.189
183
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 93, Rn. 120.
184
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 93, Rn. 120.
185
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 94, Rn. 121.
186
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 94, Rn. 121.
187
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 94, Rn. 122.
188
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 95, Rn. 127.
189
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 95, Rn. 129.
370 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
Im Übrigen standen der Zahlung von Kompensation laut Bedjaoui auch struktu-
relle Hindernisse entgegen: Auf Grund des liberalistischen Wirtschaftssystems der
Kolonialmächte lägen die meisten Eigentumswerte in den ehemaligen Kolonien in
der Hand Privater, so dass es einem Entwicklungsland schlicht unmöglich sei, ent-
sprechende Summen aufzubringen.190 Selbst wenn es sich um eine Bereicherung
des neuen Staates handeln sollte, sei diese jedoch als Kompensation für die jahr-
hundertelange Ausbeutung des Staatsgebietes gerechtfertigt.191
Bedjaoui lehnte eine Entschädigungspflicht der neuen Staaten damit ab und plä-
dierte für ein Recht der ehemaligen Kolonien zur entschädigungslosen Enteignung
Erworbener Rechte. Wie Bedjaoui schon in seinem ersten Bericht angedeutet hatte,
musste dies seiner Ansicht nach jedoch nicht notwendig gegen den Willen von
Investoren und deren Heimatstaaten geschehen; Bedjaoui machte hier eine Ent-
wicklung von Kompensation zu Kooperation aus.192 So werde die Frage der Kom-
pensation zumindest in Bezug auf ehemalige Kolonien zunehmend von globalen
Vereinbarungen über Pauschalzahlungen und Kooperationen abgelöst.193 Häufig
übernahmen es laut Bedjaoui im Rahmen einer Art „Forderungsübergangs“ (frei-
lich ohne tatsächlich bestehende Forderung) die Vorgängerstaaten, ihre Staatsan-
gehörigen zu entschädigen.194 Mangels Kompensationspflicht seien entsprechende
Zahlungen der Nachfolgerstaaten auf politische Erwägungen zurückzuführen.195
Diese stünden im Zeichen einer wachsenden Kooperation der ehemaligen Kolonien
und Kolonialmächte, wobei letztere durch Finanzhilfen ihren Einfluss in der Peri-
pherie zu sichern und die strukturellen Umwälzungen in der Exkolonie abzuschwä-
chen versuchten.196 Dabei widersprach für Bedjaoui die Gewährung von finanzieller
Hilfe der Idee der Kompensation, da die Vorgängerstaaten kaum mit der einen Hand
geben und mit der anderen nehmen könnten.197
Erst am Ende seines Berichts wartete Bedjaoui als Beleg für den von ihm ausge-
machten Trend von der Kompensation zur Kooperation mit einer Auswahl relevan-
ter Staatenpraxis auf, ohne dabei den Anspruch der Vollständigkeit zu erheben.198
190
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 94, Rn. 125.
191
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 96, Rn. 132.
192
Siehe oben.
193
Vgl. Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 96, Rn. 134.
194
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 96, Rn. 134.
195
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 96, Rn. 134.
196
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 96, Rn. 134.
197
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 96, Rn. 134.
198
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 97, Rn. 137.
III. Bedjaouis zweiter Bericht371
Bedjaoui nannte den Fall des Kongo (Kinshasa) und der Union Minière du Haut-
Katanga, in dem letztlich keine Kompensationszahlungen vereinbart worden
seien;199 jenen Indonesiens, das mit seiner Unabhängigkeit alle externen Schulden
zurückgewiesen habe;200 jenen in, Ghana wo eigens eine Kommission zur Prüfung
von Konzessionen errichtet wurde, welche Erworbene Rechte zurückwies;201 und
schließlich jenen der nordafrikanischen Staaten, die zu weiten Teilen ebenfalls keine
Kompensation zahlen wollten.202 Diesen Fällen setzte er jene gegenüber, in denen
die Vorgängerstaaten Kompensationsverpflichtungen übernommen hatten, nämlich
im nationalen Recht Frankreichs,203 in Großbritannien im Falle der Enteignung der
British South West Africa Company,204 sowie durch die Regelungen der Interna-
tional Bank for Reconstruktion and Development bezüglich der Kreditvergabe der
Metropolen an ehemalige Kolonien.205 Bedjaoui kam dabei zu folgendem Fazit:
In short, the course of development may be outlined as follows: at the outset, the successor
State was held to be the only debtor, but this concept was replaced by another, according
to which the successor State and the predecessor State were held to be jointly responsible
for payment of the debt. Now there is a growing tendency to regard the predecessor State
as solely responsible for the payment of compensation to its own nationals. However, this
is not a rule common to the municipal law of all the former metropolitan countries, much
less a rule of international law.206
Für Bedjaoui gab es also lediglich eine Entwicklung von der Kompensation zur
Kooperation, die er aber lediglich als lex ferenda betrachtete; nach seiner Argumen-
tation war der Kompensationsanspruch allerdings bereits entfallen, so dass fremde
Staatsangehörige für Bedjaoui im geltenden Völkerrecht rechtlos gestellt waren. Vor
diesem Hintergrund schloss Bedjaoui seinen Bericht mit den folgenden, überra-
schend versöhnlichen, wenn auch vagen Worten ab:
However, the competence of the successor State is clearly not unlimited. Its actions should
always be consistent with the rules of conduct that govern any State; for it is, first and
foremost, not a successor State, but a State—in other words, a subject having, in addition
to its rights, international obligations the violation of which would engage its international
responsibility.207
Hier stellte Bedjaoui die grundsätzliche Rechtstreue der neuen Staaten noch-
mals explizit heraus. Bedjaoui hatte auf juristischer, soziologischer, moralischer,
praktischer, nationaler und globaler Ebene gegen den völkerrechtlichen Schutz
199
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 97, Rn. 138.
200
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 97, Rn. 139.
201
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 98, Rn. 140.
202
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 98, Rn. 141.
203
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 99, Rn. 144.
204
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 99, Rn. 145.
205
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 99, Rn. 146.
206
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 99, Rn. 147.
207
Bedjaoui, UN Doc A/CN.4/216/REV. 1, ILC-Yearbook (1969, II), S. 69, 100, Rn. 156.
372 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
Noch im Jahr 1969 diskutierte die ILC Bedjaouis zweiten Bericht. Die Resonanz
war dabei massiv zwiegespalten:
Von Seiten der ILC-Mitglieder aus Süd und Ost erntete Bedjaoui Beifall für
seinen Bericht. Bartoš begrüßte Bedjaouis Ablehnung des Konzepts Erworbener
Rechte.208 Die neuen Staaten müssten nicht nur von den Kolonialmächten selbst,
sondern auch von den durch diese in ihrer Funktion als Treuhänder der Interessen
des jeweiligen Kolonialvolkes böswillig errichteten wirtschaftlichen Dienstbarkei-
ten befreit werden, was auch durch Resolution 1803 (XVII) der Generalversamm-
lung garantiert würde.209 Die gesamte Dritte Welt und damit die Mehrheit der Mit-
glieder der Vereinten Nationen sei gegen den Schutz Erworbener Rechte, bei deren
Gewährung imperialistische Staaten über fremde Länder verfügt und bei denen sich
die getätigten Investitionen längst amortisiert hätten; außerdem gefährde der Schutz
Erworbener Rechte die Souveränität der neuen Staaten, sofern diesen das Recht
zur Enteignung und Nutzung der eigenen Ressourcen aberkannt würde.210 Auch
Tabibi lehnte den Schutz Erworbener Rechte ab und stimmte mit Bedjaoui überein,
dass ein wichtiges Prinzip für die Frage der Erworbenen Rechte die Staatengleich-
heit sei, das auch das souveräne Recht zur Verfügung über die eigenen natürlichen
Ressourcen beinhalte.211 Daneben sei jedoch noch ein anderes Völkerrechtsprinzip
maßgeblich:
The second relevant principle of international law was that of self-determination, which
was not a political principle but a legal principle. That principle had been recognized in
the International Covenants on Human Rights 8 and constituted a rule of jus cogens. At the
Vienna Conference on the Law of Treaties, during the discussion of article 49 of the draft,
on coercion of a State by the threat or use of force, and of the amendment to that article
of which Afghanistan had been one of the sponsors, he had pointed out that political self-
determination was meaningless unless supplemented by economic self-determination.212
208
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1000, ILC-Yearbook (1969, I), S. 53, 56, Rn. 25.
209
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1000, ILC-Yearbook (1969, I), S. 53, 56, Rn. 25.
210
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1000, ILC-Yearbook (1969, I), S. 53, 56, Rn. 26 ff.
211
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1000, ILC-Yearbook (1969, I), S. 53, 57, Rn. 35.
212
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1000, ILC-Yearbook (1969, I), S. 53, 57, Rn. 36.
IV. Bedjaouis zweiter Bericht in der ILC373
Für Tabibi widersprach der Schutz Erworbener Rechte also der souveränen Gleich-
heit der Staaten, dem Selbstbestimmungsrecht und der PSNR. Für ihn kulminierte
die Debatte um die Bindung der Dritten Welt an Ungleiche Verträge in der Dis-
kussion um Erworbene Rechte, die auf solchen Ungleichen Verträgen beruhten;
um diese Argumentation zu untermauern, nutzte Tabibi das gesamte Repertoire an
Grundprinzipien des Völkerrechts, die in der Bindungsdebatte relevant geworden
waren.213 Jedenfalls waren die ehemaligen Kolonien auch aus Tabibis Sicht nicht zu
Kompensationszahlungen verpflichtet, sondern würden solche allenfalls freiwillig
tätigen, da es keine anderslautende völkerrechtliche Norm gebe, welche die staat-
liche Souveränität und das Selbstbestimmungsrecht diesbezüglich beschneide.214
Ustor fand zwar, das Bedjaoui die sowjetische Perspektive in seinem zweiten
Bericht unterbetont sowie in Teilen das Recht der Staatennachfolge verlassen habe
und in den Bereich der Staatenverantwortlichkeit geraten sei.215 In der Sache teilte
er jedoch Bedjaouis Idee, dass Erworbene Rechte nicht unumstößlich seien.216 Dies
ergab sich für Ustor aus der Existenz gegensätzlicher Wirtschaftssysteme und den
damit verbundenen unterschiedlichen Eigentumskonzeptionen:
[I]n the sphere of property rights the world was not uniform, and that there were States
and societies which believed that a limitation of those rights was conducive to the general
welfare of the population and to the development of human society. That raised the ques-
tion of the property rights of aliens in a State where there had been a change in the laws
of property or in the laws governing the economic system as a whole, with or without the
phenomenon of State succession, which seemed to revive the old, and for him now obsolete,
debate between the advocates of “equal treatment” and the “minimum standard”.217
213
In diesem Zusammenhang hielt Tabibi eine ganze Reihe von Dokumenten für bedeutsam:
„The Special Rapporteur had appropriately referred to the historic Declaration on perma-
nent sovereignty over natural resources, adopted by the General Assembly in its resolution
1803 (XVII), but it was important to remember that that declaration was a complement to
the famous Declaration on the granting of independence to colonial countries and peoples,
contained in General Assembly resolution 1514 (XV). To those decisions must now be added
the very recent Declaration on the prohibition of military, political or economic coercion in
the conclusion of treaties adopted by the United Nations Conference on the Law of Treaties
and annexed to the Final Act of that Conference and the resolution, relating to that same
Declaration, whereby the Conference requested "the Secretary-General of the United Nations
to bring the Declaration to the attention of all Member States and other States participating
in the Conference, and of the principal organs of the United Nations". Those recent decisions
were especially relevant because many of the acquired rights claimed by predecessor States
had been procured by coercion, and hence by illegal means.” ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1000,
ILC-Yearbook (1969, I), S. 53, 57, Rn. 37.
214
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1000, ILC-Yearbook (1969, I), S. 53, 57, Rn. 38.
215
So hätten auch die sozialistischen Staaten in den 1950er-Jahren eine Reihe von Kompen-
sationsvereinbarungen abgeschlossen, dies jedoch ausschließlich im Sinne der friedlichen
Koexistenz und der internationalen Handelsbeziehungen, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1002,
ILC-Yearbook (1969, I), S. 64, 64 f., Rn. 3 ff.
216
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1002, ILC-Yearbook (1969, I), S. 64, 64, Rn. 6.
217
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1002, ILC-Yearbook (1969, I), S. 64, 64, Rn. 7.
374 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
Hierin lag für Ustor auch die Lösung des Problems der Erworbenen Rechte: Die
ILC müsse anerkennen, dass jeder Staat über die Freiheit verfüge, sein Wirtschafts-
system samt aller Eigentumsrechte nach Belieben zu ändern.218 Ushakov sah dies
ähnlich und blieb somit ebenfalls der sowjetischen Linie treu; in Bezug auf Erwor-
benen Rechte hielt er es vorliegend jedoch nur für sinnvoll, Rechte im Staat-Staat-
Verhältnis, nicht aber jene im Staat-Fremden-Verhältnis zu kodifizieren, da letztere
keine speziellen Probleme des Rechts der Staatennachfolge seien.219
Auch Castañeda war der Ansicht, dass die Frage der Erworbenen Rechte nicht
zum Recht der Staatennachfolge gehöre, begrüßte aber als Lateinamerikaner trotz-
dem Bedjaouis Frontalangriff in dieser Sache.220 Castañeda teilte Bedjaouis Ansicht
zum internationalen Mindeststandard, der souveränen Gleichheit und der PSNR.221
Die genannten Grundprinzipien waren für ihn als „juridico-political factors“ auch
deutlich relevanter als die Berufung auf überholte Fälle der Staatenpraxis.222
In Tammes fand Bedjaoui zumindest in Bezug auf seine Gerechtigkeitserwä-
gungen auch einen westlichen Unterstützer. Tammes hielt eine ungerechtfertigte
Bereicherung der ehemaligen Kolonien für ausgeschlossen, da deren Reichtümer
als Erworbene Rechte in der Hand Fremder lägen.223 Zweifel äußerte Tammes aller-
dings mit Blick auf Bedjaouis Ablehnung gegenüber Kompensationsansprüchen:
218
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1002, ILC-Yearbook (1969, I), S. 64, 65, Rn. 12.
219
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1005, ILC-Yearbook (1969, I), S. 73, 77 f., Rn. 46 ff.
220
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1006, ILC-Yearbook (1969, I), S. 78, 81, Rn. 21 f..
221
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1006, ILC-Yearbook (1969, I), S. 78, 81, Rn. 24 ff.
222
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1006, ILC-Yearbook (1969, I), S. 78, 81, Rn. 27. „As had already
been said, in matters of that kind moral considerations could not be disregarded completely
in appraising juridical situations. In that connexion the theory of the community of fortunes
enunciated by the great Argentine jurist Podesta Costa was of interest. According to that
theory, an alien who invested in a foreign country associated himself with that country for
better or for worse. He expected to make a bigger profit than he would by investing in his own
country. In most cases, that was possible because of the country's relative economic under-
development. But economic under-development was almost always accompanied by greater
political instability, and that involved risks for the alien. He could not claim the advantages
without also accepting the disadvantages. Profits and risks were the same for aliens and
nationals. The rights of aliens and of nationals must therefore be equal in everything, inclu-
ding, for example, nationalization and compensation.” ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1006, ILC-
Yearbook (1969, I), S. 78, 81, Rn. 28. Castañeda liefert für seine Aussage keinen Beleg. Vgl.
auch die insagsamt sehr ähnliche Position des Argentiniers José María Ruda, ILC, UN Doc
A/CN.4/SR.1006, ILC-Yearbook (1969, I), S. 78, 82, Rn. 38.
223
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1003, ILC-Yearbook (1969, I), S. 66, 67, Rn. 12. Tammes
verwies dabei auf das Urteil im Nordseefestlandsockel-Fall, in welchem der IGH sich zum
Verhältnis von Gleichheit und Gerechtigkeit geäußert hatte. Demnach impliziere Gerechtig-
keit nicht notwendig Gleichheit; es gehe nicht um eine Umgestaltung der Natur, sondern
darum, in Situation der Quasi-Gleichheit einer Gruppe von Staaten die Wirkung zufälliger
Besonderheiten, aus denen eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung resultieren könne,
IV. Bedjaouis zweiter Bericht in der ILC375
Compensation was a necessary safeguard for foreign investments, which still had a part to
play in helping to bring a reasonable degree of prosperity to developing countries. Com-
pensation was also necessary to relieve the human suffering which inevitably resulted from
social change. It should, moreover, be remembered that compensation had a place in cases
of State succession other than those resulting from decolonization.224
Tammes forderte hier also eine Interessenabwägung, wobei sich die Interessenlage
bei den neuen Staaten vielschichtiger darstelle als bei Bedjaoui.
Die meisten westlichen Mitglieder der ILC sahen Bedjaouis zweiten Bericht
jedoch deutlich kritischer. Der Grieche Constantin Th. Eustathiades hielt die Frage
der Erworbenen Rechte – weder de lege lata noch de lege ferenda – für das Leitprin-
zip der Staatennachfolge.225 Er kritisierte auch die Bedeutung, welche Bedjaoui der
Generalversammlungsresolution 1803 (XVII) beimaß, da das Recht eines Staates
auf Verfügung über seine natürlichen Ressourcen nicht notwendig mit der Staaten-
nachfolge zusammenhänge.226 Eustathiades warf Bedjaoui außerdem ein einseiti-
ges Vorgehen vor: Dieser habe sich zu sehr auf zwischenstaatliche Konstellationen
konzentriert und die Interessen der Privaten dabei aus den Augen verloren habe.227
Weiter meinte er:
It would be better to place more emphasis on the concept of substitution of sovereignty,
which led up to the principle of the equality of States, instead of making that the guiding
principle of the report. The principle of the equality of States did not, however, get rid of the
problem. Could not the new State, as a successor State, have additional obligations without
that infringing the principle of equality?228
Auch fand Eustathiades, dass Bedjaouis Bericht zu sehr auf die Dekolonialisierung
fokussiert sei.229 In diesem Punkt schloss sich im Verlauf der Debatte eine Reihe von
ILC-Mitgliedern Eustathiades an.230
zu verringern. Diese auf geographische Begebenheiten bezogene Äußerung des IGH hielt
Tammes auch in Bezug auf die historische Entwicklung der Wohlstandsverteilung für ein-
schlägig, welche für die Zukunft gewandelt werden könnte. ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1003,
ILC-Yearbook (1969, I), S. 66, 67 f., Rn. 12 ff. Zu den Implikationen dieses Falls für das
Investitionsschutzrecht siehe auch Francioni, Compensation for Nationalisation of Foreign
Property: The Borderline between Law and Equity, 24 International and Comparative Law
Quarterly (1975), S. 255, 256 f.
224
International Law Commission, Summary Record of the 1003rd Meeting, UN Doc A/
CN.4/SR.1003, Yearbook of the International Law Commission (1969, I), S. 66, 68, Rn. 20.
225
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 58, Rn. 3.
226
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 58, Rn. 5.
227
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 58, Rn. 8.
228
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 58, Rn. 8.
229
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 59, Rn. 15.
230
Z.B. Castrén, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 62, Rn. 39;
Tammes und Reuter, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1003, ILC-Yearbook (1969, I), S. 66, 68,
Rn. 21, S. 69, Rn. 13; Waldock, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1005, ILC-Yearbook (1969, I),
S. 73, 75, Rn. 19.
376 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
Die Kritik von Kearney fiel noch deutlich harscher aus. Darüber konnten auch seine
Respektbekundungen gegenüber Bedjaoui nicht hinwegtäuschen. Kearney schrieb:
His present remarks should not be interpreted as indicating any lack of appreciation of the
ability and conscientiousness shown by the Special Rapporteur in preparing his extensive
and thought-provoking report, which contained considerable substantive documentation
and was an undeniable achievement on the part of a man with important and absorbing
official duties.
The report undoubtedly suffered from technical imperfections in that it adopted a
rather unsystematic approach to the identification and citation of quotations, sources and
authorities.231
231
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 59, Rn. 17 f.
232
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 59 f., Rn. 18 ff.
233
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 60, Rn. 22.
234
Kearney erklärte: „In his argument, the Special Rapporteur had relied heavily on General
Assembly resolution 1803 (XVII), on permanent sovereignty over natural resources. For
example, in paragraph 135, he had said that in one of the preambular paragraphs of that
resolution, "the right to compensation in the case of succession by decolonization was exclu-
ded", and had added: "The United Nations thus showed its awareness of the special nature of
succession in the case of newly independent States and indicated the course to be followed
in the work of codification and progressive development of international law, with a view to
arriving at a positive law of non-compensation". Again, in paragraph 110, he had described
that resolution as "the charter of combat of the poor against the rich"; that was certainly
pejorative language to use in what purported to be a balanced and non-partisan report on
the international law of State succession.” ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook
(1969, I), S. 57, 61, Rn. 31.
235
Siehe ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 61, Rn. 33.
236
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 61, Rn. 32.
IV. Bedjaouis zweiter Bericht in der ILC377
hier die Fakten absichtlich verdreht hatte, da sich Bedjaouis Heimatland Algerien
schon in der Generalversammlungsdebatte über die fragliche Resolution um eine
kritische Überprüfung Erworbener Rechte bemüht hatte.237 Weiter kritisierte er die
mangelnde rechtstheoretische Fundiertheit des Berichts, der sich vielmehr auf eine
spezifische ökonomische und politische Theorie stütze.238 Bedjaouis These, nach
der die Entwicklungsländer im Falle des Schutzes Erworbener Rechte auf Enteig-
nungen verzichten und damit in Armut verharren müssten, hielt Kearney für „pure
Marxist mythology“; Enteignungen stünden im Gegenteil der Entwicklung armer
Staaten eher im Wege, als dass sie diese beförderten.239 Auch Bedjaouis pauschale
Absage gegenüber dem angeblichen nutzlosen Konzept der Erworbenen Rechte
hielt Kearney für zu eng:
That statement seemed to pay too much deference to legal formalism and too little to the
basic principles which law was intended to serve. Law, after all, was not a mere abstraction,
but was intended for the achievement of peace and harmony in human society. If the theory
of acquired rights was regarded from that point of view, it was difficult to reach the bald
conclusion that it was useless, since it undoubtedly did tend to promote stability, especially
in the financial and economic spheres, and to encourage capital investment and technical
assistance. It also avoided certain possible consequences that might result from a denial of
the concept of acquired rights, such as the possibility of a resort to sanctions by a foreign
State which had lost what it considered to be acquired rights. Foreign investment, after
all, was an important element in the finances of many States, particularly in their balance-
of-payments situation, so that any large-scale nationalization without compensation might
involve their interests either directly or indirectly.240
Hier verwendete Kearney also sowohl Bedjaouis soziologische Methodik wie auch
das Stabilitätsargument gegen ihn. Insgesamt hielt Kearney Bedjaoui dazu an, auf
den ursprünglich für den zweiten Bericht vorgesehenen Pfad zurückzukehren:
He was sure the Special Rapporteur realized that disagreement was inevitable concerning
the interpretation of judicial decisions, the meaning of historical events and the practice of
States. The best plan, therefore, might be to agree to disagree about the past and to con-
centrate on agreeing for the future. In doing so, it might be wise to abandon the search for
237
„And the history of the paragraph showed that the Special Rapporteur's interpretation was
patently erroneous, since when the text had been discussed in the Second Committee, the
Algerian delegation had proposed a paragraph reading: "Considering that the obligations of
international law cannot apply to alleged rights acquired before the accession to full national
sovereignty of formerly colonized countries and that, consequently, such alleged acquired
rights must be subject to review as between equally sovereign States,". If that proposal had
been accepted, there would have been some justification for the conclusion reached by the
Special Rapporteur, but it had in fact been withdrawn and the fifth paragraph of the preamble
had been adopted as it now stood. The lack of any reference in the report to a series of events
which had a direct bearing on that paragraph must be regarded as a serious defect.” ILC, UN
Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 61, Rn. 32.
238
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 61, Rn. 34.
239
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 62, Rn. 34.
240
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1008, ILC-Yearbook (1969, I), S. 90, 93, Rn. 18.
378 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
categorical statements about acquired rights and to revert to the original plan of dealing
with different aspects of succession, such as public debts and the like, which were of great
practical importance for developing States and former colonies.241
Kearneys harsche Kritik rief den Vorsitzenden Ushakov auf den Plan, der die Mit-
glieder der ILC anhielt, bitte nicht die persönlichen Ansichten Bedjaouis zu kom-
mentieren.242 Diese Ermahnung strafte nicht nur Kearney ab, sondern sprach auch
Bände darüber, als was Bedjaouis zweiter Bericht wahrgenommen wurde: nämlich
als persönliche Meinungsäußerung des Sonderberichterstatters. Die weitere Kritik
an Bedjaouis zweitem Bericht wurde dementsprechend vorsichtiger, wenn auch
nicht weniger deutlich geäußert: Castrén ging wie der Sonderberichterstatter davon
aus, dass die Frage der Erworbenen Rechte zentral für die wirtschaftlichen und
finanziellen Probleme der Staatennachfolge sei; jedoch hielt er Bedjaouis Ansatz
für zu kategorisch und einseitig.243 Castrén ging nach wie vor vom Schutz Erwor-
bener Rechte und einer dementsprechenden Pflicht zur Entschädigung bei Enteig-
nung aus.244 Die Achtung fremdenrechtlicher Mindeststandards, die sich auch aus
menschenrechtlichen Garantien wie Artikel 17 Absatz 2 der Allgemeinen Erklä-
rung der Menschenrechte ergebe, sei eine Beschränkung der staatlichen Souveräni-
tät, welche alle Staaten gleichermaßen treffe; Bedjaouis Argumentation zur souve-
ränen Gleichheit der Staaten gehe insofern fehl.245 Auch Bedjaouis Interpretation
der Präambel der Generalversammlungsresolution 1803 (XVII) hielt Castrén wie
Kearney weiterhin für fehlerhaft.246 Insgesamt maß Castrén den verschiedenen Völ-
kerrechtsprinzipien, welche Völkerrechtler in der Dritten Welt immer wieder für
ihre Argumentation nutzten, in Bezug auf Erworbene Rechte nur begrenzte Bedeu-
tung bei:
241
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 62, Rn. 35.
242
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 62, Rn. 36.
243
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 62, Rn. 37 f.
244
Praxis und Literatur sprachen für Castrén überwiegend für den Schutz erworbener
Rechte, wobei Details sicherlich strittig seien. Die erworbenen Rechte anderer Staatsange-
höriger könnten nur unter bestimmten Umständen wie der gezielten Benachteiligung des
Nachfolgerstaates, Konflikten mit dessen Öffentlicher oder Gesellschaftsordnung und aus
Allgemeininteresse beendigt werden; in diesen Fällen sei jedoch eine den Umständen ent-
sprechende Entschädigung zu zahlen, wobei „the amount should be equitable and payment
prompt, in convertible, not depreciated, currency”. ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-
Yearbook (1969, I), S. 57, 62 f., Rn. 39 ff.
245
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 63, Rn. 44 f. Ähnlich argu-
mentierte beispielsweise McDougal, für den sich der der internationale Mindeststandard aus
den Menschenrechten ergibt. Siehe McDougal/Lasswell/Chen, The Protection of Aliens from
Discrimination and World Public Order: Responsibility of States Conjoined with Human
Rights, 20 American Journal of International Law (1976), S. 432, 432 ff.
246
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1001, ILC-Yearbook (1969, I), S. 57, 62, Rn. 47.
IV. Bedjaouis zweiter Bericht in der ILC379
The right of self-determination was no more absolute than other rights, and could therefore
be reconciled with the principle of acquired rights. Similarly, in the application of the right
of peoples freely to dispose of their natural wealth and resources, or of the right of peoples
freely to adopt the economic system they desired, the interests of the other parties had to
be considered. The State invoking those rights could not be allowed complete discretion.247
Reuter stimmte weitgehend mit Castrén überein; er beschied Bedjaoui zwar bemer-
kenswerte wissenschaftliche und intellektuelle Fähigkeiten, fand seinen zweiten
Bericht jedoch auf Grund dessen Rigidität auch militant und folgendermaßen
zusammenfassbar:248
[E]ither there was sovereignty or there was not; either a legal rule was clear and precise or
it was not a rule.249
247
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1005, ILC-Yearbook (1969, I), S. 73, 76, Rn. 26.
248
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1003, ILC-Yearbook (1969, I), S. 66, 68, Rn. 23.
249
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1003, ILC-Yearbook (1969, I), S. 66, 68, Rn. 23.
250
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1003, ILC-Yearbook (1969, I), S. 66, 69, Rn. 33.
251
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1005, ILC-Yearbook (1969, I), S. 73, 73, Rn. 3.
252
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1005, ILC-Yearbook (1969, I), S. 73, 73, Rn. 4.
253
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1005, ILC-Yearbook (1969, I), S. 73, 74, Rn. 13.
254
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1005, ILC-Yearbook (1969, I), S. 73, 74, Rn. 14.
255
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1005, ILC-Yearbook (1969, I), S. 73, 75, Rn. 19.
380 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
In der Diskussion kristallisierte sich bald heraus, dass die meisten Mitglie-
der Kearneys Vorschlag, Erworbene Rechte zumindest vorerst beiseite zu lassen
und zur ursprünglich geplanten Vorgehensweise zurückzukehren, favorisierten.256
Dem schloss sich überraschend auch Tabibi an, der sich inhaltlich von Beginn der
Debatte an hinter Bedjaoui gestellt hatte. Er äußerte Bedanken, eine vorschnelle
Positionierung der ILC zu dem politisch explosiven Thema der Erworbenen Rechte
könne die Beziehungen zur Generalversammlung verschlechtern.257 Hier wird das
ambivalente Verhältnis zwischen ILC und Generalversammlung deutlich.258 Es
müsse, so Tabibi, eine ausgeglichene Lösung gefunden werden, welche vor allem
die Interessen der Entwicklungsländer, aber auch jene der entwickelten Staaten in
ausreichendem Maß berücksichtige.259 Auch inhaltlich ruderte Tabibi angesichts der
vorausgegangenen Debatte in der ILC zurück:
As a citizen of a developing country, he fully supported the basic principle of permanent
sovereignty over natural resources, but he also recognized the urgent need of developing
countries for foreign investment and technical assistance from both socialist and capitalist
sources. In the circumstances, it was incumbent upon jurists to avoid any action which
might have a detrimental effect on the inflow of such investment and assistance. For
example, unless adequate safeguards and acceptable procedures for the settlement of dispu-
tes were agreed upon, it would be difficult for developing countries to obtain the assistance
they required. That was the present reality which must be faced, regardless of any question
of past exploitation of developing countries by foreign interests.260
Auch Yasseen, der noch im Vorjahr Bedjaouis Vorgehensweise gelobt hatte, teilte
zwar weiterhin viele Auffassungen Bedjaouis, kritisierte jedoch nun dessen Zugang
zum Thema Staatennachfolge über die Frage der Erworbenen Rechte.261 Er meinte:
256
Siehe beispielsweise Waldock und Castrén ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1005, ILC-Yearbook
(1969, I), S. 73, 75, Rn. 21, S. 76, Rn. 31.
257
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1005, ILC-Yearbook (1969, I), S. 73, 76 f., Rn. 34 ff.
258
Siehe oben, Teil II.
259
Tabibi meinte, es gebe bereits ein Organ der Vereinten Nationen, das sich dieses Themas
annehme, nämlich die Commission on Permanent Sovereignty over Natural Resources,
welche die Generalversammlung durch Resolution 1314 (XIII) eingesetzt hatte. Obwohl die
Arbeit dieser Kommission in Generalversammlungsresolution 1803 (XVII) gemündet hatte
und seitdem nicht mehr zusammengekommen war, schien ihre Wiederbelebung Tabibi nicht
ausgeschlossen, so dass er einen Kompetenzkonflikt zwischen ILC und Generalversamm-
lung befürchtete. Siehe ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1005, ILC-Yearbook (1969, I), S. 73, 76 f.,
Rn. 36 ff. Ähnlich äußerte sich auch Rosenne, der Streit in der ILC und der Generalversamm-
lung abwenden wollte, siehe ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1007, ILC-Yearbook (1969, I), S. 85,
86, Rn. 4 ff. Siehe ebenfalls Singh, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1007, ILC-Yearbook (1969, I),
S. 85, 89, Rn. 26.
260
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1005, ILC-Yearbook (1969, I), S. 73, 77, Rn. 41. Ähnlich auch
der Japaner Senjin Tsuruoka, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1007, ILC-Yearbook (1969, I), S. 85,
88, Rn. 18, und Luis Ignacio-Pinto aus Benin, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1008, ILC-Year-
book (1969, I), S. 90, 91, Rn. 3 ff.
261
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1006, ILC-Yearbook (1969, I), S. 78, 83 f., Rn. 48 ff.
IV. Bedjaouis zweiter Bericht in der ILC381
The question of acquired rights was one of the most confused and controversial in both
internal and international law. It could not provide the key to the general theory of State
succession, even though it could help to solve certain problems which might otherwise
remain unsolved. Thus a frontal approach to the question of acquired rights was perhaps
not without disadvantages.262
Dass Erworbene Rechte vom Völkerrecht zumindest durch ein Recht auf Entschä-
digung bei Enteignung geschützt werden könnten, war eine Möglichkeit, die Bedja-
oui hier bewusst ausließ. Trotzdem hatte Bedjaoui zu diesem Zeitpunkt noch nicht
die Hoffnung aufgegeben, seine Position zu Erworbenen Rechten in den späteren
Vertragsentwurf einzubringen. Bartoš machte nämlich den Vorschlag, Bedjaoui
solle anhand der Erkenntnisse aus der Debatte in seinem nächsten Bericht konkrete
Regelungen zur Frage der Erworbenen Rechte vorstellen.265 Bedjaoui nahm diese
Anregung auf und erklärte:
He was sorry if he had caused some difficulty to certain members of the Commission, but he
was sure that, in view of its importance, the problem of acquired rights would be discussed
by the Commission again at subsequent sessions.266
Bedjaoui fürchtete, das Thema der Erworbenen Rechte könne auf Grund der
Abgrenzungsprobleme zwischen den verschiedenen Berichterstattern unter den
Tisch fallen.267 Daher wollte Bedjaoui für seinen nächsten Bericht zwei bis drei all-
gemeine Normen zur Frage Erworbener Rechte im weiteren Sinne formulieren.268
Bedjaoui hielt diese Aufgabe für dringlich, denn die Debatte habe gezeigt, dass in
Bezug auf die Frage der Erworbenen Rechte erheblicher Klärungsbedarf bestehe.269
262
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1006, ILC-Yearbook (1969, I), S. 78, 83, Rn. 50.
263
„[I]n order to redress the wrongs suffered by colonized peoples, all that was needed was to
calculate the compensation in an appropriate manner. With some concessions, it would be rea-
sonable, when deciding whether the concession holders were entitled to compensation, to calcu-
late how much the concession had yielded as a going concern. The result would nearly always
be quite fair.” ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1006, ILC-Yearbook (1969, I), S. 78, 84, Rn. 58.
264
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1006, ILC-Yearbook (1969, I), S. 78, 80, Rn. 17.
265
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1008, ILC-Yearbook (1969, I), S. 90, 95, Rn. 48.
266
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1009, ILC-Yearbook (1969, I), S. 95, 96, Rn. 22.
267
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1009, ILC-Yearbook (1969, I), S. 95, 96 f., Rn. 22 ff.
268
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1009, ILC-Yearbook (1969, I), S. 95, 97, Rn. 28.
269
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1009, ILC-Yearbook (1969, I), S. 95, 97, Rn. 29.
382 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
The Commission thanked the Special Rapporteur for his second report on succession of
States in respect of matters other than treaties and confirmed its decision to give that topic
priority at its twentysecond regular session, in 1970. It requested the Special Rapporteur to
prepare, for that session, a report containing draft articles on succession of States in respect
of economic and financial matters, taking into account the comments made by members of
the Commission on his second report at the twenty-first session.271
Tatsächlich schlug Bedjaoui in der Folge einen diplomatischeren Weg ein und machte
sich an die Ausgestaltung einzelner Regelungen. Die Frage der Erworbenen Rechte
aus Wirtschaftskonzessionen wurde in ihrer Umfassendheit hingegen nicht mehr
angegangen. Dies lag sicherlich auch daran, dass sich die unterschiedlichen Ansich-
ten in dieser Frage durch eine zwischenzeitliche Änderung der Positionierung der
Generalversammlung zunehmend konfrontativer gegenüberstanden. Katalysatoren
für diese Entwicklung waren insbesondere die Positionierung der UNCTAD sowie
die Ölkrise.272 Gegen den Widerstand der Industrienationen verabschiedete die
270
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1009, ILC-Yearbook (1969, I), S. 95, 97, Rn. 29.
271
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1009, ILC-Yearbook (1969, I), S. 95, 100, Rn. 54, 62.
272
Ausgegangen war diese Veränderung von UNCTAD unter dem maßgeblichen Einfluss
einiger Staaten Lateinamerikas und Afrikas. Die UNCTAD hatte im Jahr 1972 unter Beru-
fung auf die permanente Souveränität über natürliche Ressourcen aller Staaten beschlossen,
„in the application of this principle, such measures of nationalization as States may adopt
in order to recover their natural resources, are the expression of a sovereign power in virtue
of which it is for each State to fix the amount of compensation and the procedure for these
measures, and any dispute which may arise in that connection falls within the sole juris-
diction of its courts, without prejudice to what is set forth in General Assembly Resolution
1803 (XVII).” Zitiert in García-Amador, The Proposed New International Economic Order:
A New Approach to the Law Governing Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of
The Americas (1980), S. 1, 23. Die Resolution 88 (XIII) des Trade and Development Boards
der UNCTAD unterstellte die Bestimmung der Höhe der zu zahlenden Entschädigung ebenso
wie Streitigkeiten hierüber allein dem nationalen Recht des Gaststaates. Ähnliche Positio-
nen nahmen die Bewegung Blockfreier Staaten sowie viele Länder Lateinamerikas in dieser
Zeit an, siehe García-Amador, The Proposed New International Economic Order: A New
Approach to the Law Governing Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of The Ame-
ricas (1980), S. 1, 31 f. Zur Ölkrise siehe Pahuja, Decolonising International Law: Develop-
ment, Economic Growth and the Politics of Universality (2011), S. 95.
V. Weitere Bedeutung der Erworbenen Rechte in der WKSVAS383
Generalversammlung im Jahr 1973 ihre Resolution 3171, nach der die Zahlung von
Schadensersatz nach Enteignung Erworbener Rechtes im Namen der PSNR nicht
mehr als obligatorisch, sondern nur noch als möglich betrachtet wurde; außerdem
sollte sich diese Zahlung ebenso wie die Gerichtsbarkeit für solche Fragen nunmehr
ausschließlich nach nationalem Recht bestimmen.273 Damit machte die Dritte Welt
deutlich, dass sie die Frage des Schutzes Erworbener Rechte dem Völkerrecht entzie-
hen und in den eigenen nationalen Hoheitsbereich verschieben wollte. Durch diese
Grenzziehung wollten sie sich mehr Spielraum im Investitionsschutz verschaffen.
Im selben Jahr startete auch Bedjaoui in seinem sechsten Bericht einen Versuch,
das Thema der Konzessionen erneut in die Debatte in der ILC zu bringen, indem er
einen Artikelentwurf zum Recht auf die Vergabe von Konzessionen statt zur Pflicht,
diese zu schützen, formulierte:
Dabei behauptete Bedjaoui, die Debatte über den Schutz Erworbener Rechte aus
Wirtschaftskonzessionen nicht wieder aufnehmen zu wollen.275 Er meinte, es gehe
ihm vorliegend ausschließlich um das Schicksal der Rechte des konzessionsgebenden
273
„[…] Affirms that the application of the principle of nationalization carried out by States,
as an expression of their sovereignty in order to safeguard their natural resources, implies
that each State is entitled to determine the amount of possible compensation and the mode
of payment, and that any disputes which might arise should be settled in accordance with the
national legislation of each State carrying out such measures […].” GA, UN Doc A/Res/3171
(XXVIII) (1973), Permanent Sovereignty over Natural Ressources (17. Dezember 1973),
Rn. 3.
274
Bedjaoui, Sixth Report on Succession of States in Respect of Matters other than Treaties,
UN Doc A/CN.4/267, Yearbook of the International Law Commission (1973, II) S. 3, 10, 24.
Mit dieser Definition erfasste Bedjaoui sowohl öffentliche als auch private erworbene Rechte.
275
„No attempt will be made in the present article to deal with the complex of problems the
successor State faces with regard to concessions granted by its predecessor. One aspect of
these problems, which will not be dwelt on here, was taken up by the Special Rapporteur in
his second report, "Economic and financial acquired rights and State succession".” Bedjaoui,
Sixth Report on Succession of States in Respect of Matters other than Treaties, UN Doc A/
CN.4/267, Yearbook of the International Law Commission (1973, II) S. 3, 24 f., Rn. 2.
384 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
Bedjaoui verfasste hier vordergründig also einen Artikel, von dem er selbst erklärte,
dass dieser thematisch nicht in seinen Bericht gehöre. Hinter diesem auf den ersten
Blick widersinnigen Vorgehen verbarg sich ein geschickter Schachzug Bedjaouis:
Dieser hatte angesichts der Debatte um seinen zweiten Bericht verstanden, dass er
private Erworbene Rechte nicht gegen den Widerstand der ILC in der späteren Kon-
vention ächten konnte. Daher verankerte er nun umgekehrt die Verleihung Erwor-
bener Rechte in der originären staatlichen Souveränität der neuen Staaten; damit
sagte er zwar nichts über die Verpflichtung neuer Staaten zur Achtung jener Rechte,
die Private vom Vorgängerstaat des neuen Staates erworben hatten; in seinem Argu-
mentationssystem war der Weg von der originären Souveränität des neuen Staates
zu dessen Freiheit von der Verpflichtung zum Schutz gegenüber seinem Vorgän-
ger Erworbener Rechte jedoch nicht mehr weit.281 Indem er gleichzeitig feststellte,
276
Bedjaoui, Sixth Report on Succession of States in Respect of Matters other than Treaties,
UN Doc A/CN.4/267, Yearbook of the International Law Commission (1973, II) S. 3, 25,
Rn. 2.
277
Bedjaoui, Sixth Report on Succession of States in Respect of Matters other than Treaties,
UN Doc A/CN.4/267, Yearbook of the International Law Commission (1973, II) S. 3, 25,
Rn. 2.
278
Bedjaoui, Sixth Report on Succession of States in Respect of Matters other than Treaties,
UN Doc A/CN.4/267, Yearbook of the International Law Commission (1973, II) S. 3, 25 f.,
Rn. 3 ff.
279
Bedjaoui, Sixth Report on Succession of States in Respect of Matters other than Treaties,
UN Doc A/CN.4/267, Yearbook of the International Law Commission (1973, II) S. 3, 26 f.,
Rn. 12.
280
Bedjaoui, Sixth Report on Succession of States in Respect of Matters other than Treaties,
UN Doc A/CN.4/267, Yearbook of the International Law Commission (1973, II) S. 3, 27,
Rn. 14.
281
Siehe dazu oben.
V. Weitere Bedeutung der Erworbenen Rechte in der WKSVAS385
dass die Verleihung von Konzessionen keine Frage der Staatennachfolge, sondern
der nationalen Rechtsordnung sei, versuchte er auch die Debatte über den Schutz
Erworbener Rechte in die einzelstaatlichen Jurisdiktionssphären der ehemaligen
Kolonien zu verschieben. Bedjaoui versuchte damit, den neuen Staaten bezüglich
Erworbener Rechte aus Konzessionen für die Zukunft den Argumentationsspiel-
raum zu bewahren, vom Recht auf Konzessionsvergabe auf die Unmöglichkeit
einer Pflicht zur Achtung der durch die Kolonialmächte vergebenen Konzessionen
im Sinne der clean-slate-Theorie zu schließen.282 Bedjaouis Taktikwechsel zu Ende
der ILC-Debatte 1969 wird hier weitergeführt und entspricht auch der nunmehr
offiziellen Position der meisten Staaten der Dritten Welt. Diese wurde durch die
Generalversammlung kommuniziert und geriet zunehmend in den Kontext der For-
derung nach der Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung und damit auch
des Globalsolidarischen Projekts.283 Die NIEO-Charta von 1974 machte aus der
Perspektive von Resolution 3171 wieder einen kleinen Schritt zurück, indem sie die
Verpflichtung zur Entschädigung bei Enteignung zumindest als Sollens-Vorschrift
konzipierte.284 García-Amador befand trotzdem:
282
Für diese Interpretation von Bedjaouis Verhalten sprechen auch seine abschließenden
Worte in Artikel 10:
„In fact, in the context of the present articles, which, it should be remembered, concern public
property, the Special Rapporteur cannot take up the problem of concessions in all their aspects
(some of which relate to the succession of States in respect of legislation, while others concern
the questions of acquired rights and international responsibility). The concession contract gives
rise not only to rights but also to obligations, and at a subsequent stage it will be necessary to
specify the way in which succession of States influences the fate of those obligations. […]
The Special Rapporteur considers, however, that the approach which has made it possible
to define the rights of the conceding authority as not deriving from subrogation, succession
or transfer will subsequently provide a basis for resolving the problem of obligations. If
the concession is the expression of a sovereign act of the public power, that is a voluntary
commitment to an individual or a State which is the beneficiary of the concession, the Inter-
national Law Commission knows how to approach this commitment or, in other words, this
consent to be bound. No matter how a concession may differ in nature from a treaty (and
they do not differ at all when the concession is granted in a treaty), it would be advisable to
envisage applying to concessions, mutatis mutandis, the same rules adopted for treaties in the
draft articles on succession of States in respect of treaties.” Bedjaoui, Sixth Report on Suc-
cession of States in Respect of Matters other than Treaties, UN Doc A/CN.4/267, Yearbook
of the International Law Commission (1973, II) S. 3, 27, Rn. 15, 17. Zu den Regelungen zur
Staatennachfolge in Verträge für ehemalige Kolonien siehe oben, Kapitel 8.
283
García-Amador, The Proposed New International Economic Order: A New Approach to
the Law Governing Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of The Americas (1980),
S. 1, 2. Zur Neuen Weltwirtschaftsordnung und dem Globalsolidarsichen Projekt siehe auch
oben, Teil I.
284
„Each State has the right:
a. To regulate and exercise authority over foreign investment within its national jurisdiction in
accordance with its laws and regulations and in conformity with its national objectives and
priorities. No State shall be compelled to grant preferential treatment to foreign investment;
386 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
The right “to nationalize, expropriate or transfer of foreign property,” as conceived and
formulated in the NIEO’s Charter, becomes, in nature and scope, a corollary right of the
classic concept of absolute State sovereignty.285
The fact remains that CERDS [Charter of Economic Rights and Duties of States] was not
just one solitary act of rebellion against the traditional rules. It was rather, the final act of
rejection in a long drawn resistance to the application of the traditional rules and therefore
it is questionable whether or not the latter can any longer be applied to the CIS [capital
importing states] who voted in favour of CERDS.286
Fraglich war dabei jedoch die rechtliche Bedeutung der NIEO-Charta als Resolu-
tion der Generalversammlung.287 Dabei wurde diese von viele Völkerrechtlern aus
der Dritten Welt zwar jedenfalls auf Grund der sechs Gegenstimmen und der zehn
Enthaltungen wichtiger Industrienationen nicht per se als bindend betrachtet, sollte
aber doch rechtlichen Einfluss genießen.288
Da die ILC bei ihrer 25. Sitzung 1973 und bei ihrer 26. Sitzung 1974 nicht
dazu kam, Artikel 10 aus Bedjaouis sechstem Bericht zu diskutieren, tauchte die
b. To regulate and supervise the activities of transnational corporations within its national
jurisdiction and take measures to ensure that such activities comply with its laws, rules
and regulations and conform with its economic and social policies. Transnational cor-
porations shall not intervene in the internal affairs of a host State. Every State should,
with full regard for its sovereign rights, cooperate with other States in the exercise of the
right set forth in this subparagraph;
c. To nationalize, expropriate or transfer ownership of foreign property, in which case
appropriate compensation should be paid by the State adopting such measures, taking
into account its relevant laws and regulations and all circumstances that the State consi-
ders pertinent. In any case where the question of compensation gives rise to a controversy,
it shall be settled under the domestic law of the nationalizing State and by its tribunals,
unless it is freely and mutually agreed by all States concerned that other peaceful means
be sought on the basis of the sovereign equality of States and in accordance with the
principle of free choice of means.” GA, UN Doc A/Res/3281 (XXIX) (12. Dezember
1974), Artikel 2 Absatz 2. In der NWWO-Charta wurde letztlich in vielen Punkten die
Calvo-Doktrin umgesetzt. Siehe hierzu ausführlich García-Amador, The Proposed New
International Economic Order: A New Approach to the Law Governing Nationalization
and Compensation, 12 Lawyer of The Americas (1980), S. 1, 32 ff.
285
García-Amador, The Proposed New International Economic Order: A New Approach to
the Law Governing Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of The Americas (1980),
S. 1, 50 f.
286
Carasco, A Nationalization Compensation Framework in the New International Economic
Order, 49 Third World Legal Studies (1983), S. 49, 52.
287
Siehe hierzu schon oben, Teil I.
288
Siehe Carasco, A Nationalization Compensation Framework in the New International Eco-
nomic Order, 49 Third World Legal Studies (1983), S. 49, 50 f.
V. Weitere Bedeutung der Erworbenen Rechte in der WKSVAS387
Regelung auch in seinem siebten Bericht 1974 auf289 und wurde von ihm in leicht
abgeänderter Form im Jahr 1975 der ILC vorgestellt.290 Dabei ergänzte Bedjaoui zur
Sinnfrage von Artikel 10:
United Nations practice showed that for about fifteen years the General Assembly had been
referring, in numerous resolutions, to “permanent sovereignty over natural resources”.
That sovereignty might be defined as the use by the State of the sum total of its powers—
its “paramount competence” (competence majeure) – to regulate the status of natural
resources. Why, then, speak of “permanent sovereignty over natural resources”? Resources
were not an additional attribute of sovereignty, but an object, or subject-matter, over which
single and indivisible sovereignty was exercised. And yet the expression “sovereignty over
resources” was used, as though it referred to some particular kind of sovereignty. In fact, the
word “sovereignty” in that instance meant “ownership” of natural resources, and the words
“permanent sovereignty” meant that such sovereignty was inalienable, although to say so
might be thought redundant.
[…] Thus, to understand the evolution of United Nations doctrine in the last fifteen years,
one must not rely only on classical international law, whose conception of sovereignty had
been based essentially on political criteria. The Charter defined sovereignty by its political
elements, to the exclusion of its economic aspects. It condemned only infringements of
political sovereignty: the sanctions it provided were for the breach of political obligations
only, economic duties being excluded. Nevertheless, the Charter regarded the problem of
underdevelopment and economic backwardness as a major problem of concern to the inter-
national community. That showed—and there lay the paradox of the Charter—how great a
distance separated the affirmation of the principle of international economic co-operation
from its realization through the application of operational rules.
An effort was now being made in the United Nations to state the problem of sovereignty
in other terms. The traditional conception of sovereignty, disembodied, formal and based on
the rules of classical law, was giving way, together with the problem of natural resources, to
a new conception based on the principle of national economic independence. That principle
had been given a new and very important legal function and had thus been erected into a
principle of modern public international law.291
In dem Bedjaoui die Frage nach dem Sinn von Artikel 10 mit Verweis auf die neue,
wirtschaftliche Dimension der staatlichen Souveränität beantwortete, machte er
nochmals deutlich, um welche Konstellationen es ihm wirklich ging. Sein Vortrag
provozierte Elias’ Nachfrage, ob es Bedjaoui wirklich um die Rechte der neuen
Staaten in Bezug auf die Vergabe von Konzessionen gehe oder nicht vielmehr um
deren Pflicht zur Achtung der vom Vorgänger erlassenen Konzessionen; eine Rege-
lung mit dem erstgenannten Inhalt sei wegen ihrer Offensichtlichkeit überflüssig,
ein etwaiger Artikel über Konzessionen sollte sich daher mit der viel strittigeren
Bindungsfrage beschäftigen.292 Die anderen Mitglieder der ILC waren ebenfalls
der Ansicht, dass Artikel 10 auf Grund der Offenkundigkeit der ihm zugrundelie-
genden Regelung unnötig sei und außerdem nicht zum Recht der Staatennachfolge
289
Bedjaoui, Seventh Report on Succession of States in Respect of Matters other than Treaties,
UN Doc A/CN.4/282, Yearbook of the International Law Commission (1974, II, 1) S. 91, 98.
290
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1320, ILC-Yearbook (1975, I), S. 82, 86, Rn. 35.
291
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1320, ILC-Yearbook (1975, I), S. 82, 87, Rn. 40 f.
292
Vgl. ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1320, ILC-Yearbook (1975, I), S. 82, 87 f., Rn. 46.
388 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
gehöre.293 Damit erzielte Bedjaoui das von ihm an diesem Punkt erwünschte Ergeb-
nis: Zumindest in der Recht-Dimension waren Konzessionen damit von der ILC zur
Frage des nationalen Rechts und nicht des Völkerrechts erklärt worden. Hier gab es
also keine – aus Bedjaouis Sicht mystische – Transformation dieser Frage des natio-
nalen Rechts ins internationale Recht. Bedjaoui muss es von diesem Ausgangspunkt
einfacher erschienen sein, auch für die Pflicht-Dimension Erworbener Rechte aus
Konzessionen allein dem nationalen Recht zuzuordnen. Bedjaoui erklärte sich dem-
entsprechend bereit, Artikel 10 zu löschen bzw. zumindest zurückzustellen, wenn
im Kommentar des fertigen ILC-Entwurfes die permanente Souveränität über
natürliche Ressourcen herausgestellt würde und erkennbar wäre, dass auf Artikel
10 aus Einigkeit über die bedeutende Zuständigkeit des neuen Staates über seine
natürlichen Ressourcen verzichtet worden war.294 Diesem Zugeständnis an den Son-
derberichterstatter stimmte die ILC zu.295
Die Frage von Verpflichtungen eines neuen Staates gegenüber Fremden kam außer-
dem nochmals in einem anderen Kontext als jenem der Konzessionen auf: Im Zusam-
menhang mit Staatsschulden hatte in der ILC Uneinigkeit bestanden über die Frage,
ob auch private Gläubiger von den Artikelentwürfen erfasst werden sollten oder nicht.
Nachdem hier selbst das Drafting Committee keine Lösung hatte finden können,296
kam die Frage bei der 33. Sitzung der ILC im Jahr 1981 zur Kampfabstimmung: Bei
einem Stimmengleichstand von acht zu acht wurden private Gläubiger vom Anwen-
dungsbereich der Regelung zu Staatsschulden ausgeschlossen.297 Als Reaktion auf
diese Entscheidung legte das Drafting Committee folgenden Artikelentwurf vor:
Article 3 quarter. Rights and obligations of natural or juridical persons
Nothing in the present articles shall be considered as prejudging in any respect any ques-
tion relating to the rights and obligations of natural or juridical persons.298
Mit diesem Vorbehalt hatte das Drafting Committee nun eine derart allgemeine
Formulierung gewählt, dass auch die Erworbenen Rechte Privater aus Konzessio-
nen hierunter subsumiert werden konnten und somit vom Anwendungsberiech der
Artikelentwürfe ausgeschlossen wurden. Damit wäre die Frage der Erworbenen
Rechte aus dem Anwendungsbereich der Konvention heraus, aber nicht unbedingt –
wie nunmehr im Interesse Bedjaouis und vieler andere Autoren und Staaten in der
Dritten Welt – in die nationale Rechtsordnung des Heimatstaates hineinargumentiert
worden. Die ILC nahm Artikel 3 quarter an.299 In den fertigen Artikelentwürfen,
293
Statt aller siehe beispielsweise der Peruaner Juan José Calle y Calle, ILC, UN Doc A/
CN.4/SR.1320, ILC-Yearbook (1975, I), S. 82, 87, Rn. 44; der Norweger Edvard Hambro,
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1321, ILC-Yearbook (1975, I), S. 88, 88, Rn. 2.
294
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1321, ILC-Yearbook (1975, I), S. 88, 90, Rn. 23.
295
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1321, ILC-Yearbook (1975, I), S. 88, 91, Rn. 27.
296
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1692, ILC-Yearbook (1981, I), S. 261, 270 f., Rn. 87.
297
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1692, ILC-Yearbook (1981, I), S. 261, 271, Rn. 90.
298
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1694, ILC-Yearbook (1981, I), S. 278, 282, Rn. 34.
299
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1694, ILC-Yearbook (1981, I), S. 278, 282, Rn. 36.
V. Weitere Bedeutung der Erworbenen Rechte in der WKSVAS389
welche die ILC an die Generalversammlung überstellte, erschien die Regelung als
Artikel 6.300 Bei der United Nations Conference on Succession of States in Respect
of State Property, Archives and Debts, die vom 4. Mai bis zum 24. Juli 1981 in Wien
stattfand, gab es zwei Änderungsvorschläge in Bezug auf Artikel 6, von denen der
eine nach der Debatte in der ILC Einfluss auf die Frage der Erworbenen Rechte aus
Wirtschaftskonzessionen hätte haben können.301 So wollte die brasilianische Dele-
gation nach Artikel 6 einen neuen Artikel 6 bis einfügen, der lauten sollte:
The present Convention and permanent sovereignty over natural wealth and resources
Nothing in the present Convention shall affect the principles of international law affir-
ming the permanent sovereignty of every people and every State over its natural wealth
and resources and their inalienable right to information about their history and cultural
heritage.302
300
ILC, UN Doc A/36/10, ILC-Yearbook (1981, II), S. 1, 24.
301
Der andere Vorschlag kam von der syrischen Delegation, welche vorschlug, an Artikel 6
folgenden Halbsatz anzuhängen:
„especially the rights of national liberation movements to request that measures be taken
to safeguard the rights of the peoples they represent, in the light of the right of self-determi-
nation and the principle of permanent sovereignty of every people over its wealth and natural
resources.” UN Conference on Succession of States in Respect of State Property, Archives
and Debts, UN Doc A/CONF.117/C.1/L.36, Meeting Records (1983), S. 117.
Der syrische Delegierte zog den Änderungsvorschlag jedoch ohne Begründung wieder
zurück. UN Conference on Succession of States in Respect of State Property, Archives and
Debts, UN Doc A/CONF.117/C.1/SR.40, Meeting Records (1983), S. 250, 254, Rn. 69.
302
UN Conference on Succession of States in Respect of State Property, Archives and Debts,
UN Doc A/CONF.117/C.1/L.43, Meeting Records (1983), S. 117.
303
Siehe oben, Kapitel 9.
304
UN Conference on Succession of States in Respect of State Property, Archives and Debts,
UN Doc A/CONF.117/C.1/SR.40, Meeting Records (1983), S. 250, 255, Rn. 94.
305
UN Conference on Succession of States in Respect of State Property, Archives and Debts,
UN Doc A/CONF.117/SR.6, Meeting Records (1983), S. 8, 11, Rn. 35.
306
„In favour: Algeria, Angola, Argentina, Brazil, Bulgaria, Byelorussian SSR, Chile, Costa
Rica, Cuba, Czechoslovakia, Democratic Yemen, Ecuador, Egypt, Gabon, German Democra-
tic Republic, Guatemala, Hungary, India, Indonesia, Iran, Islamic Republic of, Iraq, Jordan,
390 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
Die WKSVAS war auf Grund ihrer Anlehnung an die WKSV derselben Kritik aus-
gesetzt wie letztere, insbesondere der einer unangemessenen Fokussierung auf die
Dekolonialisierung.307 An der WKSVAS zeigten jedoch sowohl die Völkerrechts-
wissenschaft als auch die Staatenwelt noch weniger Interesse; so ist die WKSVAS
bis zum heutigen Tage nicht in Kraft getreten.308
Auch leiste die WKSVAS in Bezug auf die Frage der Erworbenen Rechte aus
heutiger Perspektive keinen nennenswerten Beitrag.309 Bei vielen Völkerrechtlern
in den neuen Staaten und ihren Heimatländern setzte in der Zeit nach der Verab-
schiedung der WKSVAS ein Umdenken ein und sie positionierten sich zunehmend
investorenfreundlicher.310 Die Doktrin der Erworbenen Rechte sowie die Verpflich-
tung zur Entschädigung bei Enteignung wurde später auch von Völkerrechtlern aus
der Dritten Welt wie beispielsweise dem Nigerianer Olugbenga Shoyele anerkannt:
[T]he recognition of the doctrine is most advisable because international relations and
diplomacy have gone a long way to establish convincingly that it is not economically wise
for a State to simply and willfully seize alien property without any compensation. There-
fore, to seek to compel successor States to recognize established ordinary rules of interna-
tional law respecting alien property, is obviously not out of order.311
Kenya, Kuwait, Lebanon, Libyan Arab Jamahiriya, Mali, Mexico, Morocco, Mozambique,
Namibia, Nigeria, Pakistan, Panama, Peru, Philippines, Poland, Republic of Korea, Romania,
Senegal, Suriname, Syrian Arab Republic, Thailand, Tunisia, Turkey, Ukrainian SSR, USSR,
United Arab Emirates, Uruguay, Venezuela, Viet Nam, Yemen, Yugoslavia, Zaire.
Against: Belgium, Canada, France, Germany, Federal Republic of, Israel, Italy, Luxem-
bourg, Netherlands, Switzerland, United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland,
Unitd States of America.
Abstaining: Australia, Austria, Denmark, Finland, Greece, Ireland, Japan, Norway, Portu-
gal, Spain, Sweden.” UN Conference on Succession of States in Respect of State Property,
Archives and Debts, UN Doc A/CONF.117/SR.10, Meeting Records (1983), S. 25, 31, Rn. 62.
307
Siehe Kapitel 9.
308
Die WKSVAS hat 7 Vertragsparteien und 7 weitere Staaten haben die WKSVAS
unterzeichnet.
309
Koskenniemi, Report of the Director of Studies of the English-speaking Section of the
Centre, in Eisemann/Koskenniemi (Hrsg.), Hague Academy of International Law: State Suc-
cession: Codification Tested against the Facts (2000), S. 65, 106.
310
Vgl. Schrijver, Sovereignty over Natural Ressources: Balancing Rights and Duties (1997),
S. 181.
311
Shoyele, Acquired Rights, State Succession and the African States: Perspectives in Inter-
national Law, 10 Sri Lanka Journal of International Law (1998), S. 243, 249. Shoyele folgte
hier interessanterweise der westlichen Stabilitätsargumentation. In Bezug auf die Position,
welche Bedjaoui und viele seiner Zeitgenossen in der Dritten Welt in Bezug auf die Theorie
der erworbenen Rechte vertraten, meinte er:
„This school opines that to seek to compel the successor State to recognize such rights
is presumptive of a position that the successor State is unequal and most probably inferior,
VI. Resonanz und Rezeption391
Spätestens in den 1980er-Jahren zeichnete sich das Scheitern der Forderung der
Dritten Welt nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung und entsprechenden investi-
tionsschutzrechtlichen Standards ab:
Mit der Amtsübernahme von Ronald Reagan und Maggie Thatcher und dem nun spürbaren
Untergang der Sowjetunion beginnt der Ausbau und die Zementierung einer neoklassischen
Entwicklungsphilosophie, die die Lösung für Entwicklungsprobleme der Dritten Welt in
Deregulierung, Privatisierung und voller Einbindung in freie Weltmärkte für Rohstoffe,
Waren, Dienstleistungen und Finanzkapital sieht. […] Anstelle der eigenen Kontrolle über
natürliche Ressourcen tritt ein sich in den neunziger Jahren explosionsartig ausweitendes
Netz von bilateralen Investitionsschutzabkommen, welches den Einfluss der Entwicklungs-
länder auf ausländische Investitionen im Bereich der Rohstoffausbeutung in bis dahin
unbekannter Weise rechtlich begrenzt und die vom Westen favorisierte Hull-Formel auf
bilateralem Weg für viele Entwicklungsländer rechtlich absichert. […] Nach dem Wegfall
des Systemgegensatzes war die neue amerikanisch-westeuropäische Vormachtstellung im
globalen ökonomischen Diskurs weitgehend unangefochten. Ein nicht geringer Einfluss
ging dabei auch vom westlich dominierten IWF und der Weltbank aus, die in dieser Zeit
über Konditionalitäten, sog. policy-lending und Strukturanpassungen stärkeren Einfluss auf
die Wirtschaftspolitik der Entwicklungsländer nehmen.312
to the predecessor State; this to all intents and purposes will be a negation of the doctrine
respecting equality of States. Consequent upon this, they recommended that the doctrine
should be overboard because all legal interests which do not derive from the sovereignty of
the State against which they are being invoked cease to subsist. […] However, it is a stark and
indisputable reality that if such a philosophy is allowed to prevail, aside the adverse effects on
the predecessor States, the successor States and / or private individuals involved, the whole
community of nations will suffer a vast disruption in the political, social and economic stabi-
lity of the whole international regime.” Shoyele, Acquired Rights, State Succession and the
African States: Perspectives in International Law, 10 Sri Lanka Journal of International Law
(1998), S. 243, 250 f.
312
Von Bernstorff, Das Recht auf Entwicklung, in Dann/Kadelbach/Kaltenborn (Hrsg.), Ent-
wicklung und Recht: Eine systematische Einführung (2014), S. 71, 88 f. Vgl. auch Pahuja,
Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics of Univer-
sality (2011), S. 168; Schrijver, Sovereignty over Natural Ressources: Balancing Rights and
Duties (1997), S. 183 ff.
313
Visser, The Prinicple of Permanent Sovereignty over Natural Ressource and the Nationa-
lisation of Foreign Interests, 21 Comparative and International Law Journal of South Africa
(1988), S. 76, 86 ff.
314
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 152 f.; Sornarajah, The International Law on Foreign Investment
(1994), S. 357 ff.; Muller, Compensation for Nationalization: A North-South Dialogue, 19
Columbia Journal of Transnational Law (1981), S. 35, 37.
392 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
nicht gegen den Willen der alten Staaten ändern kann.315 Für Pahuja und Rajagopal
haben die Versuche, eine Neue Weltwirtschaftsordnung zu etablieren, eine Entradikali-
sierung dieser Forderung sowie eine Ausweitung der Institutionen, in denen sie geltend
gemacht werden, bewirkt, aber auch letztlich das hegemoniale Völkerrecht gestärkt.316
Das Recht der Staatennachfolge bildete aus Sicht der Völkerrechtler in den neuen
Staaten den vielleicht wichtigsten Topos in der Frage der Bindung der neuen
Staaten an das postkoloniale Völkerrecht; dies nicht zuletzt auch wegen seiner öko-
nomischen Implikationen, denen insbesondere im Zusammenhang mit der PSNR
im Verlauf der Debatte immer größere Bedeutung zukam. Gegen die in der west-
lichen Literatur weit verbreitete Kontinuitätstheorie setzten die Völkerrechtler aus
den neuen Staaten in beiden Staatennachfolgekonventionen weitgehend das clean-
slate-Prinzip für aus der Dekolonialisierung hervorgegangene neue Staaten durch.
Die beiden Staatennachfolgekonventionen könnten insofern als Etappensieg der
Dritten Welt in der Bindungsdebatte verbucht werden, wenn man die folgenden drei
Gesichtspunkte außer Acht ließe:
Erstens wurden durch Artikel 11 und 12 WKSVAS nicht nur koloniale Grenzen
und andere Territorialregime zementiert; da die OAE sich aus Angst vor Grenz-
konflikten im postkolonialen Afrika selbst zu den kolonialen Grenzen bekannte,
schieden sich die Meinungen von Völkerrechtlern wie Staaten in der Dritten Welt
an diesem Thema, da andere Völkerrechtler nicht bereit waren, die von den Kolo-
nien willkürlich und ohne Beachtung religiöser oder ethnischer Faktoren gezogenen
Grenzen zu akzeptieren. Diese Uneinigkeit führte zur Schwächung des Projekts der
Dritten Welt an sich. Damit dient die Debatte um auf Ungleichen Verträgen basie-
renden Grenzen als Beispiel dafür, wie das koloniale Völkerrecht auch nach weit-
gehendem Abschluss der Dekolonialisierung noch zum Nachteil der ehemaligen
Kolonien gereichte, indem es zu Konflikten unter ihnen führte und so ein einstim-
miges Auftreten gegenüber dem Westen verhinderte.
Zweitens konnte in der WKSVAS keine Lösung der Frage Erworbener Rechte
erzielt werden. Anstatt der Dritten Welt – wie von Völkerrechtlern aus den neuen
Staaten erhofft – einen größeren Spielraum im Umgang mit Investoren zu verschaf-
fen, führte die Debatte um Erworbene Recht eher noch zu steigenden investitions-
schutzrechtlichen Standards.
Drittens wurden beide Staatennachfolgekonventionen, wie sich zum Teil schon
in den dargestellten ILC-Debatten abzeichnete und durch die niedrigen Ratifika-
tionszahlen zum Ausdruck kommt, durch eine ganze Reihe von Industriestaaten
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 222.
315
Rajagopal, International Law from Below: Development, Social Movements, and Third
316
World Resistance (2003), S. 14; Pahuja, Decolonising International Law: Development, Eco-
nomic Growth and the Politics of Universality (2011), S. 95, Fn. 1.
VII. Fazit zu Teil III393
abgelehnt. Als wesentlicher Grund hierfür wird die zu starke Fokussierung der
WKSV und der WKSVAS auf die Dekolonialisierung genannt. So meint Craven,
dass viele Probleme im Zusammenhang mit dem Recht der Staatenverantwortlich-
keit von der Annahme rühren, „that the idea of decolonization was a radical or con-
situtive moment: a moment at which international lawyers were faced not only with
the task of managing political changes on the ‘outside’, but of managing the deco-
lonization of the legal imagination itself.“317 Dabei sei die mögliche Andersartig-
keit zukünftiger Fälle der Staatennachfolge weitestgehend übersehen worden.318
Wichtige Fragen der Staatennachfolge wie die der Staatsangehörigkeit oder der
Mitgliedschaft in Internationalen Organisationen seien außerdem von keiner der
Konventionen zur Staatennachfolge aufgegriffen worden.319 Diese Fokussierung auf
die Dekolonialisierung wird auch als Grund für die historische Marginalisierung der
beiden Konventionen gesehen, denen in Bezug auf spätere Fälle der Staatennach-
folge wie etwa in den 1990er-Jahren in Osteuropa wenig Aussagekraft zugespro-
chen wurde. Koskenniemi führt dies auf das besondere Gerechtigkeitsverständnis
zurück, welches für ihn der WKSV und der WKSVAS zugrundliegt:
Die Kritik geht dahin, dass das Recht der Staatennachfolge auf Grund der Ver-
schiedenartigkeit seiner möglichen Fälle gar nicht kodifiziert werden könne bzw.
solle.321 Jenseits dieser Marginalisierung im Verlauf der weiteren Geschichte sei
317
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 5.
318
O’Connell, Reflections on the State Succession Convention, 39 Zeitschrift für ausländi-
sches öffentliches Recht und Völkerrecht (1979), S. 725, 725; Craven, The Decolonization of
International Law: State Succession and the Law of Treaties (2007), S. 16.
319
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 1 f.
320
Koskenniemi, Report of the Director of Studies of the English-speaking Section of the
Centre, in Eisemann/Koskenniemi (Hrsg.), Hague Academy of International Law: State Suc-
cession: Codification Tested against the Facts (2000), S. 65, 103.
321
Koskenniemi, Report of the Director of Studies of the English-speaking Section of the
Centre, in Eisemann/Koskenniemi (Hrsg.), Hague Academy of International Law: State Suc-
cession: Codification Tested against the Facts (2000), S. 65, 104; O’Connell, Reflections on
the State Succession Convention, 39 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und
Völkerrecht (1979), S. 725, 738.
394 Kapitel 10: Erworbene Rechte in der WKSVAS
aber nochmals auf die zeitgenössische Ablehnung der Konventionen durch wichtige
Industrienationen hingewiesen. Diese ist gerade deshalb so bemerkenswert, weil
Grenz- und andere Territorialregime und Erworbene Rechte geschützt und somit
besonders strittige Punkte im Recht der Staatennachfolge letztlich im Interesse des
Westens gelöst wurden. Die Marginalisierung der Staatennachfolgekonventionen
kommt hier also einer Marginalisierung des Rechts der Staatennachfolge überhaupt
gleich; hierin ist aber letztlich auch eine Marginalisierung der für die Dritte Welt so
wichtigen Bindungsfrage und damit letztlich auch ihres Globalsolidarischen Pro-
jekts durch westliche Staaten zu sehen, so dass sich im Umgang mit dem Recht der
Staatennachfolge deutlich das bevorstehende Scheitern der Forderung der neuen
Staaten nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung abzeichnete.
Letztlich nützten die Staatennachfolgekonventionen der Dritten Welt in der Bin-
dungsfrage also nicht. Es misslang der Dritten Welt zum Teil, sich auf gemeinsame
Ziele zu einigen; wo sie dies vermochten, konnten sie ihre Interessen trotzdem nicht
gegen mächtigere Staaten durchsetzen. Wo es den neuen Staaten gelang, Rechts-
gebiete entsprechend ihren materiell-rechtlichen Vorstellungen zu gestalten, rutsch-
ten diese alsbald in die Bedeutungslosigkeit ab. Aus heutiger Perspektive bleibt
festzustellen:
The contrast between real life and the original dream of placing in the hands of peoples
and nations the right to the natural resources found in their territories could not be much
starker.322
322
Duruigbo, Permanent Sovereignty and Peoples’ Ownership of Natural Ressources in Intrn-
tionl Law, 36 George Washington International Law Review (2006), S. 33, 34.
VII. Fazit zu Teil III395
The weakness of State succession is related to its close relationship – and usually deference
to – other public international law doctrines such as those concerning the nature of state-
hood or legal personality, the emergence or dissolution of states, freedom of action, soverei-
gnty, recognition, self-determination, territorial title as well as basic principles concerning
human rights and the law of treaties.323
Diese Diagnose mag auch allgemein für die Frage der Bindung der Dritten Welt an
das postkoloniale Völkerrecht zutreffen.
323
Koskenniemi, Report of the Director of Studies of the English-speaking Section of the
Centre, in Eisemann/Koskenniemi (Hrsg.), Hague Academy of International Law: State Suc-
cession: Codification Tested against the Facts (2000), S. 65, 96.
Kapitel 11: Schlussbetrachtungen
Die vorliegende Arbeit über die Bindung der Dritten Welt an das postkoloniale Völ-
kerrecht kann, wie bereits eingangs erwähnt, als „a story about stories“1 betrachtet
werden. Im Verlauf dieser Geschichte zeigte sich die Bedeutung der Bindungsfrage
als Gerechtigkeitstopos, der sich von der völkerrechtstheoretischen Fragestellung
mit bedeutender historischer Dimension2 über eine formalistischere völkervertrags-
rechtliche Konzeption3 hin zur im Kontext der Staatennachfolge ebenso politischen
wie investitionsschutzrechtlich-ökonomischen Frage4 entwickelte. In Bezug auf die
drei Konventionen, welche in diesem Buch im Zusammenhang mit der Frage nach
der Bindung der Dritten Welt in Folge der Dekolonialisierung untersucht worden
sind, kann man sogar von drei verschiedenen Geschichten sprechen: Erstens die
Geschichte der WVK, einer für alle Staaten sehr wichtigen Konvention ohne beson-
dere Fokussierung auf die Dekolonialisierung, bei der es der Dritten Welt nur dort
gelang, Ungleiche Verträge zu ächten, wo dies vom Westen selbst gewünscht war;5
zweitens die Geschichte der WKSV, einer sehr wichtigen Konvention für die neuen
Staaten mit eingeschränkter Bedeutung für die alten Staaten und starkem Fokus auf
der Dekolonialisierung, bei der die Dritte Welt ihre Position weitgehend durchset-
zen konnte, auch wenn sie keine gemeinsame Linie in Bezug auf Territorialregime
fand, die aber kaum ratifiziert wurde;6 drittens die Geschichte der WKSVAS, einer
ebenfalls sehr wichtigen Konvention für die ehemaligen Kolonien mit geringer
1
Craven, The Decolonialization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 18.
2
Siehe Teil I.
3
Siehe Teil II.
4
Siehe Teil III.
5
Siehe Teil II.
6
Siehe Teil III, insbesondere Kapitel 9.
Relevanz für andere Staaten auf Grund ihrer Konzentration auf die Dekolonialisie-
rung, bei der ein Völkerrechtler aus der Dritten Welt Sonderberichterstatter wurde,
der zunächst im Kampf gegen Erworbene Rechte scheiterte, ansonsten aber viele
Positionen der neuen Staaten durchsetzen konnte, wobei diese Konvention letztlich
nie in Kraft treten sollte.7 Dies sind auch Geschichten über die ILC: über ihr Poten-
tial und dessen Grenzen, über ihren vielleicht größten Triumph und ihr späteres
Versagen. Es sind Geschichten über die Dritte Welt: über ihre Einigkeit und Inter-
essengegensätze, über ihre Chancen und Stolpersteine, über ihr großes Globalsoli-
darisches Projekt und dessen Scheitern. Es sind Geschichten über die Internationale
Gemeinschaft: über ihre Existenz, ihre ethischen Überzeugungen und ihr blanke
Interessen- und Machtpolitik. Es sind Geschichten über die Funktionsweise der
etablierten Völkerrechtsordnung: über ihre Strukturen und ihr Potential, über ihren
evolutiven und ihren konservativen Charakter. Und es sind nicht zuletzt Geschich-
ten über Menschen: über Völkerrechtswissenschaftler, Diplomaten und Staatsmän-
ner, über ihre Hoffnungen, ihre Anstrengungen und über ihr Versagen.
Diese Geschichten sind von großer Bedeutung für die heutigen Völkerrechtler
in der Dritten Welt. Jene Autoren der TWAIL II wollen die erste Generation von
Völkerrechtlern in den neuen Staaten zwar in ihrem historischen Kontext verstanden
wissen, aber gleichzeitig aus deren Fehlern lernen. Die Analyse der TWAIL II geht
dahin, die TWAIL I seien theoretisch nicht reflektiert genug gewesen: Diese hätten
versucht, die etablierte Völkerrechtsordnung für sich zu nutzen, dabei aber deren
strukturelle Eigenheiten übersehen, welche darin bestünden, die kolonialen Herr-
schaftsverhältnisse zu zementierten. Statt wie die TWAIL I zu versuchen, Probleme
wie Fremdherrschaft und ökonomische Unterentwicklung mittels des Völkerrechts
zu lösen, konzentrieren sich die TWAIL II darauf, zu erforschen, welche Bedeutung
der Kolonialismus für die Entstehung und Praxis der Disziplin hatte und immer
noch hat.8 Anghie meint:
Further, if we understand how colonialism has shaped the fundamental structures of inter-
national law, then it might become possible, having recognized this fact, for us to rethink
a system of international law that might in some way make good on its promise to further
international justice.9
7
Siehe Teil III, insbesondere Kapitel 10.
8
Eslava/Pahuja, Between Resistance and Reform: TWAIL and the Universality of Internatio-
nal Law, 3 Trade, Law and Development (2011), S. 103, 117.
9
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 12.
10
Pahuja, The Battle for International Law in the Decolonization Era, 1955-1975, Workshop,
5. – 7. November 2015 in Berlin.
Schlussbetrachtungen399
Vor dem Hintergrund dieser Perspektive der TWAIL II auf das Völkerrecht wurde
eingangs eine Reihe von Fragen in Bezug auf die Debatte in den 1960er- und 1970er-
Jahren um die Bindung der Dritten Welt an das postkoloniale Völkerrecht aufgewor-
fen: Welche Rolle schrieben die Völkerrechtler aus der Dritten Welt in der Zeit der
Dekolonialisierung dem Völkerrecht zu? Was waren ihre Projekte und Ziele? Wie
waren ihre rechtstheoretischen Ansichten und in welchem Verhältnis standen diese
zum praktischen Umgang mit dem Völkerrecht? Wie argumentierten Völkerrechtler
aus den neuen Staaten nach der Dekolonialisierung, wie gingen sie beispielsweise
mit solchen Grundprinzipien wie der staatlichen Souveränität um? Wie wurde ihre
Argumentation aufgenommen, wie wurde ihr begegnet? Wo konnten sie sich mit
ihrer Argumentation durchsetzen, wo scheiterten sie und warum? Auf diese Frage
hat die vorliegende Arbeit versucht, Antworten zu finden, aus welchen sich ein
etwas anderer Blick auf das Völkerrecht ergibt als jener der TWAIL II.
So war sich die erste Generation von Völkerrechtlern in der Dritten Welt der
kolonialen Prägung und der daraus resultierenden strukturellen Defizite der Völ-
kerrechtsordnung zumindest zum Teil durchaus bewusst und thematisierte diese
auch in ihren völkerrechtstheoretischen Schriften.11 Die Dritte Welt war nach der
Dekolonialisierung aber auf Grund ihrer politischen und wirtschaftlichen Abhän-
gigkeit schlicht nicht in der Lage, sich dem Völkerrecht gänzlich zu verweigern.
Deshalb wandten sich die Autoren aus der Dritten Welt dem Völkerrecht zu, um es
in der Bindungsfrage strategisch zu nutzen und ihr Globalsolidarisches Projekt, das
die materielle Universalisierung des Völkerrechts ebenso wie die Errichtung einer
Neuen Weltwirtschaftsordnung einschloss, zu verwirklichen.12 Diese Hinwendung
zum Völkerrecht erschien zumindest aus zeitgenössischer Perspektive keinesfalls
naiv; zumindest in der Völkerrechtswissenschaft bestand damals durchaus Einigkeit
über das Erfordernis der Unabhängigkeit der neuen Staaten und auch ein Konsens
dahingehend, dass die kolonialen Ausbeutungsstrukturen ungerecht waren. Die
grundsätzliche Forderung der Dritten Welt nach einem solidarischen Völkerrecht
und der Mitwirkung an der Entwicklung eines materiell universalen Völkerrechts
wurde als legitim angesehen. So schrieb Bedjaoui:
The world-wide disorder affects all sectors. It is a fruitful soil for the ‘international order
of poverty’, governed by implacable mechanisms which turn our world into a jungle. For
centuries past, the prosperous countries have steadily grown richer at the expense of the
underdeveloped countries, which have become progressively poorer. The workings of such
an iron law were examined long ago, and are fully understood. The world economy is
organized on the basis of asymmetrical relationships between the dominant ‘centre’ and the
dominated ‘periphery’, the exploiting and the exploited countries being integrated in this
inequitable system, and finding themselves indissolubly linked. This system, based on the
theory of development of some countries thanks to the underdevelopment of others, is now
vigorously condemned.13
11
Siehe Kapitel 2 und 3.
12
Siehe Kapitel 4.
13
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 23 f.
400 Kapitel 11: Schlussbetrachtungen
Außerdem hatte die Dritte Welt nach der Dekolonialisierung durchaus das Selbst-
bewusstsein, nach der jeweiligen nationalen auch die internationale Ordnung revo-
lutionär bzw. evolutionär zu befreien und zu erneuern. Damit korrespondierte in
den 1960er- und 1970er-Jahren auch ein gewisser Respekt der mächtigeren Staaten
vor der Dritten Welt, deren Drohung mit einer Revolution gerade zu Zeiten des
Kalten Krieges ernstgenommen wurde. Zum anderen ist aber eine große Diskrepanz
zwischen gemeinsamer ethischer Grundüberzeugung und auseinanderstrebenden
Ansichten in Detailfragen zu verzeichnen. So sah auch der Westen den Kolonialis-
mus als moralisch verwerflich an; trotzdem forderte er in den Debatten zum Recht
der Verträge und der Staatennachfolge eine weitgehende Aufrechterhaltung Unglei-
cher Verträge, kolonialer Grenzen und Erworbener Rechte. Die politische Macht der
Dritten Welt unter anderem in der Generalversammlung der VN reichte aber zumin-
dest aus, um Fragen der Bindung der Dritten Welt an das postkoloniale Völkerrecht
auf die zeitgenössische Agenda der ILC zu bringen.
Über ihre soziologisch oder sozialistisch inspirierte Völkerrechtstheorie und die
Idee der Existenz einer Internationalen Gemeinschaft versuchten Völkerrechtler aus
der Dritten Welt, ihr Globalsolidarisches Projekt als notwendige Entwicklung im
Interesse der ganzen Welt darzustellen.14 Diese Taktik wurde allerdings auch von
westlichen Völkerrechtlern angewandt, wie Pahuja beschreibt:
Thus, just as the Third world asserted (permanent) sovereignty over its natural resources,
the West posited a ‘world’, or the ‘international’, in response to that claim. In a familiar
move, this world was given a particular, but putatively universal, meaning. It was framed
in terms of the international interest feined by the ‘developed’ world. This international
posited a world – complete with coeval legality – as already in existence before the Third
World’s entrance into it. This assertion, and its corollary implication that newly decoloni-
sing states should be bound by existing law, was a key conceptual weapon deployed in the
battle against the claim to PSNR. But such a story is also effectively a story of the West as
world, and one in which the actions of the West could therefore be portrayed as cooperative
and international in contrast to the particularistic national interests of the Third World. Thus
even radical collective action (or indeed, especially radical collective action) amongst Third
World states was prevented from being understood as international or cooperative and was
instead interpreted authoritatively as a confederance of sovereigntists wanting to assert their
own (selfish) interests above the interests of the world as a whole.15
Argumentativ nutzte die Dritte Welt außerdem zum Teil etablierte Völkerrechtsprin-
zipien, die sie spezifisch interpretierte und vor dem Hintergrund des Globalsolida-
rischen Projekts ethisch auflud; zum Teil wurden auch neue Prinzipien (weiter-)
entwickelt. In der Debatte allgegenwärtig war insofern das Prinzip der staatlichen
Souveränität bzw. der souveränen Gleichheit, hinzu kamen das Selbstbestimmungs-
recht16 sowie die PSNR.17 Dabei war die Argumentation der Völkerrechtler in den
14
Siehe Kapitel 3 und Kapitel 4.
15
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 137.
16
Siehe Teil II.
17
Siehe Teil III.
Schlussbetrachtungen401
neuen Staaten aus der Perspektive der etablierten Völkerrechtsordnung heraus nicht
immer stringent; dies war jedoch vielfach auch nicht bezweckt, die Grundprinzipien
wurden von Völkerrechtlern aus den neuen Staaten vielmehr als rechtliches Ein-
fallstor für die politische Agenda der Dritten Welt betrachtet. Wie in der politischen
Agenda gab es daher auch innerhalb der Argumentation mit den Grundprinzipien des
Völkerrechts gewisse Spannungen; dasselbe galt jedoch auch für die oft spiegelbild-
liche Position vieler westlicher Völkerrechtler. So pendelte die Debatte um Bindung
an das Recht und die Errichtung einer materiell universellen Völkerrechtsordnung
in der Position der Ersten, Zweiten und Dritten Welt unter allseitiger Berufung auf
die staatliche Souveränität zwischen Konsens und Weltgemeinschaft hin und her.18
Diese Reversibilität in der völkerrechtlichen Argumentationsstruktur zeigte
sich auch darin, dass jede Seite in der Bindungsfrage für sich das Argument bean-
spruchte, zur Wahrung der Stabilität der Internationalen Beziehungen geboten zu
sein; mit dieser Begründung argumentierte der Westen für die Aufrechterhaltung
des status quo, während Völkerrechtler in der Dritten Welt hieraus die Notwendig-
keit eines Wandels herleiteten.19
Eine weitere Argumentationstechnik, welche Völkerrechtler jeder façon in der
Bindungsdebatte nutzten, war das Ziehen von Grenzen: Je nachdem, ob ein Thema,
ein Argument oder eine rechtliche Argumentation in den Fokus der Debatte oder
aus diesem heraus verschoben werden sollte, geschah dies durch Verschieben der
Grenzen zwischen Völkerrecht und Politik einerseits und Völkerrecht und nationa-
lem Recht andererseits.20
Die Struktur des völkerrechtlichen Diskurses erwies sich in der Bindungsdebatte
als ausgesprochen flexibel. Dieselben Prinzipen, Ideen und Begründungen konnten
von Industrienationen wie von Entwicklungsländern mit ganz ähnlichen Mechanis-
men argumentativ genutzt werden, um selbst gegensätzliche Positionen zu unter-
mauern. Aus dieser Argumentationsstruktur heraus hätte die Dritte Welt ihre Posi-
tion daher ebenso gut verwirklichen können wie der Osten oder der Westen. Welche
Argumentation sich im völkerrechtlichen Diskurs letztlich durchsetzt, ist daher
eine politische Entscheidung.21 Dabei legt die Analyse der vorliegenden Arbeit den
Schluss nah, dass diese politische Entscheidung dabei letztlich von den mächtigen
Industrienationen getroffen wird:
Wo der Westen politisch die Möglichkeit hatte, seine Position in der Bindungs-
frage durchzusetzen – wie etwa bei der Frage der Ungleichen Verträge im Rahmen
der WVK – tat er dies. Wo ihm diese Möglichkeit fehlte – wegen der Mehrheits-
verhältnisse in der Generalversammlung und der aus diesem Grund aus General-
versammlungsresolutionen resultierenden thematischen Ausrichtung bezüglich
der Staatennachfolgekonventionen – entzog er sich der fraglichen Institution und
18
Siehe Teil I.
19
Siehe hierzu insbesondere Kapitel 3 und Kapitel 4.
20
Siehe insbesondere Teil II und Teil III.
21
Siehe Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argu-
ment (2005).
402 Kapitel 11: Schlussbetrachtungen
marginalisierte diese dadurch. Außerdem spielte dem Westen die Angst der Dritten
Welt vor Neokolonialismus22 und regionalen Konflikten23 in die Karten. Allerdings
wird das Scheitern der Neuen Weltwirtschaftsordnung heute nicht mehr nur auf
die Uneinigkeit zwischen den ölproduzierenden und den nicht -ölproduzierenden
Staaten der Dritten Welt zurückgeführt, sondern vor allem darauf, dass die Staaten
der Ersten Welt sich dagegen verwehrt und wichtige Fragen in den Finanzinstitutio-
nen entschieden hatten, in denen sie die Mehrheit innehatten.24 Diese Tatsache wiegt
deutlich schwerer als die teils mangelnde theoretische Reflexion der ersten Genera-
tion von Völkerrechtlern in der Dritten Welt, welche die TWAIL II heute kritisieren.
Özsu schreibt in Bezug auf das Scheitern der Neuen Weltwirtschaftsordnung:
Whatever its conceptual muddiness and its residual attachments to dubious narratives of
positivist progress, the NIEO’s failure was at root an affirmation of the weakness of public
authority in the face of private power, the global South in the face of the global North, the
developmental state in the face of the state-legitimated market.25
Diese Aussage gilt sinngemäß auch für die Bindungsdebatte. Dabei spielten das
Recht der Verträge wie das Recht der Staatennachfolge für die Völkerrechtler aus
der Dritten Welt vor dem Hintergrund der Bindungsdebatte auch eine ganz andere
Rolle als für den Westen: Letzterem dienten beide Rechtsgebiete der Stabilität im
Sinne einer Konstanz der Völkerrechtsordnung und der Aufrechterhaltung bzw.
Wiederherstellung des Normalzustandes, ein Ziel, von dem nur in seltenen Aus-
nahmen abgewichen werden durfte; die Dekolonialisierung erschien insofern ledig-
lich als vorübergehende Irritation der etablierten Völkerrechtsordnung. Für die Völ-
kerrechtler aus der Dritten Welt eröffneten beide Rechtsgebiete eine Möglichkeit,
mit der Vergangenheit zu brechen und durch eine materielle Universalisierung des
Völkerrechts den Boden für ihr Globalsolidarisches Projekt zu bereiten; sie betrach-
teten die Dekolonialisierung also als emanzipatorischen Wendepunkt. Die diesbe-
züglichen Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt scheiterten jedoch am
westlichen Widerstand. Craven schreibt:
The idea, thus, that decolonization operated through pre-existent categories was, ultimately,
thoroughly normalizing. What might have been cast as a revolutionary moment, a moment
of expansion and change in international society, was immediately subverted by the idea
that the sovereignty being obtained, was not a law-creative sovereignty, but a capacity
already fully determined.26
22
Siehe Kapitel 7.
23
Siehe Kapitel 9.
24
Salomon, From NIEO to Now and the Unfinished Story of Economic Justice, 62 Internatio-
nal and Comparative Law Quarterly (2013), S. 31, 46 f.
25
Özsu, „In the interests of mankind as a whole“: Mohammed Bedjaoui’s New International
Economic Order, 6 Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism,
and Development (2015), S. 129, 137.
26
Craven, The Decolonialization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007), S. 205.
Schlussbetrachtungen403
Die Dekolonialisierung hätte aber ein solch revolutionärer Moment sein können,
wenn der Westen ebenfalls bereit gewesen wäre, die Völkerrechtsordnung zu ver-
ändern. Diese Erkenntnis mag nihilistisch erscheinen. Wenn die meisten Industrie-
staaten zur Zeit des Kalten Krieges und der Dekolonialisierung, als die Karten aus
zeitgenössischer Perspektive neu gemischt wurden, schon nicht zum Wandel bereit
waren, mag auch die Hoffnung naiv wirken, dass ein solcher Wandel zu einem spä-
teren Zeitpunkt wahrscheinlicher werden könnte. Es bleibt aber nach der vorliegen-
den Analyse sowie vor dem Hintergrund der Forschung der TWAIL II die einzige
Möglichkeit, das Völkerrecht aus sich heraus zum Positiven zu verändern. Die eta-
blierte Völkerrechtsordnung birgt das strukturelle Potential, eine gerechtere Welt-
ordnung zu errichten; dieses Potential lässt sich aber nur dann verwirklichen, wenn
dies auch dem Willen der Mächtigen in dieser Welt entspricht. Dieser Wille ist wan-
delbar und daher kann es sich lohnen, sich – wie damals die TWAIL I – dem Völ-
kerrecht zuzuwenden: Das Völkerrecht lässt sich nämlich nach wie vor strategisch
als Medium nutzen, als Sprachrohr, um von der ganzen Welt gehört zu werden.
Hierdurch können hoffentlich irgendwann auch die Machthaber in den wichtigen
Industrienationen überzeugt werden. Denn deren machtbasierte Entscheidung ist
nicht nur eine politische, sondern auch eine ökonomische, vor allem aber eine mora-
lische, bei der die Mächtigen eine – nicht allein historische –27 Verantwortung für
die Menschen auf der ganzen Welt tragen.
27
Siehe die Debatte hierzu in der politischen Philosophie, beispielsweise Broszies/Hahn
(Hrsg.), Globale Gerechtigkeit: Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und
Kosmopolitismus (2010); Pogge, Priorities of Global Justice, 32 Metaphilosophy (2001),
S. 6, 6 ff.; Young, Responsibility for Justice (2011); Singer, Famine, Affluence, and Morality,
in Aiken/LaFollette (Hrsg.), World Hunger and Moral Obligation, Englewood Cliffs New
York (1977); Beitz, Justice and International Relations, 4 Philosophy and Public Affairs,
(1975), S. 360, 360 ff.
Summary
This book explores the debate about whether established international law after
World War II was binding for former colonies, the newly independent states. Third
World international lawyers were confronted with the Western view that if the
newly independent states wanted to play the game of international law, they had to
accept its rules. International lawyers like Ram Prakash Anand from India, Taslim
Olawale Elias from Nigeria and Mohammed Bedjaoui from Algeria found this
ultimately unfair and a violation of Third World sovereignty – a claim that found
support from the USSR which was itself sceptical about what seemed to be a law of
European lineage. According to them, the new states should have the power to “pick
and choose” which rules of the established international systems corresponded to
their needs and only those rules were accordingly accepted by them, while other
rules were not. But the Third World did by no means turn its back on internatio-
nal law, which it found a useful instrument to protect its newly won independence
and to address its demands to the industrial states from which they wanted to gain
economic support. Instead, international lawyers from the Third World believed in
what might be named their “global-solidary project”: They put their hope in the
UN system and the “emancipatory power” of international law which should lead
to a world order oriented towards justice, solidarity, development and wealth for all
as common goals of the international community. First generation scholars in the
Third World wanted to change the rules from within the established system, which
has been the object of criticism in the aftermath from prominent scholars from the
Third World today from an ad hoc perspective.
The book traces the endeavours of the first generation of Third World scholars
in the International Law Commission (ILC) and the resulting conventions in which
the question of the binding quality of international law became pertinent, namely
the Vienna Convention on the Law of Treaties (VCLT) from 1969, the Vienna Con-
vention on Succession of States in respect of Treaties (VCSST) from 1978 and the
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Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
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434 Seiten. Geb. € 89,99
263 Björnstjern Baade: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter.
2017. XVIII, 543 Seiten. Geb. € 99,99
262 Felix Lange: Praxisorientierung und Gemeinschaftskonzeption. 2017. XIV, 403 Seiten.
Geb. € 94,99
261 Johanna Elisabeth Dickschen: Empfehlungen und Leitlinien als Handlungsform der
Europäischen Finanzaufsichtsbehörden. 2017. XIX, 277 Seiten. Geb. € 84,99
260 Mohamed Assakkali: Europäische Union und Internationaler Währungsfonds. 2017. XV,
516 Seiten. Geb. € 99,99
259 Franziska Paefgen: Der von Art. 8 EMRK gewährleistete Schutz vor staatlichen Eingriffen
in die Persönlichkeitsrechte im Internet. 2017. XV, 220 Seiten. Geb. € 69,99
258 Tim René Salomon: Die internationale Strafverfolgungsstrategie gegenüber somalischen
Piraten. 2017. XXXII, 743 Seiten. Geb. € 129,99
257 Jelena Bäumler: Das Schädigungsverbot im Völkerrecht. 2017. XIX, 379 Seiten. Geb. € 89,99
256 Christopher Peters: Praxis Internationaler Organisationen - Vertragswandel und
völkerrechtlicher Ordnungsrahmen. 2016. XXVIII, 498 Seiten. Geb. € 99,99
255 Nicole Appel: Das internationale Kooperationsrecht der Europäischen Union. 2016. XVIII,
608 Seiten. Geb. € 109,99
254 Christian Wohlfahrt: Die Vermutung unmittelbarer Wirkung des Unionsrechts. 2016. XIX,
300 Seiten. Geb. € 84,99
253 Katja Göcke: Indigene Landrechte im internationalen Vergleich. 2016. XVII, 818 Seiten.
Geb. € 139,99
252 Julia Heesen: Interne Abkommen. 2015. XXI, 473 Seiten. Geb. € 94,99
251 Matthias Goldmann: Internationale öffentliche Gewalt. 2015. XXIX, 636 Seiten. Geb. € 109,99
250 Isabelle Ley: Opposition im Völkerrecht. 2014. XXIII, 452 Seiten. Geb. € 94,99
249 Matthias Kottmann: Introvertierte Rechtsgemeinschaft. 2014. XII, 352 Seiten. Geb. € 84,99
248 Jelena von Achenbach: Demokratische Gesetzgebung in der Europäischen Union.
2014. XVI, 522 Seiten. Geb. € 94,99
247 Jürgen Friedrich: International Environmental “soft law”. 2014. XXI, 503 Seiten.
Geb. € 94,99 zzgl. landesüblicher MwSt.
246 Anuscheh Farahat: Progressive Inklusion. 2014. XXIV, 429 Seiten. Geb. € 94,99
245 Christina Binder: Die Grenzen der Vertragstreue im Völkerrecht. 2013. XL, 770 Seiten.
Geb. € 119,99
244 Cornelia Hagedorn: Legitime Strategien der Dissensbewältigung in demokratischen
Staaten. 2013. XX, 551 Seiten. Geb. € 99,99
243 Marianne Klumpp: Schiedsgerichtsbarkeit und Ständiges Revisionsgericht des Mercosur.
2013. XX, 512 Seiten. Geb. € 94,99
242 Karen Kaiser (Hrsg.): Der Vertrag von Lissabon vor dem Bundesverfassungsgericht. 2013.
XX, 1635 Seiten. Geb. € 199,99
241 Dominik Steiger: Das völkerrechtliche Folterverbot und der “Krieg gegen den Terror”.
2013. XXX, 821 Seiten. Geb. € 139,99
240 Silja Vöneky, Britta Beylage-Haarmann, Anja Höfelmeier, Anna-Katharina Hübler (Hrsg.):
Ethik und Recht - Die Ethisierung des Rechts/Ethics and Law - The Ethicalization of Law.
2013. XVIII, 456 Seiten. Geb. € 94,99
239 Rüdiger Wolfrum, Ina Gätzschmann (eds.): International Dispute Settlement: Room for
Innovations? 2013. XIV, 445 Seiten. Geb. € 94,95 zzgl. landesüblicher MwSt.
238 Isabel Röcker: Die Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung nationalen Rechts.
2013. XXIII, 410 Seiten. Geb. € 89,95
237 Maike Kuhn: Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Mehrebenensystem.
2012. XIII, 325 Seiten. Geb. € 79,95
236 Armin von Bogdandy, Ingo Venzke (eds.): International Judicial Lawmaking. 2012. XVII,
509 Seiten. Geb. € 94,95 zzgl. landesüblicher MwSt.
235 Susanne Wasum-Rainer, Ingo Winkelmann, Katrin Tiroch (eds.): Arctic Science, International
Law and Climate Change. 2012. XIX, 374 Seiten. Geb. € 84,95 zzgl. landesüblicher MwSt.
234 Mirja A. Trilsch: Die Justiziabilität wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte im
innerstaatlichen Recht. 2012. XIX, 559 Seiten. Geb. € 99,95
233 Anja Seibert-Fohr (ed.): Judicial Independence in Transition. 2012. XIII, 1378 Seiten. Geb.
€ 169,95 zzgl. landesüblicher MwSt.
232 Sandra Stahl: Schutzpflichten im Völkerrecht - Ansatz einer Dogmatik. 2012. XXX, 505
Seiten. Geb. € 94,95
231 Thomas Kleinlein: Konstitutionalisierung im Völkerrecht. 2012. XLII, 940 Seiten. Geb.
€ 149,95
230 Roland Otto: Targeted Killings and International Law. 2012. XVIII, 661 Seiten. Geb.
€ 109,95 zzgl. landesüblicher MwSt.
229 Nele Matz-Lück, Mathias Hong (Hrsg.): Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem
- Konkurrenzen und Interferenzen. 2012. VIII, 394 Seiten. Geb. € 89,95
228 Matthias Ruffert, Sebastian Steinecke: The Global Administrative Law of Science, 2011.
IX, 140 Seiten. Geb. € 59,95 zzgl. landesüblicher MwSt.
227 Sebastian Pritzkow: Das völkerrechtliche Verhältnis zwischen der EU und Russland im
Energiesektor. 2011. XXIV, 304 Seiten. Geb. € 79,95
226 Sarah Wolf: Unterseeische Rohrleitungen und Meeresumweltschutz. 2011. XXIII, 442
Seiten. Geb. € 94,95
225 Clemens Feinäugle: Hoheitsgewalt im Völkerrecht. 2011. XXVI, 418 Seiten. Geb. € 89,95
224 David Barthel: Die neue Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur der Afrikanischen Union.
2011. XXV, 443 Seiten. Geb. € 94,95
223 Tilmann Altwicker: Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz. 2011. XXX, 549 Seiten.
Geb. € 99,95
222 Stephan Bitter: Die Sanktion im Recht der Europäischen Union. 2011. XV, 351 Seiten.
Geb. € 84,95
221 Holger Hestermeyer, Nele Matz-Lück, Anja Seibert-Fohr, Silja Vöneky (eds.): Law of the Sea
in Dialogue. 2011. XII, 189 Seiten. Geb. € 69,95 zzgl. landesüblicher MwSt.
220 Jan Scheffler: Die Europäische Union als rechtlich-institutioneller Akteur im System der
Vereinten Nationen. 2011. XXXV, 918 Seiten. Geb. € 149,95
219 Mehrdad Payandeh: Internationales Gemeinschaftsrecht. 2010. XXXV, 629 Seiten. Geb.
€ 99,95
218 Jakob Pichon: Internationaler Strafgerichtshof und Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen. 2011. XXVI, 399 Seiten. Geb. € 89,95
217 Michael Duchstein: Das internationale Benchmarkingverfahren und seine Bedeutung
für den gewerblichen Rechtsschutz. 2010. XXVI, 528 Seiten. Geb. € 99,95
216 Tobias Darge: Kriegsverbrechen im nationalen und internationalen Recht. 2010. XXXV,
499 Seiten. Geb. € 94,95
215 Markus Benzing: Das Beweisrecht vor internationalen Gerichten und Schiedsgerichten
in zwischenstaatlichen Streitigkeiten. 2010. L, 846 Seiten. Geb. € 139,95
214 Urs Saxer: Die internationale Steuerung der Selbstbestimmung und der Staatsentstehung.
2010. XLII, 1140 Seiten. Geb. € 169,95
213 Rüdiger Wolfrum, Chie Kojima (eds.): Solidarity: A Structural Principle of International
Law. 2010. XIII, 238 Seiten. Geb. € 69,95 zzgl. landesüblicher MwSt.
212 Ramin S. Moschtaghi: Die menschenrechtliche Situation sunnitischer Kurden in der
Islamischen Republik Iran. 2010. XXIII, 451 Seiten. Geb. € 94,95
211 Georg Nolte (ed.): Peace through International Law. The Role of the International Law
Commission. 2019. IX,195 Seiten. Geb. E 64,95 zzgl. landesüblicher MwSt.
210 Armin von Bogdandy, Rüdiger Wolfrum, Jochen von Bernstorff, Philipp Dann, Matthias
Goldmann (eds.): The Exercise of Public Authority by International Institutions. 2010.
XIII, 1005 Seiten. Geb. € 149,95 zzgl. landesüblicher MwSt.
209 Norman Weiß: Kompetenzlehre internationaler Organisationen. 2009. XVIII, 540 Seiten.
Geb. € 99,95
208 Michael Rötting: Das verfassungsrechtliche Beitrittsverfahren zur Europäischen Union.
2009. XIV, 317 Seiten. Geb. € 79,95
207 Björn Ahl: Die Anwendung völkerrechtlicher Verträge in China. 2009. XIX, 419 Seiten.
Geb. € 89,95