Herausgegeben von
Armin von Bogdandy · Anne Peters
Band 264
Anna Krueger
(English Summary)
D 21
Springer
© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-
Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2018
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IX
XInhaltsverzeichnis
The successive decolonization of the 1960s undoubtedly marked a new and fruitful phase
in the history of mankind. The forced renunciation of the colonial empires and the emer-
gence of new actors on the international scene inevitably deprived, in different degrees and
to a varying extend, the dominant States of their empires, i.e. of their economic, political
and strategic props in the world. The shareout of the world had to give place, gradually but
surely, to the world of sharing. This gave rise to considerable upheavals, both in the world
economic relations and international political and legal systems. […]
The point to be emphasized, however, is this: international law, which is anything but
immutable since it has a social function to fulfil, must inevitably be concerned with the
changes occurring in our world. The bipolar or oligarchic world relies on an ‘internatio-
nal law of confiscation’, i.e. confiscation of the independence and sovereignty of satellite
States. The multipolar world to be set up will involve, on the contrary, an ‘international
right of participation’, i.e. participation by all states in the formulation and application of
the rules governing the relations between them.*
*
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 12.
mehrere Jahrhunderte lang vom Kolonialsystem betroffen.1 Heute lebt weniger als
ein Prozent der Weltbevölkerung in den verbleibenden 16 Kolonialgebieten.2 Die
meisten abhängigen Gebiete erlangten ihre Unabhängigkeit im Zeitraum zwischen
dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Mitte der 1970er-Jahre. Ihre Wege in
die Unabhängigkeit waren dabei ebenso unterschiedlich wie die Formen von euro-
päischer Herrschaft über diese Gebiete: Kolonien waren Gebiete, welche sich eine
Kolonialmacht einverleibt hatte und die über keinerlei Souveränität verfügten (wie
die spanische Kolonie Kuba, die französische Kolonie Algerien oder die britischen
Kolonien Ägypten, Nigeria und Indien). In Mandats- und Treuhandgebiete waren
deren äußere Angelegenheiten unter der Völkerbundsatzung bzw. der Charta der
Vereinten Nationen (VN-Charta) im Namen der internationalen Gemeinschaft
vorübergehend einem souveränen Staat als Treuhänder der lokalen Bevölkerung
übertragen worden, so bei der belgischen Treuhand über Ruanda-Urundi oder dem
britischen Mandat über den Irak. Protektorate waren abhängige Gebiete, welche zu
einem gewissen Grad ihre eigene staatliche Identität bewahrten, ohne aber dabei im
vollen Maße souverän zu sein, da sie etwa die Kompetenz zum Abschluss völker-
rechtlicher Verträge abgegeben hatten, wie etwa im Falle des französisches Protek-
torats über Kambodscha, Laos und Südvietnam oder des britischen Protektorats
über Tonga.3
Abhängig von Grad und Organisation ihrer Fremdherrschaft verlief der Prozess
bis zur Unabhängigkeit in den verschiedenen abhängigen Gebieten sehr unter-
schiedlich. Während die Dekolonialisierung in den britischen Gebieten wie bei-
spielsweise Indien durch die Eingliederung in das britische Commonwealth eher
geordnet verlief, mussten sich viele französische Kolonien ihre Unabhängigkeit
in Befreiungskriegen wie dem Algerienkrieg blutig erkämpfen. In der Dekolo-
nialisierungsphase nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele ehemalige Kolonien,
Mandats- und Treuhandgebiete sowie Protektorate in Asien und Afrika unabhängig
geworden. So unterschiedlich ihre Wege in die formale Unabhängigkeit verlaufen
sein mochten, so sehr ähnelten sich die Probleme, mit denen sich die neuen Staaten
nach der Dekolonialisierung konfrontiert sahen. Das offenkundigste Problem
bildete die oft massive Unterentwicklung der heimischen Wirtschaft, dem die ehe-
maligen Kolonien mit dem Ruf nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung (New
1
Bulajic, Legal Aspects of a New International Economic Order, in Hossain (Hrsg.), Legal
Aspects of the New International Economic Order (1980), S. 45.
2
Die letzten 16 Kolonien sind die Westsahara, Samoa, Guam, Neukaledonien, Pitcairn,
Tokelau, Anguilla, Bermuda, die Britischen Jungferninseln, die Kaimaninseln, die Falkland-
inseln, Gibraltar, Montserrat, St. Helena, die Turks- und Caicosinseln und die amerikani-
schen Jungferninseln. Khan, Decolonization, Max Planck Encyclopedia of Public Internatio-
nal Law (2013), Rn. 1, 2.
3
Zu den verschiedenen Formen abhängiger Gebiete siehe Waldock, UN Doc A/CN.4/256
an Add. 1-4, ILC-Yearbook (1972, II), S. 1, 4 ff., Para 4 ff.; Chen, State Succession Rela-
ting to Unequal Treaties (1974), S. 9 f.; Chowdhuri, International Mandates and Trusteeship
Systems: A Comparative Study (1955), S. 13 ff.
Einleitung3
4
GA, UN Doc A/Res/3201 (S-VI) (1. Mai 1974), Abschnitt 1.
5
Vgl. Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An
Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 98.
6
Vernet, Decolonization: Spanish Territories, Max Planck Encyclopedia of Public Internatio-
nal Law (2013), Rn. 31.
7
Zum Begriff der „newly independet states“, vgl. beispielsweise Falk, The New States and
International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966, II), S. 1, 10 ff.; Artikel 2 Absatz 1 f)
Wiener Konvention über die Staatennachfolge in Verträge und Artikel 2 Absatz 1 e) Wiener
Konvention über die Staatennachfolge in Vermögen, Archive und Schulden.
8
Siehe beispielsweise Francioni, Compensation for Nationalisation of Foreign Property:
The Borderline between Law and Equity, 24 International and Comparative Law Quarterly
(1975), S. 255, 256, Fn. 5; Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979),
S. 24 f. Diese Begriffe werden daher auch in der vorliegenden Arbeit, wenn auch im kriti-
schen Bewusstsein ihrer neokolonialen Implikationen, verwendet.
9
Das Attribut „postkolonial“ impliziert zunächst eine zeitliche Zäsur. Im Mittelpunkt steht der
Zeitraum seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in dem die ganz überwiegende Mehrheit
der ehemaligen Kolonien ihre formale Unabhängigkeit erlangt hat. Dabei bezeichnet Postko-
lonialismus über diese rein zeitliche Komponente hinausgehend solche nachkolonialen Kon-
stellationen, in denen die Folgen kolonialer Beherrschungsverhältnisse nachwirken und trotz
formalen Abschlusses des Dekolonialisierungsprozesses erhalten bleiben oder sich sogar
reproduzieren. Postkolonialismus ist damit ein Widerstand gegen die Fremdherrschaft in der
Kolonialzeit selbst, aber auch gegen ihre Folgen wie Neokolonialismus und gegen Rekolo-
nialisierung. Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie: Eine kritische Einführung (2005), S. 24.
Neokolonialismus leugnet dabei eine Überwindung der Fremdherrschaft durch die Dekolo-
nialisierung und identifiziert statt der früheren formalen Abhängigkeit heute neue Unterdrü-
ckungsformen als Folge und Fortwirkung der Kolonialzeit. Die imperialistische Mentalität
4 Kapitel 1: Einleitung
der ehemaligen Kolonialherren habe sich seit dem Kolonialismus nicht geändert. Der Begriff
erlangte Popularität durch seine Verwendung durch den ghanaischen Präsidenten Kwame
Nkrumah, Neo-colonialism: The Last Stage of Imperialism (1966). Siehe Sturm, Neokolo-
nialismus, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organisationen, Theorien,
Begriffe, Personen (1985), S. 423 f. Kerner, Postkoloniale Theorien zur Einführung (2012),
S. 12. Die postkoloniale Gegenwart wird in der postkolonialen Theorie aus der Perspektive
und als Produkt ihrer kolonialen Vergangenheit betrachtet. Aktuelle Probleme in den ehe-
maligen Kolonien wie Rassismus, Armut und Unterentwicklung erscheinen damit zumindest
auch als historisch-materiell begründete Strukturprobleme, die durch postkoloniale Theo-
rien aufgedeckt, kritisiert und möglichen Lösungen zugeführt werden können. Postkoloniale
Theorie darf insofern auch als (wissens-)politisches Projekt verstanden werden. Das Feld
der postkolonialen Theorien erstreckt sich über verschiedene Disziplinen und vereint unter-
schiedliche methodische Ansätze. Ursprung und Gravitationszentrum der postkolonialen
Theorie liegen in den angelsächsischen Literatur- und Kulturwissenschaften. Von besonde-
rer Bedeutung sind dabei die bisweilen zur „Holy Trinity“ der postkolonialen Theorie sti-
lisierten und bis heute meistrezipierten Autoren Edward Said aus Palästina, Gayatri Cha-
kravorty Spivak aus Indien und Homi K. Bhabha aus Indien. Young, White Mythologies:
Writing History and the West (1990); ders., Colonial Desire: Hybridity in Theory, Culture
and Race (1995), S. 163. Said untersuchte in seinem 1978 veröffentlichten Buch Orientalism
mittels einer Diskursanalyse, wie das scheinbar neutrale Begriffspaar Orient-Okzident ein
von westlichen Vorstellungen geprägtes Bild vom Orient als dem „Anderen“ vermittele, ihn
dadurch diskursiv erst erschaffe und in Abgrenzung hierzu das Bild eines überlegenen Okzi-
dents zeichne. Nach Spivaks von Marxismus und Feminismus geprägter Kritik vermittelt
der Imperialismus eine epistemische Gewalt, mit der westliche Wissenschaftler (wenn auch
unbewusst) verhindern, dass die Diskurse Subalterner gehört werden. Spivak, Can the Sub-
altern Speak?, in Williams/Chrisman (Hrsg.), Colonial Discourse and Post-Colonial Theory:
A Reader (1994), S. 66, 84 ff. The Location of Culture von Bhabha erschien 1994 und
gehört heute zu den Standardwerken auf den Gebieten Kulturanalyse und Rassismuskritik.
Siehe zum Ganzen Ashcroft/Griffiths/Tiffin, The Post-Colonial Studies Reader (2. Auflage
2006) sowie Williams/Chrisman (Hrsg.), Colonial Discourse and Post-Colonial Theory: A
Reader (1994). Im Völkerrecht haben sich die Third World Approaches to International Law
(TWAIL) als postkoloniale Theorie entwickelt, siehe hierzu sogleich.
10
Dieser Debatte widmet sich Teil I der vorliegenden Arbeit.
Einleitung5
11
Hiermit beschäftigen sich Teil II und Teil III der vorliegenden Arbeit.
12
Statt vieler in der zeitgenössischen Debatte wie auch heute siehe Schweitzer, Das Völker-
gewohnheitsrecht und seine Geltung für neuentstehende Staaten (1969), ders., Staatsrecht
III: Staatsrecht, Völkerrecht, Europarecht (10. Auflage 2010), S. 249. Zur Staatennachfolge
siehe insbesondere Teil III der vorliegenden Arbeit.
6 Kapitel 1: Einleitung
und in welchem Verhältnis standen diese zum praktischen Umgang mit dem Völker-
recht? Wie argumentierten Völkerrechtler aus den neuen Staaten nach der Dekolo-
nialisierung, wie gingen sie beispielsweise mit solchen Grundprinzipien wie der
staatlichen Souveränität um? Wie wurde ihre Argumentation aufgenommen, wie
wurde ihr begegnet? Wo konnten sie sich mit ihrer Argumentation durchsetzen, wo
scheiterten sie wie und warum?
Auf diese Fragen soll die vorliegende Arbeit Antworten finden. Es handelt sich
dabei um eine Arbeit über die Geschichte des Völkerrechts zur Zeit der Dekolo-
nialisierung. Seit der Jahrtausendwende werden zunehmend völkerrechtshistorische
Arbeiten veröffentlicht, die sich großer Aufmerksamkeit erfreuen.13 Die völker-
rechtshistorische Aufarbeitung der Dekolonisierungsphase steht jedoch noch am
Anfang.14 Eine umfassende Untersuchung zur Bindung der Dritten Welt an das post-
koloniale Völkerrecht liegt bisher nicht vor.15 In diese Lücke möchte die vorliegende
Arbeit vorstoßen. Dabei sollen insbesondere die 1960er- und 1970er-Jahre beleuch-
tet werden, in welchem die Bindungsfrage am intensivsten diskutiert wurde. Diese
Debatten fanden zu einem Großteil in der ILC selbst oder zumindest anlässlich der
Arbeit der ILC an verschiedenen Konventionsentwürfen statt.16 Entsprechend steht
die Auswertung der Debatten um die Bindung der Dritten Welt an das postkoloniale
Völkerrecht in der ILC im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung.17 Dies wirkt
sich auf die Materialien aus, welche für die vorliegende Arbeit ausgewertet werden:
Im Rahmen einer Vermessung der politischen und völkerrechtswissenschaftlichen
Landschaft zur Zeit der Dekolonialisierung werden insbesondere Veröffentlichun-
gen von wichtigen zeitgenössischen Autoren aus den neuen Staaten untersucht.
Daneben werden Dokumente der ILC zu den Arbeiten an der Wiener Vertrags-
rechtskonvention von 1969 (WVK) sowie an der Wiener Konvention über die Staa-
tennachfolge in Verträge von 1978 (WKSV) und an der Wiener Konvention über die
Staatennachfolge in Vermögen, Archive und Schulden von 1983 (WKSVAS) aufge-
arbeitet. Zudem werden die Reaktionen auf alle drei Konventionen ausgewertet. Im
13
Siehe Galindo, Martti Koskenniemi and the Historiographical Turn in International Law,
16 The European Journal of International Law (2005), S. 539 ff.; Fassbender/Peters/Peter/
Högger (Hrsg.), The Oxford Handbook of the History of International Law (2012).
14
Siehe hierzu sogleich.
15
Mit manchen Aspekten der Bindungsfrage beschäftigt sich Craven, The Decolonializa-
tion of International Law: State Succession and the Law of Treaties (2007). Diese Arbeit
beschränkt sich jedoch weitgehend auf die Untersuchung der Entstehungsgeschichte der
Wiener Konferenz zur Staatennachfolge in Verträge. Der Ansatz, welcher der vorliegenden
Arbeit zugrunde liegt, ist einerseits allgemeiner, da die Bindungsfrage umfassend untersucht
wird und auch die Debatten um die beiden anderen relevanten Konventionen, nämlich die
Wiener Vertragsrechtskonvention und die Wiener Konvention zur Staatennachfolge in Ver-
mögen, Archive und Schulden, aufgearbeitet werden. Zum anderen wählt die vorliegende
Arbeit einen spezifischeren Blickwinkel, da sie speziell die Positionen und Argumentationen
der Völkerrechtler in der Dritten Welt in den Fokus nimmt.
16
Siehe Teil II, Kapitel 4.
17
Siehe insbesondere Teil II und Teil III.
Einleitung7
Verlauf der gesamten Arbeit werden biographische Erkenntnisse über die Völker-
rechtler aus der Dritten Welt nach der Dekolonialisierung eingeflochten, um deren
Strategien und Motive zu ergründen.18
Erste vorhandene Arbeiten über die Dekolonialisierung19 stammen von Völker-
rechtlern aus dem Umfeld der postkolonialen Völkerrechtstheorie,20 den sogenann-
ten Third World Approaches to International Law (TWAIL),21 welche gegenwärtig
in Deutschland und international zunehmend Interesse auf sich ziehen.22 Sie nennen
18
Als Beispiel für diese gegenwärtig in der Geschichtswissenschaft sehr beliebte Vorgehens-
weise siehe Mazower, No Enchanted Palace: The End of Empire and the Ideological Origins
of the United Nations (2009).
19
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Trea-
ties (2007); Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008);
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics of
Universality (2011).
20
Zum Postkolonialismus siehe bereits oben. Der Kolumbianer Luis Eslava und die Inderin
Sundhya Pahuja schreiben:
„[P]ostcolonial approaches, and postcolonialism as an idea, are understood from the perspec-
tive of TWAIL, a vantage point from which to see the traces left by classical imperialism and its
variants, on the social, political and economic relations of the world. This trace expresses itself
most commonly in asymmetries of power that are reproduced and sustained by official narra-
tives, forms of expertise, normative configurations and managerial practices and in acts of vio-
lence, both symbolic and physical.” Eslava/Pahuja, Beyond the (Post)Colonial: TWAIL and the
Everyday Life of International Law, 45 Verfassung und Recht in Übersee (2012), S. 195, 198.
21
Die TWAIL wurden unter diesem Namen im Jahr 1996 von einer Studentengruppe rund
um den indischen Völkerrechtler Bhupinder Chimni und seinen kenianischen Kollegen James
Thuo Gathii an der Harvard Law School ins Leben gerufen. Dabei handelt es sich um eine
Gruppe von Völkerrechtswissenschaftlern, die meist aus der Peripherie stammen und das
Völkerrecht aus dieser spezifischen Perspektive heraus analysieren, ohne jedoch einen ein-
heitlichen Ansatz zu verfolgen. Die Gruppe wird geeint durch eine Reihe materieller und
methodischer Grundauffassungen; hierzu gehören die historisierende Betrachtung von
völkerrechtlichen Problemen vor dem Hintergrund des Kolonialismus, die Betonung von
Gerechtigkeitserwägungen im völkerrechtlichen Diskurs und eine große Machtsensibilität.
Entsprechend mag man die TWAIL als Völkerrechtsmethodik, -theorie oder auch als Denk-
schule bezeichnen. Gathii, TWAIL: A Brief History of its Origins, its Decentralized Network,
and a Tentative Bibliography, 3 Trade, Law and Development (2011), S. 26, 28 f.; Mutua,
What Is TWAIL?, 94 American Society of International Law Proceedings of the Annual
Meeting (2000), S. 31, 31; Mickelson, Rhetoric and Rage: Third World Voices in Inter-
national Legal Discourse, 16 Wisconsin International Law Journal (1997-1998), S. 353,
397; Eslava/Pahuja, Beyond the (Post)Colonial: TWAIL and the Everyday Life of Interna-
tional Law, 45 Verfassung und Recht in Übersee (2012), S. 195, 199; Anghie/Chimni, Third
World Approaches to International Law and Individual Responsibility in Internal Conflicts, 2
Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 78.
22
Bei dem Symposium zur Völkerrechtsmethodik im American Journal of International Law
im Jahr 1999 fand sich noch kein Verweis auf postkoloniale Ansätze. Dies sorgte für harsche
Kritik, was zu einem Einlenken der Herausgeber führte. Siehe hierzu Symposium on Method
8 Kapitel 1: Einleitung
sich selbst auch TWAIL II, in Abgrenzung zu der ersten Generation von Völker-
rechtlern in der Dritten Welt wie Anand, Elias und Bedjaoui, die sie ad hoc als
TWAIL I bezeichnen.23 Die TWAIL II stellen die heutige Völkerrechtsordnung als
Produkt des Kolonialismus dar, welches auch Jahrzehnte nach der formalen Unab-
hängigkeit der meisten Kolonien strukturell der Beherrschung der Dritten Welt24
in International Law, 93 American Journal of International Law (1999), S. 291 ff.; Corre-
spondence, 94 American Journal of International Law (2000), S. 99, 100 f. und 45 Verfassung
und Recht in Übersee (2012), S. 123 ff.; Kritische Justiz (2012), S. 127 ff. Vom 5. bis zum 7.
November 2015 fand in Berlin ein Workshop zum Thema “The Battle for International Law
in the Decolonization Era, 1955-1975” statt, welcher der Vorbereitung einer umfangreichen
Publikation zu dem Thema mit Beiträgen renomierter Völkerrechtler aus aller Welt diente.
23
Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual Responsibi-
lity in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 79 ff. Eslava
und Pahuja nennen die erste Generation von Völkerrechtlern aus der Dritten Welt „midnight's
international lawyers“, siehe Eslava/Pahuja, Between Resistance and Reform: TWAIL and
the Universality of International Law, 3 Trade, Law and Development (2011), S. 103, 117.
24
Der Begriff der Dritten Welt stammt aus der Zeit des Kalten Krieges und hat mit dessen
Ende und angesichts der großen Unterschiede zwischen den Entwicklungsländern nach ver-
breiteter Ansicht seine Existenzberechtigung verloren; er wird außerdem häufig als diskri-
minierend erachtet. Siehe Walker, Space/Time/Sovereignty, in Denham/Lombardi (Hrsg.),
Perspectives on Third-World Sovereignty: The Postmodern Paradox (1996), S. 15; Nohlen,
Dritte Welt, in ders. (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organisationen, Theorien,
Begriffe, Personen (1985), S. 151 f.; Macfarlane, Taking Stock: The Third World and the
End of the Cold War, in Fawcett/Sayigh (Hrsg.), The Third World beyond the Cold War:
Continuity and Change (1999), S. 21; Nohlen/Nuscheler, „Ende der Dritten Welt?“, in
ders. (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt, Band 1: Grundprobleme – Theorien – Strategien
(3. Auflage 1992), S. 15, 24; Boeckh, Entwicklungstheorien: Eine Rückschau; in Nohlen/
Nuscheler (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt, Band 1: Grundprobleme – Theorien – Stra-
tegien (3. Auflage 1992), S. 115 ff. Dieser Auffassung widersprechen die TWAIL, welche
den Begriff der Dritten Welt in ihrem selbstgegebenen Namen tragen: Der Australier Antony
Anghie und Chimni möchten an dem Begriff der Dritten Welt festhalten, da dieser betont,
dass globale Ungerechtigkeit die früheren Kolonien nach wie vor auf die gleiche Weise
betreffen, wie dies vor dem Ende des Kalten Krieges der Fall war. Anghie/Chimni, Third
World Approaches to International Law and Individual Responsibility in Internal Conflicts, 2
Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 78. Der Nigerianer Obiora Okafor betont
die Selbstidentifikation derjenigen Staaten und Völker, die sich als Teil der Dritten Welt ver-
stehen. Er betrachtet den Begriff als bedingte Referenz („contingent signifier“), die nicht ver-
worfen werden könne, ohne gleichzeitig die damit verbundene gemeinsame Erfahrung von
Subordination zu verwerfen. Okafor, Newness, Imperialism, and International Legal Reform
in our Time: A TWAIL Perspective, 43 Osgoode Hall Law Journal (2005), S. 171, 174 f.
Pahuja bevorzugt den Begriff trotz seiner Unschärfe gegenüber anderen Termini aus dem
Entwicklungsjargon, um die sich dahinter verbergende politische Gruppe herauszustellen.
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics of
Universality (2011), S. 261. Der Inder Balakrishnan Rajagopal verwendet den Begriff pole-
misch, um ganz im Sinne des französischen Vordenkers der Dekolonialisierung Frantz Fanon
etablierte hegemoniale Denkmuster aufzubrechen. Rajagopal, Locating Third World in
Einleitung9
durch den Westen diene und somit für erstere nachteilig wirke.25 Der Kenianer
Makau Wa Mutua beschreibt das Projekt der TWAIL folgendermaßen:
TWAIL is driven by three basic, interrelated and purposeful objectives. The first is to
understand, deconstruct, and unpack the uses of international law as a medium for the
creation and perpetuation of a racialized hierarchy of international norms and institutions
that subordinate non-Europeans to Europeans. Second, it seeks to construct and present
an alternative normative legal edifice for international governance. Finally, TWAIL seeks
through scholarship, policy, and politics to eradicate the conditions of underdevelopment
in the Third World.26
Cultural Geography, Third World Legal Studies (1998-1999), S. 1, 3 f. Mutau schreibt: „The
Third World is real. It not only exists in what some in the west regard as the vacuous minds
of Third World scholars and political leaders, but in the lives of those who live its daily cruel-
ties.” Mutua, What Is TWAIL?, 94 American Society of International Law Proceedings of the
Annual Meeting (2000), S. 31, 32. Trotz ihres unterschiedlichen Entwicklungsgrades recht-
fertigen damit gemeinsame Erfahrungen kolonialer Beherrschung die Zusammenfassung der
Entwicklungsländer unter dem Begriff Dritte Welt und dies unabhängig von seiner Entste-
hung in einer vergangenen Zeit mit bipolarer Machtstruktur. Unterstellt man, dass aus den
genannten Gründen ein Sammelbegriff für eine so heterogene Gruppe von Staaten geboten
ist, so wird eine passendere Zusammenfassung als die Dritte Welt ohnehin schwerlich gefun-
den werden, da sie dieselben divergierenden Interessen definitorisch vereinen müsste wie der
Begriff der Dritten Welt. Young, White Mythologies: Writing History and the West (1990),
S. 11. Aus den genannten Gründen wird der Begriff der Dritten Welt in der vorliegenden
Arbeit auch jenseits seiner historischen Bedeutung während des Kalten Krieges verwendet.
25
Mutua, What Is TWAIL?, 94 American Society of International Law Proceedings of the
Annual Meeting (2000), S. 31, 31.
26
Mutua, What Is TWAIL?, 94 American Society of International Law Proceedings of the
Annual Meeting (2000), S. 31, 31.
27
Siehe Eslava/Pahuja, Beyond the (Post)Colonial: TWAIL and the Everyday Life of Inter-
national Law, 45 Verfassung und Recht in Übersee (2012), S. 195, 208.
10 Kapitel 1: Einleitung
state sovereignty in order to align the language of international law with the destiny of Third
World peoples as opposed to Third World states. This view of the transcendent post-colo-
nial state prevented a focus on the violence of the state at home. […]
In addition, TWAIL II has sought to further the analysis developed by TWAIL I of
the structural factors promoting inequalities between First and Third World states. In this
respect, TWAIL II has focused more explicitly on theoretical inquiry than TWAIL I, which
adopted a relatively unproblematic view of international law and saw its task as using the
established techniques of international law to address Third World concerns. As a conse-
quence of the failure of a number of Third World initiatives, most prominently that of the
New International Economic Order, TWAIL II scholars began to examine more closely the
extent to which colonial relations had shaped the fundamentals of the discipline. Rather than
seeing colonialism as external and incidental to international law, an aberration that could
be quickly remedied once recognized, some TWAIL II scholarship has focused on a more
alarming proposition: that colonialism is central to the formation of international law.28
28
Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual Responsibi-
lity in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 82 ff.
29
Siehe hierzu auch unten, Teil I.
30
Während die Diskursanalyse in anderen Disziplinen zum üblichen methodischen Reper-
toire gehört, findet sie in der völkerrechtlichen Methodenlehre trotz des mit ihr verbundenen
Erkenntnisgewinns bis dato wenig Beachtung. Siehe aber Craven, The Decolonialization of
International Law: State Succession and the Law of Treaties (2007), S. 18 f. Eine anschauli-
che Anleitung zur historischen Diskursanalyse, die vorliegend auf die Völkerrechtsgeschichte
übertragen wird, gibt Landwehr, Historische Diskursanalyse (2008).
31
Foucault, Archäologie des Wissens (1. Auflage 1981), S. 74.
Einleitung11
sondern werden durch ihre nachträgliche Untersuchung wie alle historischen Bege-
benheiten im Nachhinein neu konstruiert, je nachdem, welche Materialien heran-
gezogen werden, wie diese arrangiert werden, welchen Blickwinkel man wählt.32
Diskurse produzieren insofern Wirklichkeiten in Abhängigkeit davon, wem die
Deutungshoheit über Geschehenes zugesprochen wird. Ziel der Diskursanalyse
ist es somit, „dem Problem nachzugehen, welche Umstände dazu geführt haben,
solche Erscheinungen als Wirklichkeit hervorzubringen“ und dadurch „den Wahr-
nehmungskategorien, Bedeutungskonstruktionen und Identitätsstiftungen in ihrer
historischen Veränderung auf den Grund zu gehen.“33 Diskursanalytische Elemente
sollen vorliegend dabei helfen zu verstehen, wieso die TWAIL II das Scheitern der
ersten Generation von Völkerrechtlern aus den neuen Staaten mit einem Scheitern
der Völkerrechtsordnung gleichsetzen und, noch einen Schritt früher ansetzend, wie
die Idee vom Scheitern der TWAIL I selbst zustande kam. Es soll hierfür untersucht
werden, welche Bedeutung die Völkerrechtler aus der Dritten Welt nach der Deko-
lonialisierung der Bindungsfrage beimaßen und wie zeitgenössische Völkerrechtler
aus Ost und West das Thema verorteten. Da somit die Bedeutungszuschreibungen
verschiedener Protagonisten analysiert werden sollen, kann die vorliegende Arbeit
als „a story about stories“34 verstanden werden.
Der Diskurs über die Bindung der Dritten Welt an das postkoloniale Völkerrecht
soll dabei nicht im luftleeren Raum, sondern im Kontext zeitgeschichtlicher Phäno-
mene untersucht werden. Zu diesen Phänomenen zählen zum einen die völkerrecht-
liche Ordnung und zum anderen die internationale Politik. Der dekonstruktivisti-
sche Blickwinkel, der die historische Konstruktion dieser Arbeit anleitet, geht von
der Unbestimmtheit völkerrechtlicher Normen aus, die einen großen politischen
Spielraum gewähren. Völkerrechtler im Umfeld der US-amerikanischen rechtstheo-
retischen Bewegung der Critical Legal Studies wie der Finne Martti Koskenniemi
und der Amerikaner David Kennedy haben in den 1980er-Jahren gezeigt, dass im
Völkerrecht auf Grund dessen normativer Struktur keine autonome, nicht-normative
Begründung existiert, nach der eine Norm der anderen gegenüber zu bevorzugen
ist.35 Diese Kritik an der strukturellen Unsicherheit des völkerrechtstheoretischen
32
Siehe hierzu und für einen Überblick über die entsprechende Debatte in der Philiosophie
und Geschichtswissenschaft Orford, The Past as Law or History? The Relevance of Impe-
rialism for Modern International Law, 2 Institute for Inetrnational Law and Justice Working
Paper (2012), S. 1, 2 ff.
33
Landwehr, Historische Diskursanalyse (2008), S. 92, 128.
34
Vgl. hierzu Craven, The Decolonialization of International Law: State Succession and the
Law of Treaties (2007), S. 18.
35
Zum Folgenden siehe Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of Interna-
tional Legal Argument (2005); Kennedy, International Legal Structures (1987). Allgemein
zu den Critical Legal Studies siehe außerdem Kennedy, Form and Substance in Private Law
Adjudication, 89 Harvard Law Review (1976), S. 1685 ff.; ders., Duncan Kennedy, A Criti-
que of Adjudication: Fin de Siecle, 22 Cardozo Law Review (2001), S. 991 ff.; Unger, The
Critical Legal Studies Movement (1983); Kelman, A Guide to Critical Legal Studies (1987).
12 Kapitel 1: Einleitung
36
Kelsen, Das Problem der Souveränität (1928), S. 319 f. Siehe hierzu von Bernstorff, Sisy-
phus was an International Lawyer. On Martti Koskenniemi’s “From Apology to Utopia” and
the Place of Law in International Politics, 7 German Law Journal (2006), S. 1015 ff.; ders.,
German Intellectual Origins of International Legal Positivism, in Kammerhofer/D’Aspre-
mont/Brookson-Moris/Plant (Hrsg.), International Legal Positivism in a Post-Modern World
(2014), S. 50, 78.
37
Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argument
(2005), S. 41, 59, 476.
38
„The idea that law can provide objective resolutions to actual disputes is premises on the
assumption that legal concepts have a meaning which is present in them in some intrinsic
way, that at least their core meanings can be verified in an objective fashion. But modern lin-
guistics has taught us that concepts do not have such natural meanings. In one way or other,
meanings are determined by the conceptual scheme in which the concept appears.” Kos-
kenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argument (2005),
S. 503.
39
Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argument
(2005), S. 70. Zur Reversibilität der völkerrechtlichen Argumentation siehe auch S. 503 ff.
Einleitung13
40
In diesem Zusammenhang kritisiert Koskenniemi auch die zunehmende Fragmentie-
rung des Völkerrechts, die Spezialisierung in Bereiche wie Handelsrecht, Menschenrechte,
Umweltrecht und Sicherheitsrecht. Diese fördere die Parteilichkeit des Völkerrechts: „The
choice of the frame“, so Koskenniemi, „determined the decision. But for determining the
frame, there was no meta-regime, directive or rule.” Das konkrete Urteil sei in solchen Fällen
einzig das Resultat der subjektiven Wertung der Richter, welches Rechtsgebiet als das spe-
ziellere ausschlaggebend sein solle. Die Unbestimmtheit und Tendenziösität des Völkerrechts
sei das Ergebnis der Vorherrschaft verschiedener Institutionen: „Which institution will have
the authoritative voice? According to which bias will a matter be resolved? If there are no
regime-independent ways of describing an issue, the door is open to the unilateral assumption
of jurisdiction by experts who feel themselves powerful enough to have the last word.” Kos-
kenniemi, The Fate of Public International Law: Between Technique and Politics, 70 Modern
Law Review (2007), S. 1, 4, 6, 8.
41
Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argument
(2005), S. xiv.
42
Zu diesem Begriff siehe Kapitel 4.
14 Kapitel 1: Einleitung
der vorliegenden Arbeit soll auch die Kritik der TWAIL II an der Position und Argu-
mentation der TWAIL I in den genannten Bereichen Raum finden.
In den Teilen II und III der Arbeit, die sich den konkreten Debatten zur Bindungs-
frage widmen, soll dann überprüft werden, ob diese Kritikpunkte tatsächlich die
Durchsetzung der Positionen der Dritten Welt in der Bindungsfrage verhinderten,
oder ob der Diskursverlauf nicht andere Erklärungsansätze näher legt. In Teil II wird
die Bindungsfrage im Recht der Verträge untersucht. Hierbei liegt der Diskurs um
sogenannte „Ungleiche Verträge“ im Fokus. Auf Grund ihrer Arbeiten an der Wiener
Vertragsrechtskonvention rückt hier die ILC ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die
Normen zu unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträgen, zu Verträgen in
Widerspruch zu zwingendem Recht und zum Prinzip rebus sic stantibus werden
zum normativen Rahmen der Debatte. Diese wird überlappt von dem Diskurs um
das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Teil III widmet sich der Bindungsfrage im
Recht der Staatennachfolge. Von besonderer Brisanz ist dabei die Diskussion um
die auch im Zusammenhang mit der Forderung nach einer Neuen Weltwirtschafts-
ordnung bedeutsamen Debatten um Territorialregime und Erworbene Rechte von
Privaten. Auch diese Debatte wird von einem Diskurs um ein Grundprinzip des
Völkerrechts, in diesem Fall die permanente Souveränität über natürliche Ressour-
cen, überlagert. In Teil II und III der Arbeit wird sich zeigen, welchen Einfluss die
Wahl des rechtlichen bzw. des rechtstheoretischen Rahmens einer Debatte auf deren
Ergebnis hatte und wie der Diskurs so durch die völkerrechtliche Struktur selbst
sowie durch die politische Entscheidung innerhalb dieser Struktur gelenkt wurde.
Dabei verlief der Diskurs stets in den Grenzen der drei Dichotomien Zweck
und Konsens, Gemeinschaft und Souveränität sowie Gerechtigkeit und Sicherheit
des Rechts. Deutlich wird hierbei insbesondere die Reversibilität jeder in diesem
Rahmen möglichen Argumentation, da Protagonisten aus allen drei Welten einer-
seits ihren argumentativen Standpunkt innerhalb der genannten Gegensatzpaare
immer wieder wechselten, andererseits aber auch häufig vom selben Argumenta-
tionspol ausgehend gegensätzliche Argumentationen entwickelten. Damit lässt
sich eine Entwicklung nachzeichnen, in der sich die Bemühungen der Dritten Welt
bezüglich der Kodifikation des Themas Bindung zunehmend durchsetzten, schließ-
lich jedoch den Zenit überschritten und marginalisiert wurden. Letztlich setzte sich
in der Regel das westliche Narrativ gegenüber den häufig progressiveren Forderun-
gen von Völkerrechtlern aus den neuen Staaten durch. Im völkerrechtlichen Diskurs
wurde die Dekolonialisierungsphase so zur historisch überholten Zäsur für Fragen
der Bindungswirkung, die sich fortan nur noch in von dieser Phase sehr verschiede-
nen Kontexten stellen.43
43
Siehe hierzu auch die Schlussbetrachtungen, Kapitel 11. Solche Kontexte boten beispiels-
weise der Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens, siehe Craven, The Decolonization of
International Law: State Succession and the Law of Treaties (2007), S. 1 ff.
Teil I: Die Bestimmungsfaktoren
der Bindungsdebatte in der
Völkerrechtswissenschaft
Die Debatte um die Bindung der Dritten Welt an das postkoloniale Völkerrecht
fand in der völkerrechtswissenschaftlichen Literatur wie auch im rechtsprakti-
schen Diskurs insbesondere im Zeitraum zwischen 1960 und 1975 statt. Besondere
Aufmerksamkeit wurde dabei naturgemäß den Schriften der Völkerrechtler in der
Dritten Welt zu Teil. Diese prägten die Bindungsdebatte maßgeblich, wobei sich die
Frage der Bindung für Völkerrechtler in den neuen Staaten vor ihrem spezifischen
persönlichen Hintergrund, aus ihrem nationalen Blickwinkel und vor dem Kulisse
ihres rechtspolitischen Projekts stellte. Diese Bestimmungsfaktoren der Bindungs-
debatte in der Völkerrechtswissenschaft der Dritten Welt sollen im ersten Teil der
Arbeit vermessen werden, um eine Grundlage für das Verständnis jener Debatten
zu schaffen, die sich rund um die Bindungsfrage im Recht der Verträge (Teil II)
und im Recht der Staatennachfolge (Teil III) entwickelt haben. Anders als etwa
für viele westliche Autoren stellte sich die Frage der Bindung der Dritten Welt an
das postkoloniale Völkerrecht für Völkerrechtler aus den neuen Staaten nämlich vor
dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrung mit und der Prägung ihrer Heimatstaaten
durch Kolonialismus und Dekolonialisierung, welche ihren Blick auf das Völker-
recht maßgeblich geprägt hatten (Kap. 2). Diese Prägung bildete den Nährboden
für die Kritik der Völkerrechtler aus der Dritten Welt an der etablierten Völker-
rechtsordnung, durch welche wiederum die Bindungsdebatte überhaupt erst ange-
stoßen wurde (Kap. 3). Trotz ihrer Kritik und des In-Frage-Stellens der Bindung
der Dritten Welt an das Völkerrecht wandten sich die Völkerrechtler in der Dritten
Welt jedoch nicht von dieser Materie ab, sondern entwickelten im Rahmen der eta-
blierten Völkerrechtsordnung ein eigenes rechtpolitisches Programm, ihr Global-
solidarisches Projekt, welches das Völkerrecht aus sich selbst heraus im Interesse
der Dritten Welt reformieren sollte (Kap. 4). Im ersten Teil der Arbeit sollen also
für die Bindungsdebatte grundsätzliche Positionen der Völkerrechtler in der Dritten
Welt nach der Dekolonialisierung dargestellt und schließlich in einem kurzen Fazit
zusammengefasst werden. Diesen Positionen der TWAIL I wird darüber hinaus in
Grundzügen die Kritik der TWAIL II hieran gegenübergestellt. Dieses Vorgehen
soll dazu dienen, die Kritik der TWAIL II in den folgenden Teilen der vorliegenden
16 Teil I: Die Bestimmungsfaktoren der Bindungsdebatte in der Völkerrechtswissenschaft
Arbeit in Bezug auf die Bindungsdebatte auf Stichhaltigkeit und praktische Rele-
vanz zu überprüfen.
Außerdem wird der erste Teil der vorliegenden Arbeit bereits Erkenntnisse über
die Struktur des völkerrechtlichen Diskurses der Bindungsfrage liefern. Völker-
rechtler in der Dritten Welt argumentierten häufig mit Grundprinzipien des Völker-
rechts, wobei sie sich deren inhaltlichen Unbestimmtheit und Flexibilität zu Nutze
machten. Bei der Frage um die Bindung an das Allgemeine Völkerrecht bezogen
sie eine apologetische Position unter Betonung der staatlichen Souveränität und der
sich hieraus ergebenden souveränen Gleichheit bzw. argumentierten gemischt apo-
logetisch-utopisch mit der sozialen Funktion des Völkerrechts für die clean slate-
Theorie: Eine automatische Bindung der neuen Staaten an das Allgemeine Völker-
recht sei wegen dessen europäischer Herkunft und kolonialer Prägung unzumutbar,
und gefährde die Effektivität des Völkerrechts im sozialen Kontext. Vielmehr sei die
Zustimmung der ehemaligen Kolonien zu den maßgeblichen Normen erforderlich.
Der Westen bezog die utopische Gegenposition, eine Bindung ergebe sich aus dem
Beitritt zur Internationalen Gemeinschaft und sei aus Gründen der Rechtssicher-
heit geboten, wobei vereinzelt unterstützend mit der apologetischen Theorie vom
impliziten Konsens der neuen Staaten argumentiert wurde. Dabei warfen westliche
Autoren den neuen Staaten eine angeblich unzulässige Politisierung des völker-
rechtlichen Diskurses vor, wobei die westliche Position nicht weniger politisch war.
Beide Seiten beanspruchten dabei für sich, dass nur ihre Position die Stabilität der
Völkerrechtsordnung gewährleiste. Da nach der Argumentation der Völkerrechtler
in der Dritten Welt keine umfassende Bindung an das etablierte Völkerrecht bestand,
entwickelten sie ein rechtpolitisches Programm, ihr „Globalsolidarisches Projekt“,
in dessen Sinne die Völkerrechtsordnung ihrer Ansicht nach geändert werden sollte
und auf Grund seiner sozialen Funktion auch geändert werden musste. Dieses rekur-
rierte auf utopische Ideen wie Gerechtigkeit, Solidarität, Entwicklung und Wohl-
stand aller als Ziele der Internationalen Gemeinschaft, wobei angenommen wurde,
dass etwa die Neue Weltwirtschaftsordnung die Interessen aller Staaten hinreichend
berücksichtigen würde (apologetisches Element). Gegen entsprechende Rechtände-
rungen verwehrten sich der nun vorrangig apologetisch argumentierende Westen,
der seine Zustimmung zur Neuen Weltwirtschaftsordnung verweigerte und auch
die hehren Ziele des Globalsolidarischen Projekts nur bedingt teilte (utopisches
Element). Von der Frage der Bindung an das Allgemeine Völkerrecht zur Frage der
Rechtsänderung fand insofern ein argumentativer Positionswechsel statt.
Kapitel 2: Die Kolonialisierung als
prägendes Moment für die Völkerrechtler
in der Dritten Welt
In auffallend vielen Publikationen von Völkerrechtlern aus der Dritten Welt finden
sich Abhandlungen über die vorkoloniale Zeit, die Kolonialisierung und die Deko-
lonialisierung in Afrika und Asien, aber auch Lateinamerika. Dies ist dem Umstand
geschuldet, dass diese in den 1960er- und 1970er-Jahren zum Teil noch sehr fri-
schen zeitgeschichtlichen Erfahrungen nicht nur die ehemaligen Kolonien selbst,
sondern auch deren Bewohner entscheidend geprägt haben. Diese Prägung war für
die Positionen der Völkerrechtler in der Dritten Welt – gerade auch in der Bindungs-
debatte – ausschlaggebend. Auch die TWAIL II bauen im Übrigen heute auf den
völkerrechtsgeschichtlichen Erkenntnissen der TWAIL I auf.1
Im Folgenden wird daher dargestellt, wie die Völkerrechtler in der Dritten Welt
die vorkoloniale Zeit (I.), die Kolonialisierung (II.) sowie die Dekolonialisierung
(III.) erlebt und in ihren völkerrechtlichen Veröffentlichungen geschildert haben.
Unter den rechtshistorischen Schriften von Völkerrechtlern aus der Dritten Welt
waren jene von Ram Prakash Anand (1.) und Taslim Olawale Elias (2.) von beson-
derem Einfluss. Sie sind als Reaktionen auf die im Westen vorherrschende eurozen-
trische Völkerrechtsgeschichtsschreibung zu begreifen (3.).
1
Das Geschichtsverständnis der TWAIL I gehört zu den Aspekten ihrer Forschung, welche
die TWAIL II heute positiv hervorheben und auf denen sie ihre eigene Forschung aufbauen,
vgl. Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual Respon-
sibility in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 80. Siehe
insbesondere Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008),
der viele Thesen der TWAIL II übernimmt.
In der Dritten Welt war der indische Völkerrechtler Anand federführend auf dem
Forschungsgebiet der Völkerrechtsgeschichte.
Anands Heimat Indien war im 19. Jahrhundert vollständig im britischen Ein-
flussbereich gewesen und hatte dabei zunächst unter der Herrschaft der Ost-
indienkompanie gestanden, bis die britische Krone als Reaktion auf blutig nie-
dergeschlagene Aufstände selbst die Regierung übernahm. Indien war keine
Siedlerkolonie, sie diente den Briten als Lieferant von Ressourcen und Arbeits-
kräften und bildete gleichzeitig einen Absatzmarkt. Mit der Gründung der Kon-
gresspartei und Mahatma Gandhis gewaltlosem Widerstand gegen die britische
Herrschaft erstarkte die Unabhängigkeitsbewegung im Land, der Großbritannien
schrittweise nachgab. Von der Gewährung der inneren Selbstverwaltung 1919 bzw.
1935 war der Weg zur Unabhängigkeit nicht mehr weit: Die Kolonialzeit in Indien
endete 1947, wobei die überwiegend muslimischen Teile des Landes von Indien
abgespalten wurden und mit Pakistan einen eigenen Staat gründeten; ein Umstand,
der in den Folgejahren zu drei Kriegen zwischen beiden Ländern führen sollte.
In diesen Grenzen gehörte Indien immer noch zu den größten Ländern der Erde
und gleichzeitig zu den armen Entwicklungsländern, dessen Probleme weniger
in seiner volkswirtschaftlichen Struktur als in der Sozialordnung des ressourcen-
reichen Landes mit bedeutsamer Industrie, aber enormer ethnischer, religiöser und
linguistischer Heterogenität lagen. Die Kongresspartei stellte nach der Unabhän-
gigkeit mit Jawaharlal Nehru den ersten indischen Ministerpräsidenten und über-
nahm für drei Jahrzehnte die Regierung Indiens. Neben einem Beitritt Indiens
zum Commonwealth wurde auch das britische Verwaltungssystem übernommen.
Bildung war während des Kolonialismus, aber auch noch danach, nur den Eliten
des Landes zugänglich.2
Nicht nur in Indien, sondern auch in vielen anderen Kolonien war breiten Teilen
der indigenen Bevölkerung der Besuch von Universitäten durch die Kolonialmächte
unmöglich gemacht worden; wo die Universitäten, wie beispielsweise in Nigeria,
für eine indigene Bildungselite zugänglich gemacht wurden, bezweckten die Kolo-
nialmächte die Schaffung einer kollaborierenden Mittelschicht, die das koloniale
System aufrechterhalten sollte.3 Erst durch die Dekolonialisierung hatte sich über-
haupt eine selbstständige völkerrechtliche Jurisprudenz in den früheren Kolonien
2
Siehe zum Ganzen Zingel, Indien, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder,
Organisationen, Theorien, Begriffe, Personen (1985), S. 278 ff.
3
Vgl. Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale
Elias, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 317, 338; Landauer, Things Fall
Together: The Past and Future Africas of T. O. Elias‘s Africa and the Development of Inter-
national Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 351, 352.
I. Die vorkoloniale Zeit19
etablieren können. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war die Anzahl von
Völkerrechtlern in den neuen Staaten dementsprechend stark begrenzt.
Anand, im Jahr 1933 geboren, gehörte zu den wenigen privilegierten Indern,
denen eine akademische Karriere möglich war. Er hatte sein Studium der Rechts-
wissenschaften in Delhi begonnen, dann aber, wie die meisten zeitgenössischen
Völkerrechtler in der Dritten Welt, große Teile seiner völkerrechtswissenschaftli-
chen Kenntnisse im westlichen Bildungssystem erworben.4 An der Yale-Universität
in den USA war Anand mit der New Haven-Bewegung in Kontakt gekommen und
wurde von deren Realismus und ihrer sozialwissenschaftlich inspirierten Metho-
dik geprägt.5 Wie viele Völkerrechtler in der Dritten Welt in dieser Zeit stand auch
Anand stark unter dem Einfluss der völkerrechtlichen Sichtweisen im Europa und
im Nordamerika des frühen 20. Jahrhunderts.6 Gleichzeitig nahmen Anand und
andere Völkerrechtler in den neuen Staaten diese westlich geprägten Positionen
vor dem Hintergrund ihrer nationalen und sicherlich auch persönlichen, von der
europäischen Kolonialherrschaft herrührenden Unrechtserfahrungen auf: In ihren
Heimatländern waren die Völkerrechtler der Dritten Welt konfrontiert mit Armut,
Unterentwicklung, Hunger und Überschuldung bei gleichzeitigem Ressourcen-
reichtum. Die Gründe hierfür wurden mit der damals vorherrschenden Dependenz-
theorie in der Beherrschung der Dritten Welt durch die Industrienationen gesehen,
die zu einem Abhängigkeitsverhältnis führe, welches die Entwicklungschancen der
Dritten Welt begrenze.7 Westliche Lehre und koloniale Unrechtserfahrung bilde-
ten damit eine Gemengelage, aus der heraus Völkerrechtler in der Dritten Welt wie
Anand ihre eigene völkerrechtliche Jurisprudenz entwickelten. Aufbauend auf den
Erkenntnissen des österreichisch-ungarischen Völkerrechtswissenschaftlers Charles
Henry Alexandrowicz,8 der in den 1950er- und 1960er-Jahren an der südindischen
Universität Madras völkerrechtliche Strukturen im antiken Asien erforscht hatte,
untersuchte Anand die Rolle des Völkerrechts in der vorkolonialen und kolonialen
Weltgeschichte.9 Anand gehörte zu den wenigen prominenten Völkerrechtlern seiner
Zeit, die sich auf ihre wissenschaftliche Laufbahn konzentrierten und nicht parallel
auch politische Ämter ausübten oder im diplomatischen Dienst ihres Heimatlandes
wirkten. Seine frühen Arbeiten zur Völkerrechtsgeschichte umfassen zwei Aufsätze
4
Vgl. schon die zeitgenössische Beobachtung von Jessup, Non-Universal International Law,
12 Columbia Journal of Transnational Law (1973), S. 415, 416.
5
Baxi, In Memoriam: Ram Prakash Anand (1933-2011), 3 Trade, Law and Development
(2011), S. 2, 3. Siehe hierzu auch Kapitel 3 und 4.
6
Vgl. Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An
Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 100 f.
7
Siehe zur Dependenztheorie beispielsweise Cardoso/Faletto, Abhängigkeit und Entwick-
lung in Lateinamerika (1976).
8
Siehe beispielsweise Alexandrowicz, An Introduction to the History of the Law of Nations
in the East Indies (1967).
9
Chimni, The World of TWAIL: Introduction to the Special Issue, 3 Trade, Law and Develop-
ment (2011), S. 14, 15 f.
20 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
und eine Monographie;10 ihnen wurde damals und wird bis heute nicht nur von
Autoren in der Dritten Welt große Aufmerksamkeit zuteil.11
Anands Forschung erfasste die vorkoloniale Geschichte in den Ländern der
Dritten Welt ebenso wie die Geschichte des Kolonialismus. Dabei kam er zu dem
Ergebnis, dass auch auf diesen Kontinenten zwischenstaatliche Geflechte existiert
hätten, die von völkerrechtlichen Regelungen bestimmt worden seien. Er schrieb:
In any case, not only do many of the new states of Asia and Africa have a rich heritage of
law and legal procedures, and they have been quite familiar with inter-state law which was
being applied in their international relations, but international rules were actually in force
and being applied in their relations with the European Powers during the sixteenth, seven-
teenth and eighteenth centuries, or what is termed the classical period of international law.12
Die Entwicklung von Normen, die den zwischenstaatlichen Verkehr regeln, war
für Anand damit keine genuin europäische Errungenschaft.13 Er stellte heraus, dass
es bereits in der Antike in bestimmten Regionen der späteren Dritten Welt dezi-
dierte Formen zwischenstaatlicher Regeln gegeben habe, so etwa in der zwischen-
staatlichen Praxis von China, Indien, Ägypten und Syrien; diese Normen seien
zumindest zum Teil auch auf eine universale Anwendung angelegt gewesen und
hätten nur auf Grund faktisch mangelnder Mobilität der Akteure lediglich regional
Anwendung gefunden, weshalb sie mit den jeweiligen Zivilisationen, unter deren
Existenz sie erblüht waren, auch wieder verschwunden seien.14 Diese Staaten des
10
Anand, Role of the “New” Asian-African Countries in the Present International Legal
Order, 56 American Journal of International Law (1962), S. 383 ff.; ders., Attitude of the
Asian-African States Toward Certain Problems of International law, 15 International & Com-
parative Law Quarterly (1966), S. 55 ff.; ders., New States and International Law (1972).
Seinen historischen Ansatz hat Anand auch in den folgenden Jahrzehnten weiter ausgebaut,
vgl. beispielsweise Anand, Origin and Development of the Law of the Sea: History of Inter-
national Law Revisited (1983), S. 1 ff.; ders., New States and International Law, Max Planck
Encyclopedia of Public International Law (2013).
11
Anands Auffassung von der vorkolonialen und kolonialen Völkerrechtsgeschichte rezipie-
ren unter anderem Friedmann, The Position of Underdeveloped Countries and the Universa-
lity of International Law, 1/2 Columbia Journal of International Law (1961-1963), S. 78, 85;
Shihata, The Attitude of New States Toward the International Court of Justice, 19 Internatio-
nal Organization (1965), S. 203, 203; Jessup, Non-Universal International Law, 12 Colum-
bia Journal of International Law (1973), S. 415, 416; García-Amador, The Proposed New
International Economic Order: A New Approach to the Law Governing Nationalization and
Compensation, 12 Lawyer of The Americas (1980), S. 1, 6; Anghie, The Evolution of Inter-
national Law: Colonial and Postcolonial Realities, 27 Third World Quarterly (2006), S. 739,
742; Chimni, The World of TWAIL: Introduction to the Special Issue, 3 Trade, Law and
Development (2011), S. 14, 15 f.
12
Anand, New States and International Law (1972), S. 13.
13
Anand, New States and International Law (1972), S. 12.
14
Bandyopadhyay, International Law and Custom in Ancient India (1920), S. 8; Sastri, Inter-
national Law and Relations in Ancient India, 1 Indian Yearbook of International Affairs
(1952), S. 97, 97 ff.
I. Die vorkoloniale Zeit21
globalen Südens hatten für Anand in der damaligen Zeit Souveränität und Völker-
rechtssubjektivität genossen.15 Sie seien, so Anand, auch von westlichen Staaten
und der westlichen Völkerrechtswissenschaft der damaligen Zeit anerkannt
worden: Im klassischen Völkerrecht des 17. und 18. Jahrhunderts seien Verträge
auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung ihrer souveränen Gleichheit
geschlossen worden; es sei damit bei der Völkerrechtssubjektivität zu dieser Zeit
noch vornehmlich auf die Faktizität souveräner Gebilde angekommen.16 Anand sah
in den Schriften von Autoren aus dieser Völkerrechtsepoche wie dem Niederländer
Hugo Grotius, dem Deutschen Christian Wolff und dem Schweizer Emer de Vattel
die Konzeption des Völkerrechts als eine auf dem naturrechtlichen Grundsatz der
Nichtdiskriminierung basierende universale Rechtsordnung.17 Um zu beweisen,
dass etwa den Staaten Asiens damals Völkerrechtssubjektivität zugekommen war,
zog Anand den bezüglich eines Streits zwischen Portugal und Indien vom Interna-
tionalen Gerichtshofs (IGH) entschiedenen Right of Passage over Indian Territory-
Fall heran, in dem der IGH die völkerrechtliche Wirksamkeit eines Vertrages, den
Portugal im Jahr 1779 mit dem Reich der Marathen geschlossen hatte, festgestellt
hatte.18 Hierin sah Anand die implizite Feststellung der damaligen Völkerrechts-
subjektivität der Marathen, die auch für andere asiatische und afrikanische Enti-
täten wie Ägypten oder Äthiopien in dieser Zeit zu treffen sei.19 Im 19. Jahrhun-
dert sei die Völkerrechtssubjektivität dieser Staaten dann jedoch in Frage gestellt
worden.20 Anand meinte daher, dass diese antiken Systeme das moderne Völker-
recht letztlich nicht beeinflusst hätten.21 Der Kolonialismus habe diese frühen, auf
Anwendung zwischen allen Staaten ausgelegten völkerrechtlichen Regelungen
zunichte gemacht.22
Eine ähnliche Perspektive auf das vorkoloniale Völkerrecht hatte der nigerianische
Völkerrechtler Elias entwickelt.
15
Anand, New States and International Law (1972), S. 17 f.
16
Anand, New States and International Law (1972), S. 13 f.; Alexandrowicz, An Introduction
to the History of the Law of Nations in the East Indies (1967), S. 235.
17
Anand, New States and International Law (1972), S. 15; vgl. Grotius, Mare liberum, sive de
Iure quod Batavis Competit ad Indicana Commercia Dissertation (1918/1935 [1978]); Wolff,
Jus Gentium Methodo Scientifica Pertractatum (1764 [1964]); Vattel, Le Droit des Gens ou
Principes de la Loi Naturelle (1758).
18
Anand, New States and International Law (1972), S. 17 f.; ICJ, ICJ-Reports 1960, S. 6, 6 ff.
19
Anand, New States and International Law (1972), S. 18.
20
Anand, New States and International Law (1972), S. 18.
21
Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of International law,
15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 57.
22
Dazu sogleich.
22 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
Während der Norden von Elias’ Heimat Nigeria in der britischen Kolonialzeit
selbstverwaltet war und von Großbritannien nur im Rahmen einer „indirect rule“
kontrolliert wurde, stand der Süden des Landes vornehmlich unter dem Einfluss
christlicher Missionen. Das dadurch entstandene Bildungsgefälle verstärkte die
ethnischen Konflikte innerhalb Nigerias, welche das bevölkerungsreichste Land
Afrikas nach seiner Unabhängigkeit im Jahr 1960 immer wieder erschütterten. So
konnte sich die nach britischem Modell entworfene Verfassung Nigerias nach der
Unabhängigkeit nur wenige Jahre behaupten; bereits Ende der 1960er-Jahre kam es
zu Militärputschen und Bürgerkrieg. Erst in den späten 1970er-Jahren wurde mit
der Redemokratisierung Nigerias begonnen. Mit dem Ölboom Mitte der 1960er-
Jahre entwickelte sich Nigeria in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht zur Füh-
rungsmacht in Afrika.23
Mit Elias nahm ebenfalls ein Nigerianer eine federführende Position unter den
Völkerrechtlern in der Dritten Welt ein. Im Jahr 1914 geboren, hatte Elias sein
Studium der Rechtswissenschaften in London absolviert. Zurück in Nigeria beklei-
dete er eine Reihe wichtiger Ämter, so das des Justizministers (1960–1966) und das
des Vorsitzenden Richters des Obersten Gerichtshofs in Nigeria (1972–1975). Seine
völkerrechtliche Expertise qualifizierten ihn zum Mitglied der ILC (1962–1975),
zum Mitglied der Expertenkommission zur Ausarbeitung der Charta der Organisa-
tion für Afrikanische Einheit (OAE-Charta) (1963), zum Vorsitzenden der nigeria-
nischen Delegation bei der Konferenz des Special Committee on the Principles of
International Law Concerning Friendly Relations and Co-operation among States
(1964), und schließlich zum Richter (1979–1991) und Präsidenten (1981–1985) des
Internationalen Gerichtshofs in Den Haag. Elias war Professor und Dekan an der
Universität von Lagos sowie Dozent an der Haager Akademie für Völkerrecht.24
Elias’ Vita ist damit beeindruckend vielfältig, aber für die damalige Zeit kein Ein-
zelfall: Auffallend häufig bekleideten die Völkerrechtler in der Dritten Welt nach
der Unabhängigkeit ihrer Heimatländer dort wichtige Ämter.25 Diese Personeniden-
tität von Völkerrechts-wissenschaftlern und -praktikern einerseits und Politikern
23
Niedworok, Nigeria, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organisationen,
Theorien, Begriffe, Personen (1985), S. 437 ff.
24
Elias, Taslim Olawale, in Who’s Who in the United Nations and Related Agencies (1975),
S. 167. Zu Elias’ Biografie und seiner völkerrechtlichen wie nationalrechtlichen Bedeutung,
siehe Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale
Elias, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 317 ff.; Landauer, Things Fall Toge-
ther: The Past and Future Africas of T. O. Elias‘s Africa and the Development of Internatio-
nal Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 351 ff.; Lim, Neither Sheep nor
Peacocks: T. O. Elias and Postcolonial International Law, 21 Leiden Journal of International
Law (2008), S. 295 ff.; Toufayan, When British Justice (in African Colonies) Points Two
Ways: On Dualism, Hybridity, and the Genealogy of Juridical Negritude in Taslim Olawale
Elias, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 377 ff.; Adebowale/Elias, Taslim
Olawale Elias (1914-1991): A Biographical Note, 21 Leiden Journal of International Law
(2008), S. 291 ff.
25
Siehe hierzu beispielsweise die Biografie von Bedjaoui unten.
I. Die vorkoloniale Zeit23
andererseits erklärt sich auch aus dem Mangel von in Internationalen Beziehungen
ausgebildeten Fachkräften in der Dritten Welt.26 Im Jahr 1972 veröffentlichte Elias
mit Africa and the Development of International Law eine Sammlung von Aufsät-
zen, die er von 1965 bis zu den frühen 1970ern geschrieben hatte. Elias nutzte dabei
die Einsichten, die er Anfang der 1950er-Jahre bei seiner Arbeit an der Universität
Manchester im Bereich Recht und Sozialanthropologie gewonnen hatte.27
In diesem Buch beschrieb Elias den Handel zwischen dem antiken Karthago
einerseits und dem alten Rom sowie Athen andererseits und später im Mittelal-
ter den Austausch zwischen Ostafrikanern, Arabern, Chinesen und Europäern.28
Während Anands Forschung sich mehr auf Asien konzentrierte, fokussierte Elias
sich auf Afrika. Entgegen der eurozentrischen Sichtweise habe es, so Elias, auch in
Afrika zu dieser Zeit bereits rechtlich organisierte Gesellschaften gegeben:
In African law, although theories about a social contract have not been formulated in this
way, yet the indigenous ideas of government are not essentially dissimilar to that of Locke
and Rousseau and, at least in its presuppositions, that of Grotius as well. In nearly all
African societies one finds what is technically referred to as the “myth of the original ances-
tor”, by which an attempt is made to postulate the legendary founding of their settlement
by an eponymous ancestor.29
Elias betonte die Bedeutung, die Flexibilität und die rechtliche Validität von afrika-
nischen Bräuchen.30 Er befand diese für mit nationalen Rechtssystemen in Europa
vergleichbar und ebenbürtig. Auch auf internationaler Ebene ging Elias von der
Existenz rechtlicher Regelungen zwischen Europa und Afrika aus: Dabei hätten
die Staaten ihre engen Handelsbeziehungen vielfach durch internationale Verträge
geregelt.31 Elias dienten diese Verträge als Beleg für die Gleichberechtigung und
Gleichwertigkeit der Staaten Afrikas mit allen anderen Nationen vor dem Kolonia-
lismus. Für Elias war die Völkerrechtsordnung vor der Kolonialzeit universal, da
auch die afrikanischen Staaten Souveränität und damit auch Völkerrechtssubjek-
tivität besaßen, also an der Formulierung völkerrechtlicher Regelungen teilhatten.
26
Vgl. Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale
Elias, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 317, 332; Elias, New Horizons in
International Law (1979), S. 21 f.
27
Vgl. Landauer, Things Fall Together: The Past and Future Africas of T. O. Elias‘s Africa
and the Development of International Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008),
S. 351, 358 f.; siehe hierzu den Sammelband von Fortes/Evans-Pritchard (Hrsg.), African
Political System (1940, Nachdruck 1950), den Elias wiederholt zitiert, vgl. Elias, Africa and
the Development of international law (1972), S. 37, 39.
28
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 3 ff.
29
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 36.
30
Landauer, Things Fall Together: The Past and Future Africas of T. O. Elias‘s Africa and
the Development of International Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008),
S. 351, 365 f.
31
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 15; vgl. auch Okoye,
International Law and the New African States (1972), S. 1 f.
24 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
Elias sah viele Parallelen zwischen dem europäischen und dem afrikanischen Völ-
kerrecht; er betonte nicht (wie es etwa der chilenische Jurist Alejandro Álvarez im
frühen 20. Jahrhundert getan hatte)32 die Besonderheiten der afrikanischen Völker-
rechtstradition, sondern die Gemeinsamkeiten beider Regime und damit auch die
Ähnlichkeit und Gleichwertigkeit von Afrika und Europa.33 Damit bewegte er sich
in der internationalistischen Tradition der Völkerrechtler aus der Dritten Welt in
seiner Zeit.34
Mit der Kolonialisierung wurden auch aus Elias’ Perspektive die Staaten in
Lateinamerika, Asien und Afrika nicht mehr als Völkerrechtssubjekte anerkannt und
ihrer Souveränität beraubt. Anders als Anand kam er aber zu dem Ergebnis, dass die
völkerrechtlichen Konzeptionen des vorkolonialen Afrikas auch nach der Kolonia-
lisierung in gewisser Weise fortwirkten: Er sah die Geschichte des Kontakts Afrikas
mit den Völkern anderer Kontinente von der Antike bis zur Kolonialisierung „as an
interesting background to the account now given of how the Sahara may be said to
have dominated the history of the north no less than it has done that of the south.“35
Anand wie Elias betonten also die völkerrechtlichen Errungenschaften Afrikas und
Asiens sowie die Anerkennung ihrer Souveränität und Gleichberechtigung durch
Europa vor der Kolonialisierung. Diese rechtshistorische Forschung war eine
Reaktion auf das im Westen spätestens in der Zeit der Kolonialisierung entstan-
dene Bild von den „primitiven“ Ureinwohnern dieser Kontinente. Elias’ Projekt
war die Rehabilitation Afrikas, das während der Kolonialzeit als „rückständig“ und
„unzivilisiert“ abgewertet worden war.36 Er versuchte westliche Bilder von „dem
Afrikaner“ als „a blind worshipper of tradition, a gregarious member of the tribal
folck“ oder als „nothing if not boastful, arrogant and self-assertive“ zu revidieren,
indem er die Rolle der afrikanischen Staaten in der Geschichte des Völkerrechtes
32
Vgl. Álvarez, Latin America and International Law, 3 American Journal of International
Law (1909), S. 269 ff.
33
Lim, Neither Sheep nor Peacocks: T. O. Elias and Postcolonial International Law, 21
Leiden Journal of International Law (2008), S. 295, 296; vgl. Obregón, Noted for Dissent:
The International Life of Alejandro Álvarez, 19 Leiden Journal of International Law (2006),
S. 983, 989.
34
Siehe Özsu, „In the interests of mankind as a whole“: Mohammed Bedjaoui’s New Inter-
national Economic Order, 6 Humanity: An International Journal of Human Rights, Humani-
tarianism, and Development (2015), S. 129, 132.
35
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 5.
36
Hierzu sogleich.
I. Die vorkoloniale Zeit25
Ähnliche Strömungen waren auch in anderen Regionen der Dritten Welt auszuma-
chen.39 Sie wurden von Völkerrechtlern in den neuen Staaten wie Anand und Elias in
das Völkerrecht übertragen, um die präkolonialen Beiträge ihrer Heimatländer zur
Völkerrechtsgeschichte hervorzuheben. Diese Völkerrechtler werden daher heute
von den TWAIL II als „Kontributionisten“ bezeichnet.40 Sie bezweckten eine alter-
native Völkergeschichtsschreibung und wandten sich gegen die in der westlichen
Völkerrechtswissenschaft etablierte Auffassung, die Geschichte des Völkerrechts
sei eine rein europäisch-amerikanische. Diese Auffassung wird etwa im folgenden
Zitat des deutschen Völkerrechtlers Lassa Oppenheim deutlich, der im Jahr 1908
über die Völkerrechtsgeschichte schrieb:
For such history is only a branch of the history of Western civilization. All important events
in the development of the state system of Europe from the last part of the Middle Ages dow-
nward to the French Revolution have had their bearing upon the development, the shaping,
and the ultimate victory of international law over international anarchy, and so have all
important events in the development of the state system of Europe and America since the
French Revolution.41
Nach diesem Geschichtsverständnis hatten die Staaten Afrikas und Asiens keinen
Beitrag zu der Entwicklung des Völkerrechts geleistet. Völkerrechtler aus der
Dritten Welt kritisierten ebendiese eurozentrische Völkerrechtsgeschichtsschrei-
bung und hoben die Beiträge Afrikas und Asiens zur Völkerrechtsgenese hervor.
37
Siehe Elias, The Nature of African Customary Law (1956), S. 92 f.
38
Mensah-Brown (Hrsg.), African International Legal History (1975), S. i; Gathii, A Critical
Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale Elias, 21 Leiden Journal of
International Law (2008), S. 317, 336.
39
Siehe Schröder, Die Konferenzen der „Dritten Welt“: Solidarität und Kommunikation zwi-
schen nachkolonialen Staaten (1968), S. 47 ff. Im Völkerrecht siehe auch Syatauw, Newly
Established Asian States and the Development of International Law (1961), S. 18; Sinha,
New Nations and the Law of Nations (1967), S. 12 f.; Bandyopadhyay, International Law
and Custom in Ancient India (1920), S. 6; Sastri, International Law and Relations in Ancient
India, 1 Indian Yearbook of International Affairs (1952), S. 97, 97.
40
Siehe Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale
Elias, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 317, 319; Gathii, Africa, in Fassben-
der/Peters/Peter/Högger (Hrsg.), The Oxford Handbook of the History of International Law
(2012), S. 407 ff.
41
Oppenheim, The Science of International Law: Its Task and Method, 2 American Journal of
International Law (1908), S. 313, 317.
26 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
Dabei führten Anand wie Elias als Beweis für die Gleichwertigkeit der asiatischen
und afrikanischen völkerrechtlichen Regeln stets deren Ähnlichkeit zum vermeint-
lich europäischen Völkerrecht an. Beispiele bilden hier die souveräne Gleichheit
und das Vertragsrecht. Diese Gleichsetzung von Gleichartigkeit und Gleichwertig-
keit mag zwei verschiedene Gründe gehabt haben:
Zum einen war historisch gerade die vermeintliche Verschiedenartigkeit von
Afrikanern und Asiaten einerseits und Europäern andererseits argumentativ zur
Rechtfertigung der Subordination der ersten durch die zuletzt genannten genutzt
worden.42 Hierauf wird noch einzugehen sein.43 Nach der Dekolonialisierung sollten
die neuen Staaten jedoch als gleichwertige Partner wahrgenommen werden; Elias
bezweckte daher eine Inklusion der afrikanischen Staaten in das bestehende völ-
kerrechtliche Normsystem, ohne allerdings die kulturellen Besonderheiten Afrikas
negieren zu wollen.44 Afrika und auch die afrikanische Völkerrechtswissenschaft
sollten entsprechend ihrem lange geleugneten Eigenwert wahrgenommen werden.45
Dieses Ziel schien durch das Ziehen von Parallelen in der Rechtsgeschichte erreich-
bar. Die Argumentation der Gleichwertigkeit der europäischen und der afrikanischen
Rechtstradition auf Grund ihrer Gleichartigkeit barg jedoch das Risiko, die Beson-
derheiten der afrikanischen Identität, die Elias rehabilitieren wollte, einzubüßen.46
Zum anderen waren diese Gemeinsamkeiten zwischen den Rechtstraditionen der
verschiedenen Kontinente aus Sicht der Völkerrechtler in der Dritten Welt bedeut-
sam für das postkoloniale Völkerrecht:
[I]t emphasized that pre-colonial Third World states were not strangers to the idea of inter-
national law. For instance, non-European societies had developed sophisticated rules rela-
ting, for example, to the law of treaties and the laws of war. TWAIL I, then, attempted to
create a truly international law, both by pointing to the commonalities among ostensibly
very different societies, and by identifying a rich body of doctrine and principle which was
to be found in Third World legal systems and cultures, and which could be used for the
benefit of the entire international community.47
Auf den Erkenntnissen der TWAIL I über die vorkoloniale Geschichte bauen heute
die TWAIL II ihre Forschung auf. So ist auch Anghies Projekt eine alternative
42
Lim, Neither Sheep nor Peacocks: T. O. Elias and Postcolonial International Law, 21
Leiden Journal of International Law (2008), S. 295, 296.
43
Siehe hierzu sogleich, II.
44
Vgl. Lim, Neither Sheep nor Peacocks: T. O. Elias and Postcolonial International Law, 21
Leiden Journal of International Law (2008), S. 295, 296 f.
45
Zur Völkerrechtswissenschaft siehe Elias, Government and Politics in Africa (1963),
S. 209; Landauer, Things Fall Together: The Past and Future Africas of T. O. Elias‘s Africa
and the Development of International Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008),
S. 351, 358, 360.
46
Vgl. Landauer, Things Fall Together: The Past and Future Africas of T. O. Elias‘s Africa
and the Development of International Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008),
S. 351, 353.
47
Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual Responsibi-
lity in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 80 f.; siehe
hierzu auch Kapitel 4.
II. Die Kolonialisierung27
Völkergeschichtsschreibung.48 Für Anghie war und ist der Kolonialismus von zen-
traler Bedeutung für die Entwicklung des Völkerrechts.49 Nach Anghies Analyse
schuf die koloniale Herkunft des Völkerrechts bestimmte Strukturen, welche sich in
den verschiedenen Phasen der Geschichte des Völkerrechts immer wieder wieder-
holten.50 Den Grund hierfür sieht Anghie in der „Dynamik des Unterschieds“:
I use the term ‘dynamic of difference’ to denote, broadly, the endless process of creating
a gap between two cultures, demarking one as ‘universal’ and civilized and the other as
‘particular’ and uncivilized, and seeking to bridge the gap by developing techniques to
normalize the aberrant society.51
Die Weltgeschichte des Kolonialismus hatte ihren Anfang bereits im frühen 16. Jahr-
hundert mit dem Aufbau des spanischen Kolonialsystems genommen und somit weit
48
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 12.
49
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 2.
50
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 3.
51
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 4.
52
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 9, 13 ff.
53
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 15.
28 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
54
Zur Problematik der Schreibung einer „Geschichte des Kolonialismus“ angesichts dessen
mannigfaltiger Erscheinungsformen sowie für eine grobe zeitliche Einteilung der Epochen
des Kolonialismus siehe Osterhammel/Jansen, Kolonialismus: Geschichte, Formen, Folgen
(7. Auflage 2012), S. 32 ff.
55
Osterhammel/Jansen, Kolonialismus: Geschichte, Formen, Folgen (7. Auflage 2012), S. 37;
Prashad, The Darker Nations: A People’s History of the Third World (2007), S. 3.
56
Osterhammel/Jansen, Kolonialismus: Geschichte, Formen, Folgen (7. Auflage 2012), S. 42.
57
Anand, New States and International Law (1972), S. 18; ders., Attitude of the Asian-African
States Toward Certain Problems of International law, 15 International & Comparative Law
Quarterly (1966), S. 55, 59; siehe auch Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967),
S. 19.
58
Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of International law,
15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 58.
59
Anand, New States and International Law (1972), S. 19.
60
Anand, New States and International Law (1972), S. 38.
61
Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of International law,
15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 58.
II. Die Kolonialisierung29
62
Anand, New States and International Law (1972), S. 19.
63
Anand, Role of the “New” Asian-African Countries in the Present International Legal
Order, 56 American Journal of International Law (1962), S. 383, 383; vgl. beispielsweise
Hall, A Treatise on International Law (7. Auflage 1917), S. 40.
64
Anand, New States and International Law (1972), S. 21.
65
Anand, New States and International Law (1972), S. 25.
66
Anand, New States and International Law (1972), S. 21.
67
Anand, New States and International Law (1972), S. 21.
68
Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of International law,
15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 59.
69
Anand, New States and International Law (1972), S. 21 f.
30 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
70
Anand, New States and International Law (1972), S. 21, 33.
71
Anand, New States and International Law (1972), S. 33.
72
Anand, New States and International Law (1972), S. 27; das Gedicht von Kipling, The
White Man‘s Burden (1899) behandelt den Imperialismus der Vereinigten Staaten von
Amerika in den Philippinen.
73
Siehe Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of Internatio-
nal law, 15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 60.
74
Siehe Anand, New States and International Law (1972), S. 23 ff., 90.
75
Anand, New States and International Law (1972), S. 23.
76
Anand, New States and International Law (1972), S. 38 f.
II. Die Kolonialisierung31
It is interesting to note that most of the possessions were obtained by the European Powers
by the so-called ‘treaties’ of cession signed on their behalf by some adventurous explorers,
who established a few European companies, and the native chiefs who hardly understood
the meaning or import of those scraps of papers which they ‘crossed’ and through which
they sealed their future.77
Mit dieser Art Ungleicher Verträge beschäftigte sich auch Elias, dessen Verständ-
nis von der Geschichte der Kolonialisierung jenem Anands in vielerlei Hinsicht
ähnelte. In Bezug auf Ungleiche Verträge als Mittel der Kolonialisierung verdient
seine Position jedoch besondere Erwähnung. Elias sah nämlich selbst in der Praxis
der Kolonialisierung noch einen Beweis dafür, dass Europa die präkolonialen afri-
kanischen Staaten als gleichberechtigt-souveräne Partner betrachtete:78
Prior to the establishment of colonial administration, many local potentates had, as we have
seen, entered into numerous treaties most of which were understood as those of protection,
although such treaties invariably contained clauses for annexation or cession of territories
to the European Powers concerned. These local rulers were styled ‘kings’ before the exe-
cution of the treaties, but were often regarded or treated for particular purposes thereafter
as ‘chiefs’ only, thus implying that they had full sovereign powers to sign the treaties which
ipso facto turned them into subordinates of the new sovereigns deemed to be recognized
by the treaties in question. Yet, customary international law recognizes the validity of those
‘unequal treaties’.79
77
Anand, New States and International Law (1972), S. 32.
78
Siehe oben.
79
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 19.
80
Siehe hierzu unten, Teil II.
81
Siehe Teil II.
82
Anand, New States and International Law (1972), S. 25.
32 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
europäischen Staaten gedient.83 Anands Fazit über die Geschichte des Völkerrechts
in der Kolonialzeit fällt entsprechend knapp aus:
Might had indeed become right.84
Auf diese Erkenntnisse über und diese Sicht auf die Kolonialzeit, welche sich nicht
nur bei Anand, sondern auch bei vielen anderen zeitgenössischen Autoren aus der
Dritten Welt fanden, bauen heute die TWAIL II auf.85 Anands auf den Erkenntnissen
von Alexandrowicz aufbauende Analyse der Mechanismen der Zivilisierungsmis-
sion wurde von Anghie als Beleg für seine Theorie von der Dynamik des Unter-
schieds ausgebaut. Anghies Erklärungsansatz für die im Völkerrecht der Kolonial-
zeit wirkenden Mechanismen war in Anands Schriften freilich noch nicht enthalten;
doch eine Sensibilität für die Wirkung der Mechanismen bestand bereits. So findet
sich etwa Elias’ Analyse der Ungleichen Verträge bei Anghie fast identisch – wenn
auch ausführlicher dargestellt – wieder.86 Während Völkerrechtler in der Dritten
Welt damals und heute das 19. Jahrhundert als Epoche betrachteten bzw. betrachten,
in der das Völkerrecht allein durch Europäer zu ihrem eigenen Vorteil entwickelt
und genutzt wurde und der Positivismus als Feindbild gezeichnet wurde,87 kommen
neuere Untersuchungen zu einem anderen Ergebnis: So übten Völkerrechtler in der
Peripherie auch im 19. Jahrhundert Einfluss auf die Entwicklung des Völkerrechts
aus; hiernach wäre das Völkerrecht nicht rein europäisch geprägt, sondern hätte eine
„Mestizen-Herkunft“.88
83
Anand, New States and International Law (1972), S. 43.
84
Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of International law,
15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 59.
85
Siehe beispielsweise Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and
Individual Responsibility in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law
(2003), S. 77, 84; Schrijver, Sovereignty over Natural Ressources: Balancing Rights and
Duties (1997), S. 174 f.
86
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 65 ff.
87
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 9, 32 ff.
88
Becker Lorca, Mestizo International Law: A Global Intellectual History 1842-1933 (2014),
S. 33 ff.
III. Die Dekolonialisierung33
zur Dekolonialisierung und schließlich zu einer Mehrheit der ehemals als „unzivi-
lisiert“ geltenden Staaten in der Staatengemeinschaft geführt (3.), in der auch das
Projekt der Dritten Welt entstanden war (4.).89
1. Die Völkerbundära
Der erste Weltkrieg hatte zum Untergang des Osmanischen und des Österreichisch-
Ungarischen Reiches geführt und damit das Mächtegleichgewicht in Europa nach-
haltig erschüttert.90 Die Russische Revolution war vielen Kolonien zum Vorbild
geraten und hatte gleichzeitig die Regierungen des Westens für das Bedürfnis der
Kolonien nach stärkeren Mitwirkungsrechten sensibilisiert.91 Hinzu war zum Ende
des Ersten Weltkrieges die Proklamation des Selbstbestimmungsrechtes durch US-
Präsident Thomas Woodrow Wilson gekommen, der hiervon allerdings nur europäi-
sche Gebiete erfasst wissen wollte.92 Mit der Gründung des Völkerbundes nach dem
Ersten Weltkrieg sei, so Anand, zumindest wieder der Ansatz einer auf Universalität
angelegten Völkerrechtsordnung entstanden, die jedoch faktisch weiterhin von west-
licher Dominanz geprägt gewesen sei.93 Tatsächlich bot die Völkerbundsatzung die
institutionelle Grundlage für die Aufnahme afrikanischer und asiatischer Staaten in
den Völkerbund. Das Mandatssystem des Völkerbundes hatte jedoch mehr die Ver-
waltung der Mandatsgebiete bezweckt, als dass es deren Weg in die Unabhängigkeit
geebnet hätte.
Der Zweite Weltkrieg hatte die alten europäischen Staaten schließlich geschwächt
und ihre Überlegenheit und angebliche Zivilisierung in Frage gestellt. Gleichzeitig
hatte er in den Kolonien zwar zu herben Verlusten geführt; vielen Kolonialvölkern
wurde im Gegenzug für ihre Beteiligung am Krieg jedoch von den Kolonialmächten
die spätere Unabhängigkeit in Aussicht gestellt. Dies und auch die Tatsache, dass
der siegreiche Ausgang des Krieges mitunter auf ihrer Beteiligung beruhte, stärkte
das Selbstbewusstsein der Menschen in den Kolonien. Mit den Siegermächten USA
und Sowjetunion waren zwei Staaten, die zumindest den direkten Kolonialismus
ablehnten, zu den neuen Supermächten geworden. Auch diese bipolare Machtstruk-
tur hatte den Dekolonialisierungsprozess beschleunigt.94
89
Vgl. Anand, New States and International Law (1972), S. 24.
90
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 97.
91
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 139.
92
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 139.
93
Anand, New States and International Law (1972), S. 24.
94
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 97.
34 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
Das Ende des Zweiten Weltkrieges markierte aber noch nicht unmittelbar den Über-
gang vom Kolonialismus zur Dekolonialisierung; vielmehr sah die VN-Charta
weitgehend die Fortführung des unter dem Völkerbund errichteten Mandatssystems
vor, wobei der Treuhandrat der Vereinten Nationen die schrittweise Entlassung der
Treuhandgebiete in ihre Unabhängigkeit überwachte.95 Faktisch forcierten die Ver-
einten Nationen jedoch die Dekolonialisierung.96 Das Merkmal der Zivilisierung
als Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur Staatenfamilie, so Anand, sei unter der
Geltung der VN-Charta durch jenes der Friedensliebe ersetzt worden.97 Unter der
Geltung der VN-Charta bekamen die Unabhängigkeitsbemühungen in den Kolo-
nien außerdem rhetorischen Rückenwind durch das Selbstbestimmungsrecht der
Völker, welches nun von der VN-Charta explizit und ohne Beschränkung auf die
Staaten Europas anerkannt wurde.98 Indien wurde als prominenteste Kolonie Groß-
britanniens mit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1947 für viele andere Kolonien zum
Vorbild.99 In diesem politischen Klima gelang es immer mehr nationalen Befreiungs-
bewegungen, sich (wie insbesondere in den französischen Kolonien) teils gewalt-
sam (oder wie im Falle des Anschlusses der ehemaligen englischen Kolonien an das
Commonwealth auf Nations), teils geordnet von ihren Kolonialherren zu lösen und
formale Unabhängigkeit zu erlangen. Der starke Anstieg neuer Mitglieder der Staa-
tengemeinschaft lässt sich sehr plastisch an der Beteiligung ehemaliger Kolonien
und Protektorate an großen Staatenkonferenzen illustrieren: Bei der Kongokonfe-
renz in Berlin 1885 war unter den 14 teilnehmenden Staaten kein einziger Staat
Afrikas oder Asiens gewesen; bei den beiden Haager Konferenzen 1899 und 1907
waren es fünf von 27 bzw. 43 Staaten, bei der Gründung des Völkerbundes 1920
sechs von 45, bei der Gründung der Vereinten Nationen 1945 immerhin schon elf
95
Krämmerer, Colonialism, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2013),
Rn. 5. Für Anghie hatte das Mandatssystem die wesentlichen Strukturen des Kolonialismus
reproduziert und gleichzeitig neue Techniken für den Umgang mit kolonialen Problemen
entwickelt. Naturalismus, Positivismus und Pragmatismus seien allesamt von der Dynamik
des Unterschieds geprägt. Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International
Law (2008), S. 10 f., 115 ff., 195.
96
Krämmerer, Colonialism, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2013),
Rn. 5.
97
Artikel 4 UN-Charta. Das Merkmal der Zivilisierung, wie es nach wie vor etwa in Artikel
38 Absatz 1 c) IGH-Statut auftaucht, kann heute jedenfalls nicht mehr im Sinne einer christ-
lich-westlichen Zivilisierung verstanden werden. Anand, New States and International Law
(1972), S. 25.
98
Khan, Decolonization, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2013),
Rn. 3; zur Rolle des Selbstbestimmungsrechts zur Zeit des Völkerbundes siehe Prashad, The
Darker Nations: A People’s History of the Third World (2007), S. 21.
99
Gille, Politik, Staat und Nation in der Dritten Welt: Probleme des Nationalismus in den
Entwicklungsländern (2. Auflage 1971), S. 37.
III. Die Dekolonialisierung35
von 51 und im Jahr 1966 machten die 61 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen
aus Afrika und Asien bereits die Mehrheit der insgesamt 119 Mitglieder der Welt-
organisation aus.100
Für Völkerrechtler aus der Dritten Welt wie Anand und Elias war mit der Dekolo-
nialisierung eine neue, hoffnungsvolle Ära des Völkerrechts angebrochen.101 Anand
schrieb:
The Organization of the United Nations has become practically universal, open, to every
‘peace-loving’ state, ‘able and willing’ to carry out the Charter obligations (U.N. Charter,
Article 4). The democratization of the international society has become almost complete.102
Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Niederlage des Dritten Reiches fehlte es den
früheren Alliierten an einem gemeinsamen Feind, um die ideologischen Unter-
schiede zwischen den USA einerseits und der UdSSR andererseits zu überbrücken.
Der sowjetische Kommunismus war in Konkurrenz zu dem kapitalistischen System
in den Vereinigten Staaten von Amerika getreten. Ausgehend von der Proklamation
der Truman-Doktrin 1947 vor dem Hintergrund der Irankrise ließen die Berlin-Blo-
ckade 1948 bis 1949 sowie die Kubakrise 1962 trotz zeitweiliger Phasen der Entspan-
nung den Graben zwischen Ost und West stetig tiefer werden und führten zu einem
Wettrüsten zwischen den Großmächten. Der eiserne Vorhang teilte jedoch nicht nur
Europa; Stellvertreterkriege auf der ganzen Welt machten den Kalten Krieg ebenso
zum zentralen globalen Konflikt wie die weltweite Angst vor einem drohenden Atom-
krieg zwischen den USA und der Sowjetunion mit kaum abschätzbaren Ausmaßen.104
Von den Konflikten des Kalten Krieges überlagert, erstritten viele ehemalige
Kolonien nun ihre Unabhängigkeit. Die neuen Staaten waren jedoch durch ihre Zeit
unter Kolonialherrschaft schwer gezeichnet und sahen sich innerstaatlich mit großen
wirtschaftlichen, sozialen und politischen Herausforderungen konfrontiert. Die
100
Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967), S. 25.
101
Siehe hierzu unten, Kapitel 4.
102
Anand, New States and International Law (1972), S. 25.
103
McMahon, Introduction, in ders. (Hrsg.), The Cold War in the Third World (2013), S. 1, 1.
104
Dülffer, Europa im Ost-West-Konflikt 1945-1991 (2004), S. 4.
36 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
Eben dieser Machtgewinn erschwerte für die ehemaligen Kolonien die Wahl zwi-
schen östlichem und westlichem Lager: Während der Sozialismus eine große
105
France, Le Lys Rouge (1894), S. 118.
106
Francis, Uniting Africa: Building Regional Peace and Security Systems (2006), S. 33 ff.
107
McMahon, Introduction, in McMahon (Hrsg.), The Cold War in the Third World (2013),
S. 1, 2.
108
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 98.
109
Anand, New States and International Law (1972), S. 87.
110
McMahon, Introduction, in McMahon (Hrsg.), The Cold War in the Third World (2013), S. 1, 4.
III. Die Dekolonialisierung37
ideologische Anziehungskraft auf viele neue Staaten ausübte, versprach das kapi-
talistische System vor allem wirtschaftliche Prosperität.111 Ausgehend von ihren
Unabhängigkeitsbestrebungen entwickelten sich in den neuen Staaten außerdem
starke nationalistische Strömungen, welche von panafrikanischen, panasiatischen,
panbuddhistischen, panislamischen, panarabischen und panlateinamerikanischen
Strömungen überlagert wurden.112
111
McMahon, Introduction, in McMahon (Hrsg.), The Cold War in the Third World (2013),
S. 1, 8.
112
Schröder, Die Konferenzen der „Dritten Welt“: Solidarität und Kommunikation zwischen
nachkolonialen Staaten (1968), S. 43 ff.
113
Vgl. Gille, Politik, Staat und Nation in der Dritten Welt: Probleme des Nationalismus in
den Entwicklungsländern (2. Auflage 1971), S. 50 ff.
114
Khan, Group of 77 (G77), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2011), Rn. 5;
McMahon, Introduction, in ders. (Hrsg.), The Cold War in the Third World (2013), S. 1, 6, 8.
115
Schröder, Die Konferenzen der „Dritten Welt“: Solidarität und Kommunikation zwischen
nachkolonialen Staaten (1968), S. 209 ff.
116
Zum entwicklungspolitischen Konzept des „Dritten Weges“ siehe Nohlen, Dritter Weg, in
ders. (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organisationen, Theorien, Begriffe, Perso-
nen, (1985), S. 150 f.
117
Staats- und Regierungschefs, die sich wie Jawaharlal Nehru und Gamal Abdel Nasser der
Lagermentalität verwehrten, verwendeten statt des Begriffs der Dritten Welt Bezeichnungen wie
Bewegung blockfreier Staaten, Gruppe der 77 oder nannten konkret die betroffenen Staaten oder
Kontinente. Prashad, The Darker Nations: A People’s History of the Third World (2007), S. 13.
38 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
gleichsam von dritter Seite in die Weltöffentlichkeit traten.118 Bereits diese Begriffs-
herkunft legt nahe, dass sich die Blockfreiheit nicht als einziges Kriterium des Begrif-
fes Dritte Welt durchsetzen konnte, sondern vielmehr der gemeinsame Kampf gegen
wirtschaftliche Unterentwicklung in den Fokus geraten musste. Mit der Belgrader
Konferenz 1961 dehnte sich die Dritte Welt sowie die Bewegung blockfreier Staaten
auch auf Staaten Lateinamerikas aus.119 Gleichzeitig erfuhr der Begriff notwendig
eine Öffnung, da Lateinamerika keineswegs blockfrei, sondern über den Rio-Pakt
an den Westen angeschlossen war.120 Dem lag zum einen ein weiteres Verständnis
der Blockfreiheit (wie etwa das Konzept des „positiven Neutralismus“, mit welchem
beispielsweise Ägyptens Premier Nasser eine enge Blockbindung Ägyptens erklärte)
zugrunde, zum anderen traten in den 1960er-Jahren verstärkt wirtschaftliche Fragen
in den weltpolitischen Vordergrund.121 In diesem Kontext entstand auch die Gruppe
der 77 bei der ersten Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung
(United Nations Conference on Trade and Development, kurz UNCTAD).122 In dieser
Ausdehnung einten die Dritte Welt als geopolitisches Konzept insbesondere Ent-
wicklungsdefizite sowie eine koloniale Vergangenheit.123
Tatsächlich bestand in bestimmten Punkten große Einigkeit zwischen den
Staaten der Dritten Welt: So hatten sie den Goa-Zwischenfall, also die gewaltsame
Befreiung Portugiesisch-Goas durch Indien, einhellig begrüßt, ebenso wie sie die
Apartheidpolitik Südafrikas oder Atombombenversuche ablehnten und die Schaf-
fung einer neuen Weltwirtschaftsordnung forderten.124 Im Gegensatz zu der von den
118
Sauvy, Trois mondes, une planète, L’Observateur (14. August 1952). Viele Autoren führen
den Begriff Dritte Welt auf Sauvy zurück, vgl. Prashad, The Darker Nations: A People’s
History of the Third World (2007), S. 10 ff.; Bedjaoui, Towards a New International Econo-
mic Order (1979), S. 25; Wolf-Phillips, Why “Third World”: Origin, Definition and Usage, 9
Third World Quarterly (1987), S. 1311, 1311. Popularität erlangte der Begriff mit Fanon, Die
Verdammten dieser Erde (1961, Nachdruck 1981). Der Begriff „Dritte Welt“ ist in Frankreich
zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches jedoch bereits gebräuchlich gewesen. So
belegt Worsley seine Verwendung im Jahr 1949 im Zusammenhang mit der versuchten Eta-
blierung einer innenpolitischen Oppositionspolitik in Frankreich, die sich gegen die rechten
Parteien wenden, jedoch von der Politik der kommunistischen Partei unabhängig sein sollte.
Diese Idee wurde auf die internationale Ebene übertragen, vgl. Worsley, How Many Worlds?,
1(2) Third World Quarterly (1979), S. 100, 101.
119
Vgl. Prashad, The Darker Nations: A People’s History of the Third World (2007), S. 13.
120
Nohlen/Nuscheler, „Ende der Dritten Welt?“, in dies. (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt,
Band 1: Grundprobleme – Theorien – Strategien (3. Auflage 1992), S. 17.
121
Nohlen/Nuscheler, „Ende der Dritten Welt?“, in dies. (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt,
Band 1: Grundprobleme – Theorien – Strategien (3. Auflage 1992), S. 17.
122
Siehe Cutajar, Editor’s Note, in Cutajar (Hrsg.), UNCTAD and the South-North Dialogue:
The First Twenty Years: Essays in memory of W. R. Malinowski (1985), S. viii; Khan, Group
of 77 (G77), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2011), Rn. 1 ff.
123
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 26.
124
Wright, The Goa Incident, 56 American Journal of International Law (1962), S. 617 ff.;
Khan, Group of 77 (G77), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2011),
Rn. 8. Zur Neuen Weltwirtschaftsodnung siehe Kapitel 4 und Teil III.
III. Die Dekolonialisierung39
125
Gille, Politik, Staat und Nation in der Dritten Welt: Probleme des Nationalismus in den Ent-
wicklungsländern (2. Auflage 1971), S. 53 ff. Sie hierzu insbesondere unten Teil II und Teil III.
126
Vgl. Gille, Politik, Staat und Nation in der Dritten Welt: Probleme des Nationalismus in
den Entwicklungsländern (2. Auflage 1971), S. 53 ff.
127
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1194, ILC-Yearbook (1972, I), S. 254, 256, Rn. 25.
128
Siehe unten, Kapitel 3.
129
Vgl. Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual
Responsibility in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 81.
130
Zum letzten Punkt siehe unten, Kapitel 4.
131
Vgl. Álvarez, Latin America and International Law, 3 American Journal of International
Law (1909), S. 269 ff.
132
Sie hierzu insbesondere Teil II und Teil III.
40 Kapitel 2: Die Kolonialisierung als prägendes
der Dritten Welt stellten dabei jedoch unverhohlene Parteinahmen für ihre Heimat-
staaten oder die Dritte Welt dar oder ließen auf Anhieb ein klares Projekt erkennen.
Bei den Ausnahmen handelte es sich vornehmlich um das Schrifttum von Völker-
rechtlern aus ehemaligen französischen Kolonien, die ihre nationale Unabhängig-
keit hatten hart erkämpfen müssen und sich vor diesem Hintergrund nicht scheuten,
sondern geradezu in der Pflicht sahen, klar und offen eine rechtspolitische Position
zu beziehen.133 Völkerrechtler aus früheren britischen Kolonien bezogen hingegen
in ihren Publikationen oft nicht unmittelbar selbst Stellung, sondern versuchten
zumindest vordergründig, neutral die Positionen der Dritten Welt zu verschiedenen
Völkerrechtsgebieten zu schildern. Sie gaben ihre Arbeiten als unabhängige Unter-
suchungen aus, gelangten durch den Fokus ihrer Forschung auf die ehemaligen
Kolonien dabei in der Regel jedoch zu dem Ergebnis, dass die Position der Dritten
Welt die richtige, rechtskonforme sei; insofern waren diese Schriften durchaus par-
teiliche Plädoyers. Gleichzeitig versuchten die Völkerrechtler aus den neuen Staaten
durch die Erforschung der Ansichten der Regierungen ihrer Heimatländer auch
deren politische Positionen zu plausibilisieren und ihre Gemeinsamkeiten heraus-
zuarbeiten. Damit stand ihre Arbeit im Zeichen der Idee der Existenz einer kohären-
ten Dritten Welt an und für sich. Zum Teil bezogen Völkerrechtler auf diese Weise
jedoch auch Position gegen die Dritte Welt: Dies geschah zum einen dort, wo sie als
Advokaten ihrer Heimatländer deren nationale Interessen über jene der Dritten Welt
als Ganzes setzten. Zum Teil gab es jedoch auch in den neuen Staaten Völkerrecht-
ler, welche die Auffassung ihrer Heimatregierung in bestimmten Belangen nicht
teilten bzw. für nicht kohärent hielten und die daher von dieser abwichen oder sich
zumindest nicht für diese stark machten.134 Solche Völkerrechtler mögen durch ihre
persönliche Laufbahn so stark vom Westen geprägt gewesen sein, dass sie dessen
völkerrechtliche Positionen und Narrative zu großen Teilen übernahmen, und ihnen
mag es zumindest im Einzelfall auch wichtiger gewesen sein, ihre wissenschaftliche
Reputation auszubauen und von westlichen Völkerrechtlern anerkannt zu werden,
als eine originäre Dritte-Welt-Position zu vertreten.135
133
Bedjaoui trat beispielsweise in Towards a New International Economic Order (1979) offen
als Anwalt für die Sache der Dritten Welt auf. Eine deutlichere persönliche Positionierung
der Völkerrechtler in der Dritten Welt als in ihrem Schrifttum fand jedoch in der ILC statt,
was mit deren Rolle als Experten Gremium zu erklären ist. Siehe dazu unten, Teil II.
134
Ein Beispiel hierfür bildet Elias, The Modern Law of Treaties (1974). Die darin enthaltene
Schilderung steht im Kontrast zur offiziellen Position Nigerias bezüglich der sogenannten
„Ungleichen Verträge“, siehe unten, Teil II. In Africa and the Development of International
Law (1972) waren Elias’ Forschungsfeld und auch seine Positionen z. B. zur Geschichte
des Völkerrechts jedoch wieder erkennbar jene eines Völkerrechtler aus einer ehemaligen
Kolonie.134 Des Weiteren unterschied sich die Position mancher Völkerrechtler in der
Dritten Welt in der Souveränitätsfrage wesentlich von der ihrer Heimatländer, siehe unten.
135
So beschreibt beispielsweise Carl Landauer die Ansichten und Sprache von Elias als zahm,
siehe Landauer, Things Fall Together: The Past and Future Africas of T. O. Elias‘s Africa
and the Development of International Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008),
S. 351, 356 f.
Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte
in Folge der Kritik der Völkerrechtler
aus der Dritten Welt an der etablierten
Völkerrechtsordnung
Die im zweiten Kapitel geschilderte Weise, auf welche Völkerrechtler in der Dritten
Welt die vorkoloniale Zeit, den Kolonialismus und die Dekolonialisierung erlebt
hatten, prägte die Einstellung dieser Autoren grundlegend. Sie entwickelten eine
Kritik gegenüber der etablierten Völkerrechtsordnung (I.) und stellten in Folge
dessen deren Verbindlichkeit für die neuen Staaten in Frage (II.).
1
Gille, Politik, Staat und Nation in der Dritten Welt: Probleme des Nationalismus in den Ent-
wicklungsländern (2. Auflage 1971), S. 40.
Diese Aussage erfasst, wie im zweiten Kapitel gezeigt wurde, einige der wesentli-
chen Beweggründe für die historisierende Sichtweise der Völkerrechtler in der Dritten
Welt, lässt aber den vielleicht wichtigsten Grund aus: Die koloniale Geschichte des
Völkerrechts wirkte sich für diese Autoren nämlich unmittelbar auf die etablierte
Völkerrechtsordnung aus. Die Völkerrechtler in der Dritten Welt betrachteten das
Völkerrecht als europäisches Produkt (1.). Darüber hinaus kritisierten Völkerrechtler
wie Anand die etablierte Völkerrechtsordnung vor dem Hintergrund ihrer Genese auf
der Grundlage von soziologisch inspirierten Überlegungen (2.). Eine umfassende
sozialistische Theoriebildung legte demgegenüber Mohammed Bedjaoui vor (3.).
Ausgangspunkt der Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt war deren Ansicht,
dass eine Vielzahl von Normen, die zu diesem Zeitpunkt völkerrechtlich etabliert
waren, in der Zeit des Kolonialismus entstanden war. Elias führte aus, dass sich
beispielsweise das Gewohnheitsrecht in dieser Periode gerade auch auf Grund der
Veränderungen in Afrika entwickelt habe, dass dieser Rechtssetzungsprozess aber
zwischen europäischen Regierungen und unter Ausschluss der afrikanischen Enti-
täten stattgefunden habe.2 Für Anand war die etablierte Völkerrechtsordnung nach
der Dekolonialisierung daher nach wie vor ein Recht der europäischen Herrscher
über die nicht-europäischen Beherrschten, das sich an europäischen Bedürfnissen
und Verhältnissen der Kolonialzeit orientierte.3 Auch viele andere Völkerrechtswis-
senschaftler in der Dritten Welt attestierten der etablierten postkolonialen Völker-
rechtsordnung damit eine christlich-europäische Herkunft.4
Bereits in den späten 1950er-Jahren und damit einige Jahre vor den ersten Veröf-
fentlichungen von Völkerrechtlern in den neuen Staaten zu diesem Thema hatte eine
Reihe westlicher Völkerrechtler eine ganz ähnliche Diagnose zur Herkunft des Völker-
rechts gestellt. Der britische Völkerrechtler C. Wilfred Jenks etwa machte angesichts
der Veränderungen des Völkerrechts nach dem Zweiten Weltkrieg eine Entwicklung
vom Recht zwischen Staaten zu einem gemeinsamen Recht der Menschheit aus, die
jedoch noch nicht vollständig abgeschlossen sei.5 Den Grund für die Unvollständigkeit
dieser Entwicklung sah Jenks in der europäischen Herkunft der Völkerrechtsordnung:
2
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 21.
3
Anand, New States and International Law (1972), S. 25, 43.
4
Roy, Is the Law of Responsibility of States for Injuries to Aliens a Part of Universal Inter-
national Law?, 55 The American Journal of International Law (1961), S. 863, 865; Abi-Saab,
The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline, 8 Howard
Law Journal (1962), S. 95, 99; García-Amador, The Proposed New International Econo-
mic Order: A New Approach to the Law Governing Nationalization and Compensation, 12
Lawyer of The Americas (1980), S. 1, 5 ff.; Castañeda, The Underdeveloped Nations and the
Development of International Law, 15 International Organization (1961), S. 33.
5
Jenks, The Common Law of Mankind (1958). Siehe hierzu ausführlich unten.
I. Die Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt an der etablierten Völkerrechtsordnung43
We clearly cannot reconcile with either the existence or the needs of such a community
approaches to the law of nations which, in the manner of so many of our predecessors, con-
ceive of the law as being essentially a product of Western European civilization.6
Now there is one truth that is not open to denial or even to doubt, namely, that the actual
body of international law, as it stands today, is not only the product of the conscious activity
of the European mind, but has also drawn vital essence from a common source of European
beliefs, and in both of these aspects it is mainly of Western European origin.7
There is no doubt about it: the traditional law of nations is a law of European lineage.8
6
Jenks, The Common Law of Mankind (1958), S. 65.
7
Verzijl, International Law in Historical Perspective, Band 1 (1968), S. 435 f.
8
Röling, International Law in an Expanded World (1960), S. 10.
9
Kaltenborn beschreibt, in welchen Ländern der völkerrechtswissenschaftliche Diskurs um
Entwicklungsvölkerrecht und Nord-Süd-Problematik besonders intensiv waren: Nämlich in
der französischsprachigen Literatur (Frankreich und Nordafrika), der Dritten Welt, den Nie-
derlanden, Österreich und Deutschland, während der angloamerikanische und spanischspra-
chige Raum sich wenig an der Debatte beteiligten. Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht und
Neugestaltung der internationalen Ordnung: Rechtstheoretische und rechtspolitische Aspekte
des Nord-Süd-Konflikts (1998), S. 20 f. In Bezug auf die Bildungsdebatte ist diese Aussage
dahingehend zu modifizieren, dass sich hier vermehrt anglo-amerikanische Literatur findet,
die von Autoren in der Dritten Welt auch deutlich stärker rezipiert wurde als jene von Autoren
in Frankreich, Deutschland und Österreich. Daneben spielten auch die durch die sowjetische
Literatur vermittelten Positionen eine Rolle.
10
Jessup, Non-Universal International Law, 12 Columbia Journal of International Law
(1973), S. 415, 419.
11
Jessup, Non-Universal International Law, 12 Columbia Journal of International Law
(1973), S. 415, 419.
12
Jessup, Non-Universal International Law, 12 Columbia Journal of International Law
(1973), S. 415, 419 f.
44 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler…
Die Dekolonialisierung wurde zwar von allen Autoren in der Dritten Welt als Mei-
lenstein in der Geschichte des Völkerrechts gewertet;13 die etablierte Völkerrechts-
ordnung hatte sich dadurch nach ihrem Dafürhalten jedoch noch nicht grundlegend
verändert. Vielmehr folgte aus der Genese der etablierten Völkerrechtsordnung
deren koloniale Prägung, wie Anand schrieb:
Thus even a cursory look at the history of international law leaves no doubt about the
Eurocentric nature of this law developed by and for the benefit of the rich, industrial, and
powerful states of Western Europe and the United States.14
The present body of international law is, therefore, naturally affected by the power inter-
ests of the last and the early part of the present century and is to a great extent a legacy
of the age of colonialism and imperialism. This law was meant to serve the interests of a
limited number of powerful states and was supposed to be applicable between themselves
in their relations with each other. The vast majority of peoples had neither any voice nor
any right and were meant to be exploited and, if necessary, colonized to serve the interests
of their masters.15
Viele Völkerrechtler in der Dritten Welt zur Zeit der Dekolonialisierung vertraten
wie Anand die aus der Rechtssoziologie herrührende Ansicht, dass Veränderungen
in der Gesellschaft das Recht beeinflussten, welches umgekehrt auf die Gesellschaft
zurückwirkte.17 Hierbei waren sie beseelt von den Schriften westlicher Völkerrecht-
ler ganz unterschiedlicher Prägung, die sich einer soziologisch inspirierten Metho-
dik zugewendet hatten. Während etwa in den USA vor dem Zweiten Weltkrieg
noch positivistische Strömungen dominant und naturrechtliche in der Minderheit
13
Siehe dazu oben, Kapitel 2.
14
Anand, New States and International Law (1972), S. 45.
15
Anand, New States and International Law (1972), S. 114.
16
Anand, New States and International Law (1972), S. 25.
17
Vgl. Stone, Lehrbuch der Rechtssoziologie, Band I (1976), S. 15.
I. Die Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt an der etablierten Völkerrechtsordnung45
gewesen waren, schienen beide Ansätze nach 1945 nicht mehr erstrebenswert, da
sie weithin als gefährlich (so der Positivismus) oder als illusorisch (so das Natur-
recht) angesehen wurden.18 Der Formalismus des 19. Jahrhunderts wich einem
eklektischen Pragmatismus, der sich Argumente verschiedenster Seiten bediente.19
Zu dieser Zeit waren in der Rechtswissenschaft im Allgemeinen interdisziplinäre
Ansätze besonders populär; so entwickelte beispielsweise in Harvard der Kreis
um den Juristen Roscoe Pound unter Zuhilfenahme der Politikwissenschaften, der
Soziologie und der Internationalen Beziehungen eine sogenannte „soziologische
Jurisprudenz“.20 Dieser Trend zur interdisziplinär informierten Rechtswissenschaft
wurde in der Nachkriegszeit von diversen Völkerrechtswissenschaftlern aufgegrif-
fen. Diese interdisziplinär ausgerichteten, von Autoren aus der Dritten Welt als pro-
gressiv eingeschätzten Völkerrechtler21 wollten das Völkerrecht stärker mit seinem
politischen Kontext verknüpfen und erblickten im Recht weniger Regelungen, denn
funktionale Prozesse.22 So beschrieb mit Röling einer der Vertreter dieser Strömung
deren Ansatz folgendermaßen:
It tries, on the basis of the sociological situation, to understand international law in terms of
social ends resulting from present facts and present value-judgments.23
18
Kennedy, The Twentieth-Century Discipline of International Law in the United States, in
Sarat/Garth/Kagan, Looking Back at Law’s Century (2002), S. 386, 402; Lachenmann, Legal
Positivism, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2011), Rn. 22. Eine anti-
formalistische Entwicklung war in dieser Zeit in der gesamten Rechtswissenschaft auszuma-
chen, siehe Stone, Lehrbuch der Rechtssoziologie, Band I (1976), S. 20 f.; Nach dem Zweiten
Weltkrieg erlebt der Naturalismus jedoch zumindest in der deutschsprachigen Jurisprudenz
eine Renaissance, vgl. Scheuner, Naturalistische Strömungen im heutigen Völkerrecht, 13
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (1950/1951), S. 556, 556 ff.;
Peters, Die Zukunft der Völkerrechtswissenschaft: Wider den epistemischen Nationalismus,
67 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (2007), S. 721, 728.
19
In den 1960er-Jahren hatten sich zwei Schulen herausgebildet, die sowohl Positivismus
als auch Naturrecht in ihrer früheren Form überwunden hatten: Der realistische, antifor-
malistische policy-approach von McDougal/Lasswell von der Yaler New Haven School
und die dominantere Strömung um Louis Henkin und Oscar Schachter an der Columbia
School, welche weniger antiformalistisch vorging und in neutrale, humanistische Normen
als Grundlage der Weltgemeinschaft vertraute. Kennedy, The Twentieth-Century Discipline
of International Law in the United States, in Sarat/Garth/Kagan, Looking Back at Law’s
Century (2002), S. 386, 386, 403; Koskenniemi, International Legal Theory and Doctrine,
Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007), Rn. 10.
20
Siehe Pound, Jurisprudence, Band I (1959, Nachdruck 2008), S. 291 ff. Vgl. hierzu auch
Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argument
(2005), S. 612.
21
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 83 f.
22
Slaughter, International Law and International Relations Theory: A Dual Agenda, 87 Ame-
rican Journal of International Law (1993), S. 205, 209.
23
Röling, International Law in an Expanded World (1960), S. 4.
46 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler…
Dabei hatte für Röling alles Recht und so auch das europäisch geprägte Völker-
recht die Tendenz, den Interessen der Mächtigen in der jeweiligen Gesellschaft
zu dienen.24 Der deutsch-amerikanische Völkerrechtler Wolfgang G. Friedmann
betonte mehr die Bedeutung das Rechts als Instrument sozialer Ordnung; eine
Funktion, die das Recht nur dann erfüllen könne, wenn es mit gesellschaftlichen
Veränderungen schritthalte.25 Der US-amerikanische Philosoph F. S. C. Northrop
beschrieb, wie sich im Rechtssystem eines jeden Staates dessen spezifische, kul-
turell geprägte Ideologie manifestiere, da ein Staat nur dann Bestandskraft habe,
wenn sich die darin aufgehende Gesellschaft auf bestimmte gemeinsame Normen
einigen könne.26 Für diese ideologischen Prinzipien entlieh Northrop von dem
österreichisch-ungarischen „Begründer der Rechtssoziologie“27 Eugen Ehrlich den
Begriff des lebenden Rechts:28
No nation will ever accept, nor should it ever accept, any positive legal decision by any legal
body that violates its own indigenous living law norms.29
24
Röling, International Law in an Expanded World (1960), S. 15.
25
Friedmann, Law in a Changing Society (1959), S. ix. Friedmann teilte das Völkerrecht nach
seinem Inhalt sowie seiner zeitlichen Entstehung in zwei Bereiche auf, nämlich das Koexis-
tenzrecht und das Kooperationsrecht. Unter Koexistenzrecht fasste er die klassischen völker-
rechtlichen Normen wie etwa das Diplomatenrecht, welches durch negative Verhaltensnor-
men das Nebeneinander der Staaten ohne Rücksicht auf deren politische, gesellschaftliche
und wirtschaftliche Strukturen regelt. Das Kooperationsrecht meinte demgegenüber solche
Normen, durch die Staaten im Rahmen einer positiven Zusammenarbeit gemeinsame Ziele
aktiv verfolgen, wie beispielsweise die Steigerung des Wohlstandes. Friedmann, The Chan-
ging Structure of International Law (1964), S. 60 ff.
26
Northrop, The Taming of the Nations (1952), S. 3.
27
Vgl. Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich (1967).
28
Northrop, The Taming of the Nations (1952), S. 5; Ehrlich, Fundamental Principles of the
Sociology of Law (1936).
29
Northrop, The Taming of Nations (1952), S. 269.
30
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 18.
31
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 16.
32
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 31.
I. Die Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt an der etablierten Völkerrechtsordnung47
unzulässige Politisierung des Rechts vorgeworfen.33 Aus Sicht der Völkerrechtler in den
neuen Staaten öffneten sie jedoch die völkerrechtswissenschaftliche Debatte für Kate-
gorien wie die Zumutbarkeit und Effektivität des Völkerrechts, die für sie gerade in der
Bindungsdebatte essentiell werden sollten.34 Die ganz verschiedenartigen, soziologisch
inspirierten Theorienansätze im Völkerrecht stilisierten Autoren in der Dritten Welt zu
einer „soziologischen Jurisprudenz“ hoch, um ihnen mehr Gewicht zu verleihen.35
Für soziologisch inspirierte Autoren musste die Struktur der Internationalen
Gemeinschaft mit jener der Völkerrechtsordnung korrespondieren, um effektiv zu
sein. Die etablierte Völkerrechtsordnung war für Autoren wie Anand nach wie vor
kolonial; die gesellschaftlichen Strukturen hatten sich durch die Dekolonialisierung
aus ihrer Sicht jedoch grundlegend gewandelt:36 So bildeten die ehemaligen Kolo-
nien nun die Mehrheit der Staatengemeinschaft. Diese hätten neue Bedürfnisse,
denen sich das Völkerrecht anpassen müsse:
[A] law which does not change with the changing life becomes dead driftwood. As we have
already said, the world has changed more in our times than ever before. Law in order to
remain effective must change with the changing society. International law which developed
in a different age, under different circumstances, to fulfil different needs cannot but be affec-
ted by these changes. It must adapt itself to the new age, new circumstances, new needs.
But we submit that international law is not a collection of static, never changing rules; it is a
process. It is not something in existence in perpetuity, it is a perpetual becoming.37
Aus Perspektive der soziologisch inspirierten Völkerrechtler wie Anand war die eta-
blierte Völkerrechtsordnung also auf Grund ihrer Orientierung an und Ausrichtung
auf den Kolonialismus in der Zeit der Dekolonialisierung überholt.38 Der ägyptische
Völkerrechtler Georges Abi-Saab39 setzte dementsprechend jede Forderung nach
der Aufrechterhaltung der etablierten Völkerrechtsordnung der Forderung nach der
Aufrechterhaltung des Kolonialismus gleich:
33
Kunz, The Changing Science of International Law, 56 American Journal of International
Law (1962), S. 488, 494. Josef L. Kunz war ein Schüler von Hans Kelsen.
34
Siehe hierzu unten, Kapitel 4.
35
Siehe beispielsweise Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of Internatio-
nal Law: An Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 103; Landauer, Things Fall Toge-
ther: The Past and Future Africas of T. O. Elias's Africa and the Development of International
Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 351, 351. Vgl. zu den methodischen
Gemeinsamkeiten dieser unterschiedlichen Autoren auch Koh, Why Do Nations Obey Inter-
national Law?, 106 Yale Law Journal (1996/1997), S. 2599, 2620.
36
Anand, New States and International Law (1972), S. 46.
37
Anand, New States and International Law (1972), S. 72.
38
Anand, New States and International Law (1972), S. 46.
39
Das ethnisch homogene Ägypten war bis 1922 britisches Protektorat; die Landesvertei-
digung und der Schutz ausländischer Interessen wurden aber auch danach noch durch die
Briten besorgt. In Folge eines Militärputschs im Jahr 1952 wurde der nationalistische und
panarabische Nasser zum neuen Führer Ägyptens, der die vollständige Unabhängigkeit des
Landes erkämpfte, sich der Verwirklichung eines „arabischen Sozialismus“ verschrieb und
zur Schlüsselfigur in der Bewegung der Blockfreien wurde. Ägypten und Nasser sollten zu
48 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler…
But every legal system protects a certain structure of power. A defense of a legal system is
a defense of the political system it consecrates.40
Die TWAIL II differenzieren heute zwischen einer schwachen („weak“) und einer
starken („strong“) Tradition der Völkerrechtswissenschaft nach dem Zweiten Welt-
krieg in der Dritten Welt.41 Die „schwache“ Völkerrechtswissenschaft ist dabei für
Gathii „weak in the sense that his scholarship primarily provides a cultural rather
a structural (economic) critique of international law and relations.“42 Autoren wie
Anand, Abi-Saab oder Elias würden auf Grund ihrer soziologisch inspirierten Kritik
am Eurozentrismus der etablierten Völkerrechtsordnung von Autoren der TWAIL II
heute zu der „schwachen“ Tradition der ersten Generation von Völkerrechtlern in
der Dritten Welt gezählt werden.
Dem gegenüber gab es in dieser Zeit auch eine radikalere, stärker vom Sozialis-
mus in Frankreich und Afrika geprägte Strömung, welche die TWAIL II heute als
„starke“ Tradition der ersten Generation von Völkerrechtlern in der Dritten Welt
Schauplatz und Protagonist der berüchtigten Suezkrise werden: Als Nasser im Jahr 1956 die
britisch-französische Suezkanal-Gesellschaft, welche seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf der
Grundlage von Konzessionsvereinbarungen für den Erdöltransport wichtige Wasserwege in
Ägypten erschlossen und genutzt hatte, verstaatlichte, wollte eine Allianz aus Großbritan-
nien, Frankreich und Israel Nasser stürzen und die Kontrolle über den Kanal zurückgewin-
nen, was jedoch durch das Einschreiten der USA und der UdSSR verhindert wurde. Dieser
Konflikt stärkte die Rolle Ägyptens in der Dritten Welt letztlich. Mattes, Ägypten, in Nohlen
(Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organisationen, Theorien, Begriffe, Personen
(1985), S. 22-25; Kotthaus, Nasser, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder,
Organisationen, Theorien, Begriffe, Personen (1985), S. 420; Pfeil, Die Suezkrise, 17/18
Aus Politik und Zeitgeschichte (2006), S. 32 ff. Abi-Saab wurde 1933 in Kairo geboren,
wo er auch sein Studium der Rechtswissenschaften begann. Der Schüler von Abdullah El-
Erian studierte außerdem in Paris, Michigan, Harvard, Cambridge, Genf und Den Haag. Er
vertrat Ägypten auf verschiedenen internationalen Konferenzen und vor dem internationalen
Gerichtshof, an dem er auch als ad hoc-Richter tätig war. Abi-Saab war Richter des Inter-
nationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien und des Internationalen Straf-
gerichtshofs für Ruanda, des Verwaltungsgerichts des Internationalen Währungsfonds sowie
des Appellate Body der Welthandelsorganisation. Daneben hatte Abi-Saab eine Völkerrechts-
professur in Genf inne. Siehe hierzu Terris/Romano/Swigart, The International Judge: An
Introduction to the Men and Women Who Decide the World’s Cases (2007), S. 131 ff.
40
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 101.
41
Gathii, International Law and Eurocentricity, 9 European Journal of International Law
(1998), S. 184 ff.
42
Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale Elias, 21
Leiden Journal of International Law (2008), S. 317, 318 f.
I. Die Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt an der etablierten Völkerrechtsordnung49
43
Vgl. Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale
Elias, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 317, 318 f.
44
Mattes, Algerien, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organisationen,
Theorien, Begriffe, Personen (1985), S. 29 ff.
45
Özsu, „In the interests of mankind as a whole“: Mohammed Bedjaoui’s New International
Economic Order, 6 Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism,
and Development (2015), S. 129, 130 ff.; Yakpo/Boumedra (Hrsg.), Liber Amicorum Judge
Mohammed Bedjaoui (1999), S. 2 ff.; Who’s Who in the United Nations and Related Agen-
cies (1975), S. 48.
50 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler…
wie Georges Scelle, Léon Bourgeois und Léon Duguit im Kontakt gekommen.46
Diese Variante der soziologisch inspirierten Jurisprudenz war etwas radikaler als
jene in den USA und dem Rest Europas und betrachtete die menschliche Solidarität
als Grundlage von Gesellschaft und Recht.47 Dabei ging sie von einem komplexen
und wenig formalistischem Verhältnis zwischen Recht und Gesellschaft aus.48 Bed-
jaoui war außerdem von verschiedensten Varianten des (teils neo-marxistischen)
Sozialismus geprägt, wobei er seine Position jedoch wesentlich von der sozialisti-
schen Utopie der UdSSR abgrenzte.49 Von diesem theoretischen Hintergrund aus-
gehend kritisierte Bedjaoui die imperialistische Struktur sowie den Formalismus
der etablierten Völkerrechtsordnung. In seinem provokanten Buch Towards a New
International Economic Order aus dem Jahr 197950 bezeichnete er die internatio-
nale Ordnung nach der Dekolonialisierung als eine fehlgesteuerte „Un-Ordnung“.
Er schrieb:
The historical and political reasons for the present disorder can be mainly expressed in
terms of imperialism, colonialism and neo-colonialism. Dependence, exploitation, the
looting of the resources of the Third World, and the introduction of zones of influence, have
marked international relations with ‘organized’ or ‘institutionalized’ disorder. The cruel,
inhuman law of maximum profit has finally succeeded in establishing disorder, with the
Faustian power of multinational firms, the gigantism of military-industrial complexes, and
the ecological disaster.51
Bereits dieses Zitat legt nahe, dass Bedjaoui zwar ein ähnliches Geschichtsverständ-
nis wie z. B. Anand hatte,52 für ihn jedoch ökonomische Beherrschungsverhältnisse
noch stärker im Vordergrund standen. Für Bedjaoui war die Geschichte der Interna-
tionalen Beziehungen eine von Hierarchien und Ungleichheiten geprägte Geschichte
46
Özsu, „In the interests of mankind as a whole“: Mohammed Bedjaoui’s New International
Economic Order, 6 Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism,
and Development (2015), S. 129, 130 ff.
47
Scelle, Précis de Droit des Gens, Band I (1932), S. 1 ff; siehe zum Ganzen Koskenniemi,
The Gentle Civilizer of Nations: The Rise and Fall of International Law 1870-1960 (2001),
S. 266 ff.
48
Özsu, „In the interests of mankind as a whole“: Mohammed Bedjaoui’s New International
Economic Order, 6 Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism,
and Development (2015), S. 129, 130.
49
Sinha betonte, dass sich die sozialistische Philosophie in Afrika in einigen Punkten vom
klassischen Marxismus unterschied; den Einfluss von Marx und Lenin gestand er jedoch
ein. Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967), S. 53 ff. Siehe hierzu in Bezug
auf Bedjaoui auch Özsu, „In the interests of mankind as a whole“: Mohammed Bedjaoui’s
New International Economic Order, 6 Humanity: An International Journal of Human Rights,
Humanitarianism, and Development (2015), S. 129, 132.
50
Der Titel hieß im französischen Original „Pour un nouvel ordre économique international“,
erschien im Jahr 1978 und wurde in viele Sprachen, unter anderem auch ins Spanische und
Arabische, übersetzt.
51
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 20.
52
Siehe hierzu Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 50 ff.
I. Die Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt an der etablierten Völkerrechtsordnung51
der wirtschaftlichen Ausbeutung.53 Das traditionelle Völkerrecht basierte für ihn auf
der inhärenten Logik der Gesetze des kapitalistischen Wirtschaftssystems und des
politischen Liberalismus.54 Diese Völkerrechtsordnung suggeriere vordergründig
Neutralität, sei jedoch faktisch parteiisch:
[T]he laisser-faire and easy-going attitude which it thus sanctioned led in reality to legal
non-intervention, which favored the seizure of the wealth and possession of weaker peoples.
Classic international law in its apparent indifference was ipso facto permissive. It recogni-
zed and enforced a ‘right of domination’ for the benefit to the ‘civilized nations’. This was a
colonial and imperial right, institutionalized at the 1885 Berlin Conference on the Congo.55
Das etablierte Völkerrecht war für Bedjaoui materiell von seiner historischen Ent-
stehungssituation geformt, die er als originär imperialistisch bezeichnete:
Here we come to the real nature of the so-called ‘international’ law, to its substance and
even to the reality of its existence. As it has been formed historically on the basis of regio-
nal acts of force, it could not be an international law established by common accord, but
an international law given to the whole world by one or two dominant groups. This is
how it was able to serve as a legal basis for the various political and economic aspects of
imperialism.
The classic international law thus consisted of a set of rules with a geographical basis (it
was a European law), a religious-ethical inspiration (it was a Christian law), an economic
motivation (it was a mercantilist law) and political aims (it was an imperialist law).56
Bedjaoui sah das Völkerrecht als Mittel zur Beherrschung der Schwächeren durch
die Stärkeren. So musste das Völkerrecht zwischen den „zivilisierten“ Staaten, um
den Interessen der ausbeuterischen Wirtschaftsordnung im Kolonialismus dienen
zu können, laut Bedjaoui ein oligarchisches sein, während es im Verhältnis zu den
„unzivilisierten“ Staaten plutokratisch deren Ausbeutung erlauben und Einmi-
schungen in diese Vorgänge verhindern sollte.57 Diese Aufgabe erfülle das Völker-
recht durch bestimmte Mechanismen: Durch immer neue rechtliche Spitzfindig-
keiten seien daher die tatsächlich agierenden Machtstrukturen in den verschiedenen
Stadien der Völkerrechtsgeschichte verschleiert worden.58 Beherrschung würde im
Völkerrecht durch die Übersimplifizierung von Dichotomien wie „entwickelt“ und
„unterentwickelt“, „Griechen“ und „Barbaren“, „Gläubige“ und „Heiden“ gerecht-
fertigt.59 Die Identifizierung des Anderen und die Auflösung der vorgefundenen
Gegensätze würden das menschliche Bedürfnis nach einfachen Wahrheiten befrie-
digen, aber auch zu gravierenden Ungerechtigkeiten führen.60 Diese Erkenntnis
53
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 246.
54
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 49.
55
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 49.
56
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 50.
57
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 50.
58
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 56.
59
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 117.
60
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 117.
52 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler…
61
Siehe oben, Einleitung.
62
Vgl. Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 49.
63
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 59.
64
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 59.
65
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 59.
66
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 60.
67
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 61.
68
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 61.
69
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 20.
70
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 86.
71
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 88.
I. Die Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt an der etablierten Völkerrechtsordnung53
understood not merely in terms of European presence, but as the spread of political order
hat inscribed in the social world a particular conception of space and time, together with
new forms of personhood or social identity, and a range of new disciplinary institutions
through which society’s sense of self or other might be manufactured.72
Mit dem Ende des Kolonialismus seien alte Beherrschungsstrukturen durch neue,
neokoloniale Mechanismen abgelöst worden. Zu diesem Problem zitiert Umozurike
den ghanaischen Politiker Kwame Nkrumah sowie Nasser:
72
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 88.
73
Vgl. hierzu oben und Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International
Law (2008), S. 4.
74
Siehe unten, Kapitel 4.
75
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. ix, 1 ff.
76
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. ix ff.; Gathii, A Critical
Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale Elias, 21 Leiden Journal of
International Law (2008), 317, 340.
77
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 14.
78
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 36.
54 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler…
The imperialists of today endeavor to achieve their ends not merely by military means, but
by economic penetration, cultural assimilation, ideological domination, psychological infil-
tration, and subversive activities even to the point of inspiring and promoting assassination
and civil strife.79
Neo-colonialism emerged attempting to attain the same aims of exploitation as the old
colonialism, using new methods to which outwardly appear to be more in line with the
spirit of the age.
In this domain, military pacts are directed more against internal fronts of nations seeking
to free themselves (…) rather than against foreign aggression. In the same way, aid and
trade were used as a veil to dominate to the benefit of the exploiters. The policy of economic
and monopoly blocs was equally directed to this end.80
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte
Völkerrechtsordnung aus der Perspektive der Völkerrechtler in
der Dritten Welt
Die Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt nach der Dekolonialisierung identi-
fizierte die etablierte Völkerrechtsordnung als Mittel zur Rechtfertigung von Fremd-
herrschaft. Entsprechend nahe lag die Vermutung, dass sich die neuen Staaten dieser
Ordnung verweigern und vom Völkerrecht abwenden könnten. Der Frage, ob und
wie weit dies möglich sei, widmete sich auf völkerrechtsdogmatischer Ebene die
Debatte um die Bindung der Dritten Welt an das postkoloniale Völkerrecht. War das
Völkerrecht, das im Wesentlichen ohne die Beteiligung der ehemaligen Kolonien
entstanden war und ihren Interessen zumindest zum Teil zuwider lief, für die neuen
unabhängigen Staaten ohne weiteres verbindlich? Oder forderte das die Völker-
rechtsordnung durchziehende Konsensprinzip einen Willensakt der neuen Staaten,
durch die etablierten Normen des Völkerrechts gebunden zu sein? Zuvörderst stellte
sich hierbei die Frage nach der Bindung der neuen Staaten an das Völkerrecht im
Allgemeinen und somit insbesondere an das Allgemeine Völkerrecht. Erst wenn die
neuen Staaten nämlich überhaupt durch das Völkerrecht berechtigt und verpflichtet
79
Nkrumah, Rede auf der ersten Konferenz unabhängiger afrikanischer Staaten in Accra
1958, zitiert nach Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 126.
80
Nasser, Rede auf der Belgrader Konferenz 1961, zitiert nach Umozurike, International Law
and Colonialism in Africa (1979), S. 127.
81
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 127, 144.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 55
waren, konnten sie auch an die gewohnheitsrechtlichen Normen des Rechts der
Staatennachfolge gebunden sein, aus welchem sich wiederum die Verpflichtungen
der neuen unabhängigen Staaten in einzelnen Völkerrechtsgebieten wie beispiels-
weise dem Vertragsrecht ergab.82 Die Debatte um die Bindung der neuen Staaten an
das Allgemeine Völkerrecht verknüpfte dabei die Frage nach dem Geltungsgrund
des Völkerrechts überhaupt mit Überlegungen aus der Rechtsquellenlehre.
Falk machte bezüglich der Bindung der Staaten an das Völkerrecht im Allgemei-
nen zwei grundsätzliche Sichtweisen in der zeitgenössischen Debatte aus:
[T]he international legal order is today universal in its scope and not a restricted club (…).
As the legal order is universal, the attitudes of all states are relevant to the content of its
rules, but not necessarily retroactively relevant. The conservative view holds that for the
new states the international legal order is “a given” and that the discretion of these states is
limited to influencing its future growth. The more radical view, associated with some spo-
kesmen from the new states, is that the new states have the authority to cast doubt upon any
portions of the international legal order brought into being prior to their existence and that
active assent is a condition precedent to the validity of the specific rules.83
82
Siehe hierzu unten, Teil II und Teil III.
83
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 33 f.
84
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 34 ff.
56 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler…
85
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 113.
86
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 38; ders., The Newly Independent States
and the Rules of International Law: An Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 113
87
Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967), S. 84, 143; Abi-Saab, The Newly Inde-
pendent States and the Rules of International Law: An Outline, 8 Howard Law Journal (1962),
S. 95, 102 f., 107; Syatauw, Some Newly Established Asian States and the Development
of International Law (1961), S. 230 ff.; Malawer, Studies in International Law (2. Auflage
1977), S. 32.
88
Vgl. hierzu Tunkin, Das Völkerrecht der Gegenwart (1963), S. 85, der die Auffassung des
Westens, die neuen Staaten seien an das bestehende Gewohnheitsrecht gebunden, als Impe-
rialismus verurteilt.
89
Da hiernach alle präkommunistischen Gesellschaften in eine herrschende und eine unter-
drückte Klasse gespalten waren, wobei die erste das Eigentum an den Produktionsmitteln
innehatte, die zweite jedoch nicht, war die Geschichte eine Abfolge von Klassenkämp-
fen, in der sich die unterdrückte Klasse durch Revolutionen gegen die herrschende Klasse
durchsetzte und sich so immer neue Gesellschaftsformationen abwechselten. Dies waren in
zeitlicher Abfolge die Gesellschaften von Sklavenhaltern, Feudalismus, Kapitalismus und
schließlich Sozialismus, wobei mit dem Sozialismus schließlich eine klassenfreie Gesell-
schaft entstehen sollte. Wesentliche Elemente einer Gesellschaft waren dabei die ökonomi-
sche Basis, die aus den Produktionsverhältnissen bestanden, und deren juristischer und poli-
tischer Überbau, der den Willen der herrschenden Klasse widerspiegelt und durch den der
Staat versucht, die Machtverhältnisse in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten; Recht und Staat
waren damit Mittel der herrschenden Klasse zur Pression der unterdrückten Klasse. Einen
solchen (wenn auch spezifischen, da außerhalb der historischen Gesellschaftsformationen
stehenden) Überbau stellte für die sowjetische Völkerrechtswissenschaft auch das Völker-
recht dar. Sie hierzu auch die Ausführliche Analyse bei Schweisfurth, Sozialistisches Völker-
recht?: Darstellung – Analyse – Wertung der sowjetmarxistischen Theorie vom Völkerrecht
„neuen Typs“ (1979), S. 17 ff.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 57
90
Korowin./Krylow/Koschewnikow/Jewgenew/Molodzow/Schurschalow, Völkerrecht (1960),
S. 1 f.
91
Korowin./Krylow/Koschewnikow/Jewgenew/Molodzow/Schurschalow, Völkerrecht (1960),
S. 10 ff.
92
Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht?: Darstellung – Analyse – Wertung der sowjet-
marxistischen Theorie vom Völkerrecht „neuen Typs“ (1979), S. 231 ff.
93
Tunkin, Völkerrechtstheorie (1972), S. 119; Schweisfurth, Sozialistisches Völkerrecht?:
Darstellung – Analyse – Wertung der sowjetmarxistischen Theorie vom Völkerrecht „neuen
Typs“ (1979), S. 231.
94
Es handelte sich beim Völkergewohnheitsrecht in dieser Konzeption also um stillschwei-
gende Vereinbarungen, vgl. Tunkin, Völkerrechtstheorie (1972), S. 153 f.; Schweisfurth,
Sozialistisches Völkerrecht?: Darstellung – Analyse – Wertung der sowjetmarxistischen
Theorie vom Völkerrecht „neuen Typs“ (1979), S. 241. Sowjetische Juristen kritisierten
die imperialistische Entstehung gewohnheitsrechtlicher Normen, die als kapitalistisches
Instrument der Unterdrückung funktionierten, im Übrigen jedoch scharf. Die Analysen
einger Beobachter seien hier explizit genannt: “Korovin […] argued, rules of internatio-
nal customary law, established, shaped, formulated and accepted before the Soviet Union
appeared on the world scene, were formed by historical forces bound to be "ideologically
hostile" to the new state. They lacked the principle of explicit consent in the conduct
of international business without which the Soviet state might again become a subject
of foreign intervention. In the atmosphere of little or no mutual confidence, the Soviet
Union could not afford to leave its protective shell for long: international treaties were
the most suitable vehicle for such limited foreign relations.” Triska/Slusser, Treaties and
Other Sources of Order in International Relations: The Soviet View, 52 American Journal
of International Law (1958), S. 699, 703. „The assumption of Soviet jurists is that many
rules of international law will not accord with Soviet policy because they were developed
during the 19th century. It was a period which Soviet historians characterize as the height
of the epoch of capitalism, when states were directing their efforts toward the expansion
58 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler…
von Verpflichtungen aus der Zeit des Zarenreiches zu verweigern.95 Die Unab-
hängigkeit der neuen Staaten feierte die sowjetische Völkerrechtswissenschaft als
Etappensieg gegen den Imperialismus.96 Auch auf sie sollte die pactum-tacitum-
Lehre nun Anwendung finden. So schrieb der sowjetische Jurist und Diplomat
Grigory Ivanovich Tunkin, dass etwa das Völkergewohnheitsrecht nur diejenigen
Staaten binden könne, die ihm zumindest stillschweigend zugestimmt hatten; eine
automatische Bindung von gewohnheitsrechtlichen Normen, die von einer Viel-
zahl von Staaten anerkannt worden waren, könne für andere Staaten nicht ange-
nommen werden:
Die neu entstandenen Staaten haben, juristisch gesehen, das Recht, diese oder jene all-
gemeine Gewohnheitsrechtsnorm des Völkerrechts nicht anzuerkennen. Wenn jedoch ein
neuer Staat ohne Vorbehalte offiziell Beziehungen zu anderen Ländern aufnimmt, dann
bedeutet dies, daß er einen bestimmten Komplex von Prinzipien und Normen des gelten-
den Völkerrechts, die die Grundprinzipien der Beziehungen zwischen den Staaten bilden,
akzeptiert.97
Wo solche Vorbehalte aber angebracht würden, zähle der tatsächliche Wille der
neuen Staaten; diese seien dann nicht an das etablierte Völkerrecht gebunden, da
sonst dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Staaten verletzt würde.98 Hier
wird deutlich, dass der sowjetischen Völkerrechtstheorie ein weitestgehend unein-
geschränktes, wenn auch nicht mehr im historischen Sinne absolutes Souveräni-
tätsverständnis zugrunde lag.99 Bezeichnend für die voluntaristische Position der
Sowjetunion ist auch die Tatsache, dass die UdSSR in ihrer Anfangszeit, als sie
noch keine eigenen Kronjuristen hervorgebracht hatte, rechtlichen Beistand bei dem
italienischen Völkerrechtler Dionisio Anzilotti, einem Altmeister des Voluntaris-
mus,100 suchte.101
Auch die Staaten der Dritten Welt neigten zu einer starken Betonung der staat-
lichen Souveränität, welche die ehemaligen Kolonien als Schutzschild gegen
of markets, and the conquering of colonial areas for the purpose of gaining cheap raw
materials and labor. International law is thought to have been largely an instrument which
the capitalist states utilized in furthering their efforts. Yet, this fact alone is not sufficient
reason to reject all, for Lenin advised that old forms can and must be utilized to achieve
the victory of communism.” Hazard, The Soviet Union and International Law, 43 Illinois
Law Review (1948-1949), S. 591, 593.
95
Korowin, Das Völkerrecht der Übergangszeit, S. 1.
96
Vgl. Tunkin, Das Völkerrecht der Gegenwart (1963), S. 15.
97
Tunkin, Völkerrechtstheorie (1972), S. 159; Hervorhebung durch die Verfasserin.
98
Tunkin, Völkerrechtstheorie (1972), S. 158.
99
Korowin/Krylow/Koschewnikow/Jewgenew/Molodzow/Schurschalow, Völkerrecht (1960),
S. 10 ff.
100
Vgl. etwa Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, Band I (1929).
101
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 102, Fn. 19.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 59
Traditionally, when a state comes into being and is recognized as such by other states, it is
bound by all the existing rules, whatever, of international law, already established as custom
by the practice of other states and in whose creation the new state obviously had no part.
However, the new states of Asia and Africa have assumed the position that the internatio-
nal law of the western powers must be offered to them for acceptance or rejection. They
assert that they have the right to choose from its body those rules which have no binding
force upon them. They contend that this position is compatible with the attributes of their
sovereignty, itself a concept of international law, which they attained upon independence.
Sovereignty is said to give them equality with other states and, therefore, no obligation to
accept rules which a distinct set of states, the western states, established in the past for their
own expediency.103
In Sinhas Darstellung der Argumentation der ehemaligen Kolonien klingt ein sehr
klassisches Souveränitätsverständnis an, das auf das westfälische System zurückzu-
führen ist: Der souveräne Staat als höchste Entscheidungsinstanz wurde als Angel-
punkt des völkerrechtlichen Systems gesehen, der als Gleicher unter Gleichen nur
die Souveränität anderer Staaten zu achten hatte.104 Souveränität bedeutete in dieser
Interpretation auch Herrschaft über das Recht. Abi-Saab erläuterte diese sehr sou-
veränitätsbetonte Position der neuen Staaten folgendermaßen:
For the newly independent states, sovereignty is the hard won prize of their struggle for
emancipation. It is the legal epitome of the fact that they are masters in their own house. It
is the legal shield against any further domination or intervention by stronger states. They
are very aware of its existence and importance for, until recently, they were deprived of it.
Once they have achieved independence and reacquired sovereignty, they are very reluc-
tant to accept any limitation of it. They consider such limitations as indirect means to
achieve what was achieved earlier by outright domination.105
102
Vgl. Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An
Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 102 f.; Sinha, Perspective of the Newly Inde-
pendent States on the Binding Quality of International Law, 14 International and Compara-
tive Law Quarterly (1965), S. 121, 127, 142; Okoye, International Law and the New African
States (1972), S. 193; Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the
Developing Countries (1987), S. 80.
103
Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967), S. 142.
104
Siehe hierzu Abi-Saab, Whither the International Community?, 9 European Journal of
International Law (1998), S. 248, 254.
105
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 103 f.
60 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
Dabei setzten sich die neuen Staaten häufig der Kritik aus, sich exzessiv auf ihre
Souveränität zu berufen und dieses Prinzip auf anarchische Weise auszulegen und
sich zunutze zu machen: Besonders laut waren die Aufschreie während der ersten
Ölkrise 1973, als die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) als Reaktion
auf die westliche Unterstützung Israels im Jom-Kippur-Krieg sowie auf die Infla-
tion und unter Berufung auf die Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten ihre Förder-
menge senkte und dadurch den Ölpreis in die Höhe trieb.108
Wie sich hier schon andeutet und in Teil II und III der Arbeit offenkundig wird,
argumentierten Völkerrechtler und Staatenvertreter der Dritten Welt häufig mit
Grundprinzipien des Völkerrechts wie hier mit der staatlichen Souveränität bzw. der
souveränen Gleichheit. Solche Grundprinzipien wurden häufig – und so auch hier –
schlagwortartig verwendet, um die Position der neuen Staaten in einer bestimm-
ten Rechtsfrage zu substantiieren. Hierfür boten sich gerade die Grundprinzipien
des Völkerrechts an, da sie die nötige Flexibilität zu haben schienen, um mit ihnen
aus dem etablierten Völkerrecht heraus gegen bestimmte völkerrechtliche Normen
oder Theorien zu argumentieren, welche die neuen Staaten als kolonial betrachte-
ten. Solche Rechtsprinzipien waren daher eine beliebte Regelungstechnik für die
Entwicklungsländer:
First, there is the fact that principles, being general and sweeping in character, are more
acceptable to Western countries than detailed rules in areas where they oppose new develop-
ments demanded by the Third World. Often the West accepts a principle but enters the expli-
cit or tacit reservation that in any case it is no more than a political guideline or that it is too
woolly to possess definite content. […] Yet, their misgivings and reservations notwithstand-
ing Western countries do not ultimately oppose the reaffirmation of principles in official
106
Daneben hatten gewohnheitsrechtliche Regelungen den Nachteil, dass ihre Veränderung
langwierig war und damit dem Interesse der Dritten Welt an einer zügigen Umsetzung des
Globalsolidarischen Projekts zuwiderlief. Okoye, International Law and the New African
States (1972), S. 190 ff.; Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of Inter-
national Law: An Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 106 ff.
107
Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual Responsibi-
lity in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 81.
108
Siehe hierzu Bedjaoui, Towards a New International Economic order (1979), S. 103.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 61
documents. Developing Countries count this as considerable success, for it makes room for
gradual transformation of general tenets into definite standards of behavior to be used in
appraising the conduct of States and exposing it to public condemnation in case of viola-
tion. As far as developing countries are concerned, the adoption of a principle in an official
document is not the end of the story. Quite the contrary, it is the starting-point of long
process in the course of which the principle is restated, specified, elaborated, expanded,
updated, in short gradually made workable and operational as an international parameter.
Another advantage of general principles is that, being loose and flexible, they are more
likely to be interpreted and applied in such a way as to allow for future developments and
demands. By contrast, detailed rules may crystallize and even ossify the circumstances for
which they are enacted.109
Die argumentative Verwendung von Grundprinzipien des Völkerrechts wie der sou-
veränen Gleichheit war damit eine Strategie für die Autoren aus den ehemaligen
Kolonien und ihre Heimatstaaten, um dem Vorwurf der Politisierung zu entgehen
und ihre Forderungen nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich zu legitimieren.
Dabei nutzten die Völkerrechtler in den neuen Staaten die souveräne Gleichheit im
Zusammenhang mit der Bindung der ehemaligen Kolonien an die etablierte Völ-
kerrechtsordnung apologetisch und betonten sie Notwendigkeit ihrer Zustimmung
etwa zu den bestehenden Regeln des Völkergewohnheitsrechts.
Nach dieser Manier bestärkte der mexikanische Rechtswissenschaftler und
spätere Außenminister Jorge Castañeda die noch junge Dritte Welt, eine voluntaris-
tisch-souveränitätsorientierte Position zu ergreifen:
An Castañedas Zitat ist der letzte Halbsatz besonders interessant: Obwohl viele
Autoren aus der Dritten Welt – und im Übrigen auch westliche Völkerrechtler –111 den
neuen Staaten eine souveränitätsorientierte, voluntaristische Position zuschrieben,
scheinen andere zu einer anderen Einschätzung gelangt zu sein. Anand meinte etwa:
It is a striking tribute to the supremacy of international law that never in any public act has
any state in our time dared to declare that it would not be bound by this law or its precepts.112
Wie Anand gelangte eine beachtlich Anzahl von Autoren aus Nord und Süd zu der
Einschätzung, dass die ehemaligen Kolonien die grundsätzliche Bindung an das
109
Cassese, International Law in a Divided World (1986), S. 120.
110
Castañeda, Jorge: The Underdeveloped Nations and the Development of International
Law, 15 International Organization (1961), S. 38, 43.
111
Siehe beispielsweise Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des
Cours (1966-II), S. 1, 33 f.
112
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 87.
62 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
Völkerrecht praktisch nicht zur Debatte gestellt hätten.113 Diese widersprüchlich wir-
kenden Einschätzungen zeitgenössischer Beobachter114 ergaben sich wohl aus unter-
schiedlichen Blickwinkeln auf die Position der neuen Staaten, denn nach dem clean-
slate-Prinzip behielten sich die neuen Staaten lediglich ein Wahlrecht vor, auf welche
Normen sie sich festhalten lassen wollten und auf welche nicht. Die neuen Staaten
lehnten damit die etablierte Völkerrechtsordnung nicht im Grundsatz ab, sondern ver-
fuhren nach der Methode „pick and choose“.115 Normen, die den politischen Interes-
sen der Dritten Welt entsprachen, seien von den neuen unabhängigen Staaten schlicht
angenommen worden.116 Falk machte hier eine Entwicklung in zeitlicher Hinsicht
aus: Das anfängliche Misstrauen gegenüber dem Völkerrecht als Ganzem sei später –
ähnlich wie auch die Völkerrechtsdoktrin der Sowjetunion – einer pragmatischeren
Einstellung gewichen.117 Die Staaten der Dritten Welt hätten begriffen, dass manche
völkerrechtliche Normen wie etwa das Recht der Staatenverantwortlichkeit zwar ihren
Interessen widersprächen, dass jedoch andere Normen durchaus auch ihrem Schutz
dienten.118 Auch der Westen habe mit der Zeit eine größere Bereitschaft gezeigt, auf
die neuen Staaten zuzugehen; dies nicht zuletzt, da sich hierdurch die Möglichkeit
bot, die neuen Staaten im bestehenden Völkerrechtssystem zu sozialisieren.119
Entsprechend lehnten die neuen unabhängigen Staaten die Völkerrechtsordnung
nicht grundsätzlich ab, sondern verwehrten sich nur der Anwendung bestimmter
Normen, die sie als für sich nachteilig empfanden, da in ihnen koloniale Herr-
schaftsstrukturen fortwirkten. So erkannten sie diejenigen völkerrechtlichen Prinzi-
pien weitestgehend an, welche aus ihrer Sicht die Gleichheit der Staaten förderten,
wie die souveräne Gleichheit, die territoriale Integrität, das Gewalt- und Interven-
tionsverbot, das Prinzip der friedlichen Streitbeilegung und das Recht der diplo-
matischen und konsularischen Beziehungen.120 Abi-Saab meinte, die neuen Staaten
würden all jene gewohnheitsrechtlichen Normen akzeptieren, die auf tatsächlicher
113
Vgl. Waldock, General Course on Public International Law, 106 Recueil des Cours (1962-II),
S. 5, 52; Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of Inter-
national Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 121; Okoye,
International Law and the New African States (1972), S. 193; D’Amato, Consent, Estoppel,
and Reasonableness: Three Challenges to Universal International Law, 10 Virginia Journal of
International Law (1969), S. 1, 5.
114
Siehe hierzu auch Udokang, The Role of the New States in International Law, 15 Archiv
des Völkerrechts (1971/72), S. 145, 150 f.
115
Vgl. Green, New States, Regionalism and International Law, 5 Canadian Yearbook of
International Law (1967), S. 118, 122.
116
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline, 8
Howard Law Journal (1962), S. 95, 99; Anand, New States and International Law (1972), S. 62 f.
117
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 17.
118
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 38.
119
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 38 f.
120
Anand, New States and International Law (1972), S. 63.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 63
(und damit zum echten Vorteilsaustauch führender) und nicht nur auf hypotheti-
scher (faktisch immer nur zum Vorteil einer Partei gereichender) Reziprozität
beruhen würden.121 In anderen Fällen wehrten sich die ehemaligen Kolonien gegen
die Geltung einzelner völkergewohnheitsrechtlicher Normen, was beispielsweise
in ihrer Haltung zur Drei-Meilen-Regel bei den VN-Seerechtskonferenzen 1958
und 1960 in Genf sowie zu den gewohnheitsrechtlichen Regelungen zu Kolonien
und Protektoraten bei den Diskussionen zur Declaration on the Granting of Inde-
pendence to Colonial Countries and Peoples zum Ausdruck kam.122 In manchen
Fällen erkannte die Dritte Welt völkerrechtliche Regelungen auch nur zum Teil an:
So führte die Ablehnung der neuen Staaten gegenüber der gewohnheitsrechtlichen
Theorie des terra nullius, durch welche die europäischen Großmächte die Beset-
zung der nunmehr ehemaligen Kolonien gerechtfertigt hatten, zu ihrer Unterstüt-
zung des sogenannten Goa-Zwischenfalls.123 Diese gewaltsame Befreiung portugie-
sischer Kolonialgebiete in Indien durch die indische Regierung im Jahr 1961 stellte
nach etabliertem Völkerrecht eine militärische Okkupation dar und stand somit in
einem Spannungsverhältnis mit dem Gewaltverbot, das nicht nur in Artikel 2 Nr. 4
VN-Charta niedergeschrieben, sondern auch von den Staaten der Dritten Welt auf
der Bandung-Konferenz bestärkt und gerade von Indien als buddhistisches Prinzip
betont worden war.124 Aus der Perspektive der neuen Staaten war sie jedoch ein
gerechter Schlag gegen die kolonialen Gebietstitel Portugals, deren Erwerb auf
Regeln des Völkergewohnheitsrechts beruhte, denen die damaligen Kolonien nie
zugestimmt hatten.125 So versuchten die neuen Staaten auch Grundprinzipien wie
das Gewaltverbot ihren Interessen entsprechend umzuinterpretieren: So sollten das
Gewalt- bzw. Interventionsverbot ihrer Ansicht nach politischen und ökonomischen
Zwang als Mittel der Internationalen Beziehungen umfassend verbieten.126
Vor diesem Hintergrund erklärt sich sowohl die Einschätzung, die neuen Staaten
hätten eine souveränitätsorientiert-voluntaristische Position vertreten, als auch die
Beobachtung, dass die Dritte Welt das Völkerrecht zumindest grundsätzlich akzep-
tiert hätten. Die neuen Staaten wandten sich nach dieser Narrative trotz ihrer kriti-
schen Position letztlich also nicht vom Völkerrecht ab, sondern diesem im Gegenteil
zu, wie Anand erklärte:
121
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 106.
122
GA, UN Doc A/Res/15/1514 (14. Dezember 1960); Sinha, Perspective of the Newly Inde-
pendent States on the Binding Quality of International Law, 14 International and Compara-
tive Law Quarterly (1965), S. 121, 122; Anand, New States and International Law (1972),
S. 63; Schweitzer, Das Völkergewohnheitsrecht und seine Geltung für neuentstehende
Staaten (1969), S. 68; Okoye, International Law and the New African States (1972), S. 194.
123
Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of Internatio-
nal Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 125; Wright, The
Goa Incident, 56 American Journal of International Law (1962), S. 617, 617.
124
Wright, The Goa Incident, 56 American Journal of International Law (1962), S. 617, 631.
125
Wright, The Goa Incident, 56 American Journal of International Law (1962), S. 617, 630.
126
Siehe Teil II.
64 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
Indeed, it is in the interest of the “uncommitted” states, which conceive it to be in their own
interest to avoid political entanglement with one or another power bloc, to concede adher-
ence to the law blocs. But the only way they can and will do it is if the law recognizes and
respects their vital interests.127
Die Dritte Welt lehnte nach dieser Darstellung das Völkerrecht also nicht im Ganzen
ab, aber behielt sich durchaus das Recht vor, einzelne Normen auf deren Konfor-
mität mit den Interessen der neuen Staaten hin zu überprüfen und gegebenenfalls
auf Grund ihres kolonialen Impetus abzulehnen. Es handelte sich insofern um eine
apologetische Argumentation, die die Bedeutung des souveränen Willens der neuen
unabhängigen Staaten betonte. Gleichzeitig gingen die neuen Staaten damit einen
pragmatischen Weg, indem sich ihr Widerstand auf jene Normen beschränkte, die
ihnen auch tatsächlich nachteilige Auswirkungen zu haben schienen.
Die geschilderte Position der Staaten der Dritten Welt stand jedoch weitgehend128
im Kontrast zu den Ansichten, die sich in Bezug auf die Frage der Bindung neuer
Staaten an das etablierte Völkerrecht in der westlichen Literatur entwickelt hatten
und zog entsprechend Kritik auf sich. So beanstandete der Neuseeländer Daniel
Patrick O’Connell, ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Staatennachfolge,129
dass die neuen unabhängigen Staaten den Willen statt der Unterwerfung unter eine
vernünftige Verhaltensordnung zur Grundlage des Rechts machten, was O’Connell
als „anarchic“ bezeichnete.130 Als Argument gegen die apologetische (sich also auf
die staatliche Souveränität und nicht auf eine utopische Idee wie die einer „Interna-
tionalen Gesellschaft“ beziehende) Darlegung der neuen Staaten wurde angeführt,
eine Ablehnung des Völkerrechts auf Grund dessen Widerspruchs zu den nationalen
Interessen der Dritten Welt sei eine opportunistische Politisierung des Rechts und
somit illegitim.131 Es sei schon zu diesem frühen Punkt der vorliegenden Arbeit
darauf hingewiesen, dass der Vorwurf der unzulässigen Politisierung des Völker-
rechts ein wiederkehrendes Motiv der westlichen Argumentation in der Debatte um
127
Anand, New States and International Law (1972), S. 73. Ähnlich u. a. D’Amato, Consent,
Estoppel, and Reasonableness: Three Challenges to Universal International Law, 10 Virginia
Journal of International Law (1969), S. 1, 5.
128
Zu den Ausnahmen gehört die Position von Falk, siehe unten.
129
Siehe unten, Teil III.
130
O’Connell, The Role of International Law, 95 Daedalus (1966), S. 627, 634.
131
So die Beobachtung bei Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil
des Cours (1966-II), S. 1, 16. Diese Ansicht findet sich unter anderem bei O’Connell, Inde-
pendence and Problems of State Succession, in O’Brien (Hrsg.), The New Nations in Inter-
national Law and Diplomacy (1965), S. 7, 13.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 65
die Bindung der neuen Staaten an das postkoloniale Völkerrecht werden sollte.132
Dabei ist zu beachten, dass aus dekonstruktivistischer Sichtweise der völkerrecht-
liche Diskurs so unbestimmt ist, dass jede Entscheidung eines rechtlichen Streits
zwangsläufig eine politische ist.133 Bemerkenswert ist, dass westliche Autoren die
Politisierung des Völkerrechts hier bezüglich einer apologetischen Position tadel-
ten, deren Ausgangspunkt der souveräne Wille der Staaten bildete. Dies ist deshalb
so interessant, weil westliche Autoren den neuen Staaten in allen anderen Bereichen
der Bindungsdebatte eine Politisierung des Rechts auf Grund der utopischen Posi-
tion der Dritten Welt vorwerfen sollten.134
Weiter kritisierte O’Connell die mangelnde Stringenz des Standpunktes der
neuen Staaten:
Furthermore, the argument is devoid of internal consistency. The sovereign State is an intel-
lectual artefact; its character, its form, and its qualities derive from the theoretical exposi-
tion of political organization which is nothing if not Western and has its roots in the Age of
Reason as much as has international law. New States can hardly claim the privileges and
faculties of States and yet repudiate the system from which these derive; yet this is precisely
what the argument involves. It overlooks that a State, when it commences to exist as a State,
does so in a structural context which gains its form from law, just as a child when born into
a society becomes subjected to it by virtue of the order of being in which it is integrated.135
132
Siehe hierzu Teil II und III der Arbeit.
133
Siehe oben, Einleitung.
134
Sie hierzu Teil II und III der Arbeit.
135
O’Connell, The Role of International Law, 95 Daedalus (1966), S. 627, 636; vgl zu O’Con-
nells Position auch Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and
the Law of Treaties (2007), S. 88.
136
Vgl. hierzu auch Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des
Cours (1966-II), S. 1, 26 f.
137
Schweitzer, Das Völkergewohnheitsrecht und seine Geltung für neuentstehende Staaten
(1969), S. 59.
138
Vgl. Waldock, General Course on Public International Law, 106 Recueil des Cours (1962-II),
S. 5, 49 f.
66 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
des neuen Staates konstruierten nun bereits westliche Autoren zu Anfang des 20.
Jahrhunderts „eo ipso aus seinem Begehren, von den anderen Staaten als ‘Staat’
anerkannt und behandelt zu werden.“139 Da der Staat Teil der Völkerrechtsgemein-
schaft werden wolle, müsse er damit auch deren Rechtsordnung akzeptieren. Die
Anerkennung des Allgemeinen Völkerrechts war der Preis, den der neue Staat für
seine Anerkennung als Mitglied der Völkergemeinschaft zahlen sollte. Nach der
herrschenden Meinung vor dem Ersten Weltkrieg akzeptierte ein neuer Staat, der
Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft werden wollte, dabei zugleich auch implizit
die dort geltende Rechtsordnung.140 Bereits bei den Staaten, die ihre Unabhängig-
keit nach dem Ersten Weltkrieg erlangt hatten, war von deren impliziter Anerken-
nung des etablierten Gewohnheitsrechts ausgegangen worden.141 Hierin lag auf den
ersten Blick eine apologetische Argumentation, die sich jedoch im Falle, dass neue
Staaten sich dem Gewohnheitsrecht explizit verweigerten, auch auf utopische Ideen
stützen musste, wie sich im Dekolonialisierungskontext zeigen sollte.
Nachdem die Frage der Bindung der Staaten für einige Zeit aus dem Fokus der
völkerrechtswissenschaftlichen Debatte geraten war, reanimierte die traditionell-
positivistische Völkerrechtswissenschaft im Westen nach Ende des Zweiten Welt-
kriegs die Idee, dass Staaten nur dann am Rechtsverkehr teilnehmen könnten, wenn
sie gleichzeitig anerkannten, dass dies die Akzeptanz des universellen Völkerrechts
beinhaltet.142 So schrieb Oppenheim:
New States which came into existence and were through express or tacit recognition admit-
ted into the Family of Nations thereby consented to the body of rules for international
conduct in force at the time of their admittance. It is therefore not necessary to prove for
every single rule of International Law that every single member of the Family of Nations
consented to it. No single state can say on its admittance into the Family of Nations that
it desires to be subject to such and such a rule of International law, and not to others. The
admittance includes the duty to submit to all the rules in force, with the sole exception of
those which, as for instance, the rules of the Geneva Convention, are specially stipulated
for such States only as have concluded, or later acceded to, a certain international treaty
creating the rules concerned.
On the other hand, no State which is a member of the Family of Nations can at some time
or another declare that it will in future no longer submit to a certain recognized rule of the
Law of Nations. The body of the rules of this law can be altered by common consent only,
not by a unilateral declaration on the part of one State. This applies not only to customary
rules, but also to such conventional rules as have been called into existence through a law-
making treaty for the purpose of creating a permanent mode of future international conduct
without a right of the signatory Powers to give notice of withdrawal.143
139
Schönborn, Staatensukzession (1913), S. 72.
140
Folz, Zur Frage der Bindung Neuer Staaten an das Völkerrecht, 2 Der Staat (1963), S. 319,
329 f.; Schoenborn, Staatensukzession (1913), S. 71 ff.
141
Malawer, Studies in International Law (2. Auflage 1977), S. 32.
142
Von der Heydte, Völkerrecht, Band 1 (1958), S. 190 f.; Lauterpacht, Oppenheims Inter-
national Law, Band 1 (7. Auflage 1948), S. 18.
143
Lauterpacht, Oppenheims International Law: A Treatise, Band 1 – Peace Peace (7. Auflage
1948), S. 18 f.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 67
Bei diesen Äußerungen wird bereits deutlich, dass die Theorie des impliziten Kon-
senses sich von ihrer voluntaristischen Basis löste und ein vom tatsächlichen staatli-
chen Willen unabhängiges Eigenleben begann. Der Beitritt zur Staatengemeinschaft
implizierte hingegen automatisch die Akzeptanz des Allgemeinen Völkerrechts; sie
war Teil des Handels, auf den sich die neuen Staaten als Preis für ihre Unabhän-
gigkeit einlassen mussten. Hatten sich die Staaten auf diese Weise dem Allgemei-
nen Völkerrecht unterworfen, so konnten sie dieses auch nur gemeinsam mit allen
Staaten ändern; hier wird deutlich, dass Oppenheim nicht allein auf den Willen des
einzelnen Staates abstellt, sondern auf den gemeinsamen Konsens der Staatenge-
meinschaft.144 Letztlich lag also bereits Oppenheims Ansicht eine utopische Posi-
tion zu Grunde, die nur vordergründig auf den impliziten Willen der neuen Staaten
abstellte, faktisch aber eine nonkonsensuale Bindung bedeutete. Der tatsächliche,
freie Willen der Staaten war nicht ausschlaggebend; ein ebenfalls in den westlichen
Positionen zur Bindungsdebatte wiederkehrendes Motiv.145
Auch O’Connell bekräftigte diese Position mit explizitem Bezug auf die neuen
Staaten, die aus der Dekolonialisierungswelle nach dem Zweiten Weltkrieg hervor-
gegangen waren:
At this point it is necessary to point out that a new state is born into a world of law. Indeed
it is a state, inasmuch as the term is meaningful to a lawyer, only because of a law that lays
down the conditions for and the attributes of statehood. There is a tendency to argue that the
international law we know is a product of European politics and Western philosophy, and
is an emanation of the Age of Reason and nineteenth-century statecraft, and that as such
it has little cogency for new states of African or Asian culture. The argument, of course,
disposes altogether of a law of state succession. However, it is unacceptable for the very
explanation that the Age of Reason offered, namely, the social contract. In asserting the
faculties of statehood, the new state is accepting the structure and the system of Western
international law, and it may not, without offending all juristic doctrine, pick and choose the
acceptable institutions, if only because its next-door neighbor, also a new state, will claim a
like privilege. […] They may have their cake, or they may eat it, not both. An objective, ana-
lytical treatment of succession problems of new states is thus not only necessary if we are
to preserve juristic integrity, but ultimately serves the interest of the new states themselves.
When ‘political realities’ are urged in opposition to legal doctrine, they must be viewed by
the lawyer by very much of a fishy eye, though of course they cannot be totally ignored.146
144
Vgl. Lauterpacht, Oppenheims International Law: A Treatise, Band 1 – Peace (7. Auflage
1948), S. 24.
145
Vgl. Malawer, Studies in International Law (2. Auflage 1977), S. 32.
146
O’Connell, Independence and Problems of State Succession, in O’Brien (Hrsg.), The New
Nations in International Law and Diplomacy (1965), S. 7, 12 f.
147
So die Einschätzung von Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil
des Cours (1966-II), S. 1, 27.
68 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
148
Folz, Zur Frage der Bindung Neuer Staaten an das Völkerrecht, 2 Der Staat (1963), S. 319,
330; Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts (1920), S. 224 ff.
149
Folz, Zur Frage der Bindung Neuer Staaten an das Völkerrecht, 2 Der Staat (1963), S. 319,
332; Heilborn, Grundbegriffe des Völkerrechts (1912), S. 59.
150
Brierly beispielsweise lehnte das Konstrukt eines impliziten Konsenses ab, ging aber davon
unabhängig von einer Bindung der neuen Staaten an das Völkerrecht aus: „For example, a
state which has newly come into existence does not in any intelligible sense consent to accept
international law; it does not regard itself, and it is not regarded by others, as having any
option in the matter. The truth is that states do not regard their international legal relations
as resulting from consent, except when the consent is express, and that the theory of implied
consent is a fiction invented by the theorists; only a certain plausibility is given to a con-
sensual explanation of the nature of their obligations by the fact […] that […] a new rule of
law cannot be imposed upon states merely by the will of other states.” Brierly, The Law of
Nations (5. Auflage 1955), S. 53. Für Brierly lag die Frage nach dem Geltungsgrund des Völ-
kerrechts außerhalb das Rechts und war eine Frage der Rechtsphilosophie, die sich für den
Völkerrechtler jedoch nicht drängender stelle als für jeden anderen Juristen.
151
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280 ff.
152
Zur Geschichte der Internationalen Gemeinschaft siehe Paulus, International Community,
Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2013), Rn. 10; Jenks, The Will of the
World Community as the Basis of Obligation in International Law, Hommage d’une Généra-
tion de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 281; Suarez, Tractatus de Legibus ac
Deo Legislatore, Band 2, (1612).
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 69
bezüglich Verpflichtungen erga omnes.153 Mit der Gründung des Völkerbundes und
später der Vereinten Nationen wurde die Idee einer Internationalen Gemeinschaft
zu einem gewissen Grad institutionalisiert.154 Das Konzept der Internationalen
Gemeinschaft war eng mit dem modernen Völkerrecht verknüpft und implizierte,
dass zwischen den Mitgliedern der Staatengemeinschaft gewisse Kohäsionskräfte
bestünden, die sich aus gemeinsamen Werten und Einstellungen ergäben.155 So sah
beispielsweise der Brite James Leslie Brierly den Geltungsgrund des Völkerrechts
in der Solidarität zwischen den Mitgliedern der Internationalen Gemeinschaft.156
Friedmann hatte eine Entwicklung vom Koexistenzrecht im desintegrierten Westfä-
lischen System hin zu einem institutionalisierten Kooperationsrecht ausgemacht.157
Insbesondere die Gründung der Vereinten Nationen wurde als wichtiger Schritt hin
zu einer Weltgemeinschaft beschrieben.158 Im Angesicht des Kalten Krieges wirkte
die utopische Idee einer Wertegemeinschaft jedoch durchaus gewagt.159 Diese
gemeinsamen Werte beschrieb Jenks folgendermaßen:
‘Freedom and welfare’; ‘peace, order and good government’; ‘due process of law’; ‘liberty,
equality and fraternity’; ‘life, liberty and the pursuit to happiness’; ‘freedom and dignity,
economic security and equal opportunity’; ‘poverty anywhere constitutes a danger to pro-
sperity everywhere’; the brotherhood of man: it is in ideas of this order of generality, but
with this degree of moral dignity, emotional appeal, and substantive content, that we must
seek a basis of obligation which will hold effectively the allegiance of mankind. We can find
it only in the will of a world community dedicated to these purposes.160
Jenks sah in seinem Konzept der Weltgemeinschaft eine Synthese der verschiede-
nen Theorien um den Geltungsgrund des Völkerrechts.161
The natural rights and duties of States are to be deduced, not from a hypothetical state
of nature preceding the existence of any community, but from that which the will of the
153
Artikel 53, 64 WVK; ICJ, ICJ-Reports 1970, S. 3, 32, Rn. 33; siehe auch Paulus, Inter-
national Community, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2013), Rn. 1, 5.
154
Paulus, International Community, Max Planck Encyclopedia of Public International Law
(2013), Rn. 13.
155
Zu der Debatte siehe beispielsweise Sterling, The Concept of World Community and the
Future of the United Nations, 8 Indian Journal of International Law (1968), S. 210, 210 ff.;
Wright, Towards a Universal Law for Mankind, 63 Columbia Law Review (1963), S. 435,
435 ff.
156
Lauterpacht/Waldock (Hrsg.), The Basis of Obligation in International Law and Other
Papers by the Late James Leslie Brierly (1958), S. 56 ff.
157
Friedmann, The Changing Structure of International Law (1964); siehe hierzu auch Abi-
Saab, Whither the International Community?, 9 European Journal of International Law
(1998), S. 248, 248 ff.
158
Feller, United Nations and World Community (1952), S. 114.
159
Feller, United Nations and World Community (1952), S. 120 ff.
160
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 286.
161
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 286.
70 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
world community regards as ‘natural’ in the sense of being ‘that what ought to be’, in a
particular stage in the development of the relations between the community and the States
which constitute as essential element of its structure. The collective consent from which
law derives its authority is to be found in the will of the world community as such, in the
Gemeinwille as the will of the community shared by its members rather than as the current
wills of the individual members.162
Für Jenks zollte diese Konzeption dem Bedürfnis nach einem sich dem sozialen
Wandel anpassenden Völkerrecht Tribut.163 Jenks sah diesen Gemeinwillen als vom
kollektiven Individualwillen losgelöst an:
[I]t is something greater than the individual wills which contribute to it and for certain
purposes is entitled to an authority which they cannot claim. The will of the community is
a real thing in every form of social organisation.164
162
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 288.
163
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 290.
164
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 292.
165
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 293; De Vis-
scher, Théories et Réalités en Droit International Public (1953), S. 117 ff.
166
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 294 f.; vgl.
auch Jenks, The Common Law of Mankind (1958).
167
Jenks, The Will of the World Community as the Basis of Obligation in International Law,
Hommage d’une Génération de Juristes au Président Basdevant (1960), S. 280, 298 f.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 71
Jenks verzichtete damit zwar einerseits auf eine Fiktion des Willens der neuen
Staaten im Sinne eines impliziten Konsenses; auf der anderen Seite konstruierte er
den Willen einer Weltgemeinschaft, in dem sich der Wille der neuen Staaten quasi
in objektivierter Form wiederfinden sollte. Praktisch lag hierin jedoch ebenso eine
nonkonsensuale Bindung der neuen Staaten an das Allgemeine Völkerrecht. Jenks
Figur der Weltgemeinschaft wurde in der zeitgenössischen Literatur kontrovers dis-
kutiert.168 In Bezug auf seine Idee der Bindung der neuen Staaten auf Grund des
Interesses der Weltgemeinschaft an der universellen Verbindlichkeit der Normen
des Allgemeinen Völkerrechts bekam Jenks Rückenwind von O’Connell:
A State which accedes to certain multilateral conventions (…) does so not primarily in its
own interests, but rather in the interests of international order and cooperation. (…) It is
bound so, however, only because the convention was merely an instrument for the creation
of objective law, which binds the Successor State, irrespective of its will and interests.169
Bei diesem Zitat wird klar, dass letztlich sowohl die Position vom impliziten Konsens
als auch jene von der Weltgemeinschaft utopische Positionen darstellten, die ihre
argumentative Kraft gerade nicht aus dem staatlichen Willen, sondern aus vermeint-
lich objektiven hehren Werten wie Ordnung, Kooperation oder Frieden beziehen.
Diese utopische Weltgemeinschafts-Position vieler westlicher Völkerrechtler stand im
Gegensatz zur souveränitätsbetont-apologetischen Position der Dritten Welt. Dabei ist
anzumerken, dass gerade die Idee der Internationalen Gemeinschaft vielfach Kritik
auf sich zog und zieht, nach der dieser Begriff die Glorifizierung und Globalisierung
von faktisch rein westlichen Werten gleichzeitig ermöglichen und verschleiern solle.170
Die Inderin Sundhya Pahuja stellt dabei heraus, dass die Idee einer Weltgemeinschaft
168
Manche Autoren betonten, dass die Völkerrechtsgemeinschaft nicht eine Gemeinschaft von
Staaten, sondern Menschen verschiedener Nationen in der Form wäre, dass sie auf gemein-
samen Wert- und Ordnungsvorstellungen beruhte: „Für die Bindung neuer Staaten an das
Völkerrecht ergeben sich hieraus entsprechende Folgerungen: Wenn es nämlich das Recht
einer Völkergemeinschaft ist und auf den Wert- und Ordnungsvorstellungen dieser Gemein-
schaft beruht, so muß das Völkerrecht für einen neuen Staat, dessen Volk die gemeinsamen
Anschauungen teilt und der Rechtsgemeinschaft bereits angehört, schon mit seiner Existenz
verbindlich sein. […] Eine schon mit der Existenz eines Staates gegebene Bindung an das
Völkerrecht setzt die Zugehörigkeit seines Volks zur Völkerrechtsgemeinschaft voraus. Fehlt
es deshalb an dieser Voraussetzung, so kann die Bindung des Staates an das Völkerrecht nur
in der Weise entstehen, daß sich ein Volk der Rechtsgemeinschaft anschließt. […]
Auf die heutige Situation übertragen dürfte dies auch für die Nationen gelten, die erstmals
die Unabhängigkeit erlangt haben; d.h. die Verbindlichkeit des Völkerrechts ergibt sich für
sie aus ihrer Entscheidung für die Völkerrechtsordnung. […] Das Recht ist deshalb für sie
und ihre Staaten dadurch verbindlich geworden, daß sie sich für diese Bindung entschieden
haben. Es ist gewiß undenkbar, daß eine unabhängig werdende Nation die Bindung an die
Ordnung des internationalen Rechts ablehnen würde.“ Folz, Zur Frage der Bindung Neuer
Staaten an das Völkerrecht, 2 Der Staat (1963), S. 319, 332 ff.
169
O’Connell, The Law of State Succession (1956), S. 64.
170
Koh, Why Do Nations Obey International Law?, 106 Yale Law Journal (1996/1997),
S. 2599, 2623.
72 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
171
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 144.
172
Neben der Theorie vom implizitem Konsens und jener von der Weltgemeinschaft wurden
in der westlichen Literatur weitere Ideen für eine Bindung der neuen Staaten an das Völ-
kerrecht entwickelt: Nach Ansicht mancher Autoren sollte das Allgemeine Völkerrecht die
neuen Staaten binden, da eine gewohnheitsrechtliche Regelung selbigen Inhalts dies gebiete.
Unklar blieb dabei, inwiefern hierfür bereits eine grundsätzliche Bindung an das Völkerrecht –
mittels impliziten Konsens oder durch die Existenz der Staatengemeinschaft – vorausge-
setzt wurde. So wurde in diesem Kontext schlicht darauf hingewiesen, dass Völkergewohn-
heitsrecht auch gegen den Willen einzelner Staaten entstehen und diese trotzdem binden
könnte (Dahm, Völkerrecht I (1958), S. 31) oder dass es sich bei der Bindung der ehemaligen
Kolonien an das Allgemeine Völkerrecht letztlich um eine Fiktion des Willens der neuen
Staates und nicht um deren tatsächlichen Willen handelte und diese Fiktion daher auf einer
gewohnheitsrechtlichen Regel beruhen müsse (Schweitzer, Das Völkergewohnheitsrecht und
seine Geltung für neuentstehende Staaten (1969), S. 62). Es wurde eine umfassende Uni-
versalsukzession im Rahmen der Staatennachfolge diskutiert, die eben auch das allgemeine
Gewohnheitsrecht erfassen solle (Vgl. Folz, Zur Frage der Bindung Neuer Staaten an das
Völkerrecht, 2 Der Staat (1963), S. 319, 325; Schönborn, Staatensukzession (1913), S. 4 ff.;
Schweitzer, Das Völkergewohnheitsrecht und seine Geltung für neuentstehende Staaten
(1969), S. 59. Eine ausführliche Diskussion des Prinzips der Gesamtrechtsnachfolge findet
sich unten in Bezug auf das Vertragsrecht). Hier war aber bereits die westliche Völkerrechts-
wissenschaft eher zurückhaltenden und bezweifelte vielfach die Existenz einer entsprechen-
den gewohnheitsrechtlichen Norm bzw. das Vorliegen der Voraussetzungen einer solchen
in Bezug auf die neuen Staaten (zu den verschiedenen Positionen siehe Folz, Zur Frage der
Bindung Neuer Staaten an das Völkerrecht, 2 Der Staat (1963), S. 319, 324 ff.; Schweitzer,
Das Völkergewohnheitsrecht und seine Geltung für neuentstehende Staaten (1969), S. 59 ff.).
Die Völkerrechtswissenschaftler in der Dritten Welt verneinten die gewohnheitsrechtliche
Geltung einer solchen Norm an. Vgl. Okoye, International Law and the New African States
(1972), S. 53. Letztlich handelte es sich hierbei jedoch um eine eher randständige Debatte,
bei der die westliche Position ebenfalls auf einer nonkonsensual-utopische Argumentation
aufbauen musste.
173
Zu Rosennes Biografie siehe Who’s Who in the United Nations and Related Agencies
(1975), S. 486.
174
Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the Annual
Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 35.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 73
Argumente für eine Bindung der neuen Staaten waren damit Stabilität und die Ver-
meidung eines rechtlichen Vakuums. Mit derselben Schlagrichtung betonte O’Con-
nell das Bedürfnis nach der Wahrung juristischer Integrität.175 Er stellte die neuen
Staaten vor die Wahl, das Allgemeine Völkerrecht zu akzeptieren oder aber ihre
eigene Existenz zu verleugnen.176 Zwar stünde es ihnen offen, nach ihrem Beitritt
zur Staatengemeinschaft an der Änderung des Gewohnheitsrechts mitzuwirken;
durch eine auch nur partielle Zurückweisung des Gewohnheitsrechts würden sie
jedoch die menschliche Gesellschaft an und für sich herausfordern.177 Auch Jenks
meinte in Bezug auf multilaterale Konventionen:
[I]t is no longer in the interest of either the older or new members of the international com-
munity, or of their citizens, that the emergence of a new member of the community should
disrupt the law based on conscious legislative effort the maintenance and development of
which is required in the interests of all alike. Political freedom cannot be made real against
a background of economic chaos, and to an increasing extent it is the law based on multi-
partite instruments which constitutes the basis of international economic life.178
Der telos einer Bindung von neuen Staaten an das Allgemeine Völkerrecht war nach
diesen Narrativen die Sorge, dass die Internationale Ordnung ohne die völkerrecht-
liche Bindung ihrer neuen Mitglieder erschüttert würde und es zu gravierenden
Unwägbarkeiten kommen könne. Augenfällig ist hierbei, dass die Dekoloniali-
sierung für keine der genannten Auffassungen eine besondere Rolle spielte: Für
die meisten westlichen Autoren unterschieden sich die ehemaligen Kolonien nicht
von früheren neuen Staaten, ihr Entstehungsgrund und -hintergrund wurde schlicht
nicht für erheblich erachtet.
Gegen diese Argumentation wandten sich Völkerrechtler aus der Dritten Welt, ohne
jedoch die beschriebene Position ihrer Heimatländer völlig unbesehen zu überneh-
men. Anders als viele westliche Autoren stellte sich aus ihrer Sicht die Bindungs-
frage nicht abstrakt für alle neuen Staaten, sondern spezifisch für die neuen Staaten
nach der Dekolonialisierung und vor dem Hintergrund ihrer Kritik an der etablierten
Völkerrechtsordnung. So schrieb Sinha über die etablierte Völkerrechtsordnung:
If these so-called rules are statements of western interests and of their superior position to
the interests of the emerging nations, the new states of Asia and Africa are not disposed to
accepting them as creating legal obligations upon them, because this is precisely what they
had rebelled against under the rubric of independence from colonialism.179
175
O’Connell, Independence and Problems of State Succession, in O’Brien (Hrsg.), The New
Nations in International Law and Diplomacy (1965), S. 7, 12 f.
176
O’Connell, International Law, Band I (2. Auflage 1970), S. 5.
177
O’Connell, International Law, Band I (2. Auflage 1970), S. 5.
178
Jenks, State Succession in Respect of Law-Making Treaties, 29 British Yearbook of Inter-
national Law (1952), S. 105, 144.
179
Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967), S. 144.
74 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
Sie gingen dabei zwei argumentative Wege: Zum einen argumentierten sie ähnlich
wie ihre Heimatstaaten mit der Souveränität der neuen Staaten, wobei sie jedoch
auch auf die Gefahren eines souveränitätsbasierten Standpunktes hinwiesen (a.).
Deshalb nutzten sie zusätzlich ihre soziologisch inspirierte Methodik als Argument
gegen eine vollumfängliche Bindung der neuen Staaten an die etablierten Völker-
rechtsordnung (b.).
a. Souveränitätsdebatte
In vielen Texten von Völkerrechtlern aus der Dritten Welt finden sich zwar schein-
bar neutrale Schilderungen über die Positionen, welche die neuen Staaten einnah-
men.180 Nichtsdestoweniger haben solche Texte häufig auch implizit die Positionen
der Autoren wiedergegeben; dies gilt insbesondere dann, wenn Völkerrechtler die
von ihnen geschilderten Positionen ihrer Heimatländer nicht kritisch hinterfragten
oder diese sogar noch argumentativ unterfütterten.181 So ist es sicherlich als Partei-
nahme zu werten, wenn etwa Sinha und Abi-Saab meinten, dass die unbedingte
Anerkennung der Verbindlichkeit des etablierten Völkerrechts durch die neuen
Staaten einer Anerkennung der westlichen Vorherrschaft und Kompetenz als Welt-
gesetzgeber gleichkäme und Unabhängigkeit und souveräne Gleichheit der ehema-
ligen Kolonien damit bedeutungslos würden.182
Eine unverhohlenere Form der Parteinahme findet sich bei Bedjaoui, der sich
bei seiner Vorlesungen an der Haager Akademie für Völkerrecht mit der Frage der
Bindung der neuen Staaten an das Allgemeine Völkerrecht auseinandersetzte.183
Für ihn stellte sich das Dilemma der Bindungsfrage folgendermaßen dar: Entweder
würden neue Staaten in eine Welt mit unveränderlichen Regeln geboren, die sie zu
respektieren hätten, auch wenn sie ohne oder sogar gegen ihren Willen und ihre
Interessen entwickelt wurden; oder neue Staaten träten in eine sich stetig wandelnde
Rechtsordnung, „to whose actions it of course submits, but on which it imprints its
own reactions, thereby giving it the opportunity to sift through certain customary
rules“.184 Bereits diese Schilderung der Grundsituation durch Bedjaoui entbehrte
nicht einer gewissen Polemik, da das Recht der neuen Staaten, nach ihrem Beitritt
zur Staatengesellschaft an der Änderung des Völkerrechts mitzuwirken, zu keinen
180
Zu dieser Position in der Frage um die Bindung an das Allgemeine Völkerrecht siehe oben.
181
Siehe hierzu schon oben, Kapitel 2.
182
Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967), S. 143; Abi-Saab, The Newly Inde-
pendent States and the Rules of International Law: An Outline, 8 Howard Law Journal
(1962), S. 95, 107.
183
Bedjaoui, Problèmes Récents de Succession d’Etats dans les Etats Nouveaux, 130 Recueil
des Cours (1970 II), S. 455, 472 ff.
184
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 134; ders., Problèmes
Récents de Succession d’Etats dans les Etats Nouveaux, 130 Recueil des Cours (1970 II),
S. 455, 472.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 75
Zeitpunkt zur Debatte stand. Hier zeigt sich Bedjaouis Hang zur Zuspitzung von
Gegensätzen bis hin zur Übertreibung als rhetorisches Stilmittel. Bedjaoui plädierte
entsprechend der Position der neuen unabhängigen Staaten für die erste Alternative.
Zwar könnten sich die ehemaligen Kolonien der Bindung an das Völkerrecht nicht
entziehen; trotzdem sei die allseitige Akzeptanz des Rechts erforderlich.185 Entspre-
chend meinte Bedjaoui:
Cela implique que le nouvel Etats sache, en contrepartie en quelque sorte, à quelles normes
il doit obéir et à quoi il s’engage. L’essence même d’une communauté ouverte est que le
choix de la ‘règle du jeu’ soit effectué d’une commun accord.186
Gegen die erste Alternative sprach für Bedjaoui, dass Normen des Gewohnheits-
rechtes historisch betrachtet nicht selten bestritten worden seien; die UdSSR etwa
habe ihre Bindung an die klassischen Regeln der Staatennachfolge geleugnet, indem
sie sich weigerte, für Schulden und Verträge des Zarenreichs einzustehen.187 Hierin
sah Bedjaoui die Grundsteinlegung dafür, dass der freie Wille Basis des zeitgenös-
sischen Völkerrechts und die Zustimmung zum exklusiven Mittel der Völkerrechts-
setzung geworden sei.188 Dabei hielt Bedjaoui das Gewohnheitsrecht per se für anti-
demokratisch, da es letztlich nur die politischen Entscheidungen der Großmächte
perpetuiere und außerdem angesichts seiner voluntaristischen Begründung nicht zu
erklären vermöge, wieso die neuen Staaten an Normen gebunden sein sollten, an
deren Entstehung sie nicht mitgewirkt hatten und die zu ihrem Nachteil wirkten.189
Der rückwärtsgewandte Formalismus des Gewohnheitsrechts lief für ihn dem Ent-
wicklungsvölkerrecht zuwider.190 Letztlich bezog Bedjaoui daher eine streng volun-
taristisch-souveränitätsorientierte Position der neuen Staaten, wobei er sich auf den
sozialistisch inspirierten französischen Völkerrechtler Charles Chaumont bezog:
Charles Chaumont was right when he said that ‘because the (new) States are completely
sovereign and sovereignty is presumed to be without limitations, they must therefore reveal
their attitude towards any given customary rule, either explicitly or implicitly. By virtue of
the principle of equality, new States, like established States, have the right to participate in the
formulation of rules that apply to them, or at least to accept these rules freely. Consequently
any theory according to which certain States try to impose rules of law upon others, or which
confuses international law with municipal law, is domination under legal cover. This holds
true for custom, as it does for general law of a binding character and for treaties’.191
185
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 135.
186
Bedjaoui, Problèmes Récents de Succession d’Etats dans les Etats Nouveaux, 130 Recueil
des Cours (1970 II), S. 455, 479.
187
Bedjaoui, Problèmes Récents de Succession d’Etats dans les Etats Nouveaux, 130 Recueil
des Cours (1970 II), S. 455, 472, 477.
188
Bedjaoui, Problèmes Récents de Succession d’Etats dans les Etats Nouveaux, 130 Recueil
des Cours (1970 II), S. 455, 477.
189
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 135 f.
190
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 138. Zum Entwick-
lungsvölkerrecht siehe unten, Kapitel 4.
191
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 136; Chaumont, Cours
Général de Droit International Public, 129 Recueil des Cours (1970, I) S. 333, 439.
76 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
192
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 133.
193
Siehe hierzu Kapitel 4 und Teil II Teil III.
194
Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale Elias,
21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 317, 346.
195
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 104.
196
GA, UN Doc A/Res/29/3281 (12. Dezember 1974); siehe auch Tomuschat, Die Charta der
wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten: Zur Gestaltungskraft von Deklarationen
der UN-Generalversammlung, 36 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völ-
kerrecht (1976), S. 444, 457.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 77
As with so many other jurists affiliated or sympathetic to the interests of the Third World,
he was willing to temper his general commitment to anti-formalism with a suspicion of
casual and excessive deformalization, a phenomenon that found expression through the
1970s in increasing efforts to dilute sovereign power by recourse to ‘soft law’ and ‘trans-
national law’.198
197
Zu diesem Begriff siehe Falk, On the Quasi-Legislative Competence of the General
Assembly, 60 American Journal of International Law (1966), S. 782, 785.
198
Özsu, „In the interests of mankind as a whole“: Mohammed Bedjaoui’s New International
Economic Order, 6 Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism,
and Development (2015), S. 129, 134.
199
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 72.
200
Besson, Sovereignty, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2011), Rn. 45.
201
Brierly, The Law of Nations (5. Auflage 1955), S. 46 f.
78 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
Dies entsprach der Position der Völkerrechtler in der Dritten Welt. Besonders deut-
lich fiel Elias’ Kritik am Konzept der Souveränität aus:
Sovereignty is clearly an inconvenient and unnecessary postulate introduced by analytical
jurists to confuse the nature of law with its political presuppositions. Sovereignty has thus
stood in the way not only of a universal acceptance of public international law and other
customary bodies of law as law of property so called, but also making it possible for the
Nation States of the world to accept a supranational authority as the cornerstone of a world
government. In short, sovereignty has given birth to the ever-recurrent crisis of the modern
Nation States.206
Trotz dieser klaren Worte verwarf aber auch Elias das Dogma der staatlichen Sou-
veränität in seiner Konzeption nicht völlig, sondern wollte es im Sinne der Charta
der Vereinten Nationen lediglich eingeschränkt wissen.207 Anand hielt es ebenso
für sinnvoll, an der staatlichen Souveränität in einer eingeschränkteren Konzep-
tion festzuhalten. Angesichts des niedrigen Organisationsgrades der Internationalen
Beziehungen war der souveräne Staat für Anand kein Mythos, sondern notwendige
202
Siehe oben Kapitel 2.
203
Friedman, Half a Century of International Law, 50 Virginia Law Review (1964), S. 1333, 1354.
204
Jessup, A Modern Law of Nations (1949), S. 40.
205
Waldock, General Course on Public International Law, 106 Recueil des Cours (1962, II),
S. 5, 156.
206
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 45.
207
Vgl. auch die Analyse von Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition
of Taslim Olawale Elias, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 317, 326 ff.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 79
The positivists, the strong and faithful champions of such a theory, assume it as a logical
conclusion that the will of states is necessarily the sole source of international law. There is
little doubt, however, that such a theory would amount to a negation of all law and society.
[…] This theory fails to take into account the actual interdependence of states and the need
to curb their independence to suit the conditions of life.210
208
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 77 f.
209
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 82.
210
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 82.
211
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 83. Anand zitierte Lauerpacht, The Development of International Law by the Per-
manent Court of International Justice (1934).
212
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 80.
213
Anand, Confrontation or Cooperation? International Law and the Developing Countries
(1987), S. 87.
214
Siehe hierzu sogleich.
215
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 103.
216
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 103. Abi-Saab stellte die Nähe soziologischer Ansätze
zu den Gesellschaftsvertragstheorien, aber auch zu Triepels Vereinbarungslehre heraus
80 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
Letztlich stand der von Anghie und Chimni beobachteten starken Betonung der
staatlichen Souveränität durch Völkerrechtler in der Dritten Welt also auch eine
gewisse Distanz zu diesem Konzept gegenüber.217 Anghies Kritik am Prinzip der
staatlichen Souveränität geht jedoch weit über die Vorbehalte zeitgenössischer
Autoren hinaus. So war die Souveränitätsdoktrin für Anghie aus der kolonialen
Herausforderung heraus entstanden:
Colonialism was not an example of the application of sovereignty; rather, sovereignty was
constituted through colonialism.218
[S]overeignty is a flexible instrument which readily lends itself to the powerful imperatives
of the civilizing mission, in part because it is through engagement with that mission that
sovereignty extends and expands its reach and scope.220
Die staatliche Souveränität habe daher gegen die Versuche der TWAIL I etwa im
Zusammenhang mit der Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung gearbei-
tet.221 Während Völkerrechtler in der Dritten Welt sich also von der Souveränität
der neuen Staaten einen Neuanfang und den Aufbau eines auf tatsächlicher Zustim-
mung basierenden Systems versprochen hätten, gingen westliche Autoren laut
Anghie von einem bedingten Souveränitätsverständnis aus, dass als europäisches
Konzept nur unter der Voraussetzung der Anerkennung des europäisch geprägten
Völkerrechts greifen sollte.222 Ähnlich meint Pahuja, dass die TWAIL I Souveränität
als die Möglichkeit verstanden, Recht zu setzen, wobei die europäische Herkunft
des Souveränitätsprinzips für sie im Hintergrund stand:223 Es ging also um kein
stringentes juristisches Konzept, sondern um ein politisches:
I argue that the Third World’s invocation of sovereignty as a political capacity with juridical
and economic effects (rather than a juridical capacity with political and economic effects)
was a call on and for ‘bare sovereignty’, or sovereignty as such. A juridical understan-
ding of sovereignty logically presupposes a legal order in which that juridical form is itself
recognised as valid, or legal. A call to political sovereignty, on the other hand, does not
presuppose an external determinant.224
217
Siehe Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual
Responsibility in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 81.
218
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 38.
219
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 235.
220
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 114.
221
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 11.
222
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 201, 213.
223
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 110 ff.
224
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 112.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 81
Anand stellte damit die Effektivität des Völkerrechts ins Zentrum der Überlegungen
und maß ihr dementsprechend eine größere Bedeutung bei als abstrakten Erwägungen
juristischer Logik. Dabei half Anand seine soziologisch inspirierte Methodik, welche
die vom Westen oft verurteilte Politisierung des Rechts durch die Dritte Welt nicht
nur erlaubte, sondern geradezu geboten scheinen ließ. In der soziologischen Jurispru-
denz wurde Recht als Mittel zum Zweck und nicht als Selbstzweck gesehen.227 Das
Recht galt als wichtigstes Instrument sozialer Kontrolle. Anand sah das Völkerrecht
dabei als in Wechselwirkung zu kontextualen Veränderungen stehenden, in ständiger
225
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 112 f.
226
Anand, New States and International Law (1972), S. 70 ff. Anand zitiert O’Connel, Inde-
pendence and Problems of State Succession, in O’Brien (Hrsg.), The New Nations in Inter-
national Law and Diplomacy (1965), S. 12 f. Zur Frage, nach welchen Bestimmungsfaktoren
sich diese Interessen richteten, siehe unten, Kapitel 4.
227
Vgl. Pound, Jurisprudence, Band I (1959, Nachdruck 2008), S. 293.
82 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
Bewegung befindlichen Prozess an.228 So sei eine Norm nur dann als effektiv zu
betrachten, wenn sie auf eine gewisse Resonanz in der Gesellschaft träfe:
Law, it has been well said, is not a constant in a society, but is a function. In order that
it may be effective, it ought to change with changes in view, powers, and interests in the
community.229
Anand kannte also einerseits Jenks’ Idee der Weltgemeinschaft an, entwickelte
hieraus jedoch nicht wie Jenks eine automatische Bindung der neuen Staaten an
das Allgemeine Völkerrecht; stattdessen kam er zu der Folgerung, das Recht müsse
sich mit den Bedürfnissen der Weltgemeinschaft fortentwickeln und könne, sofern
es diese Entwicklung nicht berücksichtige, nicht verbindlich sein. Anand war dabei
stark von Falks Ansatz geprägt, nach dessen Ansicht es schlicht nicht den Realitäten
des internationalen Lebens entspräche, dass ein Staat nicht am Verkehr innerhalb
der Staatengemeinschaft teilhaben könne und dürfe, solange er nicht das Völker-
recht akzeptiert hätte, dessen Regeln ihn erst zum Staat machten.230 Damit gehörte
Falk zu den wenigen westlichen Autoren, die sich gegen eine automatische Bindung
der neuen Staaten an das Allgemeine Völkerrecht aussprach.231 Vielmehr, so Falk,
stehe etwa der Beitritt zu den Vereinten Nationen den neuen Staaten ungeachtet
dieser angeblichen Voraussetzung offen und erfolge beinahe automatisch.232 Falk
bevorzugte in diesem Zusammenhang dementsprechend eine funktionale Lösung:
But it may also be true that the partial repudiation or alteration of the inherited system is
of greater benefit to a particular new state than is the maintenance of a legal framework
of inherited rights and duties. No approach based on juristic logic can handle the choice,
which is in the nature of balancing values and interests from the perspective of each state.
The rational exercise of the choice depends on the particular or existential balance of percei-
ved interests in relation to outstanding disputes, rather than upon any principle of logic.233
Tatsächlich könne das Völkerrecht seine Funktion des Interessenausgleichs und der
Kooperation nur dann erfüllen und insofern effektiv sein, wenn die verschiedenen staat-
lichen Interessen in einem für alle Parteien zufriedenstellendem Maße berücksichtigt
228
Anand, New States and International Law (1972), S. 71. Anand zitiert hier McDougal,
International law, Power and Policy: A Contemporary Conception, 82 Recueil des Cours
(1953, I), S. 137, 156.
229
Anand, New States and International Law (1972), S. 46.
230
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II),
S. 1, 27.
231
Einige weitere Ausnahmen finden sich in der französischen zeitgenössischen Völkerrechts-
wissenschaft, siehe beispielsweise Chaumont, Cours Général de Droit International Public,
129 Recueil des Cours (1970, I) S. 333, 439.
232
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II),
S. 1, 27.
233
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II),
S. 1, 27 f.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 83
würden.234 Gegen das Genügen eines impliziten Konsenses führte Falk also die soziale
Funktion des Völkerrechts an. Eine Bindung der neuen Staaten an das Allgemeine
Völkerrecht ohne oder gegen deren tatsächlichen Willen lehnte Falk ab und forderte
stattdessen eine Evaluierung und Überarbeitung der bestehenden völkerrechtlichen
Normen, um diese auch den Interessen der neuen Staaten anzugleichen und zum gegen-
seitigen Vorteil aller Staaten zu gestalten.235 Dementsprechend folgerte auch Anand:
It is no use arguing that a state once it is recognized as a state is bound by each and every
rule of international law.236
Auch Abi-Saab maß dem Völkerrecht die Funktion bei, einen akzeptablen Grad
an Weltordnung aufrechtzuerhalten.237 Zentral hierfür war laut Abi-Saab eine
gewisse Stabilität, die aber nicht mit unreflektierter Aufrechterhaltung des status
quo gleichzusetzen sei.238 Vielmehr müsse die Völkerrechtsordnung den Interes-
sen der Staaten insoweit entsprechen, dass nicht ständige Versuche unternommen
würden, die Ordnung zu ändern.239 Erforderlich sei ein in diesem Sinne effektives
Völkerrecht:
Thus, it is only if the international legal order provides the means and procedures for its
own adaption to its social and physical environment and for orderly social change and a
measure of distributive justice in the relations it regulates (…) that the international legal
order would be reflecting the necessary conditions of world order.240
234
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II),
S. 1, 28 f.
235
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1,
31. Zur Überarbeitung der Völkerrechtsordnung siehe unten, Kapitel 4.
236
Anand, New States and International Law (1972), S. 71.
237
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 27.
238
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 28.
239
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 28.
240
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 29.
241
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 106.
242
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 111.
84 Kapitel 3: Die Entstehung der Bindungsdebatte in Folge der Kritik der Völkerrechtler
das soziale Gleichgewicht, könne die Norm damit nur bis zu einem gewissen Grad
umgehen.243 War dieser Grad überschritten, so habe das Recht sich selbst überlebt.
Formales Recht außerhalb des relevanten sozialen Kontexts war für Bedjaoui eine
reine Fiktion.244
[B]y detaching law in this way from the reality it governs and imprisoning it in legal for-
malism, lawyers end by mummifying law and worshipping it for its own sake. This legal
paganism turns law into a new religion centered on itself, whereas it is in fact a science
embedded in reality and performing the eminently social function of regulating relation-
ships between individuals internally and between States externally.245
Vor diesem Hintergrund sei eine vollumfängliche Bindung an die etablierte Völker-
rechtsordnung unabhängig vom Willen der neuen Staaten abzulehnen. Die neuen
Staaten müssten dem Allgemeinen Völkerrecht zumindest implizit zustimmen:
If, in addition, this agreement is lacking as far as the majority of States is concerned, the
rule inevitably loses some of its obligatory force.246
Nach Ansicht der soziologisch wie der sozialistisch geprägten Völkerrechtler musste
sich das Recht den neuen Entwicklungen anpassen, da es andernfalls seine Exis-
tenzgrundlage und -berechtigung verlieren und in die Irrelevanz abdriften würde.
An solche Normen konnten die neuen Staaten aus Sicht der Völkerrechtler in der
Dritten Welt nicht gebunden sein. Die Steuerungskraft des Völkerrechts würde nur
durch einen festen Rückhalt in der Staatengemeinschaft gesichert werden können.247
Das Völkerrecht müsse von den neuen Staaten tatsächlich akzeptiert werden, um
seiner sozialen Funktion gerecht werden zu können.248 Anknüpfend an die uto-
pische Idee einer Weltgemeinschaft, mit der das Völkerrecht auch und gerade im
Wandel untrennbar verbunden sei, kamen die Völkerrechtler in den neuen unabhän-
gigen Staaten also zu einer apologetischen Argumentation, welche letztlich wie die
Berufung auf die staatliche Souveränität und Gleichheit an den staatlichen Willen
anknüpfte. Erst bei diesem zweiten Argumentationsstrang der Völkerrechtler in den
neuen Staaten wird jedoch deutlich, dass diese die Stabilität der Völkerrechtsord-
nung für ebenso essentiell hielten wie die Autoren in den neuen Staaten. Während
die konservative Sicht Stabilität mit einer weitestgehenden Aufrechterhaltung des
243
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 106.
244
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 99.
245
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 100.
246
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 102.
247
Vgl. Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An
Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 102, 121.
248
Castañeda, The Underdeveloped Nations and the Development of International Law, 15
International Organization (1961), S. 39; Abi-Saab, The Newly Independent States and the
Rules of International Law: An Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 101; Anand,
New States and International Law (1972), S. 46, 49, 83; Poulose, Succession in International
Law: A Study of India, Pakistan, Ceylon and Burma (1974), S. 2.
II. Die Frage der Bindung der Dritten Welt an die etablierte Völkerrechtsordnung… 85
status quo und die Bindung neuer Staaten an denselben assoziierten, verbanden
die progressiven Ansätze Stabilität mit stetiger Veränderung. Hier zeigt sich, dass
sich innerhalb des völkerrechtlich zulässigen Argumentationsrahmens verschiedene
konkurrierende Ergebnisse in einer beliebigen rechtlichen Debatte rechtfertigen
lassen und jede Position im rechtlichen Diskurs damit gleichzeitig eine politische
Position darstellt. In der Frage um die Bindung an das Allgemeine Völkerrecht
machten sowohl Völkerrechtler im Westen wie auch jene aus der Dritten Welt die
Stabilität der Völkerrechtsordnung zu ihrem Ziel, das der Westen durch eine utopi-
sche und die neuen Staaten durch eine apologetische Argumentation zu erreichen
suchten und dadurch zu gegensätzlichen Norminhalten gelangten.
Auffallend ist weiter, dass die Völkerrechtler in der Dritten Welt das Recht ihrer
Heimatstaaten zum „pick and choose“ im Ergebnis bestätigten. Es ging gerade nicht
um eine grundsätzliche theoretische Evaluierung der gesamten Völkerrechtsord-
nung;249 stattdessen sollten die neuen Staaten ganz pragmatisch entsprechend ihrer
Interessen entscheiden können. Dies läuft der Diagnose der Völkerrechtler in der
Dritten Welt bezüglich des kolonialen Impetus der etablierten Völkerrechtsordnung
insofern zuwider, als dass nicht erklärt wird, inwiefern manche der im kolonialen
System entstandene Normen in ihrer spezifischen Funktion im Geflecht der etablier-
ten Völkerrechtsordnung grundsätzlich den Interessen der neuen Staaten entspre-
chen können sollten und andere nicht. Dieses Problem zeigt sich bereits dadurch,
dass die Völkerrechtler in den neuen Staaten das Souveränitätsprinzip durchaus
ambivalent betrachteten. Aber auch die auf soziologischen bzw. sozialistischen
Ideen fußende Position der Völkerrechtler in den neuen Staaten führte letztlich zu
einem voluntaristischen Standpunkt in der Frage nach der Bindung der ehemali-
gen Kolonien an das Allgemeine Völkerrecht und stand so im Widerspruch zu der
Vision der Völkerrechtler in der Dritten Welt von einer neuen globalsolidarischen
Völkerrechtsordnung.250 Insofern ist der Vorwurf an die erste Generation von Völ-
kerrechtlern in der Dritten Welt, praktikable Lösungen der theoretischen Stringenz
vorgezogen zu haben,251 durchaus berechtigt.
249
Dies betont Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 135.
250
Siehe unten, Kapitel 4.
251
Siehe beispielsweise Rajagopal, International Law from Below: Development, Social
Movements and Third World Resistance (2004), S. 26 ff.
Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler
in der Dritten Welt in das Völkerrecht
Aus der Kritik an der etablierten Völkerrechtsordnung und der mangelnden Bindung
ergab sich die Notwendigkeit der Änderung völkerrechtlicher Regelungen: Denn
das Wahlrecht der ehemaligen Kolonien, welche Regeln des Allgemeinen Völker-
rechts sie akzeptierten und welche nicht, führte im Fall der negativen Ausübung
zu neuen völkerrechtlichen Regelungslücken. Um diese zu beseitigen, sollten neue
Regeln des Völkerrechts entwickelt werden, welche die Interessen aller Staaten in
hinreichendem Maße berücksichtigten. Die Völkerrechtler in den neuen Staaten
glaubten dabei an die Möglichkeit und auch die Notwendigkeit, das Völkerrecht aus
sich heraus evolutiv zu verändern und eine wahrhaft universale Völkerrechtsord-
nung zu errichten (I.). Die Vorstellungen der Völkerrechtler in den neuen Staaten,
wie eine solche universale Völkerrechtsordnung auszusehen hätte, lässt sich dabei
als „Globalsolidarisches Projekt“ beschreiben, dessen Verwirklichung die Debatte
um die Bindungsfrage letztlich dienen sollte (II.).
Auf Grund der staatlichen Souveränität und der sich hieraus ergebenden souveränen
Gleichheit der neuen Staaten und ausgehend von der soziologisch bzw. sozialistisch
geprägten Theoriebildung der Völkerrechtler in der Dritten Welt verweigerte sich
der globale Süden einer nonkonsensualen Bindung an die etablierte Völkerrechts-
ordnung. Die ehemaligen Kolonien sollten das Recht haben, jede Norm dahinge-
hend zu überprüfen, ob sie den Interessen der Dritten Welt entsprach oder nicht.
War letzteres der Fall, so musste das Recht aus der Perspektive der Völkerrechtler in
den neuen unabhängigen Staaten geändert werden. Dieses Bedürfnis bestand dabei
laut Abi-Saab gänzlich unabhängig von der völkerrechtstheoretischen Ausrichtung:
Even naturalist and contractualist theories allow for the right of revolution when the legal
system becomes intolerable to its recipients and is at variance with their interests. This is
exactly the moral basis for the demand for a transformation of international law by the
newly independent states.1
Die Völkerrechtler in den neuen Staaten hielten eine solche Transformation des
Völkerrechts für erforderlich. Dabei spielte die koloniale Vergangenheit der neuen
Staaten wiederum eine Sonderrolle gegenüber anderen Fällen der Entstehung neuer
Staaten, wie Abi-Saab betonte:
Revision has come to be considered, both in the inter-war period and at present, as a dirty
word, an excuse or the aggressors to grab what they can lay their hands on. But the situation
is now radically different. Revision is needed not to redistribute colonies and spheres of
influence between a few big powers, but to redress the balance of centuries of domination
and exploitation by these big powers of the newly independent states. The justice of the
latter’s claim for revision is beyond doubt. Revision is needed now not only in specific
situations, subjective rights or contract-treaties, but also in the general rules of international
law themselves.2
1
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 103.
2
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 119. Zu den von Anand erwähnten spezifischen Fragen
der Bindung siehe unten, Teil II und Teil III.
3
Anand, New States and International Law (1972), S. 46.
I. Das Universalisierungspotential des Völkerrechts89
Andernfalls bestünde die Gefahr, dass das Völkerrecht seine Effektivität und die
Internationale Ordnung damit ihre Stabilität einbüße.4 Anand bezog sich hier auf
Röling, der davon ausging, dass die Menschheit nur durch den Wandel der etab-
lierten Völkerrechtsordnung in ein universales System einer globalen Katastrophe
entgehen könne, da das Scheitern einer friedlichen Evolution auf globaler Ebene zur
blutigen Revolution führen würde.5 Ziel dieser Evolution war die Errichtung einer
Völkerrechtsordnung, die den Interessen aller Staaten dienen sollte und insofern
universal war. Mit den Worten von Anand:
Today, with the reappearance of the new African-Asian states, the international society
has become universal. The traditional international law, the parochial law of the European
Powers, is bound to be affected by the new sociological structure of the society. While a
large part of this law is fairly reasonable, useful and adjustable to the new international
social structure, and cannot and should not be discarded, it requires complete overhaul and
adaption to new circumstances. Like the present society and the classical international law,
it must become universal to serve the interests of all the states, and help in the establishment
of peace and security. In order to command respect to all the states it must extend from a
European national law to a common law of mankind.6
Auch hier kommt die bereits oben beschriebene7 Verknüpfung einer apologetischen
Position in Bezug auf die Einzelinteressen der souveränen Staaten mit der utopi-
schen Position in Bezug auf die Interessen der Weltgemeinschaft zum Ausdruck,
welche für die – sich als Kompromiss zwischen voluntaristischen und naturalisti-
schen Ansätzen verstehende – „soziologische Jurisprudenz“ typisch ist.
Durch Anands Zitat wird außerdem deutlich, dass Universalität für die Völker-
rechtler der ersten Generation in der Dritten Welt ein durchweg positiv besetzter
Begriff war. Für Anand hatte die Dekolonialisierung zur Universalisierung der
Internationalen Gemeinschaft geführt, da die ehemaligen Kolonien nun auch zu
den Mitgliedern der Weltgemeinschaft gehörten und diese insofern weltumfassend
sei. Diese Frage der Ausdehnung der Internationalen Ordnung wird heute auch als
formale Universalität bezeichnet.8 Entscheidend sei dabei nicht allein die globale
Geltung des Völkerrechts, die schon zur Jahrhundertwende bestanden hatte, sondern
die Tatsache, dass die ehemaligen Kolonien nun Subjekte und nicht mehr bloße
Objekte dieses Völkerrechts waren.9 Aus der formalen Universalität ergab sich für
4
Siehe oben, Kapitel 3.
5
Konkret bestand die Sorge einer Revolution nach den Vorbildern in Frankreich und Russ-
land, nur auf globaler Ebene. Röling, International Law in an Expanded World (1960),
S. 124 f.; Anand, New States and International Law (1972), S. 115.
6
Anand, New States and International Law (1972), S. 114.
7
Siehe oben, Kapitel 3.
8
Siehe auch Nollkaemper, Universality, Max Planck Encyclopedia of Public International
Law (2013), Rn. 1 ff.; Simma, Universality of International Law from the Persepctive of a
Practitioner, 20 European Journal of International Law (2009), S. 265, 267.
9
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 97 f.
90 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
Anand die Notwendigkeit, dass das Völkerrecht den Interessen aller Staaten dienen
müsse und insofern Universalität erreichen müsse. Dieses Ziel der Völkerrechtler
in der Dritten Welt kann als materielle Universalität bezeichnet werden.10 Diese
unterschiedlichen Universalitätsbegriffe haben jedoch mit der Zeit eine Deutungs-
verschiebung erfahren, so dass sich Vertreter der TWAIL II heute kritisch mit dem
Begriff der Universalität auseinandersetzen. Dies zeigt das folgende Zitat von
Pahuja:
[A] certain set of parochial values came to be elevated to the universal at precisely that
moment that the international community now celebrates in retrospect as the origin of the
‘real’ or ‘true’ universalisation of international law. Unpacking this concentrated moment
of ‘universalisation’ calls into question one of international law’s abiding myths, namely
the equivalence drawn between formal decolonization and the ‘universalisation’ of inter-
national law.11
In den Jahrzehnten nach der Dekolonialisierung sei diese also mit der Universa-
lisierung der Völkerrechtsordnung begrifflich gleichgesetzt worden, womit die
Universalität zum kritischen Begriff wurde, der die tatsächlichen Strukturprob-
leme verschleiere. Aus der ante-hoc-Sicht vieler Vertreter der TWAIL II waren die
meisten Projekte der ersten Generation von Völkerrechtlern in den neuen Staaten
gescheitert; durch die Dekolonialisierung habe sich die Völkerrechtsordnung daher
wenig verändert.12 In der Bedeutungszuschreibung der TWAIL I galt jedoch nur
die Völkerrechtsgemeinschaft als (formal) universal; die (materielle) Universalität
der Völkerrechtsordnung sollte durch die Überschreibung völkerrechtlicher Normen
mit kolonialem Impetus gerade erst hergestellt werden.
Dabei war die Errichtung einer materiell universalen Völkerrechtsordnung nach
der Dekolonialisierung nicht nur das Ziel der Autoren in der Dritten Welt, sondern
auch vieler Völkerrechtler im Westen gewesen. Sogar Völkerrechtler in der Sowjet-
union, in der das Völkerrecht eigentlich nur als Rechtsordnung der Übergangszeit
10
Siehe auch Nollkaemper, Universality, Max Planck Encyclopedia of Public International
Law (2013), Rn. 5 ff.; Simma, Universality of International Law from the Persepctive of a
Practitioner, 20 European Journal of International Law (2009), S. 265, 267 f.
11
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 101. Anghies Universalitätsbegriff ähnelt dem von Pahuja: „Inter-
national law is universal. It is a body of law which applies to all states regardless of their
specific and distinctive cultures, belief systems and political organizations. It is a common
set of doctrines which all states, whether from Europe or Latin America, Africa or Asia use to
regulate relations with each other. The association between international law and universality
is so ingrained that pointing to this connection appears tautologous; it is today hard to con-
ceive of an international law which is not universal. And yet, the universality of international
law is a relatively recent development. It was not until the end of the nineteenth century that a
set of doctrines was established as applicable to all states, whether these were in Asia, Africa
or Europe.“ Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008),
S. 32.
12
Pahuja, Decolonization and the Eventness of International Law, in Johns/Joyce/Pahuja
(Hrsg.), Events: The Force of International Law (2011), S. 91, 101.
I. Das Universalisierungspotential des Völkerrechts91
betrachtet wurde,13 hielten dieses Ziel für realistisch. So meinte der polnische Jurist
Marion Mushkat:
[I]n spite of the political disunity of the world there exists a growing prospect that human
society may yet witness a development of international law of such dimensions that it will
ultimately become a law of a universal community of men.14
Viele Studien setzten sich dabei überwiegend wohlwollend mit den Besonderhei-
ten und Bedürfnissen der ehemaligen Kolonien in den Internationalen Beziehungen
auseinander. In akademischen Kreisen war man sich weitgehend einig, dass die eta-
blierte Völkerrechtsordnung den geänderten Umständen angepasst werden sollte.15
Nur vereinzelt wurde die Eingliederung der neuen Staaten in die etablierte Ordnung
als Rückschritt empfunden:
Too little weight has been given to the devastating inroads which the myth of universality has
chiseled into the very foundations of traditional international law. Some, it is true, appear to
regard this as a good thing; but a complete evaluation must impeach the practice of admitting
into the Society of Nations primeval entities which have no real claim to international status
or the capacity to meet international obligations, and whose primary congeries of contributi-
ons consists in replacing norms serving the common interest of mankind by others releasing
them from inhibitions upon irresponsible conduct. (…) An undignified compulsion to admit
these entities as full-blown members of the international society upon achieving ‘indepen-
dence’ has impeded, not advanced, the emergence of a mature code of conduct.16
13
Zur sowjetischen Völkerrechtsdoktrin siehe bereits oben, Kapitel 3.
14
Mushkat, Some Remarks on the Factors Influencing the Emergence and Evolution of Inter-
national Law, 8 Netherlands International Law Review (1961), S. 341, 359.
15
So auch die Einschätzung von Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of Inter-
national Law (2008), S. 201.
16
Freeman, Professor McDougal’s “Law and Minimum World Public Order”, 59 American
Journal of International Law (1964), S. 711, 712. Freeman setzte sich mit dieser Äußerung
harscher Kritik aus, siehe Falk, International Legal Order: Alwyn V. Freeman vs. Myres
McDougal, 59 American Journal of International Law (1965), S. 66, 67. Den vereinzelt
beachtlichen Gegenwind von Westen nahmen auch Völkerrechtler aus den neuen Staaten
wahr, vgl. Anand, New States and International Law (1972), S. 66; Abi-Saab, The Newly
Independent States and the Rules of International Law: An Outline, 8 Howard Law Journal
(1962), S. 95, 120.
17
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 33.
92 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
establish a universal legal system. All agree on the desirability of universality as an ideal for
international law. All agree also that international law must be liberated from a provincial
identification with a particular culture. Disagreement centers upon the degree of existence
and feasibility of legal universality, given the present structure and climate of international
affairs.18
18
Falk/Mendlovitz, Some Criticism of C. Wilfred Jenks’ Approach to International Law.
14 Rutgers Law Review (1959-1960), S. 1, 4 f.
19
Friedmann, The Changing Structure of International Law (1964), S. 322.
20
Friedmann, The Changing Structure of International Law (1964), S. 298.
21
Friedmann, The Position of Underdeveloped Countries and the Universality of Interna-
tional Law, 1 & 2 Columbia Journal of Transnational Law (1961-1963), S. 78, 79. Dabei
sah Friedmann zumindest einen wesentlichen Teil der völkerrechtlichen Normen auf Grund
übereinstimmender Interessen aller Staaten als universell an, so insbesondere das Koexis-
tenzrecht. Friedmann namentlich über das Koexistenzrecht. Ders., The Changing Structure
of International Law (1964), S. 297.
22
Vgl. Naturalistic and Cultural Foundations for a More Effective International Law, 59 Yale
Law Journal (1950), S. 1430, 431 ff.; ähnlich Mus, Buddhism and World Order, 95 Daedalus
(1966), S. 813, 827.
I. Das Universalisierungspotential des Völkerrechts93
Pluralismus aufbauen.23 Northrop hielt damit anders als Friedmann die nationalen
Interessen nicht für den einzig relevanten Bestimmungsfaktor der Außenpolitik
eines Staates:
To suppose, therefore, that a trustworthy theory for relating nations can be grounded upon
a mere balancing of them as power factors is like treating the ninety-odd chemical elements
with their radically diverse reactions in different combinations as if they were identical
physical entities determined as to their behavior by one physical property only, namely their
respective masses.24
Auch für Jenks bestand der Weg zu einer materiell universalen Völkerrechtsordnung
in einem multikulturellen Völkerrecht, das auf den Rechtstraditionen der alten wie
der neuen Staaten fußen solle und dadurch universale Autorität für sich beanspru-
chen können würde.25
Nach der Rechtstheorie des Völkerrechtlers Myres Smith McDougal und des Poli-
tikwissenschaftlers Harold Dwight Lasswell, beide US-Amerikaner und Begründer
der Schule von New Haven,26 versuchten Menschen in einem weltweiten gesellschaft-
lichen Prozess, durch verschiedene Institutionen und unter der Verwendung von
Ressourcen bestimmte Werte zu verfolgen.27 Die Universalität des Rechts setzte für
McDougal und Lasswell daher die Universalität dieser Werte voraus.28 Dabei wollten
McDougal und Lasswell die für einen solchen Wertekonsens ausschlaggebenden
nationalen Interessen nicht isoliert von ihrer kulturellen Prägung betrachtet wissen:
Friedmann’s general assumption (which even he cannot follow) that cultural factors do
not affect interests, would not appear to have much support in history. His inconsistency
here seems to stem from a confusion of objectives and strategies. Arguably, a democratic
and a totalitarian state will conduct their formal interstate relations by means of the same
23
Northrop, The Taming of Nations (1952), S. 308. Methodisch forderte er eine neue Wissen-
schaft von den Internationalen Beziehungen, die sich auf kultursoziologische, kulturanthro-
pologische und kulturphilosophische Erkenntnisse stützen solle, siehe ders., The Taming of
the Nations (1952), S. 3.
24
Northrop, The Taming of the Nations (1952), S. 3.
25
Vgl. Jenks, The Common Law of Mankind (1958), S. 87 ff. Jenks ging dabei jedoch davon
aus, dass die etablierte Völkerrechtsordnung bereits weitgehend materiell universal sei.
26
Siehe zur Schule von New Haven Reisman/Wiessner/Willard, The New Haven School:
A Brief Introduction, 959 Faculty Scholarship Series Paper (2007), S. 575, 575, Fn. 2.
27
McDougal/Lasswell, The Identification and Appraisal of Diverse Systems of Public Order,
53 American Journal of International Law (1959), S. 1, 6 ff.
28
McDougal/Lasswell, The Identification and Appraisal of Diverse Systems of Public Order,
53 American Journal of International Law (1959), S. 1, 2 f. Ein entsprechender Wertekonsens
bestand für McDougal und Lasswell in Mitten des Kalten Krieges jedoch gerade nicht. Sie
hielten das Postulat einer materiell universalen Völkerrechtsordnung sogar für gefährlich,
da durch diese Mystifizierung die tatsächliche Uneinigkeit über die Regelungen des Völker-
rechts verschleiert würde. Der Fokus lag bei McDougal und Lasswell freilich nicht auf der
unterschiedlichen Ideologie von neuen und alten Staaten; ihre Aufmerksamkeit galt vielmehr
dem Kampf gegen den Totalitarismus der UdSSR.
94 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
strategies; but their objectives in terms of immediate and long-range value allocation will be
affected by the more general perspectives that condition all of their actions, and may differ
greatly in particular context.29
29
McDougal/Reisman, The Changing Structure of International Law: Unchanging Theory for
Inquiry, 65 Columbia Law Review (1965), S. 810, 831.
30
McDougal/Lasswell, The Identification and Appraisal of Diverse Systems of Public Order,
53 American Journal of International Law (1959), S. 1, 4 f.
31
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 16.
32
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 40.
33
Falk, The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 31.
34
Anand, New States and International Law (1972), S. 51; Okoye, International Law and the
New African States (1972), S. 208 ff.; anders Elias, Africa and the Development of Interna-
tional Law (1972), S. 33: „[M]odern international law must be based on a wider consensus, in
the sense that it must be a reflection of the principal legal systems and cultures of the world.
There is already emerging an ‘international law in a changing world’.”
35
Anand, New States and International Law (1972), S. 116; Abi-Saab, The Third World and
the Future of the International Legal Order, 29 Revue Egyptienne de Droit International
(1973), S. 27, 37; Sinha, New Nations and the Law of Nations (1967), S. 11.
I. Das Universalisierungspotential des Völkerrechts95
the fact that major legal systems, whether of the West or the East, are in many fundamental
respects unified and contain similar principles of law and justice, such views, as Professor
Lissitzyn correctly points out, not only tend to ‘overlook the diversity of approaches to law
that exist both in the Western as well as the non-Western part of the world’, but ignore the
fact that even ‘the Western cultural tradition is no guarantee of adherence to the ‘rule of law’
in either domestic or internal affairs.’36
Die Tatsache, dass sich die Großzahl der westlichen Autoren für die kulturellen
Besonderheiten der neuen Staaten sensibler gezeigt hatten, als die Völkerrechtler in
den ehemaligen Kolonien selbst, veranlasste Anand zu folgender Äußerung:
In fact, strange as it may seem, there is no noticeable tendency amongst the Asian and African
states to regard international law as a product of the Western civilization or reject it on that
basis. Such views are generally expressed by Western scholars who advocate a ‘new approach’
to international law and its diversification. These Western scholars are of course sometimes
quoted by authors from new states to express discontent with international law. But, as Pro-
fessor Boutros-Ghali points out, ‘It appears that Western scholars are more enthusiastic to see
a ‘new approach’ on the part of the Afro-Asians than the Afro-Asians themselves.’37
Die Betonung der politischen Interessen gegenüber der spezifischen Kultur stand
dabei auch im Zeichen der Idee der Dritten Welt an sich, die Staaten mit unter-
schiedlichen kulturellen Hintergründen auf Grund ihrer gemeinsamen politischen
Interessen einen sollte.38 Diese Position bot jedoch auch Zündstoff für Situationen,
in denen die ehemaligen Kolonien auf Grund nationaler Besonderheiten unter-
schiedliche Interessen vertraten.39 Gleichzeitig warben die Völkerrechtler in den
neuen Staaten, indem sie Friedmanns Position übernahmen, auch um Verständnis
für ihre Heimatländer: Sie stellten deren Verhalten in den Internationalen Bezie-
hungen nicht als Spezifikum des globalen Südens dar, sondern als von der politi-
schen und ökonomischen Lage geprägte Position, die Staaten in derselben Lage in
West und Ost ebenso eingenommen hätten bzw. tatsächlich eingenommen haben.40
Gleichzeitig diente das Herunterspielen der Bedeutung kultureller Unterschiede
auch dazu, Vorurteilen und Diskriminierung vorzubeugen41 und stand auch im
36
Anand, New States and International Law (1972), S. 50; Lissitzyn, International Law in a
Divided World, 542 International Conciliation (1963), S. 3, 59 f.
37
Anand, New States and International Law (1972), S. 52. Anand zitierte hierzu Shihata, The
Attitude of New States Toward the International Court of Justice, 19 International Organiza-
tion (1965), S. 203, 213 f.
38
Vgl. Anand, New States and International Law (1972), S. 51.
39
Siehe hierzu Teil II und Teil III.
40
Anand, New States and International Law (1972), S. 51.
41
Ein Beispiel bildet die angebliche Zurückhaltung der neuen Staaten gegenüber Streitbei-
legungsmechanismen wie dem IGH, siehe Anand, New States and International Law (1972),
S. 49; Shihata, The Attitude of New States Toward the International Court of Justice, 19 Inter-
national Organization (1965), S. S. 203, 203 ff.; Romano, International Justice and Deve-
loping Countries: A Quantitative Analysis, 1 Law and Practice of International Courts and
Tribunals (2002), S. 367, 367 ff.
96 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
Für die Völkerrechtler in den neuen Staaten war eine materielle Universalisierung
des Völkerrechts das erklärte Ziel, das es unter Beachtung der nationalen Interessen
der ehemaligen Kolonien zu erreichen galt; nur wenige von ihnen beschäftigten sich
jedoch auch ausführlich mit der Frage, ob dieses Ziel durch das etablierte Völker-
recht überhaupt erreicht werden konnte. Von der Notwendigkeit der Anpassung der
etablierten Völkerrechtsordnung ging beispielsweise Anand direkt zu deren Mitteln
und Wegen über, ohne in Frage zu stellen, ob eine solche Anpassung möglich war;
dies schien er vielmehr vorauszusetzen.43 Er war wie viele westliche Autoren ohne
Weiteres davon überzeugt, dass das Völkerrecht in seinem bestehenden Rahmen
zu einer materiell universalen Rechtsordnung verändert werden könne.44 Dies
überrascht deshalb, weil die Kritik der Völkerrechtler in der Dritten Welt an der
etablierten Völkerrechtsordnung Probleme bei der Realisierung eines materiellen
Völkerrechts durch die etablierte Völkerrechtsordnung mit ihrer kolonialen Prägung
durchaus nahelegte.
Manche Völkerrechtler nahmen sich der Thematik an, behandelten sie jedoch als
weitgehend unproblematisch. Für Abi-Saab hatten die geänderten Umstände und
die Forderungen der Dritten Welt die internationale Ordnung destabilisiert, was
jedoch nicht unbedingt nachteilig sein musste:
Stability is not a virtue in itself, however. Stability is a positive value only from a formal
or systems point of view; it is not necessarily so from the qualitative point of view of the
content of the system, i.e. the functions it purports to perform and the values and interests
in purports to protect. Thus, initial disruption may be beneficial if it leads to qualitative
improvement in the system, hence to a higher level of satisfaction of needs and demand.45
42
Siehe oben, Kapitel 2.
43
Vgl. Anand, New States and International Law (1972), S. 72 f.
44
Für die westliche Debatte siehe beispielsweise Mus, Buddhism and World Order, 95 Dae-
dalus (1966), S. 813, 827; McDougal/Lasswell, The Identification and Appraisal of Diverse
Systems of Public Order, 53 American Journal of International Law (1959), S. 1, 4 f.; Falk,
The New States and International Legal Order, 118 Recueil des Cours (1966-II), S. 1, 31;
Mushkat, Some Remarks on the Factors Influencing the Emergence and Evolution of Inter-
national Law, 8 Netherlands International Law Review (1961), S. 341, 359.
45
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 64.
I. Das Universalisierungspotential des Völkerrechts97
Das Völkerrecht habe sich dabei durchaus anpassungsfähig gezeigt.46 Abi-Saab war
jedoch davon überzeugt, dass das Völkerrecht sich nicht nur den Realitäten anpas-
sen musste und konnte, sondern dass es sogar umgekehrt positiven Einfluss auf die
Internationalen Beziehungen ausüben könnte:
This means that the international legal order should not just reflect the actual existing situa-
tion, the existing international system with […] all its imperfections, but should be a factor
in remedying these imperfections and bringing about a change in the international system
[…].47
Bedjaoui stellte zunächst fest, dass Regeln des Völkerrechts wie alles Recht grund-
sätzlich durchaus geändert werden könnten. Auch hier trieb Bedjaoui die angebliche
Position des Westens wieder ins Extreme: Er bezeichnete es als „rechtliches Hei-
dentum“, dass westliche Regierungen das Völkerrecht scheinbar für unabänderlich
hielten und es so in eine auf sich selbst referierende Religion verwandelten, in Recht
um des bloßen Rechtes willen.51 Er hielt es für methodologisch und philosophisch
absurd, jede Veränderung des Rechts als Anti-Recht zu sehen; dies sei lediglich eine
Manifestation des rechtlichen Imperialismus.52 So stellte Bedjaoui fest:
46
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 64.
47
Abi-Saab, The Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue
Egyptienne de Droit International (1973), S. 27, 65.
48
Vgl. Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 65.
49
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 106.
50
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 105.
51
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 97 ff.; Gathii, A Critical
Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale Elias, 21 Leiden Journal of
International Law (2008), S. 317, 345.
52
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 101.
53
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 101.
98 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
Entwicklung konnte für Bedjaoui dabei nur erreicht werden, wenn das soziale Gleich-
gewicht gestört wurde.54 Mit der Dekolonialisierung war dies geschehen und Bedjaoui
sah die Zeit gekommen, das Völkerrecht zu befreien.55 Das Völkerrecht hatte für ihn
die Fähigkeit, Spannungen in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung
aufzudecken.56 Die veränderte Realität würde durch das Völkerrecht wie durch einen
Zerrspiegel dargestellt und die Notwendigkeit einer Anpassung des Rechts an die
geänderten Umstände würde dadurch umso evidenter.57 Das Recht müsse sich, wenn
auch mit einer gewissen Verzögerung, den gewandelten Umständen anpassen.58
Allerdings versuchten die etablierten Rechtsstrukturen laut Bedjaoui, die kolo-
nialen Gesellschaftsstrukturen aufrechtzuerhalten. Die gesellschaftliche Funktion
des Rechts sei grundsätzlich konservativ, es solle Situationen festigen und Stabilität
herstellen.59 Trotzdem hielt Bedjaoui das Recht für evolutionär und glaubte, dass es
nicht nur passiv Veränderungen aufnehmen, sondern auch aktiv an ihnen mitwirken
könne.60 Das Völkerrecht könne laut Bedjaoui Indikator und Katalysator zugleich
sein.61 Dabei bezog er sich auf die auf den deutschen Gesellschaftstheoretiker Fried-
rich Engels zurückgehende klassisch-marxistische Prämisse, nach der das Recht als
Teil der Superstruktur auch Einfluss auf die Basis ausübe und nicht nur umgekehrt, so
dass Recht und Gesellschaft in einem dialektischen Verhältnis zueinander stünden.62
At such a time, one is conscious of the amazing yet fruitful contradiction contained in law,
the contradiction between its true nature and its real function. On the one hand, it reflects a
social reality which is changing and which it is obliged to try to keep up with, though there
is bound to be some discrepancy and lag. In this, it appears as something evolutionary, On
the other hand, by being the expression of social relations, it fixes or stabilizes the social
milieu of which it is the product. It thus reinforces and protects established practices, rejec-
ting any change which might threaten them, and in this aspect its function is conservative.
Movement and inertia, change and conservatism are the two factors permanently activating
what it is and what it is becoming.63
Dieses dialektische und stark von der sozialistischen Theoriebildung geprägte Ver-
ständnis zeigte sich auch bei Umozurike, der den Neokolonialismus für eine notwen-
dige Übergangsphase im materiellen Dekolonialisierungsprozess hielt, welche durch
die strukturelle Neuaufstellung des Völkerrechtes überwunden werden könnte.64
54
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 109.
55
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 110.
56
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 11.
57
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 111.
58
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 112.
59
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 14.
60
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 97 f.
61
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 111.
62
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 112 f.
63
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 112.
64
Vgl. Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 126.
I. Das Universalisierungspotential des Völkerrechts99
Colonialism was once tolerated by international law, which, like everything else, is subject
to the principle of dialectics. Viewed in historical perspective, the law has been evolving
towards perfection. The concrete situation at any particular time generates a law that takes
care of the situation. The law is the thesis which, lacking perfection, produces its anti-the-
sis. The represents the new concrete situation for which the law becomes outmoded and
unsuitable. There is a conflict between the two, and this may be violent (according to pure
dialectism) but it may also be peaceful. A new law then emerges in response to the new situ-
ation. This becomes a new thesis and the dialectic progression continues towards a perfect
law that not only provides for, but secures, the human rights and the self-determination of
all peoples.65
Noch weiter ging an dieser Stelle Bedjaoui, für den eine materielle Universali-
sierung des Völkerrechts aus der Völkerrechtsordnung heraus nicht nur möglich,
sondern die einzige Möglichkeit war:
In addition, this order ought of necessity to be based on a new international legal order and
could be neither conceived of nor achieved without it.68
Auch jene Völkerrechtler, die sich mit der Frage nach der Möglichkeit, das Völker-
recht aus sich heraus in eine materiell universale Ordnung zu verwandeln, ausei-
nandergesetzt hatten, sprachen der etablierten Völkerrechtsordnung evolutionäres
Potential zu. Dies setzt die erste Generation von Völkerrechtlern aus den neuen
Staaten der Kritik der TWAIL II aus. Schon das Ziel einer materiell universalen
Völkerrechtsordnung, aber auch der Glaube an die Erreichung dieses Ziels aus dem
Völkerrecht selbst implizierte eine grundsätzliche Achtung der rechtlichen Form.
Diese stand jedoch im Spannungsverhältnis zu Bedjaouis Kritik am Formalismus
des Rechts.69 Craven kritisiert Bedjaoui exemplarisch für die unter den Völkerrecht-
lern in der Dritten Welt verbreitete Auffassung, dass das Völkerrecht universalisiert
65
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 138 f.
66
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 144.
67
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 144; Gathii meint,
dass für Umozurike jedoch eine Abkehr von den Internationalen Beziehungen nicht ausge-
schlossen erschien, Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim
Olawale Elias, 21 Leiden Journal of International Law (2008), 317, 341.
68
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 244.
69
Özsu, „In the interests of mankind as a whole“: Mohammed Bedjaoui’s New International
Economic Order, 6 Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism,
and Development (2015), S. 129, 134. Zu Bedjaouis Kritik am Formalismus des Völkerrechts
siehe oben, Kapitel 3.
100 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
werden könne.70 Zwar schlägt Cravens Einwand, dies beruhe auf einer mangeln-
den theoretischen Reflexion über die historisch gewachsenen, strukturellen Mecha-
nismen der etablierten Völkerrechtsordnung, gerade in Bezug auf Bedjaoui nicht
durch.71 Bedjaoui kämpfte für Universalität, war der Universalitätsrhetorik gegen-
über aber auch durchaus kritisch eingestellt, da sie aus seiner Sicht allzu häufig dazu
gedient hatte, den tatsächlichen Mangel an Universalität zu überdecken.72 In der
Konsequenz hat Craven jedoch Recht:
Bedjaoui’s decolonization thus implied as much continuity in the form of ideas and institu-
tions of politics and law, as it did rupture.73
Ähnlich hält Anghie Autoren wie Anand, Bedjaoui und Elias zwar für ausgespro-
chen wichtig, sein Ansatz bezüglich des Verhältnisses von Kolonialismus und Völ-
kerrecht weicht jedoch von ihrem insofern ab, als dass letztere das Völkerrecht von
seinen kolonialen Altlasten befreien und ein neues, offenes und nicht-koloniales
Völkerrecht schaffen wollten.74 Er meint:
It is now hardly disputable that classical international law was complicit in the imperial
project and the exploitation which accompanied it. If, however, the colonial encounter, with
all its exclusions and subordinations, shaped the very foundations of international law, then
grave questions must arise as to whether and how it is possible for the post-colonial world
to construct a new international law that is liberated from these origins.75
Tatsächlich wollte die erste Generation von Völkerrechtlern in der Dritten Welt
die ungerechte Weltordnung mit ihren eigenen Mitteln, nämlich denen des Völ-
kerrechts, schlagen, wozu die Akzeptanz bestimmter völkerrechtlicher Prämissen
erforderlich zu sein schien.76 Bedjaoui etwa versuchte, dies aus einem dialekti-
schen Rechtsverständnis heraus zu plausibilisieren, möglicherweise aber ohne an
dieser Stelle die strukturelle Problematik hinreichend zu berücksichtigen. Dies
hätte jedoch aus seiner Perspektive auch kaum seinem rechtspolitischen Programm
genutzt, für dessen Realisierung er nur den Weg über die etablierte Völkerrechts-
ordnung sah.
70
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 86.
71
Siehe hierzu oben, Kapitel 3.
72
Siehe hierzu oben, Kapitel 3. Ähnlich Özsu, „In the interests of mankind as a whole“:
Mohammed Bedjaoui’s New International Economic Order, 6 Humanity: An International
Journal of Human Rights, Humanitarianism, and Development (2015), S. 129, 132.
73
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 88.
74
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 7 f.
75
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 8.
76
Vgl. Lim, Neither Sheep nor Peacocks: T. O. Elias and Postcolonial International Law, 21
Leiden Journal of International Law (2008), S. 295, 301
II. Das Globalsolidarische Projekt101
The new states, which comprise the largest majority of the new society, have come to
acquire a new influence in the present-day divided world society. Even if weak and under-
developed, they can no longer be ignored or by-passed. They can make their voices heard in
the world forum and hardly lose an opportunity to air their views. Despite all the differen-
ces in their political, social, cultural religious and ethical backgrounds, they have enough
in common to form a group, if not a bloc, and take concerted action in pursuance of their
interests. It is only natural that the new majority should try to mould the law according to
their own view and interests.78
Völkerrechtler haben früh eine Vorstellung davon entwickelt, wie diese gemein-
samen Interessen der Dritten Welt aussehen würden.79 Ein wichtiger Aspekt war
sicherlich der Kampf gegen Rassismus und Kolonialismus.80 Die Dekolonialisie-
rung stellte für die Völkerrechtler in den neuen Staaten jedoch lediglich ein Etap-
penziel dar; langfristig strebten sie nach ökonomischer Unabhängigkeit.81 Anand
schrieb hierzu:
Apart from this struggle against colonialism, international law requires new orientation to
help the poor and underdeveloped states of the third world in their development.82
77
Craven, The Decolonization of International Law: State Succession and the Law of Treaties
(2007), S. 203.
78
Anand, New States and International Law (1972), S. 114 f.
79
Auch hier waren westliche Autoren wie Röling und Friedmann Vordenker für die Völker-
rechtler in den neuen Staaten. Siehe Tomuschat, Die Charta der wirtschaftlichen Rechte und
Pflichten der Staaten: Zur Gestaltungskraft von Deklarationen der UN-Generalversammlung,
36 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (1976), S. 444, 459.
80
Anand, New States and International Law (1972), S. 115.
81
Anand, New States and International Law (1972), S. 86; Fatouros, International Law and
the Third World, 50 Virginia Law Review (1964), S. 783, 786.
82
Anand, New States and International Law (1972), S. 115.
102 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
Das wichtigste Ziel der Völkerrechtler in den neuen Staaten und in ihren Heimat-
ländern selbst war deren wirtschaftliche Entwicklung. So wurden die 60er-Jahre
des letzten Jahrhunderts von den Generalversammlung der Vereinten Nationen zur
„Decade of Development“ erklärt, um die global immer weiter auseinanderklaf-
fende Schere zwischen Arm und Reich zu schließen.83 Entwicklung war dabei in den
1960er-Jahren aus der Perspektive der Dritten Welt noch ein gänzlich positiv besetz-
ter Begriff.84 Später geriet der Begriff der Entwicklung bei vom Postkolonialismus
geprägten Völkerrechtlern in der Dritten Welt in die Kritik. So steht für Rajago-
pal hinter dem Begriff Entwicklung ein spezifisch westliches Modell von Moderne
und Fortschritt.85 Für Anghie diente die Unterscheidung zwischen entwickelten und
unterentwickelten Staaten darüber hinaus als neue Spielart der Dynamik des Unter-
schiedes, welche die Dichotomie der zivilisierten und der unzivilisierten Staaten
ersetzte.86 Außerdem sei durch diese Begrifflichkeiten die ethnische Identität der
neuen Staaten marginalisiert worden.87 Für Pahuja waren Armut und Ungleichheit
in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung der Vereinten Nationen allzu leicht-
fertig auf Unterentwicklung geschoben worden, ohne sich mit imperialistischen
83
GA, UN Doc A/Res/1710 (XVI.) (19. Dezember 1961), Abschnitt 1. Drei weitere Entwick-
lungsdekaden sollten bis zum Jahr 2000 folgen.
84
Von Bernstorff, Das Recht auf Entwicklung, in Dann/Kadelbach/Kaltenborn (Hrsg.), Ent-
wicklung und Recht: Eine systematische Einführung (2014), S. 71, 74. Siehe hierzu auch
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 66 ff.
85
Rajagopal, International Law from Below: Development, Social Movements and Third
World Resistance (2004), S. 26.
86
Die Dynamik des Unterschiedes entwickelte in dieser Zeit laut Anghie eine neue Form: Die
Entwicklung wurde zum zentralen Thema für die neuen Staaten, da die Lücke zwischen den
Kolonialmächten und den ehemaligen Kolonien nicht mehr am Zivilisierungs- sondern am
Entwicklungsgrad festgemacht wurde. Innerhalb der neuen Staaten habe der Kampf gegen die
Kolonialherrschaft die verschiedenen ethnischen Gruppen zusammengehalten, die mit dem
Erreichen der Souveränität nun auseinanderzufallen drohten und häufig eine Eigenstaatlich-
keit zum Ziel hatten. Dies habe insbesondere für Afrika gegolten, wo die kolonialen Grenzen
ohne Rücksicht auf die ursprünglichen politischen Einheiten gezogen wurden. Die Dynamik
des Unterschiedes spielte laut Anghie so im Inneren des postkolonialen Staates eine Rolle.
Der Staat habe dabei als Vermittler für Entwicklung fungiert, durch die kulturelle Unter-
schiede überbrückt werden sollten, wozu der Staat in viele Bereiche hineingewirkt habe, die
zuvor dem Brauchtum überlassen gewesen seien. Der Entwicklungsstaat habe universelle
Interessen repräsentiert, die den Interessen der Minderheiten vorgingen. Durch Industriali-
sierung und Modernisierung seien ethnische Identität marginalisiert worden und der Natio-
nalstaat zur relevanten Einheit geworden, in welche Minderheiten assimiliert wurden. Die
Dynamik des Unterschiedes führte laut Anghie also dazu, dass die Minderheit als primitiv
empfunden und im Interesse des modernen, universellen Staates kontrolliert werden musste.
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 203 ff.
87
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 206.
II. Das Globalsolidarische Projekt103
Tendenzen auseinanderzusetzen.88 In dieser Form hatte auch Papst Paul der VI.
in seinem Populorum Progressio im Jahr 1967 die Entwicklung der Völker zum
Thema gemacht und für eine solidarische Entwicklung der gesamten Menschheit
geworben.89 Entwicklung wurde so „zu einem zentralen Gerechtigkeitstopos, ver-
standen als eine progressive Heranführung der dekolonisierten Staaten an den wirt-
schaftlichen und sozialen Standard der Industrienationen.“90
Für Staaten und Völkerrechtler in der Dritten Welt stand die Entwicklungsthema-
tik auch im Zusammenhang mit Überlegungen der Kompensation für die Kolonial-
zeit, da sie nach der Dependenztheorie ihre eigene ökonomische Unterentwicklung
als Kehrseite der wirtschaftlichen Entwicklung der ehemaligen Kolonialherren
betrachteten.91 Es ging den Völkerrechtlern in den neuen Staaten insofern darum,
dass die ökonomisch entwickelten Staaten der Weltgemeinschaft sich ihrer Verant-
wortung gegenüber den minderentwickelten Staaten bewusst und dieser durch die
Übernahme besonderer rechtlicher Verpflichtungen gerecht wurden.92 Jenseits von
solchen Fragen der Umverteilung bzw. der ausgleichenden Gerechtigkeit betonten
die Völkerrechtler in den neuen Staaten jedoch, dass die Entwicklung der Dritten
Welt nicht nur im Interesse dieser Staatengruppe allein stehe, sondern dass der
Wohlstand aller auch dem Frieden und damit den Interessen der Staatengemein-
schaft als Ganzer diene.93 Die Erfüllung des Interesses der neuen Staaten an ihrer
Entwicklung stand beispielsweise für Bedjaoui auch im Interesse der Industriena-
tionen, da nur so die Stabilität des internationalen Systems gewährleistet werden
88
Pahuja, Decolonization and the Eventness of International Law, in Johns/Joyce/Pahuja
(Hrsg.), Events: The Force of International Law (2011), S. 91, 101.
89
Paul VI., Populorum Progressio über die Entwicklung der Völker (1967), abrufbar über
http://w2.vatican.va/content/paul-vi/de/encyclicals/documents/hf_p-vi_enc_26031967_
populorum.html (zuletzt abgerufen am 02.12.2015), Rn. 43 ff. Zur engen Verknüpfung von
katholischer Soziallehre und dem „Standardvokabular des Entwicklungsvölkerrechts“ siehe
Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht und Neugestaltung der internationalen Ordnung:
Rechtstheoretische und rechtspolitische Aspekte des Nord-Süd-Konflikts (1998), S. 136.
90
Von Bernstorff, Das Recht auf Entwicklung, in Dann/Kadelbach/Kaltenborn (Hrsg.), Ent-
wicklung und Recht: Eine systematische Einführung (2014), S. 71, 74.
91
Vgl. Anand, New States and International Law (1972), S. 102; Bedjaoui, Towards a New
International Economic Order (1979), S. 66 ff. Zur Dependenztheorie siehe Dann/Kadel-
bach/Kaltenborn, Dependenztheorie und Entwicklung durch teleologisches Völkerrecht, in
Dann/Kadelbach/Kaltenborn (Hrsg.), Entwicklung und Recht: Eine systematische Einfüh-
rung (2014), S. 23, 23 ff.
92
Vgl. García-Amador, Current Attempts to Revise International Law – A Comparative Ana-
lysis, 77 American Journal of International Law (1983), S. 286, 194.
93
Siehe beispielsweise Anand, New States and International Law (1972), S. 101; Bedja-
oui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 196. So auch viele westliche
Autoren, siehe Tomuschat, Die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten:
Zur Gestaltungskraft von Deklarationen der UN-Generalversammlung, 36 Zeitschrift für
ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (1976), S. 444, 490.
104 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
könne.94 So waren Entwicklung und Frieden für Bedjaoui gemeinsame Ziele aller
Mitglieder der Weltgemeinschaft, zu deren Erreichung die Dritte Welt als Vertrete-
rin der Weltgemeinschaft auftrat und konkrete Forderungen formulierte.95 Bedjaoui
meinte:
[W]hat is at stake is of vital importance to the peace and development of the planet.96
Dabei war die Vision der Völkerrechtswissenschaftler in den neuen Staaten von
einer materiell universalen Völkerrechtsordnung von westlichen Vordenkern inspi-
riert. Um der Entwicklung der neuen Staaten zu dienen, musste sich das Völkerrecht
für Abi-Saab, der sich insofern auf Röling bezog, aus seinem sozialen Embryonal-
stadium herausentwickeln:
A welfare attitude affords protection and help to the weaker members of the community
rather than prescribes theoretical faculties which can, in fact, only be used by the strong
members to the detriment of the weaker ones.97
Wohlstand und Schutz der Schwachen waren auch bei Anand anzutreffende
Motive. Dieser erklärte, die neuen Staaten wollten das Völkerrecht in ein „inter-
national law of protection“ verwandeln, das die wirtschaftlich schwachen Staaten
vor der überbordenden Macht der wirtschaftlich starken Staaten schütze, sowie in
ein „international law of welfare“, das die einheimische Wirtschaft stärke und so
zur wirtschaftlichen Entwicklung der Dritten Welt beitrage.98 Die rechtspolitischen
Initiativen der neuen Staaten sollten zu sozialer Gerechtigkeit und zur wirtschaft-
lichen, sozialen, kulturellen, wissenschaftlichen und technologischen Zusammen-
arbeit aller Staaten führen.99 Anand bezog sich insofern explizit auf Jenks Idee vom
gemeinsamen Recht der Menschheit sowie auf die von Friedmann ausgemachte
Entwicklung vom Koordinations- zum Kooperationsvölkerrecht:100
International law must develop beyond the old concept of coexistence to a new law of
cooperation. We should not let the world hover between endemic chaos, and the prospect
of annihilation precariously restrained by a balance of terror. It is not easy to discard our
94
Vgl. Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 140.
95
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 196.
96
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 176. Dabei bezog sich
Bedjaoui auch auf Papst Paul den VI., für den Entwicklung letztlich schlicht ein neues Wort
für Frieden darstelle, siehe Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979),
S. 197; Paul VI., Populorium Progressio über die Entwicklung der Völker (1967), abrufbar
über http://w2.vatican.va/content/paul-vi/de/encyclicals/documents/hf_p-vi_enc_26031967_
populorum.html (zuletzt abgerufen am 02.12.2015), Rn. 87.
97
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 120; vgl. Röling, International Law in an Expanded
World (1960), S. 68.
98
Anand, New States and International Law (1972), S. 60 f.
99
Vgl. Anand, New States and International Law (1972), S. 62.
100
Zu Jenks und Friedmann siehe bereits oben, Kapitel 3 und 4.
II. Das Globalsolidarische Projekt105
inhibitions and intellectual habits and predilections which are no longer valid in the pre-
sent-day world. But only by discarding old prejudices can we survive the challenge of the
present and enjoy the boundless promise of the future. A vast majority of the people in the
developing countries have nothing to live on and a large majority of men in the developed
countries have nothing to live for. Only by mutual cooperation they can develop a happy
and healthy international society. It must develop from anarchy, which has characterized
international relations throughout history towards an organized world community. It must
become, as has been stressed time and again, the common law of mankind.101
Hinter diesen Worten stand die nach der Dekolonialisierung nicht nur unter Völ-
kerrechtlern in der Dritten Welt verbreitete Forderung nach Solidarität innerhalb
der vielbeschworenen Internationalen Gemeinschaft.102 Letztlich lässt sich die
Forderung der Völkerrechtler in den neuen Staaten damit als – die auch von
der katholischen Soziallehre proklamierte – Entwicklung der Dritten Welt durch
eine solidarische Weltgemeinschaft begreifen. Das rechtspolitische Projekt der
Völkerrechtler in der Dritten Welt, ausgehend von der Frage der Bindung der
ehemaligen Kolonien an das postkoloniale Völkerrecht die Völkerrechtsordnung
materiell zu universalisieren, kann daher vorliegend unter dem Begriff „Global-
solidarisches Projekt“ zusammengefasst werden.103 Der Weg zu einem materiell
universellen Völkerrecht führte über die Verwirklichung dieses Globalsolida-
rischen Projekts, wobei die Bindungsfrage gleichsam als Türöffner fungierte,
der die Debatte um die Reform des Völkerrechts erst notwendig machte. Özsu
schreibt:
101
Anand, New States and International Law (1972), S. 116. Ähnlich auch Abi-Saab, The
Third World and the Future of the International Legal Order, 29 Revue Egyptienne de Droit
International (1973), S. 27, 65.
102
Vgl. beispielsweise Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979),
S. 127; Röling, International Law in an Expanded World (1960), S. 124 ff.
103
Der hier gewählte Begriff des „Globalsolidarischen Projekts“ hat eine große Schnittmenge
mit einem weiten Begriffsverständnis der Neuen Weltwirtschaftsordnung, wie es vereinzelt
in der Literatur anzutreffen ist: „[D]espite its title, the New International Economic Order is
not exclusively ‘economic’ in character. It contains much broader dimensions, consequently
making it look rather like a proposal to review and restructure the entire existing international
order. The reaffirmation of such principles as the sovereign equality of States, self-determi-
nation, and non-intervention, along with the extension of assistance to developing countries,
peoples, and territories under colonial and alien domination, seem to indicate that the idea is
to ensure the realization of NIEO's developmental goals by incorporating such principles into
the proposed new order.” García-Amador, The Proposed New International Economic Order:
A New Approach to the Law Governing Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of
The Americas (1980), S. 1, 14 f. Zur Neuen Weltwirtschaftsordnung siehe sogleich. Der
Begriff „Globalsolidarisches Projekt“ soll über diese Neuordnung der Internationalen Bezie-
hungen hinaus deren für die vorliegende Arbeit bedeutsame ideologische und zeitgeschicht-
liche Hintergründe – die Kritik an der kolonialen Prägung des Völkerrechts, die Frage der
Bindung der neuen Staaten an das etablierte Völkerrecht, die Idee von Gerechtigkeit und
Frieden durch Entwicklung im Rahmen einer solidarischen Weltgemeinschaft – betonen.
106 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
The rhetoric of ‘solidarity’ was ubiquitous at the time, made all the more fashionable by its
elasticity and imprecision.104
Während die Völkerrechtler in der Dritten Welt also mit der Souveränität der neuen
Staaten apologetisch gegen deren Bindung an das etablierte Völkerrecht argumen-
tiert hatten, sollte nun der Westen auf Grund der – in der genannten Debatte als
Bindungsgrund von den ehemaligen Kolonien zurückgewiesenen – Internationalen
Gemeinschaft Änderungen der Völkerrechtsordnung im Sinne einer Solidarität mit
der Dritten Welt mittragen. Die Antwort des Westens sollte eine spiegelbildliche
Änderung der Argumentation sein.105 Außerdem konnte die Idee der Weltgemein-
schaft in anderem Kontext wieder gegen die eigentlichen Interessen der Dritten
Welt verwendet werden, wie Pahuja betont:
The idea that the development of the underdeveloped is in the global interest foreshadows
the way that the political and economic teeth were removed from attempts to assert a New
International Economic Order and to make Permanent Sovereignty over Natural Resources
through a casting of those resources as something belonging to the ‘international commu-
nity’ as a whole […].106
Aus dem Ziel der wirtschaftlichen Entwicklung der Dritten Welt ergab sich eine
stark ökonomische Orientierung des Globalsolidarischen Projekts. Im Zentrum
stand dabei – sowohl seitens der Völkerrechtler in den neuen Staaten wie auch
seitens der Regierungen ihrer Heimatländer – die Forderung nach der Errichtung
104
Özsu, „In the interests of mankind as a whole“: Mohammed Bedjaoui’s New International
Economic Order, 6 Humanity: An International Journal of Human Rights, Humanitarianism,
and Development (2015), S. 129, 130.
105
Hierzu sogleich und unten, Teil II und Teil III.
106
Pahuja, Decolonization and the Eventness of International Law, in Johns/Joyce/Pahuja
(Hrsg.), Events: The Force of International Law (2011), S. 91, 100.
107
Pahuja, Decolonization and the Eventness of International Law, in Johns/Joyce/Pahuja
(Hrsg.), Events: The Force of International Law (2011), S. 91, 100.
II. Das Globalsolidarische Projekt107
Hierfür nutzte die Dritte Welt insbesondere die Vereinten Nationen (a.); ihr Versuch, auf
diesem Wege eine neue Weltwirtschaftsordnung zu errichten, schlug jedoch fehl (b.).
Das System der Vereinten Nationen erkennt die Entwicklung der Weltwirtschaft
in Artikel 55 VN-Charta zwar als wesentlich an, sieht zu deren Implementierung
mit Art. 56 aber kaum wirksame Mechanismen innerhalb der Weltorganisation vor.
Diese wurde nach dem Zweiten Weltkrieg primär den auf der Konferenz von Bretton
Woods im Jahr 1944 gegründeten und von den Industrienationen kontrollierten Ins-
titutionen, nämlich dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, über-
lassen, während eine angedachte Internationale Handelsorganisation nie zustande
kam.111 Stattdessen bildete das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (General
Agreement of Tariffs and Trade, kurz GATT) mit dem Meistbegünstigungsprinzip
108
Zur Erläuterung des Globalsolidarischen Projekts sollen hier lediglich die Grundzüge der
Debatte um die Neue Weltwirtschaftsordnung dargestellt werden. Ausführlicher siehe bei-
spielsweise Agarwala, The New International Economic Order: An Overview (1983); Muk-
herjee/Mukherjee, A New International Economic Order (1985); Oppermann/Petersmann
(Hrsg.), Reforming the International Economic Order: German Legal Comments (1987).
109
Umozurike, International Law and Colonialism in Africa (1979), S. 128; Anand, New
States and International Law (1972), S. 97 f.; García-Amador, The Proposed New Interna-
tional Economic Order: A New Approach to the Law Governing Nationalization and Com-
pensation, 12 Lawyer of The Americas (1980), S. 1, 10 ff.; Anghie/Chimni, Third World
Approaches to International Law and Individual Responsibility in Internal Conflicts, 2(1)
Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 82.
110
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 197; Paul VI., Populo-
rium Progressio über die Entwicklung der Völker (1967), abrufbar über http://w2.vatican.va/
content/paul-vi/de/encyclicals/documents/hf_p-vi_enc_26031967_populorum.html (zuletzt
abgerufen am 02.12.2015), Rn. 87.
111
Sacerdoti, New International Economic Order (NIEO), Max Planck Encyclopedia of
Public International Law (2013), Rn. 6.
108 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
den Rahmen für den Welthandel. Die neuen Staaten waren bestrebt, dieses frag-
mentierte und liberal ausgerichtete Weltwirtschaftssystem zu ihren Gunsten umzu-
gestalten, wobei es ihnen konkret insbesondere darum ging, die Kontrolle über
ihre natürlichen Ressourcen sowie Handlungsspielräume gegenüber ausländischen
Investoren zurückzuerhalten.112 Dabei wählten sie insbesondere den Weg über die
Generalversammlung der Vereinten Nationen.113
Die Vereinten Nationen dienten den ehemaligen Kolonien als Plattform, auf der
sie ihre Forderungen für eine breite Weltöffentlichkeit zugänglich artikulieren und
so Druck auf die Großmächte ausüben konnten.114 Die Weltorganisation hatte bereits
eine wesentliche Rolle im Dekolonialisierungsprozess eingenommen, etwa in den
Fällen von Indonesien, Tunesien, Marokko und Algerien.115 Internationale Organi-
sationen wie die Vereinten Nationen bargen für die Völkerrechtswissenschaft in den
neuen Staaten aber das Problem, dass sie Institutionen darstellten, die ebenso wie
das traditionelle Völkerrecht ohne Mitwirkung der ehemaligen Kolonien entstanden
waren. So sah Abi-Saab Internationale Organisationen als von Anfang an w estlich
geprägte Institutionen an.116 Die Staaten der Dritten Welt hätten an der Entste-
hung des Systems der Internationalen Organisationen nach den Zweiten Weltkrieg
112
Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual Responsibi-
lity in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 82.
113
Anand, New States and International Law (1972), S. 73; Mazower, Die Welt regieren: Eine
Idee und ihre Geschichte (2013), S. 263 ff.
114
Vgl. Anand, New States and International Law (1972), S. 73 f.; Elias, Africa and the
Development of International Law (1972), S. 24.
115
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 104; Mazower, Die Welt regieren: Eine Idee und ihre
Geschichte (2013), S. 259 ff. Dabei lässt sich die Rolle der Vereinten Nationen im Dekolo-
nialisierungsprozess durchaus ambivalent beurteilen, siehe Pahuja, Decolonization and the
Eventness of International Law, in Johns/Joyce/Pahuja (Hrsg.), Events: The Force of Inter-
national Law (2011), S. 91, 92, 94 ff.
116
Abi-Saab, Introduction, in ders. (Hrsg.), The Concept of International Organization
(1981), S. 20. Abi-Saab beschrieb auch das Verhältnis der Ersten und Zweiten Welt zu Inter-
nationalen Organisationen: Während westliche Staaten ursprünglich dazu tendiert hätten, die
Befugnisse Internationaler Organisation extensiv zu interpretieren, führten das Anwachsen
der Neuen Staaten und der damit einhergehende Kontrollverlust des Westens zu einer dis-
tanzierteren Haltung. Diese Entwicklung ginge mit einer verstärkten regionalen Zusammen-
arbeit insbesondere in Europa einher, so Abi-Saab. Die Sowjetunion nutzte Internationale
Organisationen trotz negativer Erfahrungen mit dem Völkerbund, um ihre Stellung als Welt-
macht zu stärken. Als Teil der Superstruktur reflektierten Internationale Organisationen für
die UdSSR jedoch den Klassenkampf und wurden zu dessen Schauplatz. Solange sich die
sozialistischen Staaten also in der Minderheit befanden, verfolgte die Sowjetunion eine sehr
restriktive Politik gegenüber den Kompetenzen Internationaler Organisationen. Mit Entspan-
nungen im Kalten Krieg und dem Anwachsen der Dritten Welt ging jedoch auch die UdSSR
flexibler mit Internationalen Organisationen um. Abi-Saab, Introduction, in ders. (Hrsg.), The
Concept of International Organization (1981), S. 21 f.
II. Das Globalsolidarische Projekt109
Elias sah in dem unerwartet raschen Anwachsen der Zahl Internationaler Organi-
sationen die neben der Dekolonialisierung einflussreichste Entwicklung auf dem
Gebiet des Völkerrechts seit dem Zweiten Weltkrieg.119 Dabei nahmen die Vereinten
Nationen als erste Organisation mit universeller Mitgliedschaft eine Sonderrolle ein:
Membership of the Organization proved to be a status symbol for all newly independent
States everywhere.120
Die Vereinten Nationen boten laut Elias neue Entfaltungsmöglichkeiten für die neu-
begründete Souveränität der neuen Staaten.121 Von diesen würden die neuen Staaten
zukünftig immer mehr Gebrauch machen:
Independence has led to membership of the United Nations and its organs and the conse-
quent widening of the international horizon of all member nations, resulting in the estab-
lishment of new institutions and processes and in the enlargement of participation in the
making and development of contemporary international law. […] The contribution which
the third world in general, and Africa in particular, is making to contemporary international
law will in time increase both in quantity and quality especially within the framework of
the United Nations.122
Strukturell war der Sicherheitsrat mit seinen ständigen Mitgliedern, zu denen mit
Großbritannien und Frankreich zwei große ehemalige Kolonialmächte gehörten,
für die neuen Staaten aber problematisch.123 Die Generalversammlung erließ ihre –
allerdings nach der Charta in den meisten Fällen rechtlich unverbindlichen – Reso-
lutionen hingegen nach dem System „one state, one vote“ und wurde somit zum
Schauplatz vieler Initiativen der Dritten Welt, die hier eine solide Mehrheit für sich
beanspruchen konnte.124 Die Generalversammlung wurde von Völkerrechtlern in
den neuen Staaten als demokratisches Weltparlament gefeiert:
117
Abi-Saab, Introduction, in ders. (Hrsg.), The Concept of International Organization
(1981), S. 22 f.
118
Abi-Saab, Introduction, in ders. (Hrsg.), The Concept of International Organization
(1981), S. 23.
119
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. V.
120
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 23.
121
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 24.
122
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 33.
123
Bedjaoui, A Third World View of International Organizations. Actions Towards a New
International Economic Order, in Abi-Saab (Hrsg.), The Concept of International Organiza-
tion (1981), S. 159, 223.
124
Siehe hierzu Art. 9 ff. VN-Chata.
110 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
Die Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung sollte demnach auf der sou-
veränen Gleichheit der Staaten fußen und materielle Ungleichheiten in Bezug auf
die Entwicklung ausgleichen. Diese Resolution wurde von einer zweiten flankiert,
die ein Aktionsprogramm zur Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung auf-
stellte, welches auch die zügige Annahme der Charta der wirtschaftlichen Rechte
und Pflichten der Staaten (NIEO-Charta) beinhaltete.130 Ein zeitgenössischer Beob-
achter schrieb:
125
Anand, New States and International Law (1972), S. 73 f.
126
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 202.
127
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 140; vgl. auch Schrij-
ver, Sovereignty over Natural Ressources: Balancing Rights and Duties (1997), S. 34.
128
GA, UN Doc A/Res/1995 (XIX), (30. Dezember 1964). Zu den Anfängen der UNCTAD
siehe Koul, The Legal Framework of UNCTAD in World Trade (1977), S. 3 ff.
129
GA, UN Doc A/Res/3201 (S-VI) (1. Mai 1974), Präambel.
130
GA, UN Doc A/Res 3202 (S-VI) (1. Mai 1974); GA, UN Doc A/Res/29/3281 (12. Dezem-
ber 1974).
II. Das Globalsolidarische Projekt111
Die Charta [der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten] sollte als ergänzender
Rechtsakt die Völkerrechtsgesellschaft endgültig als Solidargemeinschaft konstituieren.
Durchaus nicht ohne Berechtigung läßt sich daher eine Parallele herstellen zu den völker-
rechtlichen Instrumenten des Menschenrechtsschutzes. So wie der Pakt über bürgerliche
und politische Rechte im wesentlichen die Freiheiten des selbstverantwortlich handeln-
den Individuums garantiert und für sich allein genommen unvollständig wäre, wenn nicht
der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte die existenziellen Grundlagen
sichern würde, auf die der einzelne für die Entfaltung seiner Persönlichkeit dringend ange-
wiesen ist, sollten sich auch die Erklärung über freundschaftliche Beziehungen und die
Charta zu einem geschlossenen Ordnungsrahmen für den zwischenstaatlichen Verkehr
zusammenfügen.131
Die Wahl der Generalversammlung als Rahmen für die Umsetzung der NIEO wurde
von den Völkerrechtlern in der Dritten Welt unterstützt und führte auch im Westen
zu neuen Ansätzen in der Rechtsquellenlehre; so sollten nach einer im Vordringen
befindlichen, dabei aber insbesondere von konservativen, positivistisch argumen-
tierenden Völkerrechtlern bestrittenen Ansicht per Mehrheitsentscheidung ver-
abschiedete Resolutionen neben völkerrechtlichen Verträgen ein zentrales Mittel
zum Wandel der etablierten Völkerrechtsordnung und zu ihrer Anpassung an die
veränderten sozialen Realitäten werden.132 Gerade die Völkerrechtler in den neuen
Staaten maßen Resolutionen der Generalversammlung zumindest eine begrenzte
legislative Wirkung bei.133 Dieser „trend from consent to consensus“, wie Falk die
Entwicklung beschrieb,134 war der voluntaristischen Konzeption der neuen Staaten
131
Tomuschat, Die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten: Zur Gestal-
tungskraft von Deklarationen der UN-Generalversammlung, 36 Zeitschrift für ausländisches
öffentliches Recht und Völkerrecht (1976), S. 444, 460.
132
Zu der Debatte siehe Higgins, The Development of International Law Through the Politi-
cal Organs of the United Nations (1963), S. 5; Falk, On the Quasi-Legislative Competence
of the General Assembly, 60 American Journal of International Law (1966), S. 782, 782 ff.;
Bedjaoui, A Third World View of International Organizations. Actions Towards a New Inter-
national Economic Order, in Abi-Saab (Hrsg.), The Concept of International Organization
(1981), S. 210 ff.; Anand, New States and International Law, Max Planck Encyclopedia of
Public International Law (2013), Rn. 22.; Castañeda, The Underdeveloped Nations and the
Development of International Law, 15 International Organization (1961), S. 43 f.; Abi-Saab,
The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline, 8 Howard
Law Journal (1962), S. 95, 109 f.; Anand, New States and International Law (1972), S. 73
f.; Tomuschat, Die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten: Zur Gestal-
tungskraft von Deklarationen der UN-Generalversammlung, 36 Zeitschrift für ausländisches
öffentliches Recht und Völkerrecht (1976), S. 444 ff.; Asamoah, The Legal Significance of
the Declarations of the General Assembly of the UN (1966), S. 46 ff. Siehe hierzu auch ICJ,
ICJ-Reports 1966, S. 6, 50 f., Rn. 98.
133
Anand, New States and International Law (1972), S. 74.
134
Falk, On the Quasi-Legislative Competence of the General Assembly, 60 American Journal
of International Law (1966), S. 782, 785.
112 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
in der Frage nach ihrer Bindung an das Allgemeine Völkerrecht aber diametral ent-
gegengesetzt und entsprechend angreifbar.135
Tatsächlich stand etwa Bedjaouis Forderung nach einem „Völkerrecht der Teil-
habe“,136 das durch eine Demokratisierung der Internationalen Beziehungen auf der
Grundlage der souveränen Gleichheit entstehen solle,137 in einem Spannungsver-
hältnis zu der ebenfalls souveränitätsorientierten, aber dabei stark voluntaristisch
geprägten Position der Neuen Staaten in der Frage nach deren Bindung an das All-
gemeine Völkerrecht. Hier ging es gerade nicht um eine Zustimmung jedes einzel-
nen Staates zu einer neuen Norm, wie sie die Völkerrechtler in den ehemaligen
Kolonien für ihre Heimatstaaten in der Bindungsfrage eingefordert hatten; statt-
dessen wurde das Grundprinzip der souveränen Gleichheit hier mehr im Sinne einer
Wahlrechtsgleichheit bemüht. Hier wird offenkundig, dass die Völkerrechtler in den
neuen Staaten diesem Prinzip keinen klar definierten Inhalt gaben, sondern flexibel
zur Unterstützung ihrer Position nutzten. Dies gilt umso mehr mit Blick auf die
Forderung der Völkerrechtler in den neuen Staaten sowie ihrer Heimatländer, die
neue Weltwirtschaftsordnung auf Grundlage der souveränen Gleichheit der Staaten
zu errichten.138 Während beispielsweise Abi-Saab in der Bindungsdebatte nämlich
erklärt hatte, die neuen Staaten würden alle effektiv-reziproke Völkerrechtsnormen
anerkennen, wurde gerade im Weltwirtschaftsrecht eine nicht-reziproke Behand-
lung der Entwicklungsländer gefordert.139 So meinte in diesem Kontext etwa Anand,
die unmittelbare Reziprozität müsse als Prinzip aufgegeben werden, beispielsweise
durch „[o]ne-way free trade of tropical products; the revision of tariff structures
in favour of the developing world; permission to protect infant-industries in deve-
loping countries; preferential entry for their manufactured goods into Western
markets“.140 Beispiele für eine solche bevorzugte und damit ungleiche Behandlung
135
Viele westliche Staaten und Völkerrechtler hielten dies für problematisch, da auf diese Art
Staaten, die nur einen Bruchteil der Weltbevölkerung ausmachten und gleichzeitig auch einen
nur sehr geringen Anteil zum Budget beitrugen, eine Zwei-Drittel-Mehrheit formten und
so Beschlüsse fassen konnten. Solche Resolutionen wurden als rücksichtslos und friedens-
gefährdend bezeichnet; den neuen Staaten wurde vorgeworfen, Druck auf die alten Staaten
auszuüben und sich unverantwortlich zu verhalten: „Majority decisions in the equilitarian
[sic!] General Assembly are likely to be undemocratic in the sense that they do not represent a
majority of the world’s population, unrealistic in the sense that they do not reflect the greater
portion of the world’s real power, morally unimpressive in the sense that they cannot be iden-
tified as expression of the dominant will of a genuine community, and for all these reasons
ineffectual and perhaps even dangerous.” Claude, Swords into Plowshares (2. Auflage 1963),
S. 139. Siehe auch Anand, New States and International Law (1972), S. 74.
136
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 12.
137
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 196.
138
Siehe GA Res 3201 (S-VI), Declaration on the Establishment of a New International Eco-
nomic Order, 1. Mai 1974, Präambel.
139
Siehe Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An
Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 106; vgl. auch Anand, New States and Inter-
national Law (1972), S. 63, 109.
140
Anand, New States and International Law (1972), S. 109.
II. Das Globalsolidarische Projekt113
der Entwicklungsländer finden sich auch in den Artikeln 8, 9, 11, 13, 17, 19 der
NIEO-Charta. Ein zeitgenössischer Beobachter schrieb:
As paradoxical as it may seem, the principle of the legal equality of States has been invoked
to rationalize the claim of unequal, preferential treatment in favor of the developing
countries.
[…] Logically speaking, the foregoing construction of the old, almost venerable princi-
ple of the legal equality of States (or for that matter, a similar construction of the modem,
though somewhat equivocal expression adopted by the UN Charter – the principle of the
"sovereign equality" of the Members of the Organization) does not seem to be a sound
rationale for advocating that unequal and preferential treatment be given to countries in
certain stages of development.141
Das Globalsolidarische Projekt stellt damit eine utopische Idee dar. Die Völker-
rechtler in den neuen Staaten argumentierten also zum einen gegen eine Bindung
der neuen Staaten an das etablierte Völkerrecht und zum anderen für eine Bindung
141
García-Amador, The Proposed New International Economic Order: A New Approach to the
Law Governing Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of The Americas (1980), S. 1, 19.
142
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 127.
143
Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht und Neugestaltung der internationalen Ordnung:
Rechtstheoretische und rechtspolitische Aspekte des Nord-Süd-Konflikts (1998), S. 131.
144
Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht und Neugestaltung der internationalen Ordnung:
Rechtstheoretische und rechtspolitische Aspekte des Nord-Süd-Konflikts (1998), S. 132.
145
Schröder, Die Dritte Welt und das Völkerrecht (1970), S. 44; vgl. auch Kaltenborn, Ent-
wicklungsvölkerrecht und Neugestaltung der internationalen Ordnung: Rechtstheoretische
und rechtspolitische Aspekte des Nord-Süd-Konflikts (1998), S. 132.
114 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
der alten Staaten an die Neue Weltwirtschaftsordnung und beriefen sich jeweils
zumindest auch auf den Willen der Weltgemeinschaft, den sie mit einer Reihe vom
Werten assoziierten, welche insbesondere den Interessen der neuen Staaten dienen
sollten. Das Globalsolidarische Projekt ergab sich insofern aus einem programma-
tischen Völkerrechtsverständnis, wie es auch dem in der französischen Literatur
dieser Zeit prominenten Begriff des Entwicklungsvölkerrechts zugrunde lag.146
Obwohl Teile der Völkerrechtswissenschaft in Ost und West durchaus mit der über-
positiven Ausrichtung des Völkerrechts entsprechend den Werten einer solidarischen
Weltgemeinschaft sympathisierten, scheiterte das Globalsolidarische Projekt der Völ-
kerrechtler in den neuen Staaten mit den Initiativen ihrer Heimatländer am Widerstand
der Industrienationen, die sich unter Berufung auf das Konsensprinzip gegenüber
einer Änderung der Völkerrechtsordnung verschlossen und dabei spiegelbildlich zu
den Völkerrechtlern in der Dritten Welt den argumentativen Standpunkt wechselten.147
Die Bemühungen der Entwicklungsländer in der UNCTAD führten zwar im Jahr
1965 zur Aufnahme nicht-reziproker Vereinbarungen in das GATT von 1947 und
somit zu einem Etappensieg im Kampf um eine Neue Weltwirtschaftsordnung.148
Das Verhältnis dieser Staatengruppen zueinander ist seitdem von einer Art Doppel-
standard geprägt, der Diskriminierungen zugunsten von Entwicklungsländern – bei
Abschleifung bisheriger Prinzipien wie der „most favoured nation“-Regel – legi-
timiert.149 Darüberhinausgehend hielt die weitere Debatte um die Errichtung einer
146
Virally, Le droit international au service de la paix, de la justice et du développement
(1991); Bouveresse, Droit et politiques du développement et de la coopération (1990); Ben-
nouna, Droit international du développement, Berger-Levrault Paris (1983). Vgl. Kaltenborn,
Entwicklungsvölkerrecht und Neugestaltung der internationalen Ordnung: Rechtstheoreti-
sche und rechtspolitische Aspekte des Nord-Süd-Konflikts (1998), S. 143. Der Begriff des
Entwicklungsvölkerrechts beschreibt dabei kein eigenes Teilrechtsgebiet des Völkerrechts,
sondern erstreckte sich auf unterschiedliche (insbesondere wirtschafts-)völkerrechtliche
Prinzipien. Im selben Kontext entstand auch das Menschenrecht auf Entwicklung. Krajew-
ski, Wirtschaftsvölkerrecht (2. Auflage 2009), S. 259 ff.; zur Debatte über diesen Begriff
siehe Neß, Das Menschenrecht auf Entwicklung: Sozialpolitisches Korrektiv der neolibera-
len Globalisierung (2004), S. 24 ff.; von Bernstorff, Das Recht auf Entwicklung, in Dann/
Kadelbach/Kaltenborn (Hrsg.), Entwicklung und Recht: Eine systematische Einführung
(2014), S. 71, 71 ff.; García-Amador, The Proposed New International Economic Order:
A New Approach to the Law Governing Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of
The Americas (1980), S. 1, 15.
147
Siehe Kapitel 2 sowie Teil II und Teil III.
148
Siehe Schütz, Solidarität im Wirtschaftsvölkerrecht: Eine Bestandsaufnahme zentraler ent-
wicklungsspezifischer Solidarrechte und Solidarpflichten im Völkerrecht (1994), S. 57 ff.
149
Vgl. hierzu García-Amador, The Proposed New International Economic Order: A New
Approach to the Law Governing Nationalization and Compensation, 12 Lawyer of The Ame-
ricas (1980), S. 1, 20.
II. Das Globalsolidarische Projekt115
Neuen Weltwirtschaftsordnung bis Mitte der 1980er-Jahre an, flaute aber bis zum
Ende des Kalten Krieges ab, bekam dann neuen Aufwind und scheiterte schließlich.150
In anderen vom Globalsolidarischen Projekt erfassten Rechtsbereichen fällt die
Bilanz aus heutiger Sich ähnlich aus: So wollten Völkerrechtler und Staaten der
Dritten Welt unter Berufung auf das kollektive Interesse der Weltgemeinschaft bei-
spielsweise auch eine Neue Informationsordnung151 errichten, die nukleare Abrüs-
tung152 fördern und das Seerecht153 reformieren und dabei auch präkoloniale rechtli-
che Konzepte des globalen Südens einbringen.154 Letztlich konnten die ehemaligen
Kolonien sich jedoch in keiner dieser Fragen durchsetzen; das Globalsolidarische
Projekts sollte damit in allen Teilbereichen scheitern. Als Gründe hierfür gelten
heute beispielsweise die Schuldenkrise sowie die Uneinigkeit zwischen den ölpro-
duzierenden und den nicht-ölproduzierenden Staaten der Dritten Welt.155
Mit Blick auf die gescheiterten Initiativen der Dritten Welt in den Vereinten
Nationen resümiert der britische Historiker Mark Mazower:
Die Entkolonialisierung brachte nicht mehr Macht, sondern einen Bedeutungsverlust mit
sich. Weit entfernt davon, die Ambitionen der Großmächte besser kontrollieren zu können,
geriet die Generalversammlung zunehmend in die Rolle eines Debattierclubs. In der Politik
ging es in der UN immer mehr um Symbolisches, immer weniger um Substanzielles. Es
war, als ob die Entkolonialisierung nicht nur den Triumph der UN markierte, sondern ihren
welthistorischen Höhepunkt.156
150
Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht und Neugestaltung der internationalen Ordnung:
Rechtstheoretische und rechtspolitische Aspekte des Nord-Süd-Konflikts (1998), S. 21 ff.
151
Pavlič/Hamelink, The New International Economic Order: Links between Economics and
Communications (1985), S. 13 ff.
152
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 118; Asian-African Legal Consultative Committee,
Report of the Sixth Session held at Cairo from 24th February to 6th March 1964, The Legality
of Nuclear Tests: Report of the Committee and Background Material, S. 1 ff.; siehe auch Khan,
Group of 77 (G77), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2011), Rn. 8.
153
So sollte nach der Vorstellung vieler Völkerrechtler in der Dritten Welt eine Internatio-
nale Meeresbodenbehörde gegründet werden, welche die Erforschung und Ausbeutung der
Ressourcen innerhalb der internationalisierten Gewässer überwachen sollte. Siehe hierzu
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 216; Anand, Origin
and Development of the Law of the Sea: History of International Law Revisited (1983);
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 118; Zu der ganzen Debatte siehe Graf Vitzthum/Platz-
öder, Pro und Contra Seerechtskonvention, 19 Europa Archiv: Zeitschrift für Internationale
Politik (1982), S. 567, 567 ff.
154
Anghie/Chimni, Third World Approaches to International Law and Individual Responsi-
bility in Internal Conflicts, 2 Chinese Journal of International Law (2003), S. 77, 80 f.; siehe
hierzu schon oben, Kapitel 2.
155
Salomon, From NIEO to Now and the Unfinished Story of Economic Justice, 62 Inter-
national and Comparative Law Quarterly (2013), S. 31, 46 f.; Mickelson, Rhetoric and Rage:
Third World Voices in International Legal Discourse, 16 Wisconsin International Law Journal
(1997-1998), S. 353, 373.
156
Mazower, Die Welt regieren: Eine Idee und ihre Geschichte (2013), S. 281.
116 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
Rajagopal kritisiert heute das unreflektierte Verhältnis der TWAIL I gegenüber dem
Entwicklungsbegriff einerseits und den Vereinten Nationen andererseits:
It is my suggestion that most, if not all, of these international lawyers of the post-WWII
period shared an essential belief in the emancipatory ideas of western modernity and pro-
gress embedded in the new discipline of development, and looked upon international insti-
tutions as embodiments of the peculiar western modernity that would advance their respec-
tive projects. This convergence – in pragmatism and institutionalism – played a major role
in consolidating international institutions as apparatuses of management of social reality
in the Third World. Such convergence ensured that even the most radical critiques of inter-
national law by Third World lawyers were not directed at development or international
institutions, while the renewalist attempts by First World lawyers were also firmly located
within this dialectic of institutions and development.157
Now the non-European world presents itself not as the tribal chief whose legal personality
has to be determined, or the mandate peoples seeking self-government, but a sovereign
entity intent on reversing the effects of imperialism by changing the rules of international
law in order to achieve development. Consequently, the West had to confront the challenge
of preventing the disruption of the international order which would follow from the deve-
loping world’s campaign to articulate its history of exploitation and to change the rules
of international law that had both justified and furthered this system of exploitation. The
non-European world, the Third World, must be distanced now, not because it is barbaric or
threatening or underdeveloped – although these ideas continue to have powerful residual
influence – but because it seeks this changes.159
Aus diesem Grund musste sich der Westen laut Anghie der NIEO verschließen.160
Deutlich wird hierbei jedoch auch, dass Anghie nicht die mangelnde Reflexion der
TWAIL I allein, sondern auch die Unwilligkeit des Westens, einen Wandel mitzu-
tragen, als Ursachen des Scheiterns der NIEO betrachtet.
157
Rajagopal, International Law from Below: Development, Social Movements and Third
World Resistance (2004), S. 26.
158
Rajagopal, International Law from Below: Development, Social Movements and Third
World Resistance (2004), S. 35.
159
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 235.
160
Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2008), S. 235.
Gleichzeitig agierte die Dynamik des Unterschiedes laut Anghie im Rahmen der Entwick-
lung der Rechte transnationaler Unternehmen, siehe hierzu auch Teil III.
II. Das Globalsolidarische Projekt117
Mit Pahujas Argumentation lässt sich das weitgehende Scheitern der Projekte der
ersten Generation von Völkerrechtlern in der Dritten Welt auf die Rolle des Völker-
rechts in der Geschichte zurückführen, wobei die Ähnlichkeit zu der Argumentation
der Völkerrechtler der ersten Generation in den neuen Staaten ebenso auffällt wie
die zu deren Position gegenteilige Schlussfolgerung:161
Law has contradictory dimensions: it is both regulatory and emancipatory, both imperial
and anti-imperial. In my argument, the duality hinges on a ‘critical instability’ at the heart
of international law. The instability is ‘critical’ in both senses of the word – critical of and
critical to – in that it both undoes and impels international law. It arises from the way in
which international law first claims to be universal, and secondly, carries with it a certain
promise of justice, whether that promise be symbolic or imaginative. In relation to the
universal claim, law is the ‘place’ or ‘moment’ where the generality of rules meets the
specificity of the facts to which they apply. And yet both ‘law’ and ‘fact’ are mutually
reconstituted in that moment. In relation to the second, it is the place where positive rules or
actual institutions meet and always fall short of the promise of justice; the enlightenment’s
legacy to positive law. And yet international law’s failure to live up to its promise of justice
continually breathes life back into it, as people continue to make demands for justice in the
idioms of law and rights.162
Die Konsequenz von Pahujas Überlegungen ist letztlich, dass das Völkerrecht nicht
im Sinne des Globalsolidarischen Projekts materiell universalisiert werden kann.
Die TWAIL II haben sich insofern auch der Kritik ausgesetzt, ihr Ansatz sei nihi-
listisch.163 Koskenniemi hingegen beschreibt die Debatte um die Neue Weltwirt-
schaftsordnung aus dekonstruktivistischer Sicht folgendermaßen:
161
Zur Funktionsweise des Rechts in der Theorie der TWAIL I siehe oben, Kapitel 4.
162
Pahuja, Decolonization and the Eventness of International Law, in Johns/Joyce/Pahuja
(Hrsg.), Events: The Force of International Law (2011), S. 91, 92.
163
Siehe Fidler, Revolt Against or From Within the West? TWAIL, the Developing World, and
the Future Direction of International Law, 2 Chinese Journal of International Law (2003),
S. 29, 29 ff.; Alvarez, My Summer Vacation (Part III): Revisiting TWAIL in Paris, abrufbar
unter http://opiniojuris.org/2010/09/28/my-summer-vacation-part-iii-revisiting-twail-in-pa-
ris/ (zuletzt abgerufen am 02.12.2015).
118 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
of sovereigns in favour of another one or deciding between competing communal values of,
for example, economic efficiency and just distribution. Both choices are eminently political
and seem incapable of being resolved by any distinctly legal technic.164
Dies legt wiederum nahe, dass sich zumindest theoretisch die politische Position
des globalen Nordens genauso gut wie die des Südens im Diskurs in der Debatte
um die Neue Weltwirtschaftsordnung hätte durchsetzen können. Faktisch obsiegte
jedoch auf Grund seiner größeren politischen und wirtschaftlichen Macht überwie-
gend die Position des Westens. In Bezug auf die Bindungsfrage hat die vorliegende
Arbeit darüber hinaus bereits gezeigt, dass in derselben Großdebatte gegensätzliche
Auffassungen teils mit den gleichen Argumenten belegt werden können und auch
paradoxe Positionswechsel nicht ausgeschlossen sind. Die Flexibilität völkerrecht-
licher Grundprinzipien wie der souveränen Gleichheit unterstützt solche diskursive
Praktiken, in denen sowohl die neuen wie auch die alten Staaten zur Begründung
ihrer rechtpolitischen Position nutzen konnten. Insofern sind in Bezug auf die Bin-
dungsdebatte ähnliche Argumentationsstrukturen zu erkennen, wie sie Kosken-
niemi im Zusammenhang mit der Debatte um eine Neue Weltwirtschaftsordnung
ausgemacht hat. Ob und wie das Globalsolidarische Projekt in der Debatte um die
Bindung der Dritten Welt im Übrigen scheiterte, ist in den nächsten beiden Teilen
der vorliegenden Arbeit zu vermessen.
Im Barcelon Traction-Fall des IGH wurde darum gestritten, ob jenseits der Regel,
nach welcher der Sitzstaat einer Gesellschaft für deren diplomatischen Schutz ver-
antwortlich ist, ausnahmsweise auch der Heimatstaat der Aktionäre der Gesellschaft
diplomatischen Schutz für indirekte Schäden seiner Staatsangehörigen ausüben
darf.165 Hierzu wurden auf der Suche nach einer Regel des Völkergewohnheitsrechts
auch diverse Verträge untersucht, in denen sich vergleichbare Regelungen fanden.166
Diesbezüglich meinte der libanesische Richters IGH Fouad Ammoun in seinem
Sondervotum:
Among the treaties which have been in question, it is necessary to go back to those which
organized international society in the eighteenth and nineteenth centuries, and at the begin-
ning of the twentieth century. It is well known that they were concluded at the instigation
of certain great Powers which were considered by the law of the time to be sufficiently
representative of the community of nations, or of its collective interests. Moreover, the
same was the case in customary law: certain customs of wide scope became incorporated
164
Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argument
(2005), S. 485 f.
165
ICJ, ICJ-Reports 1970, S. 3, 48 ff., Rn. 92 ff.
166
Siehe Ammoun, ICJ-Reports 1970, S. 286, 303 ff., Rn. 11 ff.
III. Fazit zu Teil I119
into positive law when in fact they were the work of five or six Powers. This was certainly
an exercise open to criticism, and even to serious criticism. In addition, of the norms which
had thus become established, and which survived the recent fundamental transformations
of international society marked by the League of Nations Pact and the Charter of the United
Nations, taking into account the liberal interpretation continually given to the latter inst-
rument, some, as we have seen, are disputed by the States which did not take part in their
elaboration, and which consider them to be contrary to their vital interests. […]
It thus becomes easier to understand the fears of a broad range of new States in three
continents, who dispute the legitimacy of certain rules of international law, not only because
they were adopted without them, but also because they do not seem to them to correspond
to their legitimate interests, to their essential needs on emerging from the colonialist epoch,
nor, finally, to that ideal of justice and equity to which the international community, to
which they have at long last been admitted, aspires. What the Third World wishes to subs-
titute for certain legal norms now in force are other norms profoundly imbued with the
sense of natural justice, morality and humane ideals. It is, in short, a matter of a change of
course towards natural law as at present understood, which is nothing other than the natural
sense of justice a change of course towards a high ideal which sometimes is not clearly to
be discerned in positive law, peculiarly preoccupied as it is with stability: the stability of
treaties and the stability of vested rights.167
Dieses Zitat fasst die Position der Völkerrechtler in der Dritten Welt in Bezug auf die
Bindung der neuen Staaten an das Völkerrecht eindrücklich zusammen. Der Diskurs
um die Bindung der neuen Staaten an das postkoloniale Völkerrecht kann dabei als
die Schlüsseldebatte für das Verständnis aller weiteren rechtspolitischen Initiativen
der Völkerrechtler in der Dritten Welt bezeichnet werden: Laut der Autoren in den
neuen Staaten konnten diese Normen des etablierten Völkerrechts ihren nationalen
Interessen entsprechend anerkennen oder ablehnen; aus diesem Wahlrecht ergab sich
die Notwendigkeit, neue Regelungen zu schaffen. Diese Regelungen müssten vom
Konsens aller Staaten getragen werden, wodurch sich die Völkerrechtler in den neuen
Staaten adäquate Einflussmöglichkeiten der Dritten Welt auf den Norminhalt ver-
sprachen. Nachteiliger Regelungen könnten sich die neuen Staaten auf diese Weise
entledigen. Das Recht des „pick and choose“ sowie die Forderung nach der Errich-
tung einer materiell universalen Völkerrechtsordnung wurden unterstützt durch eine
historisierende Kritik der TWAIL I an der etablierten Völkerrechtsordnung, die von
soziologischen wie auch von sozialistischen Einsichten inspiriert war und zum Teil
bis auf die Strukturebene des Völkerrechts reichte. Vor dem Hintergrund der etwa
von Bedjaoui entwickelten Systemkritik an der kolonialen Prägung der etablierten
Völkerrechtsordnung erscheinen das pragmatische Vorgehen der Völkerrechtler in
den neuen Staaten sowie das Vertrauen in das Universalisierungspotential des Völ-
kerrechts möglicherweise naiv. Im Ergebnis ging beispielsweise Bedjaoui nämlich
167
Ammoun, ICJ-Reports 1970, S. 286, 309 ff., Rn. 16, 19. Ammoun meinte, dass diese Posi-
tion der neuen Staaten bei der Bestimmung des Gewohnsheitsrechts beachtet werden müsse.
Nach Ammouns Analyse würde es in Folge dessen weitgehend an beachtlicher Staatenpraxis
für den Nachweis einer gewohnheitsrechtlichen Regelung, nach der Aktionäre diplomati-
schen Schutz für indirekte Rechtsverletzungen geltend machen können, fehlen. Ders., ICJ-
Reports 1970, S. 286, 315 f., Rn. 21 f.
120 Kapitel 4: Die Hoffnungen der Völkerrechtler in der Dritten Welt in das Völkerrecht
davon aus, dass sich die Forderung nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung im
dialektischen Spiel zwischen Stabilität und Wandel durchsetzen würde.168 Dabei
schrieb Bedjaoui sein Hauptwerk zu einem Zeitpunkt, als der Kampf um eine NIEO
schon fast verloren schien.169 Entsprechend kritisiert Rajagopal Bedjaouis Hoffnung
in die Vereinten Nationen als fetischistischen Rückfall in längst überholte Argumen-
tationsmuster.170 Auch in anderen Fragen wurde in Teil I der vorliegenden Arbeit die
von den TWAIL II formulierte Kritik an der mangelnden Stringenz bzw. kritischen
Reflexion der Völkerrechtler in den neuen Staaten dargestellt, der in einigen Punkten
auch Recht zu geben ist. Dabei darf jedoch eine Besonderheit der Völkerrechtler in
den neuen Staaten nicht vergessen werden: So schreibt Mickelson über Bedjaoui:
Bedjaoui is speaking not for a theory but for a vision.171
Viewed through the Westphalian myth, international law thus seems to promise a metapho-
rical meeting place, or the ‘universal’ recognition of particular sovereignty, each with the
ability to make its own laws. This promised ability would seem to include the capacity to
decide what ‘law’ is.173
168
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 245.
169
Mickelson, Rhetoric and Rage: Third World Voices in International Legal Discourse,
16 Wisconsin International Law Journal (1997-1998), S. 353, 373.
170
Rajagopal, International Law from Below: Development, Social Movements and Third
World Resistance (2004), S. 89 ff.
171
Mickelson, Rhetoric and Rage: Third World Voices in International Legal Discourse,
16 Wisconsin International Law Journal (1997-1998), S. 353, 369.
172
Vgl. auch Lim, Neither Sheep nor Peacocks: T. O. Elias and Post-colonial International
Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 295, 308 f.
173
Pahuja, Decolonising International Law: Development, Economic Growth and the Politics
of Universality (2011), S. 111.
III. Fazit zu Teil I121
Aus dekonstruktivistischer Sicht kann auch eine so offene Rechtspolitik als in völ-
kerrechtlichen Diskurs legitim betrachtet werden, da sie sich im Rahmen der ord-
nungsinherenten Strukturen bewegt und in diesem Rahmen letztlich jede rechtliche
Entscheidung auch eine politische Entscheidung darstellt.
Das später von Koskenniemi beschriebene Hin- und Herpendeln des völkerrecht-
lichen Diskurses zwischen Dichotomien174 wurde dabei bereits von Bedjaoui in
Bezug auf die Diskussionen um eine Neue Weltwirtschaftsordnung beobachtet:
But in these changing times, the fact of economic interdependence between nations is the
subject of two contradictory interpretations, one justifying the need for profound economic
change, the other objecting to it. Old ideas such as ‘economic interdependence’ or ‘collec-
tive economic security’, ‘international co-operation’ or ‘world-wide solidarity’, are then put
forward one on side or the other in a game of reciprocal dialectical ‘co-option’ to support
contrary attitudes as to whether we need establish a new international economic order.175
174
Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argument
(2005). Siehe hierzu auch oben, Einleitung.
175
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 244.
Teil II: Die Bindungsfrage im Recht
der Verträge
eingenommen hat und welche Erkenntnisse sich daraus hinsichtlich der Bindung
der Dritten Welt an das postkoloniale Völkerrecht und in Bezug auf die Kritik der
TWAIL II gewinnen lassen, rekapituliert.
Strukturell stellen die Debatten um Ungleiche Verträge im Rahmen des Vertrags-
rechts erneut ein Beispiel für die Taktik der Völkerrechter in den neuen Staaten,
Grundprinzipien des Völkerrechts wie die souveräne Gleichheit und das Selbst-
bestimmungsrecht der Völker argumentativ für ihr Globalsolidarisches Projekt
zu nutzen, dar. Beide Seiten beriefen sich dabei auf den Schutz der Stabilität der
Vertragsbeziehungen. Hinzu kam die Taktik des Westens und entsprechende argu-
mentative Gegenwehr der Dritten Welt, ein gewünschtes rechtspolitisches Ergebnis
durch das Verschieben rechtlicher Grenzen zu forcieren. So wurde in Bezug auf den
späteren Artikel 52 WVK von westlichen Völkerrechtlern eine reine Flankierung des
Gewaltverbots im völkerrechtlichen Recht der Verträge gewünscht, während Völker-
rechtler in der Dritten Welt den allgemeinen Schutz der Willensfreiheit der Staaten
zum umfassenden Schutz vor Ungleichen Verträgen anstrebten. Da ein umfassender
Schutz der Willensfreiheit von westlicher Seite strikt abgelehnt wurde, verlagerte
sich die Debatte hin zur Definition des Gewaltbegriffs. Je nachdem, ob man unter
das Gewaltverbot auch wirtschaftlichen und politischen Druck fasste (wie die Dritte
Welt) oder nicht (wie der Westen), wurde die argumentative Grenze des Gewalt-
verbots hin- und her verschoben. Im Ergebnis wurde die Position der Dritten Welt
ins soft law verschoben, jene des Westens setzte sich damit politisch durch. Ähnlich
kam es bezüglich des Prinzips rebus sic stantibus zu einer Verschiebung der Frage
kolonialer Grenzverträge heraus aus dem Vertragsrecht hin zum gewohnheitsrecht-
lichen Prinzip uti possidetis und schließlich heraus aus dem Völkerrecht überhaupt
und hinein in die politische Sphäre.
Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um
Ungleiche Verträge und die WVK
Dieses Kapitel beschäftigt sich zunächst mit der bereits in Teil I der vorliegenden Arbeit
angerissenen Kritik der Völkerrechtler in den neuen Staaten an Ungleichen Verträgen,
wobei zunächst die Geschichte der Ungleichen Verträge geschildert werden soll (I.),
aus der sodann das Konzept Ungleicher Verträge in der Völkerrechtswissenschaft
der Dritten Welt entwickelt wird (II.). Im Anschluss soll untersucht werden, wie
die Debatte um Ungleiche Verträge im Recht der Verträge verortet wurde und so im
Rahmen der Arbeiten an der WVK relevant werden sollte (III.).
Der Begriff der Ungleichen Verträge tauchte häufig in den Schriften von Völker-
rechtlern aus der Dritten Welt auf.1 Ursprünglich hatte dieser Begriff im Zusam-
menhang mit dem Kolonialismus des 19. Jahrhunderts und mit kommunistischen
Angriffen auf das Völkerrecht Mitte des 20. Jahrhunderts Bedeutung erlangt.2
Schon klassische Autoren wie Grotius, Wolff und de Vattel hatten den Begriff des
Ungleichen Vertrages für Vereinbarungen mit nichtreziprokem Inhalt verwendet,
1
Siehe oben Teil I.
2
Kulski, Soviet Comments on International Law and Relations, 48 American Journal of Inter-
national Law (1954), S. 640, 640; Scott, Chinese Treaties: The Post-Revolutionary Restora-
tion of International Law and Order (1975), S. 85 ff.; Craven, What Happened to Unequal
Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74 Nordic Journal of International Law
(2005), S. 335, 335 f.
3
Grotius, De Jure Belli ac Pacis Libri Tres, in quibus Jus Naturae et Gentium, item Juris
Publici Praecipua Explicantur (1651); de Vattel, Das Völkerrecht oder Grundsätze des Natur-
rechts, angewandt auf das Verhalten und die Angelegenheiten der Staaten und Staatsober-
häupter (1758, Übersetzung 1959); von Wolff, Ius Gentium Methodo Scientifica Pertrac-
tatum, In Quo Ius Gentium Naturale Ab Eo, Quod Voluntarii, Pactitii Et Consuetudinarii
Est, Accurate Distinguitur, Renger Halae Magdeburgicae (1749). Siehe auch Peters, Unequal
Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007), Rn. 3; Chen, State
Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 28 f.
4
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 4; Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 29; Craven, What
Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74 Nordic Journal of
International Law (2005), S. 335, 335 f.; Scott, Chinese Treaties: The Post-Revolutionary
Restoration of International Law and Order (1975), S. 85 ff.
5
Siehe beispielsweise die Diskussionen beim jährlichen Treffen der American Society of
International Law im Jahr 1927 zum Thema “The Termination of Unequal Treaties”, bei-
spielsweise Putney, Termination of Unequal Treaties, American Society of International Law
Proceedings (1927), S. 87, 89 f. Für weitere Nachweise siehe Craven, der sich ebenfalls auf
die chinesischen Fälle konzentriert, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of
Informal Empire, 74 Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 336 f.
6
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 7; Chiu, The People’s Republic China and the Law of Treaties (1972), S. 63 f.
7
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 10.
8
Vgl. Poulose, Succession in International Law: A Study of India, Pakistan, Ceylon and
Burma (1974), S. 9; Taracouzio, The Soviet Union and International Law (1935), S. 235 ff.;
Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 29; Lipson, The Soviet View
on International Law, 61 International Law Studies Series US Naval War College (1980),
S. 101, 102.
9
Bracht, Ideologische Grundlagen der sowjetischen Völkerrechtslehre (1964), S. 138 f.
I. Die Geschichte Ungleicher Verträge127
würden.10 Letztlich warf die Sowjetunion dem Westen hier imperialistische Prak-
tiken vor.11 Auch China und die Sowjetunion hatten in ihrer Geschichte allerdings
selbst schwächere Staaten in Ungleiche Verträge gezwungen.12
Neuen Auftrieb erhielt die Debatte um Ungleiche Verträge mit der Unabhängig-
keit vieler ehemaliger Kolonien, als einige der neuen Staaten alte vertragliche Ver-
pflichtungen wegen ihrer Entstehung und ihres Inhalts angriffen. Dabei übernahmen
die Völkerrechtler in der Dritten Welt den Begriff der Ungleichen Verträge für ganz
unterschiedliche Vertragstypen, die zu Beginn, während oder zu Ende der Kolonial-
herrschaft abgeschlossen und aus zeitgenössischer Sicht als ungerecht betrachtet
wurden. Anands Schilderungen über die Geschichte des Kolonialismus geben einen
Eindruck von der Vielfalt Ungleicher Verträge.13 So seien die Staaten Afrikas und
Asiens insbesondere im 19. Jahrhundert gezwungen worden, sogenannte „Kapitu-
lationsverträge“ („capitulation treaties“) zu unterzeichnen, durch welche Auslän-
der aus Europa auf dem Staatsgebiet des Gaststaates ihrer heimischen Jurisdiktion
unterstellt und von jener des Gaststaates befreit wurden.14 Dies sei damit begrün-
det worden, dass die unterentwickelten Rechtssysteme der Gaststaaten nicht zum
Schutz von Staatsbürgern zivilisierter Staaten ausreichten.15 Diese Extraterritoriali-
tät sei jedoch zum Teil vom Westen für illegale Aktivitäten wie Schmuggel ausge-
nutzt worden.16 Diese Verträge basierten nicht auf dem freien Willen der Gaststaa-
ten, sondern waren diesen unter Zwang oder Täuschung aufgenötigt worden und
beinhalteten für sie nachteilige Regelungen. Die Verträge galten oft zeitlich unbe-
grenzt und es war auch keine Revision vorgesehen.17 Lediglich durch Artikel 19
der Völkerbundsatzung konnten solche Verträge gelegentlich überprüft werden, was
jedoch niemals tatsächlich zur Revision eines Vertrages geführt hatte.18 Der Westen
war nur dann bereit, Ungleiche Verträge neu zu verhandeln, wenn die Gaststaaten
10
Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 29; dieser zitiert Stalin nach
Triska/Slusser, The Theory, Law and Policy of Soviet Treaties (1962), S. 42.
11
Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 29.
12
Siehe die Ausführungen bei Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public
International Law (2007), Rn. 34.
13
Anand, New States and International Law (1972), S. 23 ff.
14
Anand, New States and International Law (1972), S. 23.
15
Anand, New States and International Law (1972), S. 23. Solche Kapitulationsverträge beruh-
ten zwar laut Anand auf einem Brauch aus der asiatischen Antike und beruhten ursprünglich
auf der Gleichheit der Parteien; im 19. Jahrhundert seien solche Verträge jedoch unwider-
rufbar geworden und implizierten zivilisatorische Minderwertigkeit und Unterentwicklung.
16
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007), Rn. 26.
17
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 18; Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire,
74 Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 348.
18
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 18. Abi-Saab schrieb hierzu: „At the San Francisco Conference, several Latin-American
and newly independent states tried to introduce an article similar to article 19 of the covenant
128 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
of the League of Nations concerning the revision of treaties by the organization. This attempt
was partially defeated because of the resistance of the big powers. Article 14 of the Charter
does include, although implicitly, such a possibility. It has not been frequently invoked for
this purpose, however.” Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of Internatio-
nal Law: An Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 108 f.
19
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 19 ff.; Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal
Empire, 74 Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 348.
20
Anand, New States and International Law (1972), S. 28 f. Oft waren damit auch einseitige
“most-favoured-nation”-Klauseln verbunden, siehe Peters, Unequal Treaties, Max Planck
Encyclopedia of Public International Law (2007), Rn. 17.
21
Anand, New States and International Law (1972), S. 29. Craven beschreibt, wie die Unglei-
chen Verträge in China, Siam und Japan zum Brennpunkt der Entwicklung nationalistischer
Strömungen gerieten, die unter anderem zum Untergang der Ming-Dynastie führten. Craven,
What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74 Nordic
Journal of International Law (2005), S. 335, 344.
22
Zur Quasi-Souveränität siehe oben Kapitel 2 und Anghie, Imperialism, Sovereignty and the
Making of International Law (2005), S. 75.
23
Zu der Entwicklung in Afrika siehe Nguluma, Unequal Treaties (with Special Reference
to the African Experience in Unequal Exchange and Cession of Land), 5(2) Journal of the
Faculty of Arts and Social Science (1980), S. 217, 218 ff.; vgl. auch Anand, New States and
International Law (1972), S. 29. Anders als in Afrika standen Annexionen in Ostasien nicht
zur Diskussion; stattdessen wollte sich der Westen möglichst weitreichende Rechte gegen-
über diesen unabhängigen Entitäten sichern. Alle Ungleichen Verträge in Ostasien hatten
aber letztlich einen ähnlichen Inhalt: Sie öffneten die Häfen für den Außenhandel, etablierten
extraterritoriale Jurisdiktion, begründeten Importpflichten und Konzessionen für ausländi-
sche Gesellschaften, beinhalteten ein Recht auf friedliche Durchfahrt, den Schutz christlicher
Missionare sowie die Abtretung oder Verpachtung von Territorien und waren mit most-favou-
red-nation-Klauseln versehen. Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continui-
ties of Informal Empire, 74 Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 43 f., 352.
I. Die Geschichte Ungleicher Verträge129
beispielsweise ein Protektorat über den Kongo vereinbart und somit das Belgische
Imperium König Leopolds errichtet worden.24 Während Anand hier das wider-
sprüchliche Vorgehen der westlichen Staaten (welche die Rechtspersönlichkeit
der Entitäten einerseits in Asien und Afrika in Frage stellten und andererseits mit
ihnen Verträge abschlossen) herausstellte,25 betonte Elias mit kontributionistischer
Schlagrichtung die Verbindlichkeit solcher Verträge.26 Der Gipfel dieser völker-
vertragsrechtlichen Entwicklung weg vom Erfordernis der freien Einwilligung
der betroffenen Gebiete waren – in Jenks Worten – Verträge „concluded by the
great powers on behalf of the international community“,27 wie die Kongoakte von
1885, auf deren Grundlage die europäischen Mächte in den folgenden Jahren ganz
Afrika unter sich aufteilten, ohne dass die afrikanischen Staaten daran in irgend-
einer Form beteiligt worden wären.28 Diese Verträge wirkten sich nicht nur inhalt-
lich nachteilig für die betroffenen Entitäten aus, sondern waren nicht einmal unter
Zwang, sondern schlicht ohne die Entitäten selbst geschlossen worden.
Im Verlauf der Völkerrechtsgeschichte wurden somit aus der Perspektive der Völker-
rechtswissenschaft in der Dritten Welt zahlreiche Ungleiche Verträge abgeschlossen.29
Hinzu kam, dass häufig auch korrupte Herrscher bereit waren, Verträge zum Nach-
teil ihrer Bevölkerung abzuschließen.30 Und auch mit der Dekolonialisierung trat ein
neuer Typus Ungleicher Verträge, der Devolutionsvertrag, hinzu, dessen Unterzeich-
nung etwa von der britischen Kolonialmacht vielfach zur Bedingung der Entlassung
einer Kolonie in die Unabhängigkeit gemacht wurde. Hierzu zitierte Anand Abi-Saab:
[T]reaties have been used to sanctify subjugation and exploitation of the smaller and weaker
states. They have, moreover, been used to impose protection and to extort exclusive econo-
mic privileges. Many newly independent states had to sign unequal treaties or to adhere to
24
Anand, New States and International Law (1972), S. 32. Zu solchen Schutzverträgen siehe
auch Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 19.
25
Vgl. Anand, New States and International Law (1972), S. 18 f., 23. So später auch Craven,
What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74 Nordic
Journal of International Law (2005), S. 335, 352; Anghie, Imperialism, Sovereignty and the
Making of International Law (2005), S. 73 ff.; Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations:
The Rise and Fall of International Law 1870–1960, (2002), S. 98 ff.
26
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 19. Siehe hierzu schon
oben Teil I.
27
Jenks, The Common Law of Mankind (1958), S. 96 f.
28
Anand, New States and International Law (1972), S. 33. In diesem Zusammenhang
erwähnte Abi-Saab auch den von Jenks verwendeten Begriff von Verträgen „concluded by
the great powers on behalf of the international community“, worunter er beispielsweise
den Berlin-Akt aus dem Jahre 1885 meint, durch welchen die Kolonialmächte Afrika unter
sich aufteilten. Diese könnten die neuen Staaten nicht als für sich bindend akzeptieren, da
sie die Großmächte ansonsten implizit als übergeordnete Gesetzgeber anerkennen würden.
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline, 8
Howard Law Journal (1962), S. 95, 107 f.
29
Anand, New States and International Law (1972), S. 43.
30
Anand, New States and International Law (1972), S. 43.
130 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
military alliances under strong pressures. Sometimes, independence is granted only after
such a treaty is signed, granting the colonial Power economic and military concessions. The
newly independent States have little choice in such a situation.31
Dabei traten die Autoren in der Dritten Welt wiederum als Fürsprecher ihrer Hei-
matstaaten auf, die sich der Bindungskraft gewisser kolonialer Verträge entziehen
wollten. Aus dieser an den praktischen Interessen ihrer Heimatstaaten orientierten
Schlagrichtung erklärt sich, dass sich die Autoren in den neuen Staaten nur wenig
mit Begriff und Konzept Ungleicher Verträge befassten und sich stattdessen mit den
einzelnen Verträgen auseinandersetzten, die sie als Ungleiche Verträge erachteten.
Gemeinsame Merkmale Ungleicher Verträge sollten demnach zum einen Zwang oder
ähnliche Umstände bei Vertragsabschluss, welche der Freiwilligkeit der übernomme-
nen Verpflichtungen entgegenstanden, und zum anderen die Unausgeglichenheit der
vertraglichen Verpflichtungen sein. Ungleiche Verträge konnten damit grundsätzlich
sowohl prozedural als auch materiell begriffen werden. Manche Autoren betonten
zwar hauptsächlich den materiellen Aspekt Ungleicher Verträge, für die charakte-
ristisch sei, dass ihr Inhalt ein unausgeglichenes Verhältnis von Rechten und Pflich-
ten zwischen den Vertragsparteien schuf.34 Nicht-reziproke Verträge widersprachen
31
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 108; zitiert bei Anand, Attitude of the Asian-African
States Toward Certain Problems of International law, 15 International & Comparative Law
Quarterly (1966), S. 55, 62.
32
Afro-Asian Jurists’ Conference (1957), S. 77.
33
Afro-Asian Jurists’ Conference (1957), S. 233.
34
So schreibt Anghie: “The resulting ‘unequal treaties’ – unequal not because they were the
product of unequal power, but because they embodied unequal obligations – were humilia-
ting to the non-European states, which sought to terminate such treaties at the earliest oppor-
tunity.” Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law (2005), S. 72.
Auch andere Autoren gehen von einem rein materiellen Begriff der Ungleichen Verträge
aus. Siehe Caflisch, Unequal Treaties, 35 German Yearbook of International Law (1992),
S. 52, 78 f.; Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of
International Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 123 f.
II. Das Konzept Ungleicher Verträge in der Völkerrechtswissenschaft der Dritten Welt131
jedoch wie bereits dargestellt35 nicht grundsätzlich den Interessen der neuen Staaten
und wurden von Völkerrechtlern in der Dritten Welt zum Teil – etwa im Bereich von
Weltwirtschaftsrecht und Entwicklungszusammenarbeit – explizit gefordert.36 Dies
machte das von der Afro-Asiens Jurists’ Conference angeführte prozedurale Element
Ungleicher Verträge notwendig; diese mussten deshalb zustande gekommen sein,
weil eine Partei in irgendeiner Form Druck auf die andere ausgeübt hatte. Häufig
hingen das prozedurale und das materielle Element Ungleicher Verträge jedoch eng
zusammen, da die ungleiche Ausgangsposition der Vertragsparteien bei Vertrags-
schluss der einen Partei Druckmittel in die Hand gab, durch welche diese der anderen
Partei einen für jene nachteiligen Vertragsinhalt aufdiktieren konnte.37 Letztlich
ließen sich Ungleiche Verträge also dadurch kennzeichnen, dass sie weder ihrer Ent-
stehung noch ihrem Inhalt nach auf dem freien Willen aller Vertragsparteien fußten.
Gegen ihre Bindung an Ungleiche Verträge wehrten sich nach der Dekolo-
nialisierung viele neue Staaten, als deren Fürsprecher die Völkerrechtler aus der
Dritten Welt auftraten. Sie standen vor dem Problem, dass ein völlig freier Wille
35
Siehe oben, Teil I.
36
Anand, New States and International Law (1972), S. 109; Tomuschat, Die Charta der wirt-
schaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten: Zur Gestaltungskraft von Deklarationen der
UN-Generalversammlung, 36 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völker-
recht (1976), S. 444, 457; Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of Inter-
national Law: An Outline, 8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 104.
37
Damit entsprach das Konzept Ungleicher Verträge in der Völkerrechtswissenschaft der
Dritten Welt im Wesentlichen auch jenem in der westlichen Literatur. Röling betrachtete das
Problem der Ungleichen Verträge vor dem Hintergrund der freien Einwilligung als Grund-
lage der Einhaltung eines Vertrages, welche in vielen afro-asiatischen Verträgen gerade
fehle. Der Brite Anthony Lester machte folgende vier Elemente Ungleicher Verträge aus:
Abschluss unter Zwang, ungleiches Kräfteverhältnis zwischen den Parteien bei Vertrags-
schluss, Änderung ursprünglich gerechter Verträge auf Grund des Wandels der Umstände und
mangelnde Befugnisse des Vertreters der schwächeren Partei, diese wirksam zu verpflichten.
Lester, Bizerta and the Unequal Treaty Theory, 11 International and Comparative Law Quar-
terly (1962), S. 847, 851. Für die schwedische Völkerrechtlerin Ingrid Detter war die Idee
Ungleicher Verträge insbesondere vom Konzept der souveränen Gleichheit geprägt. Dieses
beinhalte zum einen die meist unproblematische, „forensische“ Gleichheit aller Staaten vor
dem Völkerrecht. Daneben bedeute Gleichheit aber auch die entsprechende Fähigkeit, Rechte
auszuüben und Pflichten wahrzunehmen; der letztere Aspekt der Gleichheit sei jedoch dann
nicht gegeben, wenn etwa neue Staaten sich international nicht Gehör verschaffen könnten
und sich gezwungen sähen, Verträge zu Gunsten mächtigerer Staaten zu unterzeichnen,
obschon diese ihren eigenen nationalen Interessen zuwiderliefen. Detter, The Problem of
Unequal Treaties, 15 International and Comparative Law Quarterly (1966), S. 1069, 1070.
Den Begriff “forensisch” entleiht Detter von McNair, Equality in International Law, Michi-
gan Law Journal (1927), S. 136. Der Taiwaner Lung-Fong Chen schlug folgende Definition
der Ungleichen Verträge vor: „[A]n unequal treaty is a treaty of unequal and nonreciprocal
nature contrary to the principles of equality of states and reciprocity in the making, obliga-
tions, rights and performance of the treaty.” Chen, State Succession Relating to Unequal
Treaties (1974), S. 34. Auch in der westlichen Literatur dominierte also eine Verknüpfung
formaler und materieller Elemente des Konzepts der Ungleichen Verträge.
132 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
Die Verurteilung Ungleicher Verträge beruhte für Sinha also zum einen auf den
nationalen Interessen der ehemaligen Kolonien, stand aber auch im Zeichen der
Gleichheit in Bezug auf die Völkerrechtssetzungskompetenz. Diese beiden Punkte
hob auch Abi-Saab hervor.41 Die Afro-Asian Jurists’ Conference bezeichnete Unglei-
che Verträge ähnlich als Verstoß gegen die VN-Charta und klassifizierte sie darüber
hinaus als Gefahr für den Weltfrieden.42 Solche Verträge wurden als koloniale und
imperialistische Instrumente der mächtigen Staaten zur Subordination der Sou-
veränität schwächerer Nationen betrachtet.43 Die Ungleichen Verträge waren aus
38
Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74
Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 361. Siehe hierzu im Detail unten, ins-
besondere Kapitel 6 und Kapitel 8.
39
Anand, New States and International Law (1972), S. 31.
40
Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of International
Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 123.
41
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 107 f.
42
Afro-Asian Jurists’ Conference (1957), S. 233.
43
Vgl. Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of International
law, 15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 65; Koskenniemi, Interna-
tional Law and Imperialism, in Freestone/Subedi/Davidson (Hrsg.), Contemporary Issues in
International Law: A Collection of the Josephine Onoh Memorial Lectures (2002), S. 197 ff.;
Simpson, Great Powers and Outlaw States: Unequal Sovereigns in the International Legal
Order (2004), S. 243 ff. Für Craven war das Ziel dieser Ungleichen Verträge nie die imperia-
listische Annexion der Staaten, sondern vielmehr das Ideal des freien Handels. So wurde die
Errichtung extraterritorialer Regime mit der Andersartigkeit der ostasiatischen Kulturen und
nicht mit ihrer Unterlegenheit gerechtfertigt, was allerdings deren nicht-reziproke Grundlage
nicht erklären konnte. Im Ergebnis bedienten sich die Westmächte hier aber der gleichen
Sprache und kulturellen Projektionen wie später im Kolonialismus. Craven, What Happened
to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74 Nordic Journal of International
Law (2005), S. 335, 345 f.
II. Das Konzept Ungleicher Verträge in der Völkerrechtswissenschaft der Dritten Welt133
44
Vgl. Udokang, The Role of the New States in International Law, 15 Archiv des Völkerrechts
(1971/72), S. 145, 190; Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of
Informal Empire, 74 Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 350 ff.
45
Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74
Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 352 ff.
46
Zur Möglichkeit einer solchen Argumentation siehe schon oben Teil I; Pahuja, Decolo-
nising International Law: Development, Economic Growth and the Politics of Universality
(2011), S. 112 f.
47
Vgl. Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of International
law, 15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 65.
48
Vgl. Teil I.
49
So beispielsweise Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding
Quality of International Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965),
S. 121, 123 f.
50
Anand, Attitude of the Asian-African States Toward Certain Problems of International law,
15 International & Comparative Law Quarterly (1966), S. 55, 65.
51
Afro-Asian Jurists’ Conference (1957), S. 101.
134 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
loszusagen.52 Dabei waren sie von der sowjetischen Position inspiriert, die selbst
solche Verträge für unwirksam hielt, die zwar reziproke Verpflichtungen beinhalte-
ten, aber materielle Ungerechtigkeiten verfestigten.53 Sowjetische Wissenschaftler
gingen davon aus, dass es sich bei den Vereinbarungen gar nicht um Verträge handelte
und das Prinzip „pacta sunt servanda“ daher keine Anwendung finden könnte.54 Die
Völkerrechtler in der Dritten Welt betrachteten Ungleiche Verträge entweder ebenso
als von Anfang an unwirksam oder bestanden zumindest auf ein Recht der neuen
Staaten, sich durch einseitige Erklärung von diesen Verträgen zu lösen.55 Entspre-
chend hatte die Afro-Asian Jurists’ Conference den Staaten, die Opfer eines solchen
Vertrages geworden waren, gestattet, sich selbst von dessen Bürde zu befreien, ihnen
letztlich also ein unilaterales Lösungsrecht zuerkannt, ohne dabei einen besonderen
Feststellungsmechanismus einzufordern.56 Während also das Völkerrecht der Kolo-
nialzeit aus der Perspektive der Völkerrechtswissenschaft aus der Dritten Welt Dis-
kriminierung, Ausbeutung und Unterordnung nicht-westlicher Völker erlaubte, die
Anwendung von Gewalt und Einmischungen in die inneren Angelegenheiten eines
Staates als Mittel zwischenstaatlicher Beziehungen anerkannt und damit Kolonialis-
mus und erzwungene Ungleiche Verträge legitimiert hatte, stellten Völkerrechtswis-
senschaftler in den neuen Staaten die Gültigkeit dieser Normen nach Gründung der
Vereinten Nationen und mitten im Dekolonialisierungsprozess in Frage.57
52
Afro-Asian Jurists’ Conference (1957), S. 233.
53
Kulski, Soviet Comments on International Law and Relations, 48 American Journal of
International Law (1954) S. 640, 640 ff.; Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia
of Public International Law (2007), Rn. 5; Chiu, The People’s Republic China and the Law of
Treaties (1972), S. 63 ff.; Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 29.
54
Zum Beispiel Haraszti, Some Fundamental Problems of the Law of Treaties (1973), S. 390.
Siehe auch Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law
(2007), Rn. 33.
55
Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of International
Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 124.
56
Vgl. Afro-Asian Jurists’ Conference (1957), S. 233.
57
Anand, New States and International Law (1972), S. 44. Siehe auch Elias, Africa and the
Development of International Law (1972), S. 19.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge135
neuen Staaten zum einen ganz grundsätzlich an, um im Rahmen ihres Globalsoli-
darischen Projekts auf eine materiell universale Völkerrechtsordnung hinzuarbeiten
(1.). Zum anderen eröffneten ihnen insbesondere die Arbeiten der ILC am Recht der
Verträge die Möglichkeit, die Bindung der neuen Staaten an Ungleiche Verträge im
Speziellen zu bekämpfen (2.).58
Die ILC wurde im Jahr 1947 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen als
Unterorgan eingesetzt, um gemäß Artikel 13 VN-Charta die Kodifikation und die pro-
gressive Weiterentwicklung des Völkerrechts voranzutreiben.59 Eine Erläuterung dieser
beiden Begriffe findet sich in Artikel 15 ILC-Statut:60
58
Siehe zum Kampf gegen Ungleiche Verträge im Rahmen des Rechts der Staatennachfolge
in Verträge unten, Teil III.
59
GA, UN Doc A/Res/174 (II) (21. November 1947); Rao, International Law Commission
(ILC), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2006), Rn. 3; vgl. auch Artikel
1 und 15 ILC-Statut. Faktisch hat sich die ILC trotz der offenen Formulierung von Artikel 1
ILC-Statut stets nur mit völkerrechtlichen Fragen beschäftigt und Probleme des Internationa-
len Privatrechts nur dort thematisiert, wo der Zusammenhang dies forderte. Wood, Statute of
the International Law Commission, United Nations Audiovisual Library of International Law
(2009), S. 2. Vgl. dazu auch Kapitel 10 zum Thema Erworbene Rechte.
Die ILC war nicht die erste Institution in der Völkerrechtsgeschichte, welche eine Fest-
schreibung und Fortbildung des Völkerrechts fördern sollte. Die Kodifizierungsbewegung im
Völkerrecht fand ihren Ursprung bereits in den ad hoc-Konferenzen des 19. Jahrhunderts. Sie
wurde im Völkerbund unter dem Committee of Experts for the Progressive Codification of
International Law stärker systematisiert und gipfelte im Jahr 1930 in der Hague Codification
Conference, die jedoch wenig Erfolg beschieden war. Der Ruf der Kodifizierung auf Bestreben
von Regierungen litt darunter erheblich. Nach der Gründung der Vereinten Nationen bereiteten
das von der Generalversammlung eingesetzte Committee on the Progessive Development of
International Law and its Codification sowie das Subcommittee 2 des Sechsten Komitees der
Generalversammlung den Weg für die Gründung der ILC. Während der Vertreter der UdSSR
im Committee on the Progessive Development of International Law and its Codification for-
derten, die künftige ILC mit Staatenvertretern zu besetzen, zog die Mehrheit der Komiteesmit-
glieder ihre Lehre aus der Völkerbundzeit und favorisierte ein Expertengremium. Diese Ansicht
setzte sich letztlich durch; die ILC sollte das weltweit einzige Expertengremium werden, das
bei seiner Arbeit die Staaten unmittelbar miteinbindet und seine Empfehlungen direkt an die
Staaten richten kann. Wood, Statute of the International Law Commission, United Nations
Audiovisual Library of International Law (2009), S. 1; Briggs, The Work of the International
Law Commission, 17 Judge Advocate General of the Navy Journal (1963), S. 56, 57.
60
Praktische Probleme der Trennung zwischen Kodifikation und progressiver Weiterentwick-
lung wurden bei Verabschiedung des Statuts bereits vorhergesehen; es handelte sich letzt-
lich um einen politischen Kompromiss. Briggs, The International Law Commission, S. 141;
Wood, Statute of the International Law Commission, United Nations Audiovisual Library of
International Law (2009), S. 2.
136 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
In der Praxis der ILC wurde jedoch nie grundlegend zwischen Kodifikation und pro-
gressiver Weiterentwicklung unterschieden.62 Stattdessen nutzt die ILC in beiden
Fällen dasselbe, allerdings recht flexible Verfahren.63 Besondere Bedeutung für die
61
Artikel 15 ILC-Statut. Das Statut der ILC ist kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern kann
mittels Generalversammlungsresolution verändert werden. Obwohl solche Änderungen
bereits vorgenommen wurden, ergeben sich die tatsächlichen Arbeitsmethoden der ILC nicht
unmittelbar aus dem Statut, sondern sind im Lichte der Praxis zu betrachten. Briggs, The
International Law Commission, S. 141; Wood, Statute of the International Law Commission,
United Nations Audiovisual Library of International Law (2009), S. 2.
62
Zu dem Bestreben, das ILC-Statut entsprechend abzuändern, siehe Wood, Statute of the Interna-
tional Law Commission, United Nations Audiovisual Library of International Law (2009), S. 2.
63
Wood, Statute of the International Law Commission, United Nations Audiovisual Library
of International Law (2009), S. 4.
Das Plenum ernennt in beiden Fällen einen Sonderberichterstatter auf Vorschlag des Vor-
sitzenden; gelegentlich wird im Vorfeld eine Arbeitsgruppe oder ein Unterkomitee einge-
setzt. Der Sonderberichterstatter leitet die Arbeiten: er erstellt einen Arbeitsplan, analysiert
Forschungsstand und Staatenpraxis und erarbeitet auf dieser Grundlage Vorschläge, die er in
seinen Berichten dem Plenum unterbreitet. Das Plenum debattiert die Berichte der Spezial-
berichterstatter; sofern das Plenum (zumeist unter maßgeblichem Einfluss des Sonderbericht-
erstatters, der die Ergebnisse der Debatte zusammenfasst, bevor das Plenum abstimmt) zu
einer Einigung kommt, übergibt es diese an das Drafting Committee; andernfalls wird eine
Arbeitsgruppe einberufen. Das Arbeitsergebnis der ILC ist eng mit den persönlichen Kompe-
tenzen und Urteilen des Sonderberichterstatters verknüpft und ihm entsprechend zuzurech-
nen. Schließlich verabschiedet das Plenum die Entwurfsartikel vorläufig nach einer ersten
Lesung; die zweite Lesung findet seit 1959 erst ein Jahr später statt, um den Staaten die
Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben, sofern sie diese nicht ohnehin bereits bei der Dis-
kussion des alljährlichen ILC-Berichts im Sechsten Komitee der Generalversammlung wahr-
genommen haben. Diese Diskussionen des ILC-Berichts stellt, obgleich keine Rechtspflicht
der ILC nach ihren Gründungsdokumenten, einen wesentlichen Input für die Arbeit der ILC
dar; so hätte das Aussetzen dieses Verfahrens in der 19. Sitzung der Generalversammlung im
Jahr 1964 beinahe die zeitige Fertigstellung der Arbeiten der ILC zum Vertragsrecht verhin-
dert. Während das Plenum der ILC seine Beschlüsse ursprünglich per Mehrheitsentscheidung
traf, hat sich bald eine Praxis der einstimmigen Entscheidung etabliert. Hierfür war die Arbeit
des Drafting Committee von so weitreichender Bedeutung, dass ohne diese die WVK wohl
nie zustande gekommen wäre, vgl. Rosenne, The Role of the International Law Commis-
sion, 64 Proceedings of the Annual Meeting (American Society of International Law) (1970),
S. 24, 34; ILC, UN Doc A/CN.4/SR.972, ILC-Yearbook (1968, I), S. 164, 169, Rn. 83. Das
Endprodukt übermittelt die ILC der Generalversammlung gemeinsam mit einer Handlungs-
empfehlung. Siehe zum Ganzen Rao, International Law Commission (ILC), Max Planck
Encyclopedia of Public International Law (2006), Rn. 11 ff.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge137
Arbeit der ILC kommt dabei der Generalversammlung und dort insbesondere dem
Sechsten Ausschuss (Rechtsausschuss) zu, da in diesem Forum bestimmt werden
kann, wie viel politische Bereitschaft für die Kodifikation oder Weiterentwicklung
eines bestimmten Themas besteht.64
Das Maß, in welchem die ILC Recht kodifizierte oder progressiv weiterent-
wickelte, war von Anfang an stark von den sie dominierenden Persönlichkeiten
geprägt.65 Die Besetzung der ILC erfolgt nach einem regionalen, durch General-
versammlungsresolution festgelegten Schlüssel.66 Die einzelnen Mitglieder werden
von den VN-Mitgliedsstaaten nominiert und von der Generalversammlung gewählt,
wobei nur Personen mit anerkannten völkerrechtlichen Kompetenzen in das Exper-
tengremium aufgenommen werden sollen und die gesamte Kommission die wesent-
lichen Zivilisationsformen und Rechtssysteme widerspiegeln soll.67 Hieraus (und aus
der Entstehungsgeschichte der ILC) ergibt sich, dass die Mitglieder auf der Grund-
lage ihrer persönlichen Eigenschaften und nicht als Staatenvertreter agieren sollen.68
Die ILC sollte das weltweit einzige Expertengremium werden, das bei seiner Arbeit
die Staaten unmittelbar miteinbindet und seine Empfehlungen direkt an die Staaten
richten kann.69 Auf diese Weise gelangten, insbesondere in den 1960er-Jahren, eine
Reihe prominenter Völkerrechtswissenschaftler aus den neuen Staaten in die ILC.70
Nicht zuletzt diesen herausragenden Persönlichkeiten war es zu verdanken, dass
die früheren Misserfolge der Kodifikationsbewegung zumindest zwischen 1958 und
1969 von einer produktiveren und erfolgreicheren Phase abgelöst wurden.71 Für die
64
Briggs, The Work of the International Law Commission, 17 Judge Advocate General of the
Navy Journal (1963), S. 56, 80.
65
Vgl. El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a
New Direction (1981), S. 8.
66
Siehe Artikel 9 Absatz 2 ILC-Statut. Dabei wurde die Mitgliederzahl entsprechend der
wachsenden Anzahl an Mitgliedern in den Vereinten Nationen von ursprünglich 15 im Jahr
1956 auf 21, weiter im Jahr 1961 auf 25 und schließlich im Jahr 1984 auf 34 angehoben,
siehe Rao, International Law Commission (ILC), Max Planck Encyclopedia of Public Inter-
national Law (2006), Rn. 4; Briggs, The Work of the International Law Commission, 17
Judge Advocate General of the Navy Journal (1963), S. 56, 56.
67
Artikel 2 Absatz 1, Artikel 3, 4 und 8 ILC-Statut.
68
Wood, Statute of the International Law Commission, United Nations Audiovisual Library
of International Law (2009), S. 3.
69
Rao, International Law Commission (ILC), Max Planck Encyclopedia of Public Internatio-
nal Law (2006), Rn. 40.
70
Hierzu gehörten neben Elias (ILC-Mitglied 1962-1975) und Bedjaoui (1965-1981) bei-
spielsweise der Kubaner F. García-Amador (1954-1961), der Mexikaner Jorge Castañeda
(1967-1986), der Uruguayer Jiménz de Aréchaga (1961-1969), der Iraker Mustafa Kamil
Yasseen (1960-1976), der Afghane Abdul Hakim Tabibi (1962-1981). Siehe hierzu auch die
näheren Ausführungen unten in Kapitel 6, Kapitel 7 und Teil III.
71
Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the Annual
Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 26. Speziell zum Vertrags-
recht siehe Ranganathan, Strategically Created Treaty Conflicts and the Politics of Interna-
tional Law (2014), S. 47 ff.
138 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
vorliegende Arbeit sind die Debatten in der ILC auch deshalb so interessant, weil
die ILC als Expertengremium zwar die Aufgabe einer objektiven Untersuchung des
Rechts hat, die Völkerrechtsexperten der ILC jedoch stets vor der – zumindest auch
politischen – Wahl standen, in einem beliebigen Rechtsbereich eher den Weg der
Kodifikation oder jenen der progressiven Weiterentwicklung des Völkerrechts zu
gehen. Hierzu musste jedes ILC-Mitglied eine eigene Position entwickeln, die als
vermeintlich objektive Expertenmeinung nicht notwendigerweise mit der Haltung
der jeweiligen Heimatstaaten im Einklang stehen musste, auch wenn dies gewiss
häufig der Fall war. Anders als in der Literatur konnten sich Völkerrechtler hier
also nicht vordergründig neutral hinter die Staaten der Dritten Welt stellen, sondern
mussten selbst Stellung beziehen.
Insgesamt herrschte bei den Staaten wie bei der Völkerrechtswissenschaft in der
Dritten Welt in der Zeit nach der Dekolonialisierung ein Enthusiasmus bezüglich
der Vereinten Nationen vor,72 der sich auch auf die ILC erstreckte. Die neuen Staaten
wünschten sich dabei eine aktive Rolle im völkerrechtlichen Rechtssetzungsprozess
im Rahmen der Vereinten Nationen durch aus ihrer Region entsandte Mitglieder der
ILC.73 Dies ergab sich schon in Bezug auf die Rechtsquellenlehre: Die Hauptarbeit
der ILC war die Ausarbeitung von völkerrechtlichen Verträgen. Die neuen Staaten
zogen das Vertragsrecht dem Gewohnheitsrecht vor, da hiervon nur dann Bindungs-
wirkung ausging, sofern ein Staat dieser zugestimmt hatte.74 Zwar hielt Bedjaoui
wie viele Völkerrechtler in der Dritten Welt das Vertragsrecht für schwerfällig und
zeitaufwendig.75 Trotzdem nannte er völkerrechtliche Verträge „the basis of inter-
national relations and the firmest fabric of international law.“76
Allerdings war die Ausarbeitung völkerrechtlicher Verträge durch die ILC für die
neuen Staaten nicht einfach ein weiterer Schritt in der Geschichte der völkerrecht-
lichen Kodifikationsbewegung, sondern hatte eine weit darüber hinaus reichende
Bedeutung. Im Abschluss neuer völkerrechtlicher Verträge, die im Rahmen der ILC
unter Beteiligung der ehemaligen Kolonien erarbeitet wurden, lag für viele Völker-
rechtler der Dritten Welt die Lösung der völkerrechtstheoretischen Probleme, die zu
Beginn der vorliegenden Arbeit dargestellt wurden. Sowohl die neuen Staaten als
72
Gathii, A Critical Appraisal of the International Legal Tradition of Taslim Olawale Elias, 21
Leiden Journal of International Law (2008), S. 317, 331; siehe hierzu schon Teil I.
73
Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of International
Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 124.
74
Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of Internatio-
nal Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 122 f.; Bedjaoui,
Towards a New International Economic Order (1979), S. 138. Siehe zu der Problematik der
Bindung der neuen Staaten an das Völkergewohnheitsrecht Teil I.
75
So hatten die Verhandlungen zur UN-Seerechtskonvention für Bedjaoui gezeigt, dass auch
multilaterale Verträge zügig verabschiedet werden konnten; dies allerdings nur, sofern dies
auch im Interesse der Großmächte lag. Die neuen Staaten begegneten den Industrienationen
nun aber faktisch nicht auf Augenhöhe. Bedjaoui, Towards a New International Economic
Order (1979), S. 138 f
76
Bedjaoui, Towards a New International Economic Order (1979), S. 138.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge139
auch die Völkerrechtswissenschaft in der Dritten Welt betrachteten die ILC dabei
als das wesentlichste Instrument, um eine materielle Universalisierung des Völker-
rechts zu erreichen. Aus Allgemeinem Völkerrecht, dessen Bindungswirkung für
die neuen Staaten umstritten war,77 wollten diese Vertragsrecht machen, an dem die
neuen Staaten mitgewirkt hatten.
So hielt Elias die Erfolge der Kodifikationsbewegung für eine der bedeutendsten
Entwicklungen auf dem Gebiet des Völkerrechts in seiner Zeit.78 Für Elias war die
Kodifizierung durch die ILC der Weg in eine universelle Völkerrechtsordnung. Zu
einer Zeit, als die WVK gerade verabschiedet worden war und die ILC sich mit
Fragen der Staatennachfolge befasste, prophezeite er:
It must be conceded that, when these and the other subjects now under study […] are com-
pleted, international law will have been rewritten and re-stated to an extent that it will have
ceased to be an European-oriented law and become a modern world law.79
Indem es die ILC den neuen Staaten ermöglichte, bei der Entwicklung des Völker-
rechts mitzuwirken, sollte beispielsweise das Vertragsrecht auf ein breites, solides
Fundament gestellt werden.81 Hinzu kam insbesondere aus Sicht der Dritten Welt
die enge Zusammenarbeit zwischen der ILC und dem AALCC.82 So wurde den
77
Siehe zum Ganzen oben Teil I.
78
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 65 f.
79
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 67. Ähnlich beteuerte
der algerische Vertreter in der Generalversammlung das tiefe Interesse seines Landes an
der Kodifikation und der progressiven Entwicklung des Völkerrechts, welches getragen sei
von der Hoffnung, die Anpassung des Völkerrechts an die modernen Umstände würde einen
besseren Schutz legitimer Interessen sowie eine fruchtbarere Zusammenarbeit der Staaten
fördern. Algerien selbst sei Opfer des traditionellen Völkerrechtes geworden, welches errich-
tet wurde, um den Interessen der Kolonialmächte zu dienen und Eroberungen sowie Unglei-
che Verträge zu rechtfertigen. Official Records of the General Assembly, Eighteenth Session,
Sixth Committee, 789th Meeting, Rn. 28.
80
Briggs, The Work of the International Law Commission, 17 Judge Advocate General of the
Navy Journal (1963), S. 56, 59.
81
GA, UN Doc A/C.6/SR.793, GAOR (1963), Rn. 3.
82
Syatauw, Newly Established Asian States and the Development of International Law
(1961), S. 237 ff.
140 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
Befürchtungen begegnet, ein nur formal universelles, materiell aber rein europäi-
sches Völkerrecht müsse angesichts der veränderten sozialen Realitäten mit vielen
neuen Mitgliedern in der Staatengemeinschaft in die Marginalität abrutschen.83 Für
die Völkerrechtler in den neuen Staaten war die ILC eine willkommene Möglich-
keit, an der Reformierung des Völkerrechts aktiv mitzuarbeiten und die Völker-
rechtsordnung mitzugestalten.84
Auch der Streit um die Frage der Bindung der neuen Staaten an das Allgemeine
Völkerrecht und damit insbesondere an das Völkergewohnheitsrecht85 konnte sich
durch die Arbeit der ILC letztlich erledigen, da neue vertragliche Regelungen altes
Gewohnheitsrecht ablösen würden. Es ging der Dritten Welt vielfach nicht unbe-
dingt darum, das traditionelle Völkerrecht zu ändern; sie wollte aber selbst bestim-
men können, welchen Normen sie sich unterwarf und welchen nicht.86
Für Rosenne, der ebenfalls zu den Mitgliedern der ILC zählte, kam der ILC auch
die Aufgabe zu, das Vertrauen der neuen Staaten in das Völkerrecht zu stärken:
The needs of the international community have of course changed over the period. Fol-
lowing the march of decolonization it has become a question of much more than simply
refashioning the classic notions of customary international law and bringing them into
tune with the realities of today. There is now a very real and urgent necessity – a political
83
Siehe oben, Kapitel 2.
84
Beispielsweise Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 65 ff.
85
Siehe oben Kapitel 3.
86
Auch dort, wo die ILC wie beispielsweise bei den Wiener Diplomaten- und Konsularrechts-
konferenzen 1961 und 1963 weitgehend bestehendes Gewohnheitsrecht nur niederschrieb,
waren die Implikationen ihrer Arbeit für die Bindung der Dritten Welt an das Völkerrecht
bedeutend, wie Briggs schrieb:
„The major significance of this result lies in its refutation of sedulously cultivated state-
ments that existing customary international law was capitalist, imperialist or colonial law and
ill-suited to the needs of Communist States or newly emerged States.
The increase in the number of new States whose relations are governed by international law
has given an entirely new perspective to the codification of that law. […] Representatives of
more than one new State have asked in United Nations debates why they should be considered
bound by rules of international law in whose development they had no part. The actual beha-
vior of these new States belies the implication contained in the challenge: in fact, there has
been no general repudiation of universally binding rules of international law by new States but
some have asserted the right to be selective. The best way to meet this challenge is provide all
the new States with the opportunity to participating, along with older States, in the reformula-
tion of international law to meet contemporary needs.” Briggs, The Work of the International
Law Commission, 17 Judge Advocate General of the Navy Journal (1963), S. 56, 58. Tatsäch-
lich hatten unter anderem die neuen Staaten bei der Wiener Diplomatenrechtskonferenz 1963
über 300 Änderungsvorschläge angebracht; diese wurden jedoch weitestgehend aus Respekt
vor der Arbeit der ILC zurückgezogen oder überstimmt; letztlich wurde die Konvention ein-
stimmig angenommen. Es ging den neuen Staaten hier offenbar nicht ausschließlich darum,
ihre Interessen durchzusetzen, sondern schlicht darum, am Rechtssetzungsprozess aktiv betei-
ligt zu sein; hierfür spricht auch, dass viele Staaten der Dritten Welt zu den ersten Unter-
zeichnern des Vertrages gehörten. Briggs, The Work of the International Law Commission, 17
Judge Advocate General of the Navy Journal (1963), S. 56, 58 f.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge141
necessity – to create for all the newly independent countries in all corners of the globe a
sense of confidence in the law and an appreciation that it is not, or does not have to be, an
instrument of colonialism and of extortion but is rather the embodiment of the sinews of the
very concept of the sovereign equality of states. This means in practical terms […] that the
organ primarily responsible for the groundwork, the International Law Commission, should
itself be broadly representative of the different trends, and conduct its affairs in such a way
that would elicit maximum response from the governments.87
So erfolgreich die ILC in den ersten Jahrzehnten auch war und so enthusiastisch
sie von den Autoren in den neuen Staaten gepriesen wurde, sah sie sich doch im
Laufe der Jahrzehnte auch zunehmender Kritik gerade seitens der Dritten Welt aus-
gesetzt. Es gehörte seit Beginn ihrer Arbeit zum Selbstverständnis der ILC, sich
stärker der Kodifizierung als der progressiven Entwicklung des Völkerrechts zuzu-
wenden.88 Die ILC hatte sich nach der Dekolonialisierung auch weitestgehend auf
den Kern des traditionellen Völkerrechts beschränkt.89 Damit wurde sie jedoch, wie
zeitgenössische Beobachter feststellten, den sich ändernden Bedürfnissen der Staa-
tengemeinschaft nicht gerecht.90 Die neuen Staaten wollten, dass sich die Arbeit
der ILC insbesondere auf solche Gebiete konzentrierte, in denen es an ausführli-
cher Staatenpraxis und etablierter wissenschaftlicher Theorie fehlte.91 So waren es
gerade die ILC-Mitglieder aus der Dritten Welt, die eine progressive Weiterentwick-
lung des Völkerrechts durch die ILC für notwendig erachteten.92 Die Mehrheit der
87
Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the Annual
Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 26 f. Für Rosenne konnte die
psychologische Bedeutung der Teilnahme der gesamten Staatengemeinschaft einschließlich
der ehemaligen Kolonien an Konferenzen zur Kodifizierung des Rechts gar nicht hoch genug
eingeschätzt werden. Für ihn war die Entwicklung der Staatengemeinschaft eng verknüpft mit
dem wachsenden Partizipationsgrad von Staaten aller Teile der Erde bei Kodifikationskonferen-
zen, wobei er die Konferenz zur Wiener Vertragsrechtskonvention als Höhepunkt betrachtete.
Dabei sah er die Beteiligung neuen Staaten als Bereicherung für die Staatengemeinschaft an:
„The conference on the law of treaties epitomizes the full-blown, Athena-like, appearance of
Africa without whose insistence, along with the personal skill of the African Chairman of the
Committee of the Whole, the Vienna Convention would probably never have been completed.”
Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the Annual
Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 36. Der Vorsitzende, von
dem Rosenne hier spricht, war Elias, siehe unten.
88
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.1143, ILC-Yearbook (1971, I), S. 372, 376, Rn. 51; El Baradei/
Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New Direction
(1981), S. 8.
89
Vgl. Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the
Annual Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 33.
90
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 5.
91
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 5.
92
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 9; siehe hierzu auch Kapitel 6, Kapitel 7 und insbesondere Teil III.
142 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
Mitglieder der ILC wollte jedoch keine Veränderung des Rechts, hatte Respekt vor
interdisziplinär angelegten Themen oder die Sorge, bei politisch brisanten Themen
keine tragfähigen Lösungen entwickeln zu können.93
Die Folge war die Errichtung von ad hoc-Organen durch die Vereinten Nationen
wie etwa des Ausschusses für die friedliche Nutzung des Weltraums im Jahr 1959
oder des United Nations Institute for Training and Research (UNITAR) im Jahr
1965, welche damit betraut wurden, Rechtsbereiche einer Regelung zuzuführen,
die grundsätzlich auch von der ILC hätten eruiert werden können.94 Aus Unzufrie-
denheit mit den langwierigen Prozessen innerhalb der Generalversammlung und
insbesondere im Sechsten Komitee wurde auf Initiative der neuen Staaten auch ein
Spezialkomitee für Völkerrechtsprinzipien bezüglich der freundlichen Beziehungen
von Staaten (Special Committee on Principles of International Law Concerning
Friendly Relations and Co-operation among States) errichtet, um das traditionelle
Völkerrecht zu prüfen und den neuen Gegebenheiten anzupassen.95 Die ILC war
ihrer Aufgabe in dieser Hinsicht aus Perspektive der neuen Staaten nicht ausrei-
chend nachgekommen.96 So meinte ein zeitgenössischer Beobachter:
[T]he impatience and dissatisfaction of the neutralist, uncommitted countries with all the
slowness and procedural cumbrousness and simple obstructionism in the U.N. Sixth (Legal)
Committee and the General Assembly, and with the seeming unimaginativeness, even timo-
rousness, of the International Law Commission, which too often, perhaps, in the eyes of
the “new” countries, has appeared to be preoccupied with the petit-point needlework of
international law rather than to be concerned with the imaginative reshaping and rewriting
of international law to meet new conditions in international society.97
Zwar bestand eine – oft auch durch personelle Identität ihrer Mitglieder begründete –
enge Zusammenarbeit zwischen der ILC, dem UNITAR, dem Sechsten Ausschuss
und den Staatenvertretern auf internationalen Konferenzen.98 Trotzdem wurden mit
93
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 10 ff.
94
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 6 f.
95
Anand, New States and International Law (1972), S. 76; McWhinney, The „New“ Count-
ries and the „New“ International Law: The United Nations Special Conference on Friendly
Relations and Co-operation among States, 60 American Journal of International Law (1966),
S. 1, 2; GA/Res/1966 (XVIII), 16. Dezember 1963.
96
Anand, New States and International Law (1972), S. 76; McWhinney, The “New” Count-
ries and the ”New” International Law: The United Nations Special Conference on Friendly
Relations and Cooperation among States, 60 American Journal of International Law (1966),
S. 1, 3 ff., 30 f.
97
McWhinney, The „New“ Countries and the „New“ International Law: The United Nations
Special Conference on Friendly Relations and Co-operation among States, 60 American
Journal of International Law (1966), S. 1, 3.
98
Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the Annual
Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 25.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge143
99
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 7; Rao, International Law Commission (ILC), Max Planck Encyclopedia
of Public International Law (2006), Rn. 36 f. Eine Ausnahme bildete die most-favoured-na-
tions-clause, mit der die ILC bis heute befasst ist.
100
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 13.
101
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 13.
102
ICJ, ICJ-Reports 1966, S. 6, 6 ff.; El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law
Commission: The Need for a New Direction (1981), S. 14; siehe hierzu ausführlich unten.
103
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 41, Fn. 73; Rao, International Law Commission (ILC), Max Planck
Encyclopedia of Public International Law (2006), Rn. 29, 33.
104
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 41, Fn. 76.
105
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 14.
106
Auch wurde und wird der ILC vorgeworfen, nicht der rule of law in den Internationalen
Beziehungen, sondern vielmehr staatlichen Einzelinteressen zu dienen. Auch das Verhält-
nis zwischen ILC und Generalversammlung barg und birgt Schwierigkeiten (die ILC sei zu
technisch und unverständlich, Mitgliedsstaaten beantworteten Anfragen der ILC nicht, dies
allerdings auch, weil Dritte Welt-Staaten damit aus personellen Gründen überfordert waren).
Auch kritisiert wurde die teils geringe Ratifikationszahl von Konventionen, die durch die
ILC ausgearbeitet wurden; allerdings haben auch Konventionen mit wenigen Ratifikationen
144 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
Gerade im Bereich des Vertragsrechts vermochte die ILC jedoch der ihr von Völker-
rechtlern aus der Dritten Welt zugedachten Aufgabe, das Völkerrecht nicht nur zu kodi-
fizieren, sondern auch weiterzuentwickeln, zumindest bedingt gerecht zu werden.107
In der ILC wurde das Problem Ungleicher Verträge in verschiedene, mehr oder weniger
etablierte Normen des Rechts der Verträge übertragen. Dabei bot sich das Recht der Ver-
träge im Kampf der Völkerrechtler in der Dritten Welt gegen Ungleiche Verträge durchaus
an: Angesichts des Wiederaufflammens der Debatte um Ungleiche Verträge anlässlich der
Dekolonialisierung und der hiermit verbundenen Entstehung neuer bzw. neuen unabhängi-
ger Staaten war diese Problematik zwar eng verknüpft mit Fragen der Staatennachfolge.108
Das gewohnheitsrechtliche Recht der Verträge beschäftigte sich jedoch – unabhängig von
den Regeln der Staatennachfolge – mit allgemeinen Fragen der Wirksamkeit von Verträgen
und kannte bereits einige Tatbestände, welche zumindest bestimmte Aspekte Ungleicher
Verträge aufnahmen. Im Zusammenhang mit den Versuchen Chinas und der Sowjetunion,
sich von Ungleichen Verträgen zu lösen, ging beispielswiese der US-Amerikaner Albert
H. Putney bereits 1927 bei der jährlichen Sitzung der American Society of International
Law davon aus, dass das Völkerrecht Ungleiche Verträge zwar grundsätzlich für wirksam
erachtete, aber eben nur außerhalb der geltenden Regeln zu Verträgen unter Gewaltein-
wirkung und zum Prinzip rebus sic stantibus.109 Die Völkerrechtler in der Dritten Welt
gerieten ins Fahrwasser solcher westlicher Völkerrechtler, die schon zur Zeit der Debatte
um Ungleiche Verträge in China und Russland versucht hatten, diese Thematik anhand
bestehender völkergewohnheitsrechtlicher Regelungen des Rechts der Verträge zu lösen.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit der Völkerrechtler in den neuen Staaten standen dabei die
gewohnheitsrechtlich bereits ausgebildeten bzw. zumindest diskutierten Normen zu unter
wie die Wiener Vertragsrechtskonvention sich im Laufe der Zeit behaupten können. Andere
Kritikpunkte waren die Gefahr einer zu stark akademischen Herangehensweise an praktische
Probleme und die hohen Kosten. Seit 1977 wurde in der Planungsgruppe über eine Rationali-
sierung der Arbeitsweise der ILC diskutiert. Siehe zum Ganzen El Baradei/Franck/Trachten-
berg, The International Law Commission: The Need for a New Direction (1981), S. 14 ff.;
Rao, International Law Commission (ILC), Max Planck Encyclopedia of Public International
Law (2006), Rn. 38.
107
Siehe insofern etwa die Regelung zum Prinzip rebus sic stantibus, Kapitel 7. Vgl auch
El Baradei/Franck/Trachtenberg, The International Law Commission: The Need for a New
Direction (1981), S. 38, Fn. 28.
108
Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. xi, 4. Siehe hierzu auch
Teil III.
109
Putney, Termination of Unequal Treaties, American Society of International Law Procee-
dings (1927), S. 87, 89 f. Ähnlich knüpfte in den 1960er-Jahren Detter an bestehende Kon-
zepte an. Detter, The Problem of Unequal Treaties, 15 International and Comparative Law
Quarterly (1966), S. 1069, 1089. Sie forderte jedoch eine Feststellung der Nichtigkeit bei-
spielsweise durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen, um nicht nur den Interes-
sen der schwächeren Staaten, sondern auch dem Prinzip pacta sunt servanda Genüge zu tun.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge145
(gewaltsamem) Zwang erwirkten Verträgen sowie zu dem Prinzip rebus sic stantibus.110
Entsprechend argumentierten Völkerrechtswissenschaftler der Dritten Welt wie Sinha als
Advokaten ihrer Heimatstaaten:On becoming independent, these States increasingly rely
on the argument that ‘unequal’ or ‘inequitable’ treaties thus extracted, and treaties imposed
by duress, are invalid ab initio. Accordingly, they declare that it is the right of the State
which was obliged to enter into such treaties to terminate them by denunciation.
Rebus sic stantibus is frequently resorted to by the newly independent States in order
to terminate their inherited burdens. The doctrine is invoked by them not only on the basis
of justice but also because a treaty fails to accord with the present position of power in the
world.111
Auch Abi-Saab setzte sich mit den Unwirksamkeitsgründen nach dem Recht der
Verträge auseinander:
The law of treaties is very primitive in comparison with municipal law systems. It does not
recognize coercion as a vice of consent if it is directed to the country as a whole, although it
recognizes duress as a vice of consent if it is directed to the representatives of a contracting
party! It does not require a consideration for the treaty to be valid, nor does it impose a limit
to the inequalities of the burdens created at the behest of the different parties. […]
The result is that they [d. h. die neuen Staaten, Anmerkung der Verfasserin] take a very
liberal attitude as to the modes of extinction of treaties. The doctrine rebus sic stantibus is
widely referred to by the newly independent states. It seems it will be increasingly invoked
by them not only on the basis of justice but also because ‘certain contents of the treaty … no
longer accord with the present position of power.’ The recourse to the unilateral denunciation
of treaties by the newly independent states on the basis of fundamental changes in circumstan-
ces is made easier by the prohibition of war by the Charter (art. 2 par. 4) and the cold war situ-
ation. It is likely to go on as long as there is no international organ to discharge this function.112
110
Siehe hierzu im Detail unten, Kapitel 6 und Kapitel 8.
111
Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of Internatio-
nal Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 123 f. Siehe auch
Okoye, International Law and the New African States (1972), S. 191.
112
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 107 ff. Abi-Saabs Direktzitat stammt von Röling, Inter-
national Law in an Expanded World (1960), S. 89.
146 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
113
Briggs, Procedures for Establishing the Invalidity or termination of Treaties under the
International Law Commissions 1966 Draft Articles on the Law of Treaties, 61 American
Journal of International Law (1967), S. 976, 977.
114
So schon beispielsweise bei Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/
CN.4/63, Yearbook of the International Law Commission (1953, II), S. 90, 93, 147.
115
Vgl. Briggs, Procedures for Establishing the Invalidity or termination of Treaties under
the International Law Commissions 1966 Draft Articles on the Law of Treaties, 61 American
Journal of International Law (1967), S. 976, 977 f.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge147
116
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.834, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 78, 79, Rn. 9.
117
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 188.
118
Krieger, Article 65, in Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Trea-
ties: A Commentary (2012), S. 1137 ff., Rn. 17 ff.
119
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 85.
120
Siehe im Ergebnis Artikel 4 WVK, nach dem eine retroaktive Anwendung letztlich nur
indirekt im Rahmen der Kodifikation von geltendem Gewohnheitsrecht in Betracht kommt.
Zur Debatte in der ILC siehe Rosenne, The Temporal Application of the Vienna Convention
on the Law of Treaties, 4 Cornell International Law Journal (1970-1971), S. 1, 5 ff. Siehe
außerdem Malawer, Studies in International Law (2. Auflage 1977), S. 36.
121
Siehe Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. 4.
122
Vgl. Malawer, Studies in International Law (2. Auflage 1977), S. 37 ff.
123
Chen, State Succession Relating to Unequal Treaties (1974), S. xi, 4.
148 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
124
Vgl. Hogg, The International Law Commission and the Law of Treaties, 59 Proceedings of
the Annual Meeting (American Society of International Law) (1965), S. 8, 12.
125
Hogg, The International Law Commission and the Law of Treaties, 59 Proceedings of the
Annual Meeting (American Society of International Law) (1965), S. 8, 12. Dabei war für eine
solche materielle Universalisierung die formale Beteiligung am Rechtssetzungsakt für die
neuen Staaten nach Einschätzung mancher Beobachter wichtiger als die tatsächliche Durch-
setzung ihrer materiellen Interessen: So erklärte Rosenne die vielen Änderungsvorschläge
zur WVK aus der psychologischen Situation der neuen Staaten heraus; tatsächlich hätte die
Annahme der meisten Vorschläge gar nicht zu gravierenden Änderungen geführt und die Vor-
schläge, welche angenommen wurden, hätten fast durchweg Verbesserungen der Entwurfs-
artikel bedeutet. Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of
the Annual Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 36.
126
Brierly, UN Doc A/CN.4/23, ILC-Yearbook (1950, II), S. 222, 223; Fitzmaurices Ent-
würfe sollten zwar mehr die Form kommentierter Verhaltensstandards als einer verbindlichen
Konvention annehmen. Dies war wohl der nicht gänzlich unberechtigten Sorge geschuldet,
keinen ausreichenden Konsens für einen erfolgreichen multilateralen Vertrag erreichen zu
können. Vgl. ILC, UN Doc A/6309/Rev.l, ILC-Yearbook (1966/II), S. 169, 174, Rn. 13.
Waldock kehrte jedoch zur Form des völkerrechtlichen Vertrags zurück. Zum Ganzen siehe
Hogg, The International Law Commission and the Law of Treaties, 59 Proceedings of the
Annual Meeting (American Society of International Law) (1965), S. 8, 11.
127
Zu Lachs’ Biografie siehe Who’s Who in the United Nations and Related Agencies (1975),
S. 318.
128
Hogg, The International Law Commission and the Law of Treaties, 59 Proceedings of the
Annual Meeting (American Society of International Law) (1965), S. 8, 11.
129
Hogg, The International Law Commission and the Law of Treaties, 59 Proceedings of the
Annual Meeting (American Society of International Law) (1965), S. 8, 11.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge149
the treaties through a multilateral convention would give all the new States the opportunity
to participate directly in the formulation of the law if they so wished; and their participation
in the work of codification appears to the Commission to be extremely desirable in order
that the law of treaties may be placed upon the widest secure foundations.130
Insofern stand die Kodifikation des Rechts der Verträge von Anfang an im Zeichen
des Globalsolidarischen Projekts. Der marokkanische Vertreter erklärte dabei,
dass es im Rahmen der Kodifikation des Rechts der Verträge und im Kampf gegen
Ungleiche Verträge für die neuen Staaten auch darum ging, materielle Gerechtigkeit
herzustellen:
An international treaty which was not consistent with the principles of the equality and
freedom of action of the contracting parties and did not respect their constitutional procedu-
res was ipso facto invalid because it was illegal. The new independent States, for example,
must guard against entering into treaties which, although apparently fair and equal, actu-
ally placed serious restrictions on the exercise of their free will. Since such treaties were
frequently concluded when States were under the impact of specific historical or political
circumstances, inequities were bound to result and it was precisely in order to obviate such
injustice that a codification of the law of treaties was essential.131
Die Hoffnungen der Autoren in den neuen Staaten in die WVK wurden dadurch geschürt,
dass Völkerrechtler aus der Dritten Welt in der ILC und bei der Wiener Vertragsrechts-
konferenz eine wichtige Rolle spielten. So war Elias ab 1962 Mitglied der ILC, arbei-
tete am Entwurf der WVK mit und war Berichterstatter (General Rapporteur) bei den
letzten Sitzungen der Kommission 1965 in Genf und 1966 in Monaco, bei denen die
WVK zu der Version zusammengesetzt wurde, in welcher sie schließlich auf Vorschlag
des 6. Komitees der Generalversammlung im Jahr 1966 angenommen wurde.132 Bei der
Wiener Vertragsrechtskonferenz hatte Elias außerdem eine Doppelrolle als Vertreter der
Dritten Welt und als Chairman of the Committee of the Whole inne.133
Nicht nur in der Völkerrechtswissenschaft der Dritten Welt war die Kodifika-
tion des Rechts der Verträge stets als wichtig erachtet worden.134 Die Kodifikation
des Vertragsrechtes galt als Prüfstein für die moderne Kodifikationsbewegung; ein
Scheitern musste ausgeschlossen werden.135 Dabei barg das Recht der Verträge als
130
ILC, UN Doc A/5209, ILC-Yearbook (1962/II), S. 157, 160, Rn. 17; Elias, Africa and the
Development of International Law (1972), S. 65
131
GA, UN Doc A/C.6/SR.792, GAOR (1963), Rn. 15.
132
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 5; vgl. GA, UN Doc GA/Res/2166 (XXI)
(5. Dezember 1966).
133
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 6. Im Rahmen der Verankerung der Nichtig-
keit Ungleicher Verträge in der WVK sollte Elias allerdings äußerste Zurückhaltung zeigen.
Siehe unten zu den einzelnen Normen der WVK. Elias’ Zurückhaltung im Bereich der
positivrechtlichen Ächtung Ungleicher Verträge zeigt sich auch darin, dass er diese für sich
genommen in seinem Buch The Modern Law of Treaties von 1974 nicht thematisiert.
134
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 46.
135
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 47, 76.
150 Kapitel 5: Die völkerrechtliche Debatte um Ungleiche Verträge und die WVK
sehr technisches Rechtsgebiet das Problem, aber auch die Chance, dass viele Staaten
hier eine grundlegende politische Position beziehen sollten.136 Einerseits waren
große Teile des Rechts der Verträge nicht allzu umstritten, sie boten auf Grund ihrer
reziproken Anwendbarkeit schlicht wenig politisches Konfliktpotential.137 Entspre-
chend wurde in vielen Bereichen eher eine Kodifikation des geltenden Gewohnheits-
rechts zum Recht der Verträge erwartet und auch vorgenommen.138 Allerdings gab
es gerade bei den Normen, die Anwendung auf Ungleiche Verträge hätten finden
können, politische Grabenkämpfe, zumal es in diesen Fällen oft auch an einer ein-
deutigen, etablierten Staatenpraxis fehlte.139 Hier propagierte die Dritte Welt häufig
eine progressive Fortentwicklung des Völkerrechts, wie die folgende Bemerkung des
ghanaischen Vertreters in der Generalversammlung illustriert:
With respect to the draft articles on the law of treaties, his Government would distinguish
between the traditional international law which favoured colonialism and an international
law adapted to the progress of international society. The new codification must consider the
aspirations of the new nations as well as of the old. International law must be purged of any
rules authorizing the exploitation of a weaker Power by a stronger, so as to place all States
on an equal footing. Many existing treaties had been concluded without the real consent of
one or more of the parties. The Organization of African Unity would seek to abrogate all
obligations arising from such treaties. The new African States would therefore not support
the traditional forms of international law which had been designed to exploit and dominate
them.140
Manche Beobachter mahnten, die ILC dürfte bei ihrer hochtechnischen Arbeit
solche allgemeinen Probleme wie das der Ungleichen Verträge, welches gerade
für die neuen Staaten von großer Bedeutung war, nicht aus den Augen verlieren.141
Währenddessen betonte insbesondere der Westen die Verlässlichkeit und Beständig-
keit von Verträgen; er wollte daher nur eine Kodifikation der bestehenden Normen
zum Recht der Verträge mittragen.142
136
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 47.
137
Gottlieb, The International Law Commission, 4 Canadian Yearbook of International Law
(1966), S. 64, 70; Briggs, Procedures for Establishing the Invalidity or termination of Treaties
under the International Law Commissions 1966 Draft Articles on the Law of Treaties, 61
American Journal of International Law (1967), S. 976, 976; Rosenne, The Law of Treaties: A
Guide to the Legislative History of the Vienna Convention (1970), S. 50, 74.
138
Vgl. Briggs, Procedures for Establishing the Invalidity or Termination of Treaties under
the International Law Commissions 1966 Draft Articles on the Law of Treaties, 61 American
Journal of International Law (1967), S. 976, 976.
139
Hogg, The International Law Commission and the Law of Treaties, 59 Proceedings of the
Annual Meeting (American Society of International Law) (1965), S. 8, 13.
140
GA, UN Doc A/C.6/SR.791, GAOR (1963), Rn. 34.
141
Wyzner, Selected Problems of the United Nations Program for the Codification and Pro-
gressive Development of International Law, 56 Proceedings of the Annual Meeting (Ameri-
can Society of International Law) (1962), S. 90, 96.
142
Siehe hierzu unten die Belege zu den einzelnen WVK-Normen, Kapitel 6 und Kapitel 7.
III. Ungleiche Verträge in der Debatte der Völkerrechtskommission im Recht der Verträge151
Insgesamt sollten die Arbeiten an der WVK in Bezug auf Ungleiche Verträge
daher im Spannungsfeld zwischen dem Ruf nach gesellschaftlichem Wandel im
Sinne des Globalsolidarischen Projekts einerseits und dem Prinzip pacta sunt ser-
vanda, das als wiederkehrendes Motiv die Sicherheit und Stabilität in den Vortrags-
bezeichnungen schützen sollte, andererseits verlaufen.143
143
Vgl. hierzu auch Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the
Vienna Convention (1970), S. 76.
Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang
abgeschlossene Verträge in der WVK
In diesem Teil der vorliegenden Arbeit soll dargestellt werden, wie die Dritte Welt
die Norm zu unter gewaltsamem Zwang abgeschlossenen Verträgen in der späteren
Wiener Vertragsrechtskonvention zu nutzen versuchte, um sich Ungleicher Verträge
zu entledigen. Dabei sollen zunächst die ersten Schritte der ILC auf dem Weg zu
einer entsprechenden Norm bis hin Waldocks erster Formulierung des Verbots von
Verträgen unter gewaltsamem Zwang beleuchtet werden (I.). Sodann ist auf deren
Diskussion in der ILC einzugehen (II.). Der von der ILC korrigierte Entwurf wurde
von diversen Regierungen diskutiert (III.), von Waldock erneut überarbeitet, von
der ILC wieder diskutiert und schließlich verabschiedet (IV.). Nach dem diese Ent-
wicklungen nachgezeichnet wurden, ist schließlich auf die Debatten bei der Wiener
Vertragsrechtskonvention zum Verbot von Verträgen unter gewaltsamem Zwang
einzugehen (V.). Abschließend ist auf die Rezeption dieser Norm im Recht der Ver-
träge und ihre Wirksamkeit im Kampf gegen Ungleiche Verträge einzugehen (VI.).
Im Jahr 1949 hatte die ILC zur Erfüllung ihrer Aufgabe nach Artikel 18 ILC-Statut
auf der Grundlage eines Gutachtens des Generalsekretärs der Vereinten Nationen eine
Liste mit 25 Themen erstellt, die als Lauterpacht-Memorandum bekannt wurde und
der ILC fortan als Arbeitsplan dienen sollte.1 Unter den aufgelisteten Bereichen des
1
GA, UN Doc A/925, GAOR (1949), Supplement No. 10, Rn. 16, zitierte nach Rao, Interna-
tional Law Commission (ILC), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2006),
Rn. 7; Wood, Statute of the International Law Commission, United Nations Audiovisual
Völkerrechts, mit denen sich die ILC befassen sollte, befand sich auch das Recht der
Verträge, dem die ILC auf Bitten der Generalversammlung Priorität einräumte.2 Bei
ihrem 33. Treffen ernannte die ILC Brierly zum Sonderberichterstatter für das Völ-
kervertragsrecht.3 Dieser beschäftigte sich in seinen drei Berichten zum Vertragsrecht
ausschließlich mit allgemeinen Definitionen, der Kompetenz zum Vertragsschluss und
dem Entstehungsprozess von Verträgen.4 Als Brierly die ILC 1952 und damit nur drei
Jahre vor seinem Tod verließ, wurde Lauterpacht zu seinem Nachfolger.5 Bereits in
seinem ersten Entwurf der Artikel einer zukünftigen Vertragsrechtskonvention für das
Vertragsrecht sah Lauterpacht dabei ein völkervertragsrechtliches Verbot des Zwangs
gegen einen Staat durch Androhung oder Anwendung von Gewalt vor, welches die
neuen Staaten im Verlauf der Debatte zum Instrument gegen Ungleiche Verträge
machen wollten und das schließlich in Artikel 52 WVK seinen Ausdruck finden sollte.6
Lauterpachts erster Bericht bezweckte dabei vorwiegend die Kodifikation
bestehenden Rechts und gerade keine progressive Rechtsentwicklung.7 Der Bericht
enthielt in seinem zweiten Abschnitt („Reality of consent“) einen mit „Absence of
compulsion“ überschriebenen Artikel 128 mit folgendem Inhalt:
Treaties imposed by or as the result of the use of force or threats of force against a State in
violation of the principles of the Charter of the United Nations are invalid if so declared by
the International Court of Justice at the request of any State.9
Library of International Law (2009), S. 4. Frühe Arbeiten zur Kodifikation des völkerrecht-
lichen Rechts der Verträge waren die Havana Convention on Treaties und der Konventions-
entwurf zum Vertragsrecht der Harvard Research in International Law. An diese schloss die
Arbeit der ILC an. Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the
Vienna Convention (1970), S. 33.
2
GA, UN doc A/Res/16/1686 (18 December 1961); Briggs, The Work of the International
Law Commission, 17 Judge Advocate General of the Navy Journal (1963), S. 56, 59.
3
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.633, ILC-Yearbook (1949), S. 236, 238.
4
Brierly, UN Doc A/CN.4/23, ILC-Yearbook (1950, II), S. 222, 224, Rn. 1; Brierly, UN Doc
A/CN.4/43, ILC-Yearbook (1951, II), S. 70 ff.; Brierly, UN Doc A/CN.4/54, ILC-Yearbook
(1952, II), S. 50 ff.
5
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.179, ILC-Yearbook (1952, I), S. 226, 227, Rn. 5.
6
Vgl. Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90 ff.
7
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the Inter-
national Law Commission (1953, II), S. 90, 90, Rn. 3.
8
Hinweis: Artikel ohne Nennung entsprechen immer der zeitgenössischen Nummerierung
im jeweils diskutierten Regelwerk (Bericht, Vertragsentwurf) zum jeweiligen Zeitpunkt der
Debatte; alle anderen Artikel sind durch Nennung des fraglichen Regelwerks gekennzeichnet.
9
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the Inter-
national Law Commission (1953, II), S. 90, 93, 147.
I. Von der Vorgeschichte der Arbeiten an der Wiener Vertragsrechtskonvention… 155
unter Verletzung der Prinzipien der VN-Charta aufgezwungen worden war. Dabei
räumte Lauterpacht ein, dass Gewalt in der Vergangenheit als Mittel in den inter-
nationalen Beziehungen erlaubt gewesen sei und unter deren Eindruck zustande
gekommene Verträge folgerichtig als wirksam angesehen worden waren.10 Er stellte
jedoch gleichzeitig klar, dass hierin eine faktische Absage an die Idee des freien
Willens der Parteien als Grundlage des Vertrages liege, die symptomatisch sei für
einen grundlegenden Defekt in der völkerrechtlichen Struktur.11 Dieser Defekt sei
als Ergebnis einer seit dem Ersten Weltkrieg andauernden Entwicklung behoben
worden; denn mittlerweile schreibe Artikel 2 Nr. 4 VN-Charta vor, dass alle Mit-
glieder in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unver-
sehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst
mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung
von Gewalt zu unterlassen hätten.12 Dieses Gewaltverbot gehörte für Lauterpacht
unterdessen auch zum gewohnheitsrechtlich gesicherten Bestand des Allgemeinen
Völkerrechts.13 Aus dieser Entwicklung resultiere auch das Verbot gewaltsamen
Zwangs beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge:
It follows that a treaty imposed by or as the result of force or threats of force resorted to
in violation of the principles of these instruments of a fundamental character is invalid by
virtue of the operation of the general principle of law which postulates freedom of consent
as an essential condition of the validity of consensual undertakings.14
Es ergab sich für Lauterpacht also nicht nur aus dem von der Stimpson-Doktrin
gespiegelten Prinzip ex iniria ius non oritur, dass ein Staat aus seinem rechtswid-
rig erzwungenen Vertrag keine rechtlichen Vorteile erlangen durfte, sondern gerade
auch aus dem Erfordernis der freien Willensbildung als Grundlage vertraglicher
Verpflichtungen.15 Die Summe dieser Faktoren ergab für Lauterpacht die Unwirk-
samkeit von Verträgen unter gewaltsamem Zwang.16
10
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 147, Rn. 1. Siehe hierzu auch Peters,
Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007), Rn. 27.
11
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 147, Rn. 1.
12
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 147 f., Rn. 2.
13
Lauterpachts Untersuchung ergab, dass das Gewaltverbot auch in anderen Vertragswerken
wie dem Inter-American Treaty on Reciprocial Assistance von 1947 niedergelegt war. Lau-
terpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the Interna-
tional Law Commission (1953, II), S. 90, 148, Rn. 2.
14
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 148, Rn. 3.
15
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 148, Rn. 3 f.
16
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 149, Rn. 5.
156 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Allerdings erschien ihm die Missbrauchsgefahr einer solchen Norm groß zu sein.17
Zum Schutz der Stabilität völkerrechtlicher Verträge beschränkte Lauterpacht die
Unwirksamkeitsfolge auf solche Verträge, die auf der Androhung oder Anwendung
von Gewalt beruhten;18 eine Taktik, die von vielen anderen westlichen Völkerrechtlern
in der weiteren Debatte aufgegriffen werden sollte. Er bediente sich hier des Wortlauts
von Artikel 2 Nr. 4 VN-Charta.19 Gewalt verstand Lauterpacht dabei rein physisch,
Zwangswirkungen unterhalb dieser Schwelle schloss er vom Anwendungsbereich
der Norm aus.20 Dies entsprach der zu dieser Zeit ganz herrschenden Lehre in der
westlichen Literatur.21 Außerdem musste der Zwang gegen den Staat gerichtet sein,
der Zwang gegen Staatsvertreter war schon nach traditionellem Völkerrecht verboten
gewesen und fiel unter andere Normen.22 Daneben musste die Androhung oder Anwen-
dung von Gewalt die VN-Charta verletzen, durfte also nicht rechtmäßig im Sinne des
VII. Kapitels sein.23 Durch Lauterpachts Schilderung der Entstehung des Verbots von
gewaltsam erzwungenen Verträgen wird deutlich, dass es ihm um eine Flankierung des
Gewaltverbots im völkerrechtlichen Recht der Verträge ging und nicht um den Schutz
der Willensfreiheit von Staaten bei Vertragsschluss. Die seitens der Völkerrechtler in der
Dritten Welt und ihrer Heimatländer geübte Kritik an Ungleichen Verträgen ließ Lau-
terpacht dabei außer Acht. Entsprechend wollte er erzwungene Verträge nur insoweit
sanktionieren, wie diese unter dem Eindruck von Gewalt im Sinne von Artikel 2 Nr. 4
VN-Charta entstanden waren. Hier nutzte Lauterpacht also das Gewaltverbot als Allge-
meines Grundprinzip argumentativ, um eine thematische Grenze im Recht der Verträge
zu ziehen. Nur bis zu dieser Grenze schien ihm die Willensfreiheit der Staaten bei Ver-
tragsschluss als apologetischer Debattenpol schützenswert; dem stand die Verlässlich-
keit des Vertragsrechts als utopische Idee gegenüber, der Lauterpacht Tribut zollte. In
Abweichung vom geltenden Recht forderte Lauterpacht darüber hinaus die Schaffung
einer obligatorischen Gerichtsbarkeit des IGH für die Feststellung der Unwirksamkeit
entsprechender Verträge, um einer missbräuchliche Praxis vorzubeugen.24
17
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 151, Rn. 1.
18
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 149, Rn. 7.
19
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 149, Rn. 7.
20
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 149, Rn. 7.
21
Statt vieler siehe Brownlie, International law and the Use of Force by States (1963), S. 361.
22
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 150, Rn. 8. Siehe Artikel 11, Lauterpacht,
First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the International Law
Commission (1953, II), S. 90, 92.
23
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 150, Rn. 9.
24
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the
International Law Commission (1953, II), S. 90, 150 f., Rn. 11.
I. Von der Vorgeschichte der Arbeiten an der Wiener Vertragsrechtskonvention… 157
Lauterpachts erster Bericht, welcher der ILC bei ihrer fünften Sitzung 1953
vorlag, wurde im Plenum aus Zeitmangel aber ebenso wenig diskutiert wie sein
zweiter Bericht bei der sechsten Sitzung der ILC 1954. Auf Grund seiner Wahl zum
Richter am IGH musste mit Lauterpacht auch der zweite Sonderberichterstatter für
das Vertragsrecht seinen Posten aufgeben; seine Nachfolge trat ab 1955 der Brite Sir
Gerald Gray Fitzmaurice an.25
Fitzmaurice nahm als Sonderberichterstatter zwar auf die Berichte seiner Vor-
gänger Bezug, erarbeitete jedoch einen komplett neuen Entwurf.26 In seinem dritten
Bericht führte er einen mit dem Titel „Duress“ überschriebenen Artikel 14 ein,
in dem Verträgen die Wirksamkeit abgesprochen wurde, welche unter Zwang auf
einen Staatenvertreter zustande gekommen waren.27 Den Zwang gegen Staaten
wollte Fitzmaurice entgegen der aktuellen, von Lauterpacht zum Teil aufgezeigten
Entwicklungen aus praktischen Gründen – und insbesondere auf Grund der Miss-
brauchsgefahr – nicht sanktionieren.28 So würde bei einem Vertrag, dessen Abschluss
mit physischer Gewalt erzwungen wurde, in der Regel auch dessen Durchset-
zung erzwungen, deren Rückabwicklung abermals gewaltsam erfolgen müsste.29
Fitzmaurice betrachtete Frieden unter diesen Umständen als ein höheres Gut als
abstrakte Gerechtigkeit, der gewaltsame Zwang gegen Staaten war für ihn daher
völkervertragsrechtlich unbeachtlich.30 Damit führte Fitzmaurice wie Lauterpacht
die Stabilitätsproblematik an, leitete daraus aber sogar die umfassende Fortwirkung
Ungleicher Verträge ab. Von den insgesamt fünf Berichten, die Fitzmaurice bis zum
Jahr 1960 vorlegte,31 fand die ILC lediglich Zeit, Fitzmaurice allerersten Bericht im
Jahr 1959 zu diskutieren.32 Seine Ausführungen zu Verträgen unter Zwang wurden
ebenso wenig im Plenum diskutiert wie die seines Vorgängers.
Im Jahr 1960 wurde auch Fitzmaurice wie vor ihm Lauterpacht zum IGH-Rich-
ter gewählt und übergab den Stab an den Briten Sir Humphrey Waldock,33 der den
25
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.296, ILC-Yearbook (1955, I), S. 75, 75, Rn. 3.
26
Vgl. ILC, UN Doc A/6309/Rev.l, ILC-Yearbook (1966/II), S. 169, 174, Rn. 13.
27
Fitzmaurice, UN Doc A/CN.4/115 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1958, II), S. 20, 26.
28
Fitzmaurice, UN Doc A/CN.4/115 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1958, II), S. 38, Rn. 62.
29
Fitzmaurice, UN Doc A/CN.4/115 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1958, II), S. 38, Rn. 62.
30
Vgl. Fitzmaurice, UN Doc A/CN.4/115 and Corr. 1, ILC-Yearbook (1958, II), S. 38, Rn. 62.
31
Fitzmaurice, UN Doc A/CN.4/101, ILC-Yearbook (1956, II), S. 104-128; UN Doc A/
CN.4/107, ILC-Yearbook (1957, II), S. 16-70; ders., UN Doc A/CN.4/115 and Corr. 1,
ILC-Yearbook (1958, II), S. 20 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/120, ILC-Yearbook (1959, II),
S. 37-81; ders., UN Doc A/CN.4/130, ILC-Yearbook (1960, II), S. 69-107.
32
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.480, ILC-Yearbook (1959, I), S. 3, 3 Rn. 1 ff.
33
Zu Waldocks Biografie siehe Who’s Who in the United Nations and Related Agencies
(1975), S. 604. Waldock verfasste sechs Berichte zum Recht der Verträge: Waldock, UN Doc
A/CN.4/144 and Add. 1, ILC-Yearbook (1962, II), S. 27 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/156 and
Add. 1-3, ILC-Yearbook (1963, II), S. 36 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/167 and Add. 1-3, ILC-
Yearbook (1964, II), S. 5 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/177 and Add. 1-2, ILC-Yearbook (1965,
II), S. 3 ff.; ders., UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook (1966, II), S. 1 ff.; ders.,
UN Doc A/CN.4/186 and Add. 1-7, ILC-Yearbook (1966, II), S. 51 ff.
158 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Posten des Sonderberichterstatters für Vertragsrecht von 1961 bis zum Abschluss
der Arbeiten innehatte.34 Bis 1962 hatte die ILC nur wenig Zeit auf die Arbeit
am Vertragsrecht verwendet und die Berichte der Sonderberichterstatter nur spo-
radisch diskutiert; ab 1962 folgten sechs erfolgreiche Berichte.35 Die ILC tastete
sich dabei vorsichtig an die Materie heran und schloss die Arbeiten jeden Jahres
mit einem eigenen Bericht ab.36 Waldock widmete sich in seinem zweiten Bericht
der Frage von Verträgen unter Zwang und nahm mit Artikel 12 eine Vorschrift auf,
die wie zuvor bei Lauterpacht und im Gegensatz zur Arbeit von Fitzmaurice die
Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen Staaten völkervertragsrechtlich
sanktionierte:
1. If a State is coerced into entering into a treaty through an act of force, or threat of force,
employed against it in violation of the principles of the Charter of the United Nations, the
State in question shall be entitled —
(a) to declare that the coercion nullifies its consent to be bound by the treaty ab initio; or
(b) to denounce the treaty, subject to the reservation of its rights with respect to any loss
or damage resulting to it from having been coerced into the treaty; or
(c) to affirm the treaty, subject to the same reservation, provided always that no such
affirmation shall be considered binding unless made after the coercion has ceased.
2. Paragraph 1 does not apply, however, where after the coercion has ceased the State has
so conducted itself as to bring the case within the provisions of article 4 of this part.37
34
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.597, ILC-Yearbook (1961, I), S. 96, 99, Para 33.
35
Vgl. bereits zu den ersten drei Berichten, Hogg, The International Law Commission and the
Law of Treaties, 59 Proceedings of the Annual Meeting (American Society of International
Law) (1965), S. 8, 8.
36
Vgl. bereits Hogg, The International Law Commission and the Law of Treaties, 59 Procee-
dings of the Annual Meeting (American Society of International Law) (1965), S. 8, 8.
37
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3, Year-
book of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 51.
38
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3,
Yearbook of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 51, Rn. 4.
39
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3,
Yearbook of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 52, Rn. 4.
40
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3,
Yearbook of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 52, Rn. 5.
II. Waldocks Artikel 12 in der ILC159
Waldocks Artikelentwurf erfasste damit Ungleiche Verträge, wie sie in der Völker-
rechtswissenschaft in den neuen Staaten geächtet wurden, nur bedingt; durch die
Beschränkung auf unter dem Eindruck physischen Zwangs abgeschlossene Verträge
fielen Fälle rein politischen und ökonomischen Zwangs aus dem Anwendungsbe-
reich der Norm heraus. Die Sanktionierung dieser Zwangsformen wurde von der
Dritten Welt aber gerade als essentiell eingestuft. Dies ging auch aus der Debatte
von Waldocks zweiten Bericht in der ILC deutlich hervor.
Die ILC diskutierte Waldocks Artikelentwurf bei ihrer 15. Sitzung vom 6. Mai bis
zum 12. Juli 1963. Bereits in dieser Debatte wurde deutlich, dass sich viele Mit-
glieder der ILC, obschon Mitglieder eines unabhängigen Expertengremiums, doch
deutlich entsprechend der Interessen ihrer Heimatländer positionierten. Jene ILC-
Mitglieder aus Staaten der Dritten Welt, die zu dem Thema Stellung bezogen, waren
allesamt der Ansicht, dass sich Staaten nicht nur gegen unter dem Eindruck physi-
scher Gewalt, sondern auch gegen unter ökonomischem oder politischem Zwang
entstandene Verträge zu Wehr setzen dürfen sollten. So hielt es der Ecuadorianer
41
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3,
Yearbook of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 52, Rn. 5.
42
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3,
Yearbook of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 52, Rn. 5.
43
Waldock, Second Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/156 and Add. 1-3,
Yearbook of the International Law Commission (1963, II), S. 36, 52, Rn. 5.
160 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Angel M. Paredes für sinnvoll, Artikel 12 nicht auf bewaffnete Gewalt zu beschrän-
ken, sondern auch andere Formen des Zwangs zu erfassen, da beispielsweise
Wirtschaftsblockaden ernstzunehmende Auswirkungen hätten.44 Dieser Einschät-
zung schloss sich Milan Bartoš aus Jugoslawien, das als sozialistisches Land nach
anfänglicher Zusammenarbeit mit der Sowjetunion in den 1940er-Jahren unter Tito
mit der UdSSR gebrochen hatte und seitdem zum Teil mit dem Westen und zum
Teil mit den Blockfreien Staaten sympathisierte, an.45 Demgegenüber wollte eine
Reihe von westlichen Mitgliedern der ILC ebenso wie Waldock Artikel 12 auf phy-
sische Gewalt beschränkt wissen.46 Briggs sah beispielsweise die Gefahr, mit einer
Regelung der Verträge unter Zwang einen neuen Weg zu schaffen, vertragliche Ver-
pflichtungen aufzuweichen.47 Er forderte eine präzisere Formulierung der Norm,
um Missbrauch vorzubeugen.48 Auf Grund dieser Frontstellung innerhalb der ILC
sprach sich der Uruguayer Eduardo Jiménez de Aréchaga dafür aus, den Wortlaut
von Artikel 2 Nr. 4 VN-Charta in Artikel 12 zu übernehmen, um so den Gewaltbe-
griff nach der Charta weder zu beschränken noch auszuweiten und dessen nähere
Deutung den hierzu kompetenten Organen der Vereinten Nationen zu überlassen.49
Der Sinn von Artikel 12 war nach dieser Lesart zumindest vordergründig wie bei
Waldock der Schutz des Gewaltverbots im Recht der Verträge. Zu diesem Zeitpunkt
war die Generalversammlung bereits mit dem Entwurf des Special Committee on
Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Co-operation
among States, der sich unter anderem mit Inhalt und Grenzen des Gewaltverbots der
Vereinten Nationen beschäftigte, befasst.50 Mittels Generalversammlungsresolutio-
nen wurden in dieser Zeit insbesondere solche Themenbereiche geregelt, in denen es
an einem Konsens über Detailregelungen mangelte und sich daher nur grundlegende
Prinzipien fassen lassen konnten.51 Es war in diesem Rahmen also zumindest mit
einer Spezifizierung des Gewaltbegriffs zu rechnen. Artikel 12 wurde auf Grundlage
dieses Vorschlags von de Aréchaga zur Überarbeitung an das Drafting Committee52
44
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.681, ILC-Yearbook (1963, I), S. 46, 52, Rn. 69.
45
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.682, ILC-Yearbook (1963, I), S. 53, 53, Rn. 5.
46
So explizit der Finne Erik Castrén, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.681, ILC-Yearbook (1963, I),
S. 46, 52, Rn. 76.
47
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.682, ILC-Yearbook (1963, I), S. 53, 54, Rn. 14.
48
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.682, ILC-Yearbook (1963, I), S. 53, 54, Rn. 17.
49
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.682, ILC-Yearbook (1963, I), S. 53, 59, Rn. 71.
50
Resolution Adopted by the General Assembly 1966 (XVIII), Consideration of Principles of
International Law Concerning Friendly Relations and Co-operation among States in accor-
dance with the Charter of the United Nations, UN Doc A/RES/18/1966.
51
Kaltenborn, Entwicklungsvölkerrecht und Neugestaltung der internationalen Ordnung:
Rechtstheoretische und rechtspolitische Aspekte des Nord-Süd-Konflikts (1998), S. 103.
52
Mitglieder des Drafting Committee waren Roberto Ago, Herbert W. Briggs, Abdullah El-
Erian, André Gros, Luís Padilla Nervo, Shabtai Rosenne, Grigory I. Tunkin, Sir Humphrey
Waldock und Milan Bartoš. ILC, UN Doc A/CN.4/SR.677, ILC-Yearbook (1963, I), S. 21,
21, Rn. 1.
II. Waldocks Artikel 12 in der ILC161
der ILC überwiesen.53 Dieses änderte als Resultat seiner Diskussion den Wortlaut
von Artikel 12 folgendermaßen ab:
Any treaty the conclusion of which was procured by the threat or use of force in violation
of the principles of the Charter of the United Nations shall be void.54
Der Österreicher Alfred Verdross deutete an, dass Artikel 12 mit diesem Wortlaut
sehr weit ging und alle relevanten Fälle erfasse.55 Am Wortlaut der VN-Charta fest-
halten wollten auch der Finne Erik Castrén sowie der Franzose André Gros.56 Dabei
gingen sie jedoch davon aus, dass sich das Gewaltverbot nach der VN-Charta auf
physische Gewalt beschränke.57 Für ihre Position sprach die Entstehungsgeschichte
des Gewaltverbots unter der VN-Charta: Ein Antrag Brasiliens, das Gewaltverbot in
der VN-Charta auf ökonomischen Zwang auszudehnen, war nämlich bereits bei der
Konferenz von San Francisco 1945 explizit zurückgewiesen worden.58
Innerhalb der ILC-Mitglieder in den neuen Staaten bildeten sich hingegen im
weiteren Verlauf der Debatte – zum Teil unterstützt von einzelnen Mitgliedern der
Völkerrechtskommission aus Ost und West – zwei Lager heraus:
Eine Reihe dieser Völkerrechtler aus der Dritten Welt begrüßten den Formulie-
rungsvorschlag als geeigneten Schritt im Kampf gegen Ungleiche Verträge, so etwa
der Afghane Abdul Hakim Tabibi. Der im Jahr 1924 geborene Tabibi hatte Rechts-
wissenschaften in Afghanistan und den USA studiert und war seit 1954 Stellvertre-
tender Leiter der ständigen Vertretung der afghanischen Regierung im VN-Haupt-
quartier in New York City. Er war 1962 Mitglied der ILC geworden und sollte in den
folgenden Jahren nicht nur als afghanischer Botschafter in verschiedenen Ländern
tätig sein, sondern wurde im Jahr 1965 auch Justizminister von Afghanistan. Afgha-
nistan war zwar selbst offiziell nie eine Kolonie gewesen, war aber nichtsdestowe-
niger im neunzehnten Jahrhundert gewaltsam unter britische Vorherrschaft geraten,
aus der es sich erst im Jahr 1919 wieder lösen konnte.59 Afghanistan litt wie der
Irak und viele andere arabische Staaten unter den Öl-Konzessionen, die noch aus
dieser Zeit der Fremdherrschaft stammten.60 Tabibi war – wie viele Völkerrecht-
ler in der Dritten Welt und ihre Heimatstaaten –61 zwar ein starker Verfechter des
53
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.683, ILC-Yearbook (1963, I), S. 60, 62, Rn. 22.
54
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 211, Rn. 31.
55
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 40.
56
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 213, Rn. 50 f.
57
So explizit der Finne Erik Castrén, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.681, ILC-Yearbook (1963, I),
S. 46, 52, Rn. 76.
58
Siehe beispielsweise Schmidl, The Changing Nature of Self-defence in International Law
(2009), S. 37.
59
Zingel, Afghanistan, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organisationen,
Theorien, Begriffe, Personen (1985), S. 17 ff.
60
Vgl. Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law
(2007), Rn. 62; Zingel, Afghanistan, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder,
Organisationen, Theorien, Begriffe, Personen (1985), S. 17 ff.
61
Siehe oben, Teil I.
162 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
62
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.682, ILC-Yearbook (1963, I), S. 53, 59, Rn. 66.
63
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.682, ILC-Yearbook (1963, I), S. 53, 59, Rn. 67.
64
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 42.
65
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 42.
66
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 213, Rn. 52.
67
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.682, ILC-Yearbook (1963, I), S. 53, 56, Rn. 33.
68
Siehe Kotthaus, Irak, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organisationen,
Theorien, Begriffe, Personen (1985), S. 294 ff.
II. Waldocks Artikel 12 in der ILC163
ihr Abschluss nicht auf dem freien Willen des Iraks beruht habe.69 Yasseen ging es
in Bezug auf Artikel 12 daher anders als Waldock nicht allein um die Auswirkungen
des Gewaltverbots auf das Recht der Verträge, sondern um den umfassenden Schutz
der Willensfreiheit der Staaten bei Abschluss von Verträgen im Allgemeinen. Yasseen
stellte daher im Zusammenhang mit dem durch das Drafting Committee ebenfalls
neu formulierten Artikel 11, der jeglichen Zwang gegen Staatenvertreter erfasste, die
Frage, ob die Diskrepanz zu Artikel 12, der nur gewaltsamen Zwang sanktionierte,
intendiert gewesen sei.70 Hiermit brachte Yasseen seine Befürchtung zum Ausdruck,
dass das Gewaltverbot unter der VN-Charta wirtschaftlichen und politischen Zwang
möglicherweise nicht erfassen und Artikel 12 somit unter nicht-physischem Zwang
entstandene Verträge nicht sanktionieren könne. Er war insofern weniger optimistisch
als Tabibi und Paredes und befürchtete – zu Recht, wie die spätere Friendly Rela-
tions Declaration zeigen sollte –, dass eine restriktive Interpretation des Gewaltver-
bots unter der VN-Charta durch den Verweis in Artikel 12 eine Vielzahl Ungleicher
Verträge legitimieren könne. Für den Sonderberichterstatter Waldock war klar, dass
Yasseen damit die Problematik des Gewaltbegriffes unter der VN-Charta zur Diskus-
sion stellen wollte; dies hielt Waldock jedoch gerade nicht für den Wunsch der ILC.71
Zwar deutete Waldock erneut an, dass ökonomischer Zwang seiner Ansicht nach wohl
nicht unter Artikel 12 fallen solle.72 Diese Frage solle nach dem neuen Wortlaut des
Artikels aber gerade offen bleiben.73 Dem entgegnete Yasseen, dass es erforderlich sei,
im Recht der Verträge alle Arten des Zwangs auch jenseits der physischen Gewalt zu
ächten.74 Yasseen verkündete, dass es seiner Ansicht nach nicht die Aufgabe der ILC
sei, eine Norm der VN-Charta in das Vertragsrecht einzuverleiben, sondern vielmehr,
sich mit Zwang im Allgemeinen auseinanderzusetzen.75 Er wandte sich dabei nicht
gegen einen Bezug auf das Gewaltverbot der VN-Charta, wollte den Anwendungsbe-
reich von Artikel 12 jedoch nicht darauf beschränken.76 Hierfür führte er – ebenso wie
zuvor schon die Gegenseite, die den Missbrauch einer solchen Norm befürchtete –
die Stabilität von völkerrechtlichen Verträgen als Argument an.77 Insofern zeigte sich
bereits zu diesem frühen Zeitpunkt der Debatte um die Bindung an Ungleiche Ver-
träge in der ILC das aus der Debatte um die Bindung der neuen Staaten an das All-
gemeine Völkerrecht bekannte78 Motiv der doppelten Inanspruchnahme des Ideals
69
Vgl. Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law
(2007), Rn. 62; Kotthaus, Irak, in Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Dritten Welt: Länder, Organi-
sationen, Theorien, Begriffe, Personen (1985), S. 294 ff.
70
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 33.
71
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 34.
72
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 34.
73
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 34.
74
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 35.
75
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 43.
76
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 43.
77
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 35.
78
Siehe hierzu Teil I.
164 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
79
Vgl. hierzu bereits Teil I.
80
Siehe hierzu bereits Teil I.
81
Siehe Noonan, Antonio de Luna Garcia (1901-1967): In Memoriam, 136 Natural Law
Forum (1968), S. vii, vii f.
82
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 38.
83
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 39.
84
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 44.
85
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 45.
86
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 212, Rn. 45.
II. Waldocks Artikel 12 in der ILC165
Diese Formulierung implizierte, dass das Völkerrecht unabhängig von der Reich-
weite des Gewaltverbotes wirtschaftlichen und ökonomischen Zwang verbietet,
eine Idee, welche später in der Debatte über die in Rede stehende Regelung in der
Generalversammlung Bedeutung erlangen sollte. Innerhalb der ILC fand dieser
Vorstoß Yasseens jedoch kaum Beachtung. Ohne seinen Vorschlag weiter zu dis-
kutieren, nahm die ILC Artikel 12 ohne Gegenstimme, aber mit der angekündigten
Enthaltung von Bartoš an.87 So hatte auch Yasseen, der bis zum Ende der Debatte
nicht von der aktuellen Version von Artikel 12 überzeugt gewesen war, für diesen
Artikel gestimmt. Daneben hatte sich eine Reihe von ILC-Mitgliedern aus den
neuen Staaten gar nicht zu Artikel 12 geäußert und diesem schlicht zugestimmt.88
Bei Elias überrascht dies insofern wenig, als dass dieser die Akzeptanz Ungleicher
Verträge durch die etablierte Völkerrechtsordnung stets anerkannt und im Rahmen
seiner kontributionistischen Kritik sogar betont hatte.89 Die große Zustimmung
innerhalb der ILC zu einer so umstrittenen Vorschrift lässt sich indes aus der Taktik
der ILC erklären, die stets versuchte, ihren Arbeiten mit Einstimmigkeit größtmög-
liches Gewicht zu verleihen.90 Außerdem standen die Stellungnahmen der Regie-
rungen und eine zweite Diskussionsrunde in der ILC noch bevor, so dass es vielen
verfrüht erschienen sein mochte, Artikel 12 bereits zum damaligen Zeitpunkt abzu-
lehnen. Angesichts der Vorreiterrolle, welche die UdSSR im Kampf gegen Unglei-
che Verträge in der Vergangenheit eingenommen hatte, überrascht jedoch, dass
sich Tunkin bis dato in der Debatte um Artikel 12 nicht zu dem Thema positioniert
hatte. So waren es innerhalb der ILC neben Bartoš insbesondere Völkerrechtler aus
der Dritten Welt gewesen, die versucht hatten, Ungleiche Verträge über Artikel 12
umfassend zu ahnden.
Die von der ILC angenommenen Artikel wurden – in neuer, durchlaufender Num-
merierung und mit Kommentierung – an die Regierungen der Mitglieder der Verein-
ten Nationen übermittelt.91 Die Norm zu Verträgen unter gewaltsamem Zwang lief
87
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705, ILC-Yearbook (1963, I), S. 209, 213, Rn. 52.
88
Dies sind Elias, Abdullah El-Erian aus der Vereinigten Arabischen Republik und Obed
Pessou aus Dahomey, dem heutigen Benin. Die drei genannten waren jedoch (auf Grund ihrer
Redebeiträge zu anderen Themen nachweislich) bei mindestens zwei der Treffen, bei denen
auch Artikel 12 diskutiert wurde, anwesend. ILC, UN Doc A/CN.4/SR.681, ILC-Yearbook
(1963, I), S. 46, 47, Rn. 12, S. 48, Rn. 22, S. 51, Rn. 53; ILC, UN Doc A/CN.4/SR.705,
ILC-Yearbook (1963, I), S. 210, Rn. 40, S. 213, Rn. 60, S. 214, Rn. 66. Victor Kanga aus
Kamerun war auf Grund von Terminüberschneidungen während der gesamten Sitzung nicht
anwesend, siehe ILC, UN Doc A/CN.4/SR.700, ILC-Yearbook (1963, I), S. 176, 182, Rn. 77.
Hier zeigte sich die häufige, aber alles andere als unproblematische Mehrfachbelastung von
Völkerrechtlern aus der Dritten Welt.
89
Siehe oben, Teil I.
90
Siehe Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the
Annual Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 34.
91
ILC, UN Doc A/CN.4/163, ILC-Yearbook (1963, II), S. 187, 189, Rn. 12, 13. Siehe hierzu
auch Artikel 16 und 21 ILC-Statut.
166 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
nunmehr unter Artikel 36.92 Im Kommentar zu Artikel 36 kam zum Ausdruck, wie
gespalten sich die ILC in der Frage des Gewaltbegriffs gezeigt hatte: So wurde zur
Begründung der nur mäßigen Missbrauchsanfälligkeit der Norm angeführt, dass die
ILC diese auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt beschränken wollte.93
Während manche Mitglieder das Konzept des Zwangs auch auf andere Formen wie
wirtschaftlichen Druck ausdehnen wollten, hatte die ILC beschlossen, den genauen
Anwendungsbereich des Artikels einer Interpretation der VN-Charta durch die
Praxis zu überlassen.94 Zu dem so kommentierten Artikel bezogen mehrere Regie-
rungen Stellung. Die Frontstellung zwischen Nord und Süd, die sich schon in der
Debatte der ILC abgezeichnet hatte, wurde dabei von den Staatenvertretern vielfach
fortgeführt.
92
ILC, UN Doc A/CN.4/163, ILC-Yearbook (1963, II), S. 187, 197.
93
ILC, UN Doc A/CN.4/163, ILC-Yearbook (1963, II), S. 187, 198, Rn. 3.
94
ILC, UN Doc A/CN.4/163, ILC-Yearbook (1963, II), S. 187, 198, Rn. 3.
95
Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the Annual
Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 29.
96
GA, UN Doc A/C.6/SR.784, GAOR (1963), Rn. 1.
97
GA, UN Doc A/C.6/SR.792, GAOR (1963), Rn. 12.
98
GA, UN Doc A/C.6/SR.787, GAOR (1963), Rn. 15.
III. Artikel 36 des ILC-Entwurfes in der Generalversammlung und die Debatte… 167
den Respekt der Internationalen Gemeinschaft vor Verträgen steigern würde.99 Der
ungarische Vertreter stellte dabei die ambivalente Rolle des Grundsatzes pacta sunt
servanda heraus: dieser sei zwar grundsätzlich essentiell für die Aufrechterhaltung
der freundlichen Beziehung, könne diese aber bei zu strenger Auslegung wie einer
Anwendung auf Ungleiche Verträge auch gefährden.100
In der Generalversammlungsdebatte kam darüber hinaus bald Streit über die
Reichweite des Gewaltbegriffs auf. In Stellungnahmen der westlichen Regierungen
zu Artikel 36 wurde zumeist auf die Notwendigkeit einer Beschränkung der Norm
auf physische Gewalt zum Schutz der Stabilität der politischen Organisation der
Internationalen Gemeinschaft herausgestellt.101 Wie auch schon in der ILC bildeten
sich auch in der Debatte in der Generalversammlung innerhalb der Dritten Welt
demgegenüber zwei unterschiedliche Ansichten heraus: Die einen Staaten waren
der Meinung, dass Artikel Nr. 4 VN-Charta ökonomischen Druck schon de lege lata
verbiete. Die indonesische Vertreterin wartete hier mit einem systematischen Argu-
ment auf: Artikel 36 erfasse jede Form von Druck, der ausgeübt wurde, um einen
Staat zu einem seinen eigenen Interessen widersprechenden Handeln zu zwingen
und somit auch ökonomischen Druck, da Artikel 2 Nr. 4 UN-Charta ganz allgemein
von Gewalt spreche, während in der Präambel von Waffengewalt die Rede sei.102
Der algerische Vertreter meinte, dass ein weiter Gewaltbegriff, der auch ökonomi-
schen Zwang erfasse, das Vertrauen der neuen Staaten in das Völkerrecht stärken
würde.103 Die Vertreter einer Reihe weiterer Staaten wie die Weißrussische Sozialis-
tische Sowjetrepublik, die Vereinte Arabische Republik, Nigeria, Ghana, Kamerun,
Marokko und der Irak subsumierten unter ökonomischem Zwang entstandene Ver-
träge unter Artikel 36.104 Spanien kam zum selben Ergebnis, ohne jedoch die Not-
wendigkeit zu sehen, dies in Artikel 36 explizit zu machen; stattdessen wurde einer
Interpretation durch die Praxis gelassen entgegengesehen.105
Andere Staaten verurteilten wirtschaftlichen Druck hingegen ausschließlich de
lege ferenda. Ecuador beispielsweise sah wirtschaftlichen und politischen Druck
vom geltenden Recht nicht erfasst und forderte eine entsprechende Ausweitung von
Artikel 36.106
99
GA, UN Doc A/C.6/SR.793, GAOR (1963), Rn. 17.
100
GA, UN Doc A/C.6/SR.789, GAOR (1963), Rn. 9.
101
So etwa die Vertreter der Niederlande und aus Schweden, Polen, Großbritannien und den
USA, siehe UN Doc A/CN.4/182 and Corr. 1&2 and Add. 1, 2/Rev. 1&3, ILC-Yearbook
(1966, II), S. 285, 317, 324, 340; Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Year-
book (1966, II), S. 1, 16.
102
GA, UN Doc A/C.6/SR.785, GAOR (1963), Rn. 8.
103
GA, UN Doc A/C.6/SR.789, GAOR (1963), Rn. 30.
104
GA, UN Doc A/C.6/SR.791, GAOR (1963), Rn. 13, 15, 35, 42; GA, UN Doc A/C.6/
SR.792, GAOR (1963), Rn. 16; Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook
(1966, II), S. S. 1, 17; siehe Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook
(1966, II), S. S. 1, 18.
105
GA, UN Doc A/C.6/SR.792, GAOR (1963), Rn. 8.
106
GA, UN Doc A/C.6/SR.789, GAOR (1963), Rn. 25.
168 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Um den Kampf gegen Ungleiche Verträge jenseits der Frage nach der Reich-
weite des Gewaltverbots voranzubringen, bemühte der sowjetische Vertreter eine
Argumentation, die schon in Yasseens alternativem Formulierungsvorschlag ange-
legt gewesen war: Sollte nämlich das Gewaltverbot selbst ökonomischen und politi-
schen Zwang bei Vertragsschluss nicht verbieten, so ergäbe sich ein entsprechendes
Verbot aus anderen Grundprinzipien des Völkerrechts, auf welche im Folgenden
schlagwortartig rekurriert wurde, ohne diese Begründung mit detailliert juristischen
Argumenten zu untermauern. Für die UdSSR verstieß die Knüpfung vertraglicher
Bedingungen an die Unabhängigkeit einer ehemaligen Kolonie gegen die von der
VN-Charta garantierte souveräne Gleichheit und belaste somit die zwischenstaat-
lichen Beziehungen.107 Für kleine Staaten könnten vor Jahrzehnten abgeschlossene
Verträge ihre Souveränität und Unabhängigkeit derogieren und so zum Entwick-
lungshemmnis werden, so der Vertreter der UdSSR.108 Damit war die Unwirksam-
keit Ungleicher Verträge für die UdSSR eine Voraussetzung für die Entwicklung
der neuen Staaten.109 Eine ähnliche Argumentation unter Betonung der souveränen
Gleichheit der ehemaligen Kolonien war schon im Rahmen der Debatte um die
Bindung an das Allgemeine Völkerrecht vorgebracht worden.110 Mit einem neuen
Grundprinzip des Völkerrechts argumentierte der Vertreter der Tschechoslowakei:
So sei seiner Ansicht nach die Aufrechterhaltung Ungleicher Verträge im Lichte des
Selbstbestimmungsrechts der Nationen nicht akzeptabel und wirke als Bedrohung
des internationalen Friedens und der globalen Sicherheit.111 Der algerische Vertre-
ter führte nebeneinander die souveräne Gleichheit, das Selbstbestimmungsrecht der
Völker und das Erfordernis eines freien Willens als Grundlage stabiler Verträge an,
um zu begründen, warum von Ungleichen Verträge ein erhebliches Konfliktpoten-
zial ausgehe.112 So vermischte sich der Schutz der Willensfreiheit argumentativ
immer mehr mit verschiedenen Grundprinzipien des Völkerrechts.
Dabei übte das von dem tschechoslowakischen und dem algerischen Delegier-
ten zur Sprache gebrachte Selbstbestimmungsrecht der Völker113 eine besondere
argumentative Anziehungskraft auf die neuen Staaten aus.114 Die Idee des Selbstbe-
stimmungsrechts war im nationalen Kontext schon seit dem Mittelalter bekannt;115
107
GA, UN Doc A/C.6/SR.787, GAOR (1963), Rn. 15.
108
Vgl. GA, UN Doc A/C.6/SR.787, GAOR (1963), Rn. 16.
109
GA, UN Doc A/C.6/SR.787, GAOR (1963), Rn. 16.
110
Siehe oben, Teil I.
111
GA, UN Doc A/C.6/SR.787, GAOR (1963), Rn. 27; siehe auch UN Doc A/CN.4/182 and
Corr. 1&2 and Add. 1, 2/Rev. 1&3, ILC-Yearbook (1966, II), S. 285, 286.
112
GA, UN Doc A/C.6/SR.789, GAOR (1963), Rn. 29 f.
113
Zur Problematik des Rechtsträgers des Selbstbestimmungsrechts siehe beispielsweise
Umozurike, Self-Determination in International Law (1972), S. 177 ff.
114
Siehe von Bernstorff, Das Recht auf Entwicklung, in Dann/Kadelbach/Kaltenborn (Hrsg.),
Entwicklung und Recht: Eine systematische Einführung (2014), S. 71, 77.
115
Hier bezweckte es eine freie, demokratische Verfassungsordnung. Sinha, Is Self-Determi-
nation Passé?, 12 Columbia Journal of Transnational Law (1973), S. 260, 260 f.
III. Artikel 36 des ILC-Entwurfes in der Generalversammlung und die Debatte… 169
Ende des Ersten Weltkrieges hatte der Präsident der Vereinigten Staaten Thomas
Woodrow Wilson das Selbstbestimmungsrecht der Völker in den internationalen
Kontext gebracht, in seinem 14-Punkte-Programm jedoch auf die Völker Osteuro-
pas und des Balkans beschränkt und ihm über eine Befriedung dieses spezifischen
Konflikts hinaus keinerlei Wirkung zugedacht, weshalb es auch in der Völkerbund-
satzung nicht auftauchte.116 Der Begriff erlebte eine Reinkarnation in Bezug auf die
Mandatsgebiete des Völkerbunds und die späteren Treuhandgebiete der Vereinten
Nationen bzw. auf die Dekolonisierung allgemein.117 So schrieb Sinha:
The newly independent States have used the concept of self-determination as an instrument
of political pressure for the emancipation of colonies from western rule.118
Die VN-Charta nennt das Prinzip explizit in Artikel 1 Nr. 2, wo von „friendly rela-
tions among nations based on respect for the principle of equal rights and self-deter-
mination of peoples, and to take other appropriate measures to strengthen universal
peace“ die Rede ist, und in Artikel 55, nach dem die wirtschaftliche Zusammen-
arbeit der Vereinten Nationen erfolgen soll „with a view to the creation of con-
ditions of stability and well-being which are necessary for peaceful and friendly
relations among nations based on respect for the principle of equal rights and self-
determination of peoples“. Die neuen Staaten trieben die Entwicklung des Selbst-
bestimmungsrechts – trotz seiner Entstehung als westliches Konzept der Unabhän-
gigkeit in Form des Nationalstaates –119 im Rahmen der Vereinten Nationen voran.
Dies geschah zum einen über Resolutionen der Generalversammlung, allen voran
die Declaration on Granting Independence to Colonial Countries and Peoples aus
dem Jahr 1960, in der zu lesen ist:
All peoples have the right to self-determination; by virtue of that right they freely determine
their political status and freely pursue their economic, social and cultural development.120
Auch die beiden VN-Menschenrechtspakte von 1966 erkennen das Recht der Völker
auf Selbstbestimmung an.121 Eine nähere Ausgestaltung erfuhr das Selbstbestim-
mungsrecht in der Friendly Relations Declaration von 1970.122 Sein konkreter
Inhalt blieb jedoch umstritten; so wurde etwa auch ökonomische Selbstbestimmung
116
Emerson, Self-Determination, 60 American Society of International Law Proceedings
(1966), S. 135, 137.
117
Vgl. Emerson, Self-Determination, 60 American Society of International Law Proceedings
(1966), S. 135, 137; Umozurike, Self-Determination in International Law (1972), S. 272.
118
Sinha, Perspective of the Newly Independent States on the Binding Quality of Internatio-
nal Law, 14 International and Comparative Law Quarterly (1965), S. 121, 125.
119
Siehe hierzu die Kritik bei Pahuja, Decolonising International Law: Development, Econo-
mic Growth and the Politics of Universality (2011), S. 57.
120
GA, UN Doc A/Res/15/1514, (14. Dezember 1960), Rn. 2.
121
Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte und
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.
122
GA, UN Doc A/RES/2625 (XV) (24. Oktober 1970).
170 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
als Teilaspekt diskutiert.123 Viele gingen ohnehin davon aus, dass sich das Selbstbe-
stimmungsrecht mit Ende der Dekolonialisierung erledigt haben würde.124 Andere
widersprachen der These von der Konsumtion des Selbstbestimmungsrechts, da
dieses sich nicht mit der Dekolonialisierung erschöpfe, sondern allgemein „justice
for the individual in the sense that the scope of his participation in value choices
be made as large as possible“ als Ziel habe.125 Außerdem bestand Streit über die
Rechtsnatur des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Der US-Amerikaner Rupert
Emerson fühlte sich „bewitched because of the illimitable vastness of the claims
and promises which it appears to be making, and bewildered because of the drastic
limitations which are imposed, I believe, inevitably, on any actual resort to self-de-
termination.“126 Für Emerson war das Selbstbestimmungsrecht ein Teil des Rechts
auf Revolution, das jedoch keinen Rechtscharakter aufwies.127 Auch Sinha schrieb:
It must, however, be pointed out that states have used the principle more as a tool of political
convenience than as a prime mover of an international act, more as a device to improve or
secure the posture of the actor than as a raison d’etre for the posture taken. The application
of the principle to a particular situation has almost always been secondary to other factors
active in the crisis, rather than the primary activating force for the resolution of that crisis.128
At best, it appears that once the basic decision for political reorganization or redistribution
of power has been made, the principle of self-determination is invoked to attain the result
in a desirable fashion. The principle is thus one of political expediency which states may or
may not use, rather than one of international law which the states are obliged to follow.129
123
Siehe Umozurike, Self-Determination in International Law (1972), S. 177 ff.
124
Emerson, Self-Determination, 60 American Society of International Law Proceedings
(1966), S. 135, 138.
125
Sinha, Is Self-Determination Passé?, 12 Columbia Journal of Transnational Law (1973),
S. 260, 272.
126
Emerson, Self-Determination, 60 American Society of International Law Proceedings
(1966), S. 135, 135.
127 „
The right of revolution, stated in its generality, is one to which the philosopher may pay
his respects, but not one which the statesman or the proprietor of any established political
system can incorporate within his system as a regularly operative and available right.” Er
schreibt weiter: „The United Nations, increasingly dominated by the newly self-determined,
has become the principal platform from which the right of self-determination is proclaimed,
translating into a right the principle of self-determination to which the Charter twice refers.”
Letztlich kam Emerson zu dem Ergebniss „that all people do not have the right of self-deter-
mination: they have never had it, and they never will have it.” Emerson, Self-Determination,
60 American Society of International Law Proceedings (1966), S. 135, 136.
128
Sinha, Is Self-Determination Passé?, 12 Columbia Journal of Transnational Law (1973),
S. 260, 265.
129
Sinha, Is Self-Determination Passé?, 12 Columbia Journal of Transnational Law (1973),
S. 260, 271.
III. Artikel 36 des ILC-Entwurfes in der Generalversammlung und die Debatte… 171
Umgekehrt mag die flexible Verwendung durch Völkerrechtler und Vertreter der
ehemaligen Kolonien ein Grund dafür sein, dass der Inhalt des Selbstbestim-
mungsrechts bis heute strittig ist und sich dieses Prinzip bisweilen schwer in das
bestehende Völkerrechtssystem einpasst. Auf diese Weise wurde das Selbstbestim-
mungsrecht immer wieder im Kampf um Ungleiche Verträge bemüht.134
130
Umozurike, Self-Determination in International Law (1972), S. 271; Elias, Africa and
the Development of International Law (1972), S. 57. Der chinesiche Völkerrechtler Chin
Leng Lim schreibt: „The new legal principles of self-determination that emerged during the
decolonization period, as with the reform of international economic law principles, did not
truly receive full critical reflective attention until the late 1970s, since self-determination was
for some time, even following the adoption of the UN Charter, considered to be governed by
political precepts, not legal principle. Indeed, the legal right to immediate self-determination
was put into practice by the Afro-Asian lobby in the General Assembly ahead of its scho-
larly justification. Elias was at the very forefront of such scholarship. But he also stood out,
with an array of complex but clear and systematic lines of thought, as a great synthesizer.”
Lim, Neither Sheep nor Peacocks: T. O. Elias and Postcolonial International Law, 21 Leiden
Journal of International Law (2008), 295, 299 f.
131
Siehe hierzu ausführlich Umozurike, Self-Determination in International Law (1972),
S. 177 ff.
132
Vgl. auch Lim, Neither Sheep nor Peacocks: T. O. Elias and Post-colonial International
Law, 21 Leiden Journal of International Law (2008), S. 295, 308 f.
133
Koskenniemi, From Apology to Utopia: The Structure of International Legal Argument
(2005), S. 504.
134
Siehe dazu auch unten, Kapitel 7 und Kapitel 8. Zur Bedeutung des Selbstbestimmungs-
rechts im Recht der Staatennachfolge siehe unten, Teil III.
172 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Auf der Grundlage dieser Stellungnahmen verfasste Waldock seinen fünften Bericht
zum Völkervertragsrecht, den er im Jahr 1966 vorlegte.136 Waldock erkannte, dass sich
zwar eine große Zahl von Staaten für einen weiten Gewaltbegriff, der insbesondere
Ungleiche Verträge unter wirtschaftlichem Zwang erfassen sollte, ausgesprochen hatte,
dass sich dem aber mächtige Industrienationen wie Großbritannien oder die USA
vehement widersetzten. Um diesen Konflikt nicht ausfechten zu müssen, rekurrierte
Waldock auf die Lösung, die sich schon in der ersten Debatte der Artikelentwürfe in der
ILC durchgesetzt hatte: nämlich die Definition des Gewaltbegriffes der Praxis zu über-
lassen.137 So hatte das Special Committee on Principles of International Law Concer-
ning Friendly Relations and Co-operation among States schon im November 1964 die
Frage diskutiert, ob ökonomischer Druck unter den Gewaltbegriff subsumiert werden
könne; dabei war es zwar wegen der Frontstellung zwischen Nord und Süd, die sich
auch schon früher in der Debatte in der ILC gezeigt hatte, zu keiner Einigung gekom-
men.138 Trotzdem war klar, dass die Definition des Gewaltbegriffs somit einem anderen
Unterorgan der Generalversammlung übertragen worden war. Dementsprechend plä-
dierte Waldock dafür, die Formulierung in Artikel 36 offen zu lassen.139 Die Alternative,
Artikel 36 unabhängig von und ohne Bezug auf Wortlaut und Bedeutung des Gewalt-
verbots nach der VN-Charta als Allgemeine Vorschrift zum Schutz der Willensfreiheit
der Staaten zu formulieren, räumte Waldock damit allerdings nicht aus dem Weg.
135
GA, UN Doc A/C.6/SR.789, GAOR (1963), Rn. 9, 10.
136
Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook (1966, II), S. 1, 2, Rn. 4.
137
Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook (1966, II), S. 1, 19, Rn. 5.
138
Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook (1966, II), S. 1, 19, Rn. 3 f.
139
Waldock, UN Doc A/CN.4/183 and Add. 1-4, ILC-Yearbook (1966, II), S. 1, 19, Rn. 5.
IV. Waldocks Artikel 36 in der ILC173
In diese Lücke in Waldocks Argumentation stieß wiederum Yasseen, als die Völ-
kerrechtkommission Waldocks fünften Bericht bei ihrer 18. Sitzung diskutierte.
Für ihn sollte die Aufgabe von Artikel 36 nach wie vor sein, Zwang zu verbieten,
der die Vereinbarung beeinträchtigte, und dies unabhängig davon, welche Form der
Zwang konkret annahm.140 Der Verweis auf das Gewaltverbot in der VN-Charta war
deshalb in seinen Augen nicht ausreichend; die ILC müsse vielmehr ein allgemei-
nes Konzept zur Rechtswidrigkeit von Zwang gegen Staaten im Recht der Verträge
entwickeln, wie sie es in Bezug auf den Zwang gegen Staatenvertreter bereits getan
hatte.141 Zwar hielt Yasseen die enge Auslegung des Gewaltbegriffes unter der VN-
Charta für falsch.142 Davon unabhängig schien es ihm angesichts der anderen Prin-
zipien der VN-Charta wie der souveränen Gleichheit und dem Interventionsverbot
jedenfalls schwer vertretbar, wirtschaftlichen oder politischen Zwang als völker-
rechtskonform zu betrachten.143 Diese Prinzipien würden jeden Zwang verbieten,
welcher den Willen eines Staates betreffen und ihn zu von seinem Willen abwei-
chenden Erklärungen nötigen könnte.144 Dabei bezog sich Yasseen auf die Ansicht
der rund vierzig Staaten, die bei der Konferenz der Blockfreien Staaten in Kairo
1964 wirtschaftlichen und politischen Druck gleichermaßen verurteilt hatten.145
Diese Position begrüßte Yasseen im Sinne einer progressiven Entwicklung des Völ-
kerrechts und einer soliden Fundierung der Internationalen Beziehungen.146 Inter-
essant ist dabei, dass Yasseen nicht das Selbstbestimmungsrecht der Völker in seine
Argumentation aufnahm; stattdessen bezog er sich als einiger der Wenigen in der
Debatte auf das Interventionsverbot, was vor dem Hintergrund zu sehen ist, dass der
Streit um das Verbot wirtschaftlichen und politischen Zwangs sich im Rahmen des
Special Committee on Principles of International Law Concerning Friendly Rela-
tions and Co-operation among States zunehmend vom Gewaltverbot zum Interven-
tionsverbot hin verlagert hatte.147 Hier versuchte Yasseen abermals, die ILC davon
zu überzeugen, die Willensfreiheit insbesondere der neuen Staaten im Kampf gegen
Ungleiche Verträge schützen.
Unterstützung fand Yasseen dabei zu diesem Zeitpunkt in der Debatte nur noch
von drei Mitgliedern der ILC: De Luna machte nochmals die Vergleichbarkeit der
Androhung oder Anwendung der Atombombe mit dem Aushungern der Bevölke-
rung deutlich.148 Tunkin schaltete sich erst zu diesem Zeitpunkt – und damit vor dem
140
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 32, Rn. 10.
141
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 32, Rn. 11.
142
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 32, Rn. 12.
143
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 32, Rn. 12.
144
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 32, Rn. 12.
145
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 32, Rn. 14.
146
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 33, Rn. 15.
147
Vgl. McWhinney, The „New“ Countries and the „New“ International Law: The United
Nations Special Conference on Friendly Relations and Co-operation among States, 60 Ame-
rican Journal of International Law (1966), S. 1, 7 ff.
148
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 31, Rn. 8.
174 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
149
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 34, Rn. 35.
150
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 34, Rn. 35.
151
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 34, Rn. 35.
152
Pessou äußerte sich ebenso wenig zu dem Thema, wie es sein Heimatland im Kontext
von Artikel 36 getan hatte. (Pessou wurde in diesem Jahr von der ILC als Staatsbürger des
Senegals statt von Dahomey geführt. International Law Commission, Members of the Com-
mission, Yearbook of the International Law Commission (1966, I, 1), S. vii.) Die Vereinigte
Arabische Republik hatte in der Generalversammlung klar Stellung zu den Ungleichen Ver-
trägen bezogen; El-Erian ließ sich jedoch aus Gesundheitsgründen in der ILC entschuldigen.
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.823, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 4, 5, Rn. 2. Mit Paredes war ein
großer Fürsprecher der Sanktionierung Ungleicher Verträge aus der Dritten Welt ebenfalls
krankgemeldet. ILC, UN Doc A/CN.4/SR.823, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 4, 5, Rn. 2.
153
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 35, Rn. 52.
154
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 35, Rn. 52.
155
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 35, Rn. 52.
IV. Waldocks Artikel 36 in der ILC175
der Staaten und zur Ächtung Ungleicher Verträge, wobei er jedoch wie Tunkin eine
solche Norm mit dem Gewaltverbot verknüpft wissen wollte. Vor dem Hintergrund
dieser Debatte wurde Artikel 36 dem Drafting Committee überwiesen.156
Als das Drafting Committee Artikel 36 nach seinen Treffen der ILC ohne jeg-
liche Änderungen wieder vorlegte, wagte Yasseen einen letzten Vorstoß, um den
Anwendungsbereich für Ungleiche Verträge weiter auszudehnen.157 Er schlug eine
Novellierung von Artikel 36 mit folgendem, seinem früheren Vorschlag ähnlichem
Wortlaut vor:
A treaty is void if its conclusion has been procured by the coercion of a State by acts or
threats in violation of the principles of the Charter of the United Nations.158
Yasseen betonte nochmals seinen Wunsch, den freien Willen der Vertragsparteien
zu schützen und sie nicht lediglich vor Gewalteinwirkung zu bewahren.159 Er hatte
den Wortlaut von Artikel 2 Nr. 4 VN-Charta bewusst vermieden, um eine entspre-
chende Beschränkung auszuschließen.160 Yasseen stellte heraus, dass die Mehrheit
der Staaten hinter seiner Forderung stehe, entsprechend der Entwicklung des Völ-
kerrechts jeglichen Zwang zu ächten.161 Dabei ging Yasseen mit seinem Änderungs-
vorschlag aber wiederum nicht so weit, diesen zur Bedingung für den Erfolg der
Arbeit der ILC in Bezug auf Artikel 36 zu machen. Vielmehr stellte er klar, dass
er auch für den seiner Ansicht nach unvollkommenen alten Artikel 36 stimmen
würde, falls die ILC seinen Antrag zurückweisen sollte.162 Sicherlich war es die
verfahrene Situation mit klarer Frontstellung in Generalversammlung und ILC, die
Yasseen zu diesem entgegenkommenden Verhalten bewegte und seine Forderung
damit deutlich schwächte. Lachs hielt es für falsch, das Gewaltverbot nicht aus-
drücklich zu nennen und Tunkin pflichtete ihm insofern bei.163 Obwohl Yasseen, auf
diesen Einwand vorbereitet, noch eine entsprechende Alternativformulierung vor-
legte,164 stand er innerhalb der ILC letztlich auf verlorenem Posten. Waldock griff
in die Debatte ein und stellte fest, dass Artikel 36 sehr gründlich diskutiert worden
sei und in seiner jetzigen Form einen sorgfältig ausbalancierten Kompromiss dar-
stelle, der einstimmig angenommen werden könne.165 Durch neuerliche Änderun-
gen könnten sich hingegen manche Mitglieder gezwungen sehen, dem Artikel ihre
Zustimmung zu entziehen, was das Ergebnis der Arbeit an dem Vertragsentwurf
156
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.827, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 30, 36, Rn. 63.
157
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 119, Rn. 85 ff.
158
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 119, Rn. 85.
159
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 119, Rn. 86.
160
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 119, Rn. 94.
161
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 119, Rn. 86.
162
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 119, Rn. 87.
163
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 119, Rn. 95 f.
164
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 119 f., Rn. 98.
165
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 120, Rn. 100.
176 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
massiv schwächen würde.166 Der offen formulierte Artikel 36 war für Waldock die
beste Lösung, die die ILC in dieser Situation finden konnte.167 Yasseen fügte sich
an diesem Punkt Waldocks Machtwort und erklärte sich aus Gründen der Zweck-
mäßigkeit bereit, auf eine Abstimmung über seinen Vorschlag zu verzichten, wenn
er diesen auch nicht zurückziehen wollte.168 Mit de Luna erklärte sich letztlich auch
ein anderer Gegner Ungleicher Verträge mit dem Text von Artikel 36 einverstanden,
allerdings nicht ohne nochmals zu betonen, dass dieser seiner Auslegung nach auch
ökonomische Gewalt erfasse.169 Und auch Bedjaoui sollte am Ende für den unver-
änderten Wortlaut von Artikel 36 stimmen. Trotz allen Entgegenkommens wurde
also, wie der Franzose Paul Reuter bemerkte, deutlich, dass sich die ILC über den
Inhalt von Artikel 36 keinesfalls einig war.170 Obschon diese Tatsache von einigen
Mitgliedern bestritten wurde,171 veranlasste sie Briggs dazu, sich bei der ansonsten
einstimmigen Abstimmung der ILC für Artikel 36 der Stimme zu enthalten.172
Später in der Sitzung war die ILC mit organisatorischen Fragen bezüglich der
anstehenden Vertragsrechtskonferenz befasst.173 Hier wurde die ILC zum ersten Mal
überhaupt auch über die praktischen Abläufe einer diplomatischen Konferenz mit
bevollmächtigten Staatenvertretern informiert, was sie für entsprechende Probleme
sensibilisierte.174 So stand etwa zur Debatte, ob die Konferenz (wie von Tunkin vor-
geschlagen) zweigeteilt werden sollte, wann und wo sie stattfinden könnte, wie die
Arbeit dort sinnvollerweise aufzuteilen sei, welche Rolle Experten spielen würden
und mit welcher Mehrheit Entscheidungen getroffen werden sollten.175 Rosenne
empfahl der Konferenz, sich an der erfolgreichen Praxis der ILC zu orientieren,
die niemals über einen Entwurf abstimmte, bevor dieser vom Drafting Committee
wieder vorgelegt und abschließend diskutiert worden war.176 Durch diese Technik
würden dem Drafting Committee nicht frühzeitig die Hände gebunden und die
166
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 120, Rn. 100.
167
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 120, Rn. 100.
168
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 120, Rn. 101.
169
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 120, Rn. 102 f.
170
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 120, Rn. 106.
171
Nämlich von Tunkin und Jiménz de Aréchaga, ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Year-
book (1966, I, 1), S. 115, 120, Rn. 109 f.
172
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.840, ILC-Yearbook (1966, I, 1), S. 115, 120 f., Rn. 107, 118.
173
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.879, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 240 f.; ILC, UN Doc A/CN.4/
SR.880, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 246 ff.
174
Rosenne, The Role of the International Law Commission, 64 Proceedings of the Annual
Meeting (American Society of International Law) (1970), S. 24, 29; ILC, UN Doc A/CN.4/
SR.879, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 240, 243, Rn. 34.
175
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.879, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 240 f.; ILC, UN Doc A/CN.4/
SR.880, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 246 ff.
176
International Law Commission, Summary Record of the 879th Meeting, UN Doc A/CN.4/
SR.879, Yearbook of the International Law Commission (1966, I, 2), S. 240, 43 f., Rn. 43.
V. Artikel 49 in der Wiener Vertragsrechtskonferenz177
Artikel 49 wurde in der ersten Wiener Vertragsrechtskonferenz 1968 (1.) und in der
zweiten Wiener Vertragsrechtskonferenz 1969 (2.) diskutiert.
Die erste von zwei Sitzungen der Wiener Vertragsrechtskonferenz fand vom 26.
März bis zum 24. May 1968 statt.182 Die starke Involvierung von Mitgliedern der
ILC bei dieser Konferenz wird bereits deutlich, wenn man die Ergebnisse der
Wahlen betrachtet, welche zu Konferenzbeginn durchgeführt wurden: So bekleidete
177
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.879, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 240, 43 f., Rn. 43.
178
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.880, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 246, 247, Rn. 16.
179
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.890, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 307, 308, Rn. 29; ILC, UN
Doc A/CN.4/SR.893, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 327, 331.
180
ILC, UN Doc A/CN.4/SR.892, ILC-Yearbook (1966, I, 2), S. 321, 322 Rn. 18.
181
Resolution Adopted by the General Assembly 2166 (XXI), International Conference of
Plenipotentiaries on the Law of Treaties, UN Doc A/RES/2166 (XXI).
182
Die Konferenz wurde von Anfang an von Protesten gegen die Beschränkung der Konfe-
renzteilnehmer überschattet. Durch die Resolution der Generalversammlung war die Mit-
wirkung an der Konferenz auf Staaten begrenzt worden, welche Mitglieder der Vereinten
Nationen bzw. Parteien des IGH-Statuts waren oder auf besonderen Wunsch der General-
versammlung eingeladen wurden, an der Konferenz teilzunehmen. Der Vertreter der UdSSR
brandmarkte dieses Vorgehen der Generalversammlung als Diskriminierung und Verletzung
des Prinzips der souveränen Gleichheit der Staaten, welches es verbiete, dass eine Gruppe
von Staaten eine andere von der Teilnahme an der Lösung von Problemen von Gemein-
interesse ausschloss. Er beschuldigte offen die USA und Großbritannien, zur Förderung
178 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Elias das Amt des Vorsitzenden des Committe of the Whole, wobei er gleichzeitig
der Vertreter der afroasiatischen Gruppe bei der Konferenz war; Yasseen fungierte
als Vorsitzender des Drafting Committee.183 Daneben fanden sich in den Delegatio-
nen verschiedenster Staaten Mitglieder der ILC.184 Bereits in der Eröffnungsrede
wurde die herausragende Bedeutung der Konferenz für die Entwicklung und Kodi-
fikation des Völkerrechts herausgestellt.185
In Bezug auf das Problem der Ungleichen Verträge und den in diesem Zusam-
menhang besonders relevanten Teil V des Konventionsentwurfes, in dem sich auch
Artikel 49 befand, sollte Rosenne später schreiben:
Indeed, it would not be an exaggeration to say that this was the most political charged mate-
rial, and that the success of failure of the conference – on which also depended in the view
of many the future of the whole codification effort of the United Nations – depended on the
degree of statesmanship and juridical skill which could be devoted to finding a satisfactory
and acceptable solution to those problems. […] The underlying issue of course is that posed
by the so-called unequal, inequitable or leonine treaties, which no one was prepared to define
and which may well defy definition. Behind the slogan evoked by that controversy lie the hard
core issues of the implications of the rapidly changing political, economic and social facets
of international relationships on existing and future treaty patterns, In brief, all the issues of
stability and change in international relations had become concentrated on this phase of the
codification of international law (although closer inspection of them shows that in part at least
they would better be “sited” in the context of State succession than in the law of treaties).186
ihrer eigenen politischen Interessen die Verletzung der souveränen Rechte einer Reihe von
sozialistischer Staaten in Kauf zu nehmen. Tatsächlich waren die Volksrepublik China, die
Deutsche Demokratische Republik, die Demokratische Republik Vietnam und die Volksre-
publik Korea von der Konferenz ausgeschlossen worden. Die sowjetische Delegation erhielt
in dieser Sache Unterstützung von Indien, der Vereinigten Arabischen Republik, Rumänien,
Ceylon, Ungarn, der Ukraine, der Mongolei, Tansania, Polen, Weißrussland, Bulgarien,
Kuba, Guinea, Jugoslawien, Syrien, Kongo (Brazzaville) und der Tschechoslowakei. Der
Vertreter Chinas (Taiwans) entgegnete, dass die Republik China völkerrechtsgemäß vertreten
sei. Daneben beanstandete Tansania im Namen aller afrikanischen Staaten die Anwesenheit
der Vertreter Südafrikas. Siehe hierzu Resolution Adopted by the General Assembly 2166
(XXI), International Conference of Plenipotentiaries on the Law of Treaties, UN Doc A/
RES/2166 (XXI), Rn. 4; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.1,
Meeting Records (1968), S. 1, 1 ff., Rn. 15 ff.; UN Conference on the Law of Treaties, UN
Doc A/CONF.39/SR.2, Meeting Records (1968), S. 6, 6, Rn. 1.
183
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.1, Meeting Records
(1968), S. 1, 5, Rn. 53; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.2,
Meeting Records (1968), S. 6, 6, Rn. 7, 9; Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 6.
184
So war beispielsweise Briggs in der Delegation der USA, Jimenez de Arechaga in der von
Uruguay, UN Conference on the Law of Treaties, List of Delegations (1968), S. xiii, xxii.
185
Daneben betonte der indische Vertreter die herausragende Bedeutung der Konferenz für
die neuen Staaten; durch die Kodifikation des Vertragsrechts könnten sich diese auf geschrie-
benes Recht berufen und müssten nicht mehr auf Gewohnheitsrecht zurückgreifen, das häufig
veraltet und überholt erschien. UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/
SR.1, Meeting Records (1968), S. 1, 1, Rn. 4 ff.
186
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 76.
V. Artikel 49 in der Wiener Vertragsrechtskonferenz179
Während Tabibi in der ILC-Debatte den Wortlaut des damaligen Artikel 12 noch für
ausreichend gehalten hatte, da er es für wenig praktikabel hielt, die verschiedenen
Arten der Ausübung oder Androhung von Gewalt – wozu für ihn schon damals auch
wirtschaftlicher Druck und intensive Propaganda zählten – anzuführen, plädierte er
als afghanischer Delegierter für die explizite Nennung von ökonomischem und poli-
tischem Druck in Artikel 49, was sicherlich auch auf die zwischenzeitlichen Ent-
wicklungen im Special Committee on Principles of International Law Concerning
Friendly Relations and Co-operation among States zurückgeführt werden kann.189
Er führte aus, es sei gerade der Unterschied zwischen der Völkerbundsatzung und
der VN-Charta, dass letztere auch die Rolle anerkenne, welche gerade ökonomischer
Druck in den internationalen Beziehungen spiele.190 Die wirtschaftliche Notlage von
mehr als drei Vierteln der Weltgemeinschaft verschärfe sich zunehmend und rufe
immer kraftvollere Reaktionen hervor; die echte Gewalt dieser Zeit sei wirtschaft-
lich-soziale Gewalt und diese beeinflusse auch das Völkerrecht.191 Wirtschaftlicher
187
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 269, Rn. 21 ff. Zuvor hatte der Vertreter des Kongos (Brazzaville) verlaut-
baren lassen, sein Land sei keineswegs Miteinreicher dieses Änderungsvorschlages. Der
afghanische Delegierte bat daraufhin um eine Unterbrechung, um sich mit den Vertretern der
anderen Staaten, die den Änderungsentwurf unterstützten, abzusprechen; der Kongo wurde
schließlich doch als Miteinreicher des Änderungsvorschlages geführt. UN Conference on the
Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records (1968), S. 268, 269, Rn. 19 f.
Die neunzehn Staaten waren Afghanistan, Algerien, Bolivien, Kongo (Brazzaville), Ecuador,
Ghana, Guinea, Indien, Iran, Kenia, Kuwait, Mali, Pakistan, Sierra Leone, Syrien, Vereinigte
Arabische Republik, Vereinigte Republik Tansania, Jugoslawien und Sambia, wobei Afgha-
nistan den Entwurf einbrachte. United Nations Conference on the Law of Treaties, First
Session, Vienna, 26 March – 24 May 1968, Official Records, Documents of the Conference,
S. 171 f., Para 448 f.
188
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/C.1/L.67/Rev. 1/Corr. 1,
Official Records (1968/1969), S. 172, Rn. 449.
189
Siehe oben.
190
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 269, Rn. 22.
191
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 269, Rn. 22.
180 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
192
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 270, Rn. 26.
193
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records
(1968), S. 287, 293, Rn. 60.
194
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 270, Rn. 28. Bereits auf seiner sechsten Sitzung vom 23. Februar bis zum
6. März 1964 hatte sich das AALCC in Kairo mit dem Vertragsrecht beschäftigt. Davon
berichtete der Beobachter H.E. Hafez Sabek des AALCC bei der ILC bei deren 16. Sitzung.
Sabek schilderte, wie wichtig die progressive Entwicklung des Völkerrechts gerade für die
afrikanischen und asiatischen Staaten sei; diese hätten ihre Ansicht lange Zeit über nicht
kundtun können und unter Imperialismus und ungerechten, ihre Interessen und Bedürfnisse
missachtenden Verträgen gelitten. Die neuen Staaten waren erpicht darauf, sich von allen
kolonialen Fesseln zu befreien. Dabei gehörte es zu den Aufgaben der AALCC, sich mit den
in der ILC diskutierten Themen auseinanderzusetzen und dadurch einen Beitrag zu der Ent-
wicklung des Völkerrechts entsprechend der internationalen Bedürfnisse zu leisten. Dabei
schätzte es das AALCC, wie sehr die ILC die Standpunkte der Staaten Asiens und Afrikas in
ihrer Arbeit berücksichtigte. Trotz der wesentlichen Bedeutung der Ungleichen Verträge für
die Staaten Afrikas und Asiens ist dem Tagungsband des AALCC jedoch keine inhaltliche
Stellungnahme zu diesem Thema zu entnehmen. Dies mag dem Umstand geschuldet sein,
dass im selben Jahr eine Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen in Genf stattfand und
das Thema Atomwaffen, mit dem sich der Tagungsband im Wesentlichen beschäftigt, daher
dringlicher erschien. Das AALCC griff die Ächtung Ungleicher Verträge jedoch während
seiner neunten Sitzung 1967 in Neu Delhi anlässlich der Wiener Vertragsrechtskonferenz
erneut auf und bezog trotz seiner ansonsten eher knappen und politisch uneindeutigen Aus-
führungen zur künftigen Wiener Vertragsrechtskonvention eine klare Dritte-Welt-Position in
Bezug auf das Verbot von Verträgen unter gewaltsamem Zwang: So forderte es die Einbezie-
hung ökonomischen und politischen Drucks unter diese Vorschrift. Siehe zum Ganzen ILC,
UN Doc A/CN.4/SR.745, ILC-Yearbook (1964, I), S. 139, 140, Rn. 3; Asian-African Legal
Consultative Committee, Report of the Sixth Session held at Cairo from 24th February to 6th
March 1964, The Legality of Nuclear Tests: Report of the Committee and Background Mate-
rial, S. 1 ff.; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting
Records (1968), S. 268, 270, Rn. 28; Fatouros, Report of the Ninth Session held in New
Delhi from 18th to 29th December, 1967 by Asian African Legal Consultative Committee, 19
American Journal of Comparative Law (1971), S. 139, 140.
V. Artikel 49 in der Wiener Vertragsrechtskonferenz181
Präsident Josip Broz Tito und Indiens Premierministerin Indira Gandhi ebenso wie
Ägyptens Ministerpräsident Gamal Abdel Nasser wirtschaftliche Gewalt als Herr-
schaftsmittel bestimmter Staaten über die Entwicklungsländer identifiziert und ver-
urteilt.195 Die meisten Vertreter der 19 Staaten, die den Änderungsentwurf einge-
bracht hatten, gingen wie Tabibi davon aus, dass das Gewaltverbot auf Grund der
Entwicklungen seit der Verabschiedung der VN-Charta nunmehr auch politischen
und insbesondere ökonomischen Zwang erfasse, so dass ihrem Änderungsvorschlag
lediglich klarstellender Charakter zukäme.196 Der Vertreter Tansanias war hingegen
der Auffassung, dass das Gewaltverbot unter der VN-Charta ökonomischen Zwang
nicht erfasse und dieser in Artikel 49 explizit genannt werden müsse, um von der
Norm erfasst zu werden.197 Der Vertreter Syriens wies ebenfalls darauf hin, dass
der flexible Verweis in Artikel 49 auf die VN-Charta möglicherweise nicht aus-
reichen könnte, um bereits in der Gegenwart inakzeptable Situationen befriedigend
zu lösen.198 Er erkannte an, dass es schwierig sei, wirtschaftlichen Zwang präzise
zu definieren; nichtsdestoweniger handele es sich dabei um kein subjektives Phä-
nomen, sondern um eine Tatsache, die sich in Handlungen manifestieren würde,
welche identifizierbar seien.199 Tatsächlich sah eine ganze Reihe von Staaten der
Dritten Welt ökonomischen Zwang als die Waffe des Neokolonialismus überhaupt
an. Besonders scharf stellte dies der algerische Delegierte heraus:
It was true that the era of the colonial treaty was past or disappearing, but there was no
overlooking the fact that some countries had resorted to new and more insidious methods,
suited to the present state of international relations, in an attempt to maintain and perpetuate
bonds of subjection. Economic pressure, which was a characteristic of neo-colonialism,
was becoming increasingly common in relations between certain countries and the newly
independent States.
Political independence could not be an end in itself; it was even illusory if it was not
backed by genuine economic independence. That was why some countries had chosen the
political, economic and social system they regarded as best calculated to overcome under-
development as quickly as possible. That choice provoked intense opposition from certain
195
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 270, Rn. 30.
196
So etwa die Vertreter von Ecuador, Ghana und Sambia, UN Conference on the Law of
Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records (1968), S. 268, 273, Rn. 63; UN
Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records (1968),
S. 287, 288, Rn. 4; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50,
Meeting Records (1968), S. 280, 287, Rn. 65.
197
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 270 f., Rn. 33 f.
198
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting Records
(1968), S. 274, 274, Rn. 4.
199
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting Records
(1968), S. 274, 274, Rn. 5. So auch Guinea, United Nations Conference on the Law of Trea-
ties, First Session, Vienna, 26 March – 24 May 1968, Summary Records of the Plenary Mee-
tings and of the Meetings of the Committee of the Whole, 51st Meeting of the Committee of
the Whole, UN Doc A/CONF.39/SR.51, S. 287, 288, Rn. 9.
182 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
interests which saw their privileges threatened and then sought through economic pressure
to abolish or at least restrict the right of peoples to self-determination. Such neo-colonialist
practices, which affected more than two-thirds of the world’s population and were retarding
or nullifying all efforts to overcome under-development, should therefore be denounced
with the utmost rigour.200
Der bolivianische Delegierte lenkte die Aufmerksamkeit hingegen weg vom Gewalt-
verbot und stattdessen hin zum Einfluss wirtschaftlichen Zwangs auf den souveränen
Willen eines Staates und auf das grundlegende Prinzip der freien Zustimmung.201
Um ihn bildete sich eine Fraktion von Staaten, die das Nineteen-State-Amendment
zwar nicht mitvorgelegt hatten, es jedoch unterstützten. Sie strebten wie Yasseen in
der ILC eine allgemeine Regelung zum Schutz der Willensfreiheit der Staaten an; die
im Nineteen-State-Amendment vorgenommene Ausweitung des Gewaltbegriffs war
für sie damit mehr Mittel zum Zweck. Sie verzichteten dabei jedoch darauf, einen
eignen Änderungsvorschlag vorzulegen und entschieden sich stattdessen dafür, die
Kräfte im Kampf gegen Ungleiche Verträge durch Unterstützung des Nineteen-
State-Amendment zu bündeln. Ihre vom Wortlaut des Nineteen-State-Amendment
abweichende Schlagrichtung erklärt jedoch, warum beispielsweise der Irak, bei
dessen Delegation Yasseen den Vorsitz innehatte,202 nicht zu den 19 Staaten gehör-
ten, die den Änderungsentwurf eingebracht hatten, den der Irak nun aber nichts-
destoweniger zu unterstützen bereit war. Im Übrigen hielt Yasseen es möglicher-
weise auch für ratsam, in der Wiener Vertragsrechtskonferenz seine Vorreiterrolle
im Kampf gegen Ungleiche Verträge abzugeben: Zum einen war er in der ILC mit
seiner Position weitgehend isoliert gewesen, zum anderen musste er bei der Wiener
Vertragsrechtskonferenz nicht nur seiner Rolle als Vertreter des Irak, sondern auch
seiner Aufgabe als Vorsitzender des Drafting Committee gerecht werden. So unter-
stützte der Delegierte des Iraks das Nineteen-State-Amendment und argumentierte,
dass Willensfreiheit und Gleichheit als Teile der staatlichen Souveränität wesent-
lich seien, um die Stabilität von Verträgen und deren Umsetzung in gutem Glauben
sicherzustellen.203 Instabilität würden hingegen solche Staaten hervorrufen, welche
das Verbot wirtschaftlichen Zwangs zurückwiesen, um ihre Interessen und ihre Vor-
machtstellung zu schützen, ihren Willen schwächeren Staaten aufzudiktieren und
ihre illegalen Machenschaften zu rechtfertigen; der Irak würde daher für den Ände-
rungsantrag stimmen.204 Der Vertreter Polens sah im Schutz der Willensfreiheit der
200
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting Records
(1968), S. 274, 276, Rn. 27 f.
201
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 270, Rn. 31.
202
UN Conference on the Law of Treaties, List of Delegations (1968), S. xiii, xvii.
203
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 272, Rn. 52. So auch die Philippinen, UN Conference on the Law of Treaties,
UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records (1968), S. 280, 287, Rn. 68.
204
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 273, Rn. 55.
V. Artikel 49 in der Wiener Vertragsrechtskonferenz183
Staaten die eigentliche Bedeutung von Artikel 49, so dass ihm eine Beschränkung
auf bestimmte Formen von Zwang unter Ausschluss anderer grundlos erschien und
verkündete, sich den 19 Antragstellerstaaten anschließen zu wollen.205 Die Vertre-
terin Indonesiens schätzte daneben die Missbrauchsgefahr einer solchen Norm als
gering ein, zumal ein Staat, der sich ungerechtfertigter Weise auf Artikel 49 beriefe,
sein internationales Prestige riskieren würde.206 Des Weiteren sprachen sich auch
China, Kuba, die Mongolei, Zypern, Ungarn, Weißrussland, die UdSSR und Rumä-
nien für das Nineteen-State-Amendment aus,207 wobei der rumänische Vertreter die
Vorteile des Änderungsvorschlags im Hinblick auf Ungleiche Verträge folgender-
maßen zusammenfasste:
By including economic and political pressure among the forms of violation of the principle
prohibiting the use or threat of force, article 49 would gain efficacy; its preventive force
would be increased, and it would represent a sounder and more certain legal means of sub-
stituting the rule of law for the rule of force.208
205
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 281, Rn. 13. So auch Guinea, UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc
A/CONF.39/SR.51, Meeting Records (1968), S. 287, 288, Rn. 7.
206
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 285, Rn. 43.
207
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 272, Rn. 49; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/
SR.49, Meeting Records (1968), S. 274, 275, Rn. 14 f., S. 277, Rn. 41, S. 279, Rn. 61; UN
Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records (1968),
S. 280, 282, Rn. 24, S 287, Rn. 67; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/
CONF.39/SR.51, Meeting Records (1968), S. 287, 288 f., Rn. 14.
208
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 284 f., Rn. 41.
184 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Nigeria, das in der Generalversammlung noch für einen weiten Gewaltbegriff plä-
diert hatte, äußerte sich in der Debatte um Artikel 49 bei der Wiener Vertragsrechts-
konferenz interessanterweise überhaupt nicht. Auch gehörte es nicht zu den Staaten,
die das Nineteen-State-Amendment eingebracht hatten. Ein Grund hierfür mag sein,
dass Elias Vorsitzender der nigerianischen Delegation war.209 Er hatte beim Thema
Ungleiche Verträge schon in der ILC Zurückhaltung gezeigt. Bei der Wiener Ver-
tragsrechtskonferenz nahm er als Vorsitzender des Committee of the Whole einer-
seits und als Vertreter der Dritten Welt andererseits eine schwierige Doppelrolle ein,
die großes diplomatisches Geschick erforderte und eine einseitige Positionierung
Nigerias in einer derart umstrittenen Frage politisch nur schwer möglich machte.
Uruguay sprach sich trotz seiner Zugehörigkeit zur Dritten Welt gegen den Ände-
rungsvorschlag aus, und dies nicht nur wegen der Vagheit seiner Begrifflichkei-
ten; der Vertreter hielt ihn schlicht für unnötig, da der verwendete Gewaltbegriff
besonders schwere Fälle von politischem oder wirtschaftlichem Zwang nicht aus-
schloss.210 Dagegen bestünde die Gefahr, dass aus einer Annahme des Nineteen-
State-Amendment im Gegenteil geschlossen werden könnte, dass Artikel 2 Nr. 4
VN-Charta solche Formen von Druck gerade nicht erfasse.211 Außerdem hielt er die
im Prinzip völlig legitimen ökonomischen und sozialen Forderungen der Entwick-
lungsländer im Rahmen einer Kodifikationskonferenz für nicht angebracht.212 Die
Position Uruguays entsprach dabei jener, die ihr Delegationsvorsitzender Jiménez
de Aréchaga bereits in der ILC vertreten hatte, nämlich es bei einem schlichten
Verweis auf Artikel 2 Nr. 4 VN-Charta zu belassen.
Der Westen ging hinsichtlich Artikel 49 des Entwurfs der Vertragsrechtskonven-
tion weitestgehend in Opposition zur Mehrheitsmeinung in der Dritten Welt. Der
australische Delegierte machte deutlich, dass Artikel 2 Nr. 4 VN-Charta politischen
und ökonomischen Druck aktuell genauso wenig erfasse wie 1945.213 Er meinte
jedoch später in der Debatte, dass seine Abordnung einen neuerlichen Änderungs-
vorschlag der 19 Antragssteller mit konkret definiertem Anwendungsbereich des
verbotenen wirtschaftlichen und politischen Zwangs zu prüfen bereit wäre; alter-
nativ könnte eine Art Deklaration in dieser Frage erarbeitet werden.214 Häufig war
209
UN Conference on the Law of Treaties, List of Delegations (1968), S. xiii, xix.
210
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting Records
(1968), S. 274, 277, Rn. 35 f.
211
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting Records
(1968), S. 274, 277, Rn. 35. Auch Italien wies auf dieses Dilemma hin, UN Conference on the
Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records (1968), S. 287, 289, Rn. 16.
212
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting Records
(1968), S. 274, 277, Rn. 39.
213
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 271, Rn. 44. Dem pflichtete Portugal bei, UN Conference on the Law of Trea-
ties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting Records (1968), S. 274, 278, Rn. 45 f.
214
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 282, Rn. 20. Ähnlich Chile, UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc
A/CONF.39/SR.50, Meeting Records (1968), S. 280, 285, Rn. 48.
V. Artikel 49 in der Wiener Vertragsrechtskonferenz185
hingegen vom Westen das Argument zu hören, dass die Konferenz gar nicht über die
Kompetenz verfüge, die VN-Charta auszulegen;215 eine Einschätzung, die für solche
Alternativen wenig Spielraum ließ. Die Niederlande sahen durch das Nineteen-
State-Amendment die Stabilität der Vertragsbeziehungen gefährdet.216 Diesen Punkt
führte der kanadische Delegierte weiter aus, der das Prinzip pacta sunt servanda in
Bedrängnis sah:217
Except where a treaty was negotiated between two super-powers of equal enormous eco-
nomic and political strength, or between two small States of equal weakness, the inclusion
of that expression would be an invitation to States to invalidate treaties by using it as an
excuse whenever a State party to a treaty decided later that it had made a bad bargain. The
long-term interests of small and new States, and those of the world order as a whole, would
not be served by the inclusion of the excessively broad language thus proposed.218
Politischer und ökonomischer Zwang seien ein übliches Mittel, durch welches
Staaten in Vertragsverhandlungen ihre Interessen vertreten.219 Die USA sahen den
Interessen der Entwicklungsländer durch eine (nach Ansicht der USA abzuleh-
nende) Ausweitung des Gewaltbegriffs dabei gar nicht gedient; vielmehr sei das
Gegenteil der Fall, da Investoren ihr steigendes Risiko kostentechnisch an diese
Länder weitergeben würden.220 Großbritannien argumentierte ähnlich, gestand aber
ein, dass bestimmte Fälle von eklatantem politischem oder ökonomischem Zwang
die Verurteilung eines Vertrages rechtfertigen könnten.221 Allerdings würden die
wirtschaftlichen Probleme der Dritten Welt durch die Annahme des Änderungsvor-
schlages nicht gelöst werden.222 Japan war zwar nicht grundsätzlich gegen das Nine-
teen-State-Amendment, hielt aber den Begriff des wirtschaftlichen und politischen
Drucks noch für zu unscharf, um als Grund für die Unwirksamkeit eines Vertrages in
215
Zum Beispiel Neuseeland, UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/
SR.51, Meeting Records (1968), S. 287, 290, Rn. 25; Schweiz und USA, UN Conference on
the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records (1968), S. 287, 291 f.,
Rn. 42, 49.
216
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting Records
(1968), S. 274, 275, Rn. 21. Ähnlich Belgien, UN Conference on the Law of Treaties, UN
Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records (1968), S. 280, 287, Rn. 70.
217
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 281, Rn. 6.
218
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 281, Rn. 6.
219
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 281, Rn. 8.
220
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records
(1968), S. 287, 292, Rn. 51.
221
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 283, Rn. 31.
222
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records
(1968), S. 280, 283 f., Rn. 32.
186 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
223
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.48, Meeting Records
(1968), S. 268, 272, Rn. 47. Noch deutlicher wurde hier Argentinien, das schon den Gewalt-
begriff (im physischen Sinne verstanden) für zu vage hielt und deswegen gegen eine Aus-
weitung war. UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.49, Meeting
Records (1968), S. 274, 280, Rn. 68.
224
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records
(1968), S. 287, 291, Rn. 36.
225
Beispielsweise Schweden, UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/
SR.49, Meeting Records (1968), S. 274, 279, Rn. 56, sowie Großbritannien, UN Conference
on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.50, Meeting Records (1968), S. 280, 284,
Rn. 37.
226
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records
(1968), S. 287, 293, Rn. 55.
227
United Nations Conference on the Law of Treaties, First Session, Vienna, 26 March – 24
May 1968, Summary Records of the Plenary Meetings and of the Meetings of the Committee
of the Whole, 51st Meeting of the Committee of the Whole, UN Doc A/CONF.39/SR.51,
S. 287, 293, Rn. 62.
228
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records
(1968), S. 287, 293, Rn. 62.
229
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.51, Meeting Records
(1968), S. 287, 293, Rn. 63.
230
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.57, Meeting Records
(1968), S. 328, 329. Rn. 3.
V. Artikel 49 in der Wiener Vertragsrechtskonferenz187
Diese Erklärung knüpfte an die souveräne Gleichheit der Staaten und deren Willens-
freiheit an und verurteilte die Ausübung militärischen, politischen und wirtschaftli-
chen Zwangs bei Vertragsabschluss. Sie entfernte sich damit von der Koppelung an
das Gewaltverbot nach der VN-Charta und stellte vielmehr ein allgemeines Verbot
der Ausübung von Zwang im Recht der Verträge dar, wodurch sie in großer Nähe
zu Yasseens Forderung zu sehen ist. Allerdings war die Deklaration als Teil der
Schlussakte konzipiert und stand damit außerhalb der zukünftigen, rechtlich ver-
bindlichen Vertragsrechtskonvention. Damit war absehbar, dass der Rechtscharak-
ter der Deklaration künftig mit eben diesem Argument bestritten werden könnte.232
Hier wurde also erneut eine argumentative Grenzziehung angelegt, diesmal jedoch
nicht auf Tatbestands-, sondern auf Rechtsquellenebene: Dem Nineteen-State-
Amendment würde zukünftig schlicht entgegengebracht werden können, es handele
sich nicht um geltendes Völkerrecht.
Das Committee of the Whole billigte die Erklärung ohne weitere Debatte; das
Nineteen-State-Amendment wurde im Gegenzug nicht zur Abstimmung gebracht.233
Nachdem über andere Änderungsvorschläge entschieden worden war, wurde Artikel
49 an das Drafting Committee übermittelt.234 Dieses legte Artikel 49 mit leicht ver-
ändertem Wortlaut vor:
231
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.57, Meeting Records
(1968), S. 328, 328 f., Rn. 1.
232
Siehe unten Fazit.
233
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.57, Meeting Records
(1968), S. 328, 329, Rn. 4 f.
234
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.57, Meeting Records
(1968), S. 328, 330, Rn. 24.
188 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
A treaty is void if its conclusion has been procured by the threat or use of force in violation
of the principles of international law embodied in the Charter of the United Nations.235
Artikel 49 wurde mit diesem Wortlaut angenommen, wobei es sich der irakische
Delegierte auch hier nicht nehmen ließ, darauf hinzuweisen, dass Artikel 49 seiner
Ansicht nach auch politischen und ökonomischen Druck sanktioniere.236
Der Präsident appellierte an alle Teilnehmer, sich ihre Verantwortung gegenüber der
Internationalen Gemeinschaft bewusst zu machen, da die Konferenz eine Art Gesetz-
gebungsorgan der Weltgemeinschaft darstelle.238 Nach Abschluss der Arbeiten im
Committee of the Whole müsse die Konferenz ihre Verantwortung annehmen.239
Artikel 49 gehörte zwar grundsätzlich zu den Artikeln, für deren Ausgestaltung
schon bei der ersten Konferenz ein Kompromiss gefunden wurde; die Debatte um
die Norm ging jedoch trotzdem noch weiter. Eine Reihe von Staaten, die bei der
letzten Konferenz das Nineteen-State-Amendment unterstützt hatte, machte deut-
lich, dass sie dieses nur deshalb nicht zur Abstimmung gestellt hatte, um einen mög-
lichst breiten Konsens der Konferenz zu garantieren.240 Das ILC-Mitglied Tabibi
235
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.78, Meeting Records
(1968), S. 463, 465, Rn. 25.
236
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.78, Meeting Records
(1968), S. 463, 465, Rn. 33 f.
237
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.6, Meeting Records
(1969), S. 1, 1, Rn. 3.
238
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.6, Meeting Records
(1969), S. 1, 1, Rn. 4.
239
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.6, Meeting Records
(1969), S. 1, 1, Rn. 9.
240
Beispielsweise Tansania und Syrien, UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/
CONF.39/SR.18, Meeting Records (1969), S. 84, 91 f., Rn. 71, 77.
V. Artikel 49 in der Wiener Vertragsrechtskonferenz189
betonte als afghanischer Delegierter nochmals die Bedeutung von Artikel 49 für die
Entwicklungsländer.241 Während Artikel 49 mit 98 Ja-Stimmen, ohne Gegenstimme,
aber mit fünf Enthaltungen angenommen wurde,242 unternahm der Vertreter Afgha-
nistans einen letzten Anlauf, um einen weitverstandenen Gewaltbegriff durchzuset-
zen: Seine Delegation brachte einen Resolutionsentwurf ein, der die Erklärung zu
Artikel 49 ergänzen sollte.243 Der Entwurf lautete folgendermaßen:
Tabibi drückte sein Bedauern aus, dass der Änderungsentwurf zu Artikel 49, der
seiner Ansicht nach lediglich geltendes Gewohnheitsrecht widerspiegelte und von
der Mehrheit der Konferenzteilnehmer unterstützt worden war, nicht in den Kon-
ventionstext einfließen würde.245 Dieser Kompromiss müsse vor dem Hintergrund
gesehen werden, dass der präzise Umfang des Gewaltverbots sich im Rahmen der
Chartainterpretation herauskristallisieren würde.246 Für die vorliegende Konven-
tion sei es nun aber aus prozessualer Sicht erforderlich, Artikel 49 der Konvention
und die zugehörige Erklärung organisch zu verbinden.247 Offenbar sah Tabibi die
Gefahr, dass zukünftig bei der Auslegung von Artikel 2 Nr. 4 UN-Charta auf die
Vertragsrechtskonvention mit dem Argument rekurriert werden könne, Artikel 49
sehe vom Gewaltverbot lediglich militärische Gewalt erfasst. Das Nineteen-State-
Amendment barg das Risiko, nicht als verbindlicher Teil der späteren Konvention
241
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.18, Meeting Records
(1969), S. 84, 92, Rn. 81.
242
Der Stimme enthielten sich die Schweiz, Tunesien, die Türkei, Großbritannien und
Belgien. UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.19, Meeting
Records (1969), S. 92, 93, Rn. 1. Offenbar wurde die Ja-Stimme Marokkos versehentlich
nicht gezählt, siehe UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.34,
Meeting Records (1969), S. 185, 197, Rn. 106.
243
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.19, Meeting Records
(1969), S. 92, 93, Rn. 6.
244
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/L.32/Rev. 1, Official Records
(1968/1969), S. 269.
245
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.19, Meeting Records
(1969), S. 92, 93, Rn. 5.
246
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.19, Meeting Records
(1969), S. 92, 93, Rn. 5.
247
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.20, Meeting Records
(1969), S. 100, 100, Rn. 2.
190 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
248
Dies waren im Einzelnen die Demokratische Republik Kongo, Kuba, Rumänien und die
Tschechoslowakei, UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.20,
Meeting Records (1969), S. 100, 100 f., Rn. 5 ff.
249
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.20, Meeting Records
(1969), S. 100, 101, Rn. 13.
250
Der Text lautete schließlich folgendermaßen:
Declaration on the prohibition of military, political or economic coercion in the conclu-
sion of treaties
The United Nations Conference on the Law of Treaties,
Upholding the principle that every treaty in force is binding upon the parties to it and must
be performed by them in good faith,
Reaffirming the principle of the sovereign equality of States,
Convinced that States must have have complete freedom in performing any act relating to
the conclusion of a treaty,
Deploring the fact that in the past States have sometimes been forced to conclude treaties
under pressure exerted in various forms by other States,
Desiring to ensure that in the future no such pressure will be exerted in any form by any
State in connexion with the conclusion of a treaty,
1. Solemnly condemns the threat or use of pressure in any form, whether military, politi-
cal, or economic, by any State in order to coerce another State to perform any act rela-
ting to the conclusion of a treaty in violation of the principles of the sovereign equality
of States and freedom of consent;
2. Decides that the present Declaration shall form part of the Final Act of the Conference
on the Law of Treaties.
Resolution relating to the declaration on the prohibition of military, political or economic
coercion in the conclusion of treaties
The United Nations Conference on the Law of Treaties,
Having adopted the Declaration on the prohibition of military, political or economic coer-
cion in the conclusion of treaties as part of the Final Act of the Conference,
1. Requests the Secretary-General of the United Nations to bring the declaration to the
attention of all Member States and other States participating in the Conference, and of
the principal organs of the United Nations;
2. Requests Member States to give the Declaration the widest possible publicity and
dissemination.
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.31, Meeting Records
(1969), S. 168, 168, Rn. 1 ff.
VI. Ausgang der Konferenz, Resonanz und Rezeption191
Verträgen unter gewaltsamem Zwang als Artikel 52 Einzug in die Wiener Vertrags-
rechtskonvention.251 Waldocks Ansatz, ein Korrelat zum Gewaltverbot im Recht der
Verträge zu schaffen, setzte sich somit letztlich gegenüber Yasseens Forderung nach
dem umfassenden Schutz der staatlichen Willensfreiheit durch. Das weite Gewalt-
begriffsverständnis der Mehrheit der Staaten fand lediglich im Nineteen-State-
Amendment Ausdruck.
Trotzdem wäre die Konferenz beinahe gescheitert, da bis zu ihren letzten Tag die
Durchsetzungsfrage ungelöst geblieben war. Viele Bedenken insbesondere west-
licher Staaten waren durch die Gefahr des Missbrauchs von Nichtigkeitsnormen
motiviert, was vor allem im Streit um die Verträge im Widerspruch zu zwingendem
Recht zum Ausdruck gekommen war;252 entsprechend machten sie es zur Bedingung
des Abschlusses der WVK, dass diese einen Mechanismus zur Durchsetzung von
Nichtigkeitsgründen beinhalte, der über die unilaterale Inanspruchnahme solcher
Gründe durch einen Staat hinaus nicht nur Informations- und Gesprächspflichten
erfasse, sondern darüber hinaus eine obligatorische Streitbeilegungsinstanz fest-
schreibe.253 Die Staaten des Ostblocks und der Dritten Welt favorisierten demgegen-
über ein Verfahren nach Artikel 33 VN-Charta ohne verbindliche Streitbeilegungs-
instanz.254 Mit der Durchsetzungsfrage hatte sich daher schon die ILC eingehend
beschäftigt und letztlich das Verfahren nach Artikel 33 VN-Charta vorgeschlagen.255
Die Vorbehalte der neuen Staaten gegenüber gerichtlicher Konfliktlösung im All-
gemeinen und jener durch den IGH im Speziellen hatten bereits vor längerer Zeit
eine Debatte in der Völkerrechtswissenschaft und -praxis ausgelöst, welche diese
Position vor dem Hintergrund der europäischen Prägung des geltenden Völker-
rechtes, welches der IGH anwendete, plausibilisierte.256 Der Grund hierfür wurde
251
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.36, Meeting Records
(1969), S. 202, 203, Rn. 12; UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/27,
Official Records (1968/1969), S. 289, 296.
252
Siehe beispielsweise UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.53,
Meeting Records (1968), S. 299, 305, Rn. 61; Vgl. auch Elias, The Modern Law of Treaties
(1974), S. 7, 188.
253
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 7, 189 ff.
254
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 7, 188 ff.
255
ILC, UN Doc A/6309/Rev. 1, ILC-Yearbook (1966, II), S. 169, 185.
256
Siehe hierzu schon oben, Teil I. Vgl. auch McWhinney, The „New“ Countries and the
„New“ International Law: The United Nations Special Conference on Friendly Relations and
Co-operation among States, 60 American Journal of International Law (1966), S. 1, 19 f.;
Friedmann, The Position of Underdeveloped Countries and the Universality of International
Law, 1 & 2 Columbia Journal of Transnational Law (1961-1963), S. 78, 81, 86; Castañeda,
The Underdeveloped Nations and the Development of International Law, 15 International
Organization (1961), S. 38, 41; Anand, New States and International Law (1972), S. 50 ff.
192 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
257
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 116.
258
Abi-Saab, The Newly Independent States and the Rules of International Law: An Outline,
8 Howard Law Journal (1962), S. 95, 116.
259
Elias meinte jedoch auch, dass entgegen landläufiger Behauptungen nicht nur die Staaten
der Dritten Welt, sondern auch jene der Ersten und Zweiten Welt dem IGH gegenüber eine
gewisse Zurückhaltung an den Tag legten. Elias, Africa and the Development of International
Law (1972), S. 52.
260
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 51.
261
Schwelb, Some Aspects of International Jus Cogens as Formulated by the International
Law Commission, 61 American Journal of International Law (1967), S. 946, 973 f.
262
ICJ, ICJ-Reports 1966, S. 6, 6 ff. Siehe hierzu auch Bernhardt, Homogenität, Kontinuität:
Eine Fall-Studie zum Südwestafrika/Namibia-Komplex und Dissonanzen in der Rechtspre-
chung des Internationalen Gerichtshofs, 33 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht
und Völkerrecht (1973), S. 1, 1 ff.
VI. Ausgang der Konferenz, Resonanz und Rezeption193
Auf Grund der jüngsten negativen Erfahrungen mit dem IGH gestaltete sich die
Suche nach einer geeigneten Streitbeilegungsinstanz für Unwirksamkeitsgründe
nach der WVK höchst schwierig. Während der Konferenz wurden diverse Anträge
zur Durchsetzungsfrage gestellt, die sich allesamt nicht durchsetzen konnten.265
Gegen Ende der Konferenz zeichnete sich daher zunächst ein Scheitern der Ver-
handlungen ab.266 Bahnbrechend war aber schließlich ein Textvorschlag für Artikel
66 der WVK und den Anhang der Konvention, welcher unter der Leitung von Elias
durch 13 Staaten Afrikas und Asiens eingebrachte wurde.267 Diesen auf der Kom-
bination von Elementen aus verschiedenen zuvor gestellten Anträgen aufbauenden
Entwurf stellte Elias der Konferenz als „package deal“ vor, über den nur im Ganzen
abgestimmt werden solle.268 Tatsächlich nahm die Konferenz diesen Vorschlag an.269
Letztlich wurde die Wiener Vertragsrechtskonvention mit überwältigender Mehrheit
263
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 189.
264
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 51. Auch McWhinney
kritisiert an der Entscheidung des IGH in den South-West Africa-Fällen, dass der IGH sich
nicht zu materiellen Themen wie der Vereinbarkeit des Apartheitssystems mit dem Völker-
recht eingelassen hat, McWhinney, The „New“ Countries and the „New“ International Law:
The United Nations Special Conference on Friendly Relations and Co-operation among
States, 60 American Journal of International Law (1966), S. 1, 67 f. Jessup hielt diese Mehr-
heitsentscheidung des Gerichts für „completely unfounded in law. In my opinion, the Court
is not legally justified in stopping at the threshold of the case, avoiding a decision on the
fundamental question whether the policy and practice of apartheid in the mandated territory
of South West Africa is compatible with the discharge of the "sacred trust" confided to the
Republic of South Africa as Mandatory.“ Jessup, ICJ- Reports 1966, S. 325, 325.
265
Siehe hierzu im Detail Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 189 ff.
266
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 85; Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 7.
267
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.34, Meeting Records
(1969), S. 185, 188, Rn. 27; Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 7, 192; Rosenne, The
Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Convention (1970), S. 85.
268
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 7, 192 f.
269
Nach diesem Vorschlag sollte der IGH als obligatorische Gerichtsbarkeit bei ius cogens-
Verletzung zuständig sein, während Streitigkeiten über Nichtigkeitsgründe im Übrigen von
einer im Streitfall aus einer vom Generalsekretär der Vereinten Nationen geführten Liste qua-
lifizierter Juristen zu berufenden Vergleichskommission entschieden werden sollten, siehe
Artikel 66 WVK und Anhang zur WVK.
194 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Diese Interpretation wurde von Großbritannien abgelehnt, da sie nicht mit den
Ergebnissen der Konferenz übereinstimme.272 Schweden verwies diesbezüglich auf
zukünftige Entwicklungen in der Interpretation der VN-Charta.273
Während die Entwurfsartikel der ILC selbst nur geringe Resonanz in der Völ-
kerrechtswissenschaft auslösten,274 löste die Verabschiedung der WVK lange vor
ihrem Inkrafttreten 1980 eine Publikationswelle aus.275 Dabei lief die Ratifikation
anfangs eher schleppend,276 was darauf zurückzuführen sein mag, dass viele Staaten
einerseits mit dem gewohnheitsrechtlich etablierten Recht der Verträge zufrieden
waren und dass andererseits die WVK in wichtigen Bereichen wie den Unwirksam-
keitsgründen sowie den Verfahrensvorschriften eine progressive Weiterentwick-
lung des Rechts darstellte.277 Erstaunlich unterschiedlich bewerteten verschiedene
Autoren den Grad an Kodifikation bzw. Rechtsfortbildung in der WVK. Insgesamt
wurde die WVK jedoch als Erfolg gewertet. Rosenne setzte große Hoffnung in
die WVK, die er weitestgehend als Kodifikation des geltenden Gewohnheitsrechts
270
UN Conference on the Law of Treaties, UN Doc A/CONF.39/SR.36, Meeting Records
(1969), S. 202, 206 f., Rn. 51; Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative
History of the Vienna Convention (1970), S. 87. Zu Artikel 66 wurden jedoch zahlreiche Vor-
behalte abgegeben, siehe United Nations, Treaty Series, Vol. 1155, S. 499 ff.
271
United Nations, Treaty Series, Vol. 1155, S. 506.
272
United Nations, Treaty Series, Vol. 1155, S. 509.
273
United Nations, Treaty Series, Vol. 1155, S. 511.
274
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Con-
vention (1970), S. 63. Siehe aber Lissitzyn, Treaties and Changed Circumstances (Rebus Sic
Stantibus), 61 American Journal of International Law (1967), S. 895, 895 ff. und Strebel,
Preliminary Remarks, 27 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
(1967), S. 408, 408 ff.
275
Siehe beispielsweise Rosenne, The Settlement of Treaty Disputes under the Vienna Con-
vention of 1969, 31 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (1971),
S. 1, 1 ff.; Magallona, The Concept of Jus Cogens in the Vienna Convention on the Law of
Treaties, 51 Philippine Law Journal (1976), S. 521, 523 ff.; Rosenne, The Law of Treaties: A
Guide to the Legislative History of the Vienna Convention (1970); Elias, The Modern Law
of Treaties (1974); Sinclair, The Vienna Convention on the Law of Treaties (1973); Sztucki,
Jus Cogens and the Vienna Convention on the Law of Treaties: A Critical Appraisal (1974).
276
Siehe auch die pessimistische Prognose von Nahlik, The Grounds of Invalidity and Termi-
nation of Treaties, 65 American Journal of International Law (1971), S. 736, 756.
277
Aust, Vienna Convention on the Law of Treaties (1969), Max Planck Encyclopedia of
Public International Law (2006), Rn. 4.
VI. Ausgang der Konferenz, Resonanz und Rezeption195
betrachtet.278 Er hoffte auf einen positiven Einfluss der WVK auf die völkerver-
tragsrechtliche Praxis.279 Daneben baute Rosenne auf die prophylaktische Wirkung
der Konvention, die Konflikte nicht nur lösen, sondern schon im Vorfeld verhindern
zu können.280 Sinclair stellte heraus, dass mit der WVK die erste große Konvention
unter voller Beteiligung der neuen Staaten entstanden war und dass die Erweiterung
der Staatengemeinschaft folglich trotz mancher Unkenrufe im Vorfeld der Kodi-
fikation und der progressiven Weiterentwicklung des Völkerrechts nicht im Wege
stand.281 Für Elias war die WVK zu weiten Teilen eine progressive Weiterentwick-
lung des Rechts:282
By outlawing fraud, coercion and the use or threat of force from the sphere of inter-State
relations, this convention is laying down a revolutionary standard of international morality
which, under the over-all aegis of jus cogens, represents the high water-mark of internatio-
nal legislation in the history of international law. Whether or not it eventually enters into
force, international law cannot be the same again.283
Der IGH habe die Konvention laut Elias im Barcelona Traction-Fall angewendet,
als ob sie bereits in Kraft getreten sei.284 Die WVK wurde von Elias in den 1970er-
Jahren daher bereits als Teil des geltenden Völkerrechts betrachtet,285 und zwar trotz
des schleppenden Ratifikationsprozesses und der vielen progressiven Elemente in
der WVK.286 Damit sah Elias die WVK als Meilenstein in der Kodifikationsbewe-
gung an, der als wesentlicher Schritt hin zu einer materiell universellen Völker-
rechtsordnung zu werten sei.287
Bei den Verträgen unter Zwang war zunächst die rechtliche Einordnung der
Erklärung zu ökonomischem Zwang interessant. Häufig wird diese Erklärung ohne
rechtliche Einordnung lediglich erwähnt.288 Auch Elias ging diese Frage in seinem
278
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 90.
279
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 91.
280
Rosenne, The Law of Treaties: A Guide to the Legislative History of the Vienna Conven-
tion (1970), S. 91.
281
Sinclair, Vienna Conference on the Law of Treaties, 19 International and Comparative Law
Quarterly (1970), S. 47, 47 f., 69.
282
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 67.
283
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 67.
284
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 5.
285
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 5.
286
Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 67.
287
Siehe auch Elias, Africa and the Development of International Law (1972), S. 68.
288
Z.B. bei Depra, Das Gewaltverbot der Vereinten Nationen und die Anwendung nichtmili-
tärischer Gewalt (1970), S. 50.
196 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Buch zur WVK nicht direkt an, sondern verwies lediglich im Ergebnis auf das Son-
dervotum des mexikanischen IGH-Richters Luis Padilla Nervo im Fisheries Juris-
diction-Fall, in dem dieser sich explizit auf Artikel 52 bezog:
A big power can use force and pressure against a small nation in many ways, even by the
very fact of diplomatically insisting on having its view recognized and accepted. The royal
navy did not need to use armed force, its mere presence on the seas inside the fishery limits
of the coastal State could be enough pressure. It is well known by professors, jurists and
diplomats acquainted with international relations and foreign policies, that certain ‘Notes’
delivered by the government of a strong power to a government of a small nation, may have
the same purpose and the same effect as the use of threat or force.
There are moral and political pressures which cannot be proved by the so-called docu-
mentary evidence, but which are in fact indisputably real and which have, in history, given
rise to treaties and conventions claimed to be freely concluded and subjected to the princi-
ple of pacta sunt servanda.289
Diese Hoffnung wurde in der Praxis jedoch enttäuscht. Allgemein wurde die Dekla-
ration als nicht rechtsverbindlich erachtet.291 So schrieb der Schweizer Völkerrecht-
ler Lucius Caflisch später, dass bereits der Wortlaut der Deklaration gegen ihre Ver-
bindlichkeit spreche, da Verträge unter Zwang zwar verurteilt würden, hieran aber
keine Rechtsfolge geknüpft werde.292 Entsprechend könne der Erklärung höchstens
eine moralische, jedoch keine rechtliche Wirkung zugesprochen werden.293
Von der rechtlichen Einordnung der Deklaration weitgehend unabhängig
blieb die Bedeutung des Wortes Gewalt in Artikel 52 WVK bzw. Artikel 2 Nr. 4
289
Elias, The Modern Law of Treaties (1974), S. 175; Nervo, ICJ-Reports 1974, S. 36, 46 f.
290
Murphy, Economic Duress and Unequal Treaties, 11 Virginia Journal of International Law
(1970-716), S. 51, 69.
291
Schmalenbach, Article 52, in Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law
of Treaties: A Commentary (2012), S.885, Rn. 30.
292
Caflisch, Unequal Treaties, 35 German Yearbook of International Law (1992), S. 52, 74.
293
Caflisch, Unequal Treaties, 35 German Yearbook of International Law (1992), S. 52, 75;
ähnlich Murphy, Economic Duress and Unequal Treaties, 11 Virginia Journal of International
Law (1970), S. 61; anders aber Chiu, The People’s Republic of China and the Law of Treaties
(1972), S. 62.
VI. Ausgang der Konferenz, Resonanz und Rezeption197
294
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 53.
295
Siehe beispielsweise Partridge, Political and Economic Coercion: Within the Ambit of
Article 52 of the the Vienna Convention on the Law of Treaties?, 5 International Lawyer
(1971), S. 755, 767.
296
Peters, Unequal Treaties, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (2007),
Rn. 54; GA, UN Doc A/RES/2625 (XV) (24. Oktober 1970).
297
Nguluma, Unequal Treaties (with Special Reference to the African Experience in Unequal
Exchange and Cession of Land), 5(2) Journal of the Faculty of Arts and Social Science
(1980), S. 217, 233; Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Infor-
mal Empire, 74 Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 371.
298
Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74
Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 372.
299
Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74
Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 373; vgl. hierzu auch Artikel 75 WVK.
300
Craven, What Happened to Unequal Treaties? The Continuities of Informal Empire, 74
Nordic Journal of International Law (2005), S. 335, 374.
198 Kapitel 6: Unter gewaltsamem Zwang abgeschlossene Verträge in der WVK
Neben der Regelung zu Verträgen über gewaltsamen Zwang gerieten zwei weitere
Normen im Recht der Verträge in den Fokus der Debatte um Ungleiche Verträge.
Dies war zum einen die Regelung zu Verstößen gegen zwingendes Recht, über die
materiell Ungleiche Verträge geächtet werden sollten (I.). Darüber hinaus beriefen
sich Teile der Dritten Welt in ihrem Kampf gegen die Bindung an Ungleiche Ver-
träge zum einen aus Gerechtigkeitsgründen, zum anderen unter Berufung auf die
veränderten Machtverhältnisse in der Welt auf das Prinzip rebus sic stantibus (II.).
1
Schmalenbach, Article 64, in Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of
Treaties: A Commentary (2012), S. 1122, Rn. 4.
2
Zu dieser Frage siehe auch die Ausführungen bei Schwelb, Some Aspects of International
Jus Cogens as Formulated by the International Law Commission, 61 American Journal of
International Law (1967), S. 946, 968 ff.
entstandene Artikel 13 von Waldock in der ILC (2.) und später als Artikel 37 in der
Generalversammlung (3.) und erneut in der ILC diskutiert wurde. Dann ist darauf
einzugehen, wie die Norm zu Verträgen in Widerspruch zu zwingendem Recht als
Artikel 50 von der Wiener Vertragskonferenz aufgenommen wurde (4.). Schließlich
ist auf Resonanz und Rezeption des heutigen Artikel 53 WVK einzugehen (5.).
Bereits in Lauterpachts erstem Bericht fand sich mit Artikel 15 eine Vorschrift, die
Verträge für unwirksam erklärte, deren Ausführung gegen Allgemeines Völkerrecht
verstieß, sofern diese Unwirksamkeit vom IGH erklärt worden sei.3 Bei dieser sehr
allgemein formulierten Norm ging es Lauterpacht insbesondere um „inconsistency
with such overriding principles of international law which may be regarded as consti-
tuting principles of international public policy (ordre international public)“.4 Wie der
Begriff der Weltgemeinschaft war die Idee einer „ordre international public“ bereits in
frühen naturrechtlichen Konzeptionen aufgetaucht.5 Dabei hatte es sich jedoch immer
weitestgehend um ein wissenschaftliches Axiom gehandelt, das sich auf keine Staa-
tenpraxis stützen konnte.6 Auch für Völkerrechtslehrbücher handelte es sich lange Zeit
um ein eher exotisches Thema.7 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg rückte das Konzept
der ordre international public als Überbegriff für eine Reihe von Normen, welche die
grundlegenden Werte und Interessen der Weltgemeinschaft wiederspiegelten, gemein-
sam mit der Idee der Existenz einer solchen Internationalen Gemeinschaft ins Blickfeld
völkerrechtlicher Debatten.8 So schrieb der deutsche Völkerrechtler Hermann Mosler:
The public order of the international community, however, consists of principles and rules
the enforcement of which is of such vital importance to the international community as a
whole that any unilateral action or any agreement which contravenes these principles can
have no legal force.9
3
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the Inter-
national Law Commission (1953, II), S. 93.
4
Lauterpacht, First Report on the Law of Treaties, UN Doc A/CN.4/63, Yearbook of the Inter-
national Law Commission (1953, II), S. 154 f., Rn. 1 ff.
5
Z. B. Suárez, Tractatus de Legibus ac Deo Legislatore (1612); von Wolff, Ius Gentium
Methodo Scientifica Pertractatum, In Quo Ius Gentium Naturale Ab Eo, Quod Voluntarii,
Pactitii Et Consuetudinarii Est, Accurate Distinguitur (1749); de Vattel, Das Völkerrecht
oder Grundsätze des Naturrechts, angewandt auf das Verhalten und die Angelegenheiten der
Staaten und Staatsoberhäupter (1758, Übersetzung 1959).
6
Schwelb, Some Aspects of International Jus Cogens as Formulated by the International Law
Commission, 61 American Journal of International Law (1967), S. 946, 949 f.
7
Für einen Überblick siehe Verdross, Jus Dispositivum and Jus Cogens in International Law,
60 American Journal of International Law (1966), S. 55, 55.
8
Hoffmeister/Kleinlein, International Public Order, Max Planck Encyclopedia of Public
International Law (2013), Rn. 2; siehe zur Idee der Weltgemeinschaft bereits oben, Teil I.
9
Mosler, The International Society as a Legal Community, 140 Recueil des Cours (1974), S. 1, 34.
I. Verträge in Widerspruch zu zwingendem Recht in der WVK201
In der Nachkriegszeit wurde die Idee einer ordre international public auf diese
Weise gleichgesetzt mit der Idee von zwingendem Völkerecht oder ius cogens.10 Ins-
besondere naturrechtlich inspirierte Völkerrechtler wie Verdross nahmen jedoch das
Konzept des zwingenden Rechts als überpositive Werteordnung der Völkerrechts-
gemeinschaft auch mit Blick auf das Recht der Verträge auf:
These principles concerning the conditions of the validity of treaties cannot be regarded as
having been agreed upon by treaty; they must be regarded as valid independently of the will
of the contracting parties. That is the reason why the possibility of norms of general inter-
national law, norms determining the limits of freedom of the parties to conclude treaties,
cannot be denied a priori.11
Das maßgebliche Kriterium für die Qualifikation einer Regelung als zwingendes
Völkerrecht war für Verdross dabei, dass diese Norm nicht nur im Interesse einzel-
ner Staaten, sondern im höheren Interesse der ganzen Internationalen Gemeinschaft
stand und damit nicht relativ, sondern absolut war.12 Hierbei handelte es sich um
eine utopische Idee, die jedoch durch Staatenpraxis rückgekoppelt war. Allerdings
war die Existenz zwingenden Völkerrechts in der Literatur durchaus umstritten; der
deutsch-britische Völkerrechtler Georg Schwarzenberger etwa leugnete die Exis-
tenz von völkerrechtlichen Normen, von denen einzelne Staaten auch durch Vertrag
nicht abweichen dürften.13 Dieser schrieb:
International public order in the sense in which the term ordre public international is used
means jus cogens. As distinct from jus dispositivum, it means rules of international law
which, even in their mutual relations, subjects of international law are not free to vary by
consent.14
10
Hoffmeister/Kleinlein, International Public Order, Max Planck Encyclopedia of Public
International Law (2013), Rn. 9.
11
Verdross, Forbidden Treaties in International Law, 31 American Journal of International
Law (1937), S. 571, 572.
12
Verdross, Jus Dispositivum and Jus Cogens in International Law, 60 American Jour