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Angela Sommer-Bodenburg

Der kleine Vampir hat Geburtstag


Bilder von Amelie Glienke

Rowohlt Taschenbuch Verlag

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Originalausgabe
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch
Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg,
März 2002
Copyright © 2002 by Rowohlt Taschenbuch Verlag
GmbH, Reinbek bei Hamburg
Lektorat Birgit Göckritz
Umschlagillustration Amelie Glienke
Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke
Rotfuchs-Comic Jan P. Schniebel
Satz Adobe Garamond (PostScript) QuarkXPress 4.1
Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 3 499 21171 8
Die Schreibweise entspricht den Regeln
der neuen Rechtschreibung.

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Dieses Buch ist für
Burghardt Bodenburg, mit dem
(fast) jeder Tag ein Geburtstag ist
– und für alle,
die wie Rüdiger
ihre Geburtstagsgeschenke
behalten möchten.

Angela Sommer-Bodenburg

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Die Personen dieses Buches
Anton liest gern aufregende, schaurige
Geschichten. Besonders liebt er Geschichten
über Vampire, mit deren Lebensgewohnheiten
er sich auskennt.

Antons Eltern glauben nicht


recht an Vampire.
Antons Vater arbeitet im Büro,
seine Mutter ist Lehrerin.

Rüdiger, der kleine Vampir, ist seit


mindestens 150 Jahren Vampir. Dass er so
klein ist, hat einen einfachen Grund: Er ist
bereits als Kind Vampir geworden. Seine
Freundschaft mit Anton begann, als Anton
wieder einmal allein zu Hause war. Da saß
der kleine Vampir plötzlich auf der Fensterbank. Anton zitterte
vor Angst, aber der kleine Vampir versicherte ihm, er habe
schon «gegessen». Eigentlich hatte sich Anton Vampire viel
schrecklicher vorgestellt, und nachdem ihm Rüdiger seine
Vorliebe für Vampirgeschichten und seine Furcht vor der
Dunkelheit gestanden hatte, fand er ihn richtig sympathisch.
Von nun an wurde Antons ziemlich eintöniges Leben sehr
aufregend: Der kleine Vampir brachte auch für ihn einen
Umhang mit, und gemeinsam flogen sie zum Friedhof und zur
Gruft Schlotterstein. Bald lernte Anton weitere Mitglieder der
Vampirfamilie kennen:

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Anna ist Rüdigers Schwester – seine
«kleine» Schwester, wie er gern betont. Dabei
ist Anna fast so stark wie Rüdiger, nur
mutiger und unerschrockener als er. Auch
Anna liest gern Gruselgeschichten.

Lumpi der Starke, Rüdigers großer


Bruder, ist ein sehr reizbarer Vampir. Seine
mal hoch, mal tief krächzende Stimme zeigt,
dass er sich in den Entwicklungsjahren
befindet. Schlimm ist nur, dass er aus
diesem schwierigen Zustand nie
herauskommen wird, weil er in der Pubertät
Vampir geworden ist.

Tante Dorothee ist der blutrünstigste


Vampir von allen. Ihr nach
Sonnenuntergang zu begegnen kann
lebensgefährlich werden.

Friedhofswärter Geiermeier
macht Jagd auf Vampire.

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Träum schön – von mir!
Es pochte. Starr vor Schreck blickte Anton zur Tür. Gleich
würde sie aufgehen und Graf Dracula würde eintreten, seine
weißen Hände mit den zentimeterlangen Raubtierkrallen nach
ihm ausgestreckt...
Wieder pochte es. Plötzlich begriff Anton, dass er gar nicht
auf Schloss Dracula war, sondern in seinem eigenen Zimmer.
Es war nur ein Traum gewesen!
Und es hatte auch nicht an seiner Tür geklopft, sondern an
seinem Fenster! Anton stand auf und zog seine Trainingsjacke
über. Leise ging er ans Fenster und schob die Vorhänge zur
Seite. Draußen saß eine kleine, schwarz gekleidete Gestalt. Er
öffnete das Fenster. Ein schwerer, süßlicher Duft wehte ihm
entgegen und dann sagte eine Mädchenstimme: «Guten Abend,
Anton!»
«Anna!», antwortete er.
Sie lächelte und im Mondlicht sah er ihre Zähne aufblitzen.
Beim Anblick der kräftigen Eckzähne überlief ihn ein
Frösteln. Schnell zog er den Reißverschluss seiner Jacke bis
oben zu.
«Hast du etwa Angst vor mir?» Annas Stimme klang
gekränkt.
«Vor dir? Kein bisschen!», behauptete er. «Ich will mich
bloß nicht erkälten.»
«Ja, es ist wirklich ziemlich kalt», gab sie ihm Recht. «Wir
tragen inzwischen schon zwei Paar Wollstrumpfhosen
übereinander!»

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«Möchtest du reinkommen?», fragte Anton.
Anna schüttelte den Kopf. «Heute nicht.» Sie spähte an ihm
vorbei ins Zimmer. «Du hast schon geschlafen?»
Anton nickte.
«Und? Hast du auch geträumt?», wollte sie wissen.
«Ja, von Graf Dracula. Nicht von dem echten», fügte er
hastig hinzu, denn er erinnerte sich an die schlechten
Erfahrungen, die Anna in Transsylvanien mit ihrem
Urururahnen gemacht hatte.
«Von welchem dann?», fragte sie.
«Von Bela Lugosi. Er spielt Graf Dracula – im Film.»
«Du solltest lieber von mir träumen!» Anna zupfte an ihren
langen, windzerzausten Haaren.
«Das würde ich auch», antwortete er. «Leider kann man sich
seine Träume nicht aussuchen.»
«Wenn du sie dir aussuchen könntest... Würdest du dann von
mir träumen?»
«Sicher», sagte Anton.

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Damit sie sich keine übertriebenen Hoffnungen machte,
ergänzte er: «Von dir und von Rüdiger. Aber nicht von Olga.»
Olga von Seifenschwein war die große Liebe des kleinen
Vampirs Rüdiger von Schlotterstein. Es handelte sich
allerdings um eine sehr einseitige Liebe, denn Olga nutzte
Rüdiger nur aus. Leider war der kleine Vampir blind vor lauter
Liebe und merkte nichts davon.
«Olga...» Anna gab ein wütendes Zischen von sich. «Die
hätte lieber in Paris bleiben sollen! Stattdessen kommt sie hier
angeflogen und stellt ohne zu fragen ihren Klappsarg in unserer
Gruft Schlotterstein auf! Und nun will sie auch noch, dass wir
Vampirkinder unseren Geburtstag feiern!»
«Ich weiß.»
«Olga war bei dir?»
«Nein, Rüdiger hat es mir erzählt. Er war gestern Abend
hier.»
Der kleine Vampir hatte am nächsten Samstag, dem 15.
Oktober, Geburtstag. Und zum ersten Mal seit mehr als
einhundertfünfzig Jahren wollte er seinen Geburtstag feiern.
Eigentlich feierten Vampire nur ihren Vampirtag – den Tag, an
dem sie Vampir geworden waren.
Aber Olga hatte sich überlegt, dass Vampirkinder zweimal
feiern sollten: ihren Vampirtag und ihren Geburtstag! Rüdiger
fand den Vorschlag toll, wie alles, was von Olga kam.
«Hat Rüdiger dich eingeladen?», wollte Anna wissen.
«Ja», sagte Anton.
«Und?» Sie schaute ihn prüfend an. «Gehst du hin?»
«Nein!», beruhigte er sie.
Anton wollte vor allem deshalb nicht hingehen, weil Rüdiger
angekündigt hatte, Tante Dorothee würde mitfeiern. Und sie
war der gefährlichste, blutrünstigste Vampir der gesamten
Familie von Schlotterstein.
Anna seufzte erleichtert. «Wenigstens du hast dir einen
klaren Kopf bewahrt, Anton!»

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Nach einer Pause sagte sie mit düsterer Miene: «Rüdigers
Geburtstagsfeier wird in einem Riesenkrach enden!»
«Warum denn das?»
«Meine Verwandten sind äußerst streng, was unsere Vampir-
Regeln betrifft. Sämtliche Änderungen müssen bei uns so lange
diskutiert werden, bis jeder in der Familie einverstanden ist.
Natürlich kann man nur ganz selten alle überzeugen. Darum
haben wir auch so viele alte Regeln. Und eine unserer Regeln
ist, den Tag zu feiern, an dem wir Vampir geworden sind –
aber nicht den Tag, an dem wir geboren wurden. Wäre auch
komisch, weil wir immer nur unseren letzten Geburtstag feiern
könnten.»
«Euren letzten?» Anton machte ein etwas ratloses Gesicht.
«Ja, unseren letzten menschlichen Geburtstag – bevor wir
Vampire wurden», erklärte Anna. «Ich zum Beispiel würde bis
in alle Ewigkeit meinen neunten Geburtstag feiern.»
«Ach so.» Anton räusperte sich. Dann sagte er: «Rüdiger
findet Olgas Idee mit der Geburtstagsfeier ganz toll.»
«Ja, wegen der Geschenke! Olga hat ihm eingeredet, dass er
alle Geschenke behalten darf, die er am Geburtstag bekommt.»
«Stimmt das nicht?»
«Nein. Wenn wir die Geschenke wieder abgeben müssen, die
wir am Vampirtag bekommen, müsste dasselbe auch für den
Geburtstag gelten.»
«Steht das so in euren Regeln?»
«Für Geburtstagsgeschenke gibt es keine Regeln. Deswegen
soll Rüdiger ja auch das Versuchskaninchen für Olgas eigenen
Geburtstag abgeben. Sie hat am 21. November Geburtstag.
Rüdigers Feier soll die Generalprobe für Olgas eigene Feier
sein. Pah!» Anna schnaufte ärgerlich. «An dem Tag, an dem
Olga einmal nicht an sich denkt, leg ich mich in die Sonne und
werd braun!»
Anton erschrak. «Du willst doch nicht –»

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«Keine Sorge, das war nur so dahingesagt. Schon allein
deinetwegen würde ich das nie tun. Du weißt doch: Ich kann
warten!» Anna lachte leise.
Anton zog es vor, nicht zu fragen, worauf sie warten konnte.
«Weshalb bist du heute Abend eigentlich hergekommen?»,
lenkte er das Gespräch auf ein weniger verfängliches Thema.
«Ich wollte dich bitten, mit Rüdiger zu sprechen. Vielleicht
schaffst du es, ihn von der Geburtstagsparty wieder
abzubringen. Ich hab mir schon den Mund fusselig geredet.»
Sie hustete. Als würde sie sich an etwas erinnern, fuhr sie
einmal rasch mit der Zunge über die Lippen.
«Ich muss fliegen», sagte sie mit ganz veränderter Stimme.
«Schlaf gut, Anton. Und träum schön – von mir!»
Eilig flatterte sie davon.
Anton schloss das Fenster und zog die Vorhänge zu.
Gut, er würde mit Rüdiger sprechen, wenn er bei ihm
auftauchte. Aber das war nicht sehr wahrscheinlich, denn in der
nächsten Zeit würde der kleine Vampir bestimmt nur Augen
und Ohren für seine geliebte Olga haben!

Freunde helfen sich gegenseitig


Zu Antons Überraschung erhielt er schon am Abend darauf
Besuch vom kleinen Vampir.
«Hallo, Rüdiger!», sagte er freudig, nachdem er das Fenster
geöffnet hatte.
«Hallo, Anton», antwortete der kleine Vampir und ließ sich
vom Fensterbrett ins Zimmer gleiten.
Er sah noch bleicher aus als sonst und hatte tiefe Schatten um
die Augen. Wahrscheinlich hielt Olga ihn dermaßen in Trab,
dass er nicht mal im Sarg zur Ruhe kam...
«Hast du einen Augenblick Zeit?», krächzte er.

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«Ich hab jede Menge Zeit», sagte Anton. «Meine Eltern sind
im Kino.»
«Gehen deine Eltern am nächsten Samstag auch ins Kino?»,
fragte der kleine Vampir.
«An deinem Geburtstag? Nein. Für den nächsten Samstag
haben sie Theaterkarten. Rate mal, wie das Stück heißt, das sie
sehen wollen!»
«Woher soll ich das wissen?»
«Es heißt: Die Fledermaus!»
Der kleine Vampir wirkte beeindruckt. «Spielen in dem
Stück Vampire mit?»
«Ich glaube nicht. Mein Vater sagt, es geht um einen
Maskenball, bei dem jemand eine Fledermausmaske trägt.»
«Und deine Eltern haben schon Karten?»
«Ja.»
«Da fällt mir aber eine Zentnerlast vom Herzen!», rief der
kleine Vampir.
«Das kann dir doch ganz egal sein», wunderte sich Anton.
«Ich komm ja sowieso nicht zu deiner Geburtstagsfeier.»
Ein Grinsen erschien auf dem Gesicht des kleinen Vampirs.
«Hm, das dürfte etwas schwierig werden...»
«Und warum?», fragte Anton misstrauisch.
«Weil wir meinen Geburtstag in deiner Wohnung feiern!»
«Bei mir? Kommt nicht infrage!», erwiderte Anton.
«Und ich dachte, Freunde helfen sich gegenseitig», sagte der
kleine Vampir. «Vor allem, wenn einer von ihnen in der
Klemme sitzt!»
«Und in welcher Klemme sitzt du?»
Der Vampir schniefte. «Tante Dorothee hat mir verboten,
meinen Geburtstag zu feiern!»
«Verboten? Hast du nicht gesagt, dass sie mitfeiert?»
«Ja, das wollte sie auch. Aber plötzlich behauptet sie,
Geburtstagsfeiern würden gegen unsere Vampir-Regeln

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verstoßen. Ha, als ob mich diese alten, verstaubten Regeln
interessieren!»
Der kleine Vampir gab ein zorniges Schnauben von sich.
«Außerdem sind meine Eltern und Großeltern in
Transsylvanien. Die merken es gar nicht, wenn ich meinen
Geburtstag feiere. Ich wette, das mit den Vampir-Regeln sagt
Tante Dorothee nur aus Eifersucht!»
«Aus Eifersucht?», wiederholte Anton. «Auf wen soll sie
denn eifersüchtig sein?»
«Auf mich und Olga natürlich, weil wir uns so gut verstehen
und weil sie keine Chancen bei Dracula hat – jetzt, wo sie mit
ihrer schrumpeligen Haut zehn Jahre älter aussieht!»
«Ihre Verjüngungskur hat nicht gewirkt?», fragte Anton.
Tante Dorothee hatte versucht, durch das Auftragen von
Gesichtsmasken aus Friedhofserde eine zartere Haut zu
bekommen. Damit wollte sie Graf Dracula beeindrucken, der
gesagt hatte, sie sei «zu alt» für ihn.
«Kein bisschen», antwortete der kleine Vampir. «Durch die
Gesichtsmasken ist ihre Haut so faltig wie eine Ziehharmonika
geworden.»
«Das war bestimmt ein ziemlicher Schock für sie», sagte
Anton.
«Nicht nur für sie», knurrte der Vampir.
«Wie meinst du das?»
Mit Leidensmiene ließ sich der kleine Vampir auf Antons
Bett fallen.
«Solange Tante Dorothee mit ihrer Verjüngungskur
beschäftigt war, hat sie sich überhaupt nicht um uns
Vampirkinder gekümmert. Aber neuerdings ist sie ständig
hinter uns her.»
Erschrocken blickte Anton zum Fenster. «Sie ist dir doch
nicht gefolgt, oder?»
«Nein. Sie und Olga sind auf der Bank.»
«Im Stadtpark?»

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Der kleine Vampir lachte heiser. «Sie sind zur Blutbank
geflogen!»
Wie immer, wenn es um die Essgewohnheiten der Vampire
ging, überlief es Anton eiskalt.
«Warum sagst du deine Geburtstagsfeier nicht einfach ab?»,
wechselte er schnell das Thema.
«Absagen?», empörte sich der Vampir. «Seit mehr als
einhundertfünfzig Jahren warte ich darauf, meinen Geburtstag
zu feiern!»
«Na ja... wenn du so lange gewartet hast, kannst du doch
leicht noch ein Jahr warten.»

«Eben nicht! Olga ist extra für meinen Geburtstag aus Paris
hier eingeflogen. Ich kann sie unmöglich enttäuschen!» Um
seine Worte zu unterstreichen, schlug der kleine Vampir ein
paar Mal auf Antons Daunendecke ein.
«Aua!», sagte Anton.
«Aua?», wiederholte der kleine Vampir.

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«Mein Teddy. Er liegt unter der Decke.»
Der Vampir kicherte.
«Du spielst noch mit Teddys?»
«Ich spiele nicht mit Teddys», sagte Anton würdevoll. «Ich
hab nur einen im Bett.»
Rüdiger griff unter die Decke und brachte Antons alten
Teddybären zum Vorschein. «He, der wäre ein prima Geschenk
für Olgas Geburtstag!»
«Das ist meiner.» Blitzschnell nahm Anton ihm den Teddy
ab und setzte ihn ins Bücherregal.
«Olgas Geburtstag wollt ihr bestimmt auch bei mir feiern,
oder?», fragte er ironisch.
«Klar!», antwortete der kleine Vampir, der offenbar die
Ironie nicht verstanden hatte.
«Ganz klar nicht!», sagte Anton. «Wir werden weder deinen
noch Olgas Geburtstag bei mir feiern! Hast du vergessen, was
für ein Chaos ihr bei der Transsylvanischen Nacht in unserem
Wohnzimmer angerichtet habt?»
«Bei der Transsylvanischen Nacht?», wiederholte der kleine
Vampir mit träumerischem Blick. «Die war schön...»
«Sehr schön», zischte Anton. «Meine Eltern waren so sauer –
ich dachte, sie geben mich zur Adoption frei!»
«Dann hätten wir dich aufgenommen!» Der kleine Vampir
entblößte seine leuchtend weißen Eckzähne.
Anton schluckte. «Was deine Geburtstagsparty betrifft...»
«Ja?»
«Ich glaub, ich hab da eine Idee.»
«Und welche?», fragte der kleine Vampir.
«Also...», begann Anton.
In Wirklichkeit hatte er nicht die leiseste Idee. Aber wenn er
sich jetzt nicht auf der Stelle etwas überlegte, würde Rüdigers
Geburtstagsparty bei ihm stattfinden! Und das musste er unter
allen Umständen verhindern.

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Nur – wo um alles in der Welt konnte der kleine Vampir
feiern? Nicht in Antons Schule, nicht im Clubhaus seines
Sportvereins, nicht im Haus der Jugend – obwohl die einen
großen Tanzsaal hatten...
Und da, beim Gedanken an den Tanzsaal, kam Anton der
rettende Einfall!

Blindes Stelldichein
«Du willst doch, dass deine Party ein Erfolg wird, oder?»,
fragte Anton.
«Ein Riesenerfolg!», antwortete der kleine Vampir.
«Dann solltest du dort feiern, wo man nicht auf Möbel,
Teppiche und Gardinen Rücksicht nehmen muss», erklärte
Anton. «An einem Ort, an dem man wild und verrückt tanzen
kann!»
«Das klingt viel versprechend.»
«Ein Ort, an dem keine Eltern nach Hause kommen und die
Party vorzeitig beenden», fuhr Anton fort. «Wo es keine
Nachbarn gibt, die an die Wände klopfen oder die Polizei
rufen. Wo überhaupt keiner kommt, weil das Gebäude ab
zweiundzwanzig Uhr völlig ausgestorben ist!»
«Klingt noch besser!»
«An einem Ort, der nur wenige Meter vom Friedhof entfernt
liegt...»
Der kleine Vampir runzelte die Stirn. «Solche Orte gibt es?»
«Sicher! Du bist sogar schon zweimal dort gewesen!»
«Ich?»
«Ja!» Anton machte eine kunstvolle Pause. «Ich spreche von
der Tanzschule Schwanenhals!»
Der kleine Vampir zog eine finstere Miene. «Mit dem blöden
Hopsladen will Olga nichts mehr zu tun haben. Und ich auch
nicht!»

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«Ihr sollt doch nicht zur Tanzstunde gehen! Ihr sollt nur für
eine Nacht den Tanzsaal von Herrn Schwanenhals...» Anton
suchte nach dem passenden Wort. «Besetzen», sagte er dann.
«Besetzen?», murrte der Vampir. «Hast du nicht gerade vom
wilden und verrückten Tanzen gesprochen? Bloß rumsitzen,
dazu haben Olga und ich keine Lust!»
«Besetzen bedeutet nicht rumsitzen. Es ist so ähnlich wie
ausleihen. Und darin seid ihr Vampire doch sehr geübt!» Anton
dachte an die zahlreichen Vampirbücher, die sich Rüdiger und
Anna im Laufe der Zeit bei ihm ausgeliehen hatten. Die
meisten hatte er bis heute nicht zurückbekommen.
«Und du glaubst, Herr Schwanenhals leiht ausgerechnet uns
seinen Saal?», fragte der kleine Vampir zweifelnd.
«Freiwillig wohl kaum. Aber er muss ja nichts davon
erfahren.»
«Und wie willst du das hinkriegen?»
«Mir wird schon was einfallen.»
«Gehst du etwa immer noch zu der dämlichen Hopsstunde?»,
forschte der Vampir nach.
Anton nickte. «Was soll ich machen? Meine Mutter hat den
Tanzkurs im Voraus bezahlt und Herr Schwanenhals will das
Geld nicht wieder rausrücken. Aber die letzten beiden Male bin
ich nicht hingegangen. Ich hatte mir den Knöchel verstaucht.»
«Und du glaubst wirklich, wir können meinen Geburtstag bei
Herrn Schwanenhals feiern – ich meine: in seinem Tanzsaal?»
«Solange er es nicht merkt...»
«Das ist wie mit Tante Dorothee», murmelte der kleine
Vampir.
Anton zuckte zusammen. «Mit Tante Dorothee?»
«Ja! Die darf auch unter keinen Umständen merken, dass wir
feiern.» Der kleine Vampir kratzte sich am Kinn. «Weißt du
was? Wir sollten die beiden an meinem Geburtstag
zusammenbringen!»
«Wen?»

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«Tante Dorothee und Herrn Schwanenhals! Wie nennt man
es noch, wenn zwei sich treffen, die sich nicht kennen?»
«Blind date – blindes Stelldichein.»
«Mich wundert, dass ich nicht früher darauf gekommen bin!»
Der kleine Vampir lachte heiser. «Herr Schwanenhals ist
genau die Ablenkung, die Tante Dorothee nach der Pleite mit
ihrer Verjüngungskur braucht! Gibt es bei ihm auch Kurse für
ältere Herrschaften?»
«Ja. Aber da kann Tante Dorothee ihn nicht kennen lernen.»
«Und warum nicht?»
«Weil der Seniorenkurs am Mittwoch nachmittag stattfindet.
Warum bestellen wir die beiden nicht nach Sonnenuntergang in
ein Lokal?»
«Tante Dorothee mag keine Lokale. Wegen der Raucher.»
Der Vampir klickte mit seinen Zähnen.
Plötzlich sprang er vom Bett auf. «Ich hab’s! Im Theater darf
nicht geraucht werden, stimmt’s?»
Anton nickte.
«Na wunderbar!», rief der kleine Vampir. «Du besorgst
Karten für diese... diese Fledermaus, zwei Plätze
nebeneinander in der Abendvorstellung am 15. Oktober! Die
eine Karte lege ich Tante Dorothee in den Sarg, die andere
gibst du Herrn Schwanenhals. Ja, und am Samstag treffen sich
die beiden im Theater, kommen ins Gespräch – und bingo!»
«Bingo?»
«Ja. Schon schlägt die Liebe zu!»
«Und womit soll ich die Theaterkarten bezahlen?».
«Du hast doch noch das Geld, mit dem du meinen Tanzkurs
bezahlen wolltest! Davon kaufst du zwei Karten, und dann
bleibt immer noch genug übrig für ein tolles
Geburtstagsgeschenk!»
«Oder für zwei!», bemerkte Anton grimmig.

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«Oder für drei.» Der kleine Vampir rieb sich vergnügt die
Hände. «Und das Schöne ist: Diesmal darf ich sie alle
behalten!»
Er holte tief Luft. «Auf dich kann man sich wirklich
verlassen, Anton! Aber jetzt muss ich los. Ich hab noch nichts
im – äh – Magen.»
Geschmeidig kletterte er auf das Fensterbrett. Er breitete die
Arme unter dem Umhang aus, und sogleich schwebte er.
«Bis bald, Anton!», sagte er und flog davon.

Richtig romantisch
«Sind die Karten für die Fledermaus eigentlich sehr teuer?»,
fragte Anton am Morgen darauf seine Eltern.
Wie jeden Samstag hatte Antons Vater frische Brötchen
geholt und Kaffee und Kakao gekocht. Dazu gab es Müsli und
leckeren Obstsalat.
Antons Eltern wechselten einen überraschten Blick.
«Möchtest du jetzt doch mitkommen?», fragte seine Mutter.
«Schon möglich», sagte Anton.
«Ich kann das Stück nur empfehlen!», schwärmte sein Vater.
Mit komischer hoher Stimme begann er zu singen: «O
Fledermaus, o Fledermaus –»
Fast hätte Anton sich verschluckt. «In der Fledermaus wird
auch gesungen? Ist es ein Musical?»
«Es ist eine Operette», belehrte ihn seine Mutter.
«Eine Opa-Rette? Für Opas und Omas?»
«Mach du nur deine Witze.» Sein Vater lachte gut gelaunt.
«Auch wenn Mutti und ich uns eine Operette ansehen, zählen
wir noch lange nicht zu den Senioren. Operette ist eine
Verkleinerungsform von Oper und bedeutet so viel wie kleine
Oper.»
Anton grinste.

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«Klein ist immer gut», bemerkte er in Anspielung auf den
kleinen Vampir. «Aber ihr habt meine Frage noch nicht
beantwortet!»
«Ob die Karten teuer sind? Wenn du mitkommen willst,
laden wir dich natürlich ein», antwortete sein Vater.
«Darum geht es nicht...»
«Worum dann?»
«Ich kenne jemanden, der sich die Fledermaus ansehen
möchte.»
«Ist es einer aus deiner Klasse?», fragte Antons Mutter.
Anton schüttelte den Kopf. «Nein.»
«Woher kennst du ihn dann?»
«Aus der... äh... Tanzstunde.» Das war nicht gelogen;
immerhin hatte der kleine Vampir zweimal an der Tanzstunde
teilgenommen.
Ihre Miene hellte sich auf. «Ja, es sind einige sehr nette
Jungen in dem Tanzkurs!»
Sie schenkte Kaffee nach. Anton füllte eine Schale mit Müsli
und Früchten und goss Milch darüber.
«Glaubt ihr, dass es noch Karten für die Fledermaus gibt?»,
fragte er.
«In der Zeitung stand, die Nachfrage war eher enttäuschend»,
sagte sein Vater. «Vielleicht sehen die Leute heutzutage
wirklich lieber Musicals.»
«Die Nachfrage war enttäuschend?», wiederholte Anton.
«Dann haben sie wahrscheinlich Lockpreise, oder?»
«Lockpreise bestimmt nicht. Ein Theater ist schließlich kein
Warenhaus», antwortete sein Vater. «Aber wenn die Nachfrage
gering ist, bekommt man oft ermäßigte Karten.»
Na bitte!, dachte Anton. Laut sagte er: «Übrigens, dein
Obstsalat ist spitze, Vati.»
Antons Vater schmunzelte. «Danke für die Blumen. Aber
den Obstsalat hat Mutti gemacht.»
Anton spürte, wie er rote Ohren bekam.

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«Trotzdem ist er spitze!», sagte er und freute sich insgeheim
über das säuerliche Gesicht, das seine Mutter machte.

Am Nachmittag setzte sich Anton auf sein Fahrrad und fuhr


zum Theater am Markt. Dort wurde die Fledermaus gespielt.
Ein junger Mann mit einem Bart und schulterlangen
rotblonden Locken saß im Kassenhäuschen. Er wirkte wie
jemand, der sich auch nur ermäßigte Theaterkarten leisten
konnte.
«Ja, bitte?», fragte der junge Mann. Zu Antons Erleichterung
war er nett und freundlich.
«Ich möchte zwei Karten kaufen», sagte Anton. «Für die
Abendvorstellung am 15. Oktober.»
«Wir haben nur Abendvorstellungen», antwortete der junge
Mann.
«Ach so.»
«Und welche Preisgruppe soll es sein?», fragte der junge
Mann und zeigte auf die Liste mit den Preisen.
Anton erbleichte. Die billigsten Plätze kosteten 15 Euro!
«Haben Sie auch Sonderpreise?», fragte er vorsichtig.
«Wie viel willst du denn ausgeben?»
«So wenig wie möglich.»
Der junge Mann lachte.
«Wissen Sie, ich muss die Karten von meinem Taschengeld
bezahlen», gestand Anton.
«Möchtest du mit deiner Freundin hineingehen?»
«Nicht direkt.» Anton räusperte sich. «Es... es ist ein blindes
Stelldichein.»
«Du kennst das Mädchen noch gar nicht, das du einladen
möchtest?» Der junge Mann zwinkerte ihm zu. «Du schickst
deiner Angebeteten nur die Karte, und dann lernt ihr euch im
Theater kennen? Das ist ja richtig romantisch!»
Anton nickte. «Romantisch soll es sein!»

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«Also, in diesem Fall...» Der junge Mann suchte etwas auf
seinem Schreibtisch. «Hier hast du zwei Pressekarten!»
Er schob zwei Karten durch die Öffnung in der Glasscheibe.
Ungläubig sah Anton, dass frei auf die Karten gestempelt
war.
«Frei?», murmelte er. «Heißt das...»
«Ja! Aber sag’s keinem weiter!» Der junge Mann legte einen
Zeigefinger auf die Lippen. «Soll ich dir was verraten? Meine
Freundin und ich haben uns auch auf einem blind date kennen
gelernt!»
«Ehrlich?»
«Ehrlich!»
Inzwischen hatte sich eine ziemlich aufgedonnerte Dame der
Kasse genähert. Mit wieder ganz geschäftsmäßiger Miene
fragte der junge Mann: «Ja, bitte?»
«Eine Karte für die Vorstellung am Sonntag!», verlangte die
Dame.
Schnell steckte Anton die beiden Freikarten in die
Westentasche seiner Jeansjacke, zu den 50 Euro, die er von
seinem Sparkonto abgehoben hatte, um Rüdigers Tanzstunde
zu bezahlen.
Nun hatte er das Geld bereits zum zweiten Mal nicht
ausgegeben!
«Vielen Dank!», sagte er.
«Keine Ursache.» Der junge Mann lächelte ihm zu.
«Und an welche Preisgruppe haben Sie gedacht?», wandte er
sich an die Dame.
Anton stieg auf sein Fahrrad. Er winkte dem jungen Mann
noch einmal zu, bevor er davonfuhr.

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So ein Zufall!
Zu Hause sah Anton sich die Freikarten genauer an und
erschrak: Sie waren für die zweite Reihe, Plätze 17 und 19!
Würden Tante Dorothee und Herr Schwanenhals etwa gar nicht
nebeneinander sitzen?
Er ging in die Küche, wo seine Mutter eine Salatplatte mit
hart gekochten Eiern, Schinkenröllchen und Käse zubereitete.
«Welche Plätze habt ihr eigentlich in der Fledermaus?»,
fragte er.
Seine Mutter sah ihn verwundert an. «Das Stück geht dir
wohl gar nicht mehr aus dem Sinn.»
«Ich will nur wissen, wo ihr sitzt.»
«Und weshalb?»
Er räusperte sich. «Der Freund von mir, der sich die
Fiedermaus ansehen will... also, er hat jetzt auch Karten für den
15. Oktober.»

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«Tatsächlich?»
«Ja. Er sitzt in der zweiten Reihe, Platz 17 und 19.»
«Na, so ein Zufall!», meinte sie. «Wenn ich mich nicht irre,
sitzen Vati und ich ebenfalls in der zweiten Reihe.»
«Im Ernst?»
«Ja. Lass mich mal nachschauen.» Sie wusch sich die Hände
und ging in den Flur. Gleich darauf kehrte sie mit den Karten
zurück. «Ich hab mich nicht getäuscht: Wir sitzen in der
zweiten Reihe. Welche Plätze sind es noch, die dein Freund
hat?»
«17 und 19.»
«Das ist wahrhaftig ein Zufall! Vati und ich haben die Plätze
21 und 23. Das bedeutet, wir sitzen neben deinem Freund!»
Anton runzelte die Stirn. «Und wer hat den Platz
dazwischen?»

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«Welchen Platz dazwischen?», antwortete seine Mutter.
«Platz 20!»
«Einen Platz 20 gibt es nicht. Bei der Nummerierung der
Plätze wird immer eine Zahl übersprungen. Übrigens freue ich
mich schon, deinen Freund kennen zu lernen!» Seine Mutter
lächelte ihm zu.
«Mein Freund bringt aber seine Tante mit», sagte Anton.
«Vor der müsst ihr euch in Acht nehmen!»
«Ist sie so unsympathisch?»
«Sie ist viel mehr als nur unsympathisch. Wenn im Theater
erst mal das Licht ausgeht, kann sie ganz schön gefährlich
werden!»
Seine Mutter zog die Augenbrauen hoch. «Übertreibst du
nicht ein bisschen, Anton?»
«Auf jeden Fall solltet ihr am nächsten Samstag ordentlich
viel Knoblauch essen», sagte er.
In diesem Augenblick betrat Antons Vater die Küche. «Hab
ich richtig gehört: Wir sollen Knoblauch essen?»
«Ja, am nächsten Samstag», bestätigte Anton. «Bevor ihr in
die Fledermaus geht.»
«Stell dir vor, Antons Freund hat die Plätze direkt neben
uns», berichtete seine Mutter. «Und seine Tante soll so
gefährlich sein, dass man sie nur mit Knoblauch auf Distanz
halten kann.»
Antons Vater wirkte eher amüsiert. «Sie ist doch nicht etwa
ein Vampir, diese Tante?»
Anton zuckte mit den Schultern. «Wenn du es sowieso schon
weißt...»
Sein Vater lachte.
«Dein Vorschlag mit dem Knoblauchessen gefällt mir. Ich
hab da kürzlich ein Rezept für Hähnchen im Knoblauchmantel
entdeckt, das ich mal ausprobieren möchte.»
«Aber ich muss nicht mitessen, oder?», fragte Anton. Unter
keinen Umständen wollte er derjenige sein, der Rüdigers

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Geburtstagsfeier ruinierte. «Von Knoblauch kriege ich
Magenschmerzen!»
Seine Mutter seufzte. «Wie gewöhnlich dürfen wir unserem
Herrn Sohn eine Extrawurst braten...»

Doch an diesem Abend aß Anton voller Appetit die


Salatplatte. Nur auf das selbst gemachte Dressing seiner Mutter
verzichtete er – möglicherweise hatte sie Knoblauch
hineingetan!
Seine Vorsicht war allerdings unnötig, denn weder der kleine
Vampir noch Anna klopfte in dieser Nacht an Antons Fenster.

Keine Morgenperson
Am nächsten Abend klingelte es um kurz nach acht an der
Tür.
Anton, der mit seinem Vater im Wohnzimmer saß und
Schach spielte, hatte sofort eine böse Vorahnung.
«Ich mach auf!», sagte er hastig.
«Nein, ich gehe», erwiderte sein Vater. «Um diese Zeit
klingeln nur Hausmeister oder aufgebrachte Nachbarn – oder
Vampire!»
«Eben!», meinte Anton.
Sein Vater erhob sich. «Ich möchte wirklich nicht, dass du so
spät noch an die Tür gehst, Anton.»
Mit energischen Schritten durchquerte er den Flur und
öffnete die Tür.
«Einen wunderschönen Sonntagabend, Herr Bohnsack!»,
sagte eine raue Mädchenstimme.
Fast wäre Anton vom Stuhl gefallen: Die Stimme gehörte
Olga von Seifenschwein!
«Guten... Abend», antwortete sein Vater.

26
«Erinnern Sie sich nicht mehr an mich, Herr Bohnsack?»,
flötete Olga.
Antons Vater hüstelte. «Ehrlich gesagt nein.»
«Aber ich erinnere mich an Sie!», verkündete Olga. «Einen
Mann wie Sie vergisst man nicht!»
«Soso.» Antons Vater lachte.
«Es ist genau wie mit Anton», fuhr Olga fort. «Den kann ich
auch nicht vergessen. Darf ich eintreten?»
«Äh... ja», sagte Antons Vater.
Offenbar wurde ihm erst jetzt bewusst, wie unhöflich es war,
Olga im Treppenhaus stehen zu lassen.
«Aber es kann nur ein kurzer Besuch werden», betonte er
und schloss die Tür hinter Olga. «Anton hat morgen früh
Schule.»
«Außerdem sind wir mitten in einer Schachpartie!», ergänzte
Anton. Inzwischen war er im Flur erschienen.
«Anton! Schön, dich zu sehen!», säuselte Olga.
Wie üblich trug sie eine große Schleife in ihrem
silberblonden, sorgfältig gekämmten Haar. Diesmal war die
Schleife rot, passend zu ihrem roten Dirndlkleid mit der weißen
Schürze.
Olga hatte reichlichen Gebrauch von einem nach
Tannennadeln duftenden Parfüm gemacht, und so verrieten nur
ihre scharfen Eckzähne und der Vampirumhang, den sie sich
über den Arm gelegt hatte, ihre wahre Natur.
«Sie und Anton spielen Schach?» Sie riss ihre großen blauen
Augen noch weiter auf. «Ich liebe Schach! Mein Vater, Blasius
von Seifenschwein, und ich haben in den langen
transsylvanischen Winternächten, wenn die Wölfe um unser
Schloss heulten, so manche Partie gespielt – oft bis in die
frühen Morgenstunden!»
«Um euer Schloss? Du bist in einem Schloss
aufgewachsen?»

27
«O ja! Im Schloss Seifenschwein, dem prächtigsten Schloss
von ganz Transsylvanien!»
Antons Vater wirkte eher amüsiert. Mit einem
Augenzwinkern fragte er: «Und wer hat gewonnen?»
«Gewonnen?», wiederholte Olga. «Wobei?»
«Beim Schachspielen.»
«Ich natürlich!»

28
«Das heißt, du bist eine gute Schachspielerin?»
«Und ob! Ich bin sehr hartnäckig. Wenn ich mich in eine
Sache verbissen habe, lasse ich so schnell nicht wieder los!»
Sie kicherte schrill. Anton bekam eine Gänsehaut.
«Und was willst du hier?», fragte er.

29
«Etwas mit dir besprechen», antwortete sie.
«Und das hat nicht bis morgen früh Zeit?», warf Antons
Vater ein.
«Leider nicht. Wissen Sie, ich bin kein Morgen...» Olga
brach ab. Wahrscheinlich wollte sie Morgenmensch sagen.
«Ich bin keine Morgenperson», erklärte sie dann.
«Wer ist das schon», meinte Antons Vater. «Anton kommt
morgens auch kaum aus den Federn – vor allem, wenn es ein
Montagmorgen ist. Deshalb solltet ihr das, was ihr zu
besprechen habt, möglichst kurz halten.» Er sah auf seine
Armbanduhr. «In einer Dreiviertelstunde kommt Antons
Mutter von ihrem Klassentreffen zurück.»
«Es wird nicht lange dauern, Herr Bohnsack», versprach
Olga und lief ohne jede Scheu in Antons Zimmer.

«Was bildest du dir eigentlich ein?», fuhr Anton sie an,


nachdem er die Zimmertür hinter ihnen zugemacht hatte.
«Einfach bei mir zu klingeln! Du bringst mich noch in –»
«Teufels Küche?», fiel Olga ihm ins Wort.
«Ja, genau!», knurrte er.
«In Teufels Küche ist es bestimmt schön warm», sagte sie.
«Nicht so feucht und kalt wie in der – brrr – Gruft
Schlotterstein!»
«Du kannst doch nach Paris zurückfliegen, wenn es dir in der
Gruft Schlotterstein zu feucht und zu kalt ist», schlug Anton
vor.
«In Paris ist es auch nicht wärmer. Außerdem werde ich hier
gebraucht.» Sie stieß einen Seufzer aus. «Meine arme Tante
Dorothee... Sie ist ja so niedergeschlagen!»
«Niedergeschlagen? Und wie äußert sich das?»
«Sie hat überhaupt keinen Appetit mehr. Deswegen bin ich ja
so froh, dass du die Idee mit dem blinden Stelldichein gehabt
hast, Anton! Ich wette, der Kontakt mit Herrn Schwanenhals

30
wird aus Tante Dorothee wieder einen lebensfrohen,
zupackenden Vampir machen!»
Anton spürte ein Frösteln.
«Und was willst du mit mir besprechen?», fragte er.
«Die Einzelheiten natürlich! Hast du schon die
Theaterkarten?»
Anton nickte. Er ging an seinen Schreibtisch und schloss das
linke Fach auf, in dem er alles verwahrte, was seine Eltern
nicht sehen sollten. Er nahm eine Karte heraus und gab sie
Olga. Sie hielt die Karte so dicht an ihre Augen, dass ihre
Wimpern fast das Papier berührten.
«Reihe 2? War nichts in der ersten Reihe frei?», fragte sie.
«Nein», knurrte Anton.
«Und Platz 19? Ist der genau in der Mitte?»
«Was? Auf der Karte steht 19?», rief er erschrocken.
«Glaubst du, ich kann nicht lesen?», zischte sie.
«Doch. Aber das ist die falsche Karte! Hier!» Er reichte ihr
die Karte für den Platz mit der Nummer 17.
Olga ließ sie in ihrer Schürzentasche verschwinden.
«Und was ist an dieser hier verkehrt?», fragte sie und gab
ihm die Karte für Platz 19 zurück.
Hastig legte Anton sie in seinen Schreibtisch und schloss das
Fach ab.
«Meine Eltern sitzen auf den Plätzen 21 und 23!»
«Ja, und?»
«Tante Dorothee soll sich doch in Herrn Schwanenhals
verlieben – und nicht in meinen Vater!»
Olga kicherte. «Aber es wäre vielleicht eine Überlegung
wert. Ich meine, wenn ihr dann alle drei, du, dein Vater, deine
Mutter... Ihr würdet bestimmt eine nette Vampirfamilie
abgeben: die Sippe derer von Bohnsack!»
«Absolut nicht!», widersprach Anton.
«Wie du willst.» Sie zuckte beleidigt mit den Schultern. «Ich
muss jetzt sowieso fliegen», erklärte sie. «Ich werde erwartet.»

31
«Von Rüdiger?»
«Rüdiger?» Olga stieß ein schrilles Lachen an. «Nein! Von
dem unersättlichen Ro...» Als hätte sie bereits zu viel verraten,
schlug sie die Hand vor den Mund.
Dann öffnete sie das Fenster und flog grußlos davon.
Gleich darauf klopfte es an der Tür.
«Anton?» Sein Vater klopfte noch einmal und machte die
Tür auf.
«Du bist allein?», wunderte er sich. «Und wo ist Olga?»
«Sie ist schon... gegangen.»
«Aber dann hätte ich sie doch sehen müssen.»
«Wahrscheinlich hast du gerade nicht hingeguckt, als sie
vorbeiging.»
«Sie hätte sich wenigstens verabschieden können!»
«Das stimmt», sagte Anton.
In Gedanken fügte er hinzu: Am besten für immer!

Das Schwarze vom Nachthimmel


Auch an den beiden folgenden Abenden wartete Anton
vergeblich auf den kleinen Vampir. Am Mittwochabend legte
er sich auf sein Bett und schlug «Das blutige Kissen» auf, sein
neues Vampirbuch. Er hatte gerade die erste Seite gelesen, als
es an seiner Scheibe pochte.
Anton lief ans Fenster und öffnete.
«Du?» Er konnte seine Enttäuschung nicht verbergen, als
draußen auf dem Fenstersims Anna saß.
Anna hüpfte ins Zimmer.
«Du hast wohl eine andere erwartet?», fauchte sie.
«Was für eine andere?», erwiderte er.
«Olga! Am Sonntagabend muss es ja richtig toll mit euch
beiden gewesen sein!»
«Toll?» Er schüttelte den Kopf. «Überhaupt nicht!»

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«Hast du Olga etwa nicht eingeladen, mit dir in die
Fledermaus zu gehen?», hielt sie ihm entgegen.
«Wie bitte?» Anton traute seinen Ohren nicht. «Ich soll Olga
eingeladen haben, mit mir in die Fledermaus zu gehen?»
«Allerdings! Du hast ihr sogar schon die Karte gegeben! Und
deine Eltern werden auch dabei sein, hat Olga gesagt.»
«Das mit meinen Eltern ist reiner Zufall. Außerdem sollte
Olga die Karte an Tante Dorothee weitergeben. Hat sie das
etwa nicht getan?»
«Inzwischen ja. Aber nur, weil Rüdiger gedroht hat, sich in
die Sonne zu legen, wenn sie an seinem Geburtstag mit dir in
die Fledermaus geht. Jetzt ist Rüdiger wahnsinnig sauer auf
dich. Und ich auch!»
«Reizend», sagte Anton.
«Ich bereite alles für Rüdigers Geburtstag vor, fahre extra
zum Theater, um die Karten für Tante Dorothee und Herrn
Schwanenhals zu besorgen... und dann bin ich der Sündenbock,
auf dem alle herumhacken!»
Anna blinzelte verwirrt. «Willst du etwa nicht mit Olga in die
Fledermaus gehen?»
«Nein!», antwortete er. «Und das kann ich sogar beweisen!»
«Und wie?»
«Wenn ich vorhätte, mit Olga in die Fledermaus zu gehen,
müsste ich doch noch die zweite Karte haben, oder?»
Anna nickte zustimmend.
«Ich hab die Karte aber nicht mehr, weil ich sie heute nach
der Tanzstunde auf das Klavier von Herrn Schwanenhals gelegt
hab!»
Zum ersten Mal lächelte Anna. «Du hast sie auf
Schwanenhals’ Klavier gelegt? Einfach so?»
«Ich hab sie natürlich in einen Umschlag gesteckt und einen
kleinen Brief dazu geschrieben, damit er auch wirklich
hingeht.»
«Und was hast du in dem Brief geschrieben?»

33
«Sehr verehrter Herr Schwanenhals, beglücken Sie eine
einsame Seele und treffen Sie mich am Samstag in der
Fledermaus! D., eine Bewunderin Ihrer Tanzkunst!»
Anna kicherte. «Dieser Einladung wird Schwanenhals nicht
widerstehen können!»
«Gefällt sie dir?»
«O ja!» Sie zupfte an ihrem zerlöcherten Vampirumhang.
«Wenn du mir schreiben würdest ‹Beglücken Sie eine
einsame Seele...›, ich würde sofort geflogen kommen!»
Anton räusperte sich.
«Und was ist mit Tante Dorothee?», fragte er. «Wird sie am
Samstag in die Fledermaus gehen?»
«Wahrscheinlich. Der Titel hat sie sehr angesprochen.»
«Aber genau weißt du nicht, ob sie hingeht?»
«Nein. Olga hat ihr die Karte auch erst heute Abend gegeben.
Am Anfang war Tante Dorothee misstrauisch und wollte
wissen, wie Olga an die Karte gekommen ist. Olga hat gesagt,
ein fahrender Vampir hätte sie ihr geschenkt. Das hat Tante
Dorothee imponiert. Sie schwärmt für fahrende Vampire.»
«Sind das Vampire, die nicht fliegen können?»
«Fahrende Vampire sind Vampire ohne festen Wohnsitz»,
erklärte Anna. «Sie ziehen von Friedhof zu Friedhof, weil sie
Freiheit und Ungebundenheit suchen.»
Aufs Neue wurde Anton daran erinnert, wie wenig er
eigentlich über Vampire wusste...
Als hätte Anna seine Gedanken gelesen, sagte sie mit einem
Seufzer: «Wenn du wolltest, könnte ich dir noch so vieles
zeigen! Unsere Welt ist nicht nur düster und trist. Licht und
Freude gibt es überall, zum Beispiel in einem Herzen, das nur
für dich schlägt – wie meins!»
Anton wurde rot. Schnell lenkte er ab: «Ist Olga auch ein
fahrender Vampir?»
Anna richtete sich kerzengerade auf. «Olga? Die bestimmt
nicht! Fahrende Vampire sind die stolzesten, unabhängigsten

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Vampire, die du dir vorstellen kannst! Sie würden sich niemals
irgendwo einnisten in der Erwartung, dass man sie durchfüttert
und sie von vorn und hinten bedient. Nein, Olga gehört zu den
Schmarotzern!»
«Darüber hinaus ist sie eine Lügnerin und Heuchlerin», sagte
Anton. «Zuerst klingelt sie bei uns und beschwatzt meinen
Vater, bis er sie reinlässt, danach erzählt sie mir, dass sie die
Karte für Tante Dorothee abholen will, und hinterher in der
Gruft verleumdet sie mich und lügt das Blaue vom Himmel
herunter!»
«Das Blaue vom Himmel?» Anna lachte prustend. «Olga hat
seit mindestens einhundertneunzig Jahren keinen blauen
Himmel mehr gesehen!»
«Na, dann eben das Schwarze vom Nachthimmel», sagte
Anton. «Ich hab übrigens noch einen Beweis dafür, dass es
nicht stimmt, was Olga über mich erzählt hat!»
Er ging an seinen Schrank und holte eine große Einkaufstüte
heraus. «Hier! Das sind die Geburtstagsgeschenke für Rüdiger.
Und die hätte ich wohl nicht gekauft, wenn ich am Samstag mit
Olga in die Fledermaus gehen wollte.»

35
Anna sah ihn finster an. «Du hast schon Geschenke für
Rüdiger? Und ich dachte, du wolltest ihn von seiner Idee mit
der Geburtstagsfeier wieder abbringen!»
«Ich hab’s ja versucht!», antwortete er. «Aber es war
vollkommen zwecklos.»
Anna presste die Lippen zusammen.
«Und möglicherweise wird die Geburtstagsfeier doch ganz
nett», sagte Anton. «Ich meine: ohne Tante Dorothee.
Vielleicht können wir sogar zusammen tanzen, du und ich.»
Ein Lächeln ging über ihr Gesicht. «Das wäre schön,
Anton!»
In diesem Moment fiel eine Tür zu. Dann kamen Schritte
über den Flur.
Mit einem Satz sprang Anna aufs Fensterbrett.
«Anton?» Sein Vater pochte an die Tür. «Im Fernsehen läuft
eine Sendung über Transsylvanien. Die solltest du dir
unbedingt angucken!»
«Vielen Dank, aber ich hab zu tun», wehrte Anton ab.

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«Und was hast du so Wichtiges zu tun?» Sein Vater drückte
den Türgriff herunter.
Doch Anton hatte seine Tür vorsorglich versperrt.
«Du hast dich eingeschlossen?», sagte sein Vater befremdet.
«Ja, weil...» Anton machte Anna, die bereits in der Luft
schwebte, Zeichen, nicht wegzufliegen. «Ich bin mit... äh...
Geburtstagsgeschenken beschäftigt. Für Mutti!»
Seine Mutter hatte am 30. Oktober Geburtstag.
«Ach so», sagte Antons Vater. «Dann will ich dich nicht
weiter stören.»
Er entfernte sich wieder.
«Anna?» Anton beugte sich aus dem Fenster.
Er glaubte einen kleinen Schatten zwischen den Bäumen am
Parkplatz zu erkennen.
«Anna?», rief er noch einmal.
Er erhielt keine Antwort. Ein Windstoß fuhr durch die
Baumkronen und ließ die welken Blätter rascheln. Mit einem
Frösteln machte Anton das Fenster zu.

Beruf und Berufung


Am Donnerstag hörte Anton nichts von Rüdiger, Anna oder
Olga. Und so wusste er auch nicht, ob sich Tante Dorothee die
Fledermaus ansehen würde, als ihn seine Mutter am
Freitagnachmittag vor der Tanzschule Schwanenhals absetzte.
«Ich werde dich heute etwas später abholen», kündigte sie
an. «Du wartest dann auf mich, ja?»
«Sicher!», sagte Anton, froh über diese glückliche Fügung.
Nach der Tanzstunde ging er zu Herrn Schwanenhals und
fragte: «Geben Sie am Samstagabend auch einen Tanzkurs?»
Herr Schwanenhals lächelte geschmeichelt.
«Sie würden wohl gern dreimal in der Woche Ihr Tanzbein
schwingen, Anton?», antwortete er.

37
Passend zu seiner geschraubten Ausdrucksweise sprach er
seine Tanzschüler mit «Sie» an.
«Nein, nein», sagte Anton hastig. «Ich dachte nur, Tanzlehrer
zu sein ist wahrscheinlich sehr anstrengend, oder?»
Demonstrativ zog Herr Schwanenhals aus seiner
Westentasche ein weißes Spitzentaschentuch, mit dem er sich
ein paar Schweißperlen von der Stirn tupfte.
Ein starker Lavendelduft breitete sich aus.
«Wenn man Tanzlehrer als Beruf ansieht oder gar als Job,
um das hässliche englische Wort zu gebrauchen...», er zog
seine Augenbrauen missbilligend in die Höhe, «dann ist es in
der Tat nicht leicht, die vielen Vormittage, Nachmittage,
Abende und gelegentlich sogar das Wochenende in den Dienst
der Tanzkunst zu stellen!»
Bei dem Wort Tanzkunst fuhr Anton zusammen. Demnach
hatte Herr Schwanenhals den Brief von «D.», der «Verehrerin
seiner Tanzkunst», gefunden und gelesen!
«Wenn man aber, so wie ich, das Lehren des Tanzes als
Berufung empfindet, dann, ja dann blickt man nicht auf die
Uhr!», fuhr Herr Schwanenhals fort.
«Und am Samstagabend?», nahm Anton einen neuerlichen
Anlauf. «Ruft Sie da Ihre... Berufung?»
«Am Samstagabend gebe ich im Allgemeinen keinen
Tanzunterricht. Hin und wieder finden sich aber doch einige
tanzbegeisterte Herrschaften bei mir ein.»
«Und an diesem Samstag? Ich meine, falls morgen Abend
einige Tanzbegeisterte kommen, würde ich vielleicht gern...
mitmachen.»
Herr Schwanenhals rückte seine Krawatte zurecht. Sie war
weinrot und mit einem silbernen Schwan bestickt.
«Was den morgigen Samstag anbelangt, muss ich Sie leider
enttäuschen, Anton.»
«Geben Sie morgen Abend woanders Tanzunterricht?»

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Herr Schwanenhals lächelte geheimnisvoll. Dann verriet er
mit gesenkter Stimme: «Morgen Abend bin ich ausnahmsweise
einmal Zuschauer.»
«Ach, wirklich?» Antons Herz klopfte laut. «Kann es sein,
dass Sie ins Theater gehen?»
«Potzblitz, ja!» Herr Schwanenhals lachte mit hoher,
gekünstelter Stimme. «Sie verfügen anscheinend über
hellseherische Fähigkeiten, Anton!»
«Ich? Nein. Ich bin nur darauf gekommen, weil meine Eltern
Theaterkarten haben. Für die Fledermaus!»
«Für die Fledermaus? Aber die werde ich mir auch...» Herr
Schwanenhals brach ab, weil in diesem Augenblick Antons
Mutter in der Tür auftauchte.
Schnell verabschiedete Anton sich und lief zu ihr.
«Einen wunderschönen guten Abend, Frau Bohnsack!»,
schmetterte Herr Schwanenhals.
«Guten Abend», antwortete sie eher frostig.
Seit der Weigerung von Herrn Schwanenhals, das Geld
zurückzuzahlen, hatte sich ihr Verhältnis zu ihm merklich
abgekühlt. «Ich hoffe, Sie nehmen es uns nicht übel, aber
Anton und ich sind in Eile.»
Anton nickte eifrig.
«Dürfte ich noch –», begann Herr Schwanenhals.
«Auf Wiedersehen, Herr Schwanenhals!», sagte Antons
Mutter und drehte sich um.
«Auf Wiedersehen!», rief Anton und folgte ihr.
Er war sehr erleichtert, denn nun wusste er, dass Herr
Schwanenhals die Einladung von «D.» angenommen hatte und
morgen Abend in die Fledermaus gehen würde!
Damit hatte Anton alles getan, was er tun konnte, um die
Geburtstagsfeier des kleinen Vampirs zu einem Erfolg zu
machen! Ja, er hatte sogar heimlich das Schiebefenster im
Umkleideraum der Tanzschule einen Spaltbreit geöffnet...

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Nun mussten nur noch Rüdiger, Anna und Olga dafür sorgen,
dass auch Tante Dorothee zum Stelldichein kam!

Probleme mit Tante Dorothee


Antons Mutter verbrachte den halben Samstag damit, sich die
Fingernägel zu lackieren, die Haare zu waschen, sie auf
Lockenwickler aufzurollen und unter der Trockenhaube zu
sitzen. Antons Vater dagegen prüfte Akten, die er sich aus dem
Büro mitgebracht hatte. Und so gab es auch nicht das
angedrohte Hähnchen im Knoblauchmantel, sondern
Schollenfilet und Gemüse aus der Tiefkühltruhe.
Um halb sieben verließen Antons Eltern die Wohnung, weil
sie sich nicht «abhetzen» wollten, wie Antons Mutter sagte.
Sobald er allein war, schlüpfte Anton in seine schwarzen
Jeans und den schwarzen Rollkragenpullover. Er zog die
Gardinen zur Seite und legte seinen Rucksack, in dem Rüdigers
Geburtstagsgeschenke waren, und Onkel Theodors
Vampirumhang auf das Fensterbrett. Dann wartete er.
Er versuchte zu lesen, aber es fiel ihm schwer, sich auf sein
neues Buch «Zähneklappern, Vampirgeschichten aus aller
Welt» zu konzentrieren. Die Zeiger seiner Armbanduhr rückten
auf sieben vor, auf halb acht, auf acht...
Allmählich wurde Anton nervös! Konnte es sein, dass der
kleine Vampir seine Geburtstagsfeier abgeblasen und
vergessen hatte, ihm Bescheid zu sagen? Oder hatte Tante
Dorothee beschlossen, nicht ins Theater zu gehen und sich
stattdessen um ihre Neffen und Nichten zu kümmern? Dann
wären Rüdiger, Anna, Lumpi und Olga immer noch in der
Gruft! Falls sie aber doch zur Tanzschule geflogen waren,
wussten sie nichts von dem Schiebefenster, das Anton heimlich
für sie geöffnet hatte!

40
Um halb neun hielt Anton es nicht mehr aus. Er versperrte
seine Zimmertür und setzte den Rucksack auf. Danach streifte
er sich den alten, nach Sargluft und Moder riechenden
Vampirumhang über und bestieg das Fensterbrett.
Der Mond schien und es war eine fast windstille Nacht.
Zögernd breitete er seine Arme aus. Sofort schwebte er.
Mutiger geworden, bewegte er seine Arme auf und ab – und
flog!
Anton spürte ein Kribbeln vom Kopf bis zu den Zehen. Er
kniff die Lippen zusammen, um keinen Freudenschrei
auszustoßen. Im Überschwang der Gefühle flog er eine
abenteuerliche Kreisbahn – und wäre beinahe abgestürzt, weil
er vergessen hatte, dass er den Rucksack trug. Doch mit ein
paar kräftigen Armstößen gelang es ihm, sich wieder ins
Gleichgewicht zu bringen.
Ohne weitere Zwischenfälle erreichte er den alten Friedhof
und landete auf der verwitterten Friedhofsmauer. Mit
Herzklopfen spähte er hinüber zur Tanzschule Schwanenhals.
Er hatte den Eindruck, hinter einem Fenster im oberen
Stockwerk ein Licht zu sehen, das sich bewegte.
Plötzlich zupfte jemand an seinem Umhang. Anton schrie
auf.
«Psst!», sagte da eine helle Stimme.
Er drehte sich um. «Anna!»
«Guten Abend, Anton!» Sie landete neben ihm.
Ein intensiver Rosenduft ging von ihr aus, der Anton
ziemlich verwirrte.
Sie sah heute ganz besonders niedlich aus: Ihr Haar hatte
einen seidigen Schimmer und fiel in weichen Wellen bis auf
ihre Schultern, ihre großen dunklen Augen glänzten und ein
Lächeln lag um ihren runden, kirschroten Mund... Als Anton
sie nur wie gebannt anschaute, zog sie die Stirn kraus und
fragte: «Freust du dich gar nicht, mich zu sehen?»

41
«Doch!» Anton hüstelte verlegen. «Sehr sogar», fügte er
hinzu.

42
«Ich freu mich auch, dich zu sehen!» Sie stieß ein
übermütiges Lachen aus. «Heute will ich Spaß haben und
tanzen und lachen!»
«Heißt das, du hast deine Meinung über die Geburtstagsfeier
geändert?», fragte er.
«Das hab ich!» Sie gab ihm einen zärtlichen Nasenstüber.
Er räusperte sich. «Und ich dachte schon, die Feier wäre
abgeblasen!»
«Wieso denn das?»
«Weil ich seit sieben auf euch gewartet habe und keiner
gekommen ist!»
«Keiner?» Sie schüttelte entrüstet den Kopf. «Ich hab vor
zehn Minuten an dein Fenster geklopft! Wer nicht geantwortet
hat, warst du!»
«Und weshalb bist du so spät gekommen?», wollte Anton
wissen.
«Wir hatten Probleme mit Tante Dorothee.»
«Wollte sie etwa nicht in die Fledermaus gehen?»
«Und ob! Das war es ja gerade: Sie hat so lange nichts mehr
unternommen, ich meine: nichts Schönes, nichts zur
Unterhaltung. Und ein blindes Stelldichein hatte sie schon
einhundertsechzig Jahre nicht mehr, hat sie uns erzählt.
Jedenfalls hat sie sich dreimal von Kopf bis Fuß umgezogen,
viermal ihre Frisur verändert, fünfmal neuen Schmuck
angelegt... es war furchtbar! Zwischendurch hat sie immer
wieder gesagt, wenn wir es eilig hätten, sollten wir ruhig schon
losfliegen. Aber wir haben behauptet, wir hätten nichts
Bestimmtes vor, und deshalb hätten wir es auch nicht eilig.»
Anna machte eine Pause.
«Natürlich weiß Tante Dorothee, dass heute, am 15. Oktober,
Rüdigers Geburtstag ist», fuhr sie fort. «Wenn wir sie nur ein
bisschen misstrauisch gemacht hätten, wäre sie garantiert nicht
ins Theater geflogen. Aber so denkt sie, ihr Verbot hätte
gewirkt.»

43
«Das war klug», bemerkte Anton.
«Klug und anstrengend», meinte Anna. «Wir haben wie auf
glühenden Sargnägeln gesessen, bis Tante Dorothee endlich
um Viertel vor acht fertig war und im Eiltempo losgebraust
ist.»
«Was? Erst um Viertel vor acht?», sagte Anton betroffen.
«Hoffentlich war sie noch rechtzeitig im Theater! Wer zu spät
kommt, darf nicht mehr auf seinen Platz – erst in der Pause
wieder!»
Anna kicherte. «Das wird sich Tante Dorothee bestimmt
nicht gefallen lassen. Vor allem heute Abend nicht, wo im
Zuschauerraum ihr blindes Stelldichein sitzt!»
«Nicht nur ihr blindes Stelldichein...» Anton dachte an seine
Eltern.
«Ich hab auch wie auf glühenden Sargnägeln gesessen»,
erklärte er. «Schließlich musste ich euch noch von dem Fenster
erzählen!»
«Von welchem Fenster?»
«Im Umkleideraum von Herrn Schwanenhals hab ich das
Fenster ein Stück offen gelassen. Ja, und als ihr nicht
gekommen seid, hab ich mir vorgestellt, ihr findet das offene
Fenster nicht und fliegt wieder weg. Und dann wäre ich
derjenige, der Rüdigers Geburtstagsfeier ruiniert hätte!»
«Diese Sorge war ganz unnötig», antwortete Anna. «Lumpi
hat einen siebten Sinn für Fenster und Türen, die nicht richtig
geschlossen sind.»
«Tatsächlich?» Anton blickte zur Villa. «Ist Lumpi schon
drüben in der Tanzschule?»
«Ja. Und Rüdiger und Olga auch.» Anna erhob sich in die
Luft. «Komm, Anton!»
Anton atmete noch einmal tief durch und flog hinterher.

44
Strafe muss sein
Anna hatte offenbar den gleichen siebten Sinn wie Lumpi,
denn sie fand auf Anhieb das richtige Fenster. Geschmeidig
glitt sie durch die Öffnung.
Anton wollte ihr folgen, aber er blieb mit seinem Rucksack
stecken. Er setzte den Rucksack ab und reichte ihn Anna.
Dann kletterte er hinterher.
Das Mondlicht fiel auf die grauen Fliesen, die Toilette mit
der Holzbrille und das Waschbecken.
«Und das soll eine Umkleidekabine sein?», sagte Anna.
«Herr Schwanenhals nennt es Umkleideraum», erklärte
Anton. «Kabine ist ein Fremdwort.»
«Für mich sieht es wie eine Toilette aus.» Anna kicherte.
«Man kann sich aber umziehen.» Anton zeigte auf die Haken
an den Wänden, den Schrank und die Holzbank, auf der zwei
zusammengerollte schwarze Stoffbündel lagen.
«Aber das sind doch –», Anna sprach nicht weiter.
Nacheinander hob sie die Stoffbündel hoch und beschnupperte
sie.
«Das sind Rüdigers und Olgas Vampirumhänge!», rief sie.
«Ehrlich?», sagte Anton. Auf einmal wusste er, woher der
modrige Geruch kam, der ihm bereits am Fenster aufgefallen
war.
Anna schüttelte voller Empörung den Kopf. «Es ist ein
unverantwortlicher Leichtsinn, die Umhänge einfach
herumliegen zu lassen! Jeder kann durch das offene Fenster
kommen und sie mitnehmen!»
Jeder wohl nicht, dachte Anton.
«Na, warte!», sagte Anna grimmig. «Den beiden werde ich
eine Lektion erteilen, die sie nicht wieder vergessen!»
Sie trat an den Schrank und legte die Umhänge hinein.

45
Danach drehte sie den Schlüssel herum, zog ihn ab und ließ
ihn in dem schwarzen Samtbeutel verschwinden, den sie unter
ihrem Vampirumhang trug.
«Ist das nicht ziemlich riskant?», wandte Anton ein. «Ich
meine, wenn zum Beispiel Geiermeier hier auftaucht...»
«Strafe muss sein», erwiderte sie. «Und falls ihnen Gefahr
droht, können sie immer noch laufen.»
«Aber heute ist Rüdigers Geburtstag!», sagte Anton.
«Wahrscheinlich waren Rüdiger und Olga mit ihren
Gedanken schon bei der Party und haben deshalb die Umhänge
hier vergessen.»
«Solche Gedankenlosigkeit können wir Vampire uns nicht
leisten», entgegnete Anna. «Unsere Umhänge sind das
Wichtigste und Kostbarste, was wir besitzen. Der Spezialstoff,
aus dem sie bestehen, wird seit einhundertfünfzig Jahren nicht
mehr hergestellt. Wenn uns heute ein Umhang verloren geht
oder gestohlen wird, können wir ihn nur ersetzen, indem wir
den Umhang eines... ähm... unfreiwillig von uns gegangenen
anderen Vampirs übernehmen!»
«Das wusste ich nicht.» Beklommen musterte Anton den
Umhang, den er trug. Auch Onkel Theodor war unfreiwillig
von ihnen gegangen – und zwar durch einen Holzpflock von
Friedhofswärter Geiermeier!
«Ich hab den Umhang ja nur geliehen», murmelte er. «Ihr
müsst einfach Bescheid sagen, wenn ihr ihn braucht.»
Anna lächelte. «Bei dir ist er gut aufgehoben, Anton!»
Sie öffnete die Tür und ging in den Flur. Anton setzte seinen
Rucksack auf und folgte ihr. Zum Glück war im Flur die
Deckenlampe eingeschaltet. Sie kamen an eine weitere Tür,
durch die man in den Tanzsaal gelangte. Dahinter hörten sie
Musik und Gelächter und das Klappern von Absätzen auf dem
Holzfußboden.

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«Siehst du mal nach, wer alles im Saal ist?», bat Anton.
Unwillkürlich flüsterte er. «Vielleicht ist Tante Dorothee doch
noch gekommen.»
«Dann würde Rüdiger nicht die Quietsch Boys spielen. Tante
Dorothee findet die Musik total unvampirisch», antwortete
Anna.
«Quietsch Boys?» Anton hatte den Eindruck, die Musik
schon mal gehört zu haben.
«Das ist ein komischer Name für eine Band», meinte er.
«Genauso komisch wie die Musik, die sie machen. Ich wette,
Rüdiger mag die Musik auch nicht. Er spielt sie bloß wegen
Olga. Sie schwärmt für die Quietsch Boys.»
«Warte mal...», sagte Anton. Gerade hatte ein neues Stück
begonnen – und dieses Stück kannte er: Es war «Barbara Ann»,
einer der Lieblingssongs seiner Mutter, die mit zweitem
Vornamen Barbara hieß.
«Es sind die Beach Boys!», rief er.
«Bietsch Boys?» Anna runzelte die Stirn. «Der Name ist ja
noch komischer!»
«Beach ist englisch und heißt Strand», erklärte Anton. «Die
Beach Boys sind eine amerikanische Band, die auf Deutsch Die
Strandjungen heißt.»
«Die Strandjungen?»
«Ja!»
«Olga sagt, es sind moderne Minnesänger, weil ihre Lieder
von der Liebe und von schönen Frauen handeln», verriet Anna.
«Und die Texte sollen genau auf sie zugeschnitten sein!»
«Die Texte der Beach Boys? Auf Olga?» Anton grinste. «Ich
wusste gar nicht, dass sich Olga am Strand von der Sonne
braten lässt oder mit dem Surfbrett auf den Wellen reitet!»
Anna lachte hinter vorgehaltener Hand prustend los. «Ich
auch nicht!»
Jetzt war offenbar Streit um die Beach Boys entbrannt, denn
die Musik brach ab. Es polterte und krachte und Stimmen

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riefen durcheinander. Und dann, nach einer Pause, erklang
transsylvanische Volksmusik!
Anna öffnete die Tür und spähte in den Saal.
«Sie machen Lärm für zehn, aber es sind nur Rüdiger, Lumpi
und Olga», berichtete sie. «Komm!»
Anna lief voraus. Zögernd betrat Anton den Tanzsaal – und
blieb überrascht stehen. Der Saal wirkte völlig verändert!
Wenn Herr Schwanenhals seine Tanzstunden gab, schaltete
er die Strahler an der Decke ein. Nun aber waren ausschließlich
Kerzen angezündet. Zwanzig oder noch mehr Teelichter
brannten an der Fensterseite und ungefähr zwanzig weitere an
der Wandseite.
Die verspiegelte Säule in der Mitte des Saals hatte jemand
vom Boden bis zur Decke mit schwarzem Klebeband
umwickelt.
Neben der Säule war ein Berg von Päckchen und Paketen
aufgetürmt. Davor brannten elf dicke schwarze
Stumpenkerzen.
Rüdiger, Lumpi und Anna standen an dem Regal, in dem
sich die Stereoanlage von Herrn Schwanenhals befand. Anton
hatte bisher geglaubt, die Anlage sei kaputt, weil Herr
Schwanenhals seinen Tanzunterricht immer auf dem Klavier
begleitete. Aber den Vampiren war es gelungen, die
Stereoanlage in Gang zu setzen.

Das Geburtstagskind
«Na endlich!», rief Lumpi mit seiner mal hoch, mal tief
kieksenden Stimme. «Unsere Spätzünder sind da!»
Er stellte die Musik ab.
«Selber Spätzünder», fauchte Anna.
«Was? Ich soll ein Spätzünder sein?», rief Lumpi entrüstet.

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«Ha, ich war heute Abend der Erste! Die gesamten
Vorbereitungen der Party lagen auf meinen schwachen
Schultern, jawohl!»
Mit wichtigtuerischer Miene schlug er seinen Vampirumhang
zurück. Ein schwarzer Pullover und eine schwarze, mit Nieten
verzierte Lederhose kamen zum Vorschein.
Kichernd kniff Olga in seinen Oberarm. «Du bist wirklich
zum Schwachwerden, Lumpi!»
Aus ihrem schier unerschöpflichen Vorrat an Dirndlkleidern
hatte sie diesmal ein grünes ausgewählt. Dazu trug sie eine rote
Haarschleife, rote Kniestrümpfe und schwarze Lackschuhe –
und nicht zu vergessen die blütenweiße Schürze.
«Hallo, Anton», sagte der kleine Vampir mit einem
verlegenen Lächeln.
Passend zum Geburtstag hatte er sich mit einem weißen
Spitzenhemd, das ihm mindestens eine Nummer zu groß war,
einer schwarzen Fliege und einer schwarzen Samthose
herausgeputzt.
«Hallo, Rüdiger», antwortete Anton.
Ihm fiel auf, dass der kleine Vampir außergewöhnlich blass
war und rote Ränder um die Augen hatte, als hätte er tagelang
nicht geschlafen. Er schien auch sehr aufgeregt zu sein, denn er
kaute nervös an den Lippen.
Aber Anton wusste natürlich, wie aufregend es war,
Geburtstag zu haben! Das ganze Jahr über freute man sich
darauf, an diesem besonderen Tag verwöhnt und mit
Geschenken überhäuft zu werden. Umso größer war dann die
Enttäuschung, wenn etwas schief ging: mit den Geschenken,
mit der Party, mit den Gästen... Geburtstag zu haben war nicht
nur reine Freude, sondern manchmal auch ganz schön viel
Stress!
Wie viel aufregender und anstrengender musste es erst für
Rüdiger sein, der nach mehr als einhundertfünfzig Jahren zum

49
ersten Mal seinen Geburtstag feierte und überhaupt nicht
wusste, wie er mit dieser Situation fertig werden sollte!
Voller Mitgefühl streckte Anton dem kleinen Vampir seine
Hand entgegen.
«Herz-», begann er und brach ab.
Herzlichen Glückwunsch sagte man besser nicht in der
Gesellschaft von vier Vampiren!
«Alles Gute zum Geburtstag!» Er schüttelte Rüdigers
knochige Hand.
«Danke», lispelte der kleine Vampir.
«Er hat sich bedankt!» Lumpi lachte meckernd. «Ich glaub,
mein Sargdeckel klemmt!»
«An seinem Geburtstag darf Rüdiger sich ruhig bedanken»,
nahm Anna ihn in Schutz.

«Ja, heute darf ich das!», sagte der kleine Vampir.


«Außerdem kommt es immer darauf an, bei wem man sich
bedankt. Und immerhin ist Anton mein bester Freund!»

50
Anton spürte, wie er rot anlief. Schnell zeigte er auf den Berg
von Geschenken und fragte: «Sind die alle für dich, Rüdiger?»
Der kleine Vampir nickte.
«Stimmt gar nicht», sagte Lumpi. «Die meisten sind für Karl
von Mogel.»
«Für Karl von Mogel?», wiederholte Anton. «Ihr feiert heute
zwei Geburtstage?»
«Nein. Nur meinen», antwortete der kleine Vampir.
«Die meisten sind Mogel-Pakete», erklärte Lumpi. «Damit
Rüdiger mehr Spaß beim Auspacken hat, haha!»
«Und das lässt du dir gefallen?», wunderte sich Anton.
Der kleine Vampir setzte ein schiefes Lächeln auf. «Na ja...
solange ein paar richtig gute Geschenke dazwischen sind.»
«Wie meine!», sagte Anton.
Er holte seine drei Päckchen aus dem Rucksack und legte sie
zu den restlichen Geschenken. Dann stellte er seinen Rucksack
hinter die Säule.
Lumpi pfiff durch die Zähne. «Du hast dich ja richtig in
Unkosten gestürzt, Anton Bohnsack! Und alles ist so
geschmackvoll eingewickelt...»
Er griff nach dem größten Päckchen und zog an dem roten
Geschenkband.
«Halt!», rief Anton.
Er nahm Lumpi das Päckchen wieder ab und legte es zu den
anderen zurück. «Das Päckchen ist für Rüdiger! Er ist das
Geburtstagkind!»
«Schon gut, schon gut», sagte Lumpi. «Ich wollte ja nur
prüfen, ob du den Knoten auch richtig festgezogen hast.»
Dann grinste er. «Weißt du was, Anton? Ich hab am 18. Mai
Geburtstag. Dann lad ich dich auch ein!»
Olga gab ein Stöhnen von sich. «Wann fangen wir eigentlich
mit der Party an?»
«Ja, wann geht es endlich los?», rief der kleine Vampir.

51
«Jetzt», sagte Lumpi. «Mit der Ablieferung von Antons
Geschenken hat die Geburtstagsparty ganz offiziell begonnen.»

Die Arche Lumpi


Lumpi griff in seine Hosentasche und zog einen schäbig
aussehenden Zettel heraus.
«Auf diesem Geheimpapier sind alle Höhepunkte des
heutigen Abends festgehalten», verkündete er großspurig.
«Darf ich dein Geheimpapier mal sehen?», fragte Anna.
«Nein!», erwiderte Lumpi barsch. «Erstens ist es, wie schon
der Name sagt, ein Geheimpapier. Und zweitens sollen es nur
die Mitglieder des Festkomitees lesen.»
«Und wer gehört zu diesem... Festkomitee?»
«Das ist selbstverständlich auch geheim.» Lumpi kicherte.
«Wollen wir es ihnen trotzdem verraten, Olga?»
«Warum nicht.» Gleichmütig zupfte Olga an ihrer
Haarschleife.
«Also gut», sagte Lumpi. «Das geheime Festkomitee für
Rüdigers Geburtstagsparty besteht aus dem guten alten Lumpi
– und aus Olga Fräulein von Seifenschwein!»
Anna ballte die Fäuste. «Ganz schön ungerecht! Ich hätte
auch gern bei dem Komitee mitgemacht.»
«Und wieso?», fragte Lumpi.
«Ich hab auch ein paar gute Ideen für Rüdigers
Geburtstagsparty!»
«Gute Ideen? Du?» Olga lachte höhnisch.
Anna fauchte etwas, das wie Ziege klang.
Olga blies verächtlich die Backen auf.
«Vielleicht können wir am Ende unseres Programms die eine
oder andere Idee von dir einbauen, Anna», meinte Lumpi
gnädig. «Aber jetzt beginnen wir wie geplant mit der Arche
Lumpi.»

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«Das klingt ja tierisch spannend», sagte Anna spöttisch.
«Nicht wahr?», freute sich Lumpi.
Offenbar hatte er Annas Bemerkung als Lob aufgefasst. «Die
Arche Lumpi bildet den ersten Höhepunkt unserer
Geburtstagsparty.»
«Und wie spielt man die Arche Lumpi?», fragte Anton.
Lumpi reckte sich. «Zuerst muss sich jeder ein Tier
ausdenken», sagte er. «Dann zähle ich bis zehn. Wenn ich bei
zehn angekommen bin, muss jeder ein Geräusch machen, an
dem man sein Tier erkennt. Die beiden, die dasselbe Tier
haben, scheiden aus.»
Anna gähnte demonstrativ. Lumpi fing an zu zählen.
«Warte!», rief der kleine Vampir.
«Was ist denn noch?», sagte Lumpi.
«Ich... äh... mir ist noch kein Tier eingefallen», gestand der
kleine Vampir.
«Nimm doch die Turteltaube», sagte Anna. «Dann kannst du
verliebt gurren!»
«O ja!» Der kleine Vampir warf Olga einen innigen Blick zu.
«Seid ihr so weit?», fragte Lumpi.
«Nein!», sagte Olga. «Das ist unfair!»
«Was ist unfair?»
«Jetzt wissen alle, welches Tier Rüdiger nimmt. Und dann
gewinnt er!»
«Wieso gewinnt er?»
«Weil dann kein anderer die Turteltaube nimmt!»
«Sehr gut überlegt, Olga!» Lumpi nickte anerkennend.
«Rüdiger, du musst dir ein anderes Tier ausdenken!»
«Ich will aber verliebt gurren», brummte der kleine Vampir.
«Das kannst du später immer noch tun», antwortete Lumpi
und begann zu zählen: «Eins, zwei, drei, fünf, sechs, sieben,
neun...»
Als er bei zehn angekommen war, bellte, muhte, miaute und
wieherte es.

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«He! Ich hab ganz klar zwei Pferde gehört!», rief Lumpi.
Der kleine Vampir nickte und deutete auf Olga.
«Irrtum!», sagte Olga.
«Hast du etwa nicht gewiehert?», fragte Lumpi.
«Doch. Aber ich war kein Pferd. Ich war eine wunderschöne
weiße Stute!»
«Eine Stute ist auch ein Pferd», sagte Lumpi. «Ihr scheidet
beide aus.»
«Nur deinetwegen darf ich nicht mehr mitmachen!» Olga sah
Rüdiger giftig an. «Warum konntest du kein Esel sein?»
«Weil er zur Abwechslung mal was anderes sein wollte»,
warf Anna ein.
Anton war offenbar der Einzige, der diese Anspielung
verstand, denn außer ihm lachte niemand.
«Zweite Runde!», rief Lumpi.
Diesmal ertönte aus drei Kehlen lautes Geheul.
Lumpi blickte irritiert zwischen Anton und Anna hin und her.
«Ich war ein Werwolf. Und was wart ihr?»
«Ich war ein Wolf», erklärte Anna.
«Und ich ein Kojote», sagte Anton.
«Aber ihr habt alle drei geheult!», rief Olga. «Dann müsst ihr
auch alle drei ausscheiden!»
«Es können immer nur zwei ausscheiden», belehrte Lumpi
sie.
«Und weil der Wolf und der Kojote nahe Verwandte sind,
scheiden sie aus.» Er schlug sich gegen die Brust. «Womit ich
gewonnen habe!»
«Aber ein Werwolf –» ist überhaupt kein Tier, wollte Anton
einwenden. Doch ein drohender Blick von Lumpi ließ ihn
verstummen.
«Ja, bitte?», fragte Lumpi unnatürlich sanft. «Was wolltest
du sagen, Anton?»
«Ich? Ach, nichts...», antwortete er.

54
Hüpf, mein Floh
«Damit kommen wir zum nächsten Spiel», erklärte Lumpi.
«Es heißt: Hüpf, mein Floh!»
«Hoffentlich ist es nicht so langweilig wie Mäuschen, sag
mal piep», sagte Anna.
«Mit Sicherheit nicht», meinte Anton. Flüsternd ergänzte er:
«Es ist bloß noch langweiliger!» Anna sah ihn an und kicherte.
«Kommen wir zu den Spielregeln!», sagte Lumpi.
Anscheinend waren es komplizierte Regeln, denn er musste
seinen Zettel zu Hilfe nehmen.
«Einer ist der Kammerjäger», begann er. «Ihm werden die
Augen mit dieser wunderbaren Augenbinde verbunden.»
Er zog einen schmuddeligen grauen Lappen aus seinem
Hosenbund. «Alle anderen sind Flöhe. Und wie Flöhe hüpfen
sie durch die Gegend. Sie dürfen aber höchstens zehn Hüpfer
machen. Danach bleiben sie mucksflöhchenstill stehen,
kapiert? Der Kammerjäger kann hüpfen, soviel er will – bis er
einen Floh erwischt hat!»
«Wie... erwischt?», fragte Anton argwöhnisch.
Lumpi richtete sich zu seiner vollen Größe auf. «Was macht
man schon mit einem Floh? Man zertritt ihn!»
Erschrocken wich Anton zurück.
Lumpi lachte krächzend. «Das war selbstverständlich nur ein
kleiner Scherz von mir. Man fängt den Floh, indem man ihn
einmal kurz antippt, ungefähr so!»
Er versetzte Anton einen kräftigen Stoß. Fast wäre Anton
rückwärts umgefallen.
«Und was passiert dann?», fragte Anna.
«Dann wird der Floh der neue Kammerjäger.» Lumpi hielt
den Lappen in die Höhe. «Wer möchte anfangen?»
Niemand meldete sich. Sich in den Hüften wiegend ging
Lumpi von einem zum anderen.

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Vor Anton blieb er stehen. «Wie wär’s mit unserem
menschlichen Freund hier?»
«Nein danke», wehrte Anton ab.
«Aber als Kammerjäger musst du keine Angst haben, dass du
zertreten wirst, Anton!»
Und ehe Anton etwas erwidern konnte, hatte Lumpi ihm den
Lappen über die Augen gebunden. Anton schnappte nach Luft.
Der Lappen stank erbärmlich nach ranzigem Öl und faulen
Eiern. Aber viel schlimmer war, dass er nichts mehr sehen
konnte.
«Und nun hüpfen wir!», ordnete Lumpi an. «Auf die Plätze,
Achtung, los: Hüpf, mein Floh!»
Anton rührte sich nicht, während die vier Vampire durch den
Saal hüpften.
«He, was ist, Kammerjäger?», rief Lumpi. «Merkst du nicht,
dass dir die Flöhe auf der Nase herumtanzen?»
Anton kniff die Lippen zusammen. Dann machte er ein paar
zaghafte Hüpfer. Plötzlich prallte er gegen ein großes,
knochiges Hindernis. Das Hindernis schien Arme zu haben...
und Hände... Hände, die an seinem Rollkragen zerrten!
«Lumpi!», schrie Anna. «Vergreif dich nicht an Anton!»
«Ich wollte ihn doch gar nicht beißen», verteidigte sich
Lumpi. «Nur ein bisschen zwicken, wie ein Floh!»
Anton riss sich die Binde von den Augen und betastete
seinen Hals. Anschließend untersuchte er die Finger auf
verräterische Blutspuren, doch es war kein Blut zu sehen.
Offenbar hatte der dicke Rollkragen ihn vor dem Schlimmsten
bewahrt!
Er reichte Lumpi die Augenbinde.
«Hier!», sagte er grimmig. «Jetzt bist du der Kammerjäger!»
Lumpi schlang den Lappen um seinen großen, breiten Kopf –
allerdings so, dass er noch durch den unteren Rand spähen
konnte.
«Du schummelst!», protestierte Anna.

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«Ich will nur sicherstellen, dass ich unseren lieben Anton
nicht zertrete, wenn ich gleich meine gewaltigen Sprünge
mache», erwiderte Lumpi mit einem breiten Grinsen.
Er klatschte in die Hände und rief: «Auf die Plätze, Achtung,
los: Hüpf, mein Floh!»
Anton sah zu Rüdiger und Olga hinüber. Da sie keine
Vampirumhänge trugen, machten sie eher bescheidene Hüpfer.
Anna dagegen wurde bei jedem Sprung von ihrem Umhang
hoch in die Luft getragen.
Aber das konnte Anton auch! Er stieß sich vom Boden ab
und bewegte seine Arme unter dem Vampirumhang kräftig auf
und ab. Bevor er wusste, wie ihm geschah, knallte er gegen die
Decke. Mit einem Schmerzensschrei fiel er zu Boden – direkt
vor Lumpis Füße.
«Ei, wen haben wir denn da?», sagte Lumpi und betatschte
ihn mit seinen Pranken. «Das fühlt sich ja an wie ein frecher
kleiner Floh! Bist du zu Fuß hierher gekommen? Oder hast du
dir einen Hund genommen?» Er lachte dröhnend.

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«Du tust mir weh», sagte Anton.
«Ich prüf nur deine Muskeln», entgegnete Lumpi.
«Das reicht!», rief der kleine Vampir. «Lass Anton los!»

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Lumpi nahm die Binde ab und warf sie Anton zu. «Du bist
dran!»
Anton schüttelte den Kopf. «Ich war schon.»
«Aber ich hab dich gefangen!», sagte Lumpi. «Also bist du
der nächste Kammerjäger!»
«Hast du kein anderes Spiel auf deiner Liste?», fragte Anna.
«Sicher.» Lumpi studierte seinen Zettel. «Sogar eine ganze
Fuhre!»
Er lachte mit hoher, gekünstelter Stimme.
«Kann ich jetzt mal dein Geheimpapier sehen?» Fordernd
streckte Anna ihre Hand aus.
«Ich bin ja kein Unvampir.» Lumpi gab ihr den Zettel.
«Kartoffelwettlauf», las Anna vor. «Kartoffelduell,
Kartoffelhüpfen, Kartoffelrennen... kann es sein, dass du
irgendwo einen Sack Kartoffeln gefunden hast?»
Lumpi strahlte. «Erraten! Vorgestern Nacht hinter dem
Supermarkt!»
Er nahm ihr den Zettel wieder weg.
«Du hast den Kartoffeltanz vergessen», sagte er nach einem
Blick auf seine Notizen. «Bei dem muss man auf jedem Fuß
eine Kartoffel balancieren.»
«Klingt wahnsinnig spannend», sagte Anna spöttisch. «Ich
wette, dieser Kartoffeltanz war Olgas Idee.»
Olga gab ein verächtliches Zischen von sich. «Mit Erdäpfeln
hab ich nichts am Hut.»
«Verstehe. Du hast nur Pferdeäpfel am Hut – nein,
Stutenäpfel!»
«Pah!»
«Könnt ihr nicht aufhören, euch zu streiten?», sagte der
kleine Vampir. «Wenigstens an meinem Geburtstag?»
Olga verzog die Mundwinkel, Anna zuckte mit den
Schultern.
«Warum spielen wir nicht das Kartoffelduell?», schlug
Anton vor. «Das hört sich doch gut an.»

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Lumpi deutete eine Verbeugung an. «Du hast wirklich einen
vorzüglichen Geschmack, Anton Bohnsack! Wartet hier auf
mich!»
Er verschwand in der Kaffeestube. Gleich darauf kehrte er
mit vier Kartoffeln und vier Esslöffeln zurück.

Das Kartoffelduell
«Beim Kartoffelduell sind die beiden Duellteilnehmer durch
eine Linie auf dem Boden getrennt», begann Lumpi. «Diese
Linie dürfen sie nicht überschreiten, damit kein... hihi... Blut
fließt!»
«Was für eine Linie?», fragte Anna.
Olga holte einen Filzschreiber aus ihrer Schürzentasche,
bückte sich und zeichnete eine breite, ungefähr einen Meter
lange schwarze Linie auf den Holzfußboden.
«Aber –», sagte Anton.
«Ja?» Sie sah ihn mit einem Unschuldslächeln an.
«Das geht doch bestimmt nicht wieder ab», murmelte er.
«Soll es auch nicht!»
«Aber Herr Schwanenhals –»
«Schwapperlapapp!», wischte sie seinen Einwand weg.
Leider nur seinen Einwand und nicht den Filzschreiber!, dachte
er.
«Kann ich jetzt mit meinen Erklärungen fortfahren?» Lumpi
stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf.
Anton zuckte zusammen. «Ja...»
«Also: Die Duellteilnehmer halten in jeder Hand einen
Löffel. Wer von euch kann mir sagen, wie viele Löffel jeder
Duellteilnehmer hat?»
«Ich!», rief Olga. «Zwei!»

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«Sehr gut!», lobte Lumpi. «Und in jedem Löffel liegt eine
Kartoffel. Wie viele Kartoffeln hat demnach jeder
Duellteilnehmer?»
«Drei», sagte Anton, um einen Witz zu machen.
«Drei?» Lumpi zog die Augenbrauen in die Höhe.
«Nein, zwei!» Olga kicherte schrill. «Ich wette, die Frage
war zu schwierig für Anton!»
«Offensichtlich», sagte Lumpi. «Damit kommen wir nun
zum eigentlichen Wettkampf! Beim Kartoffelduell geht es
darum, dem Gegner die Kartoffeln aus den Löffeln zu
schlagen. Wer als Erster ohne Kartoffeln dasteht, hat verloren.
Ist doch lustig, oder?»
«Umwerfend lustig», sagte Anna.
«Nicht wahr?» Lumpi lachte eitel. «Weil es dir so gut gefällt,
darfst du anfangen. Wer möchte sich mit Anna duellieren?»
«Ich!», rief Anton, der entschlossen war, sie gewinnen zu
lassen.
«Ich!» Olga knipste mit den Fingern.
«Olga tritt gegen Anna an!», bestimmte Lumpi.
Er gab Olga und Anna jeweils zwei Löffel und zwei
Kartoffeln.
Sie stellten sich links und rechts von der schwarzen Linie
auf.
Im flackernden Licht der Kerzen schienen ihre Augen
Funken zu sprühen. Sie sahen wie die zwei griechischen
Rachegöttinnen aus, von denen er im Geschichtsunterricht
gehört hatte, fand Anton.
«Fertig?», fragte Lumpi.
«Fertig», antworteten sie.
«Achtung! Los!», rief Lumpi.
Anton hatte erwartet, dass sie nun unter Fauchen und
Kreischen aufeinander losgehen würden. Zu seiner
Überraschung blieben sie stehen und starrten sich nur finster
an.

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Dann sagte Olga mit leiser, boshafter Stimme: «Du
Kartoffelpuffer!»
«Du Kartoffelpfannkuchen!», erwiderte Anna.
«Du Quetschkartoffel!», sagte Olga.
«Du Bratkartoffel!», antwortete Anna.

«Du Kartoffelkloß!», zischte Olga.


«Du Kartoffelbratling!», sagte Anna.
«Du ekliger Kartoffelkäfer!», rief Olga.
«Du dicke Kartoffelnase!», rief Anna.
Die dicke Kartoffelnase schien mehr zu sein, als Olga
verkraften konnte. Ihr Gesicht verzerrte sich und sie schnellte
ihren rechten Arm vor. Anna wich geschickt einen Schritt
zurück. Die Kartoffel fiel von Olgas Löffel herunter und rollte
über den Boden.
«Du Giftzwerg!», schrie Olga. «Du widerliche
Vogelscheuche!»
«Olga...», sagte der kleine Vampir mit schwacher Stimme.
Sie drehte sich zu ihm um und keifte: «Halt du dich da
gefälligst raus!»

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Anna nutzte Olgas Unaufmerksamkeit und machte einen
Schritt nach vorn. Mit ihrem rechten Löffel versetzte sie Olgas
zweiter Kartoffel einen Stoß.
Polternd landete die Kartoffel auf dem Boden.
«Ich hab gewonnen!», freute sich Anna.
Einen Moment lang hatte es den Anschein, als wolle Olga ihr
an die Kehle fahren. Aber dann warf sie mit einem Wutschrei
ihre Löffel auf den Boden und lief zur Tür.
«Willst du etwa schon gehen, Olga?», rief der kleine Vampir.
Wortlos schlug sie die Tür hinter sich zu.
Lumpi hob die Löffel und die Kartoffeln wieder auf. «Wer
möchte als Nächster gegen Anna antreten?»
Anton räusperte sich. «Ich!»
«Nicht schon wieder», sagte Lumpi. «Wie wär’s mit dir?»,
wandte er sich an Rüdiger.
«Können wir nicht lieber die Geschenke auspacken?», fragte
der kleine Vampir.
«Wir? Du willst, dass wir mit auspacken!» Lumpi gab ein
wieherndes Gelächter von sich. «Eine hervorragende Idee!»
«Ich meine: ich!», verbesserte der kleine Vampir hastig.
«Ich bin auch dafür, dass Rüdiger jetzt seine Geschenke
auspackt», sagte Anna.
In diesem Augenblick kehrte Olga in den Tanzsaal zurück.
«Geschenke auspacken?», wiederholte sie. «Aber das macht
man erst ganz am Schluss!»
«Du musst es ja wissen», sagte Anton ironisch. «Du hast
bestimmt viel Erfahrung mit Geburtstagsfeiern.»
Olga errötete. «Es ist allgemein bekannt, dass die Geschenke
am Schluss der Feier ausgepackt werden. Sonst wären die
Gäste ja enttäuscht. Schließlich bekommen sie nichts.»
«Warum stimmen wir nicht ab?», schlug Anna vor.
«Abstimmen?», maulte Olga. «Da kriegt man ja
Kopfschmerzen, wenn alle durcheinander schreien!»

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«In unserer Familie stimmen wir ab, indem wir die Hand
heben», klärte Anna sie auf.
«Genau», sagte der kleine Vampir. «Alle, die dafür sind, dass
ich meine Geschenke auspacke, heben die rechte Hand!»
Drei Hände gingen in die Höhe: Rüdigers, Annas und
Antons. Mit einem glücklichen Lächeln marschierte der kleine
Vampir auf die Säule zu.

Nie wieder Langeweile im Sarg


Doch vor dem Berg mit den Geschenken standen die elf
brennenden Stumpenkerzen. Der kleine Vampir bückte sich,
um sie zur Seite zu schieben.
Da rief Olga ihm mit Unheil verkündender Stimme zu: «Ich
an deiner Stelle würde die Geburtstagskerzen nicht anfassen!»
«Und warum nicht?»
«Weil es Unglück bringt!»
«Es bringt Unglück, wenn man die Geburtstagskerzen
anfasst?»
«Das nicht. Aber es bringt Unglück, wenn sie ausgehen. Und
beim Wegräumen geht dir garantiert eine aus!» Sie lachte
schadenfroh.
Betroffen blickte der kleine Vampir zwischen Olga und den
Kerzen hin und her.
«Olga will dir nur Angst machen», sagte Anna.
«Überhaupt nicht», fauchte Olga. «Jeder weiß, dass es
Unglück bringt, wenn die Geburtstagskerzen ausgehen!»
«Das gilt für Lebenslichter», entgegnete Anna kühl. «Aber
als Vampire können wir überhaupt keine Lebenslichter haben,
weil wir schon...» Sie hüstelte. «Na, ihr wisst ja. Und deshalb
sind Rüdigers Kerzen ganz normale, einfache
Geburtstagskerzen.»
«Aus der Kaufhalle», warf Lumpi kichernd ein.

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«Und wenn die ausgehen, passiert gar nichts», fügte Anna
hinzu. «Außer, dass es ein bisschen dunkler wird.»
«Rüdiger wird ja erleben, was passiert!», rief Olga.
Der kleine Vampir schrie auf.
«Worauf wartest du noch?», sagte Olga herausfordernd.
«Räum die Kerzen zur Seite!»
«Und wenn ich danach noch mehr Pech habe?», murmelte er
kläglich.
«Mehr Pech, als du schon hast, kannst du sowieso nicht
haben», bemerkte Anna mit einem viel sagenden Blick auf
Olga.
«Tsss!», machte Olga und drehte verächtlich den Kopf zur
Seite.
«Komm, ich helfe dir mit den Kerzen», bot Anton an.
Doch Olga hatte den kleinen Vampir so eingeschüchtert, dass
er keinen Finger rührte. Und auch Anna wollte offenbar kein
Risiko eingehen. Ganz allein durfte Anton die elf brennenden
Stumpenkerzen zur Seite schieben. Ihre Dochte zischten und
flackerten, aber zum Glück verloschen sie nicht.
Als Anton fertig war, stieß der kleine Vampir einen tiefen
Seufzer aus.
Dann holte er sich das erste Paket. Es war mit blauem
Geschenkpapier und sehr viel Tesafilm umwickelt. Nachdem er
mehrere Minuten vergeblich am Tesafilm gezerrt hatte, riss er
das Geschenkpapier einfach ab. Braunes Packpapier kam zum
Vorschein, mit Bindfaden verschnürt.
Lumpi lachte in sich hinein. Anton hatte bereits einen
Verdacht, sagte aber nichts.
Der kleine Vampir streifte das Packpapier und die Schnur ab.
Er stieß auf eine weitere Verpackung. Diesmal war es
Zeitungspapier.
«Das ist ein Mogelpaket!», rief er.
Wütend ließ er das Päckchen fallen.
«Du musst es auspacken!», schnauzte Lumpi ihn an.

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«Und wieso, wenn es ein Mogelpaket ist?»
«Ob es wirklich ein original Karl von Mogel ist, weißt du
erst, wenn du es vollständig ausgewickelt hast!»
Der kleine Vampir hob das Päckchen wieder auf. Unwillig
löste er weitere sechs Lagen Zeitungspapier. Die letzte
Umhüllung bestand aus Alufolie und enthielt... einen
Kieselstein!
«Du hattest Recht. Es ist ein Karl von Mogel!» Lumpi lachte
meckernd.
Der kleine Vampir trat einen Schritt zurück und beäugte
misstrauisch die restlichen Pakete. Plötzlich hellte sich seine
Miene auf und er nahm sich eins der Päckchen, die Anton
mitgebracht hatte.
«He, das ist unfair», rief Lumpi. «Du weißt genau, von wem
es stammt!»
«Eben!», sagte der kleine Vampir.
Kurz entschlossen riss er die Verpackung auf. Dann hielt er
freudestrahlend zwei Kassetten in die Höhe.
«Toll! Neue Kassetten für meinen Walkman!», rief er.
Den Walkman hatten ihm Antons Eltern geschenkt – damals,
auf der Weihnachtsfeier in Antons Wohnung.
«Das sind bestimmt nicht die Quietsch Boys, oder?», fragte
Olga.
Der kleine Vampir studierte die Einlegekarten. «Es ist
Filmmusik. Vampirfilmmusik!», ergänzte er mit leuchtenden
Augen.
«Von sämtlichen klassischen Vampirfilmen», sagte Anton.
«Sogar von dem alten Dracula-Film, dem mit Bela Lugosi!»
Dankbar lächelte der kleine Vampir Anton zu.
«Jetzt solltest du das da nehmen!» Lumpi zeigte auf das
größte Paket von allen, das gegen die Säule gelehnt stand. «Es
ist auch ganz bestimmt kein von Mogel!»
Zögernd ging der kleine Vampir auf das Paket zu, das mit
Blümchenpapier umwickelt war. Er löste die Tesafilmstreifen

66
und riss das Papier ab. Ein durchsichtiger Plastiksack kam zum
Vorschein.
Bevor Anton erkennen konnte, was er enthielt, rief der kleine
Vampir: «Aber ich esse überhaupt keine Kartoffeln!»
Nun sah auch Anton, dass der Sack mit schrumpligen
braunen Kartoffeln gefüllt war.
«Die sind nicht zum Essen», sagte Lumpi.
«Wofür dann?», fragte der kleine Vampir.
«Wenn du dieses Päckchen hier aufmachst –», Lumpi reichte
ihm ein längliches Päckchen, das ebenfalls in Blümchenpapier
eingeschlagen war, «wirst du den tieferen Sinn meines
Geschenks verstehen.»
Der kleine Vampir öffnete es. Ein Küchenmesser mit einer
leicht gekrümmten Schneide lag darin.
«Von nun an wirst du nie wieder Langeweile im Sarg
haben!»
Lumpi rieb sich vergnügt die Hände.
Der kleine Vampir sah ihn unsicher an. «Aber wenn ich
keine Kartoffeln esse, muss ich auch keine schälen, oder?»
«Es sei denn, du willst dich bei Familie Bohnsack für den
Küchendienst bewerben!» Olga kicherte.
«Wer spricht denn von Kartoffelschälen?», sagte Lumpi. «Du
sollst Kartoffel-Kunstwerke herstellen!»
«Kartoffel-Kunstwerke? Und wie das?»
«Du sollst mit diesem erstklassigen Messer etwas aus den
Kartoffeln schnitzen! Zum Beispiel einen kleinen
Kartoffelsarg. Oder einen Kartoffelgrabstein.»
Rüdiger kratzte sich hinter dem Ohr. «Ich weiß aber nicht, ob
ich dazu Lust habe.»
«Die Lust kommt beim Schnitzen», antwortete Lumpi.
«Hast du etwas dagegen, wenn ich mir die Beine vertrete,
Rüdiger?», fragte Olga.
«Du willst doch nicht schon abfliegen, oder?», antwortete der
kleine Vampir besorgt.

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«Nein. Nur ein bisschen tanzen.»
«Dagegen hab ich nichts!»
Olga ging zur Stereoanlage. Wie Anton erwartet hatte, spielte
sie die Beach Boys. Er kannte das Stück, aber den Titel wusste
er nicht mehr.
Mit einem zuckersüßen Lächeln kam Olga auf ihn zu. «Darf
ich bitten?»
Rat suchend sah Anton zu Rüdiger und Anna hinüber. Anna
machte ein Gesicht, als wäre es ihr egal, aber der kleine
Vampir nickte ihm aufmunternd zu.
«Na schön...», sagte er.

Hilf mir runter


Olga lief in die Mitte des Saals. Sie begann mit den Hüften
zu wackeln, den Kopf hin und her zu werfen und mit den
Armen zu wedeln, als würde sie Fenster putzen. Dazu sang sie
aus vollem Hals mit. Doch ihr Liedtext wich deutlich von dem
ab, was die Beach Boys sangen.
«Hilf mir runter, hilf, hilf mir runter», sang sie. «Hilf mir
runter, hilf, hilf mir runter...»
Plötzlich wusste Anton, welcher Song es war: «Help me,
Rhonda»! Er hatte Mühe, nicht zu lachen. Offenbar verstand
Olga kein Wort Englisch!

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«Wovon soll ich dir denn runterhelfen?», rief er ihr zu. «Von
deiner Stute?»
«Auf deine Hilfe verzichte ich!», zischte sie.
Aber wenigstens sang sie danach nicht mehr so lautstark mit.
Zu Antons Erleichterung machte sie auch keine Anstalten,
mit ihm eng zu tanzen, wie er befürchtet hatte. Eitel lächelnd
drehte sie sich im Kreis, vollführte kleine Hüpfer und klatschte
in die Hände. Zwischendurch verbeugte sie sich immer wieder,

69
als würde sie auf der Bühne stehen und den Applaus des
Publikums entgegennehmen.
Anton drehte sich so, dass er dem kleinen Vampir beim
Auspacken zusehen konnte. Mittlerweile hatte Rüdiger
ungefähr ein Drittel seiner Päckchen geöffnet. Die meisten
schienen Mogelpakete gewesen zu sein, denn er hatte sie
achtlos zur Seite geworfen. Seine richtigen Geschenke dagegen
hatte er zu den Stumpenkerzen auf den Boden gestellt. Anton
erkannte die beiden Kassetten, die er dem kleinen Vampir
geschenkt hatte, das Buch «Rabenschwarze Vampirgeschichten
zur Mitternacht» und das Vampirpuzzle, außerdem Lumpis
Kartoffelsack, das Küchenmesser und ein dickes rosa
Wollknäuel.
Eifrig packte der kleine Vampir weiter aus. Es kamen noch
ein Parfümfläschchen, ein dickes Buch, Stricknadeln, ein
Tuschkasten und ein Malblock dazu.
Als er sämtliche Pakete geöffnet hatte, rief Olga: «Na, was
sagst du zu meinem wundervollen Geschenk?»
«Hä?», machte der kleine Vampir.
Olga stellte die Musik ab. «Was sagst du zu meinem
wundervollen Geschenk?»
Der kleine Vampir blickte auf den Tuschkasten und den
Malblock. «Wenn du willst, dass ich dein Porträt male... also,
ich glaube nicht, dass ich darin sehr gut bin...»
«Mich porträtieren? Nie und nimmer!» Olga schnaufte
entrüstet durch die Nase. «Meine Züge wurden in der
Vergangenheit nur von den größten Malern verewigt! Unter
keinen Umständen würde ich zulassen, dass sich Laienhände
an meinem Bildnis versuchen!»
«Der Malblock und die Farben sind Geschenke von mir»,
warf Lumpi ein. «Für den Kartoffeldruck!»
«Aber ich mag überhaupt keine Kartoffeln. Auch keine
zerdrückten», sagte der kleine Vampir.

70
«Ich sprech nicht von Kartoffelmus, sondern von
Kartoffelkunst!», erwiderte Lumpi hochtrabend.
«Kartoffelkunst?»
«Allerdings! Du sollst mit den Kartoffeln drucken!»
«Und wie?»
«Zuerst schneidest du Buchstaben oder Zahlen oder auch ein
Muster in die Kartoffel. Danach bestreichst du sie mit Farbe
und drückst sie auf ein Stück Papier. So kannst du dir dein
eigenes Briefpapier herstellen, Einladungen, Visitenkarten...»
«O ja!», rief Olga. «Druck mir Visitenkarten, Rüdiger! Auf
denen steht dann: Olga Fräulein von Seifenschwein, Gruft
Schlotterstein, Alter Friedhof, Besuchszeiten von
Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang.»
«Für dich tu ich doch alles», lispelte der kleine Vampir.
«Ich glaube nicht, dass sich der Aufwand lohnen würde»,
bemerkte Anna.
«Und warum nicht?», fragte Olga.
«Hast du nicht selbst gesagt, du wärst nur auf der
Durchreise?»
«Pah!», fauchte Olga.
«Du hast mir immer noch nicht verraten, wie du meine
Geschenke findest!», wandte sie sich an den kleinen Vampir.
«Und welche sind es?»
«Die Wolle und die Stricknadeln!»
«Aber ich kann doch gar nicht stricken», murmelte er.
«Stricken ist schnell gelernt», antwortete sie. «Und du
möchtest mir bestimmt eine Kuscheldecke für meinen Sarg
stricken!»
Für einen Moment wirkte der kleine Vampir enttäuscht.
«Äh... ja», sagte er dann.
Er nahm das rosa Wollknäuel und drückte es an sich.
«Es duftet nach dir!», seufzte er.

71
Vor allem duften!, dachte Anton. Olgas Modergeruch, in den
sich ein süßlicher Parfümduft mischte, war ihm schon den
ganzen Abend lang auf die Geruchsnerven gegangen.
«Wie Lumpi gesagt hat: Von nun an wirst du nie mehr
Langeweile im Sarg haben!» Olga kicherte.
Sie zog einen Zettel aus ihrer Schürzentasche. «So, und jetzt
spielen wir meine Spiele!»
«Einen Augenblick!», rief der kleine Vampir.
Olga runzelte die Stirn. «Was ist denn noch?»
«Die Geschenke...» Er blickte in die Runde. «Ich wollte nur
sagen, dass ich mich sehr über eure Geschenke gefreut habe!»
«Ist doch nicht der Rede wert», meinte Lumpi.
Wie wahr!, dachte Anton. Lumpis Geschenke, allen voran
die Kartoffeln, waren wirklich nicht der Rede wert!

Nofretete
«Wir fangen mit Nofretete an», erklärte Olga.
«Nofretete? War das nicht diese schöne Königin in
Ägypten?», fragte der kleine Vampir.
«So schön war sie auch nicht», entgegnete Olga.
«Garantiert nicht so schön wie du», meinte Anna.
«Das stimmt! Nofretete hatte eine Hakennase und nur ein
Auge.»
«Ihre Büste hatte nur ein Auge», korrigierte Anton.
Olga wurde dunkelrot. «Ich wusste nicht, dass sie an der
Stelle auch ein Auge hatte.»
Anton musste sich auf die Zunge beißen, damit er ernst blieb.
«Eine Büste ist ein Standbild», erläuterte er.
Olga sah ihn irritiert an. Dann stieß sie ein schnippisches
«Und wenn schon!» aus, drehte sich um und verschwand in der
Kaffeestube. Mit einer schwarzen Reisetasche in der Hand
kehrte sie zurück.

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«Nofretete ist ein sehr anspruchsvolles Spiel», verkündete
sie. «Kein primitiver Zweikampf wie Lumpis Kartoffelduell.»
«Was? Willst du mich beleidigen?», schnaubte Lumpi.
«Nein. Ich will nur auf die Unterschiede hinweisen»,
antwortete sie. «Bei Nofretete müssen die Partner
zusammenarbeiten.»
Lumpi verzog die Mundwinkel. «Das klingt unvampirisch.
Wir Vampire sind Einzelgänger.»
«Und wie soll diese... Zusammenarbeit funktionieren?»,
fragte Anna wenig begeistert. Anscheinend hatte auch sie keine
gute Meinung über Teamarbeit.
«Zuerst müssen die Partner entscheiden, wer zur Mumie
gemacht werden soll», sagte Olga. «Danach kommt die
Herstellung der Mumie.»
«Richtig mit Einbalsamieren und so?» Nun leuchteten
Lumpis Augen.
«Ja, wie soll die Mumie hergestellt werden?», fragte Anton
misstrauisch.
«Ich wette, Olga hat ein paar von den original
Mumientüchern dabei!» Der kleine Vampir deutete auf die
Tasche. «Ihr Vater sammelte Sachen aus dem alten Ägypten!»
«Keine... Sachen!» Olga sah ihn tadelnd an. «Es waren
Schätze von unermesslichem Wert, die er in seiner Sammlung
hatte! Aber diese Schätze wurden alle vernichtet, als unser
Schloss Seifenschwein...» Sie brach ab und schluchzte.
Betreten blickten Lumpi, Rüdiger und Anna zu Boden.
Olga stieß einen tiefen Seufzer aus.
«Ja, und deshalb müssen wir uns leider mit diesem hier
begnügen.»
Sie griff in die Reisetasche und holte... vier Rollen
Toilettenpapier heraus.
Jetzt konnte Anton sich nicht mehr beherrschen. Er lachte,
bis er kaum noch Luft bekam.

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«Ich weiß nicht, was du an dem heimtückischen Anschlag
auf das Schloss von Olgas Familie so lustig findest!»,
schimpfte der kleine Vampir.
«Darüber lache ich nicht», brachte Anton mühsam heraus.
«Sondern?», donnerte Lumpi.
«Über das...», er musste wieder lachen, «das Papier!»
Wenn er «Toilettenpapier» gesagt hätte, wäre er vor Lachen
geplatzt, fürchtete er.
«Ich finde an dem Papier nichts Lustiges», erwiderte Olga
kühl. «Es ist aus gutem weißem Zellstoff, ordentlich aufgerollt
und unbenutzt.»
«Hoffentlich!», ächzte Anton und hielt sich den Bauch, der
ihm vom Lachen schon wehtat.
«Und obendrein lässt es sich gut wickeln», ergänzte Olga.
«Wie wäre es mit uns beiden, Rüdiger?»
«Aber immer!», rief der kleine Vampir.
«Wir treten gegen Anna und Anton an», bestimmte sie.
«Und ich?», rief Lumpi.
«Du bist der Schiedsrichter», sagte Olga.
«Nur Schiedsrichter?»
«Der Schiedsrichter ist der wichtigste Mann überhaupt»,
flötete Olga.
«Ehrlich?» Lumpi grinste.
«Ja!» Sie reichte Anna eine Rolle Toilettenpapier.
«Du gibst den Startschuss!», sagte sie zu Lumpi.
«Und womit?», fragte er.
«Womit du willst.»
Olga tuschelte mit dem kleinen Vampir, der daraufhin das
Toilettenpapier ergriff.
«Willst du die Mumie sein?», fragte Anna flüsternd.
«Ich möchte lieber wickeln», sagte Anton.
Die Vorstellung, von vier Vampiren umgeben zu sein und
sich nicht rühren zu können, weil er von Kopf bis Fuß mit
Toilettenpapier umwickelt war, fand er wenig verlockend.

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«Gut. Dann bin ich die Mumie.» Anna lächelte ihm zu.
«Achtung, fertig, auf die Plätze! Alle an den Start! Seid ihr
so weit? Eins, zwei, drei, fünf, sechs, sieben...»
«Wann geht es endlich los?», murrte Olga.
«Jetzt!» Lumpi klatschte in die Hände.
Der kleine Vampir sank vor Olga auf die Knie und begann
das Papier um ihre Lackschuhe zu wickeln.
Anton bückte sich und schlang das Papier um Annas uralt
aussehende Schnallenschuhe und um ihre Fußgelenke. Dabei
spürte er, wie sein Herz laut klopfte. Noch nie war er ihr so
nahe gekommen...
Zum Glück stand Anna vollkommen still und lenkte ihn
durch nichts ab.
Umso lauter und nerviger war Olga.
«Huhu, das kitzelt!», kreischte sie immer wieder.
Dazwischen rief sie: «Na los, Tempo! Dalli, dalli!»
Anton freute sich schon auf den Moment, wenn der kleine
Vampir Olgas Kopf – und vor allem ihren Mund – erreicht
haben würde! Plötzlich stieß Olga einen gellenden Schrei aus.
Anton hielt inne und sah zu ihr hinüber.

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«Das Papier!», kreischte sie. «Du hast das Papier abgerissen,
Rüdiger!»
«Hab ich nicht», verteidigte sich der kleine Vampir. «Du hast
deinen Arm bewegt und dabei ist es abgerissen.»
«Als Schiedsrichter kann ich bestätigen, dass Rüdiger die
Wahrheit sagt», verkündete Lumpi.
«Ihr steckt ja alle unter einer Decke!» Wütend schüttelte
Olga ihre Arme und Beine. Die Umhüllung aus Toilettenpapier
fiel ab und blieb in Ringen um ihre Füße liegen.
«Warum machst du denn das ganze schöne Papier wieder ab,
Olga?», jammerte der kleine Vampir.
«Weil wir neu anfangen müssen», zischte sie. «Mumien
können nicht geflickt werden. – Und Anna und Anton müssen
auch nochmal anfangen!», fügte sie hinzu.
«Wieso wir?», rief Anna. «Uns ist das Papier nicht
abgerissen!»
«Das eben war nur die Übungsrunde», erwiderte Olga. «Das
richtige Spiel beginnt erst jetzt.»

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«Aber ohne mich!» Anna setzte eine trotzige Miene auf.
«Und ohne mich», pflichtete Anton ihr bei. «Olga hätte
vorher ankündigen müssen, dass es nur eine Übungsrunde
war.»
«Als Schiedsrichter gebe ich Anton Recht», sagte Lumpi.
«Eine Übungsrunde muss vorher angekündigt werden.»
«Ha!» Olga warf ihm einen vernichtenden Blick zu. «Mit
euch bringt mir das Spielen keinen Spaß!»
Sie stieg über das Toilettenpapier hinweg und stolzierte zur
Stereoanlage.
«Komm, Rüdiger», sagte sie. «Wir tanzen! Zur Ehre deines
Geburtstages!»
«Ja, tanzen wir!», rief der kleine Vampir.

Was? Wer? Wo?


Olga drehte an den Reglern und «Help me, Rhonda» erklang.
Sie und der kleine Vampir fingen an zu tanzen.
«Dauernd spielt ihr dieses blöde ‹Hilf mir runter›», stöhnte
Lumpi. «Ich will endlich meine Transsylvanischen
Dorfkiebitze hören!»
«Aber heute ist mein Geburtstag!», sagte der kleine Vampir.
«Da bestimme ich, welche Musik gespielt wird!»
«Du spielst die Quietsch Boys doch nur wegen Olga!»
«Überhaupt nicht. Die Quietsch Boys sind meine
Lieblingsgruppe.»
«Seit heute Abend, wie?»
«Beach Boys», warf Anton ein, der die Entstellung des
Namens nicht länger ertragen konnte.
«Bietsch Boys?», wiederholte Olga. «Was für ein
Schwachsinn soll das denn sein?»
«Es ist Englisch. Übersetzt heißt es: Die Strandjungen.»

77
«Die Strandjungen?» Olga machte ein Gesicht, als hätte sie
auf eine Zwiebel gebissen – eine Knoblauchzwiebel.
«Anton hat mir auch gesagt, wovon die Texte in Wirklichkeit
handeln», sagte Anna.
Sie hatte sich in der Zwischenzeit aus ihrer Papierumhüllung
befreit.
«Und wovon?», fragte Olga.
«Von der warmen kalifornischen Sonne.» Anton grinste.
«Von sonnengebräunter Haut, vom Reiten auf den Wellen, mit
der Sonne im Haar...» Rüdiger und Lumpi schrien auf.
«Das behauptest du nur, um mich zu ärgern!», fauchte Olga.
«Wenn du mir nicht glaubst, kannst du ja im Wörterbuch
nachsehen», schlug Anton vor.
«Ich hab dir doch gesagt, dass die Quietsch Boys nichts
taugen», frohlockte Lumpi. «Los, jetzt hören wir die
Transsylvanischen Dorfkiebitze!»
Er ging zur Stereoanlage und stellte die Musik ab. Doch
bevor er seine Dorfkiebitze spielen konnte, hatte Rüdiger ihn
zur Seite geschubst. Das ließ sich Lumpi natürlich nicht
gefallen.
Er versetzte dem kleinen Vampir einen Stoß. Ein wildes
Gerangel entstand, bei dem auch Olga kräftig mitmischte.
«Das kann dauern, bis die sich geeinigt haben», sagte Anna
zu Anton. «Am besten gucken wir uns so lange etwas
Erfreulicheres an – zum Beispiel den Mond!»
Sie ging ans Fenster. Anton warf einen Blick zu Rüdiger
hinüber. Aber der kleine Vampir beachtete ihn überhaupt nicht
und so folgte er Anna.
Sie hatte sich inzwischen auf das Fensterbrett gesetzt. Die
Arme um die Knie geschlungen, blickte sie sehnsüchtig in den
Nachthimmel hinauf.
«Weißt du noch, damals in der Ruine im Jammertal?»,
flüsterte sie.
«Was soll ich wissen?», fragte er.

78
«Wie hell der Mond schien! Und wie romantisch es in dem
verwilderten Garten war, nur du und ich...»
«Nur du und ich? Hast du vergessen, dass plötzlich Tante
Dorothee auftauchte?»
«Nein.» Anna lächelte. «Aber das hat mir die einmalige
Gelegenheit gegeben, dir das Leben zu retten!»
«So einmalig war die Gelegenheit vielleicht gar nicht...»,
sagte Anton beklommen und zeigte auf die Straße. Gerade bog
ein alter Buckel-Volvo auf den Parkplatz vor der Villa ein.
«Wenn mich nicht alles täuscht, ist das Herr Schwanenhals!»
Anna gab einen erstickten Schrei von sich. «Das schwarze
Auto gehört Herrn Schwanenhals?»
«Jedenfalls hat er so einen alten Buckel-Volvo. Kannst du
erkennen, wer in dem Auto sitzt?»
Anna spähte auf den von einer Laterne erleuchteten
Parkplatz.
«Der Mann am Steuer könnte Herr Schwanenhals sein»,
sagte sie. «Und die Frau daneben...» Sie brach ab.
«Ist es Tante Dorothee?», fragte Anton.
«Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen, weil sie sich mit einem
Fächer Luft zufächelt», antwortete Anna. «Und Tante Dorothee
hat keinen Fächer.»
«Aber Herr Schwanenhals könnte ihr einen geschenkt
haben.»
Anna gab keine Antwort. Ein paar Minuten vergingen, die
Anton wie eine Ewigkeit vorkamen.
«Jetzt hat die Frau ihren Fächer heruntergenommen...»,
flüsterte Anna.
«Und?» Antons Herz klopfte zum Zerspringen.
«Es ist Tante Dorothee!» Anna glitt vom Fensterbrett.
«Tante Dorothee! Herr Schwanenhals!», alarmierte sie
Rüdiger, Olga und Lumpi, die sich noch immer um die
Stereoanlage stritten.
«Was? Wer? Wo?», schrien die Vampire durcheinander.

79
«Tante Dorothee und Herr Schwanenhals! Sie sitzen im
Auto!», rief Anna. «Aber sie kommen bestimmt gleich die
Treppen hoch!»
Olga und Lumpi flüchteten in Richtung Umkleideraum.
Anna lief hinterher. Der kleine Vampir begann in fieberhafter
Eile, seine Geschenke in Olgas Reisetasche zu stopfen.
«Warum hilfst du mir nicht, Anton?», schrie er verzweifelt.
Anton setzte seinen Rucksack auf. «Wir müssen weg! Los,
komm, Rüdiger!»
«Aber meine Geschenke!», heulte der kleine Vampir. «Und
meine Kerzen! Es bringt Unglück, wenn ich die hier lasse!»
Anton blies die Stumpenkerzen aus und warf sie in die
Reisetasche. Dann lief er zu der Tür, durch die Anna, Lumpi
und Olga verschwunden waren.
«Komm, Rüdiger!», rief er.
Der kleine Vampir hob die Reisetasche hoch. Doch sie war
so prall gefüllt und so schwer, dass der eine Griff abriss. Die
Tasche klappte auf und der gesamte Inhalt fiel heraus. Der
kleine Vampir stolperte über eine Kartoffel und schlug der
Länge nach hin. Aber er stand sofort wieder auf und raffte
seine Geschenke zusammen.
«Lass doch die Geschenke liegen!», drängte Anton.
«Niemals!», erwiderte der Vampir. «Auf die hab ich mich
mehr als einhundertfünfzig Jahre lang gefreut!»
Seufzend half Anton ihm ein zweites Mal. Aber wenigstens
verzichtete der kleine Vampir diesmal darauf, die Kartoffeln
einzupacken.
Plötzlich hörten sie im Treppenhaus das Klick-Klack von
Stöckelschuhen und dann sagte eine Frauenstimme: «In diesem
Haus ist man wirklich ungestört!»
Anton rieselte ein Schauder über den Rücken – wie jedes
Mal, wenn er die Stimme von Tante Dorothee hörte.

80
«Am Wochenende ist es sehr ruhig», bestätigte Herr
Schwanenhals. «Während der Woche herrscht hier allerdings
mehr Leben.»
«Mehr Leben...», trällerte Tante Dorothee. «Wie bezaubernd
das aus Ihrem Mund klingt, Herr von Schwanenhals!»
«Schwanenhals.» Herr Schwanenhals räusperte sich. «Kein
von – bedauerlicherweise!»
Nun klapperte ein Schlüsselbund.
Der kleine Vampir ergriff die Tasche mit beiden Händen und
sie rannten los. Als sie den Flur erreicht hatten, wurden im
Tanzsaal die Strahler eingeschaltet. Schnell machte Anton die
Tür hinter ihnen zu.
«Kein Licht! Ich bitte Sie!», hörte er Tante Dorothee noch
rufen.

Ein Tänzchen wagen


Im Umkleideraum angekommen, schob Anton aufatmend
den Riegel vor.
«Das war knapp!», sagte er.
Da stieß der kleine Vampir einen markerschütternden Schrei
aus.
Erschrocken fuhr Anton herum.
«Mein Umhang!» Der kleine Vampir deutete auf die leere
Bank. «Jemand hat ihn gestohlen!»
Ein leises Lachen ertönte. Anton blickte zum Fenster und sah
eine dunkle Gestalt, die sich vor dem Nachthimmel
abzeichnete. Gleich darauf schwebte Anna durch das Fenster
herein.
«Es war sträflicher Leichtsinn, die Umhänge hier liegen zu
lassen!», hielt sie Rüdiger vor.
«Olga hat gesagt, die alten Lappen würden nicht zu meiner
Geburtstagsparty passen», antwortete Rüdiger kleinlaut.

81
Anna zog unter ihrem Umhang einen zweiten hervor und
warf ihn Rüdiger zu.
«Es stimmt, unsere Umhänge sehen nicht besonders elegant
aus», sagte sie. «Aber ich möchte kein Vampir ohne
Vampirumhang sein!»
«Ich auch nicht.» Hastig streifte sich der kleine Vampir
seinen Umhang über.
«Wollen wir zugucken, wie es mit Tante Dorothee und Herrn
Schwanenhals weitergeht?», schlug Anna vor und lächelte
Anton zu.
«Hm, ich weiß nicht», murmelte er.
«Was weißt du nicht?»
«Ob das eine gute Idee ist...»
«Bist du nicht neugierig, ob sie ihn beißt?», fragte der kleine
Vampir und lachte krächzend.
Anton erbleichte. «Du meinst, sie will bei ihm...?»
«Logisch!»
«Unsinn!», sagte Anna und gab dem kleinen Vampir einen
Rippenstoß. «Möchtest du, dass Anton einen falschen Eindruck
von unserer Familie bekommt?»
«Au!», jaulte der kleine Vampir und rieb sich die Seite.
«Kommst du, Anton?» Anna schaute ihn bittend an. «Nichts
macht so viel Spaß wie zwei frisch Verliebte zu beobachten!»
«Und was ist mit meiner Tasche?», fragte der kleine Vampir.
«Hilfst du mir nicht, sie in die Gruft zu bringen?»
«Die verstecken wir erst mal im Gebüsch», antwortete sie.
Nachdem Anna und Rüdiger die Tasche unter eine Hecke
geschoben hatten, flogen sie zu einem Fenster im ersten Stock
der Villa, vor dem sich ein breiter Sims befand. Anton setzte
sich dazu und spähte in den Tanzsaal, Es brannten nur noch die
Teelichter und so dauerte es eine Weile, bis sich seine Augen
an das Halbdunkel gewöhnt hatten.

82
Aber dann sah er Tante Dorothee: Groß und massig lehnte
sie am Klavier, mit dem Fächer in der Hand. Sie trug ein
bodenlanges schwarzes Kleid, eine rote Stola und irgendetwas
Funkelndes in ihrem hochgetürmten Haar. Ob ihre Haut

83
tatsächlich faltig wie eine Ziehharmonika war, konnte er nicht
erkennen.
«Wenn ich die zu fassen kriege, die das hier angerichtet
haben!» Durch ein Fenster, das Herr Schwanenhals in der
Zwischenzeit geöffnet hatte, drang seine Stimme klar und
deutlich nach draußen. «Meinen Tanzsaal in eine Müllhalde zu
verwandeln!»
Er versuchte, die Zeitungen, das Einwickelpapier, die Rollen
Toilettenpapier und die Kartoffeln zu einem Haufen
zusammenzuschieben.
«Unordnung stört mich nicht.» Tante Dorothee gab ein
trillerndes Lachen von sich. «Im Gegenteil. Ich finde, Sie
haben den Raum äußerst stimmungsvoll hergerichtet!»
«Stimmungsvoll?», staunte Herr Schwanenhals.
«O ja! Die vielen kleinen Lichter, die schwarze Verkleidung
der Säule... ich fühle mich bei Ihnen schon wie zu Hause!»
«Besten Dank, Frau von Seifenschwein!»
«Von Schlotterstein-Seifenschwein, wenn ich bitten darf!»
«Selbstverständlich. Ich hoffe, Sie können mir meinen Fehler
noch einmal verzeihen, Frau von Schlotterstein-
Seifenschwein?»
«Aber nur, wenn Sie jetzt ein Tänzchen mit mir wagen!»
Tante Dorothee breitete die Arme aus und machte ein paar
tänzelnde Schritte.
«Wie ich sehe, haben Sie bereits Ihre Stereoanlage
eingeschaltet!» Sie trippelte zur Stereoanlage, bewegte ein paar
Regler – und Lumpis transsylvanische Volksmusik erklang!
Mit einem strahlenden Lächeln, bei dem sogar Anton, der
mindestens zwanzig Meter entfernt war, ihre Vampirzähne
erkennen konnte, schaute sie Herrn Schwanenhals an.
«Das ist meine Lieblingsmusik, Herr Schwanenhals! Wie
konnten Sie das wissen?»
Er räusperte sich. «Aber ich –»

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«Kein Aber», sagte Tante Dorothee. «Wir tanzen! Kommen
Sie!»
Wie ein Schlafwandler ging Herr Schwanenhals auf sie zu.
Er verbeugte sich und legte vorschriftsmäßig seine rechte Hand
unter Tante Dorothees linkes Schulterblatt.
In dem Moment, als Herr Schwanenhals Anton, Anna und
Rüdiger den Rücken zukehrte, blickte Tante Dorothee plötzlich
in ihre Richtung. Und dann machte sie ihnen mit der Hand ein
Zeichen, dass sie verschwinden sollten!
Anton stockte das Blut in den Adern. Anna und Rüdiger
ließen sich lautlos vom Fenstersims gleiten. Ziemlich verstört
folgte Anton ihnen. Sie landeten vor der Hecke.
«Hat Tante Dorothee etwa die ganze Zeit gewusst, dass wir
hier waren?», fragte Anton mit zitternder Stimme.
«Sieht ganz danach aus», murmelte der kleine Vampir.
«Und nun weiß sie auch, dass wir Rüdigers Geburtstag
gefeiert haben – trotz ihres Verbots», sagte Anna.
«Oje, meine Geschenke!», fiel dem kleinen Vampir ein. «Die
wird mir Tante Dorothee alle wieder abnehmen!»
«Wir müssen sie irgendwo verstecken», meinte Anna.
«Und wo?», jammerte der kleine Vampir.
«Ich hab’s!», sagte Anna. «Wir bringen sie zu Anton!»
«He...», setzte Anton an, aber der kleine Vampir rief
aufgeregt: «Ja, genau. Diesen Geburtstagswunsch kannst du
mir nicht abschlagen!»
Anton stöhnte. «Ich hab auch so viel Platz im Schrank...»
«Wusste ich’s doch!», freute sich der kleine Vampir. «Wer
wirklich dein Freund ist, merkst du erst, wenn du Geburtstag
hast!»
«Oder deine Freundin...», sagte Anna und machte eine
Bewegung, als würde sie ihre Schürze glätten. Dabei trug sie
gar keine Schürze, sondern ein eng anliegendes dunkelrotes
Samtkleid.

85
Der kleine Vampir tat, als hätte er die Anspielung auf Olga
nicht verstanden.
«Fliegen wir zu Anton!», rief er und breitete die Arme unter
dem Umhang aus.
«Oder sind deine Eltern schon wieder zu Hause?», fiel ihm
noch ein.
«Das glaube ich nicht. Nach dem Theater wollten sie noch
ein Glas Wein trinken gehen.»
«Prima!» Der kleine Vampir ergriff das eine Ende der
Tasche, Anna das andere und sie flogen los.

Sag die Unwahrheit


Zu Hause räumte Anton das unterste Fach seines
Kleiderschranks leer und der kleine Vampir legte seine
Geburtstagsgeschenke und die elf dicken Kerzen hinein. Dabei
schluchzte er vor sich hin.
«Du kriegst sie ja wieder!», sagte Anna.
«Und hoffentlich bald», ergänzte Anton.
«Aber ich hab mich so darauf gefreut, von Olga das Stricken
zu lernen», antwortete der kleine Vampir und drückte das rosa
Wollknäuel an sich. «Bestimmt bin ich völlig unbegabt und
dann dauert es ein halbes Jahr, bis ich es gelernt habe. Und so
lange muss Olga bei uns in der Gruft bleiben und mir
Strickunterricht geben!»
«Muss sie überhaupt nicht», erwiderte Anna. «Von mir
kannst du das Stricken in zwei Nächten lernen – im
Schnellkurs!»
«Wer sagt, dass ich es im Schnellkurs lernen will?», knurrte
der kleine Vampir. «Schließlich hab ich noch die ganze
Ewigkeit vor mir! Ich muss mich mit überhaupt nichts
beeilen.»

86
«Doch», widersprach Anton. «Mit dem Abholen der
Geschenke musst du dich beeilen!»
«Das versteht sich von selbst», sagte der kleine Vampir.
Behutsam legte er das Wollknäuel zu den übrigen
Geschenken. Anton schob zur Tarnung ein paar dicke Pullover
davor.
«Feiern wir in eurem Wohnzimmer weiter?», fragte der
kleine Vampir und sah Anton erwartungsvoll an.
«Au ja!», rief Anna. «Dann können wir meine Spiele
spielen!»
Anton sah auf seine Armbanduhr. Es war zehn Minuten nach
zehn. «Für Spiele ist es schon zu spät.»
«Aber meine Spiele machen keinen Lärm», sagte Anna.
«Bitte, Anton! Sonst ist Rüdiger mit Sicherheit enttäuscht.»
Der kleine Vampir nickte eifrig. «Wahnsinnig enttäuscht.
Immerhin ist heute mein Geburtstag!»
«Na gut», gab Anton nach. «Aber wir feiern nicht im
Wohnzimmer, sondern bei mir!»
«Juhu! Wir spielen meine Spiele!» Anna hüpfte vor Freude
ein paar Mal auf der Stelle.
«Psst! Nicht so laut!», ermahnte Anton sie. «Frau Miesmann
unter mir behauptet immer, dass sie schwerhörig ist. Aber
wenn ich Besuch bekomme, hat sie Ohren wie ein Luchs.»
«Oder wie ein Vampir.» Rüdiger kicherte. «Gerade hab ich
gehört, wie sich die Miesfrau in ihrem Sarg... äh... Bett
umgedreht hat! Die Sprungfedern haben gequietscht!»
«Apropos quietschen...», sagte Anna. «Können wir Musik
einschalten?»
«Anna, du hast heute Abend die besten Ideen!», lobte
Rüdiger. «Wir legen die Vampirkassette ein, die mir Anton
zum Geburtstag geschenkt hat!»
«Aber dann müssen wir ja das ganze Fach wieder
ausräumen», murrte Anton.

87
«Na und?» Der kleine Vampir wühlte unter seinen
Geschenken, bis er die Kassette gefunden hatte. «Hier!»
Anton legte sie in seinen Recorder. Die Titelmusik aus
Nosferatu erklang. Mit andächtigen Gesichtern lauschten Anna
und Rüdiger der unheimlichen Musik und dem dumpfen
Herzschlag, der sie begleitete.
«Das ist die schönste Musik, die ich jemals gehört habe»,
flüsterte Anna. «Schenkst du mir auch so eine Kassette, wenn
ich Geburtstag habe?»
«Ich dachte, du bist dagegen, dass Vampire ihren Geburtstag
feiern?», wunderte sich Anton.
«Ich war dagegen. Aber wenn du mir versprichst, dass du
kommst, feiere ich dieses Jahr meinen Geburtstag – ganz egal,
was Tante Dorothee oder meine anderen Verwandten dazu
sagen!»
Anton räusperte sich. «Und wann hast du Geburtstag?»
«An einem richtig dämlichen Tag», platzte der kleine Vampir
heraus.
«Überhaupt nicht!», fauchte Anna.
«Ist der 18. Dezember etwa kein dämlicher Tag?»
«Was soll daran dämlich sein?»
«Sechs Nächte später ist Weihnachten! Und man kriegt nicht
zweimal hintereinander Geschenke.»
«Wir feiern doch sowieso kein Weihnachten!»
«Wer weiß?», sagte der kleine Vampir. «Seit heute feiern wir
ja auch unsere Geburtstage. Außerdem haben wir schon mal
Weihnachten gefeiert – bei Anton! Vielleicht werden wir
dieses Jahr wieder eingeladen, wenn Anton seine Eltern
ordentlich bittet.»
Anna warf einen Blick auf den Wecker, der neben dem Bett
stand. «Wir sollten endlich mit den Spielen anfangen. Es sind
nur noch 99 Minuten bis Mitternacht. Und um Mitternacht ist
Rüdigers Geburtstag vorbei!»

88
«Ja, schieß los!» Der Vampir machte eine ungeduldige
Geste.
«Mein erstes Spiel heißt: Sag die Unwahrheit», begann
Anna. «Bei diesem Spiel muss gelogen werden. Dagegen darf
man bei dem Spiel Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit nur
die Wahrheit sagen. Mit welchem wollen wir anfangen?»
«Mit dem, in dem man lügen muss.» Rüdiger kicherte.
«Und wie spielt man das?», fragte Anton.
«Als Erstes brauchen wir eine bequeme Unterlage.» Anna
nahm Antons Kopfkissen und legte es auf den Teppich.
Im ersten Moment wollte Anton protestieren. Aber weil es
Rüdigers Geburtstag war, schluckte er seinen Ärger herunter.
«Solange der Spieler auf diesem Kissen sitzt, darf er nur die
Unwahrheit sagen», erklärte Anna.
«Wir stellen ihm jeder fünf Fragen, die er mit einer Lüge
beantworten muss. Wenn er die Wahrheit sagt, hat er verloren
und scheidet aus.»
«Uff, das klingt kompliziert», meinte der kleine Vampir. «Ich
glaub, ich lass Anton den Vortritt.»
Bereitwillig setzte sich Anton auf das Kissen. Zehn Lügen zu
erzählen dürfte nicht allzu schwierig sein, dachte er.
Anna und Rüdiger ließen sich ihm gegenüber auf dem
Teppich nieder.
«Willst du ihm zuerst die Fragen stellen?», wandte sich Anna
an den kleinen Vampir.
Rüdiger schüttelte den Kopf.
«Gut, dann fange ich an.» Anna sammelte sich einen
Moment, bevor sie fragte: «Wie heißt du?»
«Fritz», sagte Anton. «Fritz von Mauseloch.»
«Aha. Und hast du schon mal einen Vampir getroffen, Fritz
von Mauseloch?»
«Nein», log Anton.
«Du hast noch nie einen Vampir getroffen?»
«Nein!»

89
«Das ist bestimmt gelogen, oder?»
Anton zögerte einen Moment. «Ja.»
«Du hast verloren!», rief Anna.
Verwirrt kratzte Anton sich am Kopf. «Was ist denn nun
passiert?»
«Deine ersten drei Antworten waren richtig», sagte Anna.
«Aber auf die Frage, ob deine Antworten gelogen waren,
hättest du wieder lügen und Nein sagen müssen.»
«Hahaha!», lachte der kleine Vampir. «Ganz schön fies, das
Spiel. Achtung, jetzt bin ich dran!»
Anton stand auf und der kleine Vampir setzte sich.
«Wie heißt du?», fragte Anna.
«August von Kabeljau», antwortete der kleine Vampir.
«Hast du heute Geburtstag, August von Kabeljau?»
«Nein.»
«Du hast auch keine Geburtstagsgeschenke bekommen?»
«Nein.»
«Dann sind die Kassette, das Buch, das Parfüm, das rosa
Wollknäuel und die Stricknadeln für mich?»
«Nein!», schrie der kleine Vampir.
«Verloren!» Diesmal war es Anton, der lachte.
«Verloren», bestätigte Anna.
«Wieso denn das?», knurrte der kleine Vampir.
«Du hättest Ja sagen müssen.»
Der kleine Vampir schnitt eine Grimasse. «Das Spiel ätzt!
Ich hab keine Lust mehr!»
«Ich finde das Spiel auch nicht gut», sagte Anton.
«Wollt ihr lieber Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit
spielen?», fragte Anna. «Es könnte ziemlich... nun... persönlich
werden.»
«Jedenfalls hab ich genug vom Lügen», brummte der kleine
Vampir.
«Und wie spielt man Nichts als die Wahrheit!», wollte Anton
wissen.

90
«Fast genauso. Der Unterschied ist nur, dass du immer die
Wahrheit sagen musst.»
«Aber diesmal ist Anna dran und ich stell die Fragen!», rief
der kleine Vampir.
«Von mir aus.» Sie setzte sich auf das Kissen. «Fang an!»

Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit


Doch anstatt Anna durch seine Fragen in Verlegenheit zu
bringen, kratzte der kleine Vampir sich am Kinn, verdrehte die
Augen und zupfte an seinem Ohrläppchen.
«Was ist?», drängte Anna.
«Ich denk nach!», zischte er.
Wieder vergingen einige Minuten. Schließlich gab der kleine
Vampir einen lauten Schnaufer von sich und fragte: «Wie heißt
dein bester Freund?»
«Anton Bohnsack», sagte Anna.
«Bist du verliebt in ihn?»
«Das geht zu weit!», empörte sich Anton.

Anna war rot geworden. «Ja», hauchte sie.

91
«Und möchtest du, dass Anton auch ein Vampir wird?»,
fragte der kleine Vampir.
«Nein», antwortete sie.
«Das war gelogen!», rief der kleine Vampir. «Erst vor
kurzem hast du gesagt, wie schön es wäre, abends
aufzuwachen und in dem Sarg neben dir Anton zu sehen.»
Anna senkte beschämt den Kopf.
«Stimmt das?», fragte Anton.
«Ja», gab sie zu.
«He, du kannst Anna keine Fragen mehr stellen», rief der
kleine Vampir. «Sie hat verloren und ist ausgeschieden!»
Anna stand auf.
«Du bist dran, Anton!» Der kleiner Vampir zeigte auf das
Kissen.
«Schon wieder?», brummte er.
«Was heißt schon wieder? Beim Wahrheitsspiel warst du
überhaupt noch nicht dran!»
Mit einem Seufzer ließ Anton sich auf das Kissen sinken.
«Wie heißt deine beste Freundin?», fragte der kleine Vampir.
Anton zögerte. Wenn er «Olga von Seifenschwein» sagte,
wäre das eine ganz offensichtliche Lüge. Dann würde er
ausscheiden und sich alle weiteren Fragen ersparen. Aber
gleichzeitig hätte er es sich mit Anna und mit Rüdiger
verdorben...
«Anna von Schlotterstein», antwortete er.
Anna atmete schnell und heftig.
«Und möchtest du mit ihr zusammenbleiben?»
«Das ist privat!», versuchte Anton sich vor der Antwort zu
drücken.
«Anna hat angekündigt, dass es bei dem Wahrheitsspiel
ziemlich persönlich wird», entgegnete der kleine Vampir.
«Also musst du meine Frage beantworten!»
Anton hustete verlegen. «Ja.»

92
«Ich hab dich nicht verstanden», sagte der kleine Vampir.
«Möchtest du mit Anna zusammenbleiben?»
«Ja!», antwortete Anton. «Und mit dir auch», fügte er hinzu.
«Ich möchte euch beide als Freunde behalten.»
«Das kannst du auch», sagte Anna mit einem zärtlichen
Lächeln. «Selbst wenn du älter wirst und wir nicht.»
«Keine Einmischung!», verwarnte sie der kleine Vampir.
«Ich hab noch drei Fragen übrig.»
Doch anscheinend war ihm der Stoff für seine Fragen
ausgegangen, denn er fing wieder an, die Augen zu verdrehen
und sich am Kinn zu kratzen.
Endlich fragte er: «Warum willst du kein Vampir werden?»
«Weil ich mich wohl fühle, so wie ich bin.»
«Hast du noch nie das Sprichwort gehört: Man soll nie etwas
ablehnen, das man nicht kennt?»
«Doch.»
«Was: doch?»
«Ich hab das Sprichwort schon gehört.»
«Ja, und was sagst du dazu?»
«Stopp!», rief Anna. «Du hast bereits fünf Fragen gestellt.»
«Anton hat meine letzte Frage noch nicht beantwortet!»
«Hat er wohl! Er hat gesagt, dass ihm das Sprichwort
bekannt ist.»
«Aber ich wollte wissen, was er von dem Sprichwort hält!»
«In dem Fall hättest du deine Frage besser formulieren
müssen.» Anna kicherte. «So, jetzt darf ich Anton die Fragen
stellen!»
Sie strich ein paar Haarsträhnen aus ihrer Stirn. Mit einem
koketten Lächeln fragte sie: «Magst du lieber blonde oder
dunkelhaarige Mädchen?»
«Die Haarfarbe ist mir egal», antwortete er wahrheitsgemäß.
«Und die Augenfarbe?»
«Auch.»

93
«Magst du lieber schüchterne oder draufgängerische
Mädchen?»
«Das kommt auf das Mädchen an.»
«Findest du es wichtig, dass sie gut aussieht?»
«Ja!», rief der kleine Vampir.
«Sei still!», fuhr Anna ihn an. «Ich will wissen, was Anton
denkt.»
«Ich finde es nicht sehr wichtig», erklärte Anton.
«Findest du es wichtig, dass sie schöne Sachen zum
Anziehen hat?»
«Nein. Am wichtigsten finde ich, wie sie in ihrem Wesen
ist», sagte Anton. «Aber ich hab natürlich nichts dagegen,
wenn ein Mädchen gut aussieht – so wie du!»
Anna schaute ihn mit großen Augen an. «Du findest, dass ich
gut aussehe?»
«Ja! Sogar sehr gut!»
«Halt!», mischte sich der kleine Vampir ein. «Das war Annas
sechste Frage!»
Anna zog ein Stofftaschentuch aus ihrem Samtbeutel und
putzte sich gerührt die Nase. Hatte sie wirklich geglaubt, Anton
fände sie hässlich?
«Los, Anton, du kannst wieder aufstehen», krächzte der
kleine Vampir. «Jetzt stellst du die Fragen.»
Anton erhob sich. «Wer möchte anfangen?»
«Ich!», rief der Vampir.
Anna reagierte nicht. Mit angespannter Miene lauschte sie.
«Hörst du etwas?», fragte Anton.
«Es klingt, als würde die Wohnungstür aufgeschlossen...»
«Das müssen meine Eltern sein!», sagte Anton erschrocken.
«Gute Nacht, Anton!» Anna breitete ihre Arme unter dem
Umhang aus.
Der kleine Vampir ergriff die leere Reisetasche und stieg
aufs Fensterbrett.

94
«Pass gut auf meine Geschenke auf!», sagte er und flog
hinter Anna in die Nacht hinaus.
Hastig hängte Anton seinen Rucksack auf den Haken am
Schreibtisch und schloss seine Zimmertür auf. Danach stopfte
er den Vampirumhang in das mittlere Fach seines
Kleiderschranks hinter ein paar T-Shirts und schlüpfte in
seinen Pyjama.
Er war gerade unter die Bettdecke gekrochen und hatte die
Lampe auf seinem Nachttisch ausgemacht, als Schritte durch
den Flur kamen.
«O Fledermaus, o Fledermaus, lass endlich jetzt dein Opfer
aus», hörte er seinen Vater singen.
«Nicht so laut!», sagte seine Mutter. «Du weckst ja Anton
auf!»
«Ich glaub nicht, dass er schon schläft», erwiderte sein Vater.
«Bestimmt liest er noch.»
Anton machte die Augen zu. Gleich darauf wurde die
Zimmertür geöffnet.
«Siehst du? Er schläft!», flüsterte Antons Mutter.
«Du hast wie immer Recht, Helga», sagte sein Vater.
Die Tür wurde wieder geschlossen und die Schritte seiner
Eltern entfernten sich.
Mit einem Seufzer drehte Anton sich auf die Seite. Er dachte
noch einmal an die Geburtstagsfeier: an Rüdigers Begeisterung
beim Auspacken der Geschenke, an Lumpis Kartoffelduell und
an Annas Wahrheitsspiel.

95
Welche Fragen hätte er den Vampiren wohl gestellt, wenn
seine Eltern nicht so früh zurückgekommen wären? Über
diesen Gedanken schlief er ein.

96
Die gefährliche Tante
«Und wie war die Fledermaus?», erkundigte Anton sich am
nächsten Morgen betont allgemein.
Er trug noch seinen Pyjama, weil er nach dem Frühstück in
die Badewanne steigen wollte. Seine Eltern waren schon
angezogen.
«Die Kostüme und das Bühnenbild haben mir sehr gut
gefallen», antwortete seine Mutter. «Aber das Stück selbst
erschien mir ein bisschen, nun ja...» Sie sah ihren Mann an.
«Ein bisschen verstaubt.»
«Verstaubt?», wiederholte sein Vater entrüstet. «Die
Fledermaus ist ein Klassiker!»
Eine Pause entstand. Antons Mutter schenkte sich noch eine
Tasse Jasmintee ein und räusperte sich.
«Und? Hast du uns nichts zu sagen?», wandte sie sich an
Anton. «Äh... ich?», stotterte er.
«Ja, du!» Sie sah ihn forschend an.
Fieberhaft überlegte er, worauf sie anspielte. Ob Frau
Miesmann sich wegen des Lärms in seinem Zimmer beschwert
hatte? Oder hatte Herr Schwanenhals herausgefunden, dass
Anton mitverantwortlich für das Durcheinander in seiner
Tanzschule war, und deswegen Antons Eltern angerufen?
Nein, das war äußerst unwahrscheinlich!
«Ist es, weil Herr Schwanenhals im Theater neben euch
gesessen hat?», fragte Anton vorsichtig.
Seine Mutter nickte. «Das war eine sehr unangenehme
Überraschung für uns, Anton! Warum hast du uns nicht gesagt,
dass Herr Schwanenhals dein geheimnisvoller Freund aus der
Tanzstunde war?»
«Ja, das hättest du uns wirklich sagen müssen», pflichtete
Antons Vater ihr bei.
«Ich wollte euch nicht die Vorfreude verderben», antwortete
er. «Wenn ihr gewusst hättet, dass Herr Schwanenhals neben

97
euch sitzt, wärt ihr bestimmt nicht so gern in die Fledermaus
gegangen.» Die Eltern wechselten einen Blick.
«Ja, das mag sein», gab Antons Mutter zu.
«Übrigens, was diese gefährliche Tante angeht, vor der du
uns gewarnt hast...» Antons Vater lachte. «Die ist wirklich eine
sehr unsympathische Person!»
«Was war denn mit ihr?», fragte Anton mit Herzklopfen.
«Allein, wie sie gekleidet war...» Antons Mutter schüttelte
den Kopf. «Sie trug ein völlig unmodernes Samtkleid und eine
Stola voller Mottenlöcher. Die Sachen rochen, als hätten sie
hundertfünfzig Jahre in der Mottenkiste gelegen.»
Gar nicht schlecht geschätzt!, dachte Anton.
Um seine Aufregung zu verbergen, nahm er ein Stück
Toastbrot und bestrich es mit Nougatcreme. «War sonst noch
irgendwas mit ihr?»
«Allerdings!», sagte sein Vater. «Sie hat die gesamte
Vorstellung gestört!»
«Und wie?»
«Zunächst einmal kam sie zu spät», berichtete Antons
Mutter. «Wir saßen alle schon auf unseren Plätzen. Gerade
hatte sich der Vorhang gehoben, als sie unter lautem Zetern
den dunklen Saal betrat. Zwei Platzanweiserinnen, die sie
wieder hinausbegleiten wollten, stieß sie einfach zur Seite.
Ohne ein Wort der Entschuldigung zwängte sie sich durch die
Reihe, bis sie den freien Platz neben Herrn Schwanenhals
erreicht hatte. Kornisch war, dass ich im ersten Moment den
Eindruck hatte, die beiden würden sich gar nicht kennen. Aber
später schienen sie dann ganz vernarrt ineinander.»
Anton hatte Mühe, nicht zu lachen. Wenn seine Mutter
wüsste, dass ihr Eindruck richtig gewesen war!
«Und womit hat sie die Vorstellung gestört?», fragte er. «Hat
sie dazwischengerufen? Oder ist sie auf die Bühne gerannt?»
«Das nicht. Aber sie hat dauernd irgendwelche Geräusche
gemacht.»

98
«Und was für Geräusche waren das?»
«Ständig hat sie sich mit einem Fächer Luft zugefächelt.
Dann hat sie geseufzt, gefaucht, gestöhnt und gehechelt. Am
störendsten war allerdings ihr Zähneklappern.»
«Ihr Zähneklappern?»
«Ja. Sie hat mit den Zähnen geklappert, als hätte sie ein
schlecht sitzendes Gebiss.»
«Und sonst hat sie nichts...», Anton schluckte, «getan?»
«Was soll sie denn getan haben?»
«Ist sie die ganze Zeit ruhig sitzen geblieben?»
«Ruhig sitzen geblieben würde ich ihr Herumrutschen und
ihr Tuscheln mit Herrn Schwanenhals nicht nennen. Aber
aufgestanden ist sie erst zur Pause. Während der Pause hat sie
sich dann leider unsichtbar gemacht.»
«Wie – unsichtbar?»
«Ich hätte sie mir gern mal bei hellerem Licht angesehen»,
sagte Antons Mutter. «Aber plötzlich waren sie und Herr
Schwanenhals verschwunden. Erst nach der Pause sind sie
wiedergekommen, als das Licht schon aus war.»
«Und sonst ist nichts passiert?»
«Du meinst, ob sie einen gebissen hat?» Antons Vater
schmunzelte. «Nein, das hat sie, soweit mir aufgefallen ist,
nicht getan.»
Bei dem Wort «gebissen» war Anton zusammengezuckt.
Aber dann merkte er, dass es nur ein Scherz sein sollte.
«Apropos beißen...», sagte Antons Vater und zeigte auf das
Toastbrot, das noch immer auf Antons Teile r lag. «Du scheinst
heute Morgen gar keinen Hunger zu haben.»
«O doch», widersprach Anton. «Sogar riesigen!»
Und voller Appetit aß er nun sein Toastbrot.

99
Viel zu normal
Als es in dieser Nacht an Antons Fenster pochte, glaubte er
zunächst, es wäre nur der Wind. Aber das Pochen wiederholte
sich und wurde lauter, fordernder. Auf Zehenspitzen schlich er
zum Fenster. Wer konnte das sein? Vielleicht Rüdiger, der
seine Geburtstagsgeschenke abholen wollte? Oder Anna?
Oder... Anton stockte der Atem... Tante Dorothee? Er war
ziemlich sicher, dass sie ihn gestern am Fenster der Tanzschule
Schwanenhals gesehen hatte!
Ängstlich zog er die Vorhänge zur Seite. Ein Stein fiel ihm
vom Herzen: Die dunkle Gestalt, die draußen auf dem
Fenstersims hockte, war ganz bestimmt nicht Tante Dorothee,
denn sie war klein und zierlich. Anton erkannte eine
Haarschleife, die hin und her wippte.
«Olga!», sagte er und öffnete das Fenster.
«Darf ich hereinkommen?», flötete sie.
«Und was willst du?», fragte er.
«Darf ich nun hereinkommen oder nicht?»
«Ja...»
Olga ließ sich vom Fensterbrett ins Zimmer gleiten.
«Du hast geschlafen?» Sie zeigte auf sein zerwühltes Bett.
«Dachtest du, ich mach um diese Zeit Hausaufgaben?»,
knurrte er.
«Nein.» Sie lachte ihr raues Lachen. «Hausaufgaben sind die
überflüssigste Sache der Welt, findest du nicht?»
Er zuckte mit den Schultern. «Manchmal geht es nicht ohne,
schätze ich.»
«Ich hatte es nie nötig, Hausaufgaben zu machen», prahlte
Olga. «Als echte von Seifenschwein bin ich mit einem
Gedächtnis wie ein transsylvanischer Elefant gesegnet.»
«Ach, wirklich? Ich wusste gar nicht, dass es in
Transsylvanien Elefanten gibt.»

100
«Gibt es auch nicht. Aber das sagt man so, wenn jemand ein
besonders gutes Gedächtnis hat, wie ich!»
«Aha. Und weshalb bist du hier?» Anton verschränkte die
Arme vor der Brust, um Olga zu zeigen, dass ihm seine Zeit für
belangloses Geplänkel zu schade war.
«Muss ich immer einen Grund haben, wenn ich dich besuche,
Anton?»
«Ja!»
«Und was ist mit Anna? Muss die auch immer einen Grund
haben?»
«Mit Anna ist es etwas anderes.»
Olga verzog ihren Mund. «Anna ist nicht halb so attraktiv
wie ich, sie ist nicht halb so charmant wie ich und sie ist nicht
halb so intelligent wie ich. Trotzdem gefällt sie dir besser.
Warum?»
«Warum?» Anton zögerte. Er wollte sich nicht streiten und
durch den Krach möglicherweise seine Eltern wecken. «Ich
kenn sie eben schon sehr lange.»
«Es zählt nicht, wie lange man sich kennt, sondern wie gut
man sich kennt», entgegnete Olga in oberlehrerhaftem Ton.
«Und wir beide werden uns bald sehr gut kennen...», fügte
sie mit einem tiefen, kehligen Lachen hinzu.
«Glaubst du?», sagte er zweifelnd.
«O ja», säuselte sie. «Ich hab mich nämlich entschlossen,
dich nach Paris mitzunehmen!»
Anton lachte trocken. «Meinst du nicht, dass du zuallererst
mich fragen müsstest, ob ich mit dir nach Paris will?»

101
Olga schaltete die Lampe auf Antons Nachttisch ein und sah
sich abfällig um. «Hängst du etwa an dieser schäbigen Bude?»
«Mit gefällt mein Zimmer», antwortete er. «Und deine
Unterkunft ist auch nicht gerade luxuriös.»
«Wenn du damit die Gruft Schlotterstein meinst, kann ich dir
nur zustimmen», sagte sie mit einem Seufzer. «Das feuchte
Loch, in dem Rüdiger und seine Verwandten hausen, ist eine
Zumutung für jeden anständigen Vampir!»
Sie rückte ihre gelbe Schleife zurecht. Anton fiel auf, dass
Olga nicht so gepflegt wie sonst aussah. Ihr Haar war
ungekämmt und ihre weiße Schürze wies ein paar dunkle
Flecken auf. Offenbar hatte sie die Gruft Schlotterstein in
ziemlicher Eile verlassen.
«In Paris habe ich Beziehungen», fuhr sie in angeberischem
Ton fort. «Da werden wir in Palästen wohnen, im Keller
versteht sich. Aber die Pariser Keller sind mit Goldtapeten
ausgeschlagen – einfach traumhaft!»
«Warum bist du dann überhaupt noch hier, wenn du in Paris
diese tollen Beziehungen hast?», fragte er.

102
Sie schaute ihn mit verführerischem Augenaufschlag an.
«Deinetwegen bin ich noch hier, Anton! Ich bin auch nur
deinetwegen aus Paris zurückgekommen!»
«Und ich dachte, du wärst wegen Rüdiger
zurückgekommen», sagte er. «Um seinen Geburtstag zu
feiern!»
Olga machte eine wegwerfende Handbewegung. «Du hast ja
selbst erlebt, was für eine lahme, hinterwäldlerische Party das
war. Nein, mit Rüdiger bin ich fertig. Der ist mir viel zu
normal!»
«Normal?» Vermutlich würde der kleine Vampir sich freuen,
wenn ihn jemand normal nannte – ausgenommen natürlich
Olga!
«Ich bin mit der gesamten Familie von Schlotterstein fertig»,
ergänzte sie.
«Auch mit Tante Dorothee?», fragte Anton überrascht.
«Vor allem mit Tante Dorothee. Stell dir vor: Sie hat sich in
den Schwanenhals verliebt! Den ganzen Tag hat sie in ihrem
Sarg vor sich hin gesungen. Es war grauenhaft! Wir haben kein
Auge zugekriegt!»
«Hat sie gesagt, dass sie sich in Herrn Schwanenhals verliebt
hat?»
Olga nickte grimmig. «Nach Sonnenuntergang ist sie gleich
wieder zu ihm hingeflogen – zu einer Privatstunde!
Wochenlang musste ich ihre Seelentrösterin spielen, weil sie
wegen Dracula so deprimiert war. Und nun geht das Ganze von
vorne los, bloß schlimmer. Aber diesmal ohne mich. Ich mach
mich aus dem Staub!»
«Du machst dich aus dem Staub?» Anton versuchte sich
seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. «Und wann?»
«Noch heute Nacht», erklärte Olga. «Ich kann es gar nicht
erwarten, endlich wieder Pariser Luft zu atmen!»

103
Kinder der ewigen Nacht
«Und Rüdiger?», fragte Anton. «Was sagt er dazu, wenn du
wieder nach Paris fliegst?»
«Pah, Rüdiger!», fauchte Olga. «Der ist mir so egal wie der
Fliegendreck an der Wand!»
«Aber du bist ihm nicht egal», erwiderte Anton. «Über die
Geburtstagsgeschenke von dir hat er sich am meisten gefreut.»
«Gut, dass du mich an die erinnert hast!» Sie kicherte. «Das
Wollknäuel und die Stricknadeln muss ich auch noch
einpacken.»
«Einpacken? Die hast du Rüdiger doch geschenkt!»
«Das war gestern», zischte sie. «Heute ist sein Geburtstag
vorbei, da hole ich sie mir wieder.»
«Hast du nicht selbst gesagt, dass ihr Vampire eure
Geburtstagsgeschenke behalten dürft?», erinnerte Anton sie.
«Schon möglich. Dann hab ich jetzt meine Meinung
geändert. Los, gib sie mir!»
«Das kann ich nicht!», erklärte Anton mit fester Stimme.
«Und warum nicht?»
«Anna hat sie», behauptete er.
«Anna?»
«Ja. Sie hat das Wollknäuel und die Stricknadeln
mitgenommen, weil sie Rüdiger einen Schnellkurs im Stricken
geben will.»
«So ein Biest!», fauchte Olga.
Anton grinste in sich hinein. «Ich finde es sehr nett von
Anna!»
«Anna, Anna!», giftete sie. «Warum kannst du nicht zur
Abwechslung mal was Nettes über mich sagen?»
Er gab keine Antwort.
«Findest du etwa nicht, dass ich gut aussehe?» Mit einem
selbstgefälligen Lächeln zupfte sie an ihren Haarspitzen.
«Hm, ja, könnte man sagen.»

104
«Und bin ich nicht viel weltgewandter und erfahrener als
Anna?»
«Wahrscheinlich.»
«Wenn du mit mir ausgehst, werden dich sämtliche Jungen
beneiden!»
«Kann sein.»
«Ich hab nur eine einzige Schwäche...», Olga spitzte die
Lippen. «Und die bist du!»
«Ich?»
«Ja, du, Anton! Ich krieg dich einfach nicht wieder aus
meinem Kopf, dich mit deinem Blu...» Sie brach ab und
schielte auf Antons Halsschlagader, «mit deinem blumigen
Charme», sagte sie dann.
Plötzlich fiel es Anton wie Schuppen von den Augen: Olga
bemühte sich nur deshalb um ihn, weil er – als Mensch – etwas
besaß, das sie von Rüdiger nicht bekommen konnte. Sie war
gar nicht an ihm persönlich interessiert; sie betrachtete ihn
lediglich als Nahrungsquelle!
Und so wunderte es ihn nicht, als sie nun säuselte: «Darf ich
mich noch ein bisschen bei dir stärken, bevor wir abfliegen?»
«Nein!», rief er.
Sie lachte heiser. «Aber Reisegefährten teilen alles, was sie
haben!»
«Ich bin nicht dein Reisegefährte», stellte er klar. «Und nach
Paris will ich auch nicht!»
«Ts, ts, Anton», machte sie und streckte ihre Finger nach ihm
aus. «Du ahnst ja gar nicht, wie viel Spaß wir haben werden!
Ich werde dir Paris zeigen, die Friedhöfe, die Katakomben.
Tagsüber werden wir schlafen, aber wenn der Mond die alten
Gassen in sein silbernes Licht taucht, werden wir unterwegs
sein, zwei Kinder der ewigen Nacht!»
Ein Grollen kam aus ihrer Kehle und ihre Augen nahmen den
glasigen Ausdruck an, den Anton von Lumpi kannte. Er wollte

105
fliehen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Und immer
näher kam Olgas Mund mit den fürchterlichen Fangzähnen...
In diesem Augenblick näherten sich Schritte und dann wurde
energisch gegen Antons Zimmertür geklopft.
Es war, als hätte Olga einen elektrischen Schlag erlitten. Sie
begann am ganzen Körper zu zittern und ächzte: «Die
Vampirjäger. Das sind sie!»
Wie von Furien gehetzt rannte sie zum Fenster und flog
davon.
«Anton?», ertönte die Stimme seines Vaters. «Was geht da
drinnen vor sich?»
Die Tür ging auf und Antons Vater spähte ins Zimmer.
Irritiert blickte er zum Fenster. «Warum steht dein Fenster
offen?»
«Ich... mir war heiß.» Schnell machte Anton das Fenster zu.
«Und was für eine Stimme war das eben?», fragte sein Vater.
«Es klang wie eine Mädchenstimme.»
«Das war... äh... eine Kassette. Ich konnte nicht schlafen und
da hab ich eine Vampirkassette eingelegt.»
«So laut?» Sein Vater schüttelte den Kopf. «Sei froh, dass
Mutti nichts von dem Lärm gehört hat! Sonst würde sie dir
bestimmt eine Strafpredigt halten. Immerhin schreibst du
morgen deine Mathearbeit.»
Anton machte ein zerknirschtes Gesicht. «Deswegen konnte
ich ja nicht schlafen.»
«Hast du dir wenigstens dein Mathebuch unter die Matratze
gelegt?», fragte sein Vater.
«Unter die Matratze?», wiederholte Anton. «Nicht unter das
Kopfkissen?»
«Wenn du es unter die Matratze legst, sinkt das Wissen noch
viel tiefer ein», sagte sein Vater. «Ist ein altes Geheimrezept
von mir.»
Anton stieß einen Seufzer aus. «Danke, Vati!»
«Wofür?»

106
Dass du mich vor Olga gerettet hast!, dachte er. Laut sagte
er: «Für den Tipp mit dem Mathebuch.»
«Nichts zu danken.» Sein Vater lachte. «Und wenn du das
nächste Mal zu nachtschlafender Stunde eine Kassette hören
willst, nimmst du deine Kopfhörer, versprichst du mir das?»
«Ja.» Anton kroch unter die Bettdecke. «Gute Nacht.»
«Gute Nacht, Anton. Und vergiss das Mathebuch nicht.»
Sein Vater zog die Tür hinter sich ins Schloss.
Anton holte sein Mathebuch und schob es unter die Matratze.
Auch wenn er nicht so recht an die Wirksamkeit glaubte –
schaden konnte es auf keinen Fall!

Die ungeschminkte Wahrheit


Am Montag- und am Dienstagabend wartete Anton
vergeblich auf Anna und den kleinen Vampir. Vielleicht hatte
Tante Dorothee ihnen Flugverbot erteilt und sie konnten
deshalb nicht kommen?, überlegte er.
Am Mittwochnachmittag war Antons Tanzstunde.
«Muss ich heute zur Tanzstunde gehen?», fragte er seine
Mutter beim Mittagessen. «Ich hab Rückenschmerzen!»
«Dann wird dir die Bewegung erst recht gut tun», antwortete
sie.
«Aber bei Herrn Schwanenhals lernt man überhaupt nichts»,
sagte er.
«Du weißt, was wir besprochen haben», erwiderte sie
ungerührt. «Vati und ich wollen die Kursgebühren nicht
einfach abschreiben. Und irgendetwas wirst du schon in der
Tanzstunde lernen – und sei es nur, wie man mit hübschen
jungen Mädchen Konversation macht.»
«Konversation? Genau die kann ich bei Herrn Schwanenhals
nicht lernen!»
«Und warum nicht?»

107
«Weil Konversation ein Fremdwort ist. Und Herr
Schwanenhals hasst Fremdwörter.»
Aber wie Anton erwartet hatte, ließ sich seine Mutter nicht
umstimmen und so kamen sie um zwanzig nach fünf vor der
Tanzschule an. Zu Antons Überraschung brannte nur die
Lampe an der Eingangstür. Ansonsten war alles dunkel.
«Seltsam... in der Tanzschule brennt gar kein Licht»,
wunderte sich seine Mutter.
Anton grinste. «Wahrscheinlich ist Herr Schwanenhals
lichtscheu geworden.»
«Und es stehen auch keine Autos auf dem Parkplatz...»
«Stimmt», sagte er. «Der schwarze Buckel-Volvo von Herrn
Schwanenhals fehlt.»
Antons Mutter stieg aus und ging zur Villa. Anton trottete
hinterher. Beim Näherkommen sah er, dass jemand einen Zettel
an der Eingangstür befestigt hatte.
«Die Tanzschule ist geschlossen!», rief seine Mutter ihm zu.
«Hier steht:

Das finde ich aber sehr merkwürdig», meinte sie. «Herr


Schwanenhals hätte uns doch anrufen können!»
«Wahrscheinlich hat er es vergessen», sagte Anton.
«Ja, wahrscheinlich.» Sie lachte etwas gequält. «Dann fahren
wir jetzt nach Hause zurück. Ich muss auch noch Aufsätze

108
korrigieren. Und du solltest die freie Stunde ebenfalls zu etwas
Sinnvollem nutzen.»
«Und das wäre?»
«Ein paar Matheaufgaben üben!»
Er seufzte. «Hab schon verstanden...»
Heute Morgen hatte Anton seine Mathearbeit
zurückbekommen. Trotz des «alten Geheimrezepts» seines
Vaters war es nur eine Vier geworden – eine sehr schwache
Vier, wie Antons Lehrerin gesagt hatte.

Die nächste Mathearbeit stand allerdings erst in drei Wochen


an und so steckte Anton zu Hause seine Nase lieber in
«Zähneklappern. Vampirgeschichten aus aller Welt». Als er
auf der vorletzten Seite angekommen war, klopfte es an seiner
Scheibe.
Anton schreckte hoch, aber dann erkannte er den kleinen
Vampir. Rasch öffnete er sein Fenster.
«Rüdiger!», sagte er.
Der kleine Vampir kletterte ins Zimmer. Er sah sehr blass aus
und sein Kinn war richtig spitz geworden.
«Deine Eltern sind noch wach?», fragte er.
«Sie sehen fern», antwortete Anton. «Eine Kultursendung»,
fügte er hinzu.
«Hoffentlich nicht über Paris!», knurrte der kleine Vampir.
«Sagst du das wegen Olga?»
Der kleine Vampir schaute ihn mit funkelnden Augen an.
«Du weißt, dass Olga nach Paris zurückgeflogen ist?»
Anton nickte. «Sie wollte mich sogar überreden
mitzufliegen.»
«Was?», rief der kleine Vampir.
«Ja», bestätigte Anton. Er hatte beschlossen, dem kleinen
Vampir die Wahrheit über Olga zu sagen – die ungeschminkte
Wahrheit. «Sie hat behauptet, dass sie mich nicht wieder aus

109
ihrem Kopf herauskriegt und dass sie nur meinetwegen aus
Paris zurückgekommen ist.»
Der kleine Vampir presste die Lippen zusammen.
«Ich hab aber nichts davon geglaubt», versicherte Anton.
«Olga hat gesagt, in Paris würde sie mir die Friedhöfe und die
Katakomben zeigen und wir würden in Kellern mit
Goldtapeten an den Wänden wohnen.»
Zu Antons Verwunderung wurde der kleine Vampir noch
immer nicht wütend.
«Tagsüber würden wir schlafen», fuhr er fort. «Und nachts
im Mondschein würden wir durch die Gassen streifen, zwei
Kinder der ewigen Nacht. Genauso hat sie sich ausgedrückt.»
«Du wärst nie in Paris angekommen», sagte der kleine
Vampir mit Grabesstimme.
«Wie meinst du das?», fragte Anton irritiert.
«Olga war nicht allein», erklärte der Vampir.
«Sie war nicht allein?»
«Nein. Sie hat sich mit Roderich dem Unersättlichen
zusammengetan. Die beiden sind zusammen nach Paris
geflogen.»
«Mit Roderich dem Unersättlichen?» Anton hatte das Gefühl,
den Namen schon mal gehört zu haben.
«Ist Roderich der Unersättliche einer der fahrenden
Vampire?», fragte er. «Anna hat mir von ihnen erzählt.»
«Roderich? Ein fahrender Vampir? Nie und nimmer! Er ist
einer, der nur auf Kosten anderer... ähem... lebt.»
Dann passt er ja wunderbar zu Olga!, dachte Anton.
«Und woher kennen sich die beiden?», fragte er.
«Keine Ahnung. Aber Olga behauptet, er würde viel besser
aussehen als ich und hätte bessere Manieren. Auf jeden Fall ist
Roderich der gierigste Vampir, den du dir vorstellen kannst.»
«Und mit dem ist Olga nach Paris geflogen?»
«Ja. In ganz vielen kleinen Etappen.»
«Und warum in ganz vielen kleinen Etappen?»

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«Roderich kann nie länger als eine Stunde fliegen. Danach
muss er sich schon wieder stärken.»
Bei dem Wort «stärken» lief es Anton eiskalt den Rücken
herunter. Denselben Ausdruck hatte Olga am Sonntagabend
verwendet! Möglicherweise war sie nur als Lockvogel in sein
Zimmer gekommen – als Lockvogel für Roderich den
Unersättlichen?
«Glaubst du, dieser Roderich hätte bei mir...» Seine Stimme
versagte.
«Hundertprozentig!», antwortete der kleine Vampir. «Falls
du so dumm gewesen wärst mitzufliegen!»
«Und wieso habt ihr mich nicht gewarnt, du und Anna?», rief
Anton.
«Weil Tante Dorothee uns eingesperrt hatte!», sagte da eine
helle Stimme und Anna sprang ins Zimmer.

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Alles kann sich ändern
«Tante Dorothee hatte euch eingesperrt?», sagte Anton
bestürzt.
«Sie hatte unsere Sargdeckel zugeschraubt!», antwortete der
kleine Vampir.
«Und erst heute Abend hat sie die Deckel wieder
aufgeschraubt», fügte Anna hinzu.
«Aber das ist ja Kindesmisshandlung!», rief Anton.
Rüdiger und Anna nickten.
«Ihr wart alle vier in den Särgen eingesperrt?»
«Alle vier nicht», erwiderte Anna. «Olga, ihre
Lieblingsnichte, durfte frei herumfliegen. Aber sie hat Tante
Dorothee ja auch nach Strich und Faden belogen.»
«Und was hat sie Tante Dorothee erzählt?», wollte Anton
wissen.
«Olga hat gesagt, es wäre ganz allein Rüdigers Idee gewesen,
seinen Geburtstag zu feiern. Sie wäre am Samstagabend nur
zufällig an der Tanzschule Schwanenhals vorbeigeflogen und
da hätte sie uns...»
«Uns?», schrie Anton auf. «Sie hat mich verraten?»
«Nein. Olga hat nur Rüdiger, Lumpi und mich erwähnt»,
beruhigte Anna ihn.
«Gott sei Dank», murmelte er.
«Jedenfalls werde ich meinen Geburtstag nicht so schnell
wieder feiern», sagte der kleine Vampir mit düsterer Miene.
«Wenn wir das nächste Mal Geburtstag feiern, dann feiern
wir den von Anton!», meinte Anna.
Sie schaute Anton zärtlich an. «Du hast bald Geburtstag,
stimmt’s?»
«Am 11. Februar», antwortete er.
«Freust du dich schon?»
«Hm, ja.»

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Natürlich freute Anton sich auf seinen Geburtstag. Er freute
sich auch darauf, wieder ein Jahr älter zu werden. Allerdings
fand er das Älterwerden nicht nur positiv, denn Rüdiger und
Anna, seine besten Freunde, würden bis in alle Ewigkeit so
bleiben, wie sie jetzt waren...
«Etwas Gutes hatte meine Geburtstagsfeier doch», bemerkte
Rüdiger.
«Und was?», sagte Anna schnippisch.
«Meine Geschenke! Du hast sie doch noch, Anton?», fragte
er.
Anton schreckte aus seinen Gedanken auf. «Äh... sicher»,
stotterte er. Der kleine Vampir schnaufte erleichtert. «Ich nehm
sie gleich mit.»
«Und was sagt Tante Dorothee dazu?», fragte Anton.
«Tante Dorothee?» Rüdiger grinste. «Nichts! Sie ist – hihi! –
verreist.»
«Nach Transsylvanien?»
«Nein, nach Schwerin. Schwanenhals will sie seinen Eltern
vorstellen.»
«Ach, jetzt verstehe ich!», sagte Anton.
«Was verstehst du?»
«Heute Nachmittag, als ich zur Tanzstunde gehen wollte, war
überhaupt keiner da. Es hing nur ein Zettel an der Tür, auf dem
stand: Die Tanzschule Schwanenhals bleibt bis auf weiteres
wegen einer Familienangelegenheit geschlossen.»
«Wegen einer Familienangelegenheit...» Anna lachte
prustend. «Diesmal wird es Ernst!»
«Hoffentlich», krächzte der kleine Vampir. «Dann hätte
Tante Dorothee nie wieder Zeit, sich um uns zu kümmern!»
«Dann wären wir frei!» Anna warf ihre Arme in die Luft.
«Ich finde, ihr seid schon jetzt frei – verglichen mit mir»,
sagte Anton. «Ich fühl mich manchmal wie ein Hamster im
Laufrad: mit meinen Eltern, mit den Nachbarn, mit der
Schule...»

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«Da könnten Rüdiger und ich dir ganz leicht heraushelfen»,
sagte sie und fuhr sich mit der Zungenspitze einmal rasch über
die Lippen.
Anton wurde rot. Rasch ging er zum Schrank und holte
Rüdigers Geschenke aus dem untersten Fach. In der
Zwischenzeit hatte er sie in eine große schwarze Tüte getan,
die seine Mutter vom Einkaufen mitgebracht hatte.
Nach einem Blick in die Tüte sagte der kleine Vampir:
«Olgas Wollknäuel und die Stricknadeln darfst du behalten. Ich
will sie nicht.»
«Aber ich kann überhaupt nicht stricken», wehrte Anton ab.
«Umso besser», sagte Anna. «Ich geb dir einen Schnellkurs!»
«Nein, keinen Schnellkurs», verbesserte sie sich. «Einen
Langsamkurs, damit ich noch ganz oft zum Stricken zu dir
kommen kann!»
«Du hast doch gar keine Zeit zum Stricken», warf Rüdiger
ein. «Sie schreibt nämlich ein Buch», sagte er, zu Anton
gewandt.
«Schreibst du ein Buch mit Vampirgeschichten?», fragte
Anton neugierig.
«Nein.» Anna schlug verschämt die Augen nieder.
Rüdiger zwinkerte Anton zu. «Sie schreibt ein Nächtebuch!»
«Fiesling!», fuhr Anna den kleinen Vampir an. «Jetzt hast du
es verraten! Mein Nächtebuch sollte ein Geheimnis bleiben!»
«Das konnte ich ja nicht wissen», brummte der kleine
Vampir.
«Das konntest du sehr wohl wissen!», zischte Anna.
Anton hätte noch gern gefragt, ob ein Nächtebuch so etwas
Ähnliches wie ein Tagebuch war. Aber im Augenblick hielt er
es für klüger, nicht weiter nachzuforschen.
Er holte das Wollknäuel und die Stricknadeln aus der Tüte
und legte sie in seinen Schrank zurück.
«Hier!» Er reichte dem kleinen Vampir die Tüte mit den
restlichen Geschenken.

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«Danke», sagte der kleine Vampir.
«Danke?», wunderte sich Anton. «Ich dachte, Vampire
bedanken sich nie!»
«Es heißt ja auch, Vampire feiern nie ihren Geburtstag»,
antwortete der kleine Vampir. «Wie du siehst, kann sich alles
ändern.» Er stieg aufs Fensterbrett.
«Kommst du?», rief er Anna zu. «Du musst mir mit der Tüte
helfen.»
«Ich muss gar nicht», widersprach sie. «Ich bleibe so lange
bei Anton, wie ich möchte.»
«Würdest du bitte kommen?», stöhnte der kleine Vampir.
«Ja!» Anna kicherte. «Ein weiteres Beispiel dafür, dass sich
alles ändern kann. Gute Nacht, Anton. Und bis bald.»
«Bis bald!», sagte Anton.
Während er zusah, wie Anna und Rüdiger davonflogen,
dachte er, dass sich im Leben tatsächlich vieles änderte, oft von
einem Tag zum anderen. Aber eins würde sich nie ändern: ihre
Freundschaft!

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Angela Sommer-Bodenburg,
Studium der Pädagogik, Soziologie
und Psychologie, 12 Jahre
Grundschullehrerin in Hamburg,
lebt in Hidden Meadows,
Kalifornien, USA, wo sie schreibt
und malt. Ihre Erfolgsserie «Der
kleine Vampir» wurde in 30
Sprachen übersetzt, zweimal für das
Fernsehen verfilmt und kam im Jahr
2000 mit einer internationalen
Großproduktion auf die
Kinoleinwand. Zudem gibt es ein
Musical, ein Theaterstück,
Kassetten und CDs vom «Kleinen
Vampir».

Veröffentlichungen (Auswahl):
«Der kleine Vampir», Bd. 1-18, «Der kleine Vampir – Das Buch zum Film»,
«Das Biest, das im Regen kam», «Wenn du dich gruseln willst», «Die
Moorgeister», «Julia bei den Lebenslichtern», «Schokolowski», «Hanna, Gottes
kleinster Engel», «Das Haar der Berenice», «Der Fluch des Vampirs»,
Gedichtbände.

Besuchen Sie auch die Website von Angela Sommer-Bodenburg:


www.AngelaSommer-Bodenburg.com

Amelie Glienke: Studium der


Malerei und der freien Grafik bei
Professor Georg Kiefer, Hochschule
der Künste in Berlin; arbeitet als
Grafikerin, Zeichnerin und (unter
dem Namen HOGLI) als
Karikaturistin in Berlin und hat
zwei Kinder. Sie illustrierte u. a. die
«Geschichten ab 3» von Hanne
Schüler (Band 20149, 20397),
«Hexen hexen» von Roald Dahl
(Band 20587) und «Der
Sprachabschneider» von Hans
Joachim Schädlich (Band 20685).

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