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chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.


7. Auflage 1992
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek.
Knickerbocker-Bande/Thomas Brezina.
Das Rätsel um das Schneemonster.
Abenteuer in Tirol. Hl. Atelier Bauch-Kiesel.
Foto: Thomas Raab.
Wien; Stuttgart: Neuer Breitschopf Verlag 1990
ISBN 3-7004-1175-8
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der
fotomechanischen Wiedergabe, der Übersetzung und der
Übertragung in Bildstreifen, vorbehalten. © Copyright by
hpt-Verlagsgesellschaft m. b. H. & Co. KG,
Wien 1990 ISBN 3-7004-1175-8

scanned & corrected by Crazy2001 @September 2003

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Inhalt
Das Schneemonster taucht auf ... 03
Das Krokodil kaut keinen Kaugummi! 09
Denkste, Herr Doktor! 15
Baby-Haie in Kitzbühel? 25
Der rote Teufel 29
Schnee- und andere Monster 36
Der Unfall 42
Das Schneemonster schlägt zu 49
Die Entführung 53
Tilly hat einen Verdacht 58
Ein Mann fällt vom Himmel 65
Einer spielt falsch ... 75
Fragen über Fragen 81
Ein Schuß in der Silvesternacht 86
Die Entdeckung 90
Die Falle für das Schneemonster 97
Wer anderen eine Grube gräbt... 102
Im Schneesturm 111
Die Lösung des Rätsels 117

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Das Schneemonster taucht auf…

Der Wind pfiff um die eiserne Wetterfahne auf der


Bergstation der Hahnenkammbahn. Die Schneeflocken
zischten wie winzige Pfeile aus Eis durch die Luft.
Ganz plötzlich und völlig überraschend war gegen drei
Uhr Nachmittag aus einem harmlosen Schneegestöber ein
grimmiger Schneesturm geworden.
Lässig holte der Skilehrer Sepp Stürzel ein knallrotes,
gestricktes Stirnband aus der Tasche seines Anoraks und
zog es über seine Ohren. Danach fischte er unter dem
Kragen einen kleinen, Schaumgummiüberzogenen Knopf
hervor. Er war durch ein Kabel mit seinem Walkman
verbunden.
Reicht völlig, wenn ich mit einem Ohr das Gekreische
dieser Mrs. Silverspoon höre, dachte sich Sepp und drehte
den Lautstärkeknopf bis zum Anschlag auf. Während ihm
Madonna ihr „Who's that girl?“ in den Gehörgang
säuselte, putzte er gemächlich seine Skibrille. Danach
warf er einen Blick in die Richtung, wo er Mrs.
Silverspoon zuletzt gesehen hatte. Die rundliche
Amerikanerin hatte sich nämlich an einen Wegweiser
geklammert und „Ich keinen Schritt weiter!“ gejammert.
„Sie sollen auch nicht Schritte machen, sondern fahren.
Auf den beiden Brettern, die Sie sich auf die Füße
geschnallt haben. Man nennt diese langen Dinger auch
Ski!“ lautete Sepps Kommentar dazu. Ungerührt war er
dann mit einigen Schwüngen langsam ein Stück
vorgerutscht. Eigentlich sollte ihm Mrs. Silverspoon

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nachkommen, doch sie dachte nicht daran. Die schrullige
Lady aus Amerika schlang ihre Arme noch fester um den
Holzpflock mit den Richtungstafeln. Sie hatte
beschlossen, hier stehenzubleiben, bis sich der
Schneesturm wieder legte.
Sepp Stürzel holte tief Luft und schnaufte verzweifelt.
So etwas war ihm in den vergangenen sieben Jahren noch
nie untergekommen. So lange arbeitete er nämlich schon
Winter für Winter in Kitzbühel als Skilehrer. Diese Mrs.
Silverspoon zog ihm wirklich den letzten Nerv.
Sie hatte ihn zu Mittag in einer Imbißstube im Tal
angesprochen. „Ich wünschen nur eine Sache, bevor fliege
zurück in die United States. Fahren hinunter the famous
„Flecken-Abfahrt“, wo immer stattfindet Rennen,“ hatte
sie geflötet.
Zuerst verstand Sepp nicht, was sie wollte. Doch
schließlich fiel ihm ein, daß sie nur die „Streif“ meinen
konnte. Über die Hänge dieser weltbekannten Abfahrt
rasen jedes Jahr die Rennläufer aus aller Welt beim
Hahnenkamm-Rennen. Dabei erreichen sie
Spitzengeschwindigkeiten von hundert Stundenkilometern
und mehr.
„Die echte Rennstrecke der Streif ist für normale
Skifahrer gar nicht zugänglich“, hatte er der Amerikanerin
erklärt, die ihn mit großen, blauen Kalbsaugen anblickte.
„Die übrigen Hänge können Sie fahren. Das heißt
natürlich, wenn Ihr Können dazu ausreicht.“
„Ich schaffen leicht“, hatte Mrs. Silverspoon gerufen.
Dabei klimperte sie mit ihren langen, aufgeklebten
Wimpern. „Ich nur brauchen eine good guide. Sie müssen
mir zeigen die Strecke. Ich wollen erzählen das unbedingt
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meine Freundinnen in Amerika.“ Mit diesen Worten hatte
die kleine, energische Dame zwei Tausend-Schilling-
Scheine aus der Tasche ihres giftgrünen Skianzuges
gezogen und Sepp unter die Nase gehalten. Da der
Skilehrer stets knapp bei Kasse war und überdies seinen
freien Nachmittag hatte, sagte er ja.
Das habe ich davon, dachte er sich nun auf der Piste
und war böse auf sich selbst. Mittlerweile war das
Schneegestöber so dicht, daß er nur noch weiß sah. Keine
Spur von Mrs. Silverspoon oder dem Pistenwegweiser.
Die Lady aus Amerika schaffte mit Mühe und Not
gerade den Babyhang. Es war unverzeihlich, daß er sich
nicht gleich von ihrem Können überzeugt hatte.
Ich gehe jetzt zu ihr, schnapp sie und schnall ihr die Ski
ab, beschloß er. Und dann stapfen wir zurück zur
Bergstation der Gondelbahn. Sie kann höchstens ein paar
hundert Meter entfernt sein. Bei diesem unwirtlichen
Wetter machen selbst erfahrene und geübte Skifahrer
kehrt.
Gerade als er die ersten Treppenschritte bergauf
machte, hörte er ein Dröhnen über seinem Kopf. Er
schaute in die Höhe, konnte aber im dichten Schneetreiben
nichts erkennen. Das Dröhnen wurde lauter und kam
näher und näher. Sepp hatte das Gefühl, daß die Piste
unter seinen Skiern bebte. Er gehörte sonst nicht zu den
Schreckhaften oder Furchtsamen, doch nun zog auch er
den Kopf ein. Was war das? Woher kam dieses seltsame
Donnern? Er hatte es schon einmal irgendwo gehört. Doch
im Heulen des Sturmes konnte er es nicht erkennen.
Ein schriller, hoher Schrei ließ ihn zusammenzucken.
Es gab keinen Zweifel. Dieser Schrei war aus der Kehle
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von Mrs. Silverspoon gedrungen.
„Heeelp! Heeeeelp!“ kreischte sie gleich darauf noch
einmal. Sepp hörte noch einige keuchende, gurgelnde
Laute, dann herrschte wieder Stille. Das Dröhnen war
genauso schnell verschwunden, wie es gekommen war.
Mit einem Ruck riß sich der Skilehrer den Kopfhörer aus
dem Ohr und lauschte in das Brausen des Sturmes.
„Mrs. Silverspoon!“ schrie er. Keine Antwort. „Mrs.
Silverspoon? Wo sind Sie? Was ist geschehen? Warum
haben Sie so geschrien?“
Nichts rührte sich. Sepp bekam es mit der Angst zu tun.
Schließlich war er für die Dame verantwortlich. Wenn ihr
nun etwas zugestoßen war?
Mit einem Schlag entledigte er sich seiner Ski und
stolperte durch den Schnee den Hang hinauf. Hier mußte
sich der Wegweiser irgendwo befinden. Dieses
verdammte Schneetreiben! Er konnte weder mit noch
ohne Skibrille die Hand vor den Augen sehen. Deshalb
bemerkte Sepp auch den knallgrünen Skischuh nicht, der
vor ihm im Schnee lag. Er stolperte und landete — nicht
gerade hart — auf einem menschlichen Wesen. Die Folge
war entsetzlich. Das „menschliche Wesen“ — bei dem es
sich natürlich um Mrs, Silverspoon handelte — brüllte aus
Leibeskräften und schlug mit den Armen wild um sich.
Sepp versuchte die Lady zu beruhigen, allerdings ohne
Erfolg. Mrs. Silverspoon trommelte nur noch fester auf
ihn ein. Endlich gelang es ihm, ihre Fäuste zu erwischen
und festzuhalten.
„Mrs. Silverspoon, ich bin es: der Sepp, Ihr Skilehrer.
Was ist? Warum liegen Sie im Schnee? Haben Sie sich
verletzt?“
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Die Dame aus Amerika sah ihn mit weit aufgerissenen
Augen an und klappte ihren Mund mehrere Male auf und
zu. „The Monster ...“, stieß sie endlich hervor, „das
Monster ist gefallen von Himmel. Es sich gestürzt auf
mich. Eine Schneemonster. Ganz weiß mit dicker, weicher
Haut. Es wollte mir fressen. Mich töten.“
Sepp Stürzel half Mrs. Silverspoon auf die Beine und
schnallte ihr vorsichtig die Ski ab. Die Lady zitterte am
ganzen Körper.
„Sie haben zu viele Hollywood-Horrorfilme gesehen,“
meinte er und schulterte ihre knallgrünen Bretter. Das
hätte er besser nicht sagen sollen. Mrs. Silverspoon
schlang ihre kurzen, dicken Arme um ihn und klammerte
sich ängstlich an den Skilehrer. „I am not crazy! Ich haben
es gesehen. The Schneemonster. Es sich auf mich gestürzt.
Es sein gefährlich. Sie mir müssen glauben, bitte! Bitte!
Es war so schrecklich!“
Sepp versuchte krampfhaft, ernst zu bleiben. Er blickte
ihr tief in die Augen und nickte heftig. „Natürlich! Ich
glaube Ihnen jedes Wort! Aber jetzt kommen Sie. Wir
marschieren zurück zur Seilbahn!“
Willig trottete Mrs. Silverspoon neben ihm her.
Nach wenigen Schritten tauchten zwei helle, gelbe
Augen aus dem Schneegestöber auf. Sie genügten, um
Mrs. Silverspoon zu einem neuen Kreisch-Krampf zu
veranlassen.
„Here it comes ... es kommt zurück! Es ist aus!“
„Gar nichts ist aus. Wir ersparen uns nur das Zu-
fußgehen!“ brummte Sepp, der die „gelben Augen“ sofort
als Scheinwerfer des Pistenfahrzeuges erkannt hatte.
Der Fahrer nahm Mrs. Silverspoon mit zur Seilbahn.
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Für einen dritten wäre in der engen Kabine kein Platz
gewesen. Deshalb mußte Sepp alleine zu Fuß weiter.
Meine Ski —, fiel ihm plötzlich ein. Er hatte sie in der
Aufregung am Hang vergessen. Also stapfte er knurrend
und fluchend zurück.
Als er beim hölzernen Wegweiser vorbeikam, horchte
er auf. Da war etwas. Ein neues Geräusch. Diesmal
handelte es sich nicht um ein Dröhnen, sondern um ein
leises Heulen und Wimmern. Woher kamen diese Laute?
Und von wem? Von einem Tier? Oder vielleicht wirklich
von einem „Schneemonster“?
„Blödsinn“, schoß es Sepp durch den Kopf.
„Schneemonster sind karierter Quatsch. Ich könnte einen
Lachkrampf über mich selbst bekommen.“ Er klappte sein
Stirnband von den Ohren weg und horchte. Nur der Wind
pfiff und rauschte. Aber dann war es wieder da. Das
Klagen und Heulen. Diese lang gezogenen, tiefen Laute.
Die Richtung, aus der sie kamen, war ihm nun klar. Das
Wesen, das diesen Spuk verursachte, mußte sich bei der
Einfahrt in den Steilhang befinden. Es dämmerte schon,
aber trotzdem wollte Sepp unbedingt der Sache auf den
Grund gehen. Mit fest entschlossenen Schritten
marschierte er in Richtung Steilhang. Die unheimlichen,
heulenden Rufe wurden lauter und lauter ...

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Das Krokodil kaut keinen Kaugummi!

Es war einen Tag später, am Samstag, dem 9. De-


zember, im Hotel Olympia in Innsbruck.
In einem der wuchtigen Ledersessel der Hotelhalle saß
ein etwa zehnjähriger Junge. Mit ernster Miene blätterte er
in den großen Seiten einer Tageszeitung. Er hatte eine
runde Nickelbrille auf der Nase und trug einen grauen
Anzug. Neben ihm stand ein kleiner Aktenkoffer. Auf den
ersten Blick hätte man ihn für einen Generaldirektor
halten können, der beim Waschen eingegangen war.
„Rätsel um Schneemonster von Kitzbühel“ las der
Junge interessiert auf der letzten Seite. „Von einer
amerikanischen Urlauberin wurde gestern nachmittag ein
Schneemonster gesichtet. Das Untier soll sie angefallen
und zu Boden gerissen haben. Danach verschwand es im
Schneesturm. Die Urlauberin hat keine Verletzungen
erlitten. Die Suche der Bergwacht nach dem
Schneemonster blieb erfolglos.“
Neben dem Jungen kauerte auf einer wuchtigen Le-
derbank ein zartes Mädchen und knabberte nervös an
seinen Fingernägeln. Es trug eine dicke Daunenjacke und
blickte ständig nach allen Seiten. Immer wieder warf es
seine langen Haare über die Schultern und seufzte leise.
Die Drehtür des Hotels setzte sich wieder in Bewegung
und beförderte einen sportlichen, rothaarigen Jungen und
ein schlankes, aufgeschossenes Mädchen mit langen,
blonden Zöpfen herein. Ihnen folgte ein dickbäuchiger,
kleiner Mann, der ein paar Autoschlüssel um den

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Zeigefinger kreisen ließ.
„Das sind die letzten beiden dieses Wettbewerbs“, sagte
er zu dem Herrn an der Rezeption. „Sag dem Doktor
Bescheid. Ich muß weiter.“
Der Portier nickte und deutete den beiden Neuan-
kömmlingen, Platz zu nehmen. „Bitte setzt euch und habt
noch eine Minute Geduld, liebe Kinder.“
„Wir sind keine Kinder mehr,“ knurrte der rothaarige
Bub, als er sich in den tiefen Ledersessel fallen ließ.
Der Portier telefonierte, und ein paar Sekunden später
stürzte ein kleiner Mann mit Riesenschritten die Treppe
herunter. Die wenigen Haare, die noch auf seinem Kopf
sprossen, waren mit einer süßlich riechenden, fettigen
Pomade festgeklebt. Höfliche Menschen hätten den Mann
als „untersetzt“ bezeichnet. In Wahrheit war er allerdings
ziemlich fett und schwammig. Sein rundes Gesicht war
sehr faltig, und er hatte große Ähnlichkeit mit einem
Mops.
„Tag, Tag, Tag!“ rief der kleine Dicke den Kindern zu.
Die Fröhlichkeit war gespielt, das merkte jeder.
„Mein Name ist Doktor Markus Grassus. Ich bin der
Werbechef der Firma „Geier-Wally“. Ich hatte auch die
Idee zu dem Lederhosen-Malwettbewerb, den ihr
gewonnen habt. Ich gratuliere!“ Mit diesen Worten packte
Herr Dr. Grassus die Hände der verblüfften Mädchen und
Buben und schüttelte sie aus Leibeskräften. Dann blickte
er die vier fragend an. „Wer ist aber nun wer?“
„Mein Name ist Dominik Kascha, ich komme aus
Wien!“ stellte sich der Junge mit der Zeitung vor.
„Ich danke übrigens für den Flug von Wien nach
Innsbruck. Er war ein großes Erlebnis für mich.“
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Der rothaarige Bub warf ihm einen spöttischen Blick
zu. „Wieso redest du denn so geschwollen?“
„Tut mir leid, aber ich spiele gerade am Wiener
Burgtheater im Stück ,Wilhelm Tell'. Die Sprache des
großen Dichters Schiller scheint manchmal ein bißchen
abzufärben!“
„Wen spielst du denn? Den Apfel?“ Der Rothaarige
lachte über seinen Scherz laut los. Die beiden Mädchen
kicherten mit. Dominik schwieg beleidigt.
„Darf ich nun dich nach deinem Namen fragen?“
wandte sich Dr. Grassus an den drahtigen Burschen mit
den roten Haaren.
„Axel... Axel Klingmeier heiße ich, und ich komme aus
Linz. Wieso haben Sie eigentlich erst gestern Abend bei
uns angerufen? Warum müssen wir schon heute hier sein?
Haben Sie uns nicht früher verständigen können?“
„Dazu komme ich gleich“, vertröstete ihn der Wer-
bechef und sah die beiden Mädchen fragend an. „Und ihr?
Wer seid ihr?“
Das kleine Mädchen holte tief Luft und piepste dann
leise: „Poppi! Ich bin Poppi Monowitsch. Aus Graz! Ja ...
danke für den Flug ... ich bin auch zum ersten Mal
geflogen ...“
„Und ich heiße Lieselotte Schroll und komme aus
Kitzbühel“, sagte das Mädchen mit den dicken, blonden
Zöpfen.
Dr. Grassus setzte ein Lächeln auf, das er selbst wohl
für freundlich hielt, und flötete: „Sehr erfreut! Sehr
erfreut! Der Grund, warum ihr erst gestern Abend von der
heutigen Preisverleihung verständigt wurdet, ist die
Vergeßlichkeit meiner Sekretärin. Deshalb mußten wir
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euch heute schnellstens herbringen lassen. Um sechs Uhr
abends findet nämlich im Festsaal dieses Hotels die
Siegerehrung statt. Wir erwarten mehr als hundert Gäste,
die eure Entwürfe bestaunen und würdigen werden. Aber
jetzt lasse ich euer Gepäck auf die Zimmer bringen. Und
euch bitte ich, mir in den Festsaal zu folgen. Zu einer
kleinen Probe. Geht das in Ordnung?“
Die zwei Mädchen und die beiden Jungen nickten.
Ein selten unsympathischer Kerl, dachte sich Lieselotte.
Schleimbeutel hatte Axel Herrn Dr. Grassus mitt-
lerweile im stillen getauft.
Möpschen hieß er in Dominiks Gedanken.
Auf jeden Fall erwartete die vier im Festsaal eine —
nicht gerade angenehme — Überraschung.
Dr. Grassus führte die Kinder zuerst in einen kleinen
Raum hinter der Bühne. „Das ist die Garderobe. Hier
könnt ihr euch umziehen.“
„Wieso umziehen?“ wollte Dominik wissen.
„Erinnert ihr euch noch an die ausgeflippten, knall-
bunten Knickerbocker-Hosen, die ihr für den Wettbewerb
erfunden habt?“
„Na klar“, knurrte Axel. „Wir leiden schließlich nicht
an Gedächtnisschwund.“
„Wir haben eure Modelle nähen und bemalen lassen.
Ganz nach eurem Entwurf. Und jeder von euch soll heute
abend seine Sieger-Lederhose vorführen.“
Für Dominik war das kein Problem, „Ein Kostüm wie
jedes andere auch“, lautete sein Kommentar.
Axel hatte allerdings bedeutend weniger Lust, bei
dieser Sache mitzumachen. „Ich bin doch kein Foto-
modelt“, brummte er,
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Dr. Grassus sah ihn mit seinen kleinen, stechenden
Augen an. Es war ein böser, bohrender Blick. „Willst du
deinen Preis, dann tu, was ich gerade gesagt habe!“ Seine
Stimme klang ruhig, aber drohend.
Im nächsten Moment hatte er bereits wieder sein
Grinsen Marke „zuckersüß“ aufgesetzt und verkündete:
„Wenn ich „eure Namen aufrufe, kommt ihr bitte auf die
Bühne und marschiert einmal auf und ab. Alle Besucher
sollen schließlich eure tollen Ideen bestaunen können.
Zum Abschluß überreiche ich euch dann die Preise.“
„Bin ich froh, daß mich meine Freunde nicht so sehen
können“, dachte Axel. „Ich glaube, ich würde sonst im
Boden versinken. Wieso habe ich hirnverbrannter Depp
eine knallrosa Lederhose mit grünen Flügeln gezeichnet?“
Hastig schob Dr. Grassus die Kinder aus dem Saal.
„Meine Sekretärin, Fräulein Tilly, erwartet euch in
wenigen Minuten in der Hotelhalle. Sie macht mit euch
eine kleine Runde durch die Stadt. Wir sehen uns dann am
Abend wieder.“
Kaum hatte Axel als letzter den Saal verlassen, ver-
schloß der kleine, dickbäuchige Mann die Tür, lehnte sich
dagegen und stöhnte. Langsam ließ er die Hand in seine
linke Sakkotasche gleiten und zog einen zerknitterten
Zettel heraus. Es war ein Telegramm, das er in der Früh
erhalten hatte. Er warf einen kurzen Blick darauf und kniff
dann die Augen zusammen. Er konnte noch immer nicht
glauben, was er da las:
„Das Krokodil kaut keinen Kaugummi — stop — das
Krokodil taucht im Nil — stop — das Krokodil ver-
schlingt, was es nur bekommen kann — stop — roger.“
Mit dem Taschentuch wischte sich Dr. Grassus die
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Schweißperlen von der Stirn.
„Verdammt“, murmelte er, „verdammt, verdammt,
verdammt!“ Er ließ sich in einen der herumstehenden
Sessel fallen. Seine kleinen, grauen Grübelzellen rotierten
auf Hochtouren.
Wieso konnte das geschehen? Ich hätte ihn nie aus den
Augen lassen dürfen, schoß es ihm durch den Kopf.
Wenigstens wissen wir, wo er sich befindet. Er hat sich
vielleicht verletzt. Auf jeden Fall müssen wir ihn dazu
bringen, daß er sich zu erkennen gibt. Aber wie soll ich
das schaffen, überlegte der Werbechef.
Er warf das Telegramm auf den Boden und trampelte
wütend darauf herum. Mit einem Ruck hielt er inne und
schaute sich hastig um. Hatte ihn jemand beobachtet?
Außer ihm war niemand im Saal zu sehen. „Hallo? Hallo
Sie ...?“ rief er. Keine Antwort. Er war also wirklich
allein. Schnell bückte er sich und ließ das Stück Papier
wieder in seinem Anzug verschwinden. Sorgfältig drückte
er es tief in die Tasche. Diese Nachricht durfte niemand
außer ihm in die Hand bekommen. Obwohl der Inhalt für
Nichteingeweihte ohnehin völlig unverständlich war.
Plötzlich hellte sich seine Miene auf. Er hatte an-
scheinend eine Idee. Genau so mache ich es! Genau so
und nicht anders, sagte er leise zu sich selbst. Er sprang
auf, und grinsend versuchte er ein paar hüpfende Schritte,
die sehr ungeschickt und unbeholfen wirkten. Diesmal sah
das Grinsen übrigens triumphierend aus. Im Hüpfen war
Dr. Grassus jedenfalls nicht sehr geübt. Denn gleich
darauf knallte er mit dem Schienbein gegen einen Sessel
und jaulte auf. Er preßte seine Hände auf die schmerzende
Stelle und hinkte aus dem Saal.
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Denkste, Herr Doktor!

Fräulein Tilly war das genaue Gegenteil ihres Chefs.


Sie war eine überaus elegante, freundliche Dame, die
Axel, Lieselotte, Dominik und Poppi in einem bequemen
Wagen durch Innsbruck kutschierte.
„Sie trägt keinen Pelzmantel, sondern einen Mantel aus
Teddyplüsch“, dachte Poppi zufrieden. Leute, die sich tote
Tierhäute umhängen, mochte Poppi nicht.
„Und jetzt zeige ich euch die bekannteste Sehens-
würdigkeit hier in Innsbruck. Das ...“
„... Goldene Dachl!“ riefen alle vier im Chor.
„Es besteht aus genau 2.714 feuervergoldeten Kup-
ferschindeln und wurde — samt dem darunterliegenden
Balkon — von Kaiser Maximilian I. in Auftrag gegeben.“
Lilos Vortrag klang wie die Rede eines erfahrenen
Fremdenführers.
Fräulein Tilly sah sie erstaunt an. „Woher weißt du das
so genau?“
„Kunststück, ich bin doch Tirolerin!“ lachte das
Mädchen mit den blonden Zöpfen. „Übrigens, es gibt da
eine lustige Sage: Angeblich hat Herzog Friedrich das,
Goldene Dachl erfunden. Sein Spitzname war nämlich
‚Friedel mit der leeren Tasche’. Um aber der Welt zu
beweisen, daß er doch nicht so arm war, ließ er dieses
Dach mit goldenen Schindeln decken.“
Staunend betrachteten die drei anderen das berühmte
Dach, von dem der frischgefallene Schnee zum Glück
abgerutscht war. Es strahlte und glänzte in der

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Wintersonne. „Und wohin fahren wir jetzt, Fräulein
Tilly?“ erkundigte sich Axel.
Die Sekretärin schenkte ihm ein freundliches Lächeln
und meinte: „Bitte nennt mich nicht Fräulein Tilly. Da
komme ich mir wie meine eigene Urgroßmutter vor. Sagt
einfach Tilly zu mir.“ Sie warf einen schnellen Blick auf
die Uhr. „Wir haben noch genau zweieinhalb Stunden
Zeit. Ihr könnt auswählen. Wie wäre es mit den
„Schwarzen Mandern“ ?“
Poppi zog fragend die Augenbrauen hoch.
„Das sind 28 schwarze Statuen in Lebensgröße.
Verwandte und Vorbilder von Maximilian I., die an
seinem Grabmal Wache halten. Von Maximilian habt ihr
bestimmt schon einmal gehört. Er wird auch der ‚letzte
Ritter’ genannt. Beerdigt ist er übrigens nicht hier,
sondern in Wiener Neustadt. Trotzdem befindet sich sein
Grabmal in Innsbruck.“ Tilly zog ein kleines Buch über
die Sehenswürdigkeiten der Stadt aus der Handtasche und
zeigte den Kindern ein Foto der „Schwarzen Mander“.
„Unbedingt solltet ihr aber die Kolossal-Statue vom
Andreas Hofer sehen. Sie steht auf dem Berg Isel. Dort,
wo die Tiroler unter der Führung von Andreas Hofer die
Truppen Napoleons geschlagen haben“, erzählte sie.
Lieselotte wußte es natürlich ganz genau: „Später
wurde er von seinen Gegnern gefangen und lag in Mantua
in Banden, wie es im ,Andreas Hofer-Lied’ heißt! In
Mantua wurde er schließlich auch hingerichtet. Für uns ist
und bleibt er aber ein Volksheld!“
Tilly ließ den Motor wieder an und fuhr los. „Wir
machen jetzt einen Sprung zur ,Hungerburg-Bahn’.

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In der Talstation gibt's nämlich ein 1000 Quadratmeter
großes Rundgemälde, auf dem die Entscheidungsschlacht
dargestellt ist. Wir fahren dann weiter auf den Berg Isel
zum Andreas Hofer-Denkmal und zum Olympia-
Skisprung-Stadion! Einverstanden?“
Die Kinder nickten heftig.
„Preisfrage: Wie oft hat die Olympiade schon in
Innsbruck stattgefunden?“ Lieselotte schaute die anderen
prüfend an.
„Na einmal!“ lautete Dominiks Antwort.
„Irrtum, Dominik. Zweimal. 1964 und 1976!“
Dominik zuckte mit den Achseln. „Da war ich noch gar
nicht auf der Welt. Woher soll ich das wissen?“
Poppi tippte Tilly mit dem Finger auf die Schulter.
„Ja, Poppi? Was denn?“
„Ich würde gerne in den Innsbrucker Alpenzoo gehen.
Ich habe gehört, daß es der schönste Tierpark Österreichs
sein soll. Außerdem sind dort Tierarten zu sehen, die in
der freien Natur schon ausgestorben sind. Zum Beispiel
der Waldrapp und das Alpensteinhuhn!«
„Ich fürchte, das wird sich nicht alles heute ausgehen“,
seufzte Tilly. „Aber ihr bleibt ohnehin noch bis morgen
da.“ Die vier Kinder waren überrascht. Davon wußten sie
noch nichts.
Tilly schüttelte verwundert den Kopf. „Das verstehe ich
nicht. Der Chef wollte euch unbedingt selbst verständigen
und euch alles mitteilen. Davon war er nicht abzubringen.
Und nun hat er auf die Hälfte vergessen.“
„Er?“ rief Dominik. „Der Dr. Grassus hat gesagt, du
hättest vergessen.“
Tilly blähte wütend die Nasenflügel und atmete
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zweimal tief durch. „Jetzt reicht's mir. Heute werde ich
mit ihm ein Hühnchen rupfen“, knurrte sie leise vor sich
her.
Kurz nach fünf Uhr trafen sie wieder im Hotel ein.
Während Axel, Lilo, Dominik und Poppi ihre Mäntel und
Jacken auf die Zimmer trugen, marschierte Tilly mit fest
entschlossenen Schritten auf ein kleines Büro hinter der
Bühne zu. Sie klopfte.
„Herein“, hörte sie die Stimme von Dr. Grassus.
Tilly riß die Tür auf und stürzte zu ihrem Chef.
„Es reicht, Herr Doktor. Es reicht. Ich möchte endlich
wissen, warum Sie mir ständig Ihre eigenen Fehler in die
Schuhe schieben?“
Markus Grassus machte ein Gesicht wie ein kleiner
Junge, der gerade bei einem Streich ertappt worden war.
„Tu ich das?“ fragte er unschuldig. „Ja“
„Ja“.
„Dann verzeihen Sie mir, Fräulein Tilly.“ Er verzog
den Mund und zeigte seine gelben Zähne. Man hätte es
fast für ein Lächeln halten können.
„Allerdings muß ich Sie trotzdem tadeln. Sie hätten
mich durchaus erinnern können, daß ich diese komischen
Kinder selbst anrufen wollte. Ich habe heute keine
Ahnung mehr, wie ich auf diese Idee gekommen bin.
Außerdem scheint es Ihnen entfallen zu sein, ein Hotel für
die vier im schönen Skiort Ischgl zu reservieren. Das war
doch ausgemacht, oder?“
„Nein“, protestierte Tilly, „ausgemacht war ein
Erlebnis-Ferienaufenthalt im Zillertal. Und den habe ich
auch organisiert!“
„Zu dumm. Ich habe in Ischgl angerufen und erfahren,
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daß nichts bestellt war. Deshalb mußte ich blitzschnell alle
Hebel in Bewegung setzen, um doch noch etwas
aufzutreiben. Die Gewinner werden nun die
Weihnachtsferien in Kitzbühel verbringen. Im Hotel
Hochbrunner! Ein Freund hat das für mich eingefädelt.
Wir sind ihm zu großem Dank verpflichtet.“
„Aber Herr Doktor Grassus, das ...“
Der Werbechef schnitt ihr einfach das Wort ab. „Ich
fürchte, Fräulein Tilly, wir verstehen uns in letzter Zeit
nicht mehr gut. Haben Sie schon einmal daran gedacht,
sich einen anderen Arbeitsplatz zu suchen?“
Tilly schaute erschrocken auf. Was sollte das alles?
Was war nur in ihren Chef gefahren? Seit ungefähr einem
Monat benahm er sich sonderbar. Er war nervös und
gereizt. Die Tür zu seinem Zimmer mußte ständig
verschlossen sein. Einige Male hatte er ihr sogar verboten,
Telefonate entgegenzunehmen. Und jetzt legte er ihr
plötzlich nahe, zu gehen. Dabei hatte sie immer genau das
getan, was er wollte.
Mit einem Ruck erhob sich Dr. Grassus. „Entschul-
digen Sie mich. Die beiden Fotografen von der Zeitung
sind hier. Ich muß sie begrüßen.“
„Herr Doktor, ich habe mich mit den Kindern
unterhalten. Dem größeren Mädchen und dem rothaarigen
Jungen wäre es bestimmt nicht angenehm, in diesen
Lederhosen aus der Zeitung zu lachen. Sie wissen schon,
wegen ihrer Freunde ...“
Dr. Grassus winkte ab. „Mir völlig egal. Über alles
andere reden wir später.“ Er stand auf und ließ die
fassungslose Tilly einfach stehen. Wütend stapfte sie mit
dem Fuß auf. Das mußte sie sich nicht gefallen lassen.
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Eine Tilly Tiptoll warf niemand hinaus. Sie würde
freiwillig gehen. Doch dieser eingebildete Werbefritze
sollte nicht so ungeschoren davonkommen.
Sie lief in die Halle und erkundigte sich beim Portier
nach den Zimmernummern der vier Preisträger.
Der Festsaal des Hotels war gesteckt voll. Die Firma
„Geier-Wally“ hatte über das Radio alle Kinder
Innsbrucks zur Preis Verleihung eingeladen. Mehr als
dreihundert waren gekommen. Ein buntes und spannendes
Programm erwartete sie. Zuerst trat ein Zauberer auf, der
statt Kaninchen eine Lederhose nach der anderen aus
seinen Kisten und Käfigen zog. Ihm folgte eine
Rock'n'Roll-Akrobaten-Gruppe, die selbstverständlich
auch in Lederhosen auftrat. Weiter ging es mit einem
Clown, der — man glaubt es kaum — seine großkarierte
Hose gegen eine lederne Knickerbocker eingetauscht
hatte.
Danach spielte die Band einen Tusch, und Herr Dr.
Grassus betrat die Bühne. Statt seines mausgrauen Anzugs
trug er nun ein Trachtensakko und eine dunkle — wie
könnte es anders sein — Lederhose.
„Meine Damen und Herren, liebe Kinder!“ säuselte er
in das Mikrofon. „Ich habe nun das Vergnügen, die Sieger
unseres Knickerbocker-Malwettbewerbs zu präsentieren.
Über 1000 Zeichnungen sind bei uns eingelangt. Die Wahl
ist uns schwer gefallen, doch heute stehen sie fest: die
Gewinner. Vier Kinder, die die ausgeflipptesten und
poppigsten Lederhosen entworfen haben. Da wäre einmal
Poppi mit ihrem Modell ,Giraffo-bra’!“
Poppi tappte zaghaft auf die Bühne. Der donnernde
Applaus des Publikums erschreckte sie. Axel versetzte ihr
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einen Schubs. „Los, schnell raus, damit wir zu unseren
Preisen kommen. Du weißt schon warum“, flüsterte er ihr
verschwörerisch zu.
Also tänzelte Poppi in ihrer Knickerbocker zur
Bühnenrampe. Das eine Bein war gefleckt wie der Hals
einer Giraffe, das andere war gestreift wie das Fell eines
Zebras. Daher der Name „Giraffo-bra“!
Auf Poppi folgte Dominik in einer Lederhose, die
aussah, als wäre sie aus Filmstreifen zusammengenäht
worden. Lilos Modell war mit richtigen kleinen Bergen
aus Leder verziert, auf denen sogar winzige Männchen
kletterten. Den Abschluß bildete Axel in seiner knallrosa
Knickerbocker mit den giftgrünen Flügeln. Er hatte den
Entwurf nur aus Langeweile in einer Schulpause
hingekritzelt.
Der Werbechef zückte vier große Kuverts, auf denen
dick der Schriftzug „Geier-Wally“ prangte. Er überreichte
sie den Kindern mit den Worten: „Hier drinnen findet ihr
die Gutscheine für eure Preise. Da wäre einmal ein
Abenteuer-Skiurlaub zu Weihnachten in Kitzbühel.“
„Wau! Irre!“ rief Axel. Die Kinder im Saal klatschten
begeistert in die Hände.
Nur Poppi machte kein sehr erfreutes Gesicht. „Ich
kann gar nicht Ski fahren. Und Ski habe ich auch keine!“
„Das macht gar nichts“, gröhlte Dr. Grassus. „Für jeden
von euch gibt es eine neue Skiausrüstung, und außerdem
werdet ihr von einem Skilehrer wertvolle Tips erhalten.“
Lilo lachte laut auf. „Vielleicht von meinem Papa!“
„Wieso von deinem Papa?“ Dr. Grassus verstand nicht,
was das Mädchen meinte.
„Naja, ich bin doch aus Kitzbühel, und mein Vater ist
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dort Skilehrer!“
Das Publikum kicherte. Der dicke Herr Dr. Grassus
runzelte die faltige Stirn. Das war ihm nun etwas peinlich.
Lilo tröstete ihn darüber hinweg. „Macht gar nichts“,
sagte sie. „Immerhin darf ich mir doch noch etwas
wünschen. Jeder Preisträger hat einen Wunsch frei. Das
stand bei den Wettbewerbs-Bedingungen.“
„Ach ja, richtig“, grinste Dr. Grassus verlegen. „Aber
zuerst muß noch ein Foto der Gewinner geknipst werden.“
Er winkte zwei Herren, die neben der Bühne standen und
bisher gelangweilt zugesehen hatten. Nun stürzten sie zur
Mitte und begannen gleich darauf wild zu fotografieren.
Die vier Kinder standen in einem richtigen Blitzlicht-
Gewitter. Axel biß die Zähne zusammen. Zum Glück hatte
ihn Tilly gewarnt. Er wußte, daß er den Fotografen nicht
entkommen konnte. Aber er hatte für Dr. Grassus auch
noch eine Überraschung bereit. Und was für eine ...
Endlich war das Geknipse beendet, bei dem sich der
Werbechef im Hintergrund gehalten hatte.
„Nun zu euren Wünschen“, wandte sich Dr. Grassus
wieder den Kindern zu. „Was möchtet ihr denn?“
Dominik machte einen Schritt vor und nahm dem
verblüfften Doktor das Mikrofon aus der Hand. Er blickte
zu den Kindern im Saal und sagte dann langsam und
genüßlich: „Wir alle hätten gerne, daß sie fünf volle
Minuten lang Schuhplatteln!“ Eine Sekunde lang herrschte
Stille. Dann begann Dr. Grassus heftig mit den Armen zu
fuchteln.
„Kommt nicht in Frage. Es geht hier um Wünsche, die
man kaufen kann.“
„Das steht aber nirgends!“ protestierte Axel. „Es hat
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immer nur geheißen: Ein Wunsch! Das ist unser Wunsch!“
„Nein! ich denke nicht daran.“
Ein weißhaariger Herr in der ersten Reihe stand auf und
meinte mit ruhiger Stimme: „Das gilt nicht, Herr Doktor.
Die Kinder haben recht. Wenn es ihr Wunsch ist, müssen
Sie ihn erfüllen.“
Dr. Markus Grassus blickte den Mann entsetzt an,
„Das ist der Chef der Firma“, flüsterte Lilo Axel zu.
„Schuhplatteln! Schuhplatteln! Schuhplatteln!“
gröhlten die 300 Kinder im Saal und trampelten aus
Leibeskräften. „Schuhplatteln!“
Dr. Grassus blieb nichts anderes übrig. Er warf den
vieren in ihren bunten Lederhosen bitterböse Blicke zu,
während er zur Mitte der Bühne stapfte. Er machte zwei
Sprünge, die an eine hinkende Gemse erinnerten, und
versuchte mit seinen kurzen, dicken Armen die
Schuhsohlen zu erreichen. Sehr erfolgreich war er dabei
nicht. Danach wollte er wieder abgehen.
Dominik stellte sich ihm in den Weg.
„Halt! Wir haben uns gewünscht, daß Sie fünf Minuten
lang Schuhplatteln. Und selbstverständlich mit Musik!
Bitte sehr!“ Er gab der Band ein Zeichen, worauf die drei
Musiker sofort einen zünftigen Schuhplattler anstimmten.
„Elende Knickerbocker-Bande!“ zischte Dr. Grassus
den Preisträgern Axel, Lilo, Dominik und Poppi zu. Dann
versuchte er so zu tun, als würde er Schuhplatteln.
Die Kinder im Saal johlten vor Lachen und klatschten
im Takt.
Am Bühnenrand stand Tilly und lächelte zufrieden. Das
vergönnte sie dem Mops! Der Spitzname gefiel ihr. Sie
zwinkerte den vier Kindern aufmunternd zu. Alle vier
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grinsten fröhlich und zufrieden zurück.
„Wir vier sind also die Knickerbocker-Bande!“ flüsterte
Axel den anderen zu. „Warum eigentlich nicht?“

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Baby-Haie in Kitzbühel?

Es war schon kurz nach drei Uhr früh. Im vierten Stock


eines Hauses am Inn-Ufer brannte noch immer Licht. Ein
beleibter, kleinwüchsiger Mann trat ans Fenster und
blickte hinaus auf den schwarzen Fluß.
Mit den Händen rieb er über die schmerzenden
Oberschenkel. Er hatte einen schlimmen Muskelkater vom
Schuhplatteln.
Die halbe Nacht lang war er in seinem Zimmer auf und
ab gegangen. Nun hatte er einen Entschluß gefaßt.
Mir doch egal, ob es für sie gefährlich wird oder nicht.
Diese heimtückischen kleinen Ganoven —, dachte er, als
er zum Telefon griff und eine Nummer wählte.
„Telefonische Telegrammaufnahme“, meldete sich eine
freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
Der Mann gab seinen Namen und seine Telefon-
nummer bekannt und buchstabierte der Dame von der Post
den Namen des Empfängers in Italien.
„Und wie soll der Text lauten?“
„Baby-Haie feiern Weihnachten in Kitz — STOP —
Haben zweite Hälfte des Zahnes — STOP —
Münchhausen hätte seine Freude — STOP — doch beißt
der Zitterrochen so bald an? — STOP!“
„Aha!“ Die Stimme der Telefonistin klang etwas
verunsichert, aber das Wundern hatte sie sich im Laufe der
Jahre abgewöhnt.
Der Mann mit dem Mopsgesicht legte auf und rieb sich
zufrieden die Hände. Der Köder war gelegt. Nun mußte

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sein Opfer nur noch anbeißen.
„Zwei Wochen wirst du dich noch gedulden müssen,
aber auch diese Zeit geht vorüber!“ sagte er zu sich und
ließ sich dann auf sein Bett fallen.
Am nächsten Tag erfüllte Tilly Poppis Wunsch und
fuhr mit den vier Kindern zum Alpenzoo.
Unterwegs bewunderte Poppi die ganze Zeit die
schneebedeckten Berge, die die Stadt umgaben.
„So viele Berge und alle so hoch.“
„Das ist doch nichts Besonderes“, lachte Lilo. „Der
Patscherkofel und die Frau Hitt sind nur ein bißchen über
2.200 Meter hoch. In den Zillertaler-Alpen reiht sich ein
Dreitausender an den anderen.“
Poppi staunte. „Wißt ihr, ich habe bis vor kurzem im
Burgenland gelebt, und dort gibt es kaum Berge. Dafür
kann man im Sommer herrlich Rad fahren!“
Kurz darauf waren sie im Alpenzoo angekommen und
schlenderten von Gehege zu Gehege. In den geräumigen,
kleinen Landschaften, die für die Tiere aufgebaut worden
waren, tummelten sich Schleiereulen, Bartgeier, Wölfe,
Biber, Braunbären und Steinböcke.
„Schade, daß wir heute schon wieder zurück müssen“,
meinte Axel.
„Aber wir sehen uns doch bald wieder. In ein bißchen
mehr als zwei Wochen. Am 27. Dezember, am
Nachmittag, ist Treffpunkt im Hotel Hochbrunner“,
meinte Lilo. „Das ist übrigens nur zwei Straßen von
meinem Haus entfernt!“
Warum schläfst du dann nicht daheim?“ wollte Axel
wissen.
„Weil es im Hotel viel mehr Spaß macht und außerdem
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mein Preis ist! Und zehn Tage ohne Eltern sind doch auch
nicht schlecht.“
Axel nickte zustimmend.
„Meine Mutter spielt zu Weihnachten Theater. Die
kann sicher nicht weg. Sie ist nämlich Schauspielerin!“
berichtete Dominik.
„Und meine Eltern fliegen gleich nach Weihnachten
nach Amerika. Weil mein Papa zwei Monate dort arbeiten
soll. An einer Universität. Hoffentlich lassen sie mich
allein kommen!“ meinte Poppi.
„Aber klar“, beruhigte sie Lilo. „Und wenn nicht, dann
ruf mich an. Meine Mama regelt das schon. Die
verspricht, ein wachsames Auge auf dich zu werfen, und
alles ist geritzt.“ Poppi strahlte, „Danke, Lieselotte!
Super!“
Beim Ausgang des Alpenzoos wurde die Knicker-
bocker-Bande bereits erwartet. Als sie auf den Parkplatz
kamen, sprang Dr. Grassus aus einem Wagen und angelte
vier Schachteln von der Rückbank. Er drückte jedem der
vier eine in die Hand.
Lilo betrachtete sie prüfend. „Was ist denn da drin-
nen?“
„Eure Kunstwerke natürlich“, grunzte der Werbechef.
„Ihr wollt sie doch bestimmt als Andenken mitnehmen.
Außerdem braucht ihr sie in Kitzbühel.“
„Wieso?“ forschte Axel.
„Weil mit eurem Preis eine kleine Bitte verbunden ist.
Als Werbespaß für die Firma ‚Geier-Wally’ sollt ihr eure
Meisterwerke in einer Discothek vorführen.
Nur einmal und ohne Fotografen. Wäre das möglich?
Der Chef hätte es gerne.“
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Die vier blickten einander fragend an und nickten
schließlich.
Zwei Stunden später hieß es Abschied nehmen. Jeder
fuhr wieder nach Hause und freute sich über die
Neugewonnenen Freunde. Keiner ahnte, daß eine der
knallbunten Lederhosen ein gefährliches Geheimnis trug.
Das sollte der Beginn des ersten Falls der Knickerbocker-
Bande sein...

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Der rote Teufel

Drei Tage nach Weihnachten war es dann soweit.


Am 27. Dezember trafen die vier Mitglieder der
Knickerbocker-Bande nacheinander in Kitzbühel ein.
Der erste war Dominik, der es sich gleich in der
Hotelhalle beim grünen Kachelofen bequem machte. Kurz
nach ihm kamen Poppi und Axel. Lilo stapfte als letzte
mit Riesenschritten in das Hotel Hochbrunner. Mit den
dicken, weichgepolsterten Moon-Boots an den Füßen
erinnerten ihre Bewegungen an einen Astronauten auf
dem Mond.
Nach einer stürmischen Begrüßung ging es hinauf in
die Zimmer. Die Firma „Geier-Wally“ hatte nicht gespart.
Sowohl die Mädchen als auch die Buben bewohnten
jeweils gemeinsam ein eigenes Appartement. Es bestand
aus einem Vorraum, einem Wohnzimmer und einem
eigenen Schlafzimmer.
„Wo hast du denn dein Gepäck?“ fragte Poppi ihre
Freundin, als sie ächzend ihren schweren Koffer zum
Kasten zerrte.
„Das kommt nach“, verkündete Lilo. „Mein Papa bringt
mein Zeug heute abend vorbei. Mit dem Auto. Ich war
nämlich zu faul, die Sachen herzuschleppen, obwohl ich
nur dreimal ums Eck wohne!“
Das Zimmertelefon schnarrte, und Lilo hob ab. „Ja
bitte?“
„Die jungen Herrschaften werden gebeten, in die Halle
zu kommen“, hörte sie die Stimme des Portiers. „Sie

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werden unten erwartet.“
Neugierig rasten die vier über die Stiege hinunter und
prallten direkt in ... Tilly. Die freundliche Sekretärin stand
in ihrem schwarzweiß gestreiften Skianzug am Fuße der
Treppe und empfing lachend die Knickerbocker-Bande.
„Was machst denn du da?“ fragte Axel erstaunt.
„Das klingt ja so, als wäre ich unerwünscht!“ Tilly
spielte auf sehr empört.
„Aber nein!“ lachte Lilo. „Wir sind nur ganz über-
rascht.“
Tilly verneigte sich vor den vieren und verkündete
feierlich: „Ich habe die ehrenvolle Aufgabe, euch als
zünftige Skifahrer auszurüsten. Und da ich schon
hergekommen bin, werde ich auch noch ein paar Tage mit
euch verbringen. Der Schnee ist prachtvoll. Das Wetter
soll es auch werden, wenn die Wetterfrösche sich nicht
geirrt haben. Natürlich bleibe ich nur, wenn ihr nichts
dagegen habt.“
„Aber nein! Überhaupt nicht!“ riefen die vier.
„Außerdem möchte ich euch eurem Skilehrer vor-
stellen.“
Tilly machte eine schwungvolle Handbewegung in
Richtung Kachelofen. Auf der Bank saß einer der „Roten
Teufel von Kitz“. So werden die Kitzbühler Skilehrer
wegen ihrer roten Anoraks genannt.
„Ich bin der Sepp! Sepp Stürzel, wenn ihr es ganz
genau wissen wollt. Aber ich mache meinem Nachnamen
ganz und gar keine Ehre!“ stellte er sich vor. Dann stutzte
er. „Aber sag, Lilo, was machst denn du da? Willst du mir
das Skifahren beibringen?“
„Nein, nein“, wehrte Lilo ab, „aber Preis ist Preis. Und
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wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne mit dem
Axel fahren. Der ist nämlich ein toller Pistenflitzer — hat
er zumindest gesagt.“
„Stimmt auch!“ rief Axel.
Poppi meldete sich zaghaft zu Wort. „Ich bin aber
Anfängerin!“
Sepp legte ihr den Arm um die Schulter und meinte:
„Kein Problem, da bin ich Spezialist. In spätestens einer
Woche kannst du auch auf den Berg rauffahren.“
„Und was ist mit mir? Ich fahre mittel!“ meldete sich
Dominik.
„Dann suchen wir beide uns gemeinsam die ein-
facheren Pisten aus“, entschied Tilly. „Abgemacht?“
„Abgemacht!“ rief die Knickerbocker-Bande im Chor.
Anschließend ging es ins Sportgeschäft, wo alle vier
mit den neuesten Skianzügen ausgestattet wurden. Je nach
Können erhielt dann jeder noch das richtige Paar Ski, mit
Sicherheitsbindung und Skischuhen.
„Das ist ja wie ein zweites Mal Weihnachten,“ stellte
Axel fest, als er mit den anderen ins Hotel zurückkehrte.
„Wie Ostern und Weihnachten zusammen!“ lachte
Dominik.
Sepp, der die beiden Buben und die Mädchen beim
Kauf beraten hatte, verabschiedete sich.
„Ich muß nach Hause. Mein Bruder ist auf Besuch da.
Morgen um neun Uhr hole ich euch ab. Ist das zu früh?«
„Nein, gerade richtig!“ Alle waren einverstanden.
Lilo, Axel, Dominik und Poppi fuhren mit dem Aufzug
in den dritten Stock. Als sie zu ihren Zimmern kamen,
erschraken sie. Beide Türen standen offen. Dabei hatten
sie doch abgesperrt und die Schlüssel beim Portier
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abgegeben.
Als Poppi das Wohnzimmer ihres Appartments betrat,
machte sie einen leisen Schrei. Ihr Koffer war geöffnet
worden, und der Inhalt lag wild verstreut im ganzen
Raum.
Dominik und Axel stürzten zu den Mädchen. „Bei uns
hat jemand alles durchwühlt! Unsere Koffer! Alles! Das
totale Chaos!“ Ratlos betrachteten sie das Durcheinander
bei Poppi und Lilo.
„Wer war das?“ fragte Dominik.
„Ein Wahnsinniger oder ein Hoteldieb!“ lautete Axels
Verdacht. Lilo schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht.
Für einen Hoteldieb sind wir völlig uninteressant. Ich
vermute, daß hier jemand etwas gesucht hat. Oder er
wollte etwas suchen und hat sich in der Zimmernummer
geirrt.“
„Du redest wie eine geborene Detektivin!“ staunte
Axel.
„Krimis sind auch mein Hobby“, erzählte Lilo. „Ich
habe heuer zu Weihnachten alle Abenteuer des Sherlock
Holmes bekommen. Der konnte vielleicht kombinieren.“
Dominik hatte jetzt keine Lust zum Detektivspielen.
„Ich gehe zum Portier. Vielleicht hat der eine Ahnung,
wer das angerichtet hat. Aufräumen ... wäähhh!“ stöhnte
er.
Das Aufräumen blieb Dominik erspart. Nachdem die
Gendarmerie die Zimmer besichtigt hatte, kam ein
Zimmermädchen und schlichtete die Kleidungsstücke in
die Kästen. Die Knickerbocker-Bande marschierte
unterdessen in den Speisesaal, wo sie bereits von Tilly
erwartet wurde.
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Tilly trug nun einen Jogginganzug, der aus vielen
bunten Stoffstücken zusammengenäht war. Mit den
aufgesteckten blonden Haaren und dem bunten Halstuch
sah sie sehr frisch und freundlich aus — wie Poppi
anerkennend feststellte.
„Die Gendarmerie hat nicht den leisesten Verdacht, wer
da in euren Zimmern gewütet hat“, berichtete sie den
Kindern. „Auf jeden Fall rate ich euch, am Abend
abzuschließen.“
Poppi schaute sie mit weit aufgerissenen Augen an.
„Meinst du, der Einbrecher kommt zurück?“
Tilly schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Und
wenn ihr euren Schlüssel innen stecken laßt, kann er gar
nicht hinein. Er hat nämlich eindeutig einen
Zweitschlüssel besessen.“
Lilo zeigte Poppi ihre Fäuste. „Die linke Faust riecht
nach Krankenhaus, die rechte nach Friedhof!“ meinte sie
scherzhaft, um ihre kleine Freundin zu beruhigen. „Aber
im Ernst, ich bin ganz gut im Boxen. In der Schule haben
ein paar Buben schon den Rückzug angetreten! Also keine
Angst, Poppi!“
„Stärk dich lieber mit einem Tirolerknödel“, riet ihr
Dominik und löffelte schlürfend und schmatzend seine
Suppe, in der zwei große, runde Knödel schwammen.
„Wieso bricht jemand in unsere Zimmer ein? Gleich
nach unserer Ankunft! Am hellichten Tag!“ Dieser
Gedanke ging Poppi nicht aus dem Kopf. Sie hatte Angst,
und Tilly sah ihr das an. Sie legte ihre schlanke Hand
beruhigend auf Poppis Arm. „Im dritten Stock befinden
sich außer euren beiden Appartements nur ein paar
Zimmer, die die Besitzer des Hotels bewohnen. Ich bin
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sicher, der Dieb hatte es auf diese Zimmer abgesehen. Er
hat sich in der Tür geirrt. Vergiß die Sache, Poppi!“
Sehr überzeugend klang Tillys Stimme aber nicht. Das
fiel auch Axel und Lilo auf.
Dominik hatte für diese Zwischentöne allerdings keine
Ohren. Er war viel zu sehr mit dem Essen beschäftigt.
Als Hauptspeise stand an diesem Tag „Forelle blau“ auf
dem Menü. „Zählt nicht zu meinen Lieblingsspeisen, da
der Verzehr unter Umständen gefährlich und mit
Hustenanfällen verbunden sein kann“, war Dominiks
Meinung dazu.
Tilly blickte ihn fragend an. „Du meinst, die Gräten
stören dich?“
„Habe ich doch gerade gesagt.“
Lilo und Axel johlten vor Lachen. „Kannst du das nicht
einfach und normal ausdrücken, wie jeder andere?“
Dominik schob beleidigt die Unterlippe vor und
schaufelte das nächste Stück Fisch auf die Gabel. Al-
lerdings war es ein wenig zu groß, und auf dem Weg zu
Dominiks Mund fiel es unter den Tisch. Dominik blickte
schnell nach allen Seiten. Hatte jemand sein Mißgeschick
bemerkt? Ja, man hatte es gesehen. Poppi, Axel und Lilo
starrten ihn grinsend an und verbissen sich das Lachen.
Umständlich bückte sich Dominik und suchte den
Teppich nach dem verloren gegangenen Bissen ab. Jedoch
vergeblich. Er sah nur fünf Paar Schuhe und die übergroße
Handtasche, die Poppi ständig mit sich herumschleppte.
Vom Fisch keine Spur. Er wollte sich schon wieder
aufrichten, als er eine seltsame Beobachtung machte.
Poppis Tasche bewegte sich. Er verharrte einen Moment
ganz ruhig, ließ die blau-gelbe Kunststofftasche dabei aber
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nicht aus den Augen. Nun blieb es in ihr völlig still.
Vorsichtig streckte er seine Hand danach aus. Der
Reißverschluß war ein Stück offen. Dominik ließ seine
Finger hineingleiten.
„Autsch!“ schrie er und sauste in die Höhe. Dabei
knallte er mit dem Kopf an die Tischkante.
Als er auftauchte, lutschte er an seinem rechten
Zeigefinger und rieb sich mit der linken Hand den
Hinterkopf.
Nun konnte sich auch Tilly nicht länger zurückhalten.
„Was treibst du denn da unten?“ prustete sie.
„Angelst du vielleicht nach ganzen Forellen?“ spottete
Axel.
Dominik betrachtete verwundert den kleinen Schnitt
auf seinem Daumen. Er blutete nicht stark, aber doch ein
bißchen. Er hatte in der Tasche plötzlich auf etwas sehr
Scharfes gegriffen. Aber worauf? Sollte Poppi vielleicht
ein Messer bei sich tragen? Dominik wußte, daß jedes
weitere Wort nur einen neuen Lachkrampf seiner Freunde
auslösen würde. Deshalb schwieg er und widmete sich
lieber genüßlich dem Essen.

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Schnee- und andere Monster

Nach dem Dessert lud Tilly die Knickerbocker-Bande


noch in das gemütliche „Jagdzimmer“ ein. Seinen Namen
hatte dieser Raum von den zahlreichen Jagdtrophäen, die
dort an den Wänden hingen. Sogar die ausgestopften
Köpfe eines Hirsches und eines Wildschweines waren da
zu sehen.
„Lebendige Tiere sind mir lieber!“ brummte Poppi.
Das knisternde Feuer im offenen Kamin war dann aber
doch zu verlockend. Die vier ließen sich in die
ausladenden, weich gepolsterten Lehnsessel fallen, die
davor standen, und starrten in die Flammen. Ein Kellner
brachte jedem ein hohes Glas mit einem rotgrün-gelben
Getränk. Unten war es ganz rot, in der Mitte grün und
oben gelb.
Lilo betrachtete ihr Glas mißtrauisch.
„Das ist ein Pistenflitzer-Cocktail!“ erklärte Tilly.
„Besteht aus Himbeersirup, Pfefferminz-Sirup und
Orangensaft. Ihr könnt ihn Schicht für Schicht oder aber
vermischt trinken. Auf jeden Fall gibt er Kraft für unseren
morgigen Skitag!“
„Was macht eigentlich Möpschen?“ erkundigte sich
Dominik.
„Möpschen?“ Tilly verstand nicht ganz.
„Er meint Herrn Dr. Grassus!“ sagte Lilo schnell.
Tilly lachte laut. „Der Spitzname paßt wirklich zu ihm.
Warum er mir nie eingefallen ist? Also ‚Möpschen’ ist
nicht mehr in der Firma ,Geier-Wally’! Er hat gekündigt.

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Drei Tage nach der Preisverleihung.
Ich wollte ja auch gehen, aber der Chef hat es nicht
zugelassen. Und nun leite ich selbst die Werbeabteilung.“
„Bravo!“ Die Knickerbocker-Bande spendierte Tilly
einen donnernden Applaus. Die junge, blonde Frau
bedankte sich dafür mit einer Verbeugung.
„Gespannt bin ich ja, ob wir morgen auch dem
Schneemonster begegnen!“ platzte Dominik plötzlich
heraus.
„Schneemonster? Hast du das vielleicht auch schon
gespielt? Im Theater oder in einem Film?“ machte sich
Axel lustig.
Dominik hörte gar nicht hin. „He, Lilo, du mußt doch
mehr darüber wissen. Die Geschichte mit dem
Schneemonster ist sogar in der Zeitung gestanden.“
Lilo nickte. „Diese komische Amerikanerin hat sich
eingebildet, in einem Schneesturm ein weißes, weiches
Ungeheuer gesehen zu haben. Es hat sie angeblich
überfallen. Aber zuerst hat ihr das niemand geglaubt.
Diese Gurke hat auch behauptet, Ski fahren zu können.
Dabei hat sie nicht einmal den Schneepflug beherrscht.“
„Was heißt zuerst hat ihr niemand geglaubt?“ bohrte
Axel, der neugierig geworden war.
„Naja, das Schneemonster ist danach noch zweimal
gesichtet worden. Einmal vom Direktor des Hotels auf
dem Hahnenkamm, und das zweite Mal von einer
angeheiterten Urlauberin. Diese wollte in der Nacht
unbedingt im Schnee spazieren und ist hinausgelaufen. Sie
hat eine Windlaterne mitgehabt, und plötzlich soll vor ihr
ein schneeweißes Wesen mit einer faltigen, schrumpeligen
Haut aufgetaucht sein. Es hat geröchelt und gekeucht. Mit
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seinen kräftigen Pranken hat es der Urlauberin gedeutet zu
verschwinden. Aber die Frau war starr vor Schreck. Da
hat sich das Monster gebückt und ihr eine Ladung Schnee
ins Gesicht geschleudert. Die Frau ist daraufhin krei-
schend zum Hotel zurückgerannt!“
Ein feuchtes Holzstück krachte im Kamin. Poppi schrie
auf.
„Keine Angst, untertags ist das Monster noch nie
aufgetaucht. Und ins Tal zum Babyhang wagt es sich
ohnehin nicht“, beschwichtigte sie Lilo.
Dominik gähnte herzhaft, und das Gähnen wirkte
ansteckend. Bald gähnten auch Axel, Lilo, Poppi und
Tilly. Sie tranken aus und zogen sich auf ihre Zimmer
zurück.
„He, mach auf! Was soll denn das?“ Lilo klopfte mit
der Faust gegen die Badezimmertür. „Ist dir nicht gut?
Kann ich dir helfen?“
„Nein, nein, alles in Ordnung!“ kam Poppis Antwort
dumpf durch die Tür.
Lilo wollte durch das Schlüsselloch spähen, aber leider
gab es keines. Sie war mitten in der Nacht aufgewacht und
hatte bemerkt, daß Poppis Bett leer war. Die Uhr zeigte
zwei Uhr in der Früh.
Poppi war weder im Wohnzimmer noch im Vorraum zu
finden. Schließlich war Lilo der schmale Lichtstreifen
aufgefallen, der unter der Badezimmertür durchfiel.
Warum hatte sich das Mädchen eingesperrt?
Der Riegel knackte, und die Tür ging auf. Poppi trat in
ihrem langen, sonnenblumengelben Nachthemd heraus.
Auf dem Arm trug sie ihre Tasche.
„Wozu brauchst du die im Badezimmer?“ fragte
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Lieselotte erstaunt. Poppi kniff die Lippen zusammen und
blickte zu Boden. Als Lilo nach der Tasche greifen wollte,
preßte sie Poppi noch enger an sich. „Nicht, die gehört
mir!“
„He, wir sind doch Freundinnen“, rief Lilo, „was hast
du da so Schreckliches drinnen? Warum kannst du es mir
nicht zeigen?“
Ein leises Wimmern war die Antwort.
„Spinnst du?“ Lilo wurde langsam ärgerlich. „Du
scheinst einen leichten Höhenkoller abgekriegt zu haben!“
Poppi schüttelte energisch den Kopf.
Wieder ertönte ein hoher, gurgelnder Laut. Er klang
nach Protest. Poppi blickte erschrocken auf die Tasche.
„Pssst!“ machte sie.
Jetzt riß Lilo die Geduld. „Poppi, ich will endlich
wissen, was da drinnen ist! Los, bitte zeig es mir!“
„Du darfst es aber niemandem verraten. Wenn das
Hotel daraufkommt, muß ich vielleicht ausziehen.“
„Komm schon, so fürchterlich kann es doch nicht sein.“
„Poppi kniete sich auf den Boden und zog den
Reißverschluß der Tasche auf. Ein kleiner, roter
Katzenkopf schoß heraus. „Miau!“ lautete die klägliche
Begrüßung.
„Eine Katze!“ Lilo starrte sie fassungslos an. „Hast du
die schon die ganze Zeit herumgetragen?“
Poppi nickte.
„Aber wieso hast du sie mitgenommen?“
„Weil ich Tiere so gern habe. Daheim laufen bei uns
drei Katzen, ein Bernhardiner, ein Papagei, mehrere
Kaninchen und zwei zahme Ratten herum. Goldfische
habe ich auch noch. Der Rosso, der hängt aber ganz
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besonders an mir. Ohne mich wird er vielleicht krank.
Seine Mutter ist von einem Auto überfahren worden. Ich
habe ihn mit der Babyflasche aufgezogen. Darum ist er
mitgekommen.“
Lilo streichelte die kleine, rote Katze, die schnurrend
den Kopf an ihrem Arm rieb.
„Rosso ist toll“, erzählte ihr Poppi, „er geht sogar aufs
Klo. Er braucht nicht einmal ein Kisterl. Jetzt habe ich ihn
gerade gefüttert.“
„Die Vorspeise hat er ja schon gehabt“, lachte Lilo.
„Das Stück Forelle, das Dominik vom Teller gefallen ist.
Deshalb hat er es nicht mehr gefunden. Aber Poppi, ich
mache dir einen Vorschlag. Du könntest Rosso untertags
bei meiner Mutti lassen. Wir haben auch zwei Katzen, mit
denen sich Rosso bestimmt gut versteht.“
„Machen wir“, jubelte Poppi, die ohnehin schon große
Sorge gehabt hatte. „Am Abend hole ich ihn dann wieder
ab. Das macht ihm nichts aus. Er wird gerne
herumgetragen.“
Erst jetzt fiel Lilo das schmale Halsband auf, das Rosso
trug. Eine kleine Glocke aus Messing baumelte daran.
„Die habe ich ihm wegen Klarabella umgehängt. Das
ist meine Ratte. Ein wahnsinnig kluges Tier. Rosso wollte
sie aber schon zweimal — naja ,kosten'. Dazu kommt er
jetzt aber nicht mehr. Wenn Klarabella frei herumläuft
und das Klingeln hört, bringt sie sich gleich in Sicherheit.
Hinter dem Bücherregal, wo Rosso sie nicht erwischen
kann.“
Der rote Kater schaute Lilo und Poppi fragend an und
riß dann sein Maul weit auf. Er gähnte. „Na dann komm!“
rief sein Frauchen und schlüpfte unter die Bettdecke.
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Rosso machte es sich auf ihrem Kopfpolster bequem
und schlief zufrieden ein.
Er wußte ja nicht, daß er schon bald ein paar Tage ohne
Poppi auskommen mußte ...

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Der Unfall

Ein prachtvoller Wintertag erwartete die Knicker-


bocker-Bande am nächsten Morgen. In der Nacht waren
außerdem ein paar Zentimeter Neuschnee gefallen. Die
Bäume und Häuser sahen wie mit Staubzucker bestreut
aus. Keine Wolke war am strahlend blauen Himmel zu
sehen, und der Schnee glitzerte in der Sonne.
Lilo, Axel, Dominik, Poppi und Tilly spazierten durch
die malerische Altstadt von Kitzbühel, unter dem alten
Stadttor durch zur Talstation der Hahnenkammbahn.
Unterwegs holten sie noch ihre neuen Ski aus dem
Sportgeschäft ab, wo die Bindungen auf die Schuhgröße
und das Gewicht der Kinder eingestellt worden waren.
Bei der Hahnenkammbahn warteten schon einige
Skifahrer auf die Abfahrt der nächsten Gondel.
„Hallo!“ rief eine tiefe Stimme und ließ einen laut-
starken Jodler folgen. Aus der Menge trat Sepp in seinem
roten Anorak zu den Kindern.
„Los! Anstellen!“ kommandierte er. „Wir fahren heute
alle hinauf — weil’s der erste Tag ist. Poppi soll auch
sehen, was sie da oben schon bald erwartet.“
In wenigen Minuten hatte sie die geräumige Gondel auf
die Spitze des Hahnenkamms gebracht. Seinen Namen
verdankt er den zahlreichen Zacken auf der Bergkuppe.
Hinter der Bergstation erstreckte sich ein längeres, flaches
Pistenstück, auf dem die vier Kinder ihre neuen Ski
ausprobierten.
Lilo und Axel, die beide gute Skifahrer waren, fuhren

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den anderen mit kräftigen Schlittschuhschritten davon.
Dominik war vorerst noch etwas zaghafter unterwegs,
und Poppi ließ sich an den Stöcken von Sepp ziehen.
Bei einem hölzernen Pistenwegweiser trafen sie ein-
ander wieder.
„Hier beginnen jetzt die Abfahrten. Auch die berühmte
Streif!“ erklärte Sepp. „Axel, die solltet ihr heute noch
nicht fahren. Ein Tag zum Eingewöhnen ist notwendig.
Dominik, du und die Tilly, ihr kommt besser auch mit der
Poppi mit ins Tal und rutscht heute dort einmal herum.
Aber zuerst genießt den Gipfel.“
Lilo war dieser Blick mehr als vertraut, deshalb be-
gutachtete sie lieber die Kante, die der Berg hier machte,
und den Steilhang dahinter.
„Sepp, du warst doch dabei, als das Schneemonster
aufgetaucht ist. War das nicht genau an dieser Stelle?“
Der Skilehrer machte ein sehr ernstes Gesicht und
nickte.
„Ich würde nur zu gerne wissen, was dahintersteckt.
Ein Schneemonster — was soll das sein? Ihr habt es ja
zuerst auch nur für eine Erfindung der Mrs. Silverspoon
gehalten. Aber nach dem Zwischenfall gestern abend . . .“
„Was war gestern abend?“ fragten die vier Kinder wie
aus einem Munde.
„Das Schneemonster hat einen jungen Mann aus
Deutschland verletzt!“
„Verletzt?“ Tilly konnte es nicht glauben.
„Der Bursche hatte mit seinen Freunden gewettet, daß
er es auch in der Dunkelheit wagt, hier herzugehen. Er ist
im Berghotel geblieben und gegen elf Uhr in der Nacht
aufgebrochen. Als er nach Mitternacht noch immer nicht
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zurück war, haben seine Freunde den Direktor des
Berghotels verständigt, der mit dem Motorschlitten
herfuhr und den Burschen gefunden hat.“
Poppi lauschte mit offenem Mund. „Und, was war mit
ihm?“
„Er ist im Schnee gelegen und hat nicht auf können.
Das Schneemonster — so hat er später erzählt — hat ihn
von hinten angefallen und ihm einen Stoß versetzt. Er ist
ausgerutscht und hat sich dabei den Knöchel verstaucht.
Er konnte nicht mehr auftreten und ist nun auf allen vieren
in Richtung Hotel gerobbt.“
„Hat er das Schneemonster gesehen?“ wollte Lilo
wissen.
Sepp nickte. „Auch er hat es als ein weißes, sehr
kräftiges Wesen beschrieben. Sein Körper besteht aus
zahlreichen dicken Falten. Der Bursch behauptet sogar,
daß das Monster keinen Kopf besitzt.“
Poppi hatte gespannt zugehört und nicht bemerkt, wie
ihr die Ski unter den Füßen davon rutschten. Mit einem
Plumps landete sie im Schnee.
„Aufstehen, Fräulein, damit wir uns nicht verkühlen“,
kommandierte der Skilehrer. Mit den ungewohnten
Bretteln an den Füßen war das aber nicht so einfach. „Das
mußt du lernen, jetzt sofort!“ meinte Sepp, „Ski zum Hang
drehen, damit sie nicht davon rutschen, und dann auf.“
Poppi machte alles genau, wie er gesagt hatte. Als sie
aber mit dem Fäustling in den Schnee griff, um sich
abzustützen, entdeckte sie plötzlich eine metallene Perle
mit einer Öse oben darauf. Sie lag direkt neben ihrer Hand
im Schnee. Die gehört bestimmt zum Reißverschluß eines
Skianzuges, dachte sie. Poppi hatte so eine Perle schon
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längere Zeit gesucht und ließ sie deshalb in ihre Tasche
gleiten. Dann bohrte sie die Stöcke links und rechts von
sich in den Schnee, und hopp — stand sie aufrecht da.
„Bravo!“ lobte sie Sepp. „Und jetzt teilen wir uns auf.
Treffpunkt ist heute um halb eins im Tal. Wir essen
gemeinsam im ,Blue Bull’!“
Poppi wollte sich gerade in Richtung Bergstation
umdrehen, als von oben ein Skifahrer in einem schwarzen
Overall gefahren kam. Sein Gesicht war durch einen
gelben Schal und eine breite Schneebrille verdeckt. Er
machte weitausholende Schlittschuhschritte, um Tempo zu
gewinnen.
„He, warte auf mich, Schnuckelchen!“ rief er seiner
Freundin zu, die schneller war als er. „Wirf doch einen
Blick auf Mark, den supereleganten Pisten-Panther!“
Um bei seiner Freundin Eindruck zu schinden, fuhr er
nur auf dem rechten Ski und fuchtelte mit dem linken
durch die Luft. Der „Pisten-Panther“ war so sehr mit sich
beschäftigt, daß er auf nichts anderes achtete und im
Vorbeifahren Poppi mit seinem linken Ski genau am Knie
traf.
„Aua!“ schrie sie auf und sank zusammen. Der Ski-
fahrer starrte das Mädchen erschrocken an und machte
sich blitzschnell aus dem Staub.
„Pisten-Wildsau! Ich krieg dich!“ brüllte Sepp, hochrot
vor Wut. Er wollte dem Pistenrowdy nach, doch Tilly hielt
ihn zurück.
„Nicht Sepp, das hat keinen Sinn. Wir müssen uns um
Poppi kümmern.“ Sie stieg aus den Bindungen und beugte
sich zu dem Mädchen.
„Mein Knie“, weinte Poppi, „das tut so weh. Ich kann
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es nicht bewegen.“
Vorsichtig nahm Sepp Poppis Ski ab und versuchte das
Bein abzubiegen. Das Mädchen verzog vor Schmerz das
Gesicht.
„Ihr bleibt hier. Ich hole die Bergrettung. Hoffentlich
hat dieser hirnverbrannte Idiot nicht eine Sehne verletzt!“
rief Sepp.
Es war Mittag. Die Knickerbocker-Bande saß — leider
nicht komplett — in einer Skihütte im Tal und aß
Spaghetti.
Tilly betrachtete bekümmert die drei betrübten Ge-
sichter. „Jetzt schaut doch nicht so traurig! Bitte!“ Sie
lächelte Lilo, Axel und Dominik aufmunternd zu. „Poppi
ist schon wieder aus dem Spital. Ihr Knie ist weder
gebrochen noch ernstlich verletzt. Der Arzt meint, sie
kann übermorgen wieder auf die Piste.“
Obwohl sich die vier noch nicht lange kannten,
verstanden sie sich doch sehr gut. „So etwas wie diese
Lederhosenvorführung und der Streich gegen den
eingebildeten Dr. Grassus verbündet!“ hatte Axel
festgestellt. Poppi fehlte ihnen nun.
Sepp setzte sich zu ihnen an den Tisch.
„Alles in bester Ordnung“, berichtete er, „Poppi ist gut
versorgt, und deine Mutti, Lilo, hat versprochen, sie am
Nachmittag im Hotel zu besuchen. Poppi läßt euch grüßen
und wünscht euch viel Spaß. Und wenn ihr den jetzt nicht
habt, ist sie auf euch böse!“
„Gut, diesem Befehl dürfen wir uns nicht widersetzen!“
rief Tilly. Die anderen drei stimmten ihr zu.
„Also auf zu neuen Pistenabenteuern!“ meinte Sepp.
Als sie aus der Hütte stampften — das Gehen in den
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wuchtigen Skischuhen kann man wirklich nicht anders
bezeichnen — sagte Lilo zu Axel: „Dieses
„Schneemonster“ möchte ich gerne kennen lernen. Das
reizt mich.“
Der Skilehrer hatte die letzten Worte aufgeschnappt
und packte Lieselotte fest an der Schulter. „Paß auf, Lilo“,
seine Stimme klang ungewöhnlich hart und streng, „seit
diesem Vorfall gestern ist klar, daß mit dem
Schneemonster nicht zu spaßen ist. Das ist eine Sache für
die Polizei. Halte dich heraus!“
Lilo blickte ihn treuherzig an und nickte.
Sepp hielt das für ein eindeutiges „Ja“ und wandte sich
seinen Skiern zu. Lilos Gedanken gingen aber in eine ganz
andere Richtung . . .
Als Lilo mit Axel im Sessellift saß, erläuterte sie ihm,
was sie vorhatte.
„Allein hätte ich mich nie getraut, diesem Schnee-
monster auf die Spur zu kommen. Aber wenn du mit-
machst, könnten wir es schaffen.“
Axel zögerte kurz. Er wollte nicht als Feigling da-
stehen. Deshalb willigte er ein.
„Paß auf, mein Onkel fährt eines der Pistenfahrzeuge
ganz oben auf dem Hahnenkamm. Wir werden ihn heute
am Abend besuchen. Das erlaubt er bestimmt. Er kann mir
nämlich keinen Wunsch abschlagen. Wir rüsten uns mit
Taschenlampen aus und nehmen dann die Einfahrt in den
Steilhang unter die Lupe. Vielleicht entdecken wir etwas.
Später fahren wir dann gemeinsam mit ihm in der Gondel
wieder ins Tal.“
Axel war einverstanden. „Aber Tilly und Dominik
werden die Vermißtenanzeige machen.“
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„Werden sie nicht. Wir werden Tilly erzählen, daß wir
ins Kino gehen und erst gegen acht Uhr Abendessen
können. Wenn wir uns dann verspäten, ist das keine
Katastrophe.“
Axel hatte noch immer Bedenken. „Vielleicht wollen
die anderen mit ins Kino?“
„Du hast recht, das wäre möglich. Wir machen das
anders. Wir tun ganz auf geheimnisvoll und behaupten,
daß wir eine Überraschung für Silvester vorbereiten. Das
klappt bestimmt!“
Tilly und Dominik glaubten diese Ausrede den beiden
aufs Wort.
Die größte Überraschung erwartete Axel und Lilo aber
selbst. Schon bald . . .

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Das Schneemonster schlägt zu

Lieslottes Onkel Peter war ein richtiger Bergfex.


„Irgendwie hat er Ähnlichkeit mit dem Kasamandl“,
schoß es Axel durch den Kopf, als er den kleinen,
kräftigen Mann sah.
Sie trafen ihn, wie vereinbart, um fünf Uhr bei der
Bergstation der Hahnenkammbahn. Stolz zeigte Onkel
Peter den Kindern das neue Pistenfahrzeug. Es konnte
selbst die härteste Eisscholle zerhacken. Als er sich
schließlich hinter das Lenkrad schwang, meinte er:
„Mitkommen kann aber nur einer von euch. Wer will?«
Beide Kinder winkten ab. „Wir warten hier, oder besser
im Berghotel auf dich. Wann wirst du fertig sein?“
Peter schob sich den grauen Hut ins Genick und zuckte
mit den Schultern.
„Der Schnee ist hart. Heute müssen wir viel fahren,
damit ihr morgen schöne Pisten habt. Vor halb zehn bin
ich nicht zurück.“
„Das ist aber sehr spät, Onkel Peter“, seufzte Lilo.
„Ihr könnt ja auch ohne mich hinunterfahren. In 40
Minuten geht eine Gondel, weil neue Gäste vom
Berghotel unten warten.“
„Das machen wir“, versprach Lilo und verabschiedete
sich von ihrem Onkel.
Kaum war das Pistenfahrzeug unter lautem Geknatter
hinter einer Schneewächte verschwunden, machten sich
Lilo und Axel an die Arbeit. Im Lichtkegel ihrer
Taschenlampen suchten sie zuerst den Wegweiser, bei

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dem sie heute früh gestanden waren.
„Das Schneemonster muß mit diesem Berghang etwas
zu tun haben“, meinte Lieselotte, „Wir steigen am besten
vorsichtig ein Stück hinunter und suchen nach
Fußabdrücken. Gib acht, daß du nicht ausrutscht. Mit den
Skischuhen passiert das leicht.“
Axel hackte mit der Spitze seiner Skischuhe kleine
Stufen in die Hartgefrorene Schneedecke. Rund um ihn
herrschte Finsternis. Schritt für Schritt tastete er sich
weiter vor. Der Schnee knirschte. Lilos Taschenlampe
leuchtete ihm ins Gesicht. Sie war ungefähr zwanzig
Meter von ihm entfernt.
„Hast du schon was entdeckt?“
„Nein“, rief Axel leise. Der Lichtkegel schwenkte in
die andere Richtung und tastete über die Schneebuckel.
Axel suchte wieder mit dem Schuh nach einer sicheren
Trittstelle. Schnell hatte er Halt gefunden und trat fest auf.
Mit einem Ruck gab der Schnee unter ihm nach, und er
kippte nach hinten. Axel fuchtelte wild mit den Armen,
aber er konnte das Gleichgewicht nicht mehr finden. Er
stürzte in die Dunkelheit und rutschte auf dem Rücken —
Kopf voran — den Hang hinunter. Axel überschlug sich
und griff immer wieder ins Leere. Rasend schnell sauste er
in die Tiefe. Seine Taschenlampe flog in einem hohen
Bogen davon.
Die Sturzfahrt endete in einer flachen Mulde, wo Axel
endlich liegen blieb. Er rappelte sich auf und schüttelte
den Schnee aus dem Kragen. Rund um ihn war es
stockfinster.
„Lilo!“ rief er. „Lieselotte!“ Weit oben auf dem Hang
entdeckte er einen Lichtschimmer. Das mußte Lilo sein.
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„Verdammter Supermist“, fluchte Axel und versuchte
seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Plötzlich
hörte er ein leises Röcheln hinter sich. Erschrocken drehte
er sich um und starrte in die Finsternis.
Nur wenige Schritte entfernt erkannte er die Umrisse
einer einfachen Holzhütte. Es mußte sich dabei um einen
verfallenen Stadl handeln.
Axels Herz schlug wild. Hinter dem Haus leuchtete ein
Licht. Befand sich jemand in der Hütte? Sollte er näher
gehen?
Das ist vielleicht nur ein Pistenfahrzeug, beruhigte er
sich. Aber warum war kein Motorengeräusch zu hören?
Axel lauschte angestrengt in die Nacht.
Da wieder! Ein Röcheln und Keuchen. Es wurde lauter.
In der Dunkelheit konnte er aber niemanden entdecken.
Ängstlich schaute er sich nach einem Fluchtweg um.
„Wuuuaaaaaaa!“ — ein gellender Schrei zerriß die
Stille. Axel versuchte — so schnell er nur konnte — den
Hang hinaufzuklettern.
„Wuuuaaaaaaa!“ brüllte es wieder hinter ihm. Er drehte
sich um und erstarrte. Ein mindestens zwei Meter großes
Wesen mit einem leuchtenden Auge auf dem Kopf war
hinter der Holzhütte hervorgetorkelt. Die breiten Arme
drohend erhoben, wankte es auf Axel zu. Axel schloß
geblendet die Augen und blinzelte zwischen den Wimpern
hindurch. Im Schein des Feuerauges konnte er die weiße,
runzelige, glänzende Haut sehen, die vom Körper des
Schneemonsters in dicken Falten herabhing.
Axel schrie. Er brüllte aus Leibeskräften.
Das Monster sprang auf ihn und riß den Jungen in den
Schnee. Es preßte seinen Kopf mit eisernem Griff nach
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unten. Axel bekam keine Luft mehr. Er boxte nach allen
Seiten und traf dabei das Ungeheuer mehrere Male.
Das Ungeheuer wirbelte ihn nun herum, hob ihn mit
seinen mächtigen Pranken auf und schleuderte ihn gegen
den Hang, wo Axel liegen blieb.
Würde sich dieses Monster noch einmal auf ihn
stürzen? Der Junge wagte nicht, sich zu bewegen. Doch es
geschah nichts. Kein Laut war zu hören.
Zaghaft hob Axel den Kopf und schaute sich um. So
schnell, wie es gekommen war, war es auch wieder
verschwunden.
Axel richtete sich auf und tastete seine Arme und Beine
ab, es war noch alles heil. Er würde nur ein paar blaue
Flecken davontragen.
„Axel!“ hörte er Lilo rufen. Sie mußte sich ganz in
seiner Nähe befinden.
„Ich bin hier!“ schrie er laut. „Bei der Holzhütte!“
Der Schnee knirschte, und eine Taschenlampe blitzte
auf. Geschickt rutschte Lilo auf den Schuhsohlen über den
harten Schnee. „Was war denn los? Wieso hast du so
gebrüllt?“
„Das glaubst du mir nie, wenn ich es dir erzähle“,
keuchte der Junge. „Aber Traum war das leider keiner.
Das spüre ich noch ganz genau.“ Stöhnend rieb er sich die
schmerzenden Beine.

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Die Entführung

Poppi langweilte sich. Sie blickte auf ihre kleine


Armbanduhr, die die Form eines Pandabären hatte, und
verzog den Mund. Es war kurz nach sieben Uhr.
Poppi befand sich nicht mehr im Hotel, sondern im
Haus von Lilos Eltern. Frau Schroll hatte das Mädchen
mitgenommen, damit es nicht so allein war.
Den ganzen Nachmittag lang hatte Poppi ferngesehen.
Rosso war in dieser Zeit schnurrend auf ihrem Bauch
gelegen und leistete ihr Gesellschaft. Lilos Mutter
versorgte sie ständig mit Limonade, Obst und Erdnüssen.
Rosso hatte drei Portionen Katzenfutter verdrückt. Doch
gegen sechs Uhr mußte Frau Schroll weg. Lilos
Großmutter lag im Spital, und sie wollte sie besuchen.
Herr Schroll, der Skilehrer, hatte an diesem Tag noch eine
Besprechung in der Skischule.
„Im Hotel liegt eine Nachricht für Lieselotte. Sie wird
dich bestimmt gleich abholen. In spätestens einer halben
Stunde“, hatte Frau Schroll Poppi versprochen.
Lieselottes Zimmer, in dem Poppi einquartiert war, lag
im ersten Stock. Das Mädchen wollte gerade wieder den
Fernseher einschalten, als sie im Erdgeschoß die
Wohnungstür klicken hörte.
Das ist bestimmt Lilo, dachte sie. Poppi beschloß, ihrer
Freundin einen tüchtigen Schreck einzujagen. Sie
krabbelte aus dem Bett und versuchte zaghaft mit dem
verletzten Bein aufzutreten. Es ging schon ganz gut und
tat nicht mehr so weh. Sie glättete die Bettdecke und

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bewegte sich leicht humpelnd zu einem der großen,
dunklen, alten Kästen. Poppi öffnete die geschnitzte Tür
und schlüpfte hinein. Unter der Stange, auf der Lilos
Hosen und Kleider hingen, kauerte sie sich nieder und zog
die Kastentür wieder zu.
„Hallo? Hallo, ist da wer?“ rief eine tiefe Stimme im
Vorzimmer. Poppi horchte auf. Lilos Stimme war das
bestimmt nicht. Gehörte die Stimme vielleicht dem
freundlichen Sepp? Der konnte ruhig auch erschreckt
werden.
Sie verhielt sich völlig ruhig.
Im Erdgeschoß wurden Zimmertüren aufgerissen und
zugeschlagen. Laut polternd kam nun jemand die Treppe
herauf.
Wieder krachten Türen, bis der Besucher endlich Lilos
Zimmer betrat. Poppi versuchte durch einen Riß im Holz
durchzuspähen und sah für einen Moment einen Mann.
Er stand mit dem Rücken zu ihr, zog die Laden des
Schreibtisches auf und leerte sie aus. Er durchwühlte das
Bett und stöberte in dem zweiten Schrank, der sich gleich
neben der Tür befand. Poppis Herz begann wild zu
pochen.
Wer war das?
In dieser Sekunde riß der Einbrecher die Tür zu ihrem
Versteck auf. Das Mädchen duckte sich, aber der Mann
hatte sie entdeckt. Er drehte sich ruckartig weg, und Poppi
sah, wie er eine gestrickte Mütze aus der Tasche seiner
Jacke hervorzog. Er stülpte sie sich über den Kopf und
zerrte sie hastig über sein Gesicht. Die Mütze war so
gefertigt, daß sie nur einen schmalen Schlitz für die Augen
freiließ. Der Rest des Gesichtes war verdeckt.
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„Wer . . . wer . . . wer sind Sie?“ stammelte Poppi.
Statt einer Antwort zog sie der Mann aus dem Kasten.
Poppi wollte schreien, doch ihre Kehle war wie
zugeschnürt. Ein nach Öl stinkender Handschuh preßte
sich auf ihren Mund. Der Mann packte das Mädchen und
schleppte es aus dem Zimmer. Wehren war sinnlos und
unmöglich. Er hielt Poppis Arme fest umklammert.
Am Fuße der Treppe löste der Mann die Umklam-
merung für einen Moment. Den Mund hielt er ihr aber
weiterhin zu. Mit der anderen Hand Öffnete er die Haustür
und spähte in die Gasse. Es war ein dunkles, verwinkeltes
Seitengäßchen. Poppi blieb keine Möglichkeit zur Flucht.
Der Entführer schleifte sie aus dem Haus zu einem kleinen
Kastenwagen. Entsetzt sah sie, daß er die Ladeklappe
öffnete. Wie ein Paket schleuderte er sie hinein und
knallte die Tür zu. Poppi trommelte dagegen.
„Paß auf, du kleines Biest“, flüsterte ihr der Entführer
durch die Wagentür zu, „wir sind zu zweit. Mein Kumpel
ist noch im Haus. Ich stehe mit ihm in Funkkontakt. Noch
ein Laut und er dreht deinem Rosso den Hals zu.
Kapiert?“
Poppi hörte augenblicklich auf und kauerte sich auf den
Boden. Die Ladefläche war bis auf ein paar alte Säcke
leer.
Das Mädchen legte den Kopf auf die Knie und
schluchzte. Poppi hatte Angst. Schreckliche Angst.
Außerdem schmerzte ihr Knie wieder.
Der Motor wurde angelassen, und der Wagen fuhr los.
Durch ein kleines Fenster konnte Poppi in das Fahrerhaus
blicken. Als der Entführer das bemerkte, stopfte er eine
Zeitung davor.
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Poppi ließ sich wieder auf die Säcke fallen. Wo würde
sie der Mann nur hinbringen? Was wollte er überhaupt?
Wieso wurde sie entführt?
Tilly saß im Hotelzimmer der Mädchen und ringelte
mit den Fingern ihre langen, blonden Haare zu Locken.
Lieselotte kaute unruhig an ihren Nägeln, während
Axel und Dominik eine Tafel Schokolade in sich hin-
einstopften. „Schon zehn Uhr und noch immer nichts“,
sagte Lilo leise.
Tilly brach ein Stück von der Schokolade ab und schob
es in den Mund. „Angeblich soll Schokolade die Nerven
stärken. Hoffentlich stimmt das. Die Gendarmerie hat
versprochen, uns sofort zu verständigen, wenn sie
irgendetwas herausgefunden hat.“
„Vielleicht ist Poppi nur aus dem Haus gegangen und
wollte zu Fuß ins Hotel. Wir haben sie ziemlich lange
warten lassen. Möglicherweise hat sie sich verlaufen,“
meinte Axel.
Lieselotte glaubte das nicht. „Kitzbühel ist keine
Großstadt. Sie hätte doch jemanden nach dem Weg fragen
können. Von meinen Eltern zum Hotel gehst du höchstens
fünf Minuten!“
Tilly holte sich noch ein Stück Schokolade. „Ich könnte
mir vorstellen, daß sie ausgerutscht ist und nicht
weiterkann. Aber irgendjemand müßte sie doch längst
gefunden haben.“
Dominik blickte seine Freunde mit todernstem Gesicht
an. „Habt ihr schon daran gedacht, daß sie Opfer eines
Verbrechens geworden sein könnte?“
„Das darfst du nicht sagen. Daran will ich nicht einmal
denken!“ brauste Lilo auf. „Entschuldige, es ist nur ... es
- 56 -
ist nur . . . weil mir das auch schon eingefallen ist. Warum
war mein Zimmer durchstöbert? Poppi hat das bestimmt
nicht gemacht. Aber wer dann und warum?“
„Der gleiche“ der auch schon die Hotelzimmer
heimgesucht hat. Axels Verdacht war naheliegend.
„Übrigens: Wo seid ihr eigentlich gewesen, Lilo und
Axel?“ wollte Tilly wissen.
„Auf dem . . .“, weiter kam Axel nicht. Lilo hatte ihm
einen Stoß in die Rippen versetzt. „Wir haben eine
Überraschung für euch vorbereitet. Eine Neujahrs-
überraschung. Die verraten wir noch nicht.“
Tilly sah sie kurz an, und ihr Gesichtsausdruck verriet,
daß sie kein Wort glaubte. Aber zum Glück forschte sie
nicht weiter.
„Kommt, legt euch hin“, schlug sie den drei Kindern
vor. „Versucht zu schlafen. Falls ich etwas Neues erfahre,
wecke ich euch sofort.“
„Wir werden kein Auge zutun können, aber wir gehen
trotzdem ins Bett“, willigten die drei Knickerbocker ein.
Eine unruhige Nacht stand ihnen bevor . . .

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Tilly hat einen Verdacht

Poppis Irrfahrt durch Tirol nahm keine Ende. Zweimal


war sie kurz eingenickt. Doch schon beim nächsten
Schlagloch oder beim erstbesten Eisklumpen auf der
Fahrbahn war sie wieder unsanft wachgerüttelt worden.
Ihr Hinterteil schmerzte vom Sitzen auf dem harten
Blechboden. Die staubigen Jutesäcke hatte sie nämlich als
Decken verwendet und sich fest darin eingewickelt.
Trotzdem zitterte sie vor Kälte.
Poppi drückte sich fest in eine Ecke, um dort ein wenig
Halt zu finden.
Der Wagen war erst einmal stehen geblieben. Poppi
hatte die Fahrertür schlagen gehört. Der Mann war
ausgestiegen und hatte sich neben das Fahrzeug hin-
gestellt. Das darauf folgende Rauschen erinnerte das
Mädchen ein wenig an sein Radio, wenn es einen Sender
einstellen wollte.
Vielleicht kommt es vom Funkgerät, erinnerte sich
Poppi.
„Guiseppe . . , was soll ich mit ihr tun?“ hatte der
Entführer gefragt. Die krächzende Antwort hatte Poppi
nicht verstehen können. Auf jeden Fall klang sie sehr
wütend und barsch. Das Funkgespräch hatte nicht lange
gedauert. Gleich darauf war die Fahrt weitergegangen.
Seit diesem ersten Stopp waren Stunden vergangen. So
kam es Poppi zumindest vor. Sie hatte Angst. Große
Angst. Die Ungewißheit, was nun geschehen würde, jagte
ihr Furcht ein.

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Die Bremsen quietschten, und das zarte Mädchen
wurde gegen die Wand des Transporters geworfen. Sein
Entführer funkte wieder. Das erkannte Poppi sofort an den
Geräuschen.
Gleich darauf riß er die Ladetür auf und versuchte nach
ihr zu greifen: „Raus da!“
Poppi kroch zaghaft nach vorne. Der Mann packte sie
am Arm und zerrte sie ohne Rücksicht auf blaue Flecken
aus dem Wagen. Poppi fiel auf eine schneebedeckte
Fahrbahn. Ehe sie sich noch umschauen konnte, war der
Gangster wieder in das Auto gesprungen und mit Vollgas
davongerast.
Poppi rappelte sich auf und versuchte irgendetwas zu
erkennen. Sie mußte sich auf einem Feldweg befinden. Sie
fror fürchterlich und klapperte vor Kälte laut mit den
Zähnen. Wohin sollte sie gehen?
Ein Auto brummte in der Ferne. Das Brummen wurde
lauter und lauter.
Kommt der Entführer zurück? — schoß es Poppi durch
den Kopf. Sie wollte sich gerade hinter einem
Schneehügel verstecken, als zwei gelbe Lichter aus der
Dunkelheit auftauchten. Poppi stand mitten im Lichtkegel.
Das Fahrzeug hielt, und eine Frau sprang heraus.
„Ja, Mädchen, was machst denn du da? Mitten in der
Nacht?“ rief sie und lief auf Poppi zu. Diese starrte sie
eine Sekunde stumm an, dann fiel sie der Frau um den
Hals und begann zu schluchzen.
Tilly hatte in dieser Nacht kaum ein Auge zugetan. In
ihrer erdbeerroten Kordhose und ihrem weißen,
flauschigen Pullover saß sie auf dem Bett, den Kopf gegen
die Wand gelehnt. Es war kurz vor zwei Uhr in der Früh,
- 59 -
als sie endlich einschlief.
Sie träumte von Poppi, die durch eine dunkle Gasse
humpelte und nach Hilfe schrie. Tilly sah sich selbst im
zweiten Stock am Fenster stehen. Sie streckte die Hand
nach Poppi aus, aber natürlich reichte sie nicht hinunter.
„Geh durch die Tür!“ rief sie ihr zu. Aber das Haus
hatte keine Tür, Poppi preßte ihren Daumen auf einen
Klingelknopf, und schrilles Surren erfüllte das Haus.
Tilly schlug die Augen auf. Das Schrillen war kein
Traum. Das war wirklich da. Es kam vom Telefon. Sie riß
den Hörer ans Ohr. „Ja, hallo?“
Es war der Gendarmerieposten von Ötz. Eine Ärztin
hatte ein Mädchen namens Paula Monowitsch auf einem
Waldweg gefunden.
„Ist die Kleine ausgerissen?“
„Nein, bestimmt nicht“, erwiderte Tilly, „was sagt sie
denn selbst?“
„Sie hat irgendetwas von einer Entführung geredet.
Völlig wirr allerdings. Die Ärztin hat ihr ein leichtes
Beruhigungsmittel gegeben. Sie schläft jetzt.“
„Wir kommen sofort!“ Tilly drückte den Finger auf die
Gabel und wählte dann die Zimmernummer des Mädchen-
Appartements.
Es war bereits hell, als die Knickerbocker-Bande —
nun wieder vollzählig — mit Tilly die Gendarmerie
verließ. Ein Kriminalbeamter sollte später noch einmal mit
Poppi reden, aber vorerst mußte sie sich von dem Schreck
erholen.
„Wir nehmen uns ein Zimmer beim Himmel-Wirt,
gleich hier in Ötz. Ich kenne den Besitzer“, teilte Tilly den
Kindern mit. „Wir fahren frühestens morgen nach
- 60 -
Kitzbühel zurück. Erstens möchte ich euch das Ötztal ein
wenig zeigen ...“ Sie hielt inne und biß sich auf die Lippe.
Lieselotte glaubte ihr das natürlich nicht. „Das ist doch
nicht der Grund. Wir wollen Ski fahren und wir haben
unsere Ski in Kitzbühel. Tilly, warum machst du so ein
besorgtes Gesicht?“
Tilly deutete stumm auf Poppi und gab den anderen zu
verstehen, daß sie im Augenblick vor dem aufgeregten
Mädchen nicht darüber sprechen wollte. Lilo, Axel und
Dominik verstanden das.
Sie setzten sich ins Auto und fuhren zum Himmel-Wirt.
Als die schläfrige Poppi endlich im Bett lag und die
Aufregungen der vergangenen Nacht vergaß, lud Tilly die
restlichen drei Knickerbocker zum Frühstück in die
gemütliche Bauernstube ein.
Es gab Kakao und warme Semmeln.
„Paßt auf: Was ich euch jetzt sage, solltet ihr für euch
behalten, Kinder“, begann Tilly. „Die Sache mit dem
durchwühlten Gepäck und Poppis Entführung sind kein
Zufall. Ich bin überzeugt, sie wurde nur deshalb hierher
verschleppt, weil sie einem Gauner in die Quere
gekommen ist, der etwas gesucht hat. In Lilos Zimmer.“
„Was soll es bei mir schon zu finden geben?“ warf
Lieselotte ein.
„Was soll es überhaupt bei uns zu finden geben?“
meinte Axel. „Der Kerl hat es eindeutig auf unsere Sachen
abgesehen.“
„Das hat er. Und nun mein Verdacht, den ich nicht
bestätigen kann. Ich bin ziemlich fest davon überzeugt,
daß Dr. Grassus hinter allem steckt!“ meinte Tilly.
„Der Fettmops?“
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„Ja, dieser Kerl ist nicht astrein. Das spüre ich schon
mehrere Jahre lang. Doch seit dem 7. Dezember bin ich
davon überzeugt.“
„Was war an diesem Tag?“ wollte Lieselotte wissen.
„Es hat mit einem Anruf begonnen. Ein gewisser
Professor Frasel aus Zürich wollte ihn sprechen. Ich habe
das Gespräch hineinverbunden, und eine Minute später hat
mich Dr. Grassus fortgeschickt. Ich sollte einen angeblich
dringenden Brief zur Post bringen. In Wirklichkeit wollte
er mich loswerden.“
„Und warum?“
Tilly zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Als ich
zurückgekommen bin, hat er mir mitgeteilt, er müsse für
einen Tag verreisen. Am 9. Dezember in der Früh sei er
zurück.“
„Das war der Tag der Preisverleihung“, warf Axel ein.
„Stimmt! Und an diesem Tag war der Mops völlig
durcheinander. Launisch und bösartig. Er wollte mich
sogar hinauswerfen. Ein paar Tage später hat er selbst
gekündigt. Aber worüber ich am meisten nachdenke, ist:
Er hat eure Preise abgeändert. Ihr solltet zuerst nach Ischgl
fahren. Er hat dann Kitzbühel bestimmt. Und nun diese
Zwischenfälle hier ...“
Lilo lehnte sich zurück und fixierte ein Astloch in der
Holzdecke. „Wozu habe ich so viele Krimis
verschlungen? Da muß es doch Zusammenhänge geben.
Warum kann ich nur nicht so scharf kombinieren wie
Sherlock Holmes?“
„He!“ Axel sprang auf und schlug auf den Tisch. „Einer
von uns hat — ohne es zu merken — etwas
mitgenommen. Vielleicht hat es uns Dr. Grassus zu-
- 62 -
gesteckt. Und dieses Ding will jetzt jemand haben.“
„Nicht schlecht gefolgert, Dr. Watson“, lobte Lilo.
„Dieser Jemand' weiß zweifellos nicht, wo das Ding
versteckt ist. Sonst hätte er nicht das Gepäck von uns allen
durchstöbert.“
Tilly staunte. „Ihr seid ja richtige Junior-Detektive.
Doch könnt ihr mir auch sagen, was der Jemand sucht,
und wo es versteckt sein könnte?“
Lilo knabberte an ihren Zopfspitzen. „Was es ist, weiß
ich nicht. Aber es muß sich um etwas handeln, das jeder
von uns besitzt . . . Ein Versteck wären . . . unsere
Lederhosen. Erinnert ihr euch, Dr. Grassus hat sie uns
doch aufgedrängt. Angeblich sollen wir sie in Kitzbühel
noch einmal vorführen. Wir müssen sofort zurück und die
Lederhosen untersuchen.“
„O, nein“, winkte Tilly ab, „das kommt nicht in Frage.
Erstens werdet ihr euch ab jetzt aus dieser Sache
heraushalten und zweitens bleiben wir hier. Kitzbühel ist
im Moment viel zu gefährlich für euch.“
Lilo und Axel stöhnten enttäuscht.
„Ich werde gleich telefonieren. Ihr könnt sicher sein, an
die Lederhosen kommt keiner mehr. Ab jetzt.“ Sie machte
ein geheimnisvolles Gesicht und verschwand.
Lilo grübelte weiter. „Du Axel, eigentlich kann sich das
Heißbegehrte Ding nur noch irgendwo in meiner
Lederhose befinden. War's in einer von den anderen, so
hätte es der Gauner schon gefunden und sich den Einbruch
bei meinen Eltern erspart.“
Das leuchtete Axel ein. „Aber was kann das für ein
,Ding’ sein?“
Lilo überlegte kurz. „Es muß etwas Kleines sein. Alles
- 63 -
andere wäre uns aufgefallen. Wir haben die Lederhosen
doch zu Hause unseren Eltern gezeigt, oder?“
„Ich schon“, rief Dominik.
„Ich auch!“ sagte Axel.
Lieselotte dachte scharf nach. Ihr fiel aber keine
Besonderheit an ihrer „Alpen-Knickerbocker“ ein.
„Ich möchte wissen, was Tilly jetzt vorhat?“ brummte
Axel.
„Von unserer Begegnung mit dem Schneemonster
sagen wir ihr auf jeden Fall nichts. Sonst läßt sie uns keine
Sekunde mehr aus den Augen!“ flüsterte ihm Lilo zu.
„Außerdem wissen wir da selbst noch nicht, was dahinter
steckt.“
„Doch“, sagte Axel leise, während er nachdenklich auf
seine Handschuhe starrte, die auf der Bank lagen. „Doch,
ich weiß jetzt, daß ein Mensch im Schneemonster steckt.
Da ist der Beweis dafür!“

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Ein Mann fällt vom Himmel

Gerade als Lilo fragen wollte, wie Axel zu diesem


Schluß gekommen war, gesellte sich der Himmel-Wirt
höchstpersönlich zu ihnen.
Er war ein gemütlicher, kräftiger Mann mit gutmütigen,
grünen Augen. Sein Gesicht war fast zur Gänze von einem
zerzausten, grauen Bart bedeckt.
„Na Kinder, wie gefällt euch das Ötztal?“
„Allzu viel haben wir noch nicht gesehen“, antwortete
Axel höflich, „es war noch dunkel, als wir angekommen
sind.“
„Das Ötztal, das ist für mich der schönste Fleck auf der
Erde“, begann der Himmel-Wirt zu schwärmen. „Was es
hier alles gibt: Züm Beispiel den höchsten Berg Tirols.
Das ist die Wildspitze: 3.772 Meter ist sie hoch. Im
Sommer findet ihr bei uns aber auch den wärmsten
Badesee Tirols, den Piburgsee. Der hat manchmal gut und
gerne seine 24 Grad!“
Dominik hörte aufmerksam zu. War das ein Platz, um
die Ferien zu verbringen?
„Einen Wasserfall haben wir auch. Die Stuibenfälle.
150 Meter stürzt das Wasser da in die Tiefe. Am anderen
Ende des Tales beginnt die Ötztaler Gletscherstraße. Oben
auf den Gletschern könnt ihr sogar im Sommer Ski fahren.
Und habt ihr vielleicht schon einmal von dem Mann
gehört, der in Obergurgl vom Himmel gefallen ist?“
Alle drei schüttelten die Köpfe.
„Das war im Jahr 1931“, berichtete der Himmel-Wirt.

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„Da ist auf dem Gurgler Gletscher der Höhen- und
Meerestiefenforscher Auguste Piccard gelandet.“
„Mit einem Flugzeug?“ fragte Axel.
„Nana, mit einem Wasserstoffballon. Da war eine
Druckausgleichskabine dran, und der Monsieur Piccard ist
damit 15.781 Meter aufgestiegen. Weil er Angst vor der
Landung gehabt hat, soll er sich angeblich den
Proviantkorb als Sturzhelm aufgesetzt haben.“ Die drei
Kinder lachten laut auf.
„Jaja, und weil das ein neuer Höhenflug-Rekord war,
wurde der kleine Ort Obergurgl damit plötzlich auf der
ganzen Welt bekannt.“
Tilly trat wieder in die Stube ein und schob sich neben
den Himmel-Wirt auf die Holzbank.
„So Kinder, alles in Sicherheit“, meinte sie ver-
schwörerisch. „Ich habe den Sepp verständigt. Er bringt
eure Lederhosen in den Hotelsafe. Dort bekommt sie der
,Jemand’ nicht. Deine Eltern, Lilo, sind auch verständigt,
damit sie sich keine Sorgen machen.“
„Und was habt ihr jetzt im Sinn?“ erkundigte sich der
Himmel-Wirt. Wie auf Kommando gähnten die vier
herzhaft. „Wir schlafen noch eine Runde nach!“ schlug
Tilly vor. Alle waren damit einverstanden.
Kaum hatte die freundliche Tilly ihre Tür hinter sich
zugemacht, wurde auch schon eine andere Tür auf dem
Gang geöffnet. Lilo huschte lautlos zum Bubenzimmer.
„Wieso ist das Schneemonster ein Mensch?“ fragte sie,
als sie sich auf Axels Bett fallen ließ.
„Weil das Monster Reißverschlüsse in der Haut ein-
gebaut hat. Schau dir das einmal an.“ Axel streckte Lilo
seinen Handschuh hin. Er war aus dickem, weichen Stoff
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genäht. Die äußere, wasserundurchlässige Schicht war
beim Kampf mit dem Schneemonster aufgeplatzt.
Zwischen ihr und dem flauschigen, weichen Innenfutter
hatte sich eine Tasche gebildet. Aus dieser Tasche zog
Axel einen flachen, metallenen Gegenstand heraus.
„Ich habe ihn da drinnen gefunden“, berichtete er. „Es
ist eine Figur, die aus zwei Buchstaben besteht. Aus einem
G und einem W.“
Lilo lachte auf. „Das könnte ,Geier-Wally* bedeuten.
Die meisten Firmen befestigen doch Zeichen, die an sie
erinnern sollen, als Griff am Reißverschluß.“
Axel war mit dieser Schlußfolgerung nicht einver-
standen. „Das Monster hat doch keine Lederhose ge-
tragen.“
„Aber irgendein anderes Produkt von ‚Geier-Wally’.
Tilly kann uns sicher Auskunft geben, wenn sie wieder
aufwacht.“
Es war schon Nachmittag, als die Kinder und Tilly
wieder munter wurden.
In der Bauernstube stärkte sich die Knickerbocker-
Bande vorerst einmal tüchtig. Es gab ein Tiroler-Gröstl
mit Geselchtem, Bratenstücken, geröstetem Knödel und
Erdäpfeln. Die vier schlugen tüchtig zu. Vor allem Poppi
hatte eine Stärkung nötig. Sie hatte immerhin fast 24
Stunden nichts gegessen. Nachdem sie zum Abschluß
noch eine ganze Pfanne Apfel-Auflauf verschlungen
hatten, zog Axel den metallenen Anhänger aus der Tasche
und zeigte ihn Tilly.
„Wo hast du denn den her?“ wollte sie wissen.
Axel wußte nicht, was er antworten sollte.
„Gefunden ... damals ... bei der Preisverleihung!“ half
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ihm Lilo weiter.
„Diese Anhänger verwendet die Firma nur für ganz
bestimmte Anzüge. Für Fallschirmspringer-Anzüge. Die
stellen wir nämlich auch her“, erklärte Tilly.
Axel und Lilo blinzelten einander zu. „Wie sieht so ein
Fallschirmspringer-Anzug aus?“ fragte Lieselotte.
„Er ist meistens sehr weit geschnitten. Wir bieten ihn
wollweiß und knallrot an.“
Axels Verdacht hatte sich damit bestätigt. Das
Schneemonster war ein Mensch in einem Fallschirm-
springer-Anzug. Das war auch die Erklärung für die
„faltige Haut“. Jetzt galt es nur noch zu klären, wer in der
Verkleidung steckte, und warum er als Schneemonster
spukte.
„Jaja, die ,Geier-Wally’„, rief der Himmel-Wirt
plötzlich, „die hat's wirklich gegeben. Im Lechtal soll es
gewesen sein. Da hat die sture und dickköpfige Wally
gelebt. Um zu beweisen, wie stark sie ist, hat sie junge
Geier aus dem Nest geholt und aufgezogen.“
„Josef!“ kam eine Stimme aus der Küche. „Halt keine
Volksreden, sondern hilf mir lieber.“ Vor sich
hinschimpfend verschwand der Wirt in der Küche.
„Tilly, wir würden gerne nach Kitzbühel zurück“,
begann Lilo.
„Nein!“ war Tillys Antwort. An ihrer Stimme konnte
die Knickerbocker-Bande erkennen, daß sie es ernst
meinte. „Frühestens morgen Abend geht es zurück.
Außerdem hat unser Skilehrer gar keine Zeit für uns. Er
muß seinen Bruder nach Innsbruck bringen und ist froh,
uns einen Tag los zu sein.“
„Was machen wir dann bis morgen abend?“ wollte
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Axel wissen,
Tilly zog ein kleines Buch aus ihrer Handtasche und
überreichte es den Kindern. „Es gibt genug tolle Sachen in
Tirol. Sucht euch etwas aus!“
„Es hat keinen Sinn, die bleibt hart“, zischte Lilo Axel
zwischen den Zähnen zu. Dieser nickte, weil er derselben
Meinung war. Also steckten die vier ihre Köpfe
zusammen und blätterten in dem Buch:

1. OLYMPIA-SPORTZENTRUM IN SEEFELD

Beim Hallenbad gibt es ein Becken mit 28 Grad


warmem Wasser, wo die Besucher auch im Winter
hinausschwimmen können. Im Freien befindet sich
überdies ein Sprudelbecken mit Wildbachströmung. Das
36 Grad warme Wasser macht das Baden im Freien zum
Abenteuer und Vergnügen. Vom warmen Wasser aus kann
der Schwimmer einen Blick auf die verschneiten Berge
ringsum werfen.

2. DIE HÖCHSTE BRÜCKE EUROPAS

... befindet sich auf der Brenner-Autobahn. Diese


Autobahn über den Alpenhauptkamm ist 37 Kilometer
lang und führt über 42 Brücken.
Die imposanteste ist die Europa-Brücke mit einer
Länge von 820 Metern. In der Schwindelerregenden Höhe
von 190 Metern überquert man auf ihr das Wipptal.

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3. ORCHIDEEN IN ÖSTERREICH

Im Bezirk Kitzbühel blühen im Frühjahr und im


Sommer an die 200 Orchideen-Arten. Eine prachtvolle,
bunte Augenweide bietet sich jedem, der sie findet.
Natürlich muß man dazu schon ein bißchen die Berge
hinaufsteigen. Am besten mit einem erfahrenen Berg-
führer.

4. WO ZUKÜNFTIGE BERGSTEIGER DIE


SCHULBANK DRÜCKEN

In vielen Tiroler Bergregionen befinden sich Berg-


steigerschulen, in denen auch Kinder lernen können, was
man tun muß, damit ein Wanderschuh nicht drückt, wie
eine Wanderung in den Bergen zum Erlebnis wird, woran
man erkennt, daß ein Unwetter aufzieht, wie man einen
Gebirgsbach überquert und wo man in Tirol Murmeltiere
und Gemsen beobachten kann.

5. DIE MULLER VON THAUR

Jedes Jahr im Fasching findet in Thaur und einigen


Stadtteilen von Innsbruck der „Mullerlauf“ statt. Hunderte
Maskierte wirbeln an diesem Tag durch die Stadt. Die —
oft Selbstgeschnitzten — Masken tragen Namen wie:
Zottler, Zaggeier, Melcher, Hexen, Weiße und
Spiegeltuxer. Der Kopfputz der Spiegeltuxer hat
manchmal eine Höhe von einem Meter!

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6. DAS JAGDSCHLOSS IM BERGSEE

In der Nähe des Fernpasses befindet sich der Fern-


steinsee. In der Mitte liegt eine kleine Insel, auf der man
die Ruine des Jagdschlößchens Sigmundsburg sehen kann.
Dieses Schloß hat sich Herzog Sigmund vor rund 500
Jahren erbauen lassen. Er trug den Beinamen „der
Münzreiche“. Seine Einnahmen kamen von einer
Straßensperre über den See. Wer daran vorbei und über
den Paß wollte, mußte zahlen!

7. SCHMIEDEMUSEUM IN FULPMES

Dort stehen noch echte Hammerschmieden. Die


Nachfahren der Schmiede von früher erzeugen heute in
Fulpmes Eispickel und Kletterhaken.

8. DIE KLEINSTE STADT TIROLS IST RATTENBERG

Rattenberg liegt auf einem schmalen Stück Land


zwischen dem Inn und einem Felsen. Es zählt rund 540
Einwohner. Bekannt ist es heute für seine Glasschleifer!

9. SELBER EINMAL LOKFÜHRER SEIN

... im Zillertal ist es möglich. Im Sommer haben die


Urlauber die Möglichkeit, die Zillertaler Dampfeisenbahn
einmal selbst zu lenken. Für die Sommergäste wird die
Dampflok aus dem Jahre 1916 aufgeheizt. Die
Mitreisenden können in den alten Zuggarnituren Platz
nehmen ... so sie dem Hobby-Lokführer vertrauen.
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10. DER ERFINDER DER NÄHMASCHINE

... ist im malerischen Kufstein daheim gewesen. Sein


Name ist Joseph Madersperger, und auch er hat ein
typisches Erfinderschicksal erlitten. Als Erfinder der
„Nadel mit dem Öhr am falschen Ende“ wurde er verlacht.
Den großen Erfolg seiner Entwicklung hat er nicht mehr
erlebt. Sein Denkmal steht in Kufstein.

11. LÜFTERLMALEREIEN

... werden die Bemalungen auf vielen Häusern in


Tirol genannt.

12. DAS ZUCKERHÜTL

... ist der höchste Gipfel der Stubaier Alpen: 3.507


Meter ist es hoch. 70 Dreitausender gibt es übrigens in
diesem Gebirgszug!

13. IN EBEN AM ACHENSEE

... steht die Kirche der Hl. Notburga, der Schutz-


patronin der Dienstboten. Sie soll in Eben in Tirol gelebt
haben. Die Mittagsandacht war ihr vom Bauern, bei dem
sie diente, verboten worden. Eines Tages hat sie deshalb
auf dem Feld ihre Sichel einfach in der Luft aufgehängt,
um doch noch beten zu können.

14. DIE SCHULE DER ADLER ...


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Stams ist nicht nur durch sein prachtvolles Stift,
sondern auch durch das Skigymnasium bekannt. Dort
haben zahlreiche erfolgreiche Skisportler die Schulbank
gedrückt. Zum Beispiel Andreas Felder, Ernst Vettori,
Hubert Strolz, Bernhard Gstrein, Katrin Gutensohn und
Lisi Kirchler.

Während sie den kleinen Tirol-Führer durchblätterten,


ertönte hinter ihren Rücken ganz zart die Melodie von
„Stille Nacht“. Sie kam aus einer Spieldose, die in einer
Weihnachtskrippe eingebaut war.
Der Himmel-Wirt hob sie liebevoll zu den Kindern auf
den Tisch. „Habt ihr gewußt, daß ,Stille Nacht’ seinen
Weltruhm einem Orgelbauer aus dem Zillertal zu
verdanken hat?“ Die Knickerbocker-Bande verneinte.
Also erzählte ihnen der Himmel-Wirt die ganze
Geschichte: „Das Lied wurde ja bekanntlich komponiert,
weil die Orgel in Oberndorf in Salzburg kaputt war. Ein
gewisser Karl Mauracher, Orgelbauer aus dem Zillertal,
reparierte sie kurz nach Weihnachten und hörte dabei das
neue Lied. Er brachte die Melodie den ‚Natursängern
Rainer’ nach Fügen heim. Diese Gesangsgruppe war in
ganz Europa unterwegs und hatte unter anderem den
‚Jodler’ hoffähig gemacht. Sie jodelte nämlich vor Fürsten
und Königen, denen dieser ,AIpengesang’ gut gefiel. Bei
ihrer nächsten Tournee stimmten sie »Stille Nacht' vor
dem Zaren von Rußland und dem Kaiser von Österreich
an. Das war der Anfang des Siegeszuges von ,Stille
Nacht’ um die Welt.
Die Tiroler Sänger waren überhaupt sehr erfolgreich.
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Bereits im Jahre 1838 segelte ein Zillertaler Sänger-
Quartett nach Amerika, wo es stürmische Erfolge feierte.
Und 1851 sangen die vier Zillertaler anläßlich der
Weltausstellung in London sogar vor Queen Victoria. ,Auf
der Alm da gibt's ka Sund’, stimmten sie an. Sie hatten
sogar eine englische Übersetzung dafür gemacht, die
lautete ,On the Alp no sin is found’. Das waren die
Hitparadenstürmer von damals!“ schmunzelte der
Himmel-Wirt.
„Nun, wohin soll es gehen?“ Tilly blickte die Knik-
kerbocker-Bande erwartungsvoll an.
„Ins Bett!“ Poppi gähnte und wankte auf ihr Zimmer.
„Ich bin noch immer zum Umfallen müde. Tut mir leid ...“
„Schlaf dich gesund und wieder munter! Übermorgen
ist Silvester, und da willst du bestimmt aufbleiben“,
lächelte Tilly.
„Und wir schauen heute einmal in das Glotzophon“,
entschied Lilo und erntete dafür einen verständnislosen
Blick von Tilly.
„In den Fernsehapparat“, erklärte sie ihr. „Da läuft
nämlich der Film ‚Die Abenteuer des Sherlock Holmes’!“
Die anderen waren einverstanden. Am nächsten Tag
wollten sie einfach ins Blaue fahren.
Außerdem hatten es Axel und Lilo sehr eilig zu-
rückzukommen. Sie wollten dem Schneemonster und dem
Geheimnis der Lederhosen unbedingt auf die Spur
kommen.

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Einer spielt falsch...

Am späteren Nachmittag des 30. Dezember kam die


Knickerbocker-Bande mit Tilly ins Hotel Hochbrunner
zurück.
Poppi war wieder vergnügt und dachte kaum noch an
die schreckliche Nacht. Ihr Knie war in Ordnung, und sie
freute sich schon auf den nächsten Tag, an dem sie zum
ersten Mal ein bißchen ihre Ski ausprobieren konnte.
Kurz nach ihrer Ankunft liefen Axel und Lilo in die
Direktion des Hotels. Sie wollten die Lederhosen aus dem
Safe holen.
„Tut mir leid“, sagte der Chefportier, „aber es wurde
nichts für euch im Tresor hinterlegt. Wer sollte das
gemacht haben?“
„Der Sepp Stürzel, der Skilehrer mit den vielen
Schneckerln. Sie kennen ihn bestimmt. Der damals mit der
Amerikanerin dem Schneemonster zum ersten Mal
begegnet ist“, sagte Lilo.
Der Portier erkundigte sich auch bei seinen Kollegen,
aber niemand wußte etwas von den Lederhosen.
„Verdammt, die sind gestohlen worden. Im Zimmer
sind sie auch nicht mehr!“ sagte Axel. „Du Lilo, aber
vielleicht sind sie schon am ersten Tag abhanden
gekommen. Keiner von uns hat in die Schachteln ge-
schaut, in denen sie verpackt waren.“
„Durchaus möglich“, meinte das Mädchen. „Ich rufe
schnell daheim an. Vielleicht ist meine Lederhose noch
da. Wir treffen uns im Jagdzimmer.“

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Dort saßen bereits Poppi und Dominik und lasen
Comic-Hefte. Im hinteren Teil des großen Raumes befand
sich ein Klavier, an dem ein hagerer Mann mit einem
zerfurchten Gesicht saß und spielte.
Eine schlanke Dame in einem roten Abendkleid trat zu
ihm und lehnte sich an das Klavier. Obwohl sie sehr leise
sprach, konnte Dominik jedes Wort verstehen. Er ließ das
Comic-Heft sinken und belauschte die beiden.
„Du hast mir einen Liederabend verpatzt, du Idiot!“
schimpfte die Dame.
Die Antwort des Klavierspielers war kurz und bissig.
„Gut für die Ohren der Gäste.“
Die Dame stampfte empört mit dem Fuß auf.
„Arno, wo warst du? Ich will es wissen. Ich habe
vorgestern Abend die ganze Zeit bei dir angeklopft. Wieso
hast du nicht geöffnet?“
„Weil mir schlecht war. Lebensmittelvergiftung oder so
etwas.“
„Und was war gestern mit dir? Wieso bist du nicht
gestern Abend gekommen?“
„Habe etwas Besseres zu tun gehabt. Außerdem werde
ich erst ab heute bezahlt.“
„Und ich werde überhaupt nicht bezahlt, weil ich nicht
gesungen habe. Das ist deine Schuld. Du hast mich nicht
begleitet, du Schuft!“ schimpfte die Dame und rauschte
aus dem Zimmer.
„Wie auf der Bühne, nur noch spannender“, meinte
Dominik grinsend und vertiefte sich wieder in Donalds
Abenteuer.
Poppi aber war mit einem Mal unruhig geworden.
Wieso klang die Stimme des Klavierspielers so seltsam in
- 76 -
ihren Ohren? Sie hatte ihr Angst eingejagt, doch warum?
Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie den Gedanken aus
ihrem Kopf verscheuchen, und widmete sich wieder ihrem
Comic.
Kurze Zeit später gesellten sich Axel und Lilo dazu.
„Meine Lederhose ist auch weg“, berichtete Lieselotte
atemlos. „Der Dieb muß sie mitgenommen haben, als er
Poppi entführt hat.“
„Glaube ich nicht!“ sagte Poppi, „aber der Mistkerl hat
von einem Zweiten gefaselt. Er hat mit ihm über ein
Funkgerät gesprochen.“
„Interessant“, murmelte Lilo und beobachtete den Tanz
der Flammen im Kamin.
Ein Glockenspiel läutete, als Lieselotte und Axel das
Hotel für einen kurzen Spaziergang verließen.
„Das ist in einem Turm der Katharinenkirche un-
tergebracht und erklingt jeden Tag um 11 und um 17
Uhr!“ erklärte Lilo.
„Und wohin gehen wir jetzt?“ fragte Axel.
„Zu meiner Freundin Franziska. Ihr Vater ist Wur-
zelschnitzer. Vielleicht dürfen wir ihm ein bißchen bei der
Arbeit zuschauen.“
Die beiden marschierten durch die Hauptstraße, in der
es vor Skifahrern nur so wimmelte. Die meisten kamen
gerade aus den gemütlichen Cafes, wo sie sich zum Apres-
Ski getroffen hatten.
„He, schau dort, beim Stadttor“, rief Axel plötzlich und
deutete in eine Richtung.
„Was ist dort?“
„Der dicke Kerl in dem braunen Pelzmantel. Das ist
doch der Mops! Der Dr. Grassus!“
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Jetzt erkannte auch Lilo ihn. Axel und das Mädchen
wichen in einen breiten Hauseingang aus, damit sie Dr.
Grassus nicht sehen konnte. Es war nicht leicht, den
kleinen Mann im Getümmel der Menschen im Auge zu
behalten.
„Was tut denn der da?“ wollte Axel wissen. Diese
Frage hätte ihnen aber nur Dr. Grassus selbst beantworten
können.
Von ihrem Versteck aus machten Axel und Lilo dann
eine sonderbare Beobachtung.
Aus der Entgegengesetzten Richtung kam plötzlich der
Klavierspieler des Hotels Hochbrunner. Sein Name war
Arno Arretiz. Das hatte die Knickerbocker-Bande auf
einem Plakat neben der Rezeption gelesen. Ohne auf die
Menschen rings um ihn zu achten, hastete er über den
Gehsteig.
Dr. Grassus war mittlerweile vor der Auslage eines
Juweliers stehen geblieben und betrachtete die ausge-
stellten Schmuckstücke. Als Herr Arretiz nur noch wenige
Schritte von ihm entfernt war, fiel sein Blick auf den
kleinen Mann im Pelzmantel. Mit einem Ruck blieb er
stehen und starrte den Mops mit weit aufgerissenen Augen
an.
Wie das Kaninchen vor der Schlange sieht er aus, fiel
Lilo dazu ein.
Der Klavierspieler machte langsam ein paar Schritte
zurück. Er wollte anscheinend nicht, daß der andere auf
ihn aufmerksam wurde. Als der Abstand zwischen den
beiden größer war, drehte sich Arno Arretiz auf dem
Absatz um und stürmte zurück zum Hotel.
Lilo und Axel blickten sich fragend an. Beide zuckten
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mit den Achseln. „Los, wir schleichen dem Mops nach“,
forderte Lilo Axel auf. Doch als sie auf die Straße traten,
war Dr. Grassus nicht mehr zu entdecken. Er war wie vom
Erdboden verschluckt.
Lilo und Axel suchten eine Weile nach ihm und gaben
dann auf. Um sich aufzuwärmen, liefen sie zu Lilo s
Freundin.
Franziska war ein lustiges, sommersprossiges Mädchen
mit dem größten Wuschelkopf, den Axel je gesehen hatte.
Die drei Kinder standen in der Werkstatt ihres Vaters
und schauten ihm über die Schulter.
Der Schnitzer war gerade mit einem „Bücherwurm“
beschäftigt. Einem kleinen, verhutzelten Männchen, das
auf einem Stapel Bücher saß und das Gesicht tief in die
Seiten vergraben hatte. Mit seinen verschiedenen Messern
holte Franziskas Vater Stück für Stück das Gesicht des
Bücherwurms aus dem Holz.
„Hat deine Mutti in der Pension viel Betrieb?“ er-
kundigte sich Lilo. Franziska nickte. „Und wie. Wir sind
voll bis unter das Dach. Leider sind heuer ein paar
unfreundliche Gäste dabei.“
Während sie den Schnitzer weiter bei der Arbeit be-
obachteten, erzählten Lilo und Axel von ihrem Gewinn
beim Knickerbocker-Wettbewerb. Besonders den
mopsgesichtigen Dr. Grassus schilderten sie in allen
Einzelheiten. Seinen tollpatschigen und bockfüßigen
Schuhplattler ließen sie selbstverständlich nicht aus.
Franziska stutzte. „Hat dieser Dr. Grassus nur noch
ganz wenig Haare auf dem Kopf, die er mit so einer
Creme einschmiert?“
„Ja, genau!“ riefen Axel und Lilo zugleich.
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„Du, ich glaube, der wohnt bei uns in der Pension. Aber
als Namen hat er Erik Friedrichson angegeben.“
„Bist du sicher?“ fragte Lilo aufgeregt.
„Ganz sicher, er ist nämlich ein Ekel. Nichts ist ihm
recht. Den ganzen Tag nörgelt er nur herum. Ein totaler
Muffel!“
Lilo sprang auf. „Komm, Axel, wir schauen ihn uns an.
Vielleicht ist er es wirklich. Herr ,Friedrichson’ wird
schön staunen, wenn er uns sieht.“
Herr Dr. Grasus kehrte aber nicht nach Hause zurück.
Lilo und Axel warteten bis halb acht, dann machten sie
sich auf den Heimweg. Sie waren ein wenig enttäuscht.
Ein paar Schritte vor dem Hotel Hochbrunner blieb Lilo
stehen.
„Nein, das hätte ich nie gedacht“, murmelte sie. Axel
entdeckte sofort den Grund ihrer Überraschung. Auf der
gegenüberliegenden Straßenseite, in einer
Schwachbeleuchteten Nische, standen Dr. Grassus und
Tilly. Sie waren offenbar in ein ruhiges Gespräch vertieft.
Tilly lachte immer wieder. Die Geschichten, die ihr der
Mops erzählte, schienen sehr lustig zu sein.
„Die steckt mit dem Kerl unter einer Decke. Jetzt
verstehe ich auch, warum wir nicht zurück nach Kitzbühel
sollten. Damit wir nicht im Weg sind.“
Tilly verabschiedete sich lächelnd von ihrem früheren
Chef.
„Schnell weg“, zischte Lilo. Sofort waren die beiden in
der Hotelhalle verschwunden. Sie beschlossen, Tilly beim
Abendessen ein wenig auszuhorchen. Was wußte sie?

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Fragen über Fragen

Auf dem Weg zum Speisesaal traf die Knickerbocker-


Bande den Skilehrer Sepp.
„Also ihr macht Sachen“, rief er ihnen entgegen, „die
ganze Stadt spricht schon davon.“
„Ich will aber nicht mehr daran erinnert werden!“ sagte
Poppi. Sepp verstand das und wechselte das Thema.
„Morgen geht es wieder los, ich hole euch gegen neun
Uhr ab. Einverstanden?“ Die vier waren einverstanden,
aber vor allem hatte Lilo noch eine Frage.
„Sepp, Tilly hat dich doch angerufen, oder?“
„Ja, das hat sie!“
„Du solltest unsere bunten Lederhosen aus den
Zimmern holen und in den Tresor legen.“
Sepp nickte. „Ich wollte es auch tun, aber ich habe die
Lederhosen nicht gefunden. Auch deine, Lieselotte, war
verschwunden. Deine Mutter hat das ganze Zimmer auf
den Kopf gestellt. So, und jetzt muß ich zurück. Mein
Bruder wartet daheim auf mich. Wir wollen essen gehen.
Also dann, bis morgen!“
Im Speisesaal wurde die Knickerbocker-Bande schon
von Tilly erwartet.
„Du siehst heute wie ein Pfirsich mit Vanille-Eis aus“,
bewunderte Poppi Tillys dunkelgelbe Hose und ihren
flauschigen, cremefarbenen Pullover.
„Danke“, Tilly strahlte und freute sich über das
Kompliment.
Die perfekte Täuscherin, schoß es Lilo durch den Kopf.

- 81 -
Aber mich führt sie nicht mehr so leicht aufs Glatteis.
Als sie schließlich bei der Nachspeise angelangt waren,
begann Lilo mit dem Verhör.
„Tilly, kennst du eigentlich einen Herrn Friedrich-
son?“
Tilly überlegte kurz und verneinte.
„So nennt sich dein Ex-Chef hier in Kitzbühel!“ Nun
war Lieselotte auf die Reaktion der Sekretärin gespannt.
Sie wurde enttäuscht. Tilly suchte gar nicht nach
Ausreden. Sie tischte auch keine erfundene Geschichte
auf. Sie begann der Knickerbocker-Bande lachend ihre
Erlebnisse zu erzählen.
„Ich habe den Mops gerade vorhin auf der Straße
getroffen. Zuerst war ich ziemlich sauer, ihn zu sehen.
Aber jetzt kann ich nur lachen. Mein Verdacht auf ihn war
völlig unbegründet. Ich kann mir auch vorstellen, wieso er
hier unter einem falschen Namen abgestiegen ist.“
„Wieso?“ forschte Lilo.
„Damals, Anfang Dezember, hat er von einer Erbschaft
erfahren, die er gemacht hat. Eine Tante, die er nur ein
einziges Mal gesehen hatte, hinterließ ihm mehrere
Millionen. Dr. Grassus war deshalb völlig durcheinander.
Das war auch der Grund für seine Kündigung. Er will
seine eigene Firma gründen. Und nach Kitzbühel ist er
gekommen, weil ihn ein anderer Neffe dieser Tante
verfolgt. Der ist nämlich leer ausgegangen.“
Dominik und Poppi lachten. Vor allem war Axel
erleichtert, daß sich der Verdacht gegen Tilly als falsch
erwiesen hatte. Er hatte sich in Kitzbühel nicht mehr sehr
wohl gefühlt. Das war jetzt anders.
Lieselotte preßte die Lippen zusammen und sagte
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nichts. Die Geschichte klang glaubwürdig, aber ir-
gendetwas störte sie daran. Sie konnte nur nicht her-
ausfinden, was es war.
Am Abend, als Poppi schon schlief, nahm Lilo einen
Bogen Papier aus dem Hotelschreibtisch und notierte
folgendes:

Fall: Rätsel um das Schneemonster


Frage 1: Wer steckt im Kostüm des Schneemonsters?

Wieso treibt sich der oder diejenige auf dem


Hahnenkamm herum und schlägt sogar Buben nieder?
Welchen Sinn hat das?
Lilo lehnte sich zurück und starrte an die Decke.
Plötzlich fiel ihr der Himmel-Wirt ein. Er hatte doch von
diesem Ballonfahrer erzählt, der in Obergurgl gelandet
war. „Er ist vom Himmel gefallen ...“ hatte der Himmel-
Wirt gesagt.
Die Augenzeugin hatte auch davon gesprochen, daß das
Schneemonster „vom Himmel gefallen ist und sich auf sie
gestürzt hat“. In einem Ballon war es bestimmt nicht
gekommen. Aber möglicherweise mit einem kleinen
Flugzeug. Lieselotte beugte sich über das Papier und
schrieb:

Mögliche Antwort: Der Mann ist aus einem Flugzeug


abgesprungen. Vielleicht wollte er Fallschirm springen,
aber warum?...

Lilo war zufrieden, wenigstens ein Stück weiterge-

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kommen zu sein. Doch noch immer blieben viele Fragen
offen.
Zum Beispiel Frage 2: Hat Tilly die Wahrheit gesagt?
Frage 3: Warum hat der Klavierspieler Angst vor Dr.
Grassus? Ist er der „Neffe?“ Hat der Mops wirklich
geerbt?
Sie betrachtete das Blatt lange und eingehend und
schob es dann in den Schreibtisch. Als sie wieder unter die
Bettdecke schlüpfte, setzte sich Poppi ruckartig in ihrem
Bett auf. „Lilo“, flüsterte sie heiser.
„Ja, was ist denn Poppi? Kannst du nicht schlafen?«
„Mir ist gerade etwas eingefallen. Der Mann ... der
Mann, der mich entführt hat ...“ Poppi schluchzte. Lilo
setzte sich zu ihr und nahm sie in den Arm. „Was ist mit
ihm, Poppi?“
„Er ... er ... er ...“, stammelte Poppi, „er hat gewußt, wie
meine Katze heißt. Er kannte Rossos Namen. Woher?“
Lilo runzelte die Augenbrauen. Sie konnte sich denken,
woher er den Namen wußte. Von einer Person, die mit der
Knickerbocker-Bande zusammen war. So viele kamen
dafür nicht in Frage. Lieselotte drückte Poppi sanft in den
Polster und murmelte etwas von: „Vielleicht hast du dir
das nur eingebildet.“
Natürlich war ihr bewußt, daß Poppi nicht geträumt
hatte. Wer spielte da falsch? Lilo wollte unbedingt eine
Antwort auf diese Frage. Sie ahnte nicht, in welche Gefahr
sie sich dadurch begab.
Es war kurz nach Mitternacht. In den Straßen von
Kitzbühel waren nur wenige Menschen unterwegs. Einige
junge Leute kamen lachend und singend aus den Discos
und machten sich auf den Heimweg.
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Ein kleiner, dickbäuchiger Mann mit einem fetten,
hängenden Gesicht stand vor einer Telefonzelle und sah
sich nach allen Seiten um. Erst als er überzeugt war, daß
ihn hier kaum jemand beobachten und schon gar niemand
belauschen konnte, trat er ein. Er warf mehrere 10-
Schilling-Münzen in den Automat und wählte eine lange
Nummer.
„Ich bin es ... Ja ... Codewort: Der Elefant trompetet nur
einmal ... Er ist in die Falle gegangen und hat sogar ein
Mädchen in der Panik entführt. Wahrscheinlich ist sie ihm
in die Quere gekommen. Ich vermute zu wissen, wer es
ist. Guter Bekannter von der Gegenseite ... Was? Warum?
... Warum ich ihn noch nicht geschnappt habe? Weil es
hier von Menschen wimmelt. Sobald ich ihn allein zu
fassen kriege, hole ich sie von ihm ... Mich wundert
allerdings eines: Er ist erst vor drei Tagen angekommen ...
Angeblich ... Und wenn er den echten Teil eins hätte, wäre
er doch eigentlich schon längst abgehauen ... Irgendetwas
stimmt nicht.“
Eine Ader auf der Stirn des Mannes schwoll dick an.
Die Stimme am anderen Ende mußte etwas gesagt haben,
das ihn sehr aufregte.
„Natürlich weiß ich das, und ich werde ihn wieder-
beschaffen“, schnauzte er in den Hörer. „Ende!“ Er legte
auf, fischte die restlichen Münzen aus dem Geldfach und
stapfte mit energischen Schritten davon. Die Hände hatte
er tief in die Taschen seines Mantels gebohrt.
Morgen Nacht, beschloß er, wenn die Raketen knallen,
nehme ich ihn mir vor ...

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Ein Schuß in der Silvesternacht

Der letzte Tag des Jahres verging für die Knicker-


bocker-Bande ohne besondere Vorkommnisse.
Axel baute einen fürchterlichen Sturz und mußte
nachher eine halbe Stunde seine Ski, seine Stöcke, die
Mütze und die Skibrille suchen. Er selbst hatte sich zum
Glück nicht verletzt.
Poppi zog ihre ersten Schwünge auf dem Babyhang und
fand Ski fahren bereits „irre toll“.
Dominik unterhielt Tilly bei jeder Liftfahrt, indem er
ihr alle Lieder aus dem Musical „Les Miserables“
vorsang. „Da wirke ich nämlich mit. Meine Mutter auch!“
hatte er stolz verkündet.
Lieselotte war an diesem Tag still und nachdenklich.
Im Vorbeifahren warf sie dem Steilhang einen
sehnsüchtigen Blick zu. Sie wollte ihn gerne einmal bei
Tag unter die Lupe nehmen. Aber Axel weigerte sich
mitzukommen. Das Mädchen hatte beschlossen, Tilly in
nächster Zeit nicht aus den Augen zu lassen. Sollte sich
hinter dem freundlichen Gesicht eine Verbrecherin
verstecken? Lilo konnte es sich nicht vorstellen, aber man
wußte nie ...
Am Abend hatte Tilly eine Überraschung für die
Knickerbocker-Bande vorbereitet. Nach einem köstlichen
Abendessen unternahmen sie eine Fahrt mit dem
Pferdeschlitten. Poppi strahlte, als sie die beiden Haflinger
sah, die den alten, hölzernen Schlitten über die
verschneiten Felder und Waldwege zogen.

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Die vier Kinder und Tilly hatten sich fest in Decken
eingewickelt, damit sie nicht froren. Zwei Fackeln, links
und rechts vom Kutschbock, tauchten die vorbeiziehende
Landschaft in ein gespenstisches, flackerndes Licht.
„Genau um Mitternacht werden wir auf dem Skihang
am Fuße des Hahnenkamms sein“, verkündete Tilly. „Wir
laufen ein Stück den Hügel hinauf. Von dort oben haben
wir nämlich einen schönen Blick über Kitzbühel und
können das Feuerwerk gut beobachten.“
Schließlich war es soweit.
Unter lautem Glockengeläute wurde das neue Jahr
begrüßt. Überall in Kitzbühel zischten glühende Punkte in
die Luft, die auf dem schwarzen Nachthimmel zu
leuchtenden Feuergebilden zerplatzten.
„Prosit Neujahr!“ riefen einander die Kinder zu. Tilly
zog eine kleine Flasche Sekt aus der Manteltasche und
öffnete sie mit einem zischenden Knall. Alle nahmen
einen tüchtigen Schluck.
„Das kitzelt am Gaumen“, kicherte Poppi.
„Hallo, Tilly“, rief Axel.
Als sich die junge Frau zu ihm umdrehte, landete auch
schon ein Schneeball mitten in ihrem Gesicht. Tilly
prustete. „Na warte“, rief sie übermütig und griff in den
Schnee. Gleich darauf war eine wilde Schneeballschlacht
im Gange. Lachend und schreiend kollerten alle durch den
Schnee.
Ein scharfer, lauter Knall riß sie aus ihrem Spiel.
„Das war ein Schuß!“ schrie Axel und sprang auf. Er
schnappte eine Fackel und stürmte den Hang hinunter.
„Wo willst du hin?“ rief ihm Tilly nach, aber er hörte
nicht mehr.
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„Das war wirklich ein Schuß. Er hat viel schärfer und
nicht so dumpf wie die Feuerwerkskörper geklungen“,
sagte Lilo. „Außerdem war er näher als das Feuerwerk.
Das habe ich eindeutig erkannt.“
Lilo zog die zweite Fackel aus dem Schnee, und ge-
meinsam rannten sie Axel nach. „Ihr bleibt bei mir“,
befahl Tilly Dominik und Poppi. „Gemeinheit“, knurrte
Dominik, als sie ihn bei der Hand packte. „Ich bin kein
Baby.“
Lilo traf kurz nach Axel bei dem flachen, blauweiß
gestrichenen Haus im Tal ein. Axel gab ihr ein Zeichen
mitzukommen. Die beiden schlichen zaghaft durch den
knirschenden Schnee um das Haus.
Vor dem gemauerten Sockel, auf dem sich die Terrasse
befand, machten sie eine schlimme Entdeckung.
Lilo stieß einen leisen Schrei aus.
Ein Mann lag auf dem Rücken im Schnee und hatte die
rechte Hand abwehrend in die Luft gestreckt. Wovor
fürchtete er sich?
„Schau, da!“ flüsterte Axel Lilo zu und deutete zum
anderen Ende des Steinsockels. Dort stand Herr Dr.
Grassus. Er hatte eine Pistole auf den Mann gerichtet.
Seine Hände zitterten.
„Weg, Kinder“, schrie er. „Das ist nichts für euch.
Dieser Mann hat soeben versucht, mich zu erschießen.“
„Lüge!“ stammelte der Mann auf dem Boden. „Lüge.
Sie haben mich hier überfallen, auf meinem Spaziergang
...“
Lilo preßte sich die Hand auf den Mund. „Das ... das ist
ja ... der Klavierspieler aus dem Hotel!“
Tilly kam mit Dominik und Poppi um die Ecke.
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„Verschwinden Sie!“ brüllte der Mops außer sich.
„Kommt, Kinder, schnell weg, schnell!“ Tilly packte
Lilo und Axel am Arm und zerrte sie mit sich. Stolpernd
und keuchend rannten sie über den Schnee, über den
Bahnübergang und durch den Park zur Straße. Von dort
war es nicht mehr weit zum Hotel.
Tilly verständigte sofort die Gendarmerie. Im Ap-
partement der Mädchen traf sie die Knickerbocker-Bande
wieder.
Axel, Lilo und Dominik standen über Poppi gebeugt,
die auf dem Bett lag und schluchzte. Ihr schlanker, kleiner
Körper wurde nur so geschüttelt.
„Was hat sie?“ fragte Tilly besorgt.
Die junge Frau setzte sich auf die Bettkante und strich
Poppi über den Kopf. Das Mädchen zitterte, als hätte es
einen Schüttelfrost.
Tilly beugte sich zu ihrem Ohr. „Poppi, komm, sag mir,
was los ist.“ Irgendetwas mußte das Mädchen sehr
erschreckt haben.
Poppi hob das verweinte Gesicht aus dem Polster und
blickte Tilly mit roten Augen an. „Der ... der Mann ... im
Schnee ...“ stieß sie hervor.
„Was ist mit ihm?“
„Der Mann ... der hat mich ... entführt!“
„Woher weißt du das?“ fragte Tilly sanft.
„Die Schuhe ... die habe ich mir gemerkt. Es waren
Seehundstiefel. Ich ... ich habe mir gedacht... so ein
Tierquäler ... Der eine Absatz ist schwarz ... der andere ist
braun. Das war er ... Ich weiß es genau!“

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Die Entdeckung

Gegen zehn Uhr am Vormittag trudelten die Mitglieder


der Knickerbocker-Bande zum Frühstück ein.
Poppi war noch ein bißchen blaß, doch Lilo hatte sich
viel Mühe gegeben, sie zu beruhigen.
„Jetzt kann dir der Kerl nichts mehr machen“, hatte sie
zu Poppi gesagt.
Die Gendarmerie war noch in der Nacht ins Hotel
gekommen. Sie hatte Tilly darüber unterrichtet, daß
sowohl Dr. Grassus als auch Arno Arretiz festgenommen
worden waren.
Der Pianist hatte einen Schuß abgefeuert. Das stand
fest. Ein paar Meter von ihm entfernt hatte die
Gendarmerie einen Revolver gefunden, in dem eine
Patrone fehlte. Warum der Klavierspieler eine Waffe bei
sich trug, blieb aber ungeklärt. Dr. Grassus begründete
seine eigene Waffe mit der Angst vor dem
Wildgewordenen Neffen aus Italien, der ihn angeblich
verfolgte. Er hielt Arretiz für einen Profi-Gauner, der
beauftragt worden war, ihn zu beseitigen. In diesem Fall
würde die Erbschaft dann dem Neffen zufallen. Poppis
Entführung leugnete Arno Arretiz. Es war überhaupt nicht
viel aus ihm herauszubekommen.
„Wir müssen die ganze Angelegenheit der Krimi-
nalpolizei übergeben“, hatten die Beamten Tilly berichtet.
„Dr. Grassus haben wir vorläufig wieder freigelassen. Es
ist aber nicht geklärt, ob er Herrn Arretiz wirklich bedroht
hat oder nicht.“

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Im Speiseaal war es noch sehr ruhig. Die meisten Gäste
hatten bis in die frühen Morgenstunden gefeiert und
schliefen sich nun aus.
Lilo freute das. „Die Pisten sind jetzt ganz leer, und an
den Liften muß man nur kurz warten! Hoffentlich ist der
Sepp pünktlich. Er hat versprochen, uns spätestens um
halb elf abzuholen.“
Der Skilehrer hatte anscheinend verschlafen. Die
Knickerbocker-Bande wartete vergeblich. Um 11 Uhr
wurde es Lilo dann zu langweilig. Sie ging zum Telefon
und rief bei Sepp an. Niemand hob ab.
„Diese Schlafmütze“, schimpfte sie. „Er hat bestimmt
wieder viel getrunken und getanzt. Jetzt hört er nicht
einmal das Telefon.“
„Dann gehe ich mit Poppi und Dominik auf die Piste.
Wir bleiben herunten und treffen uns um halb eins in der
Skihütte,“ schlug Tilly vor.
„Abgemacht!“ riefen Axel und Lieselotte. Die beiden
machten sich auf den Weg zu Sepps Wohnung, um ihn aus
dem Bett zu klingeln.
Der Skilehrer wohnte in einem dreistöckigen, alten
Haus, das zum Glück weder Türöffner noch Gegen-
sprechanlage besaß. Lieselotte hatte ihn schon einmal
besucht und kannte seine kleine Bude, direkt unter dem
Dach. Sie bestand aus einem winzigen Wohnzimmer und
einem noch kleineren Schlafzimmer.
Im Dachgeschoß angekommen, legte Lilo ihren
Daumen auf den Klingelknopf neben der Tür und läutete.
Nichts rührte sich.
Also klingelte Lilo noch einmal. Diesmal länger. Es tat
sich noch immer nichts. Als das nichts nützte, klopfte
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Axel mit der Faust an die Tür. Sie schwang quietschend
auf.
Lilo schaute verdutzt. Es war also gar nicht abgesperrt.
„Hallo!“ rief sie in die Wohnung. „Sepp? Bist du hier?“
Keine Antwort.
Axel betrat zaghaft das winzige Vorzimmer, das
gleichzeitig als Küche diente. Es zischte, und er zuckte
zusammen.
Lilo deutete auf die automatische Kaffeemaschine. Am
roten Licht konnte man erkennen, daß sie eingeschaltet
war. Es war also jemand bis vor kurzem hier gewesen.
Gemeinsam warfen die beiden Knickerbocker einen
Blicken das Schlafzimmer. Hier herrschte das totale
Chaos. Skibekleidung, Jeans, Bettzeug, Unterwäsche,
Socken, Zeitschriften, ein Radio und ein Walkman lagen
wild durcheinander herum.
Im Wohnzimmer sah es nicht besser aus. Neben einem
abgewetzten Lehnstuhl war ein Klappbett aufgebaut, in
dem jemand geschlafen hatte. Ein Polster und eine
zerknitterte Decke waren achtlos darauf geworfen worden.
Von Sepp fehlte aber jede Spur.
Axel und Lilo wollten die Wohnung gerade verlassen,
als das Telefon klingelte.
„Sollen wir abheben?“ Axel sah seine Freundin fragend
an. Lilo schüttelte den Kopf. Sie marschierten zur Tür.
Das Telefon läutete hartnäckig weiter. Es schien sich um
einen Anrufer mit Ausdauer zu handeln.
Lilo wußte selbst nicht warum, doch plötzlich lief sie
zurück und nahm den Hörer ab. „Hallo? Hier bei Sepp
Stürzel! ... Nein, der Sepp ist leider nicht da. Wer spricht
bitte? ... Wer? ... Wo sind Sie?“ Lilos Gesichtsausdruck
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zeigte Axel, daß sie etwas Unfaßbares erfahren hatte.
„Hat er noch einen? ... Aha ... jaja ... ich richte es
aus. Wiederhören.“ Sie ließ den Hörer auf die Gabel
fallen und atmete tief ein und aus.
„Was hast du denn? Wer war's?“
„Sepps Bruder.“
„Der ihn gerade besucht hat?“
„Nein, den gibt es nämlich nicht. Sepps Bruder sitzt in
Afrika, in Nairobi. Er lebt dort und wollte seinem kleinen
Bruder ein glückliches neues Jahr wünschen.“
„Hat der Sepp noch andere Brüder?“
Lilo schüttelte den Kopf, daß ihre Zöpfe flogen.
„Warum hat er uns dann angelogen? Und wer wohnt
hier bei ihm?“
„Keine Ahnung, aber wir werden es herausfinden. Du
stellst dich zur Tür und paßt auf, ob er zurückkommt. Ich
schaue mich hier ein wenig um.“
Lilo hob vorsichtig die schmutzigen Hosen und
Pullover vom Boden auf. Vielleicht lag etwas darunter,
was ihr einen Hinweis auf Sepps Gast geben konnte. Das
Mädchen achtete aber darauf, alles wieder genau an
dieselbe Stelle zu legen. Keiner sollte merken, daß jemand
hier gewesen ist.
„Was gefunden?“ fragte Axel, als sie zehn Minuten
später aus der Wohnung schlüpfte.
„Jede Menge. Ich erzähl' dir alles auf dem Lift. Wenn
mein Verdacht stimmt, sind wir einer irrsinnigen Sache
auf der Spur.“
Kurz darauf schaukelten Axel und Lilo im Sessellift
den Berg hinauf. Axel platzte fast vor Neugier.
„Du hast doch schon einmal von Professor Kagori
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gehört, oder? „ begann Lilo. Axel dachte nach und erin-
nerte sich schließlich an einen Bericht im Fernsehen. „Das
ist dieser verrückte italienische Wissenschaftler, der in
einem Schloß am Meer lebt und dort seine Forschungen
betreibt. Angeblich soll er ein Elektroauto entwickelt
haben, das Spitzengeschwindigkeiten von 150
Stundenkilometern erreicht und über 1.000 Kilometer
ohne Aufladen fahren kann“, erinnerte er sich.
„So ist es! Dieses Auto würde unsere Benzinkutschen
wahrscheinlich völlig ersetzen. Die Ölscheichs haben
natürlich alles darangesetzt, die Pläne für dieses Auto zu
bekommen. Auf der Welt würde dann nämlich kaum noch
Erdöl gebraucht werden. Professor Kagori hat aber
abgelehnt, seine Idee zu verkaufen. Er hat sie wie einen
Schatz gehütet und bewachen lassen. Am 6. Dezember
vergangenen Jahres ist er nun verstorben, und einen Tag
später ist sein Labor abgebrannt. Die Feuerwehr konnte
den Tresor aus den Flammen retten. Nur ... er war leer.
Die Pläne des Elektroautos sind verschwunden.“
„Woher weißt du das?“ wollte Axel wissen.
„Ich habe in Sepps Wohnzimmer einen Zeitungs-
ausschnitt gefunden, in dem es gestanden ist. Aber jetzt
halte dich fest...“
„Geht nicht“, rief Axel, „wir sind nämlich bei der
Bergstation. Wir müssen aussteigen.“
Sie rutschten von ihren Sesseln und schwangen auf dem
Platz vor dem Lift ab.
„Komm, wir fahren ganz hinauf. Ich erzähle dir am
nächsten Lift alles Weitere“, rief Lilo und sauste davon.
Axel hatte Mühe ihr zu folgen.
Kaum hatten sie im nächsten Sessellift Platz ge-
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nommen, wollte Axel mehr wissen.
„Na und, was hat das alles mit Sepp zu tun?“
„Das weiß ich nicht genau. Aber ich habe noch ein paar
andere Sachen entdeckt. Zum Beispiel die Quittung für
einen Helikopterflug. Datum 8. Dezember. Fällt dir etwas
auf?“
Axel schüttelte den Kopf.
„Am 8. Dezember ist das Schneemonster zum ersten
Mal aufgetaucht.“
„Na und, glaubst du, es ist mit dem Hubschrauber
gekommen?“
Lilo lachte. „Ja! Zuerst habe ich an ein Flugzeug
gedacht. Doch nun ist klar, es war ein Helikopter. Er hat
das Dröhnen erzeugt, von dem diese Mrs. Silverspoon
erzählt hat. Wahrscheinlich ist der Mann im
Fallschirmspringer-Anzug herausgesprungen. Ich habe
aber keine Ahnung, warum jemand so etwas tut.“
„Dann ist das Schneemonster also der Mann, der bei
Sepp wohnt?“
„Dafür haben wir noch keine Beweise. Allerdings weiß
ich, wie der Typ heißt. Ich habe einen Ausweis gefunden.
Einen italienischen Paß. Er lautet auf Guiseppe Castelli.“
„Was schließt du daraus? „ Axel blickte seine Freundin
mit dem detektivischen Spürsinn gespannt an.
Lilo zog die Augenbrauen hoch. „Leider bin ich nicht
Sherlock Holmes. Der wüßte längst alles. Aber ich werde
auf jeden Fall einen Trick anwenden, den ich in einem
anderen Krimi einmal gelesen habe.“
„Welchen?“ fragte Axel neugierig.
„Warte es ab! Heute Nachmittag im Hotel bereiten wir
das Notwendige vor. Du darfst aber kein Wort zu Tilly
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oder den Kleinen sagen. Die könnten sonst alles verraten.“

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Die Falle für das Schneemonster

Als Dominik und Poppi mit roten, erschöpften Ge-


sichtern vom Skifahren heimgekommen waren, hatte sie
Lilo freundlich, aber bestimmt ins Hallenbad des Hotels
geschickt. „Im Wasser erholen sich die müden Beine am
besten“, hatte sie den beiden eingeredet, die gleich darauf
mit Badehose und Badeanzug abgezogen waren…
Nun waren die beiden ungestört. Lilo zog das
Briefpapier aus der Lade, das sich in jedem Hotelzimmer
befand. Sorgfältig riß sie den Briefkopf weg,
„Wir werden dem Schneemonster nun eine Falle
stellen!“ erklärte sie Axel. Für mich kommen zwei
Personen in Frage, die etwas damit zu tun haben könnten:
Erstens der Typ bei Sepp und zweitens der Mops.
Außerdem habe ich einen düsteren Schimmer, was dieses
Monster macht.“ Nun war Axel sehr gespannt. Diese
Frage hatte er sich auch schon mehrere Male gestellt.
„Das Monster hält die Leute vom Steilhang fern, weil
es dort etwas zu tun hat. Entweder errichtet es eine Anlage
...“
„Blödsinn, was für eine Anlage?“ warf Axel ein.
„Keine Ahnung, auf jeden Fall eine wichtige und
geheime, von der niemand etwas erfahren soll. Oder ...
Verdacht Nummer zwei... es sucht etwas?“
„Und was?“
Auch darauf wußte Lilo keine Antwort. Axel war damit
nicht zufrieden. Das kümmerte das Mädchen allerdings
wenig. Lilo stand auf und holte aus einer Tasche eine

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kleine Kofferschreibmaschine.
Sie spannte einen Bogen Papier ein und tippte fol-
genden Text: „Wir wissen, daß Sie das Schneemonster
sind. Wir haben Sie fotografiert und besitzen damit
wertvolle Beweise. Gegen Zahlung von 100.000 Schilling
sind wir bereit, Ihnen die Negative zu übergeben.
Treffpunkt Hahnenkamm, 100 Meter nach der
Seilbahnstation. Heute 20 Uhr!“
„Gut, nicht?“ sagte Lilo.
Axel wußte nicht so recht, was er davon halten sollte.
Lilo faltete die Zettel zusammen und überreichte einen
davon Axel. „Den bringst du morgen der Franziska. Sie
soll ihn dem Mops ins Zimmer legen. Aber er darf nichts
merken. Den zweiten liefere ich beim Sepp ab. So, und
jetzt werfen wir uns auch ins kühle Naß. Aber kein Wort
zu Dominik oder Poppi. Verstanden???“
Axel nickte. Er hatte ein überaus mulmiges Gefühl im
Bauch. Lilos Plan erschien ihm sehr gewagt.
Am Abend des 1. Jänner wurde — wie jedes Jahr —
am Fuße des Hahnenkamms die Skihexe verbrannt. Es
war dies eine lebensgroße Strohpuppe, die die Skilehrer
angezogen und mit einer Holzmaske versehen hatten.
Gefüllt war die Skihexe mit Knallerbsen, die im Feuer laut
krachten.
Auf dem Hang hatten die Roten Teufel von Kitz mit
Fackeln die Jahreszahl gesteckt. Darüber prangte das
Kitzbühler Kitz.
Unter lautem Gejohle rasten die Skilehrer dann den
Hang herunter und sprangen durch das lodernde Feuer des
Scheiterhaufens. Die umstehenden Skifahrer und Urlauber
applaudierten begeistert. Zum Abschluß gab es noch ein
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großes Feuerwerk.
Als das Spektakel vorüber war und sich Tilly und die
Knickerbocker-Bande zum Gehen wandten, stand
plötzlich Sepp vor ihnen.
„Ein gutes neues Jahr wünsche ich euch!“
„Na, schon ausgeschlafen?“ fragte Tilly scheinheilig.
„Wo warst du denn heute?“
„Schlimme Sache“, Sepp machte ein sehr bedrücktes
Gesicht. „Mein Bruder hat sich am Fuß verletzt, und ich
habe ihn ins Krankenhaus gebracht. Deshalb konnte ich
nicht kommen. Er mußte sogar drinnen bleiben. Aber
morgen kommt er wieder heraus.“
„Fein, daß wir das jetzt erfahren“, Tilly war verärgert.
„Du hättest dich wenigstens um einen Ersatz kümmern
können.“ Sepp war zerknirscht und versprach, für den
nächsten Tag einen anderen Skilehrer aufzutreiben.
Lilo stieß Axel in die Seite und grinste ihn ver-
schwörerisch an.
In der Stadt begegnete ihnen dann noch Herr Schroll,
der natürlich auch beim Fackellauf mitgewirkt hatte.
„Du Lilo, morgen fährt die Mama wieder zur
Großmutter. Möchtest du mitkommen? Du solltest dich
für den Fotoapparat bedanken, den sie dir zu Weihnachten
geschenkt hat.“
Lilo war sofort einverstanden.
„Darf der Axel mitkommen. Ich möchte ihm so gerne
die alten Kameras zeigen, die die Oma noch vom Opa
hat.“
„Meinetwegen. Aber den Rest eurer ‚Knickerbocker-
Bande’ bringen wir nicht in Mamas kleines Auto hinein.
Du weißt!“ Ja, das weiß ich, dachte Lilo. Das ist auch das
- 99 -
Gute daran. Sie hatte nur ganz kleine Gewissensbisse bei
dem Gedanken, daß sie morgen am Nachmittag ihre
Mutter anrufen und absagen würde.
In der Nacht schlief Axel sehr unruhig. Immer wieder
tauchte das Schneemonster in seinen Träumen auf und
stürzte sich mit seinen faltigen Pranken auf ihn. Er spürte
den Schnee, der seinen Mund und die Nase verstopfte. Er
keuchte und japste und schlug nach allen Seiten.
„Aua!“ rief Dominik schlaftrunken. „Spinnst du?“
Ohne es zu merken, war Axel aus dem Bett gerutscht,
zu Dominik hinübergewankt, der nur einen Schritt entfernt
lag, und hatte auf ihn eingeschlagen.
Axel wachte auf und plumpste auf den Boden. Ver-
schlafen rieb er sich die Augen und blinzelte Dominik an.
„Hast du einen Alptraum gehabt?“ fragte ihn dieser
besorgt. Axel nickte. „Habe ich oft. Dann gehe ich
manchmal sogar im Schlaf!“
„Das habe ich gemerkt“, lachte Dominik. „Aber wieso
hast du Alpträume? Zu viel gegessen?“
Axel krabbelte hoch und schlüpfte in sein Bett. „Nein,
das hat andere Gründe.“
„Erzähl schon!“
„Ich kann es dir jetzt noch nicht sagen. Du wirst es
spätestens übermorgen erfahren.“
Damit gab sich Dominik nur ungern zufrieden. Es war
ihm aufgefallen, daß Lilo und Axel ständig zu-
sammensteckten und flüsterten. Das ärgerte ihn. Warum
wurde er ausgeschlossen. Wütend warf er sich auf den
Polster, verschränkte die Arme über der Brust und starrte
auf die Decke.
Axel wußte nicht, was er tun sollte. Er wollte so gerne
- 100 -
jemanden von Lilos Plan erzählen. Aber konnte Dominik
dichthalten? Schließlich faßte er einen Entschluß ...

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Wer anderen eine Grube gräbt...

Der nächste Tag — es war der 2. Jänner — wird der


Knickerbocker-Bande unvergeßlich bleiben. In nur 24
Stunden überstürzten sich die Ereignisse.
Am Vormittag waren Lilo und Axel beim Skifahren
nicht so recht bei der Sache. Beide landeten öfter im
Schnee und konnten es kaum erwarten, zu Mittag ihre
Zettel auszutragen.
Axel hatte es leichter. Er mußte seine Nachricht nur
Franziska übergeben, die den Zettel dann beim Aufräumen
in das Zimmer von Dr. Grassus schmuggelte.
Lieselottes Herz klopfte laut und schnell, als sie die
knarrende Holztreppe zu Sepps kleiner Wohnung unter
dem Dach hinaufstieg. Ob er zu Hause war? Vielleicht
befand sich auch nur dieser Italiener in der Wohnung? Für
ihn war ja der Zettel eigentlich bestimmt. Er sollte
anbeißen, wenn er wirklich etwas mit dem Schneemonster
zu tun hatte. Im letzten Stock angekommen, blieb Lilo
stehen und verhielt sich völlig ruhig. In einer der tiefer
gelegenen Wohnungen schrie ein Baby, und jemand
klapperte laut mit Töpfen in der Küche, Der Geruch von
Kohl stieg ihr in die Nase.
Aus Sepps Wohnung drang kein Laut. Es war völlig
still. Lilo tappte zögernd zur Tür und preßte ihr Ohr
dagegen. Sie hörte noch immer nichts. Langsam griff sie
nach der Schnalle und drückte sie herunter. Ein schrilles
Klingeln ließ sie erschrocken zurückfahren. Bei Sepp
läutete das Telefon. Drinnen polterte es. Jemand war

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aufgesprungen und hastete mit schnellen Schritten zum
Apparat.
„Ja ...“ Die Stimme in der Wohnung klang aufgeregt
und gepreßt. Sepp gehörte sie jedenfalls nicht. Seine
Stimme war tiefer. „Si... no! ... Prego? ... Si!“ Das war
italienisch. Lilo erkannte es sofort.
Der geheimnisvolle Italiener hatte den Hörer mit Wucht
auf die Gabel geworfen. So stark, daß der ganze Apparat
krachend zu Boden fiel.
Lilo blickte sich um. Ungefähr drei Meter von ihr
entfernt befand sich eine schmale, enge Holztreppe, die
unter den Giebel des Daches führte. Dort wurde
normalerweise die Wäsche zum Trocknen aufgehängt.
Das Mädchen zog den Zettel aus der Tasche, faltete ihn
auf und legte ihn genau vor Sepps Wohnungstür.
Sie klingelte kurz und hastete dann mit großen
Sprüngen die Treppe hinauf. Durch eine enge Luke
schlüpfte sie auf den Dachboden und lehnte sich gegen
einen der staubigen Holzbalken. Sie lauschte.
Unten wurde eine Tür geöffnet. „Hallo? Hallo? Ist da
wer?“ rief eine Stimme mit fremdländischem Akzent. Jetzt
hat er den Zettel entdeckt, dachte Lilo und wartete
gespannt. Ein paar Sekunden später flog die Tür krachend
ins Schloß.
Lieselotte wartete noch einige Minuten und wagte sich
dann vorsichtig aus ihrem Versteck. Der Zettel vor Sepps
Tür war verschwunden. Schnell hastete sie die Holztreppe
hinunter und verfluchte sie in Gedanken. Warum mußte
das schreckliche Ding auch so knarren, krachen und
ächzen? Mit einem Seufzer der Erleichterung trat sie
durch das Haustor ins Freie.
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Ihre Augen blitzten unternehmungslustig. In ihrem
Kopf hakte sie auf einem Zettel Stufe l ihres Planes ab. Sie
machte einen kleinen Freudensprung und rannte dann in
Richtung Hotel.
Oben, an einem der drei kleinen Fenster unter dem
Dach, stand ein dunkelhaariger Mann hinter dem Vorhang
und spähte auf die Straße. Er musterte einen Zettel in
seiner Hand, schnalzte mit den Fingern und hob einen
Pistolengürtel vom Tisch auf, schnallte ihn um und
kontrollierte das Magazin des Revolvers. Dann warf er
einen Blick auf die Uhr und marschierte unruhig im
Zimmer auf und ab. Er hinkte, und schon nach wenigen
Schritten ließ er sich stöhnend in einen abgewetzten Sessel
fallen.
Am späteren Nachmittag, als die meisten Skifahrer
bereits ins Tal zurückgekehrt waren, trafen sich Axel und
Lilo mit Onkel Peter, dem Pistenfahrzeug-Fahrer.
Gemeinsam ging es in der Gondel der Hahnenkammbahn
den Berg hinauf.
„Ja mei, seit wann hast du eigentlich so eine große
Liebe zu den Pistenfahrzeugen und zu mir entdeckt?“
erkundigte sich der Onkel schmunzelnd bei seiner Nichte.
Lilo blickte ihn mit großen, unschuldigen Augen an und
setzte ihr liebstes Lächeln auf.
„Aber, Onkel Peter, wir haben uns doch immer schon
gut verstanden, oder?“
Onkel Peter grinste etwas verlegen, als ihm seine
Nichte den Bart kraulte.
Das Rütteln der Gondel verriet, daß sie bei der
Bergstation angekommen waren. Für weitere Gespräche
blieb keine Zeit.
- 104 -
Diesmal ließen sich die beiden Junior-Detektive die
Fahrt im Pistenfahrzeug nicht entgehen. Erstens weil sie
ein wenig von dem bevorstehenden, spannenden Ereignis
abgelenkt werden wollten, zweitens, um die Zeit
totzuschlagen. Bis acht Uhr waren es noch über zwei
Stunden.
Kurz nach sieben Uhr lieferte Onkel Peter Axel wieder
bei der Bergstation ab. Dort wurde er schon von Lilo
erwartet.
„Wir haben Glück, die nächste Gondel fährt in drei
Minuten“, verkündete sie ihm strahlend.
Axel schaute sie etwas ratlos an. War Lilo überge-
schnappt?
„Na sehr gut“, meinte ihr Onkel. „Ich muß nämlich
weiter, und die Piste jetzt ganz abfahren. Bis ins Tal. Pfiat
euch, ihr Gauner!“
Lilo winkte dem Onkel nach, bis er hinter der Kurve
verschwunden war.
„Bist du verrückt, wir wollen doch nicht ins Tal“,
zischte Axel.
Lilo sah ihn mitleidig an. „Das weiß ich selbst, aber ich
mußte doch meinen Onkel beruhigen. Jetzt glaubt er, wir
sind schon auf dem Heimweg, und das ist auch gut so.
Bist du warm genug angezogen?“
Axel nickte. Er hatte unter seinem dicken Skianzug
noch Jeans an und trug außerdem zwei Pullover über-
einander.
„Die wirst du brauchen“, versicherte ihm Lilo.
„Komm!“
Sie knipsten ihre großen, leuchtstarken Taschenlampen
an und marschierten zu dem Punkt, an dem sie sich mit
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dem „Schneemonster“ treffen wollten.
„Wir beziehen hinter dieser Schneewächte Stellung“,
beschloß Lilo. Sie deutete auf einen mannshohen
Schneehügel am Rande der Piste. Das Mädchen
marschierte darauf zu und verwischte im Gehen seine
Spuren mit dem Schuh.
Hinter der Schneewand setzte sich Lilo nieder und
öffnete ihre „Banane“. So wird jene längliche Tasche
genannt, die viele Skifahrer umgeschnallt haben. Lie-
selotte zog einen modernen Fotoapparat heraus und
kontrollierte, ob auch alles eingestellt war.
„Blitz ist bereit, wir auch!“ murmelte sie. „Jetzt haben
wir wirklich bald ein Foto vom Schneemonster.“
Nun hieß es warten, warten, warten. Die beiden
Knickerbocker hatten sich in den Schnee gekniet und
spähten von Zeit zu Zeit über die Kante der Schnee-
wächte. Würde jemand kommen?
Axel warf einen Blick auf seine Armbanduhr und
verdrehte die Augen. Noch 20 Minuten bis acht Uhr!
Die Zeit verging langsam, doch endlich war es soweit.
Acht Uhr. Zur Enttäuschung der Kinder rührte sich jedoch
nichts. Nur der Wind begann immer heftiger und kälter zu
blasen.
Axel fröstelte. Lieselotte zitterte vor Aufregung.
20 Uhr 15. Noch immer nichts.
20 Uhr 20. Lilo warf wieder einen Blick über den
Schneehügel und zuckte zurück.
„Es kommt jemand“, flüsterte sie mit heiserer Stimme.
„Jemand ziemlich großer, schlanker. Der Mops ist es also
eindeutig nicht.“
Der Mann blieb stehen und drehte sich nach allen
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Seiten. Lilo konnte erkennen, daß er einen Skianzug trug
und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte.
„Hallo? Hallo? Wo sind Sie?“ rief er. An seinem
Akzent erkannte ihn das Mädchen sofort als den Mann aus
Sepps Wohnung. Im Zeitlupentempo griff sie nach ihrer
Kamera und zog sie zu ihrem Gesicht herauf. Lilo richtete
das Objektiv auf den Mann und wollte schon abdrücken,
als Axel plötzlich laut aufschrie.
Der Mann erschrak und stürzte in die Richtung, wo er
die Erpresser vermutete.
„Idiot“, knurrte Lilo, doch im nächsten Moment hätte
auch sie am liebsten losgebrüllt. Hinter ihnen stand —
hoch aufgerichtet — das Schneemonster. Mit einem
heiseren Gurgeln packte es die beiden Kinder an den
Schultern und riß die verdutzten Hobby-Detektive zu
Boden. Geschickt preßte das Monster Lilo und Axel die
Handschuhe auf den Mund.
Doch nun erwachte Lilo aus ihrer Starre. Sie begann
wild um sich zu schlagen und biß mit voller Kraft in die
Finger des Untiers. Die Hand zuckte zur Seite. Diese
Sekunde nützte das Mädchen, um nun zum Gegenangriff
zu schreiten. In der Schule hatte sie einen Kurs in
Selbstverteidigung besucht. Was sie da gelernt hatte,
konnte sie nun sehr gut anwenden. Sie trat dem Monster
mit voller Wucht gegen die Beine und in den Bauch. Das
Untier stöhnte laut auf.
Axel half seiner Freundin, so gut er konnte. Er ver-
drehte dem verdutzten Schneemonster den Arm und
schlug ihm von hinten die Beine weg. Das Ungeheuer
torkelte und fiel rücklings in den Schnee. Auf diesen
Moment hatte Lilo nur gewartet. Sie rannte zum Kopf des
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Angreifers, der verzweifelt versuchte, eines der Kinder zu
fassen zu kriegen. Lilo zerrte an dem Sturzhelm, den er
trug. Der kleine Scheinwerfer, der daran befestigt war,
erlosch. Er mußte Axel beim ersten Überfall wie ein Auge
erschienen sein.
Endlich sprangen die Druckknöpfe unter dem
Kinnschutz auf, und Lilo hielt den Sturzhelm in der Hand.
Wie ein wildes Tier faßte sie die Strumpfmaske, die
darunter zum Vorschein gekommen war und riß an.
„Sepp!“ schrie sie überrascht, als das Gesicht des
Skilehrers darunter zum Vorschein kam.
Der sonst so freundliche und sonnige Sepp starrte sie
wütend an. „Ihr werdet mir nicht mehr dazwi-
schenfunken!“ Er packte Lilos Kamera und schleuderte sie
in hohem Bogen davon. „Guiseppe“, brüllte er. „Hier sind
sie. Schnell! Wir lassen sie in der Hütte verschwinden.“
„Das wollen wir sehen“, rief Lilo und wollte sich erneut
auf Sepp stürzen.
„Stopp! Keine Bewegung ...!“ Vor ihnen stand ein
großgewachsener, kräftiger Mann mit schwarzen Haaren
und einem schmalen Oberlippenbart. In der Hand hielt er
eine Pistole, die auf die Kinder gerichtet war. Er deutete
ihnen, die Hände zu heben.
Axel und Lilo taten es langsam. Beide schwitzten,
obwohl es eisig kalt war. Aus Angst brachten sie kein
Wort heraus.
„Haben Sie ... ihn?“ fragte der Italiener Sepp.
Der Skilehrer zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht.
Ich werde aus denen nicht schlau.“
„Habt ihr ... gefunden ... die Mikrofilm?“ wandte sich
Guiseppe nun an Axel und Lilo.
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„Wie ... wie ... sieht sowas aus?“ brachte Axel mühsam
heraus.
„Eine metallene Kapsel ist es. Nicht größer als der
Nagel des kleinen Fingers.“
„Wo soll der gewesen sein?“
„Hier!“
„Poppi hat so ein Ding hier im Schnee gefunden. Beim
Wegweiser“, entschlüpfte es Lilo. Im nächsten
Augenblick zuckte sie zusammen. Nun hatte sie auch
Poppi in Gefahr gebracht.
„Was ist ... Poppi?“ wollte der Italiener von Sepp
wissen.
„Die Kleine, die Carlo, der Idiot, entführt hat.“
Der Mann mit den eiskalten Augen deutete den
Kindern, daß sie den Hang hinuntergehen sollten.
„Wir ‚versorgen’ die beiden und holen uns dann den
Film. Aber danach nur weg!“ sagte Sepp.
Jetzt erschießen sie uns, dachte Axel und schloß die
Augen. Auch Lilo hatte ähnliche Gedanken.
Plötzlich flammte ein grelles Licht hinter ihnen auf. Es
beleuchtete das Stück des Hanges, auf dem sie sich mit
Sepp und dem Italiener befanden.
„Lassen Sie die Waffe fallen!“ kommandierte eine
bekannte Stimme hinter ihnen. Lilo und Axel drehten sich
vorsichtig um.
An der Kante der Schneewächte stand der Mops. Er
hielt Sepp und Guiseppe mit einer Pistole, auf der ein
Schalldämpfer montiert war, in Schach.
„Lassen Sie die Waffe fallen!“ kommandierte Dr.
Grassus mit scharfer Stimme. Ein leises „Kling“ deutete
den Kindern an, daß der Italiener den Befehl befolgt hatte.
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„Na also, warum nicht gleich. Und jetzt raus mit dem
Mikro ...“
Weiter kam der Mops nicht. Ihm war entgangen, wie
Sepp seine Hand langsam unter den Fallschirmspringer-
Anzug hatte gleiten lassen. Blitzschnell zog er einen
Revolver und feuerte einen Schuß ab.
Dr. Grassus taumelte und begann zu brüllen. Wieder
knallte ein Schuß durch die Nacht. Die Männer stoben
auseinander.
„Schnell weg, den Hang hinunter“, rief Lilo und packte
Axel bei der Hand. Stolpernd, stürzend, keuchend und
taumelnd rannten sie durch den Schnee und rutschten über
das Eis.
Sie hörten laute Stimmen hinter sich und Schüsse.
„Stehenbleiben!“ brüllte Sepp.
Aber die beiden kümmerten sich nicht darum. Lilo
leuchtete mit ihrer Taschenlampe den Weg. Sie hasteten
immer weiter, ohne sich umzudrehen.
Erst als rings um sie außer dem Sausen des Windes und
dem Rauschen der Bäume nichts mehr zu hören war,
blieben sie stehen.
„Wo sind wir?“ keuchte Axel.
„Ich weiß es nicht“, stammelte Lilo und versuchte Luft
zu bekommen. „Ich fürchte ,.. wir .,. haben uns verirrt!“

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Im Schneesturm

Es hatte zu schneien begonnen, und der Wind wirbelte


die dicken Schneeflocken durch die Luft.
Axel war ein guter Sportler und hatte eine ausge-
zeichnete Kondition. Trotzdem wurde er mit jedem Schritt
müder. Die Aufregungen und der Schreck hatten zu seiner
Erschöpfung noch zusätzlich beigetragen.
Auch Lieselotte schleppte sich nur mit letzter Kraft
durch den Schnee. Eine Taschenlampe hatte bereits ihren
Geist aufgegeben. Das Licht der zweiten wurde immer
schwächer.
„Wir dürfen uns unter keinen Umständen hinsetzen“,
erklärte Lilo. „Wenn wir im Schnee einschlafen, sind wir
verloren. Manche Skifahrer, die sich verirrt haben, sind so
schon erfroren.“
Die Kinder beschlossen, den Berg immer weiter
hinunterzulaufen. Vielleicht würden sie doch zu einer
Straße oder zu einem Haus kommen. Viel Hoffnung
hatten sie nicht. Weit und breit war kein Licht zu sehen.
Im Hotel Hochbrunner herrschte große Aufregung. Es
war bereits kurz nach elf Uhr, doch Lilo und Axel waren
noch immer nicht aufgetaucht.
Tilly saß mit Poppi und Dominik im Appartement der
Buben und strich sich ununterbrochen durch das Haar. Sie
drehte mit dem Zeigefinger wieder einzelne Strähnen zu
Locken und seufzte tief.
„Wo bleiben die beiden denn nur?“ fragte Poppi an
diesem Abend mindestens schon zum fünfzigsten Mal.

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„Wenn ich das wüßte, wäre ich schon dort, um sie zu
holen. Lilo ist so verantwortungsbewußt. Falls sie mit
Axel zu einer Freundin gegangen ist, hätte sie doch
angerufen.“
Dominik blickte Tilly durch seine runde Brille traurig
an. „Glaubst du, es ist ihnen etwas zugestoßen?“
Die junge Frau schwieg. Gedankenverloren ließ sie ihre
Finger über die Messingknöpfe und Griffe des kleinen
Schreibpultes gleiten. Sie zog die Laden auf und schob sie
wieder zu.
„Was ist denn das?“ Aus dem Fach, in dem das
Briefpapier für die Gäste lag, fischte Tilly einen Um-
schlag. „Für Dominik“ stand darauf und „Nur Öffnen,
falls wir bis 22 Uhr nicht zurück sind.“
In Windeseile riß sie das Kuvert auf und zog einen
Zettel heraus. „Lieber Dominik, Lilo hat mir verboten Dir
zu sagen, was wir vorhaben“, las Tilly den Kindern vor.
Den Rest überflog sie nur murmelnd. Dann griff sie zum
Telefon und wählte die Nummer der Rezeption.
„Portier? Bitte verständigen Sie die Bergrettung und die
Gendarmerie gleich dazu. Schnell! Bitte schnell!“
Der Wind fegte immer heftiger durch die Bäume. Die
Flocken tanzten im schwachen Schein von Lilos
Taschenlampe.
Axel zitterte am ganzen Körper. „Ich kann nicht mehr,
Lilo ... ich kann nicht mehr“, stammelte er.
„Komm weiter, du mußt weiter.“ Lilo packte ihn am
Ärmel und zerrte ihn mit sich. Auch ihr war die Kälte
unter den Skianzug geschlüpft und hatte ihren ganzen
Körper erfaßt.
Axel ließ den Mut sinken. „Es hat keinen Sinn. Hier ist
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keine Straße. Und wer sollte da wohnen? Wir sind nicht
einmal in der Nähe einer Skipiste.“
Nein, nein, nur nicht aufgeben, waren Lilos einzige
Gedanken. Das hatte sie sehr oft in den Kletterkursen
gehört, die ihr Vater im Sommer abhielt. Auch er war
schon zweimal auf einem Gletscher in Bergnot geraten,
weil er einen verirrten Halbschuhtouristen suchen mußte.
Nur durch sein Durchhaltevermögen hatte er unverletzt
überlebt.
Axel blieb ruckartig stehen. Seine Freundin stupste ihn,
damit er weiterging. Aber Axel machte keinen Schritt
weiter.
„Hör doch“, stieß er hervor, „hör doch. Da war etwas.“
Lilo lauschte in die Nacht, konnte aber nichts hören.
„Es hat ein Hund gebellt. Ehrlich. Ich spinne nicht!“
Das Mädchen horchte wieder angestrengt. Axel hatte
recht. Da war ein dumpfes, tiefes Kläffen zu hören. Es
wurde lauter.
„Ein Hund .., Dann muß auch irgendwo sein Herr sein.“
„Hallo! Wir sind hier! Hilfe! Hilfe!“ brüllten Axel und
Lilo aus Leibeskräften. „Helfen Sie uns, wir haben uns
verirrt!“
Das Bellen kam näher. Ein großer, struppiger,
schwarzer Hund bahnte sich seinen Weg durch das
verschneite Dickicht. Freudig wedelnd und winselnd
sprang er an Lilo hinauf,
„Wo ist dein Herrchen, wo?“
Das Knacken der Äste verriet, daß jemand dem Hund
folgte.
Eine Taschenlampe blitzte auf und leuchtete den
Kindern ins Gesicht.
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„Hat der Tasso also recht gehabt, ist da wirklich je-
mand“, sagte eine tiefe, rauhe Stimme. Ein Mann in einer
dicken Pelzjacke und in festen Fellstiefeln trat zwischen
den Bäumen hervor.
„Bin ich froh ... bin ich froh ... es hat uns jemand
gefunden“, stammelte Axel.
„Wer seid ihr denn?“ wollte der Mann wissen.
„Ich heiße Lieselotte, und das ist mein Freund Axel.
Aber woher kommen Sie?“
„Ihr könnt Fritz zu mir sagen. Ich habe dort vorne auf
der Lichtung eine kleine Hütte, die kaum einer kennt. Dort
habe ich mich für ein paar Tage mit dem Tasso
zurückgezogen. Aber jetzt kommt mit. Ihr seid ja völlig
durchgefroren.“
„Haben Sie ein Telefon?“
Fritz schaute Lilo an, als hätte sie ihn gerade um eine
Million Schilling gebeten.
„Natürlich nicht. Ich habe nicht einmal Strom in der
Hütte.“
„Wir müssen aber telefonieren. Es ist sehr wichtig.
Einer Freundin von uns droht große Gefahr.“
Es war kurz nach drei Uhr, als eine dunkle, hagere
Gestalt über den Korridor im dritten Stock des Hotels
Hochbrunner schlich. Sie blieb vor einer Tür stehen und
drückte sachte die Klinke nieder.
Der Einbrecher hatte Glück. Es war nicht abge-
schlossen. Er huschte in das dunkle Zimmer und drückte
die Tür lautlos ins Schloß. Aus der Tasche zog der Mann
nun ein kleines Fläschchen und einen Wattebausch. Er
träufelte ein paar Tropfen Flüssigkeit darauf und schaute
sich suchend im Raum um. Mit der Hand tastete er sich an
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der Wand entlang durch den kleinen Vorraum und das
Wohnzimmer zur nächsten Zimmertür.
Vorsichtig öffnete er sie. Die Tür quietschte leise, und
er hielt erschrocken den Atem an. Im Zimmer rührte sich
nichts.
Durch das Fenster fiel der schwache Lichtschein einer
entfernten Straßenlaterne. Der Mann erkannte zwei Betten
im Raum. Das eine war unberührt. Im anderen zeichneten
sich unter der Decke die Umrisse eines ungefähr
zehnjährigen Kindes ab.
Mit einem Sprung war der Mann am Bett und wollte
den Kopf der Schläferin packen. Aber er griff ins Leere.
Erschrocken schlug er die Decke zurück. Darunter lag
eine zweite, zusammengerollte Decke, die das schlafende
Kind vorgetäuscht hatte.
Plötzlich flammte das Licht im Zimmer auf. Drei
Männer in Uniform traten hinter dem Vorhang und hinter
der Tür hervor.
„Hände hoch und keine falsche Bewegung mehr!“
befahl einer der Männer.
Die anderen beiden durchsuchten den Eindringling
nach Waffen und nahmen ihm das Fläschchen und den
Wattebausch ab.
„Sehr schlau. Zuerst wollten Sie das Mädchen er-
schrecken und von ihm erfahren, wo der Mikrofilm
geblieben ist. Danach sollte sie mit dem Chloroform
betäubt werden. Sehr schlau! Aber nicht schlau genug.
Abführen!“
Der Einbrecher, der niemand anderer als Guiseppe
Castelli war, warf den Kopf hochmütig in den Nacken und
ließ sich die Handschellen umlegen. Er preßte die Lippen
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aufeinander. Von ihm würde die Polizei nichts erfahren.
Kein Wort.

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Die Lösung des Rätsels

Der nächste Tag begann für die Knickerbocker-Bande


erst am späten Nachmittag.
Es war schon nach vier Uhr, als endlich alle aufge-
standen waren. Gemeinsam saßen sie im leeren Speisesaal
und stillten ihren Heißhunger.
Tilly und Lilos Eltern sahen den vier schmunzelnd zu.
„Ihr Schwindler“, meinte Herr Schroll, „uns so an-
zulügen und einen solchen Schrecken einzujagen!“
„Keine Strafpredigten, Papi, wissen wir alles selbst.
Aber immerhin haben wir zwei gefährliche und gesuchte
Spione entlarvt. Falls ich vorher gewußt hätte, mit wem
wir es zu tun haben, wäre ich wahrscheinlich nicht so
mutig gewesen“, fügte Lilo grinsend hinzu.
„Wie ist es euch eigentlich gelungen, mich doch noch
anzurufen? Ich dachte, auf der Hütte von diesem
schrulligen Fritz gab es kein Telefon“, wunderte sich
Tilly.
„Gab's auch nicht“, stieß Axel mit vollem Mund hervor.
Er schluckte erst, bevor er weiterredete. „Aber der Fritz
hatte zum Glück ein Autotelefon, und sein Wagen ist nur
dreihundert Meter weiter auf einer Straße gestanden.“
Tilly seufzte. „Auf jeden Fall hätte ich nie gedacht, daß
mein Ex-Chef für einen Spionagering arbeitet. Seit über
zehn Jahren, wie er selbst gestanden hat. Er wurde
übrigens von der Bergrettung gefunden. Der Sepp hat ihn
am Bein getroffen und verletzt. Es war Rettung in letzter
Sekunde, sonst wäre er womöglich verblutet.“

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Frau Schroll schüttelte fassungslos den Kopf. „Was ist
nur in den sympathischen Sepp gefahren? Was hat er sich
bei all dem gedacht? Hat er auch als Spion gearbeitet?“
„Nein“, erklärte Lilo ihrer Mutter. „Aber damit du das
verstehst, muß Tilly die Vorgeschichte zu allem erzählen.“
„Dr. Grassus hat ein Geständnis abgelegt. Ein Reporter
wird einen großen Bericht über den Fall schreiben. Er war
heute bereits im Hotel, da er selbstverständlich auch mit
der Knickerbocker-Bande reden will. Von ihm weiß ich
die Zusammenhänge.“
„Und die wären? Machen Sie es nicht so spannend.“
Lilos Eltern wurden langsam ungeduldig.
„Dr. Grassus hat damals im Dezember den Auftrag
erhalten, einen Mikrofilm aus Italien abzuholen und nach
Österreich zu bringen. Von hier sollte er damit weiter nach
Saudi-Arabien. Auf dem Film haben sich die Pläne und
Aufzeichnungen über das perfekte Elektroauto von
Professor Kagori befunden. Am Tag des Todes von
Professor Kagori hatte nämlich ein Agent in Italien die
Pläne abgelichtet und anschließend das Labor in Brand
gesetzt. Die Originale wurden vernichtet. Dr. Grassus
übernahm die Kapsel mit dem Mikrofilm und brachte sie
nach Österreich.
Hier wurde er aber bestohlen. Von Guiseppe Castelli,
der für eine amerikanische Autofirma arbeitet. Seine
Auftraggeber waren an den Plänen ebenso interessiert wie
die Ölmillionäre. Er hat Dr. Grassus in Innsbruck
überfallen und ihm dabei den Mikrofilm abgenommen.
Castelli floh damit quer durch Tirol. Dr, Grassus hat aber
durch einen Spitzel erfahren, daß sich Guiseppe per
Helikopter nach Italien absetzen wollte. Er verständigte
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seinen Chef. Dieser organisierte nun folgendes: Der Pilot
des Hubschraubers war einer seiner Männer, der
Anweisung hatte, Castelli nach Innsbruck
zurückzubringen. Der Spion scheint das durchschaut zu
haben. Er zwang den Piloten mit vorgehaltener Pistole,
über dem Hahnenkamm tief herunterzugehen. Dann
sprang er einfach ab . . .“
„Moment“, unterbrach Herr Schroll, „an diesem Tag
war doch das Schneegestöber. Wieso konnte der
Hubschrauber da überhaupt starten?“
Tilly hatte dafür zwei Erklärungen: „Erstens hat es zu
Beginn des Fluges noch nicht so stark geschneit. Und
zweitens mußte dieser Castelli unbedingt überwältigt
werden. Daher riskierte der Pilot auch den Flug im
Schneetreiben. Das hätte er unter normalen Umständen nie
getan!“
„Naja, Guiseppe ist jedenfalls direkt neben die ein-
fältige Amerikanerin gefallen, mit der Sepp an diesem Tag
unterwegs war“, setzte Lilo fort. „Guiseppe hat einen
weiten Fallschirmspringer-Anzug getragen, und in dem
hat ihn die Lady aus Amerika für ein Schneemonster
gehalten. Der Sepp ist später zurückgegangen und hat
nachschauen wollen, was eigentlich los war. Dabei hat er
den verletzten Agenten im Schnee gefunden und
mitgenommen. Er hat ihn bei sich wohnen lassen und als
seinen Bruder ausgegeben, damit ihm keiner auf die Spur
kommt. Natürlich gegen hohe Bezahlung. Der Sepp leidet
ständig unter Geldnot, da er hohe Spielschulden hat.
Angeblich ist er einige Male auf sehr brutale Weise daran
erinnert worden, daß die nächsten Raten fällig waren.“
Herr Schroll konnte das alles kaum glauben. „Aber
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wieso ist dieses ‚Schneemonster’ dann noch öfter auf-
getaucht?“ wollte er wissen.
„Weil Guiseppe beim Absprung den Mikrofilm ver-
loren hat“, erklärte Axel. „Er hat ihn im Mund unter der
Zunge versteckt gehabt. Falls er von seinen Feinden
erwischt und durchsucht worden wäre, hätte er die kleine
Kapsel einfach geschluckt. Schlau, nicht wahr?“
Und dann erzählte Lilo weiter:
„Sepp hat sich in den Kopf gesetzt, den Film zu finden,
obwohl es ein äußerst aussichtsloses Unternehmen war.
Aber er wußte, daß der Mikrofilm viel Geld bedeutete,
und davon hätte er zu gerne ein bißchen gehabt. Damit er
von niemandem bemerkt und für verrückt gehalten wurde,
hat Sepp zu dem Trick mit dem Fallschirmspringer-Anzug
gegriffen. Außerdem hat er einen Sturzhelm mit
eingebautem Mini-Scheinwerfer auf dem Kopf getragen.
Er selbst hat die Gerüchte um das Schneemonster nur
verstärkt. Er wollte damit die Leute vom Steilhang
fernhalten. So konnte er in Ruhe suchen und lästige,
unerwünschte Beobachter in die Flucht schlagen.“
Frau Schroll hatte auch noch eine Frage; „Aber was
war mit euren Lederhosen? Wieso wurden die gestohlen?“
Tilly lachte. „Ganz einfach; Dr. Grassus hat vermutet,
daß sich der Spion verletzt hatte. Der Pilot war nämlich
bei seinem Absprung höher gegangen. Dadurch ist Castelli
tief gefallen. Dr. Grassus hat nun folgende Überlegung
angestellt: Guiseppe befindet sich ziemlich sicher in
Kitzbühel. Ich werde ihn dort halten und ihm eine Falle
stellen. Er hat von den Kollegen seines Spionageringes
das Gerücht in die Welt setzen lassen, es gäbe noch einen
zweiten Mikrofilm mit weiteren Plänen. Dieser zweite
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Mikrofilm sollte in unseren Lederhosen versteckt nach
Kitzbühel geschickt und dort von einem anderen Agenten
übernommen werden. So wollte der Mops Guiseppe aus
seinem Versteck locken. Er sollte sich zu erkennen geben,
damit ihn Dr. Grassus schnappen konnte. Allerdings hat
die Besorgung der Lederhosen nicht Guiseppe, sondern
der falsche Pianist Arno Arretitz übernommen — ein
Komplize des Agenten. Sein richtiger Name lautet
übrigens Carlo Carbani“, erläuterte Lilo.
Ein Mann betrat den Speisesaal und kam zum Tisch der
Knickerbocker-Bande, Tilly erkannte ihn als einen der
Kriminalbeamten.
„Entschuldigen Sie bitte die Störung. Doch wir haben
gestern nacht das Wichtigste vergessen: die Kapsel mit
dem Mikrofilm. Eines der Kinder hat sie doch angeblich
gefunden.“
„Ich war das!“ rief Poppi.
„Wenn ich jetzt die ganze Geschichte höre, dann war
das wirklich der Zufall der Zufälle!“ lachte Tilly.
„Aber wo ist der Film jetzt?“ wollte der Kriminal-
beamte wissen.
Poppi grinste verschmitzt über das ganze Gesicht. „Die
Gauner hätten sie nie gefunden. Nie im Leben.“ Sie setzte
den schnurrenden Rosso, der die ganze Zeit auf ihrem
Schoß gelegen hatte, auf den Tisch. Vorsichtig nahm sie
sein Halsband ab, an dem die kleine Messingglocke hing.
Der Kommissar schaute verdutzt, als sie ihm den
Lederriemen überreichte.
„Der Mikrofilm . . .?“
„Werfen Sie einen Blick in die Glocke“, riet ihm Lilo.
Der Kriminalpolizist tat es, und nun lachte auch er. Poppi
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hatte die kleine Metallkapsel als Klöppel in das kaputte
Glöckchen eingehängt.
„Dafür wirst du eine hohe Belohnung erhalten“, verriet
ihr der Beamte. „Sie wurde von den Erben Professor
Kagoris für die Wiederbeschaffung der Pläne ausgesetzt.“
„Die teilen wir uns aber“, meinte Poppi.
„Klar, davon zahlen wir die Bahnreise nach Kitzbühel.
Wir wollen doch heuer einmal alle beim Hahnenkamm-
Rennen dabei sein“, rief Axel.
„Unbedingt!“ meinten auch die übrigen Knicker-
bocker-Banden-Mitglieder begeistert.
Tilly hob die Hand und bat um Ruhe. „Eines möchte
ich aber gesagt haben: Ihr werdet das Rennen nur als
Besucher verfolgen. Abgemacht?“
Lilo war mit diesem Vorschlag nicht ganz einver-
standen. „Aber was ist, wenn der Favorit vergiftet wird?
Oder der Pokal verschwindet? Oder . . .?“
„Ab heute sage ich nur noch Lilo Holmes zu dir!“
entschied Tilly und stimmte in das schallende Gelächter
der anderen ein.
Für Lilo stand eines jedenfalls fest: Das war der erste
Fall, den die Knickerbocker-Bande gelöst hatte. Aber
sicher nicht der letzte!
Sie sollte recht behalten ...

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