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Deutsch als Fremdsprache

HSK 19.1


Handbücher zur
Sprach- und Kommunikations-
wissenschaft
Handbooks of Linguistics
and Communication Science

Manuels de linguistique et
des sciences de communication

Mitbegründet von
Gerold Ungeheuer

Herausgegeben von / Edited by / Edités par


Armin Burkhardt
Hugo Steger
Herbert Ernst Wiegand

Band 19.1

Walter de Gruyter · Berlin · New York


2001
Deutsch als Fremdsprache
Ein internationales Handbuch

Herausgegeben von
Gerhard Helbig · Lutz Götze · Gert Henrici
Hans-Jürgen Krumm
1. Halbband

Walter de Gruyter · Berlin · New York


2001

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die
US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek ⫺ CIP-Einheitsaufnahme

Deutsch als Fremdsprache : ein internationales Handbuch / hrsg. von Ger-


hard Helbig …. ⫺ Berlin ; New York : de Gruyter
(Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ; Bd. 19)
Halbbd. 1. ⫺ (2001)
ISBN 3-11-013595-7

쑔 Copyright 2001 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin
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Satz: Arthur Collignon GmbH, Berlin
Druck: WB-Druck, Rieden/Allgäu
Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Einbandgestaltung und Schutzumschlag: Rudolf Hübler, Berlin
Vorwort

1. Zur Bezeichnung und Abgrenzung des Faches


Der Terminus Deutsch als Fremdsprache wird für unterschiedliche Bereiche der Beschäf-
tigung mit dem Deutschen als Nicht-Muttersprache verwendet. Er steht sowohl für den
konkreten Sprachunterricht für Nichtdeutschsprachige wie auch für theoretische Stu-
dien und Forschungsprojekte zum Gegenstandsbereich und ebenso für Unterrichtsme-
thoden und Studiengänge innerhalb und außerhalb der Germanistik.
Inwieweit Deutsch als Fremdsprache ein eigenes, klar abgrenzbares wissenschaftli-
ches Fach ist und wie dieses zugeordnet werden sollte, als Bestandteil der Germanistik
oder als interdisziplinäres Arbeitsgebiet zwischen Philologie und Psychologie bzw. Päd-
agogik, wird erst die weitere Entwicklung klarer zeigen. Abhängig von entsprechenden
Konzeptionen ergeben sich terminologische und begriffliche Akzentuierungen.
Mit Deutsch als Zweitsprache wird vielfach jener Bereich des Faches bezeichnet, der
sich auf den Spracherwerb und die Sprachvermittlung innerhalb des deutschen Sprach-
raums, also insbesondere auf den Spracherwerb von Minderheiten und Migranten, be-
zieht.
Als Interkulturelle Germanistik werden öfters besonders von Deutschland ausgehende
Konzepte bezeichnet, die das Problem des Fremdverstehens im Rahmen literaturwissen-
schaftlicher Ansätze und in der Auseinandersetzung mit Theorien des (Fremd-)Verste-
hens entfalten ⫺ Artikel 1 zeichnet diese Diskussion nach.
Die Herausgeber des Handbuchs haben für den vorliegenden Band eine zugleich
programmatische wie auch praktische Position gewählt, die sich folgendermaßen cha-
rakterisieren lässt:
1) Die Bezeichnung Deutsch als Fremdsprache wurde beibehalten, weil sie, trotz man-
cher Missverständnisse, insbesondere der Verwechslung mit dem Sprachunterricht, den-
noch die Geschichte des Faches, seine wissenschaftlichen Aspekte wie auch die inzwi-
schen eingetretene Institutionalisierung und Differenzierung gut kennzeichnet: Institute
und Lehrstühle, Jahrbücher und Zeitschriften tragen mit der Verwendung dieser Be-
zeichnung auch zur Festigung des Faches bei und haben den Terminus inzwischen viel-
fach auch international etabliert.
2) Ausgangspunkt der Beiträge in diesem Handbuch ist der Lernbereich des Deut-
schen als Fremdsprache, der in seinen linguistischen Grundlagen wie in den sprachpsy-
chologischen, spracherwerbsbezogenen, sprachdidaktischen und landeskundlichen Ar-
beitsfeldern dargestellt wird, wobei die Grenzen zur Pädagogik und Psychologie da-
durch gezogen werden, dass im Fach Deutsch als Fremdsprache ,Sprache‘ nicht als den
sprachübergreifenden Aspekten des Lernens und Lehrens unter- oder nachgeordnet,
sondern als gleichgewichtiges konstitutives Element betrachtet wird. Das Handbuch
unterscheidet sich insofern von anderen Konzeptionen, die den Erwerb und die Vermitt-
lung einer Sprache vor allem als Spezialfall einer allgemeinen Betrachtung des Spra-
chenlehrens und -lernens bzw. des Lehrens und Lernens überhaupt verstehen.
3) In je unterschiedlicher Weise sind, was den deutschen Sprachraum betrifft, Frage-
stellungen des Deutschen als Fremdsprache in der Bundesrepublik Deutschland mit
VI Vorwort

einer besonders langen Fachgeschichte und einer starken Institutionalisierung des Fa-
ches, in Österreich mit einer noch jungen, im Wesentlichen erst seit 1989 sich entfalten-
den Fachszene, und in der Schweiz unter den spezifischen Bedingungen der Mehrspra-
chigkeit entwickelt worden. Das Handbuch trägt dem Rechnung, indem die Entwick-
lung in den deutschsprachigen Ländern jeweils separat dargestellt (Kap. II und XXII),
nach Möglichkeit aber auch in die einzelnen Fachartikel (z. B. zur Landeskunde) inte-
griert wird.
4) Eine besondere Beziehung besteht zwischen dem Fach Deutsch als Fremdsprache
in den deutschsprachigen Ländern und der sog. Auslandsgermanistik; Verstand sich
diese lange Zeit als Abbild der Germanistik des deutschen Sprachraums, so hat sie
zunehmend eigene, aus der Außenperspektive auf den deutschen Sprachraum gerichtete
Fragestellungen und damit für das Fach Deutsch als Fremdsprache charakteristische
Arbeitsfelder entwickelt. Es muss daher vermieden werden, für Deutsch als Fremdspra-
che eine primär im deutschen Sprachraum entwickelte Perspektive zu verallgemeinern.
Die Herausgeber haben dieser besonderen Situation Rechnung getragen, indem in Kap.
XXIII länderspezifische Darstellungen die besonderen Entwicklungen in den einzelnen
Ländern nachzeichnen. Ausserdem wurde versucht, möglichst viele Kollegen aus der
,Auslandsgermanistik‘ als Autoren zu gewinnen, um eine eurozentrische Sichtweise zu
vermeiden.
Die ursprüngliche Planung sah vor, das Handbuch in einem zweiten Teilband weiter-
zuführen. In ihm sollten vor allem komplexe semantische und pragmatische Probleme
behandelt werden. Sie ergeben sich für Deutsch als Fremdsprache komparativ und her-
meneutisch beim Umgang mit anspruchsvollen fremdsprachlichen Texten und Traditio-
nen. Hierzu bedarf es weiterer Planungen und einer eingehenden Beschäftigung mit
komparativer Semantik, Pragmatik und Literaturwissenschaft. Nur dadurch können
nach unserer Überzeugung genügend abgesicherte Konzepte für Deutsch im Kontrast
zu anderen Sprachen und deren Verständnishorizonten entwickelt werden. Einige Fra-
gen dieses Bereichs werden im vorliegenden Handbuch jedoch in einem engeren Sinne,
bezogen auf die Prozesse des Sprachenlehrens und -lernens und die Inhalts- und Kon-
textdimension von Sprache thematisiert ⫺ verwiesen sei auf die Kapitel XII, XVIII und
XXI, in denen auch Kontroversen um die Etablierung der Interkulturellen Germanistik
nachgezeichnet werden (vgl. z. B. Art. 135).

2. Aufgaben des Handbuchs


Während die meisten anderen in der Reihe HSK vorgelegten Bände den Zustand eines
konsolidierten Fachgebietes darstellen, gilt für Deutsch als Fremdsprache, dass sich
dieses Fach zwar gefestigt hat und konzeptionelle wie auch institutionelle Strukturen
sich etabliert haben, dass die Entwicklung freilich noch keineswegs als abgeschlossen
betrachtet werden kann. Das Handbuch will daher einerseits den erreichten Entwick-
lungsstand im Sinne einer Bilanzierung darstellen, andererseits jedoch keine Geschlos-
senheit vortäuschen, wo diese noch nicht gegeben ist, sondern durchaus zur weiteren
Konsolidierung des Faches beitragen. Seine Aufgabe besteht daher im Einzelnen darin,
⫺ die konzeptionelle Entwicklung von Deutsch als Fremdsprache in Theorie und Pra-
xis wie auch die durchaus unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen darzustellen und
zu erörtern,
Vorwort VII

⫺ die unterschiedlichen Institutionalisierungen des Faches transparent zu machen,


⫺ zu zeigen, wie Forschungsstand und Forschungsmethoden im Einzelnen einzuschät-
zen sind,
⫺ dabei vor allem die interdisziplinären Bezüge zu den Referenzwissenschaften aufzu-
zeigen,
⫺ und nicht zuletzt auch die Bedeutung des Faches für die verschiedenen Praxisfelder
zu verdeutlichen.
Drei der großen Herausforderungen, vor die das Fach gestellt ist und für die das Hand-
buch Grundlagen bereitstellen will, seien hier exemplarisch genannt:
1) die Neuorientierung der Germanistik in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, in der sich
die Germanistik in stärkerem Maße mit der Berufsorientierung ihrer Studienangebote,
einer professionellen Lehrerausbildung und der veränderten Rolle der deutschen Spra-
che im Sprachenangebot auseinandersetzen muss, was Fragen des Deutschen als Fach-,
Berufs- und Wirtschaftssprache ebenso in den Vordergrund rückt wie auch die spra-
chenpolitische Dimension des Deutschen als Fremdsprache insgesamt;
2) die Tatsache, dass innerhalb der Europäischen Union die Grenzen zwischen In- und
Ausland fließend werden, d. h. die Mobilität der Studierenden und Lehrkräfte zu einer
Auflösung der Grenzen zwischen Muttersprachen- und Fremdsprachenphilologien, zwi-
schen Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache führt, womit die deutsche
Sprache vermehrt unter dem Aspekt gesellschaftlicher wie individueller Mehrsprachig-
keit zum Forschungs- und Vermittlungsgegenstand wird;
3) die durch die Migrationsbewegungen entstandene Multikulturalität des deutschen
Sprachraums, die eine Einbeziehung sozialpsychologischer und soziokultureller Zu-
gänge zu Sprache, Spracherwerb und Sprachvermittlung notwendig macht.
Das Handbuch versucht, für diese Umbruch- und Aufbruchsituation den vorhande-
nen Erkenntnis- und Forschungsstand ebenso wie unterrichtspraktische und sprachen-
politische Erfahrungen und Modelle bereitzustellen.

3. Gliederung des Handbuchs


Das Handbuch besteht aus 23 nach systematischen Gesichtspunkten gegliederten Kapi-
teln und hat folgende Grobstruktur:
A Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet (Kapitel
I⫺II mit 11 Artikeln):
Konzeptionen und Geschichte des Fachs.
B Gegenstände des Faches Deutsch als Fremdsprache (Kap. III⫺XXI mit 130 Arti-
keln):
Linguistische Gegenstände (Kapitel III⫺VII):
Sprachsystem, Sprachgebrauch, Texte aus linguistischer Sicht, Kontraste zwischen
Einzelsprachen, sprachliche Varianten des Deutschen.
Didaktisch-methodische Gegenstände ⫺ Lernen (Kapitel VIII⫺IX):
Begriffe und Konzepte, Erklärungsansätze für den Zweitsprachenerwerb und das
Fremdsprachenlernen: Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung,
Zweitsprachenerwerb als Lernaktivität ⫺ Zweitsprachenerwerb als individueller
Prozess, Zweitsprachenerwerb als Interaktion, pädagogisch-didaktische Lern-
kategorien.
VIII Vorwort

Didaktisch-methodische Gegenstände ⫺ Lehren (Kapitel X⫺XVI):


Lehren in Theorie und Empirie, Planung von Deutsch als Fremdsprache-Unter-
richt, Methoden des Unterrichts in Deutsch als Fremdsprache, Leistungskontrolle
und Leistungsmessung, Materialien und Medien, Lehrerinnen und Lehrer, Lehren
und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der Auslandsgermanistik.
Landeskundliche Gegenstände (Kapitel XVII⫺XX):
Standpunkte und Konzepte, Texte aus landeskundlicher Sicht, landeskundliche
Inhalte, Landeskunde in der Auslandsgermanistik.
Literatur als Gegenstand des fremdsprachlichen Deutschunterrichts (Kapitel XXI).
C Institutionen und Areale (Kap. XXII⫺XXIII mit 44 Artikeln):
Sprachenpolitik und Institutionen, Deutschunterricht und Germanistikstudium
im fremdsprachigen Ausland.
A und C umfassen Rahmenkapitel: In Kapitel I und II werden allgemeine Konstituie-
rungsprobleme und historische Entwicklungen des Fachs, in den Kapiteln XXII und
XXIII vorwiegend quantitative und institutionelle Aspekte der Repräsentanz des Fa-
ches dargestellt. Der eingebettete Teil B (Kapitel III bis XXI) repräsentiert den Kernbe-
reich des Faches, wobei der Reihenfolge der Beiträge die Überlegung zugrunde liegt,
dass das Lernen und Lehren von Gegenständen die genaue Kenntnis der Gegenstände
voraussetzt. Die Reihenfolge Lernen und daran anschließend Lehren ist dadurch be-
dingt, dass das Lernen des Deutschen als Fremdsprache das Ziel ist, dem sich das
Lehren anzupassen bzw. unterzuordnen hat. Obwohl Lern- und Lehrhandlungen einan-
der bedingende Prozesse sind, haben sich die Herausgeber aus Gründen einer trenn-
schärferen systematischen Darstellung für eine separate Behandlung der beiden Aspekte
entschieden.
In der Unterteilung in linguistische, didaktisch-methodische und landeskundliche Ge-
genstände sowie Literatur als Gegenstand des fremdsprachlichen Deutschunterrichts
kommt der Darstellung der Funktionen der Referenzwissenschaften für diese Bereiche
eine hohe Bedeutung zu. Ohne präzise und detaillierte Kenntnisse aus den jeweils rele-
vanten Referenzwissenschaften ist ein kompetenter Umgang mit den Gegenständen im
Lehr- und Lernprozess nicht möglich. Außerdem kann die konzeptionelle Entwicklung
von Deutsch als Fremdsprache nicht unabhängig von den Entwicklungen in den einzel-
nen Referenzwissenschaften gesehen werden. So hat z. B. die Pragmalinguistik einen
starken Einfluss bei der Entstehung und Ausgestaltung der kommunikativen Methode
ausgeübt, die Diskurs- und Gesprächsanalyse haben sich auf die Untersuchung und
Gestaltung von Interaktionen und die Verwendung von Kommunikationsstrategien im
Unterricht ausgewirkt. Kognitive Linguistik und Psychologie sowie die Zweitsprachen-
erwerbsforschung haben die Bedeutung von Lernstrategien ins Zentrum des Fachinter-
esses gerückt, verschiedene Disziplinen der Linguistik haben in Kooperation mit der
Sprachlehr- und Sprachlernforschung auf die Beschreibung von Lernersprachen hinge-
wirkt, linguistische Grammatiktheorien (u. a. Konstituentenanalyse, Verb-Dependenz-
Analyse) haben grammatische Darstellungen in Deutsch-als-Fremdsprache-Lehrbü-
chern beeinflusst, die strukturale Linguistik hat insgesamt die Gestaltung verschiedener
Übungstypen (Einsatz-, Transfer-Übungen) geprägt. Literaturwissenschaft und Lingui-
stik schließlich haben die Analyse von fiktionalen und nichtfiktionaln Texten bestimmt,
die Pädagogik hat zur Entwicklung lernerbezogener Unterrichtskonzepte beigetragen,
so wie Psychologie, Zweitsprachenerwerbs- und Sprachlehrforschung die Untersuchung
verschiedener Lern- und Lernervariablen beeinflusst haben. Dabei ist das Verhältnis
Vorwort IX

zwischen Theorie und Praxis nicht als lineare Ableitung zu verstehen, vielfach haben
praktische Probleme (etwa der Motivierung, des Selbstlernens) und Entwicklungen z. B.
sprachenpolitischer Art auch den wissenschaftlichen Diskurs befruchtet und zu neuen
Forschungsansätzen geführt; das Wechselspiel zwischen sprachenpolitischen Konzeptio-
nen und wissenschaftlichen Begründungen von Mehrsprachigkeit und Fragen nach dem
frühen Fremdsprachenlernen können in den 90er Jahren als Beispiele dienen.
In den einzelnen Artikeln zu den 23 Kapiteln werden nach Möglichkeit folgende
Gesichtspunkte berücksichtigt: theoretische, empirische und praxisrelevante Erkennt-
nisse und Bezüge unter Einbeziehung der Forschungsergebnisse der jeweils relevanten
Referenzwissenschaften. Die grundsätzlich nach systematischen Aspekten erfolgende
Darstellung berücksichtigt historische Entwicklungen und, differenziert nach Deutsch
als Fremd- bzw. Deutsch als Zweitsprache, spezifische Lehr- und Lernprozesse sowie
kontrastive Gesichtspunkte. Im Anschluss an jeden Artikel wird die relevante Literatur
in Auswahl aufgeführt.
An der Erarbeitung der Gliederung haben neben den Herausgebern weitere Kollegin-
nen und Kollegen beratend mitgewirkt.
Der Band schließt ab mit einem Namens- und Begriffsregister sowie einer Auflistung
der Autorinnen und Autoren.
Im Hinblick auf die angestrebte Vollständigkeit in den einzelnen Abschnitten bedarf
es eines Hinweises:
Kap. VI beschränkt sich auf diejenigen Sprachen, zu denen kontrastive Analysen im
Hinblick auf das Deutsche vorliegen. Auf Grund des Ausfalls von Autoren kurz vor
der Drucklegung konnten hier leider nicht alle Lücken geschlossen werden: so fehlen
zu unserem Bedauern ein Artikel zum Sprachkontrast Portugiesisch-Deutsch sowie ei-
ner zu den afrikanischen Sprachen. Ersatzweise sei auf die Artikel 171⫺176 zu Afrika
und 146 (Brasilien) sowie 158 (Portugal) im Länderteil des Handbuchs verwiesen.
In Kap. XXIII haben wir uns bemüht, Länderberichte aus allen Staaten aufzuneh-
men, in denen eine über das klassische germanistische Fachverständnis hinausgehende
Entwicklung zu verzeichnen ist, wo also Fragen des Deutschen als Fremdsprache in
Forschung und/oder Studium besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die einzelnen
Beiträge lassen deutlich werden, wie unterschiedlich sich das Fach jeweils entwickelt
und wie verschiedenartig die Bedingungen und Anforderungen vor Ort sind ⫺ teils
stehen Forschungs-, teils Lehraufgaben im Vordergrund, wobei in sehr unterschiedli-
chem Maße sprach- oder literaturwissenschaftliche, sprachdidaktische, unterrichtsprak-
tische oder landeskundliche Fragestellungen dominieren. Die Herausgeber haben hier
bewusst nicht eingegriffen, denn es schien uns wichtig, die Heterogenität des Fachver-
ständnisses wie der Fachentwicklung nicht durch eine zu stark vereinheitlichende Dar-
stellung zu kaschieren. Für einige wenige ursprünglich vorgesehene Länder fehlen in
diesem Kapitel die Beiträge, weil es nicht gelungen ist, rechtzeitig zur Drucklegung
entsprechende Beiträge zu erhalten.
Wegen des beträchtlichen Umfangs erscheint das Handbuch in zwei Bänden.

4. Geschichte der Ausarbeitung des Handbuchs


Auf Einladung der HSK-Reihenherausgeber, Hugo Steger und Herbert Ernst Wiegand
übernahm Gerhard Helbig (Leipzig) 1991 die Aufgabe, ein Handbuch für das Fach
Deutsch als Fremdsprache herauszugeben. Auf seinen Vorschlag wurde die Herausge-
X Vorwort

bergruppe um Lutz Götze (Saarbrücken), Gert Henrici (Bielefeld) und Hans-Jürgen


Krumm (Wien) erweitert. Die vier Herausgeber haben seitdem partnerschaftlich zusam-
mengearbeitet und sich die Verantwortlichkeit für einzelne Themenbereiche geteilt.
Nach der Emeritierung von Gerhard Helbig übernahm Hans-Jürgen Krumm die ge-
schäftsführende Herausgeberschaft und Koordination des Projekts.
Die Herausgeber haben für den nunmehr vorliegenden Band ingesamt ca. 250 Auto-
ren angeschrieben und schließlich 171 Autoren dafür gewinnen können, eine Gesamt-
darstellung des Faches sowohl in seinen institutionellen als auch fachlichen Bezügen zu
geben. Dabei müssen der unterschiedliche Entwicklungsstand des Faches wie auch die
unterschiedlichen Arbeitsbedingungen der Fachkollegen in Rechnung gestellt werden,
was dazu führte, dass sich die Ausarbeitung des Handbuchs von der Einladung der
ersten Autoren bis zur Herstellung über den langen Zeitraum 1996 bis 1999 hingezogen
hat: Bei nichtdeutschsprachigen Autoren stellte sich immer wieder die Frage nach einer
sprachlichen Überarbeitung, die wir in vorsichtiger Form vorgenommen haben, ohne
stilistisch allzu sehr anzugleichen. Gelegentlich war zu entscheiden, ob auf einen Beitrag
verzichtet werden sollte, weil er den fachlichen Ansprüchen der Herausgeber nicht ge-
nügte, vom Thema her aber eigentlich nicht fehlen durfte; die Zahl der für einzelne
Themen verfügbaren Autoren erwies sich zudem als begrenzt. In einigen Fällen mussten
neue Autoren gesucht werden, was nicht immer leicht war und den Terminplan für
das Handbuch stark strapaziert hat; in fünf Fällen musste darauf verzichtet werden,
vorgesehene Artikel zu realisierren.
Terminologisch wie auch von der Fachkonzeption her wurden den Autoren dagegen
keine Vorgaben gemacht und keine Angleichung vorgenommen, stehen terminologische
Differenzen (z. B. Sprachdidaktik ⫺ Glottodidaktik ⫺ Angewandte Linguistik) doch
auch für unterschiedliche Fachtraditionen und -konzeptionen.
Für die sachliche Richtigkeit und die Qualität der einzelnen Beiträge liegt die Verant-
wortung bei den Autoren, doch die Herausgeber sind für die nicht immer gelungene
Vereinheitlichung und für die systembedingten Mängel verantwortlich.
Wenn in diesem Handbuch von Wissenschaftlern, Lehrern, Lernern usf. die Rede ist,
sind immer auch die Wissenschaftlerinnen, Lehrerinnen, Lernerinnen etc. gemeint. Die
Entscheidung für diese Sprachverwendung wurde ausschließlich aus Platzgründen ge-
troffen. Die Beiträge wurden in dieser Hinsicht vereinheitlicht.

5. Danksagungen

Das vorliegende Handbuch wurde an den vier Arbeitsorten der Herausgeber betreut
und redigiert; ein großer Teil der Arbeit war von den Mitarbeitern der Herausgeber zu
tragen. Ihnen gebührt ein besonderer Dank: bei Lutz Götze in Saarbrücken: Frank
Thomas Grub, bei Gert Henrici in Bielefeld: Karin Aguado, Berit Heidecker, Annette
Luksch, Claudia Riemer (jetzt Hamburg), bei Hans-Jürgen Krumm in Wien: Andrea
Koban. In Wien wurde auch eine abschließende Redaktion und Vereinheitlichung der
Beiträge besorgt, wofür alle Herausgeber Andrea Koban besonderen Dank schulden.
Dank gilt auch Hanna Bancher und Maria Chalikia, die die Register besorgten.
Schließlich haben die Herausgeber den Reihenherausgebern Hugo Steger und Her-
bert Ernst Wiegend zu danken, die die Entstehung des Bandes konstruktiv-kritisch
begleitet haben. Ganz besonderer Dank gilt den Mitarbeiterinnen des Verlages, allen
Vorwort XI

voran Brigitte Schöning und Anke Beck, nicht zuletzt aber auch Monika Wendland
und Heike Plank, für die sorgfältige Betreuung des Projekts.
Die Herausgeber hoffen, dass das Handbuch Deutsch als Fremdsprache zur Konsoli-
dierung und zur Integration des Faches Deutsch als Fremdsprache beiträgt sowie seine
Entwicklung durch konzeptionelle und Forschungsimpluse voranbringt.

Bielefeld, Leipzig, Saarbrücken und Wien im Sommer 2000 Die Herausgeber


Inhalt

1. Halbband
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und


Forschungsgebiet I: Konzeptionen
1. Die Struktur des Faches (Helbig, Götze, Henrici, Krumm) ...... 1
2. Linguistischer Ansatz (Götze, Helbig) . . . . . . . . . . . . . ...... 12
3. Didaktisch-methodischer Ansatz: Die lehr- und
lernwissenschaftliche Perspektive (Neuner) . . . . . . . . . . ...... 31
4. Landeskundlicher Ansatz (Simon-Pelanda) . . . . . . . . . . ...... 41

II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und


Forschungsgebiet II: Geschichte
5. Entwicklungen des Unterrichts in Deutsch als Fremd- und
Zweitsprache in Deutschland (Reich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
6. Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht-deutschsprachigen
Ländern (Ammon) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
7. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in
Deutschland (Blei, Götze) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
8. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache und des
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Unterrichts in Österreich
(Muhr) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache und des
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Unterrichts in der Schweiz
(Langner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
10. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in
nichtdeutschsprachigen Ländern I: Europäische Perspektive
(Altmayer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
11. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in
nichtdeutschsprachigen Ländern II: Außereuropäische Perspektive
(D. Rall) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem


12. Das deutsche Lautsystem (Kelz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
13. Die Standardaussprache des Deutschen (Stock) . . . . . . . . . . . . . 162
14. Arten und Typen von Grammatiken (Helbig) . . . . . . . . . . . . . . . 175
15. Linguistische und didaktische Grammatik (Götze) . . . . . . . . . . . 187
XIV Inhalt

16. Kontrastivität in der Grammatik (Brdar-Szabó) . . . . . . . . . . . . . 195


17. Wörterbücher (Barz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
18. Kontrastivität in der Lexik (Grimm) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
19. Kontrastivität in der Phraseologie (Korhonen, Wotjak) . . . . . . . . 224

IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch


20. Sprachsystem und Sprechhandlungen (Koch) . . . . . . . . . . . . . . . 236
21. Sprechhandlungen und unterrichtsspezifische Sprachtätigkeiten
(Portmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
22. Übersetzen und Deutschunterricht (House) . . . . . . . . . . . . . . . . 258

V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer


Sicht
23. Text, Texttypen, Textsorten (Thurmair) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
24. Textsorten der gesprochenen Sprache (Hess-Lüttich) . . . . . . . . . . 280
25. Textsorten der geschriebenen Sprache (Heinemann) . . . . . . . . . . . 300
26. Linguistische Analyseverfahren von Texten (Willkop) . . . . . . . . . . 314

VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen


Einzelsprachen
27. Kontrastive Analysen Deutsch-Englisch: eine Übersicht (König) . . . 324
28. Kontrastive Analysen Deutsch-Niederländisch: eine Übersicht
(Wilmots) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
29. Kontrastive Analysen Deutsch-Schwedisch: eine Übersicht (Nikula) 337
30. Kontrastive Analysen Deutsch-Dänisch: eine Übersicht (Zint-Dyhr) 343
31. Kontrastive Analysen Deutsch-Norwegisch: eine Übersicht
(Askedal) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
32. Kontrastive Analysen Deutsch-Französisch: eine Übersicht
(Greciano-Grabner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
33. Kontrastive Analysen Deutsch-Italienisch: eine Übersicht (Auer) . . 367
34. Kontrastive Analysen Deutsch-Spanisch: eine Übersicht (Zurdo) . . 375
35. Kontrastive Analysen Deutsch-Rumänisch: eine Übersicht
(Stǎnescu) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
36. Kontrastive Analysen Deutsch-Russisch: eine Übersicht (Gladrow) 385
37. Kontrastive Analysen Deutsch-Polnisch: eine Übersicht (Ka̧tny) . . . 392
38. Kontrastive Analysen Deutsch-Tschechisch/Slowakisch: eine
Übersicht (Šimečková) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394
39. Kontrastive Analysen Deutsch-Serbisch/Kroatisch: eine Übersicht
(Engel, Žiletić) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
40. Kontrastive Analysen Deutsch-Bulgarisch: eine Übersicht (Dimova) 410
41. Kontrastive Analysen Deutsch-Griechisch: eine Übersicht
(Winters-Ohle) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416
42. Kontrastive Analysen Deutsch-Ungarisch: eine Übersicht
(Brdar-Szabó) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422
43. Kontrastive Analysen Deutsch-Finnisch: eine Übersicht
(Hyvärinen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
Inhalt XV

44. Kontrastive Analysen Deutsch-Türkisch: eine Übersicht (Ilkhan) . . 436


45. Kontrastive Analysen Deutsch-Arabisch: eine Übersicht (Blohm
unter Mitarbeit von Nahed El Dib) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444
46. Kontrastive Analysen Deutsch-Japanisch: eine Übersicht (Kaneko) 451
47. Kontrastive Analysen Deutsch-Chinesisch: eine Übersicht
(Qian Wencai) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458
48. Kontrastive Analysen Deutsch-Koreanisch: eine Übersicht (Lie) . . . 463
49. Kontrastive Analysen Deutsch-Madegassisch: eine Übersicht
(Bergenholtz, Rajaonarivo) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470

VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des


Deutschen
50. Das Deutsche in Österreich (Wiesinger) . . . . . . . . . . . . . . .... 482
51. Das Deutsche in der Schweiz (Sieber) . . . . . . . . . . . . . . . . .... 491
52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten
(Protze) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505
53. Soziale Varianten und Normen (Dittmar, Schmidt-Regener) . . . . . 520
54. Fachsprachen (Hoffmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533
55. Geistes- und sozialwissenschaftliche Fachtexte (Wiese) . . . . . . . . . 544
56. Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte (Fluck) . . . . . . . 549
57. Texte in Medizin-orientierter Kommunikation (Mentrup) . . . . . . . 565
58. Wirtschaftstexte (Reuter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573
59. Juristische Fachtexte (Kühn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582

VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I:


Begriffe und Konzepte
60. Lehren und Lernen (Aguado) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595
61. Typen und Konzepte des Spracherwerbs (Klein) . . . . . . . . . . . . . 604
62. Deutsch als Fremdsprache ⫺ Deutsch als Zweitsprache (Baur) . . . . 617
63. Bilingualismus-Mehrsprachigkeit (Apeltauer) . . . . . . . . . . . . . . . 628
64. Theorie und Empirie (Redder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638
65. Deutsch als Tertiärsprache (Hufeisen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648

IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II:


Erklärungsansätze für den Zweitsprachenerwerb und
das Fremdsprachenlernen
66. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung I: der
behavioristische Ansatz (Kuhberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... 654
67. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung II: Der
kognitivistische und nativistische Ansatz (Riemer) . . . . . . . . . ... 663
68. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung III: der
sequenzieller Ansatz (Bahns, Vogel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... 670
69. Zweitsprachenerwerb als Lerneraktivität I: Lernersprache ⫺
Lernprozesse ⫺ Lernprobleme (Apeltauer) . . . . . . . . . . . . . ... 677
XVI Inhalt

70. Zweitsprachenerwerb als Lerneraktivität II: Lernstrategien ⫺


Kommunikationsstrategien ⫺ Lerntechniken (Westhoff) . . . . . . . . 684
71. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess I:
Neuropsychologische Ansätze (List) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693
72. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess II: Biologische und
neurophysiologische Grundlagen (Schönpflug) . . . . . . . . . . . . . . 701
73. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess III: kognitive
Faktoren (Riemer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707
74. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess IV: Affektive
Variablen (Rost-Roth) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714
75. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess V:
Sozioökonomische, politische, soziokulturelle und andere
Umgebungsvariablen (Rohman, Su-Yon Yu) . . . . . . . . . . . . . . . 722
76. Zweitsprachenerwerb als Interaktion I: Interaktiv-kommunikative
Variablen (Henrici) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732
77. Zweitsprachenerwerb als Interaktion II: Interaktion und Kognition
(Redder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742
78. Pädagogisch-didaktische Lernkategorien I: Typen von Lernern und
Lerntypen (Aguado) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751
79. Pädagogisch-didaktische Lernkategorien II: Organisationsformen
von Lernen (Kerschhofer-Puhalo) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761

2. Halbband

X. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Theorie


und Empirie
80. Der Faktor „Lehren“ im Bedingungsgefüge des Deutsch als
Fremdsprache-Unterrichts (Krumm) . . . . ................ 777
81. Der Faktor „Lehren“ im Bedingungsgefüge des Deutsch als
Zweitsprachen-Unterrichts (Schmitt) . . . . ................ 785

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II: Die


Planung von Deutsch als Fremdsprache-Unterricht
82. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Fremdsprache
(Neuner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797
83. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache
(Barkowski) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810
84. Prüfungen, Zertifikate, Abschlüsse als Planungskategorien für den
Unterricht (Schifko) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827
85. Verfahren der Unterrichtsplanung (Piepho) . . . . . . . . . . . . . . . . 835

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III:


Methoden des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts
86. Methodische Konzepte für Deutsch als Fremdsprache (Henrici) . . . 841
87. Methodische Konzepte für Deutsch als Zweitsprache (Luchtenberg) 854
Inhalt XVII

88. Zur Rolle der Fertigkeiten (Faistauer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 864


89. Vermittlung der Phonetik (Hirschfeld) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 872
90. Grammatikvermittlung (M. Rall) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 880
91. Wortschatzvermittlung (Köster) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 887
92. Hörverstehen (Solmecke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893
93. Leseverstehen (Lutjeharms) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 901
94. Mündliche Sprachproduktion (Schreiter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 908
95. Schriftliche Sprachproduktion (Bohn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 921
96. Landeskundliches Lernen und Lehren (Simon-Pelanda) . . . . . . . . 931
97. Textarbeit (Mummert, Krumm) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 942
98. Übersetzen (Königs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 955
99. Berufsbezogener Deutschunterricht ⫺ Deutsch als Fremd- und
Zweitsprache für den Beruf (Funk) . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... 962
100. Interkulturelles Lernen (Pommerin-Götze) . . . . . . . . . . . . . ... 973

XIII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI:


Leistungskontrolle und Leistungsmessung
101. Formen und Funktionen von Fehleranalyse, -korrektur und
-therapie (Kleppin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 986
102. Formen und Funktionen von Leistungsmessung und -kontrolle
(Perlmann-Balme) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 994
103. Sprachstandsdiagnosen (Gogolin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1007

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V:


Materialien und Medien
104. Die Funktion der Medien in den Methoden des Deutsch als
Fremdsprache-Unterrichts (Schwerdtfeger) . . . . . . . . . . . . . . . . 1018
105. Lehrwerkproduktion, Lehrwerkanalyse, Lehrwerkkritik (Krumm,
Ohms-Duszenko) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1029
106. Regionale Lehrwerke und Lehrmethoden (Breitung, Lattaro) . . . . . 1041
107. Deutschunterricht in den Massenmedien (Eichheim) . . . . . . . . . . 1053
108. Wörterbücher (Neubauer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1061
109. Grammatiken (Götze) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1070
110. Textsammlungen (Tuk) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1078
111. Hörmaterialien (Krumm) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1086
112. Audiovisuelle Medien (Ehnert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1093
113. Elektronische Medien (Boeckmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1100

XV. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand VI:


Lehrerinnen und Lehrer
114. DaF-Lehren als Beruf (Witte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1112
115. Ausbildung und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern für
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Inhalte und Formen
(Krumm, Legutke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1123
116. Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse (Krumm) . . . . . . 1139
XVIII Inhalt

XVI. Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in


der Auslandsgermanistik
117. Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der
europäischen Auslandsgermanistik (Rösler) . . . . . . . . . . . . . . . . 1151

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte


118. Geschichte und Konzepte der Landeskunde (Veeck, Linsmayer) . .. 1160
119. Fremdbilder und Fremdwahrnehmung (Althaus) . . . . . . . . . . . .. 1168
120. Vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung (Wolf) . . . . . . .. 1179
121. Multikulturelle Gesellschaften als Gegenstand der Landeskunde
(Pommerin-Götze) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1194
122. Informationsorientierte Landeskunde (Hackl) . . . . . . . . . . . . . . 1204
123. Sprachbezogene Landeskunde (Bettermann) . . . . . . . . . . . . . . . 1215
124. Interkulturelle Landeskunde (Müller-Jacquier) . . . . . . . . . . . . . . 1230
125. Landeskunde aus österreichischer Sicht (Fischer) . . . . . . . . . . . . 1234
126. Landeskunde aus schweizerischer Sicht (Frischherz, Langner) . . . . 1241

XVIII. Landeskundliche Gegenstände II: Texte


127. Texte als Träger von landes- und kulturwissenschaftlichen
Informationen (Bettermann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1253
128. Auswahlkriterien für Fach- und Sachtexte im Deutschunterricht
(Kühn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1262

XIX. Landeskundliche Gegenstände III: Spezifische Inhalte


129. Geschichte und Landeskunde (Koreik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1273
130. Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeographie und Landeskunde
(Buchholt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1278
131. Politik und Landeskunde (Steinig) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1285
132. Alltagskultur und Landeskunde (Baumgratz) . . . . . . . . . . . . . . . 1294
133. Geistes- und Sozialwissenschaften und Landeskunde (Koreik) . . . . 1308

XX. Landeskunde in der Auslandsgermanistik


134. Landeskunde in der europäischen Auslandsgermanistik (Byram) . . . 1313
135. Landeskunde in der außereuropäischen Auslandsgermanistik
(Kussler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1323

XXI. Literatur als Gegenstand des fremdsprachlichen


Deutschunterrichts
136. Literarische Texte im Deutschunterricht (Ehlers) . . . . . . . . . . . . . 1334
137. Fragen des literarischen Kanons (Ackermann) . . . . . . . . . . . . . . 1346
138. Migrantenliteratur: Entwicklungen und Tendenzen (Rösch) . . . . . . 1353
Inhalt XIX

XXII. Sprachenpolitik und Institutionen


139. Sprachenpolitik und Fremdsprachenunterricht (Bosch) . . . . . . . . . 1361
140. Die Verbreitung des Deutschen in der Welt (Ammon) . . . . . . . . . 1368
141. Institutionen für Deutsch als Fremd- und als Zweitsprache in
Deutschland (Ortmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .... 1381
142. Institutionen für Deutsch als Fremd- und als Zweitsprache in
Österreich (Koliander-Bayer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .... 1411

XXIII. Deutschunterricht und Germanistikstudium im


fremdsprachigen Ausland
143. Deutschunterricht und Germanistikstudium in den USA
(James, Tschirner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .............. 1424
144. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Kanada
(Hufeisen, Prokop) . . . . . . . . . . . . . . . . . .............. 1431
145. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Mexiko (Fandrych) 1438
146. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Brasilien (Sartingen) 1445
147. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Argentinien (Bein) . . 1450
148. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Chile (Cziesla) . . . . 1457
149. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Grossbritannien
(Rösler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .............. 1464
150. Deutschunterricht und Germanistikstudium in der Republik Irland
(Fischer, Schewe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .............. 1471
151. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Norwegen
(Lundin-Keller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .............. 1480
152. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Finnland
(Liefländer-Koistinen, Koskensalo) . . . . . . . .............. 1487
153. Deutschunterricht und Germanistikstudium in den Niederlanden
(Tuk) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .............. 1491
154. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Belgien (Duhamel) . 1498
155. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Frankreich
(Thimme) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .............. 1502
156. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Italien (Ponti) . . . . 1509
157. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Spanien (Keim) . . . 1516
158. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Portugal (Dreischer) 1523
159. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Polen (Grucza) . . . . 1528
160. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Ungarn (Paul) . . . . 1544
161. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Bulgarien (Dimova) 1551
162. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Russland
(Domaschnew) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .............. 1556
163. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Griechenland
(Kiliari) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .............. 1561
164. Deutschunterricht und Germanistikstudium in der Türkei (Tapan) . 1565
165. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Indien
(Rekha Kamath Rajan) . . . . . . . . . . . . . . . .............. 1570
166. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Korea (Grünert) . . . 1575
167. Deutschunterricht und Germanistikstudium in China (Hess) . . . . . 1579
XX Inhalt

168. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Japan (Sugitani) . . . 1586


169. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Indonesien
(Setiawati Darmojuwono) . . . . . . . . . . . . . .............. 1594
170. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Ägypten (Arras) . . . 1602
171. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Südafrika (Kussler) 1609
172. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Kamerun (Ngatcha) 1619
173. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Nigeria (Witte) . . . . 1624
174. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Ghana (Bemile) . . . 1631
175. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Mali (Traoré) . . . . . 1635
176. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Marokko (Arras) . . 1642
177. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Australien
(Truckenbrodt, Kretzenbacher) . . . . . . . . . . .............. 1651
178. Deutschunterricht und Germanistikstudium in der Bundesrepublik
Jugoslawien (Djukanović) . . . . . . . . . . . . . .............. 1659
179. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Dänemark
(Falster Jakobsen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .............. 1666
180. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Rumänien
(Stănescu) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .............. 1671
181. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Kroatien (Žepić) . . . 1677
182. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Estland (Mohr) . . . 1683

Namenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1691
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1712
I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches
Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

1. Die Struktur des Faches

1. Einleitende Bemerkungen fremde Sprache und Kultur thematisierenden


2. Entwicklung des Faches im deutschen Auslandsgermanistik fließend sind (vgl. Kö-
Sprachraum nig 1995; Grucza 1998 sowie für einzelne
3. Ausprägungen des Faches seit den 90er Länder die Artikel 143ff.). Die Entwicklung
Jahren
4. Tendenzen und Perspektiven
ist auch im deutschen Sprachraum bis heute
5. Schluss nicht abgeschlossen. Erste Bestandsaufnah-
6. Literatur in Auswahl men und Bilanzierungen (vgl. insbesondere
die Dokumentation der Konstituierungsde-
batte in Henrici/Koreik 1994) haben vielmehr
1. Einleitende Bemerkungen die Frage nach der Eigenständigkeit des Fa-
Der Unterricht des Deutschen als Fremd- ches Deutsch als Fremdsprache gegenüber
sprache kann auf eine lange Tradition zu- der Germanistik erneut zum Thema gemacht,
rückblicken. Bereits aus dem 15. Jh. datiert wobei die Positionen von der Auffassung,
das erste Lehrwerk für Deutsch als Fremd- Deutsch als Fremdsprache sei Bestandteil der
sprache, d. h., die Fachtradition hat eine (vor allem linguistischen) Germanistik (so
ältere Praxis als die dokumentierte Praxis der etwa Glück 1997), bis zu Vorstellungen von
Germanistik (vgl. Karnein 1976). Als wissen- einer völlig eigenständigen Disziplin reichen
schaftliches Fach dagegen ist Deutsch als (vgl. die Beiträge in der Zeitschrift Deutsch
Fremdsprache in unterschiedlichen Ausprä- als Fremdsprache 1996⫺1998 sowie in Hel-
gungen, unter verschiedenen Bezeichnungen big 1997).
(Deutsch als Fremdsprache, Deutsch als
Zweitsprache, Interkulturelle Germanistik, 2. Entwicklung des Faches im
Ausländer- oder Migrationspädagogik, Inter- deutschen Sprachraum
kulturelle Kommunikation) und in verschie-
denen fachlichen Kontexten (in der germani- Bis Anfang der 70er Jahre gab es in Deutsch-
stischen und allgemeinen Sprachwissenschaft, land keine ernsthafte Debatte über ein akade-
innerhalb der Literaturwissenschaft, im Rah- misches Fach Deutsch als Fremdsprache. Im
men von Sprachlehrforschung, Fremdspra- Bildungsbericht des Deutschen Bildungsrates
chendidaktik und in der Erziehungswissen- von 1970 sucht man es vergeblich. Bis dahin
schaft) erst Ende der 70er und zu Beginn der existierte Deutsch als Fremdsprache in Form
80er Jahre im deutschen Sprachraum eta- von Sprachkursen in unterschiedlichen insti-
bliert worden, oft abhängig von den Zufällen tutionellen Kontexten, sowohl in der Bundes-
gerade verfügbarer Professuren, örtlicher In- republik Deutschland als auch in der DDR.
teressen einzelner Fakultäten, im Besonderen In der Mehrzahl wurde der Sprachunterricht
aber in Abhängigkeit von praktischen Erfor- für Ausländer von philologisch ausgebildeten
dernissen, z. B. der Ausbildung von Lehr- Sprachlehrern (vor allem Germanisten, aber
kräften für Migrantenkinder oder der Vorbe- auch Absolventen anderer Philologien) er-
reitung von Lehrern und Lektoren für die teilt, innerhalb von Sommer-Ferienkursen,
Sprachvermittlung in nichtdeutschsprachigen als studienvorbereitende und -begleitende
Ländern (vgl. hierzu auch Artikel 5⫺11). Für Sprachkurse, als berufsqualifizierende und
die nichtdeutschsprachigen Länder ist eine Sprachkurse für Touristenzwecke (vgl.
Datierung schwieriger, da Übergänge von ei- Art. 5). Tragende Institutionen für dieses An-
ner an die Binnengermanistik angelehnten zu gebot von Sprachkursen waren z. B. die Aka-
einer eigenständigen, das Deutsche als eine demischen Auslandsämter der Universitäten,
2 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

der Deutsche Akademische Austauschdienst, schen Akademischen Austauschdienst zusam-


das Goethe- und das Herder-Institut sowie men. Entscheidend stabilisiert wurde das
private Sprachschulen. Die Situation im sich entwickelnde Fachgebiet durch die Ein-
deutschen Sprachraum glich damit der in der richtung fachspezifischer Publikationsorga-
Auslandsgermanistik, wobei der Sprachun- ne: Zielsprache Deutsch (1970 als Neugrün-
terricht dort als Teil des Germanistikstudi- dung der 1932⫺1968 existierenden Zeitschrift
ums oft institutionell, curricular und perso- Deutschunterricht für Ausländer), Informatio-
nell besser abgesichert war (vgl. König 1995). nen Deutsch als Fremdsprache (Info DaF) seit
Eine gezielte berufsqualifizierende akademi- 1974 in zunächst lockerer Reihenfolge, Mate-
sche und praxisbezogene Ausbildung analog rialien DaF zuerst 1975, Jahrbuch Deutsch als
der Lehrerausbildung mit dem Referendariat Fremdsprache seit 1975. Bereits 1964 hatte
im staatlichen Schulwesen entwickelte sich das Herder-Institut in Leipzig die Zeitschrift
sehr langsam. Verdienste haben sich in dieser Deutsch als Fremdsprache ins Leben geru-
Hinsicht das Goethe- und das Herder-Institut fen. Als Anfang einer Fachdebatte kann die
erworben (vgl. Art. 7). Das Goethe-Institut Diskussion um den Heidelberger Studien-
richtete 1962 in seiner Zentralverwaltung in gang gesehen werden, die Fragen nach ei-
München eine „Arbeitsstelle für wissen- nem separierten oder gemeinsamen Studium
schaftliche Didaktik“ ein, um dem dringen- deutschsprachiger und nichtdeutschsprachi-
den Bedarf an Forschung und Lehrmaterial- ger Studierender aufwarf (vgl. Wierlacher
entwicklung abzuhelfen, 1971 folgte die Ein- 1975; Dietrich 1975; Delmas/Stenzig 1977).
richtung einer „Zentralen Ausbildungsunter- Entscheidenden Anteil an der Etablierung
richtsstätte“, die erste systematische Aus- und eines Netzwerkes von Fachleuten und an
Fortbildungsmöglichkeiten für Deutsch als der Entwicklung einer systematischen For-
Fremdsprache, beschränkt auf angehende schungsdiskussion hatten auch die Fortbil-
Mitarbeiter des Goethe-Instituts, anbot und dungskurse, die seit 1974 gemeinsam von
damit den Grundstein für eine Professionali- Hochschulen, dem Goethe-Institut und dem
sierung im Unterrichtsbereich legte (vgl. DAAD angeboten wurden und einen Dialog
Goethe-Institut 1982). Die Entwicklung ge- zwischen In- und Ausland etablierten. Die
gen Ende der sechziger Jahre wurde durch Deutsche Forschungsgemeinschaft schuf 1983
zwei Impulse beeinflusst: die Bundesrepublik mit dem Schwerpunktprogramm „Sprach-
und die DDR begannen, sich als Studien- lehrforschung“ eine erste Möglichkeit syste-
standorte für ausländische Studierende zu matisch geförderter Forschung für Deutsch
profilieren ⫺ 1956 wurde das Institut für als Fremdsprache: von den 20 geförderten
Ausländerstudium an der Leipziger Universi- Projekten gehörten sechs in den Bereich des
tät (seit 1961 Herder-Institut) gegründet, Deutschen als Fremd-/Zweitsprache (vgl.
1970 ein spezifischer germanistischer Studi- Koordinierungsgremium 1983). Über den
engang für ausländische Studierende an der „Arbeitskreis der Sprachenzentren“ (AKS),
Universität Heidelberg eingerichtet (vgl. Eg- gegründet 1970/71 als Forum für die Erarbei-
gers/Palzer 1975; Wierlacher 1975); der tung wissenschaftlicher Grundlagen der
zweite Impuls wurde durch die zunehmende Fremdsprachenvermittlung, sowie die „Ge-
Zahl ausländischer Migranten und deren sellschaft für Angewandte Linguistik“ (GAL)
Kinder gegeben, so dass sich die Notwendig- wurden Fragen des Deutschen als Fremd-
keit einer entsprechenden Ausbildung für sprache Bestandteil der deutschsprachigen
Lehrkräfte im Schulwesen wie auch in der und internationalen Fachdiskussion zum
Erwachsenenbildung ergab: 1974 wurde der Lehren und Lernen fremder Sprachen.
„Sprachverband ⫺ Deutsch für ausländische Für den spezifischen Bereich des Deut-
Arbeitnehmer e. V.“ gegründet, um Initiati- schen als Zweitsprache (vgl. auch Art. 5) eta-
ven in diesem Bereich zu bündeln (vgl. Göbel blierte der Sprachverband 1975/76 die Zeit-
1975). Als Motor der Entwicklung im Wis- schrift Deutsch lernen; weitere Zeitschriften
senschaftsbereich etablierte sich 1971 der wie Ausländerkinder. Forum für Schule & So-
„Arbeitskreis Deutsch als Fremdsprache“ zialpädagogik (1980, seit 1988 unter dem Titel
(AKDaF) als Interessenvertretung der Lehr- Interkulturell) und Ausländerkinder in Schule
gebiete, die an den Hochschulen der Bun- und Kindergarten (seit 1980) widmeten sich
desrepublik Kurse für ausländische Stu- speziell der Situation der Migrantenkinder
dierende anboten; seit 1973 arbeitet der Ar- (vgl. Art. 5). Impulse für die Erforschung des
beitskreis (jetzt: „Fachverband Deutsch als Erwerbs der Zweitsprache Deutsch und die
Fremdsprache“ FaDaF) eng mit dem Deut- Entwicklung von Angeboten der Lehreraus-
1. Die Struktur des Faches 3

und Lehrerfortbildung gingen von der zu Be- für Deutschsprachige (vgl. Art. 9). In Öster-
ginn der 70er Jahre an der Pädagogischen reich entwickelte sich Deutsch als Fremd-
Hochschule Rheinland, Abteilung Neuss, sprache außerhalb des Hochschulbereichs
entstandenen „Forschungsstelle ALFA“ aus (vgl. Art. 8). Erst 1990/91 wurden in Graz ein
und wurden durch ein Programm zur Förde- Hochschullehrgang, 1993 in Wien und 1995
rung der „Gastarbeiterforschung“ der Stif- in Graz jeweils eine Professur für Deutsch als
tung Volkswagenwerk 1974⫺1981 weiter aus- Fremdsprache besetzt.
gebaut (vgl. Korte/Schmidt 1983). Professu- Wenn man sich die Stadien der Genese ei-
ren und Ausbildungsmöglichkeiten (Zusatz- ner wissenschaftlichen Disziplin vor Augen
studiengänge für Lehrer von Kindern nicht- hält, wie sie die Wissenschaftssoziologie
deutscher Muttersprache, vgl. Reich 1988) zur Beschreibung verwendet ⫺ Initialphase,
wurden insbesondere in den Erziehungswis- Etablierungsphase und Konsolidierungsphase
senschaften eingerichtet. Mit der Schaffung (z. B. bei Laitko 1982, 16f.) ⫺, so lassen sich
von eigenständigen Magister- und Promo- diese Phasen unschwer auf die Entwicklung
tionsstudiengängen für Deutsch als Fremd- des Faches Deutsch als Fremdsprache (in der
und Zweitsprache, in Sprachenzentren (so in Bundesrepublik) übertragen. Die Initialphase
Bochum und Hamburg), in eigenen Instituten ist gekennzeichnet durch „das Heranreifen
für Deutsch als Fremdsprache (München) des Widerspruchs im Disziplinsystem ⫺ unter
oder innerhalb der Germanistik (etwa in der mehr oder minder direkten Einwirkung
Augsburg) seit Mitte der siebziger Jahre (zu praktischer Erfordernisse“ (ebd.), eine Be-
den ersten Lehrstühlen gehörten die in Leip- schreibung, die die Anfangsphase des Faches
zig 1969 mit Gerhard Helbig, München 1978 kennzeichnet, in der immer deutlicher Erfor-
mit Harald Weinrich und Hamburg 1975 mit dernisse der Praxis einen Kontrast zu einer
Hans-Jürgen Krumm; vgl. Henrici/Koreik mit diesen Problemen nicht befassten Germa-
1994) wurde eine erste Konsolidierung des nistik bildeten, gleichzeitig jedoch ein Ausbil-
Faches Deutsch als Fremdsprache an den dungsbedarf offensichtlich wurde. Die Eta-
Hochschulen in der Bundesrepublik erreicht. blierungsphase „bildet den Kernprozess der
In der DDR war es trotz früher Initiativen Disziplingenese; mit der Ausprägung eines
wie der Einrichtung des ersten Lehrstuhls für gegenstandsspezifischen Systems der Er-
Deutsch als Fremdsprache 1969 in Leipzig kenntnisproduktion entsteht ein adäquater
und seiner Besetzung mit Gerhard Helbig so- konzeptualer Rahmen (im Idealfall durch
wie der Gründung der Zeitschrift Deutsch als eine einheitliche Theorie repräsentiert […]“
Fremdsprache im Jahr 1964 bis zum Schluss (ebd.). Zu dem Idealfall einer einheitlichen
nicht gelungen, ein eigenes spezifisches Aus- Theorie hat es das Fach Deutsch als Fremd-
bildungsfach für Deutsch als Fremdspra- sprache bisher nicht gebracht ⫺ es ist auch
che in den Hochschulen zu verankern. Eine sehr fragwürdig, ob eine solche Theorie dem
spezielle Weiterbildung von DaF-Lehrkräften Fach Nutzen gebracht hätte und je bringen
blieb dem Herder-Institut vorbehalten, was könnte. Es entstand aber eine dem Gegen-
den Bedarf jedoch keineswegs decken konn- stand Unterricht Deutsch als Fremdsprache
te. Rückblickend kann Blei (1991, 32) fest- angemessene Produktion von Erkenntnissen,
stellen, dass „in der Endkonsequenz das ver- die auf der Grundlage von Forschung über
heißungsvolle ,Startkapital‘, das die DDR eine Handlungsempfehlungsliteratur hinaus-
auf dem Gebiet des DaF in den 50er/60er ging, wie es Krumm (1978) und Weinrich
Jahren einzubringen hatte, nicht ,verzinst‘ (1979) für verschiedene Teilbereiche des Fa-
wurde“. Seit der sogenannten „Wende“ ches gefordert hatten. Die Konsolidierungs-
gibt es auch in Ostdeutschland eine Reihe phase, geprägt durch die „volle institutionelle
von Vollzeit- und Ergänzungsstudiengängen: Sicherstellung mit dem bekannten Repertoire
Jena, Leipzig, Berlin (Humboldt), Rostock, von Institutionen“ (Laitko 1982, 17), ist für
Chemnitz/Zwickau. das Fach Deutsch als Fremdsprache offen-
In der Schweiz und in Österreich vollzog sichtlich durch die zahlreichen Studiengänge
sich eine vergleichbare Entwicklung erst sehr und Professuren, durch das relativ breite
spät. In der Schweiz war es das Institut für Spektrum an eigenen Fachzeitschriften ⫺ zu-
Deutsche Sprache an der Universität Fri- sätzlich zu den bereits erwähnten: Ausländer-
bourg, das im Zusammenhang mit den kinder in Schule und Kindergarten, Interkultu-
Sprachprojekten des Europarats in den 70er rell (früher: Ausländerkinder ⫺ Forum für
Jahren aktiv wurde. Hier gibt es auch ein Schule und Sozialpädagogik), Deutsch lernen,
Ergänzungsfach Deutsch als Fremdsprache Zielsprache Deutsch, Fremdsprache Deutsch
4 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

und Reihen wie z. B. Werkstattreihe DaF, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache ist die
Perspektiven DaF ⫺, durch regelmäßig statt- Rolle der deutschen Sprache als zweiter und
findende Jahrestagungen, Kongresse und fremder Sprache in einer Welt, die zuneh-
spezielle Fachtagungen, durch Verbände und mend durch Mehrsprachigkeit, durch Migra-
Gesellschaften, wie auch durch eine stetig tion und Mobilität gekennzeichnet ist, so
wachsende Zahl an Einführungen in das dass die Sprachvermittlung im Ausland nicht
Fach (wie Ehnert 1982/89; Ickler 1984; Hen- losgelöst von der Mehrsprachigkeit im Inland
rici 1986/1988; Heyd 1990; Henrici/Riemer gesehen werden kann (vgl. Krumm 1994a).
1994; Rösler 1994; Huneke/Steinig 1997; Weinrich hat 1979 die folgenden Inhaltsbe-
Storch 1999). reiche als Kern des Faches Deutsch als
Fremdsprache beschrieben:
3. Ausprägungen des Faches seit den 1. Kontrastive Linguistik
90er Jahren 2. Sprachnormenforschung
3. Sprachlehrforschung
Stellt man die Frage nach der wissenschaftli- 4. Fachsprachenforschung
chen Dignität des Faches Deutsch als Fremd- 5. Gastarbeiter-Linguistik
sprache/Deutsch als Zweitsprache oder mit 6. Deutsche Literatur als fremde Literatur
Glück (1991) die Frage, ob das Fach den Sta- 7. Deutsche Landeskunde
tus einer Disziplin habe, und misst dies ⫺ wie Damit sind die Areale, in denen sich das Fach
er ⫺ mit den Parametern „eigene Erkennt- in den 70er und 80er Jahren entfaltet hat, ins-
nisinteressen“, „eigene Gegenstände“, „ei- gesamt umrissen, wobei der sprachdidakti-
gene Untersuchungsmethoden“, muss die sche Akzent über die von Weinrich skizzierte
Antwort nicht so negativ ausfallen wie bei Rolle hinaus an Bedeutung gewonnen hat.
ihm. Es gibt durchaus eigene Erkenntnisin- Betrachtet man die Ausprägungen des Faches
teressen und Gegenstände des Faches. Auch in den 90er Jahren, so lassen sich vier
in anderen Disziplinen wie z. B. der germa- Schwerpunkte ausmachen (vgl. Henrici/Ko-
nistischen Linguistik und Literaturwissen- reik 1994, 16ff.), die die von Weinrich ge-
schaft werden Untersuchungsmethoden ver- nannten Bereiche bündeln und akzentuieren
wendet, die nicht originär disziplinspezifi- und sich in den entsprechenden Studiengän-
sche sind (vgl. dazu auch Götze/Suchsland gen wie vielfach auch in den Forschungsakti-
1996 und Henrici 1996 sowie die Beiträge in vitäten der jeweiligen Institute und Lehr-
Helbig 1997). Die Differenzmerkmale z. B. stühle niederschlagen:
zur Germanistik sind evident: Fremdspra-
chigkeit, Fremdsprachenwissenschaftlichkeit, 1. eine linguistische Ausrichtung
Theorie-Praxis-Bezug, die Relation Studium- 2. eine lehr-/lernwissenschaftliche (didak-
Beruf, Interdisziplinarität, Internationalität tisch/methodische) Ausrichtung
(vgl. Henrici 1989, 1995). Glück (1991) hat 3. eine landeskundlich-kulturwissenschaftli-
dem Fach dadurch Kontur geben wollen, che Ausrichtung und
dass er die vielfältigen Arbeitsfelder im Hin- 4. eine literaturwissenschaftliche Ausrich-
blick auf zwei Ausrichtungen bündeln wollte: tung.
eine A-Linie, d. h. eine auf die Fragestellun-
gen und Erfordernisse des nichtdeutsprachi- 3.1. Die linguistische Ausrichtung (vgl. ge-
gen Auslands hin gerichtete Lehre und For- nauer Art. 2) ist vielfältig ausgeprägt. Ent-
schung (Deutsch als Fremdsprache im enge- sprechend den historischen Entwicklungs-
ren Sinne), und eine M-Linie, die auf die Si- phasen der Sprachwissenschaft reicht sie von
tuation der Migration bezogene Ausrichtung klassischen Orientierungen, bei denen die
(Deutsch als Zweitsprache). Auch wenn diese Grammatik und das Lexikon als Komponen-
Unterscheidung für die Wahrnehmung unter- ten des Sprachsystems im Mittelpunkt stehen,
schiedlicher Sprachlern- und Sprachverwen- bis hin zu eher pragmatischen und diskurs-
dungssituationen wichtig ist, so bildet sie orientierten Konzepten (vgl. die Artikel 12⫺
dennoch kein Strukturprinzip für die wissen- 22). Sie umfasst Teildisziplinen wie die Sozio-
schaftliche Arbeit und die Ausbildungsaufga- und Psycholinguistik, die zu weiteren Diffe-
ben des Faches. Bei ausländischen Studieren- renzierungen bzw. eigenständigen Disziplinen
den im deutschsprachigen Raum vermischen wie der Zweitsprachenerwerbsforschung, Ap-
sich die beiden Stränge besonders augenfällig plied Linguistics, dem L2-Classroom Re-
⫺ aber auch generell gilt: Thema des Faches search geführt haben, welche z. T. den An-
1. Die Struktur des Faches 5

spruch erheben, in besonderem Maße grund- Spracherwerb überhaupt, der am besten in


legend für die Erforschung der Fremdspra- „natürlichen“ Erwerbssituationen zu unter-
chenvermittlung zu sein. Diese Ausrichtung suchen sei, um die so erarbeiteten Gesetzmä-
geht davon aus, dass die Linguistik mit ihren ßigkeiten auf den unterrichtlichen Spracher-
Subdisziplinen ein zentrales Kenntnissystem werb zu übertragen. Die Sprachlehr- und
für Deutsch als Fremdsprache darstellt und Sprachlernforschung dagegen geht von der
dass ohne Beschreibung und Kenntnis der Eigengesetzlichkeit unterrichtlicher Sprach-
entsprechenden sprachlichen Sachverhalte lernsituationen aus, die in einem interdiszipli-
kein erfolgreicher Sprachunterricht an Nicht- nären Zugriff unter Berücksichtigung der
Muttersprachler möglich ist. Die linguistische Spezifika des unterrichtlich gesteuerten Ler-
Untersuchung des Deutschen als Fremdspra- nens zu untersuchen seien. Inzwischen ist je-
che hat zahlreiche Einsichten zu unserer heu- doch deutlich geworden, dass beides keine
tigen Kenntnis des deutschen Sprachsystems einander ausschließenden, sondern ergänzen-
beigesteuert (vgl. Glück 1991, 23⫺33). Insbe- den Ansätze darstellen (vgl. Wilms 1984;
sondere kontrastive Gesichtspunkte spielen Götze 1995). Mit dem lehr-/-lernwissen-
bei einer linguistischen Analyse des Deut- schaftlichen Ansatz sind in den 90er Jahren
schen als Fremdsprache eine wesentliche die besonderen Vermittlungskontexte des
Rolle (vgl. die Artikel 27⫺49). Dennoch kann Deutschen als Fremdsprache, z. B. Deutsch
die linguistische Ausrichtung des Faches als zweite oder weitere Fremdsprache etwa
nicht auf den kontrastiven Aspekt reduziert nach Englisch (vgl. Art. 65) zum Forschungs-
werden, einmal, weil erfolgversprechende gegenstand geworden.
kontrastive Arbeiten immer die solide Einzel-
beschreibung der zu vergleichenden Sprachen 3.3. Die in nahezu allen Studiengängen va-
voraussetzen, zum andern, weil nicht alle riantenreich repräsentierte landeskundlich-
Lernprobleme und Fehler aus dem Kontrast kulturwissenschaftliche Ausrichtung (vgl. ge-
zur Muttersprache erklärt werden können nauer Art. 4) ist hinsichtlich ihrer wissen-
(vgl. Art. 66⫺69). schaftsmethodologischen Fundierung und ih-
res wissenschaftssystematischen Ortes weiter-
3.2. Die lehr-/lernwissenschaftliche bzw. di- hin sehr umstritten, wie es auch die Kontro-
daktisch-methodische Ausrichtung (vgl. ge- versen um Begriffe wie ,Deutschlandstudien‘
nauer Art. 3), in deren Zentrum die Theorie (vgl. Koreik 1995), Landeskunde und inter-
und Praxis des Lehrens und Lernens von kulturelle Landeskunde (vgl. Reinbothe
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache steht, 1997) zeigen. Auch die auf Unterricht ausge-
hat sich in den letzten Jahren als Fremdspra- richteten und teilweise in Lehrmaterialien
chendidaktik bzw. als Sprachlehr-/-lernwis- manifestierten Konzepte reichen von der
senschaft fest etabliert: dies u. a., indem sie klassischen Institutionenkunde über kontext-
sich zunehmend von einer „Vorschlagsdidak- orientierte Ansätze bis zu einer kontrastiv-in-
tik“ hin zu einer wissenschaftlichen Disziplin terkulturellen Landeskunde (vgl. Art. 96).
entwickelt hat, die das Lehren und Lernen Mit Beginn der 90er Jahre hat, ausgelöst
theoretisch und empirisch erforscht, prak- durch die ABCD-Thesen zur Landeskunde
tisch erprobt und evaluiert. Ergebnisse aus (1990), ein verstärktes Interesse eingesetzt, in
den relevanten Referenzwissenschaften wer- Forschung und Lehre den gesamten deut-
den nicht auf die einzelnen Bereiche des schen Sprachraum, insbesondere Österreich
Fremdsprachenunterrichts appliziert, son- und die deutschsprachige Schweiz, einzube-
dern hinsichtlich der fremdsprachenspezi- ziehen. Mit der zunehmenden Bedeutung von
fischen Erkenntnisinteressen funktionalisiert Wirtschaftsdeutsch stellen sich der Landes-
(vgl. Bausch/Krumm 1995). Charakteristisch kunde neue, über den klassischen Bereich
für die lehr-/lernwissenschaftliche Orientie- hinausgehende Aufgaben (vgl. Art. 130).
rung der 80er und 90er Jahre ist die Verlage-
rung des Interesses vom Lehren (Suche nach 3.4. Das Spektrum der literaturwissenschaft-
der „besten“ Methode und dem „guten lichen Ausrichtung ist breit gefächert. Es um-
Fremdsprachenlehrer“) auf das Lernen. Da- fasst zum einen programmatische Entwürfe
mit haben sich zwei Ausprägungen lehr-/ fremdkulturell-hermeneutischer Ausprägung,
-lernwissenschaftlicher Fragestellungen ent- die sich unter der Bezeichnung Interkulturelle
wickelt: Die Zweitsprachenerwerbsforschung Germanistik etabliert haben (vgl. u. a. Wierla-
sieht den unterrichtlichen Spracherwerb vor- cher 1980; 1987; Krusche 1985; Krusche/
rangig als Spezialfall für menschlichen Wierlacher 1990; Thum/Fink 1993). Ziel ei-
6 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

ner solchen Interkulturellen Germanistik ist dergrund gerückt war, hat sich seit Beginn
die adressatenspezifische Auseinandersetzung der 90er Jahre die Erkenntnis durchgesetzt,
mit Literatur aus der Fremd- und Eigenper- dass literarische Texte in besonderem Maße
spektive. Das Zusammenbringen beider Re- sprachliche wie kulturelle Eigenarten ver-
zeptionsweisen soll zu Kulturmündigkeit füh- deutlichen können und zur Motivierung der
ren und gegenseitiges Verstehen ermöglichen. Lernenden beitragen (vgl. auch Art. 86).
Die Interkulturelle Germanistik im deutschen
Sprachraum sieht sich in dieser Perspektive 3.5. In einer empirischen Studie (Henrici/Ko-
als Partner der auslandsgermanistischen Lite- reik 1994, 22ff.), die u. a. zum Ziel hatte, Stu-
raturwissenschaft. Gerade aus der Perspek- dienbewerbern und Studierenden eine Orien-
tive des Auslandes wird ihr jedoch auch tierung für die Studienortwahl zu geben,
Eklektizismus und Ethnozentrismus vorge- wurde die Repräsentanz des Faches an den
worfen: „Das Postulat einer interkulturellen deutschen Hochschulen in Vollzeit- und Er-
Kommunikation verschleiert die Herrschafts- gänzungsstudiengängen nach den vier ge-
mechanismen, unter denen die zwischenstaat- nannten Ausrichtungen hinsichtlich domi-
lichen Interaktionen erfolgen und die auf nanter Lehrstuhlbesetzungen sowie der Stu-
diese Weise perpetuiert werden“ (Ndong dien- und Prüfungsordnungen untersucht.
1993, 19). Bei Zimmermann (1989), Hess Dabei wurde deutlich: An allen Studien-
(1992) u. a. wird die Legitimität des Anspru- orten sind alle Ausrichtungen mehr oder
ches, vom deutschen Sprachraum aus die weniger stark vertreten. Dabei überwiegen
Fremdperspektive mitzudenken, in Frage ge- die etwa gleich stark vertretenen linguisti-
stellt. Mit der Gesellschaft für Interkulturelle schen und lehr-/lernwissenschaftlichen Aus-
Germanistik (GIG, gegründet 1987) und den richtungen gegenüber den literaturwissen-
aus deren Tagungen hervorgegangenen Sam- schaftlichen und landeskundlich-kulturwis-
melbänden sowie mit der Einrichtung von senschaftlichen (Verhältnis 3 : 1), wobei es
Lehrstühlen und Instituten spielt die Inter- örtliche Dominanzen gibt (vgl. Henrici/Ko-
kulturelle Germanistik eine gewichtige Rolle reik 1994; ergänzend Krumm 1994b). Auffäl-
im Zusammenhang mit Deutsch als Fremd- lig ist die große Heterogenität der Studien-
sprache, auch wenn sie mit den drei anderen gänge hinsichtlich der Dauer, der Organisa-
hier genannten Ausrichtungen (vgl. Absätze tionsformen und der Strukturierung der Stu-
3.1. bis 3.3.) nur vereinzelte Verbindungen dieninhalte sowie die Anbindung an unter-
aufweist und eine fachlich wie personell weit- schiedliche Fachbereiche, Fächer, Institute,
gehend unabhängige Entwicklung durchläuft was teilweise durch die (sinnvolle) interdiszi-
(vgl. Wierlacher 1987). Neben diesem pro- plinäre Orientierung der Studiengänge be-
grammatischen Ansatz stehen zum anderen dingt ist. Ein ähnliches Bild zeichnen auch
weniger globale, an den Erfordernissen des die vorliegenden Einführungen in das Fach
konkreten Unterrichts ausgerichtete literatur- Deutsch als Fremdsprache: Hier dominieren
didaktische Ansätze, die im engeren Sinne in die lehr-/lernwissenschaftlichen Aspekte vor
die Praxis der Vermittlung des Deutschen als den linguistischen (das gilt etwa für Biele-
Fremdsprache hineinreichen. Sie rezipieren feld), während die landeskundliche und die
sowohl literaturwissenschaftliche als auch literaturwissenschaftliche Ausrichtung nicht
textlinguistische und sprachdidaktische An- immer gewichtig vertreten sind (eine Aus-
sätze und fördern einen kreativen Umgang nahme bildet z. B. Bayreuth).
mit Sprache sowie die Ausnutzung von Phan-
tasiepotentialen (vgl. z. B. Kast 1985; Mum-
mert 1989; Ehlers 1992). Dabei geht es nicht 4. Tendenzen und Perspektiven
nur darum, literarische Texte als gewichtige
Elemente des Sprachunterrichts zu nutzen 4.1. Sprachenpolitik: Mit der Öffnung des
(vgl. hierzu Art. 136⫺138), sondern auch Eisernen Vorhangs, dem Beitritt Österreichs
darum, freies und kreatives Schreiben anzu- zur Europäischen Union und der vorgesehe-
regen und die Fähigkeit zur Verwendung der nen Osterweiterung der EU stellen sich dem
Fremdsprache in ihren sinnlich-ästhetischen Fach Deutsch als Fremdsprache neue spra-
Dimensionen zu vermitteln (vgl. Art. 97). chenpolitische Aufgaben (vgl. im einzelnen
Nachdem in der ersten Phase des kommuni- Art. 139 und 140): Mit dem Wegfall der
kativen Unterrichts die Orientierung an den Pflichtfremdsprache Russisch ist Deutsch in
Alltagsfunktionen der Sprache, also ihre den mittel- und osteuropäischen Ländern ne-
kommunikative Verwertbarkeit, in den Vor- ben Englisch zu einer wichtigen Verkehrs-
1. Die Struktur des Faches 7

und Wirtschaftssprache geworden: Die Ent- her neue Ausbildungsmöglichkeiten geschaf-


wicklung von Curricula für alle Schulstufen fen worden, die auf die Dauer den ,Import‘
(vgl. Art. 82), die Aus- und Fortbildung von von Lehrkräften aus Deutschland und Öster-
Deutschlehrern (1990 fehlten allein in Un- reich reduzieren. Während für nichtdeutsch-
garn 15.000 Deutsch- und Englischlehrer; sprachige Studierende, die im deutschen
vgl. Kast/Krumm 1994; vgl. auch Art. 115) Sprachraum eine Qualifikation in Deutsch
sowie die Entwicklung von Lehrmaterial (vgl. als Fremdsprache erwerben, Berufsmöglich-
Art. 106) stellen in dieser Größenordnung keiten bei Rückkehr in das Herkunftsland
neue Herausforderungen für das Fach dar. vielfach günstig sind ⫺ zuverlässige länder-
Bedingt durch die unmittelbare Nachbar- spezifische Recherchen liegen allerdings nicht
schaft hat vor allem Österreich seine Aktivi- vor ⫺, stellt sich die Berufssituation für die
täten im Bereich des Deutschen als Fremd- deutschsprachigen Studierenden als schwierig
sprache verstärkt (vgl. Art. 8), auch hat sich dar. Da die Studiengänge für Deutsch als
eine verstärkte Zusammenarbeit Deutsch- Fremd- und Zweitsprache in der Regel als
lands, Österreichs und der Schweiz im Be- Magisterstudiengänge angelegt sind, bleibt
reich der Sprachförderung in Mittel- und den Absolventen der Zugang zu einer Lehrtä-
Osteuropa entwickelt (vgl. Wiener Erklärung tigkeit in öffentlichen Schulen meist ver-
1997; Krumm 1999). Zugleich hat die starke wehrt. Selbst für die Auslandsschulen, in de-
Konzentration auf Mittel- und Osteuropa in nen Fachkräfte für Deutsch als Fremdspra-
anderen Kontinenten zu einer Schwächung che erforderlich sind, hat sich keine befriedi-
des sprachenpolitischen Engagements insbe- gende Regelung finden lassen; Ähnliches gilt
sondere der Bundesrepublik Deutschland ge- für die Studienkollegs und Vorstudienlehr-
führt (so wurden in den Jahren 1996/97 und gänge, die in der Regel eine Lehrerausbildung
1999 Goethe-Institute u. a. in Lateinamerika, voraussetzen. Der Arbeitsmarkt in der Er-
Afrika und Westeuropa geschlossen, teilweise wachsenenbildung ist durch ein hohes Maß
allerdings zugunsten der Neueröffnung von an Teilzeitarbeit und Honorarkräften be-
Instituten in Mittel- und Osteuropa). Beein- stimmt (vgl. Christ 1990), und der Bedarf an
flusst durch die weiter ausgebaute Stellung ausgebildeten Experten für Deutsch als
des Englischen als Wissenschafts- und Wirt- Fremdsprache beim Goethe-Institut, in Lehr-
schaftssprache, aber auch in Folge ausländer- buchverlagen und im Hochschulbereich ist
feindlicher Ausschreitungen, hat die Zahl der relativ gering (vgl. Krumm 1997). Absolven-
ausländischen Studierenden in Deutschland ten von Zusatzstudiengängen, einem Hoch-
abgenommen; der Deutsche Akademische schullehrgang o. ä. haben es leichter, wenn sie
Austauschdienst hat daher 1997 eine Initia- damit ein Lehramtsstudium erweitern. Die
tive zur Verbesserung des Studienstandortes Trennung zwischen Magister- und Lehramts-
Deutschland ins Leben gerufen, die u. a. die studien in Deutschland und Österreich zu
Entwicklung einer bereits im Ausland abzule- überwinden bleibt für Deutsch als Fremd-
genden sprachlichen Eingangsprüfung für sprache eine Zukunftsaufgabe. Dadurch,
das Hochschulstudium in Deutschland ein- dass Magisterstudiengänge in Deutschland in
schließt. Die Mitwirkung an der Entwicklung der Regel ein oder zwei Nebenfächer verlan-
eines Gesamtkonzeptes für die Förderung der gen, ergibt sich für Studierende des Deut-
deutschen Sprache als Fremd- und Zweit- schen als Fremdsprache die Möglichkeit indi-
sprache einschließlich einer fachlichen und vidueller Profilierungen: die Wahl von Ne-
sprachenpolitischen Kooperation der benfächern kann bereits zu einer Mehrfach-
deutschsprachigen Länder bleibt eine wich- qualifikation führen und damit auch das
tige Aufgabe des Faches. Spektrum möglicher beruflicher Tätigkeitsfel-
der erweitern (vgl. zu dieser Problematik u. a.
4.2. Fach- und berufspolitische Aktivitäten: Ehnert 1988, 443; Koreik 1995, 17). Aber
Es ist evident, dass sich mit der erhöhten auch innerhalb des Deutsch-als-Fremdspra-
Nachfrage nach Deutsch in Deutschland, im che-Studiums zeichnen sich nach einem eher
erweiterten Europa und in der Welt, die sich verbindlichen Grundstudium Schwerpunkt-
wesentlich aus der zunehmenden Internatio- bildungen für das Hauptstudium ab, wie sie
nalisierung der Weltwirtschaft und rapide in auslandsgermanistischen Studien z. T. be-
steigenden Wanderbewegungen erklärt (Am- reits realisiert sind, z. B. im Bereich der Über-
mon 1991), auch ein erhöhter Bedarf an spe- setzungstheorie und -praxis oder der Fach-
zifisch ausgebildeten Lehrkräften ergibt. Ins- sprachenforschung und -vermittlung. Insge-
besondere in Mittel- und Osteuropa sind da- samt stellt sich für die Studiengänge im Be-
8 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

reich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Praktika systematisch in das Studium inte-
die Frage, ob in Zukunft eher Studiengangs- griert sind. Unverzichtbar ist auch eine empi-
konzepte zu befürworten sind, die spezifische risch ausgerichtete Praktikumsforschung, die
Berufsfelder und Adressatengruppen ins Au- über die systematische Untersuchung der ver-
ge fassen, oder solche, die eher allgemeine schiedenen Praktikumskonstellationen und
Konzepte favorisieren, die die Studierenden die in ihnen vorzufindenden Bedingungen be-
in die Lage versetzen, in möglichst vielen Tä- gründbare Weiterentwicklungen ermöglicht.
tigkeitsfeldern einsetzbar zu sein (Polyva- An dieser Forschung fehlt es zur Zeit noch.
lenz). In diesem Zusammenhang ist auch die Sie könnte mit der noch am Anfang stehen-
Frage zu sehen, in welchem Verhältnis sich den sogenannten Austauschforschung eine
die akademische Ausbildung mit einer prakti- Gemeinschaft bilden (Fandrych 1993, 290).
schen Berufseinführung verknüpfen lässt.
4.4. Forschungsaufgaben und -perspektiven:
4.3. Praxisorientierung: Stärker als andere Trotz einer schwierigen Ausgangslage (Eta-
Fremdsprachenphilologien hat sich das Fach blierung des Faches während der einsetzen-
Deutsch als Fremdsprache im deutschen den Sparprogramme, hohe Studentenzah-
Sprachraum Praxisfeldern geöffnet und diese len) kann das Fach Deutsch als Fremdspra-
in das Studium integriert. In fast allen Magi- che ein breites Spektrum an forschungsme-
sterstudiengängen, vielfach aber auch in den thodischen Arbeiten und empirischen Un-
Zusatzstudien für Deutsch als Fremdsprache, tersuchungen vorweisen: Mittlerweile liegen
sind Praxisphasen/Praktika von unterschied- nicht nur anwendungsbezogene, sondern
licher Dauer und Intensität in der Regel ver- zunehmend auch grundlagenorientierte For-
pflichtender Bestandteil der Studienordnun- schungsarbeiten vor, die auf einer intensiven
gen (vgl. dazu die Dokumentation von Hen- theoriegeleiteten empirischen Forschung be-
rici/Koreik 1994; Krumm 1994b). Der inten- ruhen. Glück (1991) und Rösler (1994) haben
sive Austausch zwischen theoretischer Refle- diese Forschung unterschiedlich typisierend
xion seiner Gegenstände und den Möglich- beschrieben und mit einer Vielzahl von aus-
keiten einer konkreten Anwendung bildet gewählten Beispielen dokumentiert. Aus der
von Anfang an ein besonderes Kennzeichen Entstehungsgeschichte wie aus dem Selbst-
des Faches (zur Darstellung der Formen und verständnis des Faches Deutsch als Fremd-
Funktionen von Praktika vgl. Fandrych sprache als einem Theorie und Praxis verbin-
1993; Apeltauer 1994). Praktika haben in denden Fach ist erklärlich, dass ein großer
dreifacher Hinsicht einen bedeutenden Stel- Teil der relativ geringen Forschungskapazitä-
lenwert im Fach Deutsch als Fremdsprache: ten auf sogenannte anwendungs-/praxisbe-
Sie sind lebensweltliche Konkretisierungen zogene Forschungen ausgerichtet ist. Zu
von Wissensbeständen und wirken insofern ihnen zählen u. a. grundlegende, die Praxis
auch persönlichkeitsbildend und -stabilisie- unterstützende und steuernde Grammatik-
rend, als sie vergleichende Einsichten und Re- arbeiten (vgl. Art. 109), didaktische Arbeiten
flexionen in und über eigene und fremde zur Theorie und Praxis der Fremdsprachen-
sprachliche und gesellschaftlich-kulturelle Si- vermittlung (vgl. Art. 80; 81), die Lehrwerk-
tuationen gewähren. Sie sind für die Studie- kritik (vgl. Art. 105), Untersuchungen zu den
renden eine zentrale Gelenkstelle, an der theoretischen Grundlagen und der kommuni-
deutlich wird, welches Wissen, welche Ein- kativen Praxis interkultureller Kommunika-
stellungen und welche Handlungskompeten- tion (vgl. Art. 100; 124), die intensive Be-
zen erforderlich sind, um sich in den vielfälti- schäftigung mit Fachsprachenpraxis, -didak-
gen zukünftigen DaF-spezifischen Berufssi- tik und -theorie (vgl. Art. 54⫺59) und nicht
tuationen (Inland, Ausland, unterschiedliche zuletzt die Konzipierung, Entwicklung und
Institutionen, Lernergruppen, Lernniveaus Evaluation von Selbststudienmaterialien und
u. a.) zurecht zu finden ⫺ insofern dienen sie Lehrbüchern (vgl. Art. 105; 106), die berech-
gleichzeitig der Berufsorientierung wie auch tigterweise von den Lehrenden für die Praxis
als Impuls für die theoriegeleiteten Studien- des Unterrichtens eingefordert werden. In
phasen, an die aus der praktischen Erfahrung diesen Zusammenhang gehört die kritische
heraus Fragen zu stellen sind. Schließlich Analyse sogenannter alternativer Vermitt-
sind Praktika auch Ausdruck der Weltoffen- lungsverfahren (etwa Tandem, Suggestopä-
heit und Internationalität des Faches, die die, Dramapädagogik u. ä.; vgl. Art. 86). Im
ausländerfeindlichen Tendenzen entgegenwir- Rahmen von Schulversuchen, angesichts cur-
ken können. Das setzt allerdings voraus, dass ricularer Entwicklungen wie dem Frühbeginn
1. Die Struktur des Faches 9

des Deutschunterrichts in vielen Ländern, an- 5. Schluss


gesichts der Tendenz, die Fremdsprache auch
als Arbeitssprache in anderen Unterrichtsfä- Eine Reihe von Problemen ist auch weiter-
chern einzusetzen und schließlich durch die hin gründlich zu diskutieren, von deren Lö-
Einbeziehung der Sprachen von Minderhei- sung die zukünftige Entwicklung des Faches
ten und Migranten, die zu neuen Modellen u. a. auch abhängen wird (vgl. Henrici 1995).
der Mehrsprachigkeit führt, gewinnen auch Beschreibt man die Entwicklung des Faches
die Begleitforschung und die Wirkungsfor- bzw. der Disziplin nach einzelnen Phasen
schung (Evaluationen) an Bedeutung (vgl. (Initial-, Etablierungs-, Konsolidierungs-
Koschat/Wagner 1994; Landesinstitut 1995). phase, vgl. Laitko 1982), lässt sich als gewis-
Wie die Dokumentation zu Deutsch als ser Konsens unter den meisten Fachvertrete-
Fremd- und Zweitsprache von Glück (1991) rinnen und -vertretern ausmachen, dass sich
aber ebenfalls belegt, sind zunehmend auch das Fach inzwischen in der Konsolidierungs-
Arbeiten vorgelegt worden, die dem For- phase befindet, zumal seine Etablierung an
schungstyp „grundlagenorientiert“ zuzurech- den deutschen Hochschulen als weitgehend
nen sind. Es handelt sich im Wesentlichen um abgesichert angesehen werden kann (vgl. u. a.
solche Arbeiten, die die Untersuchung der Götze/Suchsland 1996). Diese optimistische
Mechanismen von natürlichen und gesteuer- Einschätzung wird nur dann weiterhin gültig
ten Fremdsprachenerwerbsprozessen betref- bleiben, wenn sich das Fach nicht auf den in
fen (vgl. Art. 66⫺79), deren Ergebnisse Be- seiner etwa fünfundzwanzigjährigen Ge-
gründungen und Absicherungen für den schichte zweifellos erworbenen Meriten aus-
Kernbereich des Faches, „das Lehren und ruht, sondern die kontroverse Debatte um
Lernen des Deutschen als Fremdsprache in mögliche Fachstrukturen und deren prakti-
Theorie und Praxis“ bereitstellen können. sche Umsetzung engagiert weiterführt. Dass
das Hochschulfach Deutsch als Fremdspra-
4.5. Kooperation und Arbeitsteilung: Trotz che nicht nur für Studierende ein attraktives
mancher kritischer Einwände und Hinweise sowie in Anbetracht der politischen, gesell-
auf unterschiedliche „Linien“ (Glück 1991) schaftlichen und wirtschaftlichen Entwick-
sollte an der These von der Einheit des Fa- lungen in Europa und in der Welt
ches und ihrer Begründung festgehalten wer- ein notwendiges Fach ist, begründet u. a. die
den (Henrici 1989, These 1; Götze/Suchsland ständige quantitative Zunahme von Vollzeit-
1996, These 2; Henrici 1996). Das Argument und Zusatzstudiengängen in den letzten Jah-
gilt weiterhin, dass Einheit und Vielfalt kei- ren. Die starke Nachfrage nach einem Stu-
nen Widerspruch bedeuten (Götze 1997, 89). dium Deutsch als Fremdsprache hat bereits
Auch in anderen Disziplinen finden wir diese zur Einführung eines Numerus Clausus (NC)
Vielfalt in der Einheit. Keiner käme auf die an einzelnen Studienorten geführt (Bielefeld,
Idee, aufgrund der Vielfalt von Fachdifferen- Hamburg, München). In den nur grob wie-
zierungen nicht mehr von der Romanistik, dergegebenen Ergebnissen der Recherche von
der Anglistik oder der Slavistik zu sprechen. Henrici/Koreik 1994 scheint die These von
Wie in anderen Disziplinen hat sich auch im der gesicherten Etablierung und Konsolidie-
Fach Deutsch als Fremdsprache die Vielfalt rung des Faches ihre Bestätigung zu finden.
aus praktisch-gesellschaftlichen und inner-
disziplinären Gründen auf verschiedenen Ebe- 6. Literatur in Auswahl
nen entwickelt. Dieser Differenzierungspro-
zess ist auf der Ebene von Erkenntnisinter- ABCD-Thesen zur Rolle der Landeskunde im
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10 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

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1. Die Struktur des Faches 11

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12 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

2. Linguistischer Ansatz

1. Verschiedene Ausrichtungen des Faches als Weise beruhen die genannten „Ausrichtun-
Reflex unterschiedlicher Komponenten gen“ auf unterschiedlichen Komponenten
2. Zum Status des Faches Deutsch als oder Aspekten eines Phänomens, das glei-
Fremdsprache chermaßen einheitlich wie komplex ist. Weil
3. Was heißt „linguistischer Ansatz“?
4. Kontrastive Linguistik vs. Einzeldeskription
es einheitlich ist, sollte es auch von einem ein-
5. System vs. Kommunikation heitlichen Fach aus erfasst werden; weil es
6. Grammatik vs. Lexikon komplex ist (und aus verschiedenen Kompo-
7. Ausdrucks- vs. Inhaltsgrammatik nenten besteht), erfordert es einen interdiszi-
8. Zentralität der linguistischen Komponente plinären Zugang.
9. Literatur in Auswahl Diese Interdisziplinarität bringt es mit
sich, dass (auf Grund dieser unterschiedli-
chen Komponenten) notwendigerweise auch
1. Verschiedene Ausrichtungen des unterschiedliche Wissensbestände in das
Faches als Reflex unterschiedlicher Fach „Deutsch als Fremdsprache“ eingehen,
Komponenten dass dabei jedoch die in „Deutsch als Fremd-
sprache“ hineinragenden Teildisziplinen oft
Selbst bei weitgehend einhelliger Gegen- den Anspruch von Erklärungsmodellen für
standsbeschreibung des Faches „Deutsch als den Gesamtbereich erheben. Statt eines inter-
Fremdsprache“ erscheint das Fach (bis in die disziplinären Forschungsansatzes herrscht
Studiengänge hinein) in verschiedenen „Aus- vielfach (noch) die Tendenz vor, Theoriean-
richtungen“ ⫺ mindestens: einer linguisti- sätze aus den einzelnen Komponenten als für
schen, einer literaturwissenschaftlichen, einer den Gesamtkomplex zuständig auszugeben
landeskundlich-kulturwissenschaftlichen und (vgl. Krumm 1978, 87ff.). Das gilt insbeson-
einer didaktisch-methodischen (lehr- und lern- dere für die Linguistik und für die Didaktik
wissenschaftlichen) Ausrichtung (vgl. Art. 1). (Sprachlehr- und -lernforschung), aber auch
Mit diesen Ausrichtungen ist zunächst nur für die Zweitspracherwerbsforschung, manch-
die entsprechende disziplinäre Zuordnung mal auch für Landeskunde und Literaturwis-
angezeigt, noch nicht das Spezifische des Fa- senschaft (und führte zu einseitigen Domi-
ches „Deutsch als Fremdsprache“, durch das nanzverhältnissen). Grob gesagt: Auf eine Pe-
es sich von anderen Fächern unterscheidet. riode der „Linguistisierung“ des Fremdspra-
Dieses Spezifikum besteht u. E. darin (vgl. chenunterrichts und von „Deutsch als
Helbig 1997b, 132f.), dass es Theorie und Fremdsprache“ folgte ⫺ als Reaktion ⫺ eine
Praxis des Lehrens und Lernens von Deutsch ebenso ungerechtfertigte Dominanz durch
als Fremdsprache zum Gegenstand hat. Mit Didaktik/Sprachlehr- und -lernforschung so-
den hier hervorgehobenen Teilen dieser Ge- wie Psychologie (nicht selten dann unter Ab-
genstandsbeschreibung ist zugleich auf we- koppelung von der Linguistik) (vgl. Helbig
sentliche Nachbar- und Teildisziplinen ver- 1994, 85ff.). Wie der Fremdsprachenunter-
wiesen, zu denen „Deutsch als Fremdspra- richt und „Deutsch als Fremdsprache“ nicht
che“ in notwendigen Beziehungen steht: Das einfach „angewandte Linguistik“ sind, so
Deutsche als Sprache ist das, was gelernt/ge- sind sie auch nicht einfach „angewandte Psy-
lehrt wird (der Gegenstand des Lernens/Leh- chologie“; ebensowenig dürfen sie auf
rens, der auch von der germanistischen Lin- Sprachlehr- und -lernforschung oder auf Di-
guistik beschrieben wird). Dieser Gegenstand daktik/Methodik reduziert werden. Vielmehr
wird aber (im Unterschied zur Binnenper- müssen die Ergebnisse aller dieser Disziplinen
spektive der germanistischen Linguistik im auf „Deutsch als Fremdsprache“ angewandt
Inland) als Fremdsprache, d. h. aus der Fremd- werden (aber nicht direkt und nicht unadap-
oder Außenperspektive, betrachtet. Zu der tiert, vielmehr unter der übergreifenden Fra-
Sprache (und mit ihr verbunden) kommen als gestellung des Lernens/Lehrens von Deutsch
Gegenstände die Literatur und die Landes- als Fremdsprache) ⫺ eben weil für Deutsch
kunde hinzu. Alle diese Gegenstände sollen ge- als Fremdsprache (wie für den Fremdspra-
lernt und gelehrt werden (damit befassen sich chenunterricht generell) nicht nur eine Wis-
vor allem Sprachlehr- und -lernforschung/ senschaft zuständig ist, sondern Wissenskom-
Fachdidaktik, Methodik, (Zweit-)Spracher- ponenten aus verschiedenen Bezugsdiszipli-
werbsforschung, Psycholinguistik). Auf diese nen. Dass gegenwärtig häufig noch Kon-
2. Linguistischer Ansatz 13

zepte, Methoden und Fragestellungen der mancher zentraler Kontroversen, wie sie zu
„Ausgangsdisziplinen“ bei Gesamtdiskussio- Inhalt, Struktur und Profil des Faches heute
nen um Deutsch als Fremdsprache (über sol- ausgetragen werden (z. B. in der Zeitschrift
che zu dessen „ureigenem“ Gegenstandsbe- DaF seit Götze/Suchsland 1996).
reich) dominieren, kann und muss man ge- Diese Kontroversen stehen im Zusammen-
wiss beklagen (vgl. z. B. auch Dittmar/Rost- hang mit der Interdisziplinarität des Faches
Roth 1995, 5), ergibt sich aber aus dem inter- und ergeben sich aus unterschiedlichen
disziplinären Charakter des Faches und ist Schwerpunktsetzungen und Dominanzver-
u. E. allemal besser als eine schlichte „prakti- hältnissen zwischen den verschiedenen Kom-
zistische“ Reduzierung von Deutsch als ponenten des Faches. Das führte zu solchen
Fremdsprache auf Didaktik oder auf eine Fragen, welches die entscheidende (und do-
(eher dilettantische) Schein-Interdisziplinari- minante) Bezugsdisziplin für „Deutsch als
tät, die das Fach von seinen Bezugsdiszipli- Fremdsprache“ ist, ob „Deutsch als Fremd-
nen abkoppelt. Bei der Weiterentwicklung sprache“ ⫺ generell oder vor allem ⫺ ein ger-
des Faches wird es freilich darauf ankom- manistisches oder ein fremdsprachenphilolo-
men, die Wissensbestände zu den verschiede- gisches (bzw. -wissenschaftliches) Fach, ob es
nen Komponenten zusammenzuführen ⫺ die ein sprachwissenschaftliches oder ein didakti-
sich nicht kontradiktorisch, sondern eher sches (bzw. lehr- und lernwissenschaftliches)
komplementär zueinander verhalten ⫺, dies ⫺ oder gar ein pädagogisches ⫺ Fach sei. In
weder unadaptiert noch rein additiv, sondern der Diskussion in DaF haben Götze/Suchs-
unter Dominanz des spezifischen Gegenstan- land (1996, 68ff.) für die Germanistik (nicht
des von Deutsch als Fremdsprache. für die Fremdsprachenphilologie, auch nicht
für die Didaktik) als wesentlichste Bezugsdis-
ziplin plädiert und „Deutsch als Fremdspra-
2. Zum Status des Faches Deutsch als che“ als germanistisches Fach (als „viertes
Fremdsprache Standbein“ der Germanistik) angesehen. Ent-
gegengesetzt argumentieren Henrici (1995,
Ausgehend von den unterschiedlichen Kom- 10f.; 1996, 132ff.), Königs (1996, 195ff.), Ed-
ponenten beim Erwerb/Erlernen von Fremd- mondson (1998) und andere für Deutsch als
sprachen und in Verbindung mit den unter- Fremdsprache als fremdsprachenwissen-
schiedlichen „Ausrichtungen“ des Faches, schaftliches Fach mit fremdsprachenerwerb-
aber auch auf Grund der bisherigen Entwick- licher und -didaktischer Schwerpunktset-
lung des Faches (als „Kind der Praxis“, auf zung. Ein ähnliches Bild bietet sich auch ge-
der Basis unterschiedlicher gesellschaftlicher nerell: Wie Henrici möchte auch Krumm
Desiderate und in unterschiedlichen institu- (1994, 77ff.) ⫺ in Abgrenzung von der Ger-
tionellen Kontexten) ergab sich nicht nur eine manistik ⫺ die Lehr- und Lernprozesse in
Mehrzahl von Bezeichnungen für das (neue) das Zentrum des Faches rücken, umgekehrt
Fach, sondern auch ⫺ darauf kommt es uns sieht Glück (1991; 1994, 134; 1997, 60ff.) das
hier besonders an ⫺ eine Unsicherheit und Fach als Teilbereich bestimmter Untergliede-
Heterogenität im Hinblick auf den theoreti- rungen der Sprachwissenschaft und die Ger-
schen Status des Faches. Darauf deutet schon manistik (und innerhalb der Germanistik die
die (zugespitzte) Frage von Glück (1994, Sprachwissenschaft) als wesentlichste Be-
146f.) hin, ob es ein Zweig der Germanistik zugsdisziplin an.
(etwa ein vierter Zweig neben Sprach-, Lite- Auch wenn man den einheitlichen und in-
raturwissenschaft und Mediävistik) oder eine terdisziplinären Charakter von „Deutsch als
Spielart der Auslandsgermanistik, ob es „ein Fremdsprache“ anerkennt und sich über
disziplinärer Bastard, aus allerlei Kultur- und seine wesentlichsten Komponenten weitge-
Sozialwissenschaften zusammengefügt, mit hend einig ist, bestehen dennoch erhebliche
einem unklaren sprachwissenschaftlichen Divergenzen hinsichtlich der Gewichtung die-
Kern“, „ein Arbeitsbereich vor allem der ser Komponenten und der angenommenen
Sprachwissenschaft“, „ein Zweig der Fremd- Hierarchie- und Dominanzverhältnisse zwi-
sprachendidaktik bzw. Sprachlehr- und -lern- schen ihnen. Allerdings fällt bei der Diskus-
forschung bzw. Glottodidaktik bzw. Linguo- sion zweierlei auf (vgl. Helbig 1997b, 134 f.):
didaktik“, eine „anwendungsbezogene Hilfs-
wissenschaft der Politologie im Bereich der a) Die Argumentationen werden oft von
Außenpolitik“ oder „von allem ein bißchen“ „äußeren Faktoren“ her (z. B. der Stellenbe-
sei. Diese Fragestellung enthält den Keim setzung und der institutionellen Zuordnung,
14 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

der fachpolitischen Zwecksetzung und den sehen wird ⫺ hat (mit Recht) davon gespro-
personellen Voraussetzungen) motiviert. Wir chen, dass sich Inlands- und Auslandsgerma-
sehen im Folgenden von diesen Faktoren nistik zwar nicht in ihrem Gegenstand, wohl
weitgehend ab und versuchen stattdessen eine aber in ihrer Perspektive (Binnenperspektive
fachsystematische Antwort ⫺ obwohl die vs. Außen- bzw. Fremdperspektive) auf den
entsprechenden Konzepte von diesen äußeren Gegenstand und in ihrer Methodologie von-
Faktoren natürlich mitbedingt sind und auch einander unterscheiden, dass sich der Aufga-
Konsequenzen in dieser Richtung haben. Es benbereich von Deutsch als Fremdsprache
verbietet sich u. E. jedoch eine Verkürzung unter philologischem Gesichtspunkt mit dem
auf „externals“, z. B. auf Feststellungen, dass der Germanistik, unter methodologischem
Germanisten das Fach „Deutsch als Fremd- Gesichtspunkt mit dem der Fremdsprachen-
sprache“ teils respektieren, teils desavouie- philologien deckt.
ren, dass sie ihm Stellen gelegentlich nicht Insofern kann und sollte man Deutsch als
zubilligen, dass manchmal einerseits ein Fremdsprache als eine Fremdsprachenphilo-
Fremdsprachendidaktiker, andererseits ein logie auffassen (wie auch die Auslandsgerma-
Germanist als „von außen“ kommender nistik eo ipso Fremdsprachenphilologie ist).
„Fremdkörper“ im Bereich „Deutsch als Mit den Fremdsprachenphilologien und mit
Fremdsprache“ empfunden wird. Von der Sa- der Auslandsgermanistik ist das Fach da-
che her nicht bedeutsam dürfte auch sein, ob durch verbunden, dass sein Hauptanliegen
das Fach universitär als eigenes Institut oder das Lehren und Lernen einer Fremdsprache
im Rahmen von Fremdspracheninstituten ist, dass die Außenperspektive konstitutiv ist,
oder von Germanistischen Instituten eta- die oft neue (und andere) Deutungen eröff-
bliert ist. net, die der Binnenperspektive verschlossen
b) Inhaltlich wird oftmals die Alternative geblieben sind. Dabei sind nicht nur sprachli-
„germanistische vs. fremdsprachenwissen- che, sondern auch landeskundliche, literari-
schaftliche Schwerpunktsetzung“ vermischt sche und kulturelle Kontraste gemeint, ein-
oder gekoppelt mit der Alternative „linguisti- mal ganz abgesehen von der Didaktik (deren
sche vs. didaktische Schwerpunktsetzung“. Differenzierung sich schon dadurch ergibt,
Beide Alternativen sind nicht identisch: Ge- dass Fremdsprachenerwerb anders funktio-
wiss ist eine germanistische Schwerpunktset- niert als Mutterspracherwerb). Die Auffas-
zung zumeist verbunden mit einer primär lin- sung von Deutsch als Fremdsprache als
guistischen Ausrichtung (sehen wir einmal Fremdsprachenphilologie bedeutet jedoch
von der „interkulturellen Germanistik“ ab, keine „Abkoppelung“ von der Germanistik
die ein Kind der Literaturwissenschaft ist); (wie das oft von didaktischer Seite suggeriert
aber eine fremdsprachenwissenschaftliche wird). Völlig unbegründet ist eine Isolierung
Orientierung führt u. E. nicht notwendig zu von der Auslandsgermanistik (auf Grund der
einer didaktischen Dominanz. Gemeinsamkeiten in Gegenstand, Perspek-
tive und Methodologie), unbegründet aber
Dies wird deutlich, wenn man nach den Be- auch eine völlige Abkoppelung von der
ziehungen von „Deutsch als Fremdsprache“ muttersprachlichen Binnengermanistik (auf
zu den genannten Fächern unter dem Aspekt Grund der Gemeinsamkeiten im Gegenstand
des Gegenstandes und der Methoden fragt und der von ihr gewonnenen Einsichten in
(vgl. auch Neuner 1993; 1995): Vom Gegen- die deutsche Sprache) (vgl. auch Glück 1991).
stand der deutschen Sprache her weist Kurz gesagt: Die auf der Außenperspektive
Deutsch als Fremdsprache Gemeinsamkeiten begründete Auffassung von Deutsch als
sowohl mit der Inlands- als auch mit der Aus- Fremdsprache als Fremdsprachenphilologie
landsgermanistik auf. Von der Perspektive bedeutet weder eine Identität mit noch eine
auf diesen Gegenstand („Außenperspektive“) Abkoppelung von der (Binnen-)Germanistik.
her unterscheidet es sich deutlich von der Dass innerhalb der Germanistik für Deutsch
Binnengermanistik und zeigt Gemeinsamkei- als Fremdsprache die Sprachwissenschaft die
ten sowohl mit der Auslandsgermanistik als entscheidende Rolle spielt, dürfte kaum zu
auch mit anderen Fremdsprachenphilologien bestreiten sein; einmal wegen des Lernens
(also z. B. der Anglistik in Deutschland oder und Lehrens der deutschen Sprache (als des
der Germanistik in Frankreich (vgl. Helbig zentralen Gegenstandes von „Deutsch als
1997a, 92f.)). Bereits Weinrich (1979, 1f.) ⫺ Fremdsprache“), aber auch wegen der sekun-
dessen Aufsatz oft als „Konstituierungsur- dären Rolle der anderen Komponenten (Lan-
kunde“ für Deutsch als Fremdsprache ange- deskunde, Literatur u. a.), die schon durch
2. Linguistischer Ansatz 15

den zumeist eingeschränkten Umfang im Un- werbende Sprache eine zentrale Rolle unter
terricht bedingt ist. Wenn statt „Fremdspra- den verschiedenen Komponenten des Faches.
chenphilologie“ ein Terminus wie „Fremd- Von diesem „archimedischen Punkt“ aus
sprachenwissenschaft“ favorisiert wird (vgl. muss Deutsch als Fremdsprache betrieben
Henrici 1989, 14; 1995), dürfte es sich eher werden (vgl. Glück 1998, 3ff.); genau dies ist
um einen rein terminologischen Ersatz han- das Credo des im Folgenden genauer zu be-
deln (um einem zu engen und traditionellen schreibenden „linguistischen Ansatzes“ für
Verständnis von „Philologie“ zu entgehen). das Fach „Deutsch als Fremdsprache“.
Auf jeden Fall bedeutet eine Auffassung von
Deutsch als Fremdsprache als Fremdspra-
chenphilologie nicht automatisch oder not- 3. Was heißt „linguistischer Ansatz“?
wendig eine primär oder gar ausschließlich
Unter „linguistischem Ansatz“ wird die
didaktische bzw. lehr- und lernwissenschaft-
Summe aller Auffassungen verstanden, die
liche Bestimmung oder Dominanz des Fa-
der Sprache unter den verschiedenen Kom-
ches. Mitunter gewinnt man den Eindruck,
ponenten des Faches „Deutsch als Fremd-
als ob (aus Berührungsangst und/oder Selbst-
sprache“ die zentrale Rolle zuschreiben, in
rechtfertigungsdruck) aus der angestrebten
ihr eben den „archimedischen Punkt“ sehen,
Loslösung von der (Binnen-)Germanistik in
der Ausgangs- und Bezugspunkt des Faches
mechanischer Weise auf eine solche einseitige
ist. Da eine (Fremd-)Sprache erworben/ver-
didaktische Dominanz geschlossen wird.
mittelt werden soll, bedarf es nicht nur ent-
Eine solche ⫺ nach der „Linguistisierung“
sprechender Fähigkeiten und Fertigkeiten in
des Fremdsprachenunterrichts ⫺ abermals
dieser Sprache, dazu bedarf es auch solider
einseitige Schwerpunktsetzung verbietet sich
Kenntnisse über diese Sprache, mindestens
aus prinzipiellen Gründen: Wenn es bei
für den Lehrbuchautor und den Lehrer, z. T.
Deutsch als Fremdsprache um das Lehren
aber auch ⫺ abhängig vom Bedingungsge-
und Lernen von Deutsch als Fremdsprache
füge des konkreten Sprachunterrichts, der
geht, kann das Wie (des Lernens und Leh-
„Faktoren-Komplexion“, die den Unterricht
rens) nicht von dem abgekoppelt werden, was
determiniert ⫺ auch für den Lernenden. Ein-
gelernt und gelehrt wird (das Deutsche als
facher gesagt: Der linguistische Ansatz ba-
Fremdsprache). In der in diesem Buch vertre-
siert auf der Einsicht, dass man zuerst und
tenen Gegenstandsbestimmung verweist
vor allem wissen muss, was erworben/vermit-
Deutsch auf den (Lern-)Gegenstand, Fremd-
telt werden soll (nämlich die Strukturen und
sprache auf die Perspektive und Methodolo-
Funktionen der zu erwerbenden/vermitteln-
gie, Lernen und Lehren auf den Erwerb und
den Sprache ⫺ in diesem Falle: des Deut-
die Vermittlung (die selbst zum Gegenstand
schen), ehe man sich für bestimmte Strate-
der Reflexion werden). Erst alle diese
gien und Taktiken entscheiden kann, wie die
Aspekte zusammen machen das einheitliche
Vermittung in optimaler Weise erfolgen sollte
Fach „Deutsch als Fremdsprache“ aus, das
(didaktisch-methodisch), die sich wiederum
weder einfach „angewandte Sprachwissen-
nur aus allgemeinen Erkenntnissen über
schaft“ oder „angewandte Germanistik“
Struktur und Ablauf von Erwerbsprozessen
noch einfach „angewandte Spracherwerbs-
ergeben.
forschung“ oder „angewandte Sprachlehr-
Allerdings sind die Auffassungen selbst in-
und -lernforschung“ ist.
nerhalb dieses linguistischen Ansatzes keines-
Dennoch sind die verschiedenen Kompo-
wegs einheitlich und völlig homogen. Wesent-
nenten des Faches nicht völlig gleichwertig.
liche Unterschiede bestehen offenkundig
Ein bestimmtes Hierarchieverständnis ergibt
mindestens in zweifacher Hinsicht:
sich schon daraus, dass das Was gegenüber
dem Wie primär ist, andererseits der Erwerbs- 1. Innerhalb eines „linguistischen Ansatzes“
prozess nicht gegenüber dem Gegenstand des gibt es entweder die Variante, dass Deutsch
Erwerbs als autonom angesehen werden als Fremdsprache ausschließlich auf die lin-
kann. Im Fremdsprachenunterricht (und in guistische Komponente reduziert wird (im
Deutsch als Fremdsprache) geht es immer um Extremfall die anderen Komponenten ⫺ aus
den Erwerb einer Sprache (als des zu erwer- welchen Gründen auch immer ⫺ ausge-
benden Gegenstandes). Der zu erwerbende schlossen werden) und damit das Fach auf
Gegenstand determiniert immer Struktur und „angewandte Linguistik“ verkürzt wird, oder
Ablauf des Erwerbsprozesses und nicht um- die andere Variante, dass das Fach interdiszi-
gekehrt. Auf diese Weise gewinnt die zu er- plinär verstanden wird, also mehrere Kom-
16 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

ponenten angenommen werden, von denen (Rahmenbau), auf die Voranstellung/Satz-


freilich die Sprache in das Zentrum gerückt gliedstellung des attributiven Adjektivs und
wird. Im vorliegenden Buch wird für die den unflektierten Gebrauch des prädikativen
zweite Variante argumentiert (vgl. Art. 1 und Adjektivs (im Unterschied z. B. zum Frz.),
Art. 2, Abs. 1. und 2.). auf die fehlende Markierung der Adjektiv-
2. Innerhalb eines „linguistischen Ansatzes“ Adverbien, auf das deontische und epistemi-
gibt es Meinungsverschiedenheiten darüber, sche System der deutschen Modalverben, auf
welche Aspekte der Sprache als besonders re- Tempus-, Modus- und Genussystem des
levant für den Fremdsprachenunterricht (und Verbs, auf den „externen“ possessiven Dativ
damit auch für Deutsch als Fremdsprache) im Deutschen (etwa: Ich wasche mir die
angesehen werden. Es handelt sich um solche Hände vs. I wash my hands), die besondere
Fragen, welche Rolle die Kontraste zwischen Rolle der Modalpartikeln im Deutschen, auf
Sprachen (die Konfrontative bzw. Kontra- das Fehlen eines speziellen Reflexivprono-
stive Linguistik), welche Rolle der System- mens in der 1./2. Pers. im Deutschen (etwa:
aspekt der Sprache im Verhältnis zur kom- mir vs. myself), auf die vielfache Formen-
munikativen Verwendung der Sprache und gleichheit von substantivischen Pronomina
welche Rolle innerhalb des Systemaspekts die und entsprechenden Artikelwörtern im Deut-
Grammatik und die Lexik (das Lexikon) schen (z. B. dieser) im Unterschied zu ande-
spielen, und schließlich um die Frage, ob die ren Sprachen u. v. m.
linguistische Grammatik von den Formen Dennoch wäre es zu einfach und zu kurz-
(„Ausdrucksgrammatik“) oder von den schlüssig, den linguistischen Anteil (die lin-
Funktionen („Inhaltsgrammatik“) ausgehen guistische Komponente) des Fremdsprachen-
sollte. Alle diese Fragen sind noch umstritten unterrichts (und damit auch von Deutsch als
und haben unterschiedliche theoretische Vor- Fremdsprache) auf den konfrontativen/kon-
aussetzungen und Implikationen. Auf diese trastiven Vergleich mehrerer Sprachen zu re-
Fragen und Unterschiede soll deshalb in den duzieren, dies mindestens aus folgenden
nächsten Absätzen genauer eingegangen wer- Gründen (vgl. Helbig 1981, 70ff.; 1986a;
den. 1994, 89ff.; 1997a, 95f.; 1997b, 135f.; vgl.
auch Art. 14, Abs. 2.8.):
4. Kontrastive Linguistik vs. 1. Der kontrastive Sprachvergleich war ur-
Einzeldeskription sprünglich mit dem (praktischen) Ziel ange-
treten, jene Probleme zu finden und zu be-
Die für alle Komponenten von Deutsch als schreiben, die die Sprecher einer Sprache ha-
Fremdsprache unverzichtbare und konstitu- ben würden, wenn sie eine andere Sprache
tive Außen- und Fremdperspektive hat in der lernen ⫺ in der zunächst unterstellten An-
linguistischen Komponente schon früh zu nahme, dass die in der Muttersprache glei-
dem Gebot geführt, die deutsche Sprache chen oder ähnlichen Elemente für den Ler-
nicht unabhängig von anderen Sprachen, nenden einfach, die von der Muttersprache
sondern immer im Kontext mit ihnen zu se- abweichenden Elemente aber schwierig sein
hen (vgl. Weinrich 1979, 2ff.). Der Sprach- würden. Diese Annahme (der Glaube, durch
vergleich ⫺ typologischer und vor allem kon- die Interferenz der Muttersprache bedingte
trastiver/konfrontativer Art ⫺ erweist sich Fehler in direkter Weise voraussagen zu kön-
deshalb als zentraler Bereich der linguisti- nen) hat sich indes nicht bestätigt, die ur-
schen Komponente von Deutsch als Fremd- sprüngliche Zielstellung als unzureichend (als
sprache (vgl. ausführlicher Art. 27⫺49). Das „Falschziel“) erwiesen, ⫺ und zwar aus theo-
führte zu der berechtigten Forderung, dass retischen sowie aus praktischen Gründen: aus
Lehrer des Deutschen als Fremdsprache theoretischen Gründen deshalb, weil die
mehrere Fremdsprachen kennen sollten, da- Kontraste immer nur auf dem Hintergrund
mit sie die deutsche Sprache auf dem Hinter- eines vollständigen und systematischen Ver-
grund eines Vergleichs mit anderen Sprachen gleichs von Einzelsprachen ermittelt werden
(vor allem: mit der Muttersprache der Ler- können (daraus entstand die mancherorts
nenden) vermitteln können. In der Tat treten vorgenommene Unterscheidung von kon-
auf diesem Wege zahlreiche Spezifika des frontativer und kontrastiver Grammatik, wo-
Deutschen besonders deutlich zutage und er- bei erstere eine theoretische Disziplin ist mit
leichtern den Lernprozess. Wir verweisen dem Ziel, Gemeinsamkeiten und Unter-
z. B. auf die Wortstellung/Satzgliedstellung schiede zwischen Einzelsprachen aufzudek-
2. Linguistischer Ansatz 17

ken, letztere sich ⫺ als praktische Anwen- kann, sondern immer nur Teile, Ebenen, Sub-
dung ⫺ auf die Unterschiede beschränkt); systeme oder ⫺ in den meisten Fällen ⫺ nur
aus praktischen Gründen deshalb, weil im einzelne Kategorien. Dabei taucht von selbst
Fremdsprachenunterricht keineswegs nur die die Frage auf, welche Teile und welche Kate-
(starken) Kontraste, sondern auch und ge- gorien miteinander vergleichbar sind ⫺ eine
rade die Ähnlichkeiten und schwachen Kon- Frage, die vor allem dann nicht leicht zu be-
traste fehleranfällig sind (faux amis), so dass antworten ist, wenn sich die Kategorien der
Schwierigkeiten beim Lernen einer Fremd- zu vergleichenden Sprachen nicht geradlinig
sprache keineswegs als direkte und geradli- entsprechen, wenn die Kategorien der einen
nige Folge von Strukturdifferenzen zwischen Sprache Entsprechungen in anderen Katego-
Sprachen angesehen werden können. Über- rien der zweiten Sprache haben, wenn es für
dies gibt es mehrere Arten von Fehlern, bestimmte grammatische Erscheinungen der
durchaus nicht nur solche, die sich aus dem einen Sprache im grammatischen System der
Verhältnis zur Muttersprache ergeben, son- anderen Sprache keine direkten oder über-
dern auch solche, die durch andere Faktoren haupt keine Entsprechungen, möglicherweise
(z. B. durch Übergeneralisierung) bedingt auch Entsprechungen in anderen Subsy-
sind, also Fehler in der Fremdsprache selbst stemen der Sprache gibt (vgl. z. B. die
(Intraferenzen) sind. Aspekte in slawischen Sprachen, die keine di-
2. Die Auffassung, dass man mit dem kon- rekte Entsprechung im Deutschen, die Arti-
trastiven Sprachvergleich eine Art „Allheil- kel im Deutschen, die keine Entsprechung in
mittel“ für die Optimierung des Fremdspra- slawischen Sprachen haben, oder die deut-
chenunterrichts gefunden habe, wurde auch schen Abtönungspartikeln, die in anderen
durch die zunehmende Einsicht in Frage ge- Sprachen oft anders ausgedrückt werden).
stellt, dass kontrastive Arbeiten immer die Die metasprachliche Komparabilität bezieht
Einzelbeschreibung der zu vergleichenden sich nicht auf die zu vergleichenden Segmente
Sprachen voraussetzen ⫺ entsprechend der der Sprache selbst, sondern auf die Vergleich-
alten Forderung „Beschreiben vor Verglei- barkeit der Beschreibungen der zu verglei-
chen“. Eine konfrontative Grammatik kann chenden Sprachen. Für einen Sprachvergleich
⫺ wenn sie nicht aphoristisch und anekdo- genügt also nicht die vorhandene Beschrei-
tenhaft bleiben soll ⫺ die vollständige Be- bung der Einzelsprachen schlechthin, son-
schreibung der zu vergleichenden Sprache dern es muss sich um vergleichbare Beschrei-
weder ersetzen noch abkürzen. Sie setzt somit bungen handeln, um Beschreibungen auf der
mindestens zwei Grammatiken von Einzel- Basis der gleichen Sprach- und Grammatik-
sprachen voraus, die miteinander und zuein- theorie, mit Hilfe der gleichen Methoden und
ander in Beziehung gesetzt werden. Obwohl der gleichen Termini (also: um theoretische,
damit zwar der konfrontative Vergleich ⫺ methodologische und terminologische Ver-
auch in Qualität und Aussagekraft ⫺ von gleichbarkeit). Wenn diese nicht gegeben ist
vorgängigen einzelsprachlichen Beschreibun- (z. B. beim Vorliegen einer generativen Be-
gen abhängig ist, ist auf der anderen Seite die schreibung der betreffenden Kategorie im
(in früheren strukturalistischen Arbeiten ent- Englischen und einer strukturalistischen oder
haltene) kurzschlüssige Vorstellung unzutref- funktionalen Beschreibung derselben Kate-
fend, dass sich der Vergleich aus den Einzel- gorie im Deutschen), ist ein sinnvoller Ver-
beschreibungen gleichsam von selbst ergebe. gleich mindestens erschwert, wenn nicht
Vielmehr muss zwischen der getrennten Des- unmöglich: Die Beschreibungen müssten erst
kription der Einzelsprachen und dem Ver- ineinander übersetzt werden, was beim ge-
gleich eine wichtige Zwischenstufe eingescho- genwärtigen Stand der Dinge zu kaum über-
ben werden, auf der zunächst die Vergleich- windbaren Schwierigkeiten führen würde.
barkeit (Komparabilität) festgestellt werden 4. Bereits die Einzelbeschreibungen vor dem
muss. eigentlichen Vergleich müssen für Deutsch als
3. Bei der Vergleichbarkeit geht es sowohl Fremdsprache (wie auch für jeden anderen
um objektsprachliche als auch um meta- Fremdsprachenunterricht) aus der Außenper-
sprachliche Komparabilität. Objektsprach- spektive vorgenommen werden, so dass das
liche Komparabilität meint Vergleichbarkeit Deutsche als „verfremdet“ erscheint. Es ist
im Objekt Sprache selbst und ist notwendig, ein häufiges Missverständnis, anzunehmen,
weil man nicht Unvergleichliches und in der dass die einzelsprachliche Beschreibung aus
Regel auch nicht in einem Schritt ganze Spra- der Binnenperspektive vorgenommen werde
chen in extenso miteinander vergleichen und erst der (explizite) kontrastive Vergleich
18 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

⫺ gleichsam „zusätzlich“ ⫺ die Außenper- den auf diese Weise nicht negativ bewertet,
spektive ins Spiel bringe. Vielmehr unter- sondern sind Signale für Fortschritte im Lern-
scheiden sich Binnen- und Außenperspektive prozess (die auf späteren Stufen dieses Prozes-
schon bei der Einzeldeskription. Deshalb ses wieder überwunden werden); dies gilt ins-
wird grundsätzlich vom Unterschied zwi- besondere für „Übergeneralisierungen“ (z. B.
schen „Muttersprach-“ und „Fremdspra- des Typs *er schwimmte statt er schwamm; *ich
chengrammatiken“ gesprochen (vgl. Art. 14, musse statt ich muss). Der „Kontrastiven Hy-
Abs. 2.7.). Weil die deutsche Sprache aus der pothese“ wurde somit die „Interferenzhypo-
Außenperspektive „verfremdet“ erscheint, these“ gegenübergestellt, den Interimsspra-
müssen Beschreibungen für Deutsch als chen wandte sich vor allem die „Zweitspra-
Fremdsprache andere Proportionen der Teil- chenerwerbsforschung“ zu (Felix 1982).
gegenstände haben (als aus der „natürlichen“ 7. Schließlich wurde der Wert der konfron-
Binnenperspektive) und vor allem auch expli- tativen Analyse manchmal mit dem Argu-
ziter sein, damit Erklärungen abgegeben wer- ment in Frage gestellt, dass der Lernende oh-
den können für Lernende, die noch nicht nehin nicht vergleichen könne, weil er zu-
über eine ausgebaute Kompetenz verfügen meist nicht bewusst und reflexiv über die
(wie die Muttersprachler) (vgl. Helbig/Buscha Strukturen seiner Muttersprache verfüge. An
1991, 17f.). Diese tragende Idee liegt auch diesem Argument mag die Prämisse richtig
der Reihe „Eurogermanistik“ zugrunde: Der sein (in der Tat sind die meisten Lernenden
eigenständige Beitrag der „Xeno-Germani- nicht in der Lage, explizit über die Regeln ih-
sten“ wird ⫺ völlig zu Recht ⫺ darin gese- rer Muttersprache Auskunft zu geben ⫺ trotz
hen, dass das Deutsche für die ausländischen der vorhandenen Kompetenz, die jeweils ein
Germanisten immer eine Fremdsprache implizites Wissen ist), die Schlussfolgerung ist
bleibt (folglich viele Eigenschaften ins Auge jedoch nicht stichhaltig, weil sie den Nutzer-
fallen, die dem Muttersprachler meist ver- kreis für kontrastive Analysen auf die Ler-
schlossen bleiben), dass andererseits die deut- nenden reduziert (und damit Lehrbuchauto-
sche Sprache „so weit zu erklären“ ist, „daß ren und Lehrer ⫺ als wichtige und unver-
sie lehr- und lernbar wird“ (Valentin 1992, zichtbare Vermittlungsinstanzen zwischen
VII). Linguistik und Sprachunterricht ⫺ über-
5. Kritische Stimmen gegen die konfronta- springt). In Wahrheit sind die primären Nut-
tive Analyse kamen auch von der empirischen zer kontrastiver Analysen die Lehrbuchauto-
Fehleranalyse, weil deren Ergebnisse nicht ren und Lehrer: Wenn das Lehrmaterial kon-
(immer) mit den Vorhersagen der konfronta- trastiv gestaltet ist und der Lehrer den Unter-
tiven Analyse übereinstimmten: Die Fehler- richt kontrastiv anlegt/steuert, muss der Ler-
analysen wiesen Fehler nach, die die kontra- nende u. U. nicht selbst den Vergleich vor-
stiven Analysen nicht vorhergesagt hatten, nehmen. Auf jeden Fall sind kontrastive Ana-
und umgekehrt fehlten in ihnen z. T. solche lysen linguistischer (nicht didaktischer)
Fehler, die entsprechend den kontrastiven Natur; deshalb bedürfen sie der Umsetzung
Analysen hätten auftreten müssen. Diesem aus der „linguistischen Grammatik“ in eine
Einwand ist freilich damit zu begegnen, dass „didaktische Grammatik“ (vgl. Art. 15).
konfrontative Analyse und empirische Feh-
leranalyse unterschiedliche Ziele verfolgen Durch diese Einwände und Einschränkungen
(die Fehleranalyse sammelt a posteriori alle ist die ursprüngliche Euphorie im Hinblick
Fehler, kann sie aber nicht erklären; die kon- auf die Leistungsfähigkeit der konfrontativen
trastive Analyse richtet sich nur auf den Teil- Linguistik mancherorts in ihr Gegenteil um-
bereich der Fehler, die sich aus dem Verhält- geschlagen. Der anfänglichen Überbewertung
nis von Mutter- und Fremdsprache ergeben (als „Allheilmittel“ für den Fremdsprachen-
können) und folglich eher als komplementär unterricht, als Mittel zur Fehlerprognose)
anzusehen sind. folgte eine ⫺ aus der Kritik erwachsene ⫺
6. Im Zusammenhang mit der theoretischen Unterbewertung. Gegenüber diesen beiden
Analyse von Fehlern wurde von anderer Seite (falschen) Extremen kommt es darauf an,
gezeigt, dass sich im Lernprozess (unabhängig nüchtern zu erwägen, was die Konfrontation
von den Muttersprachen) „Zwischenspra- leisten, was sie nicht leisten und was sie nur
chen“ (mit bestimmten „Fehlern/Abweichun- in Kooperation mit anderen Disziplinen lei-
gen“) herausbilden, die als „approximative sten kann. Sie kann gewiss die einzelsprach-
Systeme“ zwischen den beiden Sprachen auf- liche Deskription (vor ihr) und auch die di-
gefasst werden. Solche „Erwerbsfehler“ wer- daktische Adaption (nach ihr) nicht ersetzen;
2. Linguistischer Ansatz 19

sie kann aber ebensowenig durch diese er- wird in den Termini der anderen beschrieben,
setzt werden. die ihrerseits lediglich als Hintergrund und
Um den Wert und Nutzen der konfrontati- Anknüpfungspunkt erscheint, aber nicht als
ven Linguistik adäquat einzuschätzen, sollten vollständiger Gegenstand der Beschreibung.
auch ihre verschiedenen Möglichkeiten im Die Konfrontation als Ermittlungsmethode
Auge behalten werden: ist oft und längst bewusst von Sprachwissen-
schaftlern und intuitiv auch von Fremdspra-
a) Ein konfrontativer Vergleich kann ent-
chenlehrern (meist nicht systematisch, eher
weder eine Sprache auf eine andere abbilden:
spontan) benutzt worden mit dem Ziel, von
Dabei ist die Ausgangssprache das Bezugs-
verschiedenen Erscheinungen einer Sprache
system für die Beschreibung der Zielsprache,
B her bestimmte Erscheinungen einer Spra-
dabei ist grundsätzlich keine Metasprache ⫺
che A (der eigentlich zu beschreibenden Spra-
als Tertium comparationis außerhalb der zu
che) zu differenzieren und abzugrenzen (z. B.
vergleichenden Einzelsprachen ⫺ nötig, wird
Bedeutungsvarianten von deutschen Präposi-
in der Regel nur eine Sprache (die Fremd-
tionen oder Konjunktionen durch Vergleich
sprache) vollständig und systematisch be-
mit Äquivalenten in anderen Sprachen), ohne
schrieben, die als Bezugspunkt dienende
dass dies ⫺ als bloße Ermittlungsprozedur ⫺
Sprache tritt dagegen nur selektiv in Erschei-
in die Darstellung selbst eingeht (vgl. Helbig/
nung; dieser Vergleich kann immer nur in ei-
Buscha 1990). Bei der Konfrontation als
ner Richtung vorgenommen werden, ist also
Darstellungsmethode geht es um weit mehr:
unilateral. Oder er kann eine vollständige Be-
um eine systematische und vollständige Er-
schreibung von Gemeinsamkeiten und Un-
fassung von Gemeinsamkeiten und Unter-
terschieden der zu vergleichenden Sprachen
schieden sowie um eine Korrelation der Aus-
anstreben, bei der beide Sprachen gleichwer-
drucksmittel beider Sprachen, die auf diese
tig sind (ein solcher Vergleich ist bilateral,
Weise gleichwertig sind.
also in beiden Richtungen durchführbar, ist
c) Diese Unterscheidung lässt zugleich er-
aber auf eine Metasprache als gemeinsames
kennen, dass einzelsprachliche Deskription
Bezugssystem angewiesen, d. h. auf ein unab-
und Konfrontation nicht in einen absoluten
hängig von den Einzelsprachen existierendes
Gegensatz zueinander gebracht werden kön-
oder hypothetisch anzunehmendes Merkmal-
nen: Es gibt einzelsprachliche Beschreibun-
oder Regelsystem, das mindestens interlin-
gen des Deutschen, die sich der Konfronta-
gual, wenn nicht universal sein sollte, das
tion als Ermittlungsmethode bedienen. Dar-
aber bisher nur in Ansätzen vorliegt, von un-
über hinaus besteht zwischen Einzelbeschrei-
terschiedlichen Grammatiktheorien abhängig
bung und konfrontativem Vergleich kein uni-
ist und deshalb nicht immer allgemein akzep-
direktionales Verhältnis. Obwohl grundsätz-
tiert wird ⫺ vgl. etwa die distinktiven Merk-
lich der konfrontative Vergleich die einzel-
male der Phonologie, die semantischen Merk-
sprachlichen Beschreibungen voraussetzt,
male u. a.). Nicht zufällig ist gewiss, dass der
gibt es Rückwirkungen des Vergleichs auf die
deskriptive Strukturalismus eher zu einem
einzelsprachliche Deskription, vor allem
unilateralen Vergleich neigt (vorhandene Ge-
durch Reinterpretationsmöglichkeiten für die
meinsamkeiten von Sprachen treten bei ihm
Einzelsprache, die sich erst aus dem Ver-
ohnehin in den Hintergrund), die generative
gleich ergeben.
Grammatik dagegen (auf Grund ihres kom-
plexen Modells mit mehreren Repräsenta-
tionsebenen eher zu einem bilateralen (oder 5. System vs. Kommunikation
multilateralen) Vergleich.
b) Damit zusammen hängt die Unterschei- Eine weitere Kontroverse innerhalb des lin-
dung zwischen der Konfrontation als Me- guistischen Ansatzes ist mit der (einseitigen)
thode zur Gewinnung neuer linguistischer Orientierung entweder am internen Sprach-
Erkenntnisse (als Ermittlungsmethode) und system oder an der Kommunikation verbun-
der Konfrontation als Mittel zur Darstellung den. Bei der linguistischen Beschreibung des
linguistischer Erkenntnisse (als Darstellungs- Deutschen als Fremdsprache sollte es sich
methode) (vgl. Jäger 1972, 233ff.). Bei der nicht um einseitige und verkürzte Beschrei-
Konfrontation als Ermittlungsmethode ist in bungen handeln, weder um eine Reduzierung
der Regel nur eine Sprache (vollständiger) auf die Grammatik noch um eine solche auf
Gegenstand der Beschreibung, die andere ist kommunikativ-pragmatische Sachverhalte.
(gelegentliche) Bezugsgröße: Eine Sprache Nachdem früher das Sprachsystem im Mittel-
20 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

punkt (sowohl in der linguistischen Beschrei- „externen“ Faktoren determiniert und nur auf
bung als auch bei der Vermittlung im diese Weise vollständig zu erklären sind. Das
Fremdsprachenunterricht) stand, hat sich in führte zu einer Abwendung von der reinen
neuerer Zeit ein (scheinbarer) Gegensatz her- „Systemlinguistik“ (wie sie vielfach abschätzig
ausgebildet, bedingt durch die „kommunika- genannt wurde) zu einer mit der Kommunika-
tiv-pragmatische Wende“ in der Sprachwis- tionslinguistik verknüpften Ausweitung des
senschaft seit 1970 (das Interesse verlagerte Gegenstandsbereichs der Sprachwissenschaft
sich von den internen ⫺ morphosyntakti- und zum Entstehen neuer Teildisziplinen wie
schen und semantischen ⫺ Eigenschaften des z. B. Textlinguistik, Sprechakttheorie, Ge-
Sprachsystems auf die Funktionen der Spra- sprächsanalyse, Sozio- und Psycholinguistik
che in der Kommunikation und Interaktion) (die Ausschnitte aus einem komplexen Ob-
und die kommunikative Orientierung des jektbereich darstellen und deshalb auch un-
Fremdsprachenunterrichts (primäre Ziele wa- tereinander zusammenhängen). Bei dieser
ren nicht mehr Kenntnisse, sondern Fähig- Entwicklung wurde der Kommunikationsbe-
keiten und Fertigkeiten). „Grammatik“ und griff oft überbetont und entleert, wurde auch
„Kommunikation“ sind geradezu Reizwörter das alte Wertesystem (mit dem absoluten
geworden; es schien zeitweilig, als ob Gram- Vorrang des Sprachsystems) oft einfach und
matik und Kommunikation in einem alterna- undialektisch umgekehrt, und so vollzog sich
tiven Verhältnis zueinander stünden (vgl. mancherorts eine ersatzlose Abkehr von der
Helbig 1987; 1991; 1992a, 1994, 91f.; 1997a, Grammatik und von der Systemlinguistik,
96ff.; 1997c; Götze 1991; 1995). Vielerorts die schließlich dazu führte, dass spezifisch
hat sich die (wiederum einseitige) Vorstellung sprachliche Aspekte in den Hintergrund tra-
festgesetzt, es komme ausschließlich auf die ten und eher im Rahmen soziologischer, psy-
Kommunikation an, sprachsystematische Er- chologischer und kommunikationstheoreti-
kenntnisse indes seien sekundär oder gar scher Gesichtspunkte behandelt wurden (vgl.
überflüssig. Auf diesem Wege ist die Gram- Motsch 1984, 328). Was als Gegenstandser-
matik in ungerechtfertigter Weise in Verruf weiterung legitim und notwendig war, wurde
gebracht worden (auch in ihrer Bedeutung als Gegenstandswechsel, als Ersatz eines alten
für den Fremdsprachenunterricht) ⫺, gewiss Gegenstands (Grammatik) durch einen
bedingt auch durch ein zu enges Verhältnis neuen Gegenstand (Kommunikation), ver-
von Grammatik (beschränkt nur auf die standen und (miss-)interpretiert (vgl. Har-
Morphosyntax oder gar nur auf Konjuga- tung 1981, 1311). Die Polemik gegen die
tions- und Deklinationsparadigmen). Inzwi- Grammatik wird immer dann ungerechtfer-
schen hat sich jedoch gezeigt, dass sich die tigt, wenn sich die kommunikativ orientierte
Grammatik nicht aus dem Fremdsprachen- Linguistik gegen die Grammatik zu profilie-
unterricht hat vertreiben lassen (vgl. auch ren sucht und sich auf diese Weise vom
Glück 1994, 155f.; Rösler 1994, 57ff.; Gnutz- Sprachsystem abkoppelt. Demgegenüber hat
mann/Königs 1995, 13; Götze 1993); es hat sich in zunehmendem Maße die Einsicht
sich die Einsicht durchgesetzt, dass auch ein durchgesetzt, dass das alte Wertesystem nicht
kommunikativer Unterricht eine grammati- einfach umgekehrt werden darf, dass das
sche Komponente enthalten muss, das zwi- Sprachsystem vielmehr in Beziehung zu set-
schen den Reizwörtern „Grammatik“ und zen ist zu anderen und übergreifenden (kom-
„Kommunikation“ nur eine unechte Alterna- munikativen und interaktionalen, psycholo-
tive besteht, weil die kommunikative Kompe- gischen und sozialen) Determinanten, dass es
tenz (als Ziel) die grammatische Kompetenz aber eine entscheidende Rolle bei der Erfor-
(als Mittel) einschließt bzw. voraussetzt. schung natürlicher Sprachen behält (behalten
Das gilt sowohl für die Sprachwissenschaft muss). Vor allem im Rahmen von modularen
selbst als auch für den Fremdsprachenunter- Konzepten der kognitiven Linguistik ist deut-
richt. In der Sprachwissenschaft wurde die lich geworden, dass Struktur und Funktion
„kommunikativ-pragmatische Wende“ vor von Kenntnissystemen durch relativ auto-
allem motiviert durch die bisherige Reduk- nome, aber interagierende Teilsysteme (Mo-
tion auf das interne Sprachsystem und die dule) bestimmt sind, dass konkrete Verhal-
stärker akzentuierte Einsicht, dass die tensabläufe in der Regel nicht von einem ein-
sprachlichen Zeichensysteme kein Selbst- zigen Kenntnissystem, sondern von mehreren
zweck sind, sondern ⫺ als Kommunikations- Kenntnissystemen determiniert sind (vgl.
mittel und Handlungsinstrumente ⫺ zu außer- Bierwisch 1987, 645ff.). Das hat entschei-
sprachlichen Zwecken dienen, also auch von dende Konsequenzen für die Sprachkenntnis,
2. Linguistischer Ansatz 21

für die Einbettung der Sprachkenntnis in die formen kommunikativ-pragmatisch motiviert


Gesamtheit mentaler Kenntnissysteme und oder auch nur markiert, wie umgekehrt auch
für das Verhältnis zwischen Grammatik und nicht alle pragmatischen Faktoren einen Re-
Kommunikation: So bedarf z. B. die „wörtli- flex in der Grammatik haben (vgl. Helbig
che Bedeutung“ einer Äußerung (gleichsam 1979, 11ff.). Die Partikeln z. B. sind in star-
im Null-Kontext) ⫺ die allein durch sprachli- kem Maße von pragmatischen Faktoren (der
ches Wissen aufgrund von Kenntnissen des Sprechhandlung, des Gesprächsablaufs und
Sprachsystems zustande kommt (basierend der Textkonnexion) abhängig, folglich mor-
auf Regeln phonetischer, morphosyntakti- phosyntaktisch und semantisch kaum voll-
scher und semantischer Art) ⫺ zunächst der ständig zu erfassen (vgl. Helbig 1988b). Auf
Beziehung auf das konzeptuelle System des der anderen Seite entziehen sich Fragen der
begrifflichen Wissens und der begrifflich Konjugation, der Deklination sowie der
strukturierten Umwelterfahrung (dadurch Oberflächenkasus weitgehend pragmatischen
entsteht eine „kontextuelle Äußerungsbedeu- Erklärungen. Insofern ist Vorsicht geboten
tung“) und danach in einem weiteren Schritt bei Schlagwörtern wie „kommunikative“
auf die soziale Interaktionssituation (aus der oder „pragmatische Grammatik“, weil sie die
sich erst der „kommunikative Sinn“ einer Gefahr implizieren, Grammatik und Kom-
Äußerung ergibt (vgl. Bierwisch 1979, 69ff.). munikation zu vermischen oder zu identifi-
Auf diese Weise erhält die Grammatik ⫺ im zieren (und dabei die Grammatik zu überfor-
Gegensatz zu den häufig anzutreffenden Po- dern, indem sie diese auf regelgeleitetes Ver-
larisierungen Grammatik versus Kommuni- halten überhaupt ausdehnen).
kation ⫺ ihren adäquaten Ort im Gesamtge- Dass sich sprachsystematische (grammati-
füge von Kommunikation und Interaktion. sche) und kommunikative (funktionale) Re-
Der kommunikative und interaktionale geln nicht decken und in keinem 1 : 1-Verhält-
Aspekt der Verwendung von Sprache wird nis zueinander stehen, zeigt sich selbst im Be-
durch das Zusammenwirken von relativ reich der „Satzarten“ (d. h. der Unterschei-
autonomen Teilsystemen begriffen. Von ih- dung von Aussage-, Frage-, Aufforderungs-
nen ist eines das von der Linguistik zu erfas- sätzen u. a.), in dem man ⫺ schon von der
sende Sprachsystem, das allerdings das zen- Terminologie her ⫺ am ehesten eine „funk-
trale Modul ist, auch wenn es nicht verabso- tional-kommunikative“ Erklärung erwarten
lutiert werden darf. Insofern wird weder eine könnte. In der Tat hat man lange Zeit ge-
Überbewertung der Grammatik (wenn das glaubt (und gelehrt), dass eine Frageintention
Modul der sprachlichen Kenntnis zuungun- immer durch einen Fragesatz, eine Aufforde-
sten anderer Module ausgedehnt wird oder rungsintention immer durch einen Aufforde-
als einziges System für die Sprachverwen- rungssatz ausgedrückt werden usw. Inzwi-
dung angesehen wird ⫺ wie z. B. in früheren schen ist längst deutlich geworden, dass es
Versionen der generativen Grammatik) noch keine direkte Entsprechung von Frage und
eine Unterbewertung (wie in kommunikativen Fragesatz, Aufforderung und Aufforderungs-
Konzepten holistischer Provenienz) ihrer satz gibt. Wunderlich (1978, 181ff.) hat mit
Rolle im Kommunikations- und Interak- Recht zwischen Fragesituation, Fragehand-
tionsprozess gerecht. lung und Fragesatz unterschieden: Fragesi-
In diesem Zusammenhang steht auch das tuationen (in denen etwas „unklar“ ist) müs-
mancherorts kontrovers diskutierte Problem, sen nicht notwendig zu Fragehandlungen
ob die kommunikative Orientierung der Lin- führen (zu Aufforderungen an einen Adressa-
guistik notwendigerweise auch zu einer neuen ten, ein Informationsdefizit zu beheben), und
Art von Grammatik, zu einer „kommuni- Fragehandlungen müssen nicht notwendig
kativen“, „situativen“ oder „pragmatischen mit Hilfe von (grammatischen) Fragesätzen
Grammatik“ führen müsse (vgl. Helbig 1986b, ausgedrückt werden. Es ist gerade ein wesent-
14ff.; vgl. Art. 14, Abs. 3.7.). Gegen die Befür- liches Verdienst der Sprechtakttheorie gewe-
worter eines solchen Standpunktes hat Ad- sen, zu zeigen, dass z. B. Aufforderungen
moni (1979) ⫺ u. E. zu Recht ⫺ argumen- eben nicht nur in Aufforderungssätzen, son-
tiert, dass „Grammatik Grammatik bleibt“, dern ⫺ in entsprechenden Kontexten ⫺
weil die kommunikativen Determinanten sich grammatisch auch als Aussagesätze (Es zieht
zwar auf die Grammatik auswirken und ihre hier ⫺ als Aufforderung zum Schließen des
„Projektionen“ in der Grammatik haben, Fensters) oder als Fragesatz (Könnten Sie mir
aber selbst nicht einfach grammatischer Na- Feuer geben?) formuliert werden können. In
tur sind. In der Tat sind nicht alle Ausdrucks- der Sprache gibt es nicht nur grammatische
22 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

Regeln (die die Zuordnung von Form und Gegen diese neue Vereinseitigung sind in
Bedeutung betreffen), sondern auch kommu- jüngster Zeit immer mehr Zweifel artikuliert
nikative Regeln (die die Verwendung von worden. Es ist vor kurzschlüssigen Verabso-
sprachlichen Mitteln für bestimmte Sprech- lutierungen des Kommunikationsgedankens
handlungen regeln) ⫺ und beide Arten von gewarnt worden (vgl. z. B. Gnutzmann/Stark
Regeln sind nicht einfach aufeinander redu- 1982, 20; Reinecke 1985, 17ff.), die den Zu-
zierbar: sammenhang der kognitiven und kommuni-
kativen Funktion der Sprache missachten, die
(1) A: Kannst du mir sagen, wie spät es ist?
Relevanz des Sprachsystems unterbewerten
B: *Ja (, das kann ich).
sowie die Prozesse des Muttersprach- und
(2) A: Kannst du das Fenster öffnen?
Fremdsprachenerwerbs weitgehend gleichset-
B: *Ja, ich kann das Fenster öffnen.
zen. Diese Skepsis ⫺ auch bei Anerkennung ei-
In beiden Fällen ist die Antwort von B gram- ner letztlich kommunikativen Orientierung
matisch richtig: Auf Entscheidungsfragen des Fremdsprachenunterrichts und der „kom-
wird mit Sätzen, mit Satzäquivalenten oder munikativen Kompetenz“ als dessen Ziel ⫺
mit Modalwörtern geantwortet. Aber in bei- ist schon deshalb berechtigt, weil ⫺ auch
den Fällen sind die Antworten von B kom- wenn im Fremdsprachenunterricht eine volle
munikativ inadäquat, weil in (1) als Antwort Sprachbeherrschung wie beim Muttersprach-
die konkrete Angabe der Uhrzeit, in (2) gar ler als Ziel angestrebt wird ⫺ die Wege zu
eine non-verbale Reaktion (das tatsächliche diesem Ziel bei Muttersprach- und Fremd-
Öffnen des Fensters) erwartet wird. Der sprachenerwerb verschieden sind: Die arefle-
grammatische Satz als Entscheidungsfrage xive Beherrschung als Ziel bedeutet für den
(von A) wird ⫺ im entsprechenden Kontext Fremdsprachenunterricht nicht automatisch
⫺ kommunikativ für eine Sprechhandlung auch einen areflexiven Erwerb als Mittel (das
der Aufforderung verwendet. hängt von unterschiedlichen Lernsituationen
In Analogie zur Sprachwissenschaft ent- ab und gilt keineswegs ⫺ im Unterschied zum
stand auch im Fremdsprachenunterricht eine natürlichen Erwerb der Muttersprache ⫺ für
„Entzweiung“ durch die alternative Orientie- die meisten Formen des institutionalisierten
rung auf die beiden Stichwörter „Gramma- Fremdsprachenerwerbs im Unterricht). Dazu
tik“ oder „Kommunikation“. Wie durch die kommt, dass der Begriff der Kommunikation
kommunikativ-pragmatische Wende in der oft allzu stark auf die aktive Kompetenz
Linguistik eine Abkehr von der (ausschließ- (meist sogar auf die mündliche Kommunika-
lichen oder primären) Systemorientierung er- tion nur in einfachen Alltagssituationen) ein-
folgte, so wurden im Fremdsprachenunter- geschränkt und damit auch verengt worden
richt die (älteren) grammatikalisierenden ist ⫺ mit dem Ziel des Zustandekommens der
Übersetzungsmethoden abgelöst durch (jün- Kommunikation „um jeden Preis“. Kommu-
gere) kommunikative Methoden. Diese Ablö- nikation ist zweifellos mehr und umfassender,
sung war motiviert durch die praktischen Be- schließt auch die Rezeption, Dialog sowie
dürfnisse des Fremdsprachenunterrichts, vor Texte aus Massenmedien, Belletristik und
allem durch den Umstand, dass die gramma- Wissenschaft ein, die ein weit höheres Maß
tikalisierenden Übersetzungsmethoden be- an sprachlichem Wissen erfordern.
stensfalls zu Kenntnissen über die Sprache, Die unangemessene Aversion gegen die
aber kaum zu kommunikativen Fähigkeiten Grammatik (auf Grund einer extremen Kom-
und Fertigkeiten in der zu lernenden Sprache munikationsorientierung) führte vielfach auch
führten, also die Lernenden in der Regel zu der falschen Alternative „grammatische
nicht zur Sprachbeherrschung, zur Verwen- Regeln oder kommunikativer Fremdsprachen-
dung der Fremdsprache in der tatsächlichen unterricht“ (vgl. Helbig 1987). Diese Alterna-
Kommunikation führten. Diese berechtigte tive ist deshalb falsch, weil grammatische Re-
Umorientierung (mit dem Ziel des Erwerbs geln objektiv in der Sprache selbst gelten (un-
einer „kommunikativen Kompetenz“) führte abhängig von ihrer Beschreibung durch die
nun freilich häufig zum entgegengesetzten Linguisten und auch von ihrer Beherrschung
Extrem: Die Grammatik wurde unterbewer- durch die Sprecher), weil sie deshalb von den
tet, oft sogar in ihrem Wert für den Fremd- Linguisten (und zwar so genau und so voll-
sprachenunterricht bezweifelt, ihr Anteil am ständig wie möglich) abgebildet werden müs-
Unterricht minimiert, ihr Charakter biswei- sen und auch von den Sprechern (und zwar
len auch verschleiert (vgl. Helbig 1991, 7ff.; ebenso vollständig und genau wie möglich)
1997c, 264ff.). beherrscht, d. h. in ihrer „subjektiven“ oder
2. Linguistischer Ansatz 23

„mentalen Grammatik“ erworben und inte- d. h. nicht zuletzt auch über das Sprach-
riorisiert werden müssen. Das wird deutlich system ⫺ haben.
in „Abweichungen“: Deshalb hat auch Glück (1994, 155f.) ⫺
zu Recht, wenn auch sehr zugespitzt ⫺ be-
(3) *Er springte über den Bach.
tont, dass man Sprachen „immer noch lernt,
(4) *Er besuchte jeden Tag.
indem man Vokabeln paukt und sich gram-
(5) *Peter stirbt manchmal.
matische Strukturen erkämpft“, „alles an-
Es ist offenkundig, dass in (3) eine morpholo- dere“ komme dann später; die „Geschäfts-
gische Regel (der Konjugationsart: regelmä- grundlagen“ (d. h. Grammatik und Lexikon
ßig vs. unregelmäßig), in (4) eine syntaktische als Komponenten des Sprachsystems) blieben
Regel (der Valenz) und in (5) eine semanti- bei aller kommunikativen und interaktiona-
sche Regel (Kompatibilität von semantischen len Orientierung „unveränderbar“. Das
Merkmalen) verletzt sind ⫺, sämtlich also macht den „Kernbereich“ der Disziplin der
Regeln, die in der Sprache selbst enthalten germanistischen Linguistik und auch der lin-
sind, von Linguisten ermittelt und vom Ler- guistischen Komponente von Deutsch als
nenden erworben werden müssen. Fremdsprache aus ⫺ auch wenn sowohl die
Damit hängt die alte Streitfrage nach dem germanistische Linguistik als auch Deutsch
Wert (oder Unwert) der Grammatik für den als Fremdsprache bisweilen (nicht zuletzt
Fremdsprachenunterricht zusammen. Ihre auch durch die kommunikative Wende) in ih-
unterschiedliche Beantwortung ergibt sich rem Kern eher „verrotteten“, dafür an ihren
vor allem aus der Mehrdeutigkeit dessen, was Rändern blühten (vgl. Glück 1998, 5ff.) ⫺
als „Grammatik“ bezeichnet wird. Gewiss einerseits ein Symptom für die viel beschwo-
wird man den Wert der Grammatik für den rene „Krise“ der Germanistik, andererseits
Fremdsprachenunterricht als gering veran- zum Schaden von Theorie und Praxis auch
schlagen, wenn man unter Grammatik das des Faches Deutsch als Fremdsprache.
bloße Lernen von Konjugations- und Dekli-
nationstabellen, eine logisierende Satzanalyse
im traditionellen Sinne oder ein universelles 6. Grammatik vs. Lexikon
logisches System versteht (vgl. Fries 1945,
27ff.). Wenn man jedoch Grammatik als Mit Grammatik und Lexikon sowie ihrem
Zuordnung von Formen und Bedeutungen Verhältnis zueinander ist ein weiteres Pro-
(in den drei genannten verschiedenen Aus- blem innerhalb des linguistischen Ansatzes
prägungsarten ⫺ in der Sprache selbst, im benannt. Unumstritten ist gewiss, dass bei
linguistischen Abbild und als mentale Gram- Sprachverwendung und Spracherwerb Gram-
matik im Sprecher) versteht, kann kein Zwei- matik und Lexikon notwendigerweise zusam-
fel daran bestehen, dass die Grammatik für menwirken. Strittig hingegen ist, wo die
jeden (also auch für den kommunikativen) Grenze zwischen beiden Bereichen liegt, wie
Fremdsprachenunterricht unverzichtbar ist. sie sich überhaupt zueinander verhalten und
Eine ganz andere Frage ist es, wie dies ge- ob die Grammatik oder die Lexik für die
schieht (entweder explizit oder implizit über Sprache und für den Fremdsprachenunter-
Patterns bzw. prototypisches Sprachmate- richt „wichtiger“ seien. In der zuletzt genann-
rial), wann dies geschieht (geschehen sollte) ten Frage gab (und gibt) es erhebliche Mei-
und wie viel dazu nötig ist. Dies sind bereits nungsunterschiede: Für den Primat der
spezielle Fragen didaktisch-methodischer Grammatik wurde (vor allem in strukturali-
Art, die von der gesamten Faktorenkomple- stischer Tradition) argumentiert, weil die
xion des jeweiligen konkreten Sprachunter- Grammatik als Basis der Strukturen am An-
richts abhängen, die aber die Grundfrage Pro fang erworben werden müsse (während die
oder Contra Grammatik im Fremdsprachen- Lexik darauf aufbaut und ihr Ausbau in lan-
unterricht nicht tangieren. Und bei dieser gen Zeiträumen erfolge) (vgl. z. B. Fries 1945,
Grundfrage gilt ⫺ vor allem für den Lehrer, 1ff.). Umgekehrt gab es eine Vorrangstellung
erst recht für den Lehrbuchautor ⫺, dass er der Lexik vor allem unter dem Aspekt, dass
die Fremdsprache nicht nur können, sondern sie für die Kommunikation unverzichtbar sei
auch kennen muss. Er muss nicht nur kom- und man sich notfalls (wenn auch sehr ele-
munikative Fähigkeiten und Fertigkeiten in mentar) allein mit Wörtern, aber nicht allein
der betreffenden Fremdsprache (in unserem mit Grammatik verständigen könne.
Falle: des Deutschen), sondern auch (kogni- Diese Polarisierung hat ihre Ursache in
tiv) gute Kenntnisse über diese Sprache ⫺ der Vorstellung, dass es sich bei Grammatik
24 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

und Lexik um die zwei grundlegenden Kom- einer Gegenüberstellung von Grammatik und
ponenten der Sprache (als Zeichensystem) Lexikon einerseits, von Grammatik und Se-
handele, die sich einerseits notwendig ergän- mantik andererseits entstehen konnte), beim
zen, die andererseits aber auch nebeneinander weiteren Konzept jedoch innerhalb der Gram-
stehen oder sich gar gegenüberstehen. Nach matik (so dass ihr Verhältnis zueinander neu
dieser Vorstellung umfasst das Lexikon die durchdacht werden muss). Das jüngere und
Gesamtheit der Wörter als die für die Äuße- weitere Konzept setzte sich zunehmend
rung bereitstehenden „Elemente“, die mit durch, da das engere Konzept mit bestimm-
Hilfe der Grammatik durch bestimmte Re- ten Unzulänglichkeiten behaftet war, die das
geln zusammengefügt werden. Dieser Vor- Verhältnis von Grammatik und Lexikon be-
stellung entsprechen auch viele Erfahrungen treffen ⫺ mindestens unter zwei Aspekten:
aus dem traditionellen schulischen Lernen Einerseits entstand vielerorts die Vorstel-
von Fremdsprachen: Gewöhnlich wurde im lung ⫺ da die Grammatik im engeren Sinne
Lehrbuch die Grammatik als isoliertes Regel- sowohl dem Lexikon als auch der Semantik
werk (oft sogar mit starker Betonung von gegenübergestellt wurde ⫺, dass der Unter-
Konjugations- und Deklinationsparadigmen) schied zwischen Grammatik und Lexik etwas
vermittelt, an späterer Stelle folgte dann das zu tun habe mit dem Unterschied zwischen
„Vokabular“, dem ein Bezug zur Grammatik Grammatik und Semantik, dass er ⫺ im Ex-
meist fehlte. Dieses herkömmliche Bild führte tremfalle ⫺ sogar durch diesen Unterschied
zu einem (zu) engen Verständnis von Grama- begründet werden könne. Eine solche Gleich-
tik (und brachte auf diese Weise die Gram- setzung ist schon deshalb nicht adäquat, weil
matik im Fremdsprachenunterricht in Ver- sie die Voraussetzung implizieren würde, dass
ruf) und wird auch jüngeren Einsichten über nur die Lexik, nicht aber die Grammatik über
das Verhältnis von Grammatik und Lexikon Bedeutung verfüge. In Wirklichkeit darf die
nicht gerecht (vgl. Helbig 1988a, 1997d). Semantik keineswegs auf die lexikalischen
Seit langem wird der Begriff der „Gram- Elemente beschränkt, sondern muss auch
matik“ in der Linguistik nicht mehr nur auf vielen Einheiten zugeschrieben werden, die
die Morphologie und Syntax bezogen, son- im herkömmlichen (und engeren) Sinne als
dern auf die inneren Regularitäten des grammatisch bezeichnet werden. Das bedeu-
Sprachsystems insgesamt. Mindestens lassen tet wiederum nicht, dass alle morphosyntak-
sich heute ⫺ vom Umfang her ⫺ zwei unter- tischen Einheiten über Bedeutung verfügen
schiedliche Konzepte von „Grammatik“ er- (die substantivischen Deklinationsklassen
kennen: und die Rahmenbildung z. B. nicht), bedeutet
auch nicht, dass ihnen immer in direkter
a) Grammatik im engeren Sinne als Lehre
Weise eine Bedeutung zugeschrieben werden
von den morphologischen und syntaktischen
muss, dass zwischen Form und Bedeutung
Regularitäten, die „die Bildung verschiedener
immer ein 1 : 1-Verhältnis bestünde (vgl. z. B.
Formen gleicher Wörter und ihre Verknüp-
das komplizierte Verhältnis von Tempusfor-
fung zu Wortgruppen und Sätzen beschreibt“
men und Zeitbedeutungen, Modus und Mo-
(Conrad 1985, 86), also ⫺ wie im traditionel-
dalität usw.). Dennoch darf die Semantik
len Sinne ⫺ nur die Morphologie und die
prinzipiell nicht auf die Wortbedeutung redu-
Syntax umfasst (unter Ausschluss des Lexi-
ziert werden, darf zwischen Grammatik und
kons und der Semantik);
Semantik weder eine scharfe Trennungslinie
b) Grammatik im weiteren Sinne als Abbil-
gezogen noch einfach ein Gleichheitszeichen
dung des gesamten Sprachsystems, als Regel-
gesetzt werden. Die Semantik trennt nicht
system, das die Zuordnung von Laut-(Form-)
Grammatik und Lexikon, sondern verbindet
und Bedeutungsseite der Sprache generell be-
sie.
trifft, folglich die Menge der möglichen Sätze
Andererseits wird oft angenommen, dass
einer Sprache definiert und allen sprachlichen
die Gegenüberstellung von Grammatik und
Produktions- und Rezeptionsprozessen zu-
Lexikon funktional begründet sei, dass ⫺ ver-
grunde liegt; Grammatik umfasst hier nicht
einfacht ausgedrückt ⫺ die Lexik die Funk-
nur Morphologie und Syntax, sondern auch
tion habe, die Erscheinungen (im weitesten
Phonetik/Phonologie, das Lexikon und die
Sinne) zu bezeichnen, die Grammatik aber
Semantik.
dazu diene, lexikalische Elemente zu Wort-
Vereinfacht ausgedrückt: Semantik und Lexi- gruppen und Sätzen zu verknüpfen. Auch
kon stehen beim engeren Konzept außerhalb diese funktionale Begründung ist in mehrfa-
der Grammatik (so dass die Vorstellung von cher Hinsicht anfechtbar: Eine Bezeichnungs-
2. Linguistischer Ansatz 25

funktion kommt zwar den Substantiven zu, Aspekten dargestellt werden, die sich ihrer-
aber nicht in gleicher Weise allen anderen seits aus dem Grad der Verallgemeinerung er-
Wortklassen, vor allem nicht den „Funk- geben.
tionswörtern“ (bei den Konjunktionen und Auch in der jüngsten grammatiktheoreti-
Präpositionen dominiert umgekehrt die Ver- schen Diskussion (vor allem im Rahmen der
knüpfungsfunktion). Vor allem jedoch ist of- generativen Grammatik) änderten sich die
fenkundig, dass mitunter dieselben Bedeu- Erkenntnisse über das Verhältnis von Gram-
tungen in einer Sprache grammatisch (d. h. matik und Lexikon. Das ursprünglich als pe-
morphosyntaktisch), in einer anderen Spra- ripher angesehene und von der Syntax ge-
che lexikalisch ausgedrückt werden können trennte Lexikon trat in das Zentrum der Auf-
oder müssen (so fehlt z. B. für den Artikel in merksamkeit, wurde nicht nur zu einer selb-
slawischen Sprachen als Äquivalent eine ständigen, sondern sogar zu einer zentralen
grammatische Kategorie, hingegen für die Komponente der Grammatik. Begründet
Aktionsarten eine direkte grammatische Ent- wird diese neue Erkenntnis dadurch, dass
sprechung im Deutschen). Selbst innerhalb sich der kompositionelle Aufbau der Gram-
einer Sprache können bestimmte Bedeutun- matik in spezifischer Weise im Aufbau des
gen grammatisch und/oder lexikalisch ausge- Lexikons (d. h. in den Lexikon-Einträgen) re-
drückt werden (die Bedeutung „Zukünftiges“ flektiert, dass auch das Lexikon (als Teil der
z. B. durch die grammatische Form des Fu- Grammatik) die Zuordnung von Form und
tur I oder durch eine lexikalische Adverbial- Bedeutung regelt und sich im Lexikon die an
angabe: Ich werde nach Frankreich fahren ⫺ eine Lexikoneinheit gebundene Information
Ich fahre morgen nach Frankreich). Gramma- auf die übrigen Repräsentationsebenen ver-
tische und lexikalische Bedeutungen sind of- teilt (vgl. Steinitz 1984, 1; 1985, 1f.). Die
fensichtlich nicht so verschieden, dass auf Zuordnung der verschiedenen Komponenten
diese Weise ein prinzipieller funktionaler Un- der Grammatik erfolgt also in entscheiden-
terschied zwischen Grammatik und Lexi- dem Maße mit Hilfe des Lexikons und drückt
k(on) legitimiert werden könnte. sich in der Struktur jedes Lexikon-Eintrags
Deshalb verwundert es nicht, dass es aus. Auf diese Weise (durch die Teilhabe an
längst skeptische Stimmen gegen die her- der Form-Bedeutungs-Zuordnung) erweist
kömmliche Trennung und Gegenüberstellung sich das Lexikon als (wesentlicher) Teil, als
von Grammatik und Lexikon gab. Es wurde Komponente der Grammatik. Es unterschei-
darauf hingewiesen, dass „das Wörterbuch det sich von den anderen Komponenten nicht
keinen anderen Stoff als die Grammatik“ grundsätzlich und funktional, nicht durch die
darstelle, vielmehr eher „die alphabetische In- Spezifik seiner Einheiten und Regeln, son-
haltsangabe zu ihr“ liefere (Schuchardt 1922, dern durch den anderen Aspekt und den an-
127), dass die Grammatik kaum mehr als deren Grad der Verallgemeinerung sowie
eine Menge von Verallgemeinerungen über ei- durch das spezifische Zusammenspiel von In-
nem guten Lexikon liefere (vgl. Wiegand formationen aus allen übrigen Repräsenta-
1985, 14f.). Für das Deutsche hat vor allem tionsebenen und die daraus resultierende spe-
Glinz die übliche Unterscheidung zwischen zifische Weise ihrer Bindung an eine Lexikon-
Grammatik und Lexikon bezweifelt und ge- einheit, d. h. ihrer Integration in einem ge-
fragt, „ob es zwischen ihnen überhaupt eine bündelten Lexikon-Eintrag (mit semanti-
sichere Grenze gibt oder nur der ,Grad der schen, syntaktischen, morphologischen und
Einmaligkeit eines Gefüges‘ verschieden ist“, phonologischen Informationen).
ob die Grammatik nicht „nur die praktische Diesen (eher theoretischen) Einsichten der
Zusammenfassung dessen bedeutet, was sich Grammatik entsprechen ähnliche Forderun-
in der Sprache an allgemeiner Struktur ge- gen und Praktiken der Lexikologen, Lexiko-
genüber den jeweiligen Einzelfällen abheben graphen und Grammatikographen. Lexiko-
und zusammenfassen läßt“ (Glinz 1961, 40, graphen verlangen ⫺ mit Recht ⫺ „mehr
393f., 477f.). Dahinter verbirgt sich die Ein- Grammatik im Wörterbuch“, eine Gramma-
sicht, dass es sich nicht um einen funktiona- tik als integralen Bestandteil des Wörter-
len Unterschied zwischen den beiden Kom- buchs. Das drückt sich gleichermaßen pro-
ponenten handelt, vielmehr um einen Unter- grammatisch wie salomonisch in dem Postu-
schied im Aspekt (Allgemeines vs. Besonde- lat von Schaeder (1981, 69) aus: „Die Be-
res) und im Grad der Verallgemeinerung. Es schreibung der grammatischen Regularitäten
ist teilweise derselbe Stoff, es sind teilweise in einer Grammatik kann nicht ohne lexikali-
dieselben Fakten, die unter unterschiedlichen sche Informationen, die Beschreibung der Le-
26 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

xik nicht ohne grammatische Informationen Aspekt des Besonderen (von Einträgen zu
gelingen.“ Dieser Zusammenhang ist längst Wörtern als Lexikoneinheiten) dargestellt.
auch deutlich geworden in jüngeren Gram- Der Zusammenhang ist offenkundig und
matiken des Deutschen, vor allem solchen für lässt deutlich werden, dass es weder eine
Deutsch als Fremdsprache. Die Motivierung Grammatik ohne Lexikon noch ein Lexikon
für solche „Grenzüberschreitungen“ von der ohne Grammatik geben kann.
Grammatik (im engeren Sinne) zum Lexikon
waren mehrfacher Art (vgl. Helbig/Buscha
1990, 193f.; Helbig 1997d, 8ff.): 7. Ausdrucks- vs. Inhaltsgrammatik
1) Schon unter linguistischem Aspekt ge- Schließlich werden innerhalb des linguisti-
nügte es nicht, nur „allgemeine“ Regeln an- schen Ansatzes (wie innerhalb der Linguistik
zugeben. Diese Regeln mussten vielmehr spe- überhaupt) Meinungsverschiedenheiten aus-
zifiziert werden in Richtung auf einzelne Sub- getragen über den Ansatzpunkt bzw. Aus-
klassen von Wörtern oder ⫺ im Extremfall ⫺ gangspunkt der Beschreibung, oft unter den
auf einzelne Wörter (auf die sie nur zutref- Stichwörtern „Ausdrucks- vs. Inhaltsgram-
fen). Das führte zur Angabe von umfangrei- matik“ oder auch „formale vs. funktionale
chen Listen von Wörtern, die die Zutreffens- Grammatik“ (vgl. auch Götze 1995; 1996).
möglichkeiten von allgemeinen (grammati- Allerdings wird der Terminus „Inhaltsgram-
schen) Regeln exemplifizieren sollten (z. B. matik“ in einem doppelten Sinne verstanden:
zur Rektion, zu den Funktionsverbgefügen 1) „Inhalt“ bezieht sich auf die gesamte in-
usw.). Die Morphosyntax (als Grammatik im haltliche Seite der Sprache, d. h. auf die
engeren Sinne) stieß an ihre Grenze und be- (sprachinterne) Bedeutung und auf die
durfte der Spezifizierung durch lexikalische (sprachexterne) Funktion (⫽ Intention,
Einheiten. Wenn sich Grammatik und Lexi- Sprechhandlung), d. h. auf das, was der Spre-
kon wie das Allgemeine zum Besonderen zu- cher beabsichtigt, wenn er spricht. Beide
einander verhalten, steht das Lexikon nicht Sachverhalte dürfen nicht identifiziert oder
schlechthin der Grammatik gegenüber, son- verwechselt werden: das, was die sprachliche
dern die Grammatik (als Verallgemeinerung Form (der „Ausdruck“) bedeutet, und das,
über dem Lexikon) setzt das Lexikon bereits was der Sprecher mit der Äußerung meint
voraus, wie andererseits das Lexikon die bzw. intendiert (⫽ kommunikative Funk-
(notwendige) Spezifizierung der Grammatik tion). Der Begriff „Funktion“ ist noch mehr-
(ihrer allgemeinen Regeln und Klassenbil- deutiger, so mehrdeutig, dass er geradezu zu
dungen) ist. einem „Joker“ geworden ist, einem Schlag-
2) Unter dem Aspekt des Informations- wort also, das man undifferenziert überhaupt
und Lernwerts enthalten manche Grammati- nicht verwenden, sondern immer durch ein
ken „Doppelungen“, indem sie neben dem ei- zusätzliches Attribut kennzeichnen sollte
gentlich grammatischen Befund (einer verall- (vgl. Helbig 1968, 274ff.). Mindestens sind zu
gemeinerten Klassenbildung nach morpholo- unterscheiden eine syntaktische Funktion
gischen, syntaktischen und semantischen (entweder distributionell-positionell oder im
Merkmalen) dieselbe Information noch ein- Sinne der Satzgliedfunktionen), eine semanti-
mal ⫺ bezogen auf die jeweiligen Wörter (in sche Funktion (im Sinne der innersprach-
Gestalt von alphabetischen Listen) ⫺ geben. lichen Bedeutung oder im Sinne der Bezeich-
So steht neben grammatischen Informatio- nung von außersprachlichen Sachverhalten)
nen zu den Ablautklassen der unregelmäßi- und eine kommunikative Funktion (im Sinne
gen Verben eine alphabetische Liste dieser von intendierten Sprechhandlungen oder im
Verben (unter lexikalischem Aspekt), neben Sinne der Thema-Rhema-Gliederung). Des-
den grammatischen Informationen zu den halb erweist sich der Funktionsbegriff als all-
Präpositionen und Konjunktionen jeweils gemeines Schlagwort für eine bestimmte Ziel-
eine alphabetische Liste dieser Wörter (vgl. setzung und Orientierung wenig geeignet.
Helbig/Buscha 1991, 37ff., 401ff., 445ff.). Es Dazu kommt, dass unter „funktionaler Gram-
handelt sich dabei eigentlich um Lexikon- matik“ höchst unterschiedliche Richtungen
Fragmente, die man herkömmlicherweise verstanden werden (vgl. Art. 14, Abs. 3.7.).
nicht in der Grammatik erwartet. Die glei- Auf die Probleme, die aus dem Verhältnis des
chen Sachverhalte werden einmal unter dem sprachlichen Ausdrucks zur (sprachexternen)
Aspekt des Allgemeinen (der grammatischen kommunikativen Funktion erwachsen, wurde
Klassenbildung), das andere Mal unter dem unter 5. in diesem Artikel hingewiesen.
2. Linguistischer Ansatz 27

2) „Inhalt“ bezieht sich bei anderen Auto- abgestempelt werden. Diese Vorwürfe sind
ren ausschließlich auf die (sprachinterne) Be- zum großen Teil unberechtigt, enthalten doch
deutung (⫽ semantische Funktion), schließt einige herkömmliche Grammatiken nicht nur
also die (sprachexterne) kommunkative Formbeschreibungen, sondern auch Angaben
Funktion, ist vielmehr eine Voraussetzung für zu den Bedeutungen (wenn auch zumeist in
diese. In diesem Sinne handelt es sich bei unzureichender und vor allem unsystemati-
„Ausdruck“ und „Inhalt“ um die beiden Sei- scher Weise). Dies wiederum hängt von unse-
ten des sprachlichen Zeichens, gleichsam um rem Kenntnisstand über die Bedeutungsseite
Synonyme zu „Form“ und „Bedeutung“. Un- ab, der erst in den letzten Jahrzehnten be-
bestritten dürfte sein, dass es sich bei der trächtlich breiter und tiefer geworden ist. Bei
Grammatik im weiteren Sinne um die wech- dieser Entwicklung ist zugleich deutlich
selseitige Zuordnung von Formen (Ausdruck) geworden, wie kompliziert die Verhältnisse
und Bedeutungen (Inhalt) handelt ⫺ auch bei der Beschreibung der Bedeutungsseite
wenn sich die Grammatiker selbst dessen sprachlicher Formen sind (z. B. ist für die
nicht immer bewusst sind (vgl. unter 6.). Tempusbedeutungen oder für die semanti-
Diese wechselseitige Zuordnung muss von schen Subklassen adverbialer Nebensätze ein
der Grammatik (dem wissenschaftlichen Ab- äußerst diffiziler Beschreibungsapparat not-
bild) beschrieben und im Fremdsprachenun- wendig). Es dürfte nicht genügen, von einfa-
terricht vermittelt sowie vom Lernenden er- chen „semantischen Feldern“ (z. B. der
worben werden. Unbestritten dürfte heute Zeit ⫽ Temporalität/des Grundes ⫽ Kausali-
auch sein, dass die Zuordnung zwischen For- tät oder der Art und Weise ⫽ Modalität) aus-
men und Bedeutungen vielfach nicht direkt, zugehen und ihnen die entsprechenden for-
sondern indirekt und vermittelt ist: So kön- malen Ausdrucksmittel katalogartig zuzuord-
nen z. B. den Tempusformen im Deutschen nen. Vielmehr bedarf dies u. a. einer präzisen
(z. B. Präsens, Perf., Fut. I) nicht in linearer Strukturierung dieser Felder (mit jeweiligen
Weise bestimmte Zeitbedeutungen zuge- Zentren und Peripherien, abhängig vom
schrieben werden, den Modi des Verbs nicht Grad der Grammatikalisierung der betreffen-
immer klar umrissene Modalitätsbedeutun- den Ausdrucksmittel). Es drängt sich ⫺ für
gen sowie dem Reflexivpronomen sich nicht den Spracherwerb ⫺ zusätzlich die Frage auf,
immer reflexive Bedeutungen. Wie es grund- ob der Lernende tatsächlich den Weg über
sätzlich zwischen sprachsystematischen Mit- die Inhaltsseite wählt (also z. B. davon aus-
teln und Sprechakten/Intentionen keine di- geht, dass ein „unzureichender Grund“ aus-
rekten Beziehungen gibt (vgl. unter 5.), so gedrückt werden soll, und danach die Aus-
gibt es auch zwischen der Ausdrucks- und In- drucksmittel wählt) oder ob er nicht (eben
haltsseite der Mittel des Sprachsystems kei- weil die Struktur der Bedeutungsseite erhebli-
neswegs immer direkte Zuordnungen. chen Beschreibungsaufwand mit sich bringt)
die Ausdrucksmittel von Ausgangs- und Ziel-
Daraus leitet sich die (umstrittene) Frage ab, sprache ohne diesen „Umweg“ korreliert.
ob man bei der linguistischen Beschreibung Das ändert nichts daran, dass Grammatik
und der Vermittlung im Fremdsprachenunter- immer die (zumeist indirekte) Zuordnung
richt von den Formen („Ausdrucksgramma- von Form (Ausdrucksseite) und Bedeutung
tik“) oder von den Bedeutungen („Inhalts- (Inhaltsseite) zum Gegenstand hat, auch für
grammatik“) ausgehen solle. Beide Zugänge den Bereich des Deutschen als Fremdsprache.
sind möglich und entsprechen weitgehend un-
terschiedlichen Benutzerkreisen von Gram-
matiken: „Produktionsgrammatiken“ gehen 8. Zentralität der linguistischen
den Weg vom Inhalt zum Ausdruck, „Rezep- Komponente
tionsgrammatiken“ den umgekehrten Weg
vom Ausdruck zum Inhalt (vgl. Art. 14 unter Trotz dieser Vielfältigkeit der linguistischen
2.6.). Beide Zugänge setzen voraus, dass Komponente und trotz der genannten kon-
beide Seiten (Formen und Bedeutungen) sehr trovers diskutierten Probleme ist für den lin-
differenziert beschrieben sind, damit sie über- guistischen Ansatz generell charakteristisch,
haupt systematisch korreliert werden kön- dass für die Vermittlung des Deutschen als
nen. Neuerdings findet man oft einseitige Plä- Fremdsprache von primärer und entscheiden-
doyers für „Inhaltsgrammatiken” ⫺ bei der Rolle die Sprache selbst ist, die Gegen-
gleichzeitiger Abwertung von „Ausdrucks- stand der Vermittlung ist, also dasjenige, was
grammatiken“, die vielfach als „rein formal“ vermittelt (erworben) wird. Erst von diesem
28 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

Was hängt das Wie, hängen didaktisch-me- auf Grund der Einsicht, dass es immer um
thodische Vermittlungsstrategien und -takti- eine Einzelsprache geht, nicht um Sprachen
ken ab, weil Ablauf und Struktur von Er- schlechthin (vgl. Glück 1998, 5). Harden
werbsprozessen entscheidend von ihrem Ge- (1995, 161ff.) hat z. B. unter dem Stichwort
genstand determiniert sind, und dieser Ge- „back to basics“ zu Recht darauf hingewie-
genstand ist in unserem Falle die deutsche sen, dass man zuerst wissen müsse, was er-
Sprache (als Fremdsprache) (Götze 1997). In lernt und erworben werden muss, ehe man in
diesem Credo von der Zentralität der Spra- Diskussionen über das Wie sinnvollerweise
che (der linguistischen Komponente) unter- eintreten kann. Dem entspricht nicht nur das
scheidet sich der linguistische Ansatz wesent- Credo des linguistischen Ansatzes, dem ent-
lich von allen anderen Ansätzen, bei denen sprechen auch die praktischen Erfahrungen
entweder das Schwergewicht auf dem Wie der meisten Sprachlehrer (-lektoren). Das be-
(des Erwerbs und der Vermittlung) liegt (di- deutet weder eine ausschließliche Dominanz
daktischer Ansatz) oder eine Verlagerung der der linguistischen Komponente noch gar eine
Interessen auf landeskundlich-kulturwissen- Rückkehr zur grammatikalisierenden Über-
schaftliche (landeskundlicher Ansatz) bzw. setzungsmethode. Das Plädoyer für solides,
auf literaturwissenschaftlich/interkulturelle In- umfassendes und explizites Wissen über die
halte (literaturwissenschaftlicher Ansatz) er- deutsche Sprache für Deutsch als Fremdspra-
folgt. Damit verbunden ist oft eine Abkehr che (bedingt vor allem durch die Außenper-
von der Sprache selbst und eine Abkoppe- spektive) bedeutet auch nicht notwendig, die-
lung von der linguistischen Komponente. ses Wissen dem Lernenden im Unterricht di-
Das gilt selbst für den didaktischen Ansatz, rekt zu präsentieren ⫺ schon gar nicht in lin-
und zwar sowohl in seiner älteren als auch in guistischer Weise (dies wäre dann tatsächlich
seiner jüngeren Version: In der älteren Ver- eine erneute „Linguistisierung“ des Unter-
sion stellte sich die Didaktik als eine Art richts). Wohl aber müssen der Lehrer und der
(praktizistische) „Handwerkslehre“ oder „Re- Lehrbuchautor ⫺ als nicht zu übersprin-
zeptologie“ dar, zu deren Charakteristik man gende Vermittlungsinstanzen zwischen Lin-
an die kuriose Aussage erinnert wird (vgl. guistik und Unterricht ⫺ über dieses Wissen
auch Dimowa 1993, 193f.): „Ich verstehe verfügen. Für sie genügt es nicht, wenn sie
zwar wenig von Physik, weiß aber genau, wie die zu vermittelnde Sprache nur (sprechen)
man Physik zu unterrichten hat.“ Die jüngere können; sie müssen sie auch kennen. Sie brau-
Version geht zwar theoretisch wesentlich über chen nicht nur (sprachlich-kommunikative)
diesen Praktizismus hinaus, fasst z. B. als Fähigkeiten und Fertigkeiten in der betreffen-
Sprachlehr- und -lernforschung den (institu- den Sprache, sondern auch (kognitiv) gute
tionalisierten) Fremdsprachenunterricht als Kenntnisse über diese Sprache (vgl. Helbig
eigenständigen Spezialfall des Spracherwerbs 1993, 30; 1994, 95; 1997a, 106ff.).
auf und bettet ihn in weiter reichende (auch
psychologische) Zusammenhänge des Sprach- 9. Literatur in Auswahl
erwerbs ein. Dabei wird jedoch die Lehr- und
Lernperspektive dominant gegenüber der zu Admoni, Wladimir G. (1979): Grammatik bleibt
vermittelnden Sprache, bisweilen so domi- Grammatik. In: LS/ZISW A/63. Berlin, 2⫺16.
nant, dass von der zu vermittelnden Sprache Bierwisch, Manfred (1979): Wörtliche Bedeutung
weitgehend abgesehen wird, also eine Abkop- ⫺ eine pragmatische Gretchenfrage. In: Inger Ro-
sengren (Hg.): Sprache und Pragmatik (Lunder
pelung von der linguistischen Komponente
Symposium 1978). Lund, 63⫺85.
erfolgt: Die zu lernenden Sprachen werden
sekundär (oder gar austauschbar), das Fach ⫺ (1987): Linguistik als kognitive Wissenschaft ⫺
Erläuterungen zu einem Forschungsprogramm. In:
„Deutsch als Fremdsprache“ verliert letztlich Zeitschrift für Germanistik 8/6, 645⫺667.
seine Spezifik (vgl. Edmondson 1998, Götze
Conrad, Rudi (Hg.) (1985): Lexikon sprachwissen-
1997). Es entsteht ⫺ um abermals ein be- schaftlicher Termini. Leipzig.
kanntes Bild zu gebrauchen ⫺ der Eindruck
Dimowa, Anna (1993): Auslandsgermanistik:
eines „Strickens ohne Wolle“. Fremdsprachenphilologie und/oder Deutschlehrer-
Demgegenüber wird auch und gerade von ausbildung. In: Germanistiktreffen Bundesrepublik
der Praxis der Ruf wieder lauter, dass man Deutschland⫺Bulgarien⫺Rumänien (28. 2.⫺5. 3.
sich vor allem auf das besinnen solle, was der 1993 Bonn). Dokumentation der Tagungsbeiträge.
Lehrer von Deutsch als Fremdsprache am Hg. DAAD. Bonn, 393⫺400.
dringendsten braucht: Wissen um die Spra- Dittmar, Norbert; Martina Rost-Roth (Hg.)
che, die vermittelt werden soll ⫺ nicht zuletzt (1995): Deutsch als Zweit- und Fremdsprache. Me-
2. Linguistischer Ansatz 29

thoden und Perspektiven einer akademischen Diszi- Harden Theo (1995): Back to basics oder zurück in
plin. Frankfurt (Main) u. a. die Zukunft. Die Rolle der Linguistik in der DaF-
Edmondson, Willis (1999): Was ist das Spezifikum Lehrerausbildung. In: Reformdiskussion und curri-
des Faches „Deutsch als Fremdsprache“? In: DaF curale Entwicklung in der Germanistik. Dokumente
36/1, 3⫺9. der Internationalen Germanistentagung des DAAD.
(24.⫺28. 5. 1995 Kassel). Hg. DAAD. Bonn,
Felix, Sascha W. (1982): Linguistische Untersuchun- 159⫺166.
gen zum natürlichen Zweitsprachenerwerb. Tübin-
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schaftlichkeit der Sprache. In: Deutsche Zeitschrift
Fries, Charles C. (1945): Teaching and Learning für Philosophie 29.
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Helbig, Gerhard (1968): Der Funktionsbegriff in
Glinz, Hans (1961): Die innere Form des Deutschen. der modernen Linguistik. In: DaF 5/5, 274⫺287.
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Problems. In: Gerhard Helbig (Hg.): Studien zu 271⫺289.
Deutsch als Fremdsprache IV: Positionen⫺Kon-
zepte⫺Zielvorstellungen. (Germanistische Lingui- ⫺ (1986b): Kommunikativer Grammatikunterricht
stik 137⫺138), 55⫺70. ⫺ Ziele, Möglichkeiten und Grenzen. In: DaF 23/
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(Hg.): Grammatikunterricht. Beiträge zur Linguistik 160⫺167.
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Götze, Lutz (1991): Grammatik und Kommunika- ⫺ (1991): Grammatik und kommunikativer
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sprache Deutsch 9/2. Stuttgart, 4⫺9. braucht der Mensch? München 1993, 19⫺30.
⫺ (1995): Das Problem einer kommunikativ-funk- ⫺ (1992b): Mehr oder weniger Grammatik für/in
tionalen Grammatik. In: Vilmos Ágel; Rita Brdar- DaF? In: Acta Universitatis Wratislaviensis 1356,
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ken. Budapester Germanistentagung 1993. Tübin- ⫺ (1994): Das Verhältnis von Sprachwissenschaft
gen, 233⫺241. und Fremdsprachenunterricht im Wandel der Zei-
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rung in Deutsch als Fremdsprache. In: DaF 33/3, (2.⫺7. 8. 1993 Leipzig). Deutsch als Fremdsprache
136⫺143. in einer sich wandelnden Welt. Hg. M. Hirschfeld
u. a. München, 83⫺95; auch in: DaF 31/4, 201⫺
⫺; Peter Suchsland (1996): Deutsch als Fremdspra-
208.
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Fach „Deutsch als Fremdsprache“. In: Gerhard
⫺ (1997): Die Einheit in der Vielfalt ⫺ Konzeptio-
nelle Überlegungen zum Deutschen als Fremdspra- Helbig (Hg.): Studien zu Deutsch als Fremdsprache
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als Fremdsprache IV. Positionen⫺Konzepte⫺Ziel- (Germanistische Linguistik 137⫺138), 83⫺115.
vorstellungen. Germanistische Linguistik 137⫺138. ⫺ (1997b): Noch einmal: Quo vadis, DaF? In: DaF
Hildesheim/Zürich/New York, 71⫺82. 34/3, 131⫺138.
30 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

⫺ (1997c): Grammatik und Kommunikation. In: Motsch, Wolfgang (1984): Sprechaktanalyse ⫺


Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik LXIV/ Versuch einer kritischen Wertung (1). In: DaF 21/
3, 257⫺271. 6, 327⫺334.
⫺ (1997d): Grammatik und Lexikon. Stuttgart/ Neuner, Gerhard (1993): Regionale und regionen-
Leipzig (Sitzungsberichte der Sächsischen Akade- übergreifende Perspektiven der Deutschlehreraus-
mie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.-hist. bildung in Europa. In: Germanistentreffen Bundesre-
Klasse 135/5). publik Deutschland⫺Bulgarien⫺Rumänien (28. 2.⫺
5. 3. 1993 Bonn). Dokumentation der Tagungsbei-
⫺; Joachim Buscha (1990): Zu Zielstellung, Spezi- träge. Hg. DAAD. Bonn, 417⫺432.
fika und Umfeld der „Deutschen Grammatik ⫺
Ein Handbuch für den Ausländerunterricht“. In: ⫺ (1995): Grundlagen und Prozesse der Curricu-
JbDaF 16. München, 191⫺203. lumentwicklung in der Ausbildung ausländischer
Deutschlehrer ⫺ einige Anmerkungen. In: Reform-
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Handbuch für den Ausländerunterricht. Leipzig/Ber- manistik. Dokumentation der Internationalen Ger-
lin/München. manistentagung des DAAD (24.⫺28. 5. 1995). Hg.
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Schaeder, Burkhard (1981): Lexikographie als
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Schuchardt, Hugo (1922): Hugo-Schuchardt-Bre-
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che. In: JbDaF 4. München, 87⫺101. 30. 6. 1994). Tübingen, 20⫺98.
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gründung und Struktur eines neuen Wissenschafts- theorie. Frankfurt (Main).
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lungen der Österreichischen Gesellschaft für Germa- Lutz Götze, Saarbrücken (Deutschland)
nistik 3, 72⫺87. Gerhard Helbig, Leipzig (Deutschland)
3. Didaktisch-methodischer Ansatz 31

3. Didaktisch-methodischer Ansatz: Die lehr- und


lernwissenschaftliche Perspektive

1. Zur Situation des Faches an den Lehrpläne und Lehrmaterial; Lehrerausbil-


deutschsprachigen Hochschulen und im dung), der Merkmale der Lernergruppen
Schulbereich (z. B. Muttersprache, soziokulturelle Prä-
2. Germanistik und Deutschlehrerausbildung
im nichtdeutschsprachigen Ausland
gung) und der Lernsituation (eingebettet in
3. Bezugspunkte und Dimensionen der lehr- die zielsprachige Umgebung oder ausserhalb
und lernwissenschaftlichen Orientierung des deutschsprachigen Raums) führen zu
4. Konturen der lehr- und z. T. ganz unterschiedlichen Konzepten der
lernwissenschaftlichen Ausrichtung des Didaktik und Methodik des Fremd- bzw.
Faches Zweitsprachenunterrichts Deutsch und folg-
5. Forschung im Fach Deutsch als lich auch zu unterschiedlichen Perspektiven
Fremdsprache und Schwerpunktsetzungen bei der Ausbil-
6. Grenzen einer berufsorientierten
Deutschlehrerausbildung
dung von Lehrer/innen für Deutsch als
7. Literatur in Auswahl Fremd- bzw. Zweitsprache (vgl. Neuner
1995a).
In den öffentlichen Schulen in Deutsch-
1. Zur Situation des Faches an den land, insbesondere im Bereich der Grund-
deutschsprachigen Hochschulen schule und der Hauptschule, ist die Zahl von
und im Schulbereich Schülern nichtdeutscher Muttersprache be-
trächtlich ⫺ laut Statistik lebte 1990 über
An den deutschsprachigen Hochschulen hat eine Million schulpflichtiger ausländischer
sich in den beiden letzten Jahrzehnten eine Kinder in der Bundesrepublik (Neumann
deutliche institutionelle Trennung der Fächer 1995, 95), in städtischen Ballungsgebieten
„Germanistik“ und „Deutsch als Fremdspra- steigt sie nicht selten über 50 % der Gesamt-
che“ vollzogen. Die Germanistik bildet Philo- schülerzahl. Dazu kommen die Kinder
logen (Magisterabschluss; Promotion) bzw. deutschstämmiger Aussiedler aus mittel- und
Lehrerinnen und Lehrer für Deutsch als Mut- osteuropäischen Ländern bzw. den Nachfol-
tersprache (Lehramtsstudiengänge) aus. Wer gestaaten der UdSSR, die ihrem Rechtsstatus
dagegen ein Studienangebot in Deutsch als nach zwar Deutsche sind, jedoch oft mit den-
Fremdsprache belegt, verbindet damit im all- selben sprachlichen und sozialpsychologi-
gemeinen die Erwartung, zur Lehrerin bzw. schen Problemen der Integration zu kämpfen
zum Lehrer für Deutsch als Fremd- bzw. haben wie schulpflichtige Kinder mit dem
Zweitsprache qualifiziert zu werden. Unter- Status „Ausländer“ (z. B. Kinder von Ar-
suchungen zur Schwerpunktsetzung der Stu- beitsmigranten, von Asylsuchenden oder
dienangebote im Bereich von Deutsch als Kriegsflüchtigen).
Fremd- und Zweitsprache belegen, daß die Eine Reihe von Bundesländern hat deshalb
überwiegende Zahl der Studienangebote lehr- ein obligatorisches Studienelement „Deutsch
und lernwissenschaftlich ausgerichtet ist (vgl. als Zweitsprache“ in die Studiengänge für
Krumm 1994; Henrici 1994). Lehrer/innen für den muttersprachlichen
Zu unterscheiden ist zwischen Studienan- Deutschunterricht eingeführt (z. B. Nord-
geboten in den Bereichen Deutsch als Fremd- rhein-Westfalen) bzw. die Möglichkeit eröff-
sprache und Deutsch als Zweitsprache. Eine net, die Lehrbefähigung für das Fach
Ausbildung für Deutsch als Fremdsprache be- „Deutsch als Fremd- und Zweitsprache“ im
zieht sich auf die Vermittlung des Deutschen Rahmen einer Erweiterungsprüfung im Lehr-
im nichtdeutschsprachigen Ausland, während amtsstudium zu erwerben (z. B. Hessen).
eine Lehrerausbildung in Deutsch als Zweit- Man kann im lehr- und lernwissenschaft-
sprache auf den Deutschunterricht in deutsch- lich ausgerichteten Studienangebot des Fa-
sprachiger Umgebung vorbereitet. Die unter- ches Deutsch als Fremdsprache unterschei-
schiedlichen gesellschaftlich-politischen Rah- den zwischen
menbedingungen von Fremd- und Zweitspra-
chenunterricht (z. B. rechtlicher und sozialer • grundständigen Studienangeboten (Haupt-
Status der Lernergruppen), der institutionel- oder Nebenfach im Magisterstudium; Er-
len Vorgaben (z. B. Status als Schulfach; weiterungsprüfung für das Lehramt).
32 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

• Zusatz- und Aufbaustudiengängen, die in 3. Bezugspunkte und Dimensionen


der Regel ein abgeschlossenes Germani- der lehr- und lernwissenschaftlichen
stikstudium voraussetzen.
• Dazu kommen im „Lehrgebiet Deutsch als
Orientierung
Fremdsprache“ Sprachkurse in Deutsch Die Ausgangsfrage bei der Planung eines
als Fremdsprache zur Vorbereitung auf die lehr- und lernwissenschaftlich konzipierten
Hochschulzulassungsprüfung für ausländi- Germanistikstudiums lautet: Welche Qualifi-
sche Studienbewerber bzw. studienbeglei- kationen müssen künftige Deutschlehrer/in-
tende Sprachkursangebote. nen für ihre Berufsausübung (Deutschunter-
richt erteilen) haben?
Bei der curricularen Bestimmung der
2. Germanistik und Deutschlehrerausbildung müssen eine Reihe
Deutschlehrerausbildung im von Ebenen unterschieden werden, die eng
nichtdeutschsprachigen Ausland miteinander verflochten sind:
• die interkulturelle und die transnationale
Bei den entsprechenden Studiengängen an Ebene,
Hochschulen in nichtdeutschsprachigen Län- • die institutionelle Ebene,
dern ist die Trennung der Studiengänge für • die fachlich-inhaltliche Ebene,
Germanistik (Fremdsprachenphilologie) und • die unterrichtliche Ebene.
Deutschlehrerausbildung nicht selbstver-
ständlich. Oft versteht man unter „Deutsch 3.1. Die interkulturelle und die
als Fremdsprache“ im Bereich des Germani- transnationale Dimension des
stikstudiums das sprachpraktische Lehrange- fremdsprachlichen Deutschunterrichts
bot, d. h. das Angebot an Deutschkursen für Wer eine Fremdsprache lernt, muss sich mit
die Studierenden der Germanistik. einer fremden Welt auseinandersetzen, gleich-
Es bestehen in den vielen Ländern, deren gültig, ob die neue Sprache als Fremdsprache
Hochschulen Studiengänge für Germanistik in der eigenen Umgebung gelernt wird oder
anbieten, sehr unterschiedliche Vorstellun- ob das Erlernen dieser Sprache als Zweit-
gen, was die Vorbereitung auf den Deutsch- sprache in der zielsprachlichen Umgebung er-
lehrerberuf angeht: folgt. Fremdsprachenlernen kann eine faszi-
Vorfindbar sind Konzepte, nierende „Entdeckungsreise in die fremde
Welt“ sein, es kann aber auch zu Verunsiche-
• die keinen Unterschied zwischen Germani- rung führen: Sachverhalte, die in der eigenen
sten- und Deutschlehrerausbildung ma- Welt selbstverständlich sind, können im so-
chen: Wer das Germanistikstudium absol- ziokulturellen Kontext der neuen Sprache an-
viert hat, kann als Deutschlehrer einge- ders, verzerrt, missverständlich und unver-
setzt werden; ständlich erscheinen. Neues muss verarbeitet
• die eine Profilbildung in der letzten Phase werden, Vertrautes findet sich in der fremden
des Germanistikstudiums vornehmen bzw. Welt nicht mehr (Müller-Jacquier 1999).
ein Studienelement zur Didaktik/Metho- Fremdsprachenlernen erschließt aber nicht
dik des Deutschunterrichts im Abschlußse- nur eine neue Welt, es hat auch Rückwirkun-
mester anbieten; gen auf die Wahrnehmung und das Bewusst-
• die die Deutschlehrerausbildung in eine sein von der eigenen Welt, die als Bezugswelt
dient. Indem es Lernende in eine neue Welt
Phase nach dem Germanistikstudium ver-
einführt, macht es ihnen deutlich, dass neben
legen;
ihrer eigenen Welt andere Welten bestehen, in
• die eine klare institutionelle Trennung von
denen die Menschen ihr Leben nach anderen
Germanistikstudium (an der Universität) „Spielregeln“ (Wertsystemen; Routinen; Ri-
und Deutschlehrerausbildung (an Pädago- tualen) und in anderen sozialen Bezügen (In-
gischen Hochschulen bzw. Fremdsprachen- stitutionen) gestalten (Krumm 1995, 156f.).
kollegs) vornehmen. In diesen Konzepten Die interkulturelle Dimension ist deshalb
ist die lehr- und lernwissenschaftliche Ori- für alle Ebenen und Bereiche des Lehrens
entierung am deutlichsten verwirklicht, es und Erlernens der Fremdsprache konstitutiv.
besteht jedoch die Gefahr einer Abwertung Fremdsprachenlernen ist jedoch nicht nur
des Status der Deutschlehrerausbildung geprägt von der subjektiven Auseinanderset-
gegenüber der Germanistenausbildung zung von Eigenwahrnehmung und Fremder-
(vgl. Blamberger/Neuner 1995). fahrung, sondern auf einer übergeordneten
3. Didaktisch-methodischer Ansatz 33

Ebene auch von transnationalen Beziehun- Qualifikationen für die kompetente Berufs-
gen. ausübung sind jedoch nicht nur fachtheoreti-
Das Verhältnis von Ausgangs- und Ziel- sche Kenntnisse, sondern auch praktisches
sprachenland bestimmt nicht nur die Frage, Können, das sich sowohl auf die Beherr-
ob eine bestimmte Sprache als Fremdsprache schung der Fremdsprache als auch auf das
in den Fächerkanon der Schule aufgenom- Unterrichtenkönnen bezieht. Die Beschäfti-
men wird und welche Stellung sie im Rahmen gung mit der Unterrichtspraxis (Vorberei-
anderer Fremdsprachen innehat, sondern es tung, Durchführung und Evaluation von Un-
kann auch nachhaltig das „Bild“ des Ziel- terricht) gehört deshalb zu den Kernpunkten
sprachenlandes prägen (Auswahl und Per- der Fachausbildung. Bei der Deutschlehrer-
spektivierung soziokultureller Inhalte) und ausbildung im Ausland dient ein Teil der
maßgeblich die Haltungen und Einstellungen Ausbildungszeit der Erweiterung sprachprak-
der Lernenden gegenüber der Zielsprache tischer Kompetenz (Alltagssprache; Sprache
und der Zielsprachenkultur beeinflussen. des Unterrichts; Fachsprache etc.).
Bezugswissenschaften der Fremdsprachen- Bezugswissenschaften für die Ebene des
lehrerausbildung sind deshalb auf dieser fremdsprachlichen Fachunterrichts sind des-
Ebene die eigene wie auch die zielsprachliche halb vor allem die Spracherwerbsforschung
Soziokultur und ihr historisch gewachsenes und die Erforschung dessen, was im Klassen-
und aktuelles Wechselverhältnis (Soziologie; zimmer geschieht, wenn die Fremdsprache
Politik etc.). vermittelt wird (L-2 classroom research).
3.2. Die institutionelle Dimension des 3.4. Die fachspezifische Dimension ⫺ der
fremdsprachlichen Deutschunterrichts Bezug zu den germanistischen
Gesteuerter Fremdsprachenunterricht voll- Fachwissenschaften
zieht sich im institutionellen Kontext (etwa: Da im Bezug zu den unmittelbaren Fachwis-
Schule). Grundlegende und übergreifende senschaften (Literatur-, Sprach- und Landes-
Aspekte institutionellen Lehrens ⫺ z. B. wissenschaften) der Unterschied zwischen der
übergreifende Zielsetzungen (welche Kennt- Germanisten- und der Deutschlehrerausbil-
nisse, Fertigkeiten und Einstellungen sollen dung besonders deutlich wird, muß dieser
an die nachkommende Generation vermittelt Aspekt eingehender dargestellt werden.
werden? Welche Qualifikationen werden zum Die folgende Gegenüberstellung lässt das
Leben gebraucht?) und Bedingungen ⫺ (z. B. Profil der Deutschlehrerausbildung klarer
organisatorische Bedingungen: Einteilung in hervortreten (vgl. Neuner 1995).
Klassen und Gruppen nach bestimmten Kri-
terien, etwa von Alter oder Leistung; Einsatz 3.4.1. Germanistenausbildung
bestimmter Lehrmedien und Anwendung be- Ziel der Germanistenausbildung ⫺ etwa in ei-
stimmter Lehrverfahren) ⫺ beeinflussen den nem Magisterstudiengang ⫺ ist die Vermitt-
Fachunterricht nachhaltig. Sie gehören des- lung eines möglichst umfassenden Fach-
halb zu den Gegenständen der Lehrerausbil- wissens in Verbindung mit der Entwicklung ei-
dung. nes spezifischen Methodenbewussteins (For-
Bezugswissenschaften sind in diesem Be- schungsansätze und -perspektiven) in den
reich etwa allgemeine Pädagogik und Schul- germanistischen Fachdisziplinen. Das Lehr-
pädagogik; allgemeine Didaktik und Lern- angebot des traditionellen Germanistikstudi-
theorie. ums ist also von der Wissenssystematik der
germanistischen Teilgebiete her konzipiert ⫺
3.3. Die Ebene des Fachunterrichts der Literaturwissenschaft und der Sprachwis-
Fremdsprachenunterricht ist zum einen ge- senschaft. In der Germanistik im Ausland
prägt von übergreifenden Rahmenbedingun- kommt als weiteres Teilgebiet das der Lan-
gen (vgl. 3.1. und 3.2.), zum anderen von deswissenschaften deutschsprachiger Länder
fachspezifischen Vorgaben (vgl. 3.4.) und In- hinzu.
halten. Die Studierenden weisen zum Ende des
Kennzeichnend für den Fachunterricht Studiums ihre Qualifikation als Germanisten
sind aber nicht nur diese fachspezifischen u. a. durch eine Magisterarbeit nach, in der
Vorgaben und Inhalte, sondern auch die Pro- ein ausgewähltes Thema aus den genannten
zesse des Fremdsprachenlehrens und -erler- fachwissenschaftlichen Bereichen „nach den
nens, die sich in unterrichtlicher Interaktion Regeln der Kunst“ (Darstellungsweisen; For-
(Lehr- und Lernverhalten) manifestieren. schungsmethoden) bearbeitet wird.
34 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

3.4.2. Aufgliederung des Schon allein diese Entwicklungen im Fach


Germanistikstudiums auf der selbst zwingen die Germanistik heute dazu,
Grundlage der Wissenssystematik des Ziele und Inhalte ihrer Studiengänge perma-
Faches: Literaturwissenschaft nent zu überdenken und ihren Stellenwert im
Allgemeine Literaturwissenschaft Rahmen erweiterter Studiengangkonzepte ⫺
Terminologie (etwa: Gattungslehre; etwa im Bereich der Medien-, Kultur- und
Grundbegriffe zu Epik, Lyrik und Dra- Kommunikationswissenschaften ⫺ neu zu
matik) formulieren (vgl. Seeba 1995; Dirscherl 1995).
Methodologie (etwa: Interpretations- 3.4.3. Fachinhalte der
und Forschungsmethoden) Deutschlehrerausbildung
Literaturgeschichte
gegliedert nach Epochen/Gattungen Aus der Kumulierung germanistischen Fach-
wissens ergibt sich nicht „von selbst“ eine
Sprachwissenschaft
sinnvolle Deutschlehrerausbildung.
Systematische Aspekte (etwa: Syntax)
Zunächst ist festzustellen, dass fachliches
Sprachnormative Aspekte
Wissen für den künftigen Lehrberuf sehr viel
Historische Aspekte
mehr an Kenntnissen umfasst als nur ger-
Methodologie
manistische Studieninhalte, nämlich auch
Landeswissenschaften (in der Auslandsger- Kenntnisse, die den übergreifenden interkul-
manistik) turellen und institutionellen Bezugsebenen
Systematische Aspekte zuzuordnen sind (etwa aus der Soziologie;
(etwa: Institutionen- und Realien- der Psychologie; der Pädagogik und Didak-
kunde) tik, vgl. 3.1. und 3.2.) und Kenntnisse, die
Historische Aspekte sich auf die Grundlagen des Lehrens und Er-
Methodologie lernens von Fremdsprachen beziehen und der
In der historischen Entwicklung des Faches unterrichtlichen Ebene zuzuordnen sind
dominierte die Literaturwissenschaft, ge- (etwa zum Spracherwerb; zu den Faktoren
nauer: die Literaturgeschichte. Diese Vor- und Prozessen des Lehrens und Lernens im
rangstellung der Literaturwissenschaft ist bis institutionellen Kontext (vgl. 3.3.) (vgl. Hen-
heute in vielen Ländern im Germanistikstu- rici 1992).
dium erhalten geblieben. Zwar haben auch in einem Deutschlehrer-
Sprachwissenschaft wurde zunächst nur studium die germanistischen Fachinhalte tra-
als Sprachgeschichte angeboten, deren Be- gende Funktion. Aber das anders geartete
funde oft aus den Dokumenten der literari- lehr- und lernwissenschaftliche Erkenntnisin-
schen Zeugnisse der einzelnen Epochen er- teresse führt zu einer anderen Perspektivie-
mittelt wurden. rung, Auswahl und Gewichtung dieser Fach-
Landeswissenschaften hatten in diesem inhalte. Dabei spielen zum einen übergrei-
Konzept insbesondere eine Funktion als Zu- fende interkulturelle und institutionelle, zum
lieferer von vor allem kulturhistorisch orien- anderen unterrichtliche Fragestellungen eine
tierten Hintergrundinformationen zur Litera- Rolle (etwa: Bezug zur Welt der Zielsprache;
turgeschichte. Zum anderen hatte dieses die Bestimmung allgemeiner und fachspezi-
Fachgebiet die Aufgabe der Vermittlung von fischer Lehrziele und Lehrmethoden). Auch
Realien- und Institutionenkunde. ist deutlich, dass sich das Erkenntnisinteresse
Anzumerken ist, dass die Wissensbestände der Deutschlehrerausbildung nicht nur auf
und die Teilgebiete der Germanistik sich in a) Gegenstände des Lehrens und Lernens be-
den letzten Jahrzehnten deutlich ausgeweitet zieht, sondern auch auf
haben. Dabei vollzog sich nicht nur eine Ex- b) die Bedingungen und
pansion der Gegenstandsbereiche ⫺ etwa im c) die Prozesse des Lehrens und Lernens um-
Einbezug der Literatur der Hör- und Seh- faßt, u. z. sowohl die diachronische Per-
Medien; der Trivialliteratur, der Kinder- und spektive (historische Entwicklung und
Jugendliteratur; der Pragma- und Textlingui- Wandel) als auch die synchronische Per-
stik ⫺, sondern z. T. auch ein perspektiven- spektive (Ermittlung gegenwärtig feststell-
wechsel der Forschung ⫺ z. B. von der Ana-
barer Phänomene).
lyse der Gegenstände auf die Erforschung ih-
rer Wirkung (etwa in der Rezeptions- und Le- Das Deutschlehrerstudium geht deshalb in
serforschung) bzw. ihrer Verwendung (etwa: besonderer Weise auf diejenigen Aspekte ger-
Pragmalinguistik und Textpragmatik). manistischer Fachwissenschaft ein, die in der
3. Didaktisch-methodischer Ansatz 35

Abb. 3.1: Bezugspunkte der Ausbildung

Entwicklung des fremdsprachlichen Deutsch- lichen Beschäftigung mit den theoretischen


unterrichts eine tragende Rolle gespielt haben Grundlagen und den praktischen Verfahren
und im Rahmen gegenwärtiger Konzeptionen des institutionellen Lehrens und Erlernens der
des Lehrens und Erlernens der Fremdsprache Fremdsprache Deutsch ⫺ lassen sich Themen-
Deutsch von besonderer Bedeutung sind bereiche und Aufgabenfelder ableiten, die für
(Auswahl und Schwerpunktsetzung bei den das Deutschlehrerstudium konstitutiv sind.
germanistischen Lehrinhalten).
So ist es beispielsweise nicht das Ziel, etwa 4.1. Kernbereich Theorie und Praxis des
im sprachwissenschaftlichen Bereich systema- fremdsprachlichen Deutschunterrichts
tisch alle Beschreibungsverfahren der Gram- 4.1.1. Aspekte des Lehrens (synchronisch/
matik der deutschen Sprache darzustellen, diachronisch):
sondern es geht um die Frage, welche Gram-
matikmodelle für das Lehren und Erlernen • Bedingungen (politisch-gesellschaftlich-in-
der Fremdsprache Deutsch in der histori- terkulturelle; institutionelle; pragmatische;
schen Entwicklung ihrer Fachdidaktik in be- etc.) des fremdsprachlichen Deutschunter-
sonderer Weise berücksichtigt wurden und in richts
der gegenwärtigen fachdidaktischen Kon- • übergreifende und fachspezifische Leitvor-
zeptbildung eine besondere Rolle spielen. stellungen/Lehrziele; curriculare Planung
Das kann ggf. dazu führen, dass aus didakti- • Lehrinhalte (fachliches Wissen in den ge-
scher Perspektive neuartige Beschreibungs- nannten Bezugswissenschaften) und Pro-
verfahren entwickelt werden (z. B. Signal- gression der Lehrstoffe
grammatik), wodurch Forschungsimpulse • Lehrmethoden des Fremdsprachenunter-
auch von der Fremdsprachendidaktik an die richts
Linguistik entstehen können. • Unterrichtsmedien
Aus diesen Überlegungen lässt sich das fol- • Lernkontrollen
gende Modell der Bezugspunkte curricularer • Planung, Durchführung und Evaluation
Planung der Deutschlehrerausbildung ent- des Unterrichts
wickeln (vgl. Abb. 3.1. Bezugspunkte der
Ausbildung). 4.1.2. Aspekte des Lernens:
• Muttersprachen- und Fremdsprachener-
4. Konturen der lehr- und werb
lernwissenschaftlichen Ausrichtung • Lerner/Lernergruppe (Lernermerkmale,
z. B. eigene Sprache und Soziokultur sowie
des Faches
ihr Bezug zur Zielsprache und -soziokul-
Aus dem strukturierenden Leitinteresse der tur; Wissen und Erfahrung; Motivation
Deutschlehrerausbildung ⫺ der wissenschaft- und Interesse; etc.)
36 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

• Aspekte des Lernprozesses (etwa: Lerntra- 4.2.3. Landeswissenschaften


ditionen: Lerntechniken und -strategien; Beispiele:
Lernerautonomie) • systematische Aspekte (Strukturen/Institu-
tionen/Wertsysteme etc.);
4.2. Die Integration der germanistischen
• historische Aspekte (neuere Geschichte);
Fachinhalte
• vergleichende Aspekte (Wechselbeziehun-
In praktisch allen oben genannten Teilberei- gen/Vergleich der deutschsprachigen Län-
chen sind wichtige Aspekte der Bezugswis- der untereinander);
senschaften in gebündelter Form vorfindbar. • pragmatische Aspekte (Alltagsphänomene/
In den folgenden Beispielen soll die Inte- Routinen/Rituale);
gration der germanistischen Fachwissen- • methodologische Aspekte (interkultureller
schaften bei der curricularen Planung ver- Ansatz/Vorurteilsforschung etc.).
deutlicht werden.
4.3. Zur inhaltlichen Verknüpfung der
4.2.1. Linguistische Aspekte in der einzelnen Teilgebiete der
Deutschlehrerausbildung Deutschlehrerausbildung
Beispiele: Auch bei der Deutschlehrerausbildung besteht
• Sprachbeschreibungsmodelle, die für die die Gefahr eines relativ unverbundenen
Entfaltung der Lehrmethoden wichtig wa- Nebeneinander einzelner Teildisziplinen. Vom
ren/sind (etwa: Schulgrammatik; Struktu- übergreifenden Leitinteresse der wissen-
ralismus; Pragmalinguistik; Dependenz- schaftlichen Beschäftigung mit der Theorie
grammatik) und Praxis des fremdsprachlichen Deutsch-
• Kontrastive Sprachanalyse (Sprach- unterrichts ergeben sich jedoch Ansatzpunkte
systeme und Sprachgebrauch) einer Integration. Sie ist nicht nur wegen der
• Fehleranalyse und -bewertung oft herrschenden Zeitknappheit geboten,
• Linguistische Aspekte der Entwicklung sondern trägt sicher auch dazu bei, die Stu-
fremdsprachlicher Fertigkeiten und Sy- dienmotivation der Teilnehmer zu erhöhen,
steme weil einsichtig gemacht werden kann, warum
Kursschwerpunkte gesetzt werden, wie sich
Beispiel 1: Bereich der Fertigkeiten: Lesever- die einzelnen Lehrveranstaltungen in das Ge-
stehen samtkonzept der Ausbildung einfügen und
• textlinguistische Aspekte (Merkmale ge- welche Bedeutung die Kursinhalte für die
schriebener Sprache/Sprachregister/Text- spätere berufliche Tätigkeit haben.
sorten)
• psycholinguistische Aspekte (Wahrneh- Beispiele für inhaltliche Verknüpfung:
mung/Speicherung/Aktivierung; Verhältnis • Literatur und Landeskunde
von Verstehen und Äusserung) ⫺ literarische Landschaften
⫺ Literatur und Kunst
Beispiel 2: Bereich der Sprachsysteme: Wort- ⫺ thematisch orientierte Literaturge-
schatzarbeit schichte
• Struktur des Lexikons und Wortschatzler- • Literatur und Linguistik
nen ⫺ Textlinguistik fiktionaler Texte
• Sprachzeichen und -bedeutung im inter- ⫺ Sprachstil/Register fiktionaler Texte
kulturellen Lernprozess (eigene Sprache ⫺ • Linguistik und Landeskunde
Fremdsprache) ⫺ Dialekte/Soziolekte
• Auswahl und Abstufung des Wortschatzes ⫺ öffentlicher und privater Sprachge-
(Grundwortschatz ⫺ Aufbauwortschatz, brauch
Wortschatzprogression) ⫺ kontrastive Aspekte (Sprachgebrauch)
• Linguistik und Lerntheorie
4.2.2. Literaturwissenschaftliche Aspekte in
⫺ sprachliche Entwicklungsstadien beim
der Deutschlehrerausbildung
Spracherwerb
Beispiele: ⫺ sprachliche Progression im Fremdspra-
• Literaturgeschichte „von der Gegenwart chenlernprozess
zur Vergangenheit“ (themenorientiert) ⫺ Wahrnehmung/Speicherung/
• Gegenwartsliteratur; Aktivierung von (Fremd-)Sprache
• kurze Formen fiktionaler Texte; • In der sprachpraktischen Ausbildung er-
• Kinder- und Jugendliteratur. gibt sich eine Verknüpfung aller Aspekte,
3. Didaktisch-methodischer Ansatz 37

z. B. in der Textauswahl und Aufgabenstel- Die Formulierung, die Fremdsprachendi-


lung in den Sprachkursen. daktik sei die Wissenschaft „vom Lehren und
• Ähnlich ist es bei der Vorbereitung, Lernen fremder Sprachen in einem institutio-
Durchführung und Evaluation von Unter- nellen Zusammenhang“ (Christ/Hüllen 1995,
richtspraktika. Im konkreten Unterricht 7), verweist auf fünf zentrale Gegenstandsbe-
sind die einzelnen Fachaspekte immer in reiche fremdsprachendidaktischer Forschung:
gebündelter und integrierter Form vorzu-
a) Untersuchung des Fremdsprachenlehrers
finden.
und des Vorgangs des Lehrens fremder
Sprachen;
5. Forschung im Fach Deutsch als b) Untersuchung des Lerners und des Lern-
Fremdsprache prozesses;
c) Untersuchung sprachkontrastiver und in-
5.1. Forschungsgegenstände und terkultureller Aspekte;
Problemfelder d) Untersuchung der Sprache des Unter-
Deutschlernen wurde lange Zeit mit der Ver- richts als Medium des Unterrichts und als
mittlung einer „Sprachlehre des Deutschen“ Inhalt des Unterrichts;
gleichgesetzt. Die Forschung bezog sich dabei e) Untersuchung des institutionellen Zusam-
menhangs des Sprachlehrens und -erler-
• auf die Beschreibung der Elemente der nens.
Sprachlehre (etwa Phänomene der Gram-
Deutlich wird bei dieser Auflistung, dass der
matik, des Wortschatzes, der Aussprache
Fremdsprachenunterricht bzw. die konkrete
und der Rechtschreibung);
Unterrichtssituation von einer Fülle von ⫺
• auf die Entwicklung von Vorschriften zum
offen zutage tretenden oder verdeckt wirksa-
Vermittlungsverfahren (Lehrmethoden).
men ⫺ Faktoren beeinflusst wird. Dies ver-
Die Tatsache, dass es in der Geschichte des weist auf eine der grundlegenden Schwierig-
Fremdsprachenunterrichts immer wieder keiten, mit denen sich fremdsprachendidakti-
Neuansätze bei der Beschreibung des sche Forschung auseinander setzen muss: um
„Sprachlehrstoffes“ wie auch bei der Formu- zu forschen, muss ein Aspekt ⫺ oder eine be-
lierung von Lehrmethoden (etwa der Gram- grenzte Zahl ausgewählter Bereiche ⫺ aus
matik-Übersetzungs-Methode; der Direkten dem komplexen Gesamtzusammenhang her-
Methode; der Audiolingualen Methode; der ausgelöst werden. Dabei besteht die Gefahr,
Kommunikativen Didaktik; vgl. Neuner/ dass sich der Einzelaspekt, dem das Interesse
Hunfeld 1993) gab, macht deutlich, dass es gilt, in seiner Bewertung verselbständigt und
eine eindeutige, einfache und für alle Zeiten zu einer Fehleinschätzung seines Stellenwerts
gültige Beschreibung dessen, was im Fremd- im Gesamtzusammenhang führt. Zu verwei-
sprachenunterricht zu lernen ist (Lehrziele) sen ist auch auf die Tatsache, dass sich bei
und wie man das zu Lehrende am besten ver- der Komplexität und Interaktion der vielfälti-
mittelt (Lehrmethoden), nicht gibt, sondern, gen Faktoren Fremdsprachenunterricht oft
dass das Lehren und Erlernen von Fremd- nicht nach den Gesetzen der Logik verhält,
sprachen ein dynamischer ⫺ und in seinen sondern eher als chaotisches System konsti-
Ergebnissen weder eindeutig vorherbestimm- tuiert ist, das schon bei einer kleinen Verän-
barer noch vorprogrammierbarer ⫺ Prozess derung der Faktorenkonstellation nicht vor-
ist, der von einer Vielfalt komplexer Faktoren herbestimmbare Auswirkungen zeigt. Das er-
beeinflusst wird. Dazu gehören externe Fak- klärt die Erfahrungen vieler Lehrender, dass
toren wie sie etwa im Bereich institutionellen keine Unterrichtsstunde der anderen gleicht
Unterrichts erkennbar sind (z. B. vorgege- und dass Unterrichtsplanung, die in der einen
bene Ziele und Lehrmethoden; Situation in Klasse zu guten Ergebnissen führt, in der
der Klasse bzw. Lerngruppe, die Einfluss nächsten Klasse „nicht ankommt“, dass eine
nimmt auf Verhalten im Unterricht; das Ver- auch noch so gründlich vorbereitete Unter-
hältnis und die unterrichtliche Interaktion richtsstunde „schieflaufen“ kann, wie auch
von Lehrenden und Lernenden) und interne andererseits improvisierte Stunden „sehr gut
Faktoren (z. B. Interesse und Motivation am laufen“ können. Weder der Unterrichtserfolg
Erlernen der Fremdsprache; Haltungen und noch das Verhalten der Lernenden sind pro-
Einstellungen der Welt der Zielsprache ge- grammierbar.
genüber; aber auch psychische Befindlichkeit; Aus diesem Grund lassen sich auch empi-
Konzentrationsfähigkeit etc.). risch gewonnene Daten, die immer an einem
38 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

ganz konkreten Fall des Unterrichtsgesche- stimmung der Entfaltung des „geistigen Seins
hens gewonnen werden und sich auf eine und Sollens“ des Fremdsprachenunterrichts.
ganz bestimmte Konstellation der Faktoren Dabei ist als Bezugsfeld für den Forscher
beziehen, nicht ohne weiteres verallgemei- nicht die aktuelle Realität des Unterrichts
nern. von Interesse, die Bemühungen gelten viel-
mehr der Frage, wie dieser „künftige Zu-
5.2. Forschungsmethoden stand“, in dem die vorgefassten Ziele ver-
5.2.1. Zur Hermeneutik des wirklicht sind, zu beschreiben und auf wel-
Fremdsprachenunterrichts chem Weg dieser „Sollzustand“ zu erreichen
Die Aussage, dass die Fremdsprachendidakti- ist.
ker zunächst wenig über ihre wissenschaftli- 5.2.2. Empirische Forschung
chen Methoden und ihr Methodenverständ-
nis reflektierten und dass ihre methodischen In der Erforschung des fremdsprachlichen
Ansätze zwischen den Polen „deskriptiv“ und Unterrichts finden deshalb empirische An-
„normativ“ bewegten (Christ/Hüllen 1995, sätze, wie sie in der Psychologie und der Sozio-
4), trifft auch für die Erforschung des fremd- logie entwickelt wurden, erst in jüngerer Zeit
sprachlichen Deutschunterrichts zu. Die ⫺ vor allem im Zusammenhang mit der Ent-
Gründe hierfür liegen zum einen in den insti- wicklung der Sprachlehr- und Lernforschung
tutionellen Vorgaben: Fremdsprachenunter- seit dem Anfang der 70er Jahre ⫺ in nennen-
richt war in Europa bis nach dem 2. Welt- wertem Umfang Berücksichtigung (Bausch/
krieg ein Privileg höherer Bildung und ist es Christ/Hüllen/Krumm (Hrsg.), 1984). Empiri-
bis heute noch in vielen Ländern der Welt. In sche Forschung beschäftigt sich vor allem mit
seinen Genuss kam eine relativ kleine Elite den Prozessen des Lehrens und Lernens im
leistungshomogener Schüler. Zum anderen unterrichtlichen Handlungsfeld. Dabei wird
wurde der Unterricht in den modernen ⫺ in einem bewußten Wechsel der Perspek-
Fremdsprachen im Anschluss an die Tradi- tive ⫺ vor allem die Lernenden in den Blick-
tion des Unterrichts der „alten Sprachen“ punkt gerückt (z. B. Einfluß von gruppenspe-
(Griechisch und Latein), die jahrhunderte- zifischen und individuellen Lernermerkmalen
lang den schulischen Fremdsprachenunter- auf den Lernprozess und Lernerfolg; Erfor-
richt dominiert hatten, weniger als Vorberei- schung psycholinguistischer Aspekte ⫺ etwa
tung auf „internationale Kommunikation“, der Entwicklung der Lernersprache (interlan-
sondern eher als „Geistesschulung“ (durch guage); der mentalen Aufnahme, Speiche-
Anleitung zu ordnendem Denken mit Hilfe rung/Verarbeitung und Aktivierung von Da-
der Grammatikvermittlung) und „Teilhabe an ten beim unterrichtlichen Lernen; des Verste-
der geistigen Bildung“ verstanden (über die hensprozesses; der Lernprozesse im Klassen-
Beschäftigung mit literarischen Zeugnissen zimmer ⫺; Lerntechniken und -strategien; af-
der Fremdsprache bzw. mit Texten, die über- fektive Komponente des Lernens).
greifende Bildungs- und Erziehungsziele re- Da das unterrichtliche Lernen von Fremd-
präsentierten). Unter diesen fest gefügten ge- sprachen als ein komplexes Geschehen ver-
sellschaftlich-institutionellen Rahmenbedin- standen wird, als „[…] das Ergebnis des Zu-
gungen bezog sich fremdsprachendidaktische sammenwirkens zahlreicher Faktoren […],
Forschung in erster Linie auf die Entfaltung die sich sowohl auf die Lehr- und Lernbedin-
der Lehrstoffperspektive (Lehrziele; Progres- gungen im Klassenzimmer als auch auf psy-
sion der Lehrstoffe; Überprüfung der Lehr- chologische und soziale Komponenten aus-
ziele) und der Entwicklung von Vorschlägen serhalb des Klassenzimmers beziehen und die
zur Unterrichtsgestaltung (Lehrmethoden). selbstverständlich in engem Bezug zum Lern-
Hermeneutische Verfahren sind im Bereich gegenstand zu sehen sind“ (Bausch/Krumm
der Fremdsprachenforschung vor allem bei 1995, 9), muss empirische Forschung inter-
der Erforschung curricularer Aspekte des disziplinär und integrativ angelegt sein.
Lehrens mit Erfolg anwendbar (etwa: Erfor- Empirsche Forschung kann sich auf un-
schung der Faktoren und Zusammenhänge terschiedliche Aspekte beziehen (Grotjahn
der Lehr- und der Lehrstoffperspektive des 1995, 457):
Fremdsprachencurriculums wie z. B. Bestim- a) die Beschreibung von beobachtbaren Pro-
mung und Wandel der Lehrziele, der Lehrme- zessen, die sich in einem bestimmten Zeit-
thoden und -medien ⫺ insbesondere auch der abschnitt vollziehen (z. B. Interaktionsbe-
Lehrwerke ⫺ sowie des Zusammenhangs von schreibungen) im Lehr- und Lerngesche-
Zielen und Prüfungen). Sie dienen der Be- hen);
3. Didaktisch-methodischer Ansatz 39

b) die Beschreibung der zu einem bestimm- stellt hat (Arbeitsgruppe Fremdsprachener-


ten Zeitpunkt vorliegenden Resultate werb Bielefeld 1995; Henrici 1995; Aguado
(Produkte) beobachtbarer Prozesse (z. B. (Hg.) 2000).
Fehlerbeschreibungen); Dass empirische Forschung im Bereich
c) die Beschreibung beobachtbarer Resultate Deutsch als Fremdsprache bis heute über
nichtbeobachtbarer, individueller, menta- erste Ansätze hinaus noch nicht gediehen ist
ler Prozesse (z. B. Vorgänge im Gedächt- und dass bisher nur Einzelaspekte bearbeitet
nis, Erforschung von Haltungen und Ein- worden sind, hat eine Reihe von Ursachen,
stellungen). die nicht nur darin begründet sind, dass das
Fach als Hochschulfach noch nicht sehr
Zwei erkenntnisleitende Interessen der empi-
lange besteht und in der Gründungsphase die
rischen Forschung lassen sich angeben:
vorhandenen Energien sich auf andere Ar-
a) die Entwicklung einer begründeten Theo- beitsbereiche konzentrieren musste. Die Ur-
rie des Fremdsprachenunterrichts; sachen sind sicher auch in den schon erwähn-
b) die Überprüfung bestehender Unterrichts- ten Denktraditionen und Einstellungen im
praxis, die ggf. zu einer Bestätigung bzw. pädagogischen Bereich zu suchen, die es mit
zu Veränderung führt. sich bringen, dass sich die Fachleute eher mit
„Unterricht, wie er sein soll“ als mit „Unter-
Bei allzu hoch gesteckten Erwartungen an
richt, wie er tatsächlich ist“, beschäftigen. Zu
empirische Forschung ist zu berücksichtigen,
Recht verweist Krumm (1996) darauf, dass
dass bei der Entwicklung einer in sich konsi-
Vorstellungen von Fremdsprachenunterricht,
stenten Theorie des Fremdsprachenunter-
richts zunächst die Vielzahl komplexer Fak- wie sie in der Sprachlehrforschung und
toren im einzelnen und in ihrem Wechselver- Fremdsprachendidaktik bestehen, z. T. ganz
hältnis zueinander beschrieben werden muss erheblich von den Vorstellungen abweichen,
(vgl. Königs 1983) und dass alle empirisch ge- die Lernende und Lehrende mit in den Unter-
wonnenen Befunde in diese Theorie rückge- richt bringen.
bunden werden müßten, wenn sie sich nicht 5.2.3. Die Erforschung der Bedingungen des
verselbständigen sollen. Deutlich wird an die- fremdsprachlichen Deutschunterrichts
ser Stelle, dass empirische Forschung ⫺ u. z.
sowohl die Datenerhebung als auch die Da- Man kann drei Bereiche von Erkenntnisinter-
tenanalyse und -auswertung ⫺ stets von hy- essen unterscheiden, die den Ansatz unter-
pothetischen Annahmen zur Struktur der schiedlicher Wissenschaftsmethoden kenn-
Realität geprägt ist, die ganz entscheidend zeichnen:
nicht nur den Blick auf die Realität beeinflus- „In den Ansatz der empirisch-analytischen
sen, sondern auch die Forschungsmethoden Wissenschaft geht ein technisches, in den An-
und Beobachtungsinstrumente, die zur An- satz der historisch-hermeneutischen Wissen-
wendung kommen. schaft ein praktisches und in den Ansatz kri-
Daraus ergibt sich auch, dass eine direkte tisch orientierter Wissenschaft ein emanzipa-
Ableitung von Handlungsempfehlungen zur torisches Erkenntnisinteresse ein“ (Habermas
Verbesserung des konkreten Unterrichts aus 1971, 55).
den Resultaten empirischer Forschung nicht Fremdsprachendidaktische Forschung
ohne weiteres möglich ist. muss immer wieder eine Integration der drei
Zu den Wegbereitern empirisch fundierter ganz unterschiedlichen Erkenntnisinteressen
Arbeiten zur Lernprogression im Bereich zu leisten versuchen.
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache zählen Sie kann vor allem auf die „dritte Dimen-
u. a. das Projekt „Pidgin Deutsch“ (Heidel- sion“ nicht verzichten, die sich mit den Inter-
berg) aus den 70er Jahren (vgl. Sankoff (Hg.), essen und Triebkräften beschäftigt, die hinter
1978) und das Projekt „Zweitsprachenerwerb den im aktuellen Unterricht beobachtbaren
italienischer, spanischer und portugiesischer Phänomenen und den diesen Unterricht be-
Arbeiter“ (ZISA), in dem Spracherwerbsstu- stimmenden „Gegebenheiten‘ stehen. Es ist
fen untersucht werden (vgl. Pienemann 1981; nicht ohne weiteres zu erwarten, dass die Er-
Clahsen/Meisel/Pienemann 1983). In den letz- gebnisse der Sprachlehrforschung zu einer
ten Jahren hat sich an der Universität Biele- Veränderung der bestehenden Unterrichts-
feld eine „Arbeitsgruppe Fremdsprachener- praxis führen, wenn sie nicht auch die Bedin-
werb“ konstituiert, die erste Ergebnisse gungen, die die gegenwärtige Praxis prägen
unterrichtlicher Interaktionsanalyse bereitge- (etwa gesellschaftlich-politische Bedingun-
40 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

gen), zum Gegenstand ihrer Forschungen Fähigkeit, Probleme zu lösen und Verant-
macht. wortung zu übernehmen;
Die Erforschung des institutionellen (2) als Pädagogin/Pädagoge, die Hilfestel-
Fremdsprachenunterrichts kann auch wegen lung zum „Lebenlernen“ in einer sich
ihrer Einbettung in übergreifende pädagogi- ständig wandelnden Welt und zum aufge-
sche Zusammenhänge nicht darauf verzich- schlossenen und toleranten Umgang mit
ten, die Frage nach dem „tieferen Sinn“ des der Welt der Zielsprache geben können;
Lehrens und Erlernens von Fremdsprachen (3) als Menschen, die sich durch das Studium
zu stellen und eine Antwort auf die Frage zu in ihrer personalen und sozialen Identität
suchen, welchen spezifischen Beitrag der wie auch in ihren geistig-kreativ-äs-
Fremdsprachenunterricht zur Entfaltung des thetischen Dimensionen weiterentwickeln
wechselseitigen Verstehens und der Verstän- können. Dabei spielt gerade die Beschäf-
digung (Konfliktbewältigung/Friedensfor- tigung mit Fragestellungen der fachlichen
schung) und zur Entwicklung des Individu- Bezugswissenschaften, die über das Tech-
ums (Identitätsaushandlung, -bildung und nische, das Praktisch-Nützliche und
-balance) leistet. „Funktionale“ hinausgehen, eine wesent-
liche Rolle.
6. Grenzen einer berufsorientierten
Deutschlehrerausbildung 7. Literatur in Auswahl
Eine der Gefahren einer vornehmlich an der Aguado, Karin (Hg.) (2000): Zur Methodologie in
Berufsperspektive orientierten Deutschlehrer- der empirischen Fremdsprachenforschung, Hohen-
ausbildung besteht darin, dass sie sich auf gehren.
eine „Handwerkslehre“ beschränkt, in der Arbeitsgruppe Fremdsprachenerwerb Bielefeld
das „berufliche Können“, d. h. das sprach- (1996): Fremdsprachenerwerbsspezifische For-
praktische Training und die Lehrmethodik schung. Aber wie? Theoretische und methodologi-
sche Überlegungen. In: DaF 33/3, 144⫺155.
im Vordergrund stehen. Solch eine Ein-
schränkung der Ausbildungsinhalte würde Bausch, K.-Richard; Herbert Christ; Werner Hül-
len u. a. (Hg.) (1984): Empirie und Fremdsprachen-
das Fach Deutsch als Fremdsprache zu einer
unterricht. Arbeitspapiere der 4. Frühjahrskonfe-
Anwendungsinstanz machen, die die (germa- renz zur Erforschung des Fremdsprachenunter-
nistischen) Bezugswissenschaften auf die richts, Tübingen.
Lehrstoffe des Schulfaches reduziert und ver- ⫺; ⫺; Frank G. Königs (Hg.) (1996): Erforschung
einfacht, den Anforderungen der jeweiligen des Lehrens und Lernens fremder Sprachen. Arbeits-
Lernstufe anpasst und Unterrichtsverfahren papiere der 16. Frühjahrskonferenz zur Erfor-
zu ihrer Vermittlung aufzeigt. Die Folge wäre schung des Fremdsprachenunterrichts, Tübingen.
nicht nur eine einseitige Dominanz der Lehr- ⫺; Hans-Jürgen Krumm (1995): Sprachlehrfor-
stoffperspektive, die den Lehrenden keinen schung. In: Karl-Richard Bausch; Herbert Christ;
pädagogischen Handlungsspielraum mehr Hans-Jürgen Krumm (Hg.): Handbuch Fremdspra-
lässt, sondern auch ihre Anpassung an die chenunterricht, 3. Aufl. Tübingen und Basel, 7⫺13.
„jeweils herrschenden“ Vorschriften zu über- Blamberger, Günter; Gerhard Neuner (Hrsg.)
geordneten Zielvorgaben, zu Unterrichtspla- (1995): Reformdiskussion und curriculare Entwick-
nung und -gestaltung. lung in der Germanistik. Internationale Germani-
Ziel der Deutschlehrerausbildung kann stentagung Kassel 1995. DAAD Bonn.
aber nicht die „Produktion von Fachmario- Clashen, H.; J. Meisel; M. Pienemann (1983):
netten mit Scheuklappen sein, die blind je- Deutsch als Zweitsprache: der Spracherwerb auslän-
dem Herrn dienen“, künftige Deutschlehre- discher Arbeiter. Tübingen.
rinnen und Deutschlehrer müssen vielmehr in Christ, Herbert; Werner Hüllen (1995): Fremdspra-
ihrem Studium Gelegenheit zur Entfaltung chendidaktik. In: Karl-Richard Bausch; Herbert
vielfältiger Qualifikationen bekommen: Christ; Hans-Jürgen Krumm (Hg.); Handbuch
Fremdsprachenunterricht, 3. Aufl., Tübingen/Basel,
(1) als Fachfrau/Fachmann in ihrem Fachge- 1⫺7.
biet. Dazu gehören neben dem fachlichen Dirscherl, Klaus (1995): Kulturraumstudien in
Wissen und Können auch übergreifende Deutschland ⫺ das Passauer Modell des Diplom-
Qualifikationen, die später in der Berufs- kulturwirts. In: Blamberger/Neuner (Hg.), 39⫺52.
praxis nicht weniger wichtig sind als Dittmar, Norbert (1981): On the verbal organiza-
Fachwissen, wie beispielsweise Koopera- tion of L2 tense marking in an elicited translation
tions- und Kommunikationsfähigkeit; task by Spanish immigrants in Germany. In: Stud-
Eigeninitiative und Selbständigkeit; die ies in Second Language Acquisition 3, 136⫺164.
4. Landeskundlicher Ansatz 41

Ellis, Rod (1985): Understanding Second Language ⫺ (1996): Fremdsprachen in Wissenschaft und Un-
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Grotjahn, Rüdiger (1995): Empirische Forschungs- 95⫺99.
methoden: Überblick. In: Bausch/Christ/Krumm Neuner, Gerhard (Hg.) (1993): Regionale und regio-
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4. Landeskundlicher Ansatz

1. Vorbemerkung methodischen von den Akteuren im Lehr-


2. Soziokulturelles Wissen und Landeskunde und Lernprozess ausgehend (vgl. Art. 3) das
3. Konzeptionen von Landeskunde in der Fach strukturiert und konturiert wird, lässt
Geschichte des Faches
4. Der landeskundliche Ansatz als inhaltliches sich ein adäquater Bezugspunkt und Gegen-
Prinzip standsbereich für inhaltsbezogene Konzepte
5. Literatur in Auswahl im Fremdsprachenunterricht nicht definieren.
Theoretisch herrscht Einigkeit, dass sprachli-
che (und kommunikative) Kompetenz ein
1. Vorbemerkung
Wissen über die Soziokultur der fremden
Während beim linguistischen Ansatz vom Sprache beinhalten muss, weswegen Harald
Sprachsystem (vgl. Art. 2), beim didaktisch- Weinrich (1980) darin die dritte „Kompo-
42 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

nente“ des Fachs sieht ⫺ und unbestritten ist einzelne Fachdidaktiken wie die für Deutsch
bei den Praktikern, dass soziokulturelles Wis- als Fremdsprache verwenden mehrheitlich
sen im Unterricht moderner Fremdsprachen „Landeskunde“ als umfassenden Terminus
beständig mitvermittelt wird. Weder lässt sich für die soziokulturellen Gegenstände und Be-
nun daraus der Schluss ziehen, dass man sich züge. Allerdings bleiben der Bedeutungsum-
mit einer impliziten Vermittlung zufrieden ge- fang des Forschungsgegenstandes wie die
ben kann, noch folgt daraus, dass beim Methoden der Vermittlung umstritten, wenn
Sprachlernen jedes Thema, sei es aus Texten auch des öfteren die Kontroversen nur den
im Unterricht zu erschließen oder in Lehrzie- Namen „Landeskunde“ zu betreffen schei-
len gefordert, expliziter Gegenstand sein nen.
muss.
Denn nicht nur Fachwissenschaftler und 2.1. Der Gegenstand
Praktiker beanspruchen den Fremdsprachen- In der Diskussion um den Gegenstand der
unterricht inhaltlich zu gestalten, sondern
Landeskunde im Fremdsprachenunterricht
auch die Curricula ⫺ Planer, deren Leitziele
wurde von verschiedenen Perspektiven und
für die schulische Erziehung in allen Fächern
Zielsetzungen aus eine nicht unbeträchtliche
immer auch die Begegnung und den Umgang
mit Fremden oder Fremdem thematisieren. Da Zahl an Begriffen für divergierende Ansätze
durch den Fremdsprachenunterricht darüber gebraucht, die sich zwei grundlegenden Be-
hinaus ein „Landesbild“ vermittelt wird, sor- trachtungsweisen zuordnen lassen:
gen sich schließlich auch Politik und interes- Für informationsbezogene Ansätze ist Lan-
sierte Öffentlichkeit darum, ob „ihr“ Staat deskunde bestimmt als „die geographischen,
richtig dargestellt oder die Wettbewerbsfähig- ökonomischen, sozialen, politischen und kul-
keit „ihrer“ Wirtschaft ins rechte Licht ge- turellen Verhältnisse in Deutschland, deren
rückt wird. Gleichzeitig existieren in der öf- Geschichte und Begriffe“ (Reinbothe 1997,
fentlichen Meinung „Landesbilder“ von den 505), als eine Enzyklopädie Deutschlands,
anderen, die mit dem Eigenbild verglichen die umfassende „Kunde vom Land“. Derar-
und zur Wertung herangezogen werden. tige Konzepte leiten die Themen des Fremd-
Die Frage nach der inhaltlichen Gestal- sprachenunterrichts deduktiv aus der jeweili-
tung des Fremdsprachenunterrichts wird als gen Fachsystematik einschlägiger Wissen-
Auseinandersetzung um Begriff und Inhalt schaftsdisziplinen ab, die als Referenz- oder
der Landeskunde geführt. Dabei ist diese auf Bezugswissenschaften für soziokulturelles
unterschiedlichen Ebenen zu betrachten: Wissen definiert sind; Landeskunde wird
⫺ als Gegenstandsbereich der Forschung, mehr oder wenig eigenständig und ergänzend
⫺ als Inhalt in der Ausbildung der Lehren- neben dem Sprachunterricht vermittelt.
den, Integrative Modelle bestimmen Landes-
⫺ als thematische Progression im Unterricht kunde als Teil des Sprachlernprozesses, als
und diejenigen „soziokulturellen Bedingungen“,
⫺ als Ergebnis staatlicher Fremdsprachen- unter denen die Lernenden der fremden Spra-
politik. che und Kultur begegnen, wenn ihnen die
fremde Sprache in ihrem ursprünglichen Ver-
wendungszusammenhang vorgestellt wird“
2. Soziokulturelles Wissen und (Buttjes 1995, 142); diese Begegnungen sind
Landeskunde vor dem Hintergrund eigener Kultur- und
Das im engeren Sinne sprachliche Wissen Spracherfahrungen zu interpretieren und je-
und das Vermögen, Sprechen in einer frem- weils spezifisch zu „erkunden“. Darunter fal-
den Sprache strategisch vorzubereiten und len alle Ansätze, die den Gegenstandsbereich
auszuführen, wird ergänzt durch die Fähig- der Landeskunde durch Analyse des Verhält-
keit, die individuellen, sozialen, kulturellen nisses von Sprache und Kultur, der Ziel-
und politischen Bedingungen der fremden gruppe und/oder des Lernortes sowie der
Sprache und den Alltag der Muttersprachler Unterrichtspraxis bestimmen. Da die Begeg-
wahrzunehmen und zu verstehen. Von der nungen mit dem „Fremden“ als durch die
Soziologie und der Sozialpsychologie werden Sprache vermittelt gesehen werden, ist die
diese als Soziokultur gefasst. thematische Situierung und landeskundliche
Die Fremdsprachendidaktik in den Reflexion als Prinzip unmittelbar in den Pro-
deutschsprachigen Ländern und noch stärker zess des Sprachlernens integriert.
4. Landeskundlicher Ansatz 43

2.2. Der Begriff tem Bedeutungsumfang, auch als Institutio-


Der Begriff der Landeskunde wird nicht nur nenkunde bezeichnet.
für ganz unterschiedliche Modelle und Teil- ⫺ Erweitert oder ergänzt wurde diese kog-
bereiche des gesteuerten Sprachunterrichts, nitiv bestimmte Landeskunde um eine Leute-
sondern auch in der Forschung und Lehre zur kunde, die speziell den Alltagsbereich (das
Kennzeichnung des soziokulturellen Wissens Alltagswissen) erfasst. Das Kontextwissen
und teilweise der Methoden zur Erforschung bezeichnet ebenfalls die landeskundlichen
des Verhältnisses von Soziokultur und Spra- Fakten, die getroffene Auswahl und deren
che verwendet. Auch das Teilgebiet in der Vermittlung, und wird texttheoretisch be-
Aus- und Fortbildung von Fremdsprachenleh- gründet.
rern wird damit bezeichnet. ⫺ In der Forschung sowie der Ausbildung
von Lehrern und Philologen hat sich der aus
2.3. Landeskunde und Curriculum der Auslandsgermanistik kommende Begriff
Mit seiner Aufnahme in den Kanon der Stu- der German Studies (jetzt auch: European
diendisziplinen und Unterrichtsfächer sieht Studies), als Civilisation allemande, Deutsch-
sich der institutionalisierte Unterricht moder- landstudien (bzw. -wissenschaften), oder all-
ner Fremdsprachen den Forderungen der gemeiner für die Didaktik der neueren
(Bildungs-)Politik gegenüber. Die in den Fremdsprachen als Länderkunde und Lan-
Lehrplänen formulierten allgemeinen Erzie- deswissenschaft etabliert.
hungs- und Bildungsziele für die künftigen Integrierte Ansätze von Landeskunde greifen
Staatsbürger sowie der geforderte Umgang teilweise wieder zurück auf den Begriff der
mit gesellschaftspolitischen Leitbildern wur- Kulturkunde (auch: Landes- und Kultur-
den und werden an den Fremdsprachenunter- kunde), in der Forschung dann entsprechend
richt in der Regel als Forderungen an die als Landes- und Kulturwissenschaften bzw.
Landeskunde gestellt. Die direkte Funktiona- Cultural Studies.
lisierung des Fremdsprachenunterrichts für
politische Zwecke orientiert sich ebenfalls an ⫺ Handlungsorientierte Ansätze wie die er-
den Ergebnissen aus dem Vergleich der eige- lebte Landeskunde definieren sich vom Lern-
nen Kultur mit derjenigen der fremden Spra- ort her bzw. suchen ihre Inhalte für die jewei-
che. lige Zielgruppe zu bestimmen.
⫺ Ebenfalls am Erfahrungshorizont der
2.4. Ebenen der Landeskunde Lernenden, speziell den Begegnungssituatio-
Versucht man nun die verschiedenen Termini nen mit dem „Fremden“ setzen Modelle einer
für das soziokulturelle Wissen im Fach interkulturellen Landeskunde an.
Deutsch als Fremdsprache den beschriebenen ⫺ Linguolandeskunde und landeskundliches
Aspekten zuzuordnen, zeigt sich, dass viele Lernen als Bedeutungsermittlung schließlich
fast unterschiedslos allen Ebenen zugeordnet beziehen sich konkret auf die im Unterricht
werden: behandelten Wörter, um ihre Funktion in der
„Landeskunde“ bezeichnet einen Teilbe- dahinter stehenden Soziokultur zu ermitteln.
reich der Forschung, den Kanon soziokultu-
rellen Wissens, ein (Teil-)Fach in der Ausbil-
3. Konzeptionen von Landeskunde in
dung und eine Perspektive beim Erlernen
der Sprache. der Geschichte des Faches
Es geht im folgenden also nicht darum,
Verschiedentlich wurde betont, dass der Blick
eindeutige Zuordnungen zu finden, sondern
in die Vergangenheit der Landeskundediskus-
die Übersicht für den historischen Rückblick
sion überraschend viele Parallelen zu gegen-
zu erleichtern:
wärtigen Diskussionen aufweist (Schröder
⫺ Eine Landeskunde, die Informationen 1981, 33), dass die historische Analyse durch-
über die geografischen, historischen, politi- aus aktuelle Argumentationshilfen geben
schen Gegebenheiten usw. in der Ausbildung kann. Für das 19. und die erste Hälfte des
oder neben dem Sprachunterricht im engeren 20. Jhs. wird fast ausschließlich auf Ergeb-
Sinne vermittelt, wird als Realienkunde, nisse der „realistischen Bildung“ und auf die
Deutschlandwissen oder Deutschlandkunde „Realien“ im Rahmen der allgemeinen Di-
mit einer komplementären Auslandskunde, daktik moderner Fremdsprachen in der
als „eigentliche“ Landeskunde (s. Linguolan- Schule zurückzugreifen sein; Forschungen,
deskunde) oder, mit deutlich eingeschränk- wie das Deutsche außerhalb des deutschen
44 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

Sprachraums unterrichtet wurde, fehlen. Des sprachen, einen Bildungswert ab. Die Ver-
weiteren werden Fragen nach den Realien im fechter einer „realistischen Ausbildung“ in
(Sprach-)Unterricht in Zusammenhang ge- den modernen Fremdsprachen suchten die-
bracht mit dem Ringen um die Bildung. Die sen, oft nach den vorgegebenen Kriterien der
Untersuchungsergebnisse aus Arbeiten über Altphilologen, nachzuweisen: Jede moderne
das Englische (Raddatz 1977) oder das Fran- Sprache könne ebenso formale Fähigkeiten
zösische als Fremdsprache (Melde 1987) sind bilden wie eine alte, die Kenntnis fremder
für Deutsch als Fremdsprache zum Teil ei- Länder und Menschen gehöre für eine auf-
gene Vorgeschichte, die bis in die Gegenwart strebende Weltmacht zur Allgemeinbildung
wirken kann. Als Zäsur kann man die Jahre ihrer Bürger und die praktische Notwendig-
nach der Gründung des deutschen National- keit etwa des Englischen als Verkehrs- und
staates 1871 ansehen: Nun wird es wichtig, Handelssprache stehe im nationalen Inter-
nicht nur die Rolle der modernen Fremdspra- esse. Letztlich aber verhalfen der Modernisie-
chen im nationalen Schulwesen neu zu reflek- rungsschub und die umfassende Funktionali-
tieren, sondern auch mit dem Aufbau einer sierung und staatliche Organisation des ge-
auswärtigen Kulturpolitik zu beginnen, in de- samten Ausbildungssektors, dem sich auch
ren Rahmen auch das Deutsche in den Kolo- das Gymnasium nicht mehr entziehen
nien der neuen Weltmacht unterrichtet wer- konnte, der realistischen Ausbildung zu ihrer
den sollte. nachhaltigsten Legitimation; das verlangte
In der mittelalterlichen Welt waren fremde von den Fremdsprachendidaktikern, ihre Fä-
Sprachen wenigen vorbehalten: Herrschern, cher für die damalige „Globalisierung“, den
geistlichen und bald auch weltlichen Gelehr- Konkurrenzkampf mit den europäischen In-
ten, zuletzt Reisenden und Händlern, der sich dustrienationen, vorzubereiten. Dem sollte
herausbildenden Klasse der Bürger. Latein ⫺ im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts
war Bildungsgut und Verkehrssprache der ⫺ die möglichst umfassende Auflistung von
geistlichen und weltlichen Eliten. Noch Realien über die anderen Nationen dienen.
schlossen sich kommunikativer Gebrauch der Die Auswahl dieses Wissens wurde weder so-
Sprache und idealistische Ziele wie die Ent- zialwissenschaftlich aus dem Verhältnis von
wicklung der Persönlichkeit nicht aus, wie Sprache und Gesellschaft noch fachdidak-
auch umgekehrt die praktische Verwertbar-
tisch aus der Bedeutung soziokulturellen
keit des Lateinischen seine Funktion als Bil-
Wissens im Prozess des Sprachlernens be-
dungsgut nicht beeinträchtigte.
gründet, sondern mit ökonomischen oder
Erst mit Beginn der Neuzeit, im Zuge der
(bildungs-)politischen Zielen. Deutlich domi-
Erfolge der Naturwissenschaften und ihrer
niert die inhaltliche Komponente den
radikal neuen Weltsicht, konnten sich die
Muttersprachen neben den klassischen Spra- Sprachunterricht: Kenntnis von Staat und
chen speziell seit dem Humanismus durchset- Gesellschaft und Verständnis des „fremden
zen. Volkstums“, aber auch ein Bewusstsein von
Mit der Überwindung der feudalen Struk- der „Zusammengehörigkeit der europäischen
turen und dem Entstehen der Nationalstaa- Völker“ sollen das natürliche Ergebnis sein
ten wurde ein realistischer und praktischer (vgl. Raddatz 1977, 17). Utilitaristische Er-
Unterricht als Bürgerrecht propagiert. Für wartungen an den Sprachunterricht können
den ökonomischen Aufstieg war nun nicht also ebenso von national-abgrenzenden wie
mehr die Herkunft und Bildung, sondern die von völkerverbindenden Positionen aus for-
Nützlichkeit der Ausbildung das Maß. muliert werden ⫺ beide allerdings nicht als
integrative Modelle für den Fremdsprachen-
3.1. Realienkunde und Bildungswerte unterricht. Die genaue Kenntnis des „Frem-
Die informationsbezogene Landeskunde den“ und seines „Wesens“ wird die Grund-
hatte und hat es schwer, sich vom Odium po- lage bilden zum Vergleich mit dem „Eige-
sitivistischer Datensammlung und materiali- nen“, dessen Ergebnisse dann nationalistisch
stischer Verengung zu befreien. Im Schul- umgedeutet werden können. Aber ebenso
streit der ersten Jahrzehnte nach der Reichs- lässt sich die entgegengesetzte Forderung
gründung sprachen speziell in Deutschland nach Solidarität und Verständigung unter
die Verfechter einer „humanistischen Bil- den „Völkern“ von außen herantragen. Hi-
dung“ den Realschulen und deren Fächerka- storisch zeigt sich, dass schon vor dem Welt-
non, neben den naturwissenschaftliche Diszi- krieg das Fremde als Folie benutzt wird, um
plinen vornehmlich den modernen Fremd- den Wert des eigenen Volkes zu zeigen.
4. Landeskundlicher Ansatz 45

Der landeskundliche Kanon sollte dafür oder gar Aufgaben im 1. Weltkrieg nicht er-
eine Sammlung aller relevanten Fakten be- füllen, trotzdem bot dies den Grund für die
reitstellen, in einer Progression vom Wissen grundsätzliche Kritik und letztlich auch die
um den Alltag, um „Land und Leute“, über Abkehr der reformwilligen Bildungsplaner
die wichtigsten Faktoren aus Geographie und vom realistischen Unterricht überhaupt:
Geschichte bis zu den sozialen, ökonomi- Nicht mehr nachvollziehbar heute der
schen und politischen Verhältnissen. Das Glaube, die gegenseitige Kenntnis der Spra-
Sprachlernen wird dadurch in die Lage ver- che entspreche schon einer Verständigung
setzt, Texte zu Alltagsthemen bereitzustellen oder die Bereitstellung von Realien könne di-
⫺ allerdings sollen mit zunehmendem rekt bei kriegerischen Auseinandersetzungen
Sprachverständnis auch Texte der jeweiligen nützen. Die Kritik aber wendet sich nicht ge-
Nationalliteratur oder die Viten der bekann- gen die inhaltlich und methodisch fragwür-
testen Künstler, Wissenschaftler und Politiker dige Funktionalisierung, sondern verlangt
verwendet werden, um daraus im Gefolge der nur eine andere.
gerade modernen Wissenschaft Psychologie
den „Charakter“ des anderen Volkes, den 3.2. Kulturkundliche Konzepte
„Nationalcharakter“ zu bestimmen. Man Die für eine praktische Sprachbeherrschung
kann bei diesem Kanon nicht von einem Cur- getroffene Auswahl ⫺ aktuell, realistisch,
riculum oder Lehrplan für Landeskunde Verständigung vorbereitend ⫺ wird einer völ-
sprechen, zu sehr beschränkten sich derartige lig anderen Perspektive unterworfen: „Es ist
Aufzählungen darauf, die politischen Vorga- vielmehr so, dass kulturkundlicher Unterricht
ben zu erfüllen. Der eigene, im Zuge eines nichts anderes bedeutet als eine neue Einstel-
sich stärker artikulierenden deutschen Natio- lung des ganzen Unterrichts, ein anderes Ge-
nalbewusstseins immer positiver gesehene richtetsein in der Methode, eine Verschiebung
Nationalcharakter, bald das „Wesen“ des des Gesichtspunktes nach einer anderen Seite
deutschen Volkes genannt, sollte umgekehrt hin … (zur) „kulturkundlichen Durchdrin-
weltweit Sympathie für Deutschland und gung“, um „an der fremden Volksart zum Be-
seine ökonomische und politische Expansion wusstein unserer eigenen Art (zu) kommen“
wecken. Gefordert wird dies in der „Gehei- (Strohmeyer 1928, 201ff.). Damit erfährt
men Denkschrift des Auswärtigen Amtes nicht nur die Persönlichkeitsbildung in der
über das deutsche Auslandschulwesen“ vom neohumanistischen Tradition ihre Renais-
April 1914: „… in größerem Umfang als bis- sance, verdrängt Sprachbetrachtung den Ge-
her … richtige Vorstellungen von Deutsch- brauch der Fremdsprache, sondern die schon
land in fremden Völkern verbreiten und mög- vor und vor allem mit dem 1. Weltkrieg artiku-
lichst weite Kreise mit deutscher Art und Bil- lierte „nationale Erziehung“ vereinnahmt den
dung vertraut machen“ (zitiert nach Ammon Unterricht. Zur Spiegelung des eigenen im
1991, 530). fremden Nationalcharakter werden fremd-
Neben den bestehenden Auslandschulen sprachige Äußerungen auf eine verschwom-
zur Bewahrung des Deutschen, die meist Kin- mene Volksseele hin durchforstet. Wiederum
dern von Auswanderern oder deutschen Ar- sind es vulgarisierte Versatzstücke der Psycho-
beitsmigranten offenstanden, und neben logie, mit deren Hilfe man „den Charakter“
Schulen des jeweiligen Landes mit einem der anderen zu beschreiben sucht.
Sprachschwerpunkt Deutsch, wurden „Pro- Legitimiert wird auch die Kulturkunde,
pagandaschulen“ zur Verbreitung deutscher weil sich unterschiedlichste politische Forde-
Sprache und deutschen Wesens gegründet ⫺ rungen an sie stellen lassen: Jenen liberalen
für nicht-deutschsprachige Ausländer. Eine Kräften, die schon von der Realienkunde
kritische Auseinandersetzung mit den dama- eine bessere Kenntnis der fremden Gesell-
ligen Lehrplänen oder Lehrwerken liegt uns schaft, einen „europäischen Gemeinsinn“
nicht vor, aber deren Aufbau sich vorzustel- (vgl. Schröder 1981, 41) gefordert hatten, ste-
len fällt nicht schwer: Neben einem gramma- hen national bewusste Pädagogen gegenüber,
tiklastigen Sprachlehrwerk eines der damals deren „Wesensschau“ eine weitergehende
so genannten „Realienbücher“, in dem das Funktionalisierung des Fremdsprachenunter-
Land, seine Bewohner und der deutsche Na- richts geradezu herausfordert.
tionalcharakter positiv dargestellt sind. In den deutschen Auslandsschulen schien
Die Realienkunde als praktisch-instrumen- dieses Konzept einer Besinnung auf die eige-
telle Landeskunde konnte natürlich die ge- nen Werte am ehesten eine Bewahrung der
sellschaftlich in sie gesetzten „Erwartungen“ deutschen Sprache und Kultur zu garantie-
46 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

ren, die nach dem verlorenen Krieg zwar in schen Volk vermitteln wollten. Als der von
einigen Ländern in den Lehrplan aufgenom- allen Fächern geforderte Beitrag zur politi-
men wurden, nicht selten aber unter umge- schen Bildung ersetzte die Kulturkunde das
kehrten Vorzeichen als Negativfolie in einem völkisch interpretierte Wesen durch einen po-
ebenfalls kulturkundlich geprägten Deutsch sitiv verstandenen Nationalcharakter, um so
als Fremdsprache-Unterricht dienten. einen Beitrag zur Völkerverständigung zu lei-
Den Nationalsozialisten musste die Kul- sten. Der Fremdsprachenunterricht im westli-
turkunde als besonders geeignet erscheinen, chen Besatzungsgebiet knüpfte direkt an die
wissenschaftlich verbrämte (Sprach-)Propa- idealistisch-kosmopolitischen Ansätze der
ganda ihrer rassistischen Theorien zu werden. Kulturkunde in der ersten Hälfte der Weima-
Die Wesens- konnte sich zur Rassekunde wei- rer Republik an, die Zeit „dazwischen“
terentwickeln: Das „Wesen“ oder der „Natio- wurde als „Betriebsunfall“, verursacht durch
nalcharakter“ musste aus den Äußerungen in politisch motivierte Forderungen nach prak-
den fremdkulturellen Texten und Zeugnissen tischer Verwertbarkeit der erworbenen
erschlossen werden, einer „Rasse“ waren sprachlichen und soziokulturellen Kennt-
Menschen per definitionem zugehörig, der nisse, gewertet und verdrängt. Die Rückbe-
höhere Rang der „arischen Herrenrasse“ vor sinnung auf die neohumanistische Persön-
den „andersrassigen Sklavenvölkern“ schien lichkeitsbildung sah in der von neuem do-
spätestens ab 1939 im Krieg durchgesetzt. minierenden Grammatik-Übersetzungs-Me-
Alle Äußerungen einer anderen Soziokultur thode das adäquate Mittel formaler Geistes-
wurden nur noch in ein Bild von der fremden schulung. Im Vordergrund stand das einer
Kultur und dem anderen Menschen mit „ty- strengen grammatischen Progression fol-
pischen Rassemerkmalen“ eingeordnet, so gende Lehrwerk, dessen Texte nicht authen-
dass jeweils mit dem edlen, guten Deutschen tisch waren, sondern auf bestimmte Phä-
ein treuloser, böser Anderer verglichen wer- nomene der Grammatik hin konstruiert und
den konnte. typisiert. Als erstes einsprachiges Deutsch
Weder ist bisher erforscht, wie die liberalen als Fremdsprache-Lehrwerk dieser Epoche
Pädagogen mit idealistisch-kosmopolitischen prägte „Schulz/Griesbach: Deutsche Sprach-
Anschauungen verschwanden, noch, welche lehre für Ausländer (1955)“ den Unterricht
Verfechter der Kulturkunde an den Plänen im In- und teilweise auch Ausland, aber auch
beteiligt waren, mit denen in den besetzten die Didaktik und Methodik des Deutschen
Ländern das „Deutschtum“ durchgesetzt als Fremdsprache.
werden sollte. Geplant war ein Deutsch als Landeskundlich-informierende Texte im
Fremdsprache-Unterricht, der mit rassisti- Anschluss an die Lektionen bezogen sich in
schen Begründungen in unterschiedlichem Übereinstimmung mit den generellen Erzie-
Umfang den zukünftigen Arbeitssklaven zu- hungszielen häufig auf den Bereich Staat und
gedacht war: Als Amtssprache war generell Politik, waren allerdings primär zur Erweite-
Deutsch vorgesehen bzw. wurde noch wäh- rung des Vokabulars gedacht.
rend des Krieges eingeführt, bei „arischen Völ- Meist erst im Unterricht für Fortgeschrit-
kern“ als Muttersprache, bei den „slawischen“ tene trat neben den Sprachunterricht die Lek-
als reduzierte Befehlssprache; mit den Bildern türe und Interpretation der Werke der Klassi-
und Texten der eigenständigen Deutschland- ker, um Werte wie Völkerverständigung, Frei-
kunde in Magazinen und pseudo-wissen- heit und Toleranz zu fördern. Häufig trat
schaftlichen Propagandaschriften sollte ein aber die Literatur ganz an die Stelle der Lan-
positives Bild der deutschen „Herrenrasse“ deskunde. Vor allem in der Auslandsgermani-
vermittelt werden (Ammon 1991, 534). stik und an den deutschen Auslandschulen
Verschiedene Länder, etwa in Skandina- wuchs die Bedeutung der Lektüre und der Li-
vien, strichen das Fach Deutsch aus den teraturwissenschaft.
Lehrplänen, in den USA dagegen sollten Deutsch als Fremdsprache hatte fast über-
German Studies verwertbare Erkenntnisse all einen schweren Rückschlag erlitten, auch
über den Kriegsgegner liefern. wenn das Fach in einigen nationalen Curri-
Das Fortleben kulturkundlicher Ansätze cula außerhalb der von Deutschland besetz-
nach 1945 verdankte sich zunächst der poli- ten Gebiete erhalten geblieben war. Wenn
tisch-administrativen Einflussnahme der alli- landeskundliche Inhalte nicht vollständig
ierten Siegermächte, die ihre demokratischen, fehlten, dann klammerten sie aktuelle Situa-
kulturellen und pädagogischen Standards in tion aus und stellten das „bessere Deutsch-
einem Re-Edukations-Programm dem deut- land“ der Geschichte oder der Emigration
4. Landeskundlicher Ansatz 47

dar. Um das Deutsche als Fremdsprache getrennter Teil des Fremdsprachenunterrichts


gleich nach Kriegsende wieder einzuführen, gesehen worden, so sollte das „Kontextwis-
hätte es der Mittlerorganisationen bedurft, sen“ aus dem Wissensbestand anderer wis-
die teilweise aber als nazistisch eingestuft und senschaftlicher Disziplinen abgerufen wer-
noch verboten waren. Erst nach dem ökono- den.
mischen Aufschwung und der politischen An- Auch die 1973 erschienene „Didaktik der
erkennung für den westdeutschen Teilstaat Landeskunde“ von Erdmenger/Istel (1973) be-
wurde Deutsch als Fremdsprache in den 50er gründet auf der Grundlage des neuen Lern-
Jahren vor allem bei den europäischen Nach- ziels Kommunikationsfähigkeit die Rolle der
barn im Westen wieder attraktiver. Die Ver- Landeskunde sprachimmanent als ,Hilfswis-
mittlung eines positiven Landesbildes der senschaft‘, die lediglich dazu dient, einzelne
Bundesrepublik als demokratischem Mitglied Begriffe verständlich zu machen, aber keinen
der Völkergemeinschaft war eines der Ziele systematisch aufgebauten Themenbereich
der Kulturpolitik des 1951 wieder gegründe- darstellt.
ten Auswärtigen Amtes; diese „Aufgabe“ Im Zuge der Auseinandersetzungen um
wurde der Landeskunde übertragen. eine Reform von Gesellschaft und Bildungs-
In der DDR und in Osteuropa stieg Rus- sektor ⫺ der „mündige Bürger“ als oberstes
sisch zur ersten Fremdsprache auf. Ziel, Teilhabe an der „gesellschaftlichen
Kommunikation“ als Weg ⫺ wurde jedoch
3.3. Linguistische und pädagogische der (Sprach-)Unterricht nicht nur metho-
Perspektiven der Landeskunde nach disch neu bestimmt. Vielmehr setzte die Kri-
1965 tik auch an der vermeintlich neutralen und
Nur die Rückbesinnung auf das kulturkund- apolitischen Literatur- bzw. Kulturkunde an,
liche Bildungsideal schien in den Nachkriegs- um diese mit dem Konzept der „Politischen
jahren die Gewähr zu bieten, einer neuerli- Bildung“ zu verknüpfen: Fremde Sprachen
chen Funktionalisierung des Fremdsprachen- sind ein Mittel zur Emanzipation des einzel-
unterrichts zu entgehen. Man beschränkte nen, indem sie ihn befähigen, gleichberechtigt
sich auf die Vermittlung von Sprachkompe- an der gesellschaftlichen Kommunikation
tenz und klammerte möglichst alle gegen- und Interaktion teilzuhaben. Als Inhalte des
wartsbezogenen Inhalte zugunsten ewiger Sprachunterrichts werden nicht mehr bloße
menschlicher Werte aus. In den entsprechen- Kenntnisse vermittelt, sondern das für den
den Lehrplänen tauchte Landeskunde als Erwerb einer kommunikativen Kompetenz
Fach oder Bereich allenfalls mit dem Hinweis notwendige soziokulturelle Wissen soll situa-
auf die „implizite“ Landeskunde auf. tionsgerecht erarbeitet werden.
In den 60er Jahren wurde für den gesam- Allerdings blieben diese Forderungen dem
ten Bildungsbereich Kommunikation zu einem Sprachunterricht zunächst äußerlich, da die
der wichtigsten Ziele erklärt, die besondere Voraussetzung fehlte, die Klärung der wech-
Bedeutung der (Fremd-)Sprache hierfür be- selseitigen Beziehung von Sprache und Sozio-
tont. Die Grammatik-Übersetzungs-Methode kultur. Für Deutsch als Fremdsprache fehlte
wurde abgelöst von den audiolingualen und darüber hinaus auch noch der wissenschaftli-
audiovisuellen Methoden eines Fremdspra- che Rahmen, da sich eine Fachdidaktik erst
chenunterrichts mit behavioristisch oder zu entwickeln begann. So konnten sich Prak-
strukturalistisch begründetem und gestalte- tiker und Lehrwerkautoren nur an den ande-
tem Sprachtraining (vgl. Art. 82 und 86). ren Philologien orientieren. In der Romani-
Der Zweckbestimmung entsprechend be- stik etablierte sich das „Deutsch-Franzö-
schränkte sich die Beschäftigung mit der So- sische Institut“, in dem mit den Methoden
ziokultur auf die Zuordnung bestimmter Re- der Sozialwissenschaften Gegenstand und
deabsichten zu verallgemeinerten ahistori- Stellenwert soziokulturellen Wissens beim
schen Alltagssituationen; nicht um die Spra- Sprachlernen bestimmt wurden. Aus der Ein-
che auf ihren kulturellen Bedeutungsgehalt sicht, dass es eine Kommunikation an sich
zu beziehen, sondern um die sprachlichen nicht geben kann, sondern diese Angehörige
Drills leichter zu vermitteln. Nie zuvor war verschiedener Kulturen zusammenführt und
die Situierung der Sprache so radikal negiert nur so Sinn vermitteln kann, wird diese zu
worden wie im texttheoretisch legitimierten einer „transnationalen Kommunikationsfä-
Ausschluss der Inhalte und ihrer Definition higkeit“ erweitert und Landeskunde so neu
als Kontext-Wissen (Picht 1995, 67). War Re- legitimiert als integrierender Bestandteil der
alienkunde noch als notwendiger, wenn auch Fremdsprachendidaktik (Picht 1995, 70).
48 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

Begünstigt durch bildungspolitische Refor- Zielebene“ und die „fachspezifische Adressa-


men, die ideologiekritische Durchforstung der tenebene“ zu integrieren (Bettermann 1989,
universitären Disziplinen sowie der Schulfä- 324).
cher und forciert durch eine neue Generation
von Lehrwerken, schwindet die Dominanz des 3.4. Integration von Sprach- und
linguistischen Konzepts, und eine sozialwis- Kulturlernen
senschaftlich begründete Landeskunde kann Die „Landeskundediskussion“ könnte man
sich durchsetzen, so dass sogar von „Landes- seit ihren Anfängen als Abfolge exklusiv be-
kundisierung“ gesprochen wurde. Eine we- haupteter Ansätze kennzeichnen, als „Pendel-
sentliche Bedingung für deren verstärkte För- bewegungen“ von realistischen zu idealisti-
derung war auch in der neuen Außenpolitik schen Zielen, von anwendbarem Wissen zu
begründet, die als ihre „dritte Säule“ den individueller Bildung, von Fertigkeiten zu
Kultur- und Sprachaustausch zum Programm Fähigkeiten, von pädagogisch zu politisch le-
einer neuen Selbstdarstellung der aktuellen gitimierten oder gesetzten Zielen ⫺ und vice
Erfolge der BRD erhob, bis 1989 in System- versa. In ihr spiegelt sich mithin nicht nur die
konkurrenz mit der DDR. Entwicklung der Fremdsprachenphilologie
In den Ländern des ehemaligen Ostblocks und des Fremdsprachenunterrichts, sondern
wurde der Fremdsprachen- wie jeder andere sie ist immer auch der Indikator für den
Unterricht von einer (gesellschaftlichen) Grad der Abhängigkeit der Erziehungsziele
Grundorientierung abgeleitet, aus der sich die von den Einflüssen aus Politik und Gesell-
Methode des Lehrens und Lernens entwik- schaft.
kelte. Von daher erklärt sich der hohe Stel- Landeskunde wurde durch linguistische
lenwert der Landeskunde, vor allem in der Ansätze entweder aus dem Fach als Kontext
Lehrerausbildung dieser Länder bis heute. ausgeschlossen oder als „Anwendungsbe-
Die sowjetische Fremdsprachendidaktik un- reich“ einer Bezugswissenschaft ebenfalls
terschied zwischen „Landeskunde als Lehr- nicht unmittelbar in den Prozess des Spra-
disziplin“ mit einem „Wissen in systematisier- chenlernens integriert.
ter Form“ (Zuckova 1986, 30) und der „Lin- Mit der „Kommunikativen Wende“ im
guolandeskunde“, die „kommunikativ und Fremdsprachenunterricht werden die Para-
damit stets redeorientiert ist“ (ebd.) und „mit meter landeskundlichen Lernens als Bezugs-
linguistischen Mitteln extralinguistische In- system von Sprache, sozialer Interaktion und
halte“ (Zuckova 1986, 30) ausdrücken will. gesellschaftlichem Rahmen definiert (Neuner
Besonders zu berücksichtigen sind lexikali- 1997, 40). Landeskunde als Ansatz wird für
sche Einheiten oder Ausdrücke (auch Sprich- das Fach nur wirksam, wenn sie soziokultu-
wörter) des Deutschen ohne Entsprechungen relles Wissen, kommunikative Situationen als
in anderen Sprachen, weil sich in ihnen die integrierende Perspektiven von Unterricht
politischen und sozialen Verhältnisse (z. B. und Sprache einer konkreten Gesellschaft zu-
Aktivist⫺Arbeitnehmer) in den damaligen sammenführt. Die Differenzierung nach einer
beiden deutschen Staaten widerspiegeln. Als kognitiven, kommunikativen und interkultu-
oberstes Lernziel wird eine „Friedliche Ko- rellen Landeskunde (Weimann/Hosch 1993)
existenz der Völker“ gefordert. Natürlich hat heuristischen Wert, kann aber nicht als
spielte hierbei für die DDR ein eigenes, von eine Progression ⫺ „von den Fakten zum
der BRD unterscheidbares „Landesbild“ zur Verstehen“ ⫺ gesehen werden, sondern be-
Legitimation des zweiten deutschen Staates nennt Schwerpunktsetzungen, wie die einer
eine besondere Rolle, ausgedrückt durch die informationsorientierten, aber auch kontra-
frühe Forderung von Dietrich Herrde, „Lan- stiven Landeskunde, die für bestimmte Lern-
deskunde als integrierter Bestandteil des orte oder Zielgruppen dominieren.
Fremdsprachenunterrichts“ und als „Unter- Einen frühen linguistischen Versuch, so-
richtsprinzip“ zu betrachten (Herrde 1971, ziokulturelles Wissen in den Sprachunterricht
321). In einem späten Beitrag zu neuen Ent- zu integrieren, legte Bernd-D. Müller (1981)
wicklungen in der Landeskunde DDR fasst mit „Konfrontative Semantik“ vor. Er zeigt,
Rainer Bettermann dies zusammen als „die dass Wörter und Begriffe einer Sprache keine
Einheit von Erziehung und Ausbildung und Äquivalente in der anderen haben müssen
die Einheit lk. spezifischer und gesamtgerma- und erst zu verstehen sind, wenn sie als Ein-
nistischer Zielstellung“, um die „objektive zelelement am entsprechenden Ort der frem-
Realität des Landes“, die „fachspezifische den Soziokultur eingeordnet werden können
4. Landeskundlicher Ansatz 49

(funktionales Äquivalent); dies vollzieht sich Entwürfe“ (Firges/Melenk 1995, 515) für eine
in der Konfrontation mit der eigenen, wo- Integration relevant seien, sondern die In-
durch dem Vergleich als Verfahren im Fort- halte des Sprechens im Unterricht, die zur
gang der Erkenntnis von Differenzen und Erarbeitung von Wörtern und Themen ge-
Ähnlichkeiten besondere Bedeutung zu- braucht werden. Diese Inhalte finden sie im
kommt (vgl. Linguolandeskunde). Dieser An- Alltagswissen, das die Lernenden als eigenes
satz hat sowohl in der Forschung, in der Aus- mitbringen und zu dem sie Zugang haben. In
bildung der Fremdsprachenlehrer wie im Un- der Konfrontation von fremder und eigener
terricht des Deutschen als Fremdsprache Fol- Sprache und Kultur wird ausgewählt, was die
gen gezeitigt, so im Rahmen des „Interkultu- kommunikative Kompetenz inhaltlich füllt.
rellen Ansatzes“, im „Fernstudienprojekt“, Allerdings wird das „Alltagswissen“ wieder
den Lehrwerken „Sichtwechsel“ und „Sprach- wie das Kontextwissen außerhalb des Unter-
brücke“. Das weitgehend multidisziplinäre richts gesehen bzw. als alleiniger Inhalt der
Konzept von Picht und anderen im Umfeld Landeskunde behauptet (zur Kritik: Picht
des deutsch-französischen Instituts versuchte, 1995, 68).
von den Inhalten her die Totalität fremder Mit der Wiederaufnahme der Grundda-
Kultur zu erfassen, indem nicht mehr nur seinsfunktionen und des durch sie definierten
nach einer „Leitwissenschaft“ gesucht wurde, Alltags der Individuen erscheinen diese als
sondern nach Bezugswissenschaften (doku- handelnde. Zum einen wird der „Königsweg“
mentiert in umfänglichen Fachbiografien für beim Erwerb von Fremdsprachen ⫺ die di-
den DAAD). Das „Tübinger Modell einer in- rekte Begegnung mit Land und Leuten des
tegrativen Landeskunde“ von Mog und Alt- Zielsprachenlandes ⫺ in vielfältigen Formen
haus (vgl. Mog 1992) entwickelt den multi- der erlebten Landeskunde umgesetzt: Schü-
disziplinären Entwurf im Sinne eines „inter- ler- und Studentenaustausch, Seminare zur
disziplinären Projekt(s)“ (Picht 1995, 69) wei- „Erlebten Landeskunde“ für Lehrende als
ter. Vertreter vor allem sozialwissenschaft- unmittelbare Begegnungssituationen (vgl.
licher Disziplinen analysieren von ihren Art. 96). Zum anderen gehören mittelbare
unterschiedlichen Perspektiven aus Gegen- Begegnungen, also Kontakt und Kommuni-
stände, die nicht mehr aus dem Gesamt der kation mittels verschiedenster Medien als in-
Kultur, sondern aus Erfordernissen beim Er- direkte oder simulierte inzwischen in vielen
lernen fremder Sprachen deduziert werden. Schulen zum Repertoire. Die weiterhin vor-
Zurückgegriffen wurde dabei auf die Ergeb- nehmlich kognitiven Modelle von Landes-
nisse der Stereotypenforschung, die in der ro- kunde in Lehrwerken und im Curriculum er-
manistischen und anglistischen Philologie be- fahren hier eine handlungsorientierte Erwei-
reits in die Curricula aufgenommen waren. terung, wobei allerdings noch zu klären
Der interdisziplinäre Ansatz wurde exempla- bleibt, wie Weltwissen und (Unterrichts-)Er-
risch ergänzt durch ein regional-spezifisches fahrungen der Lernenden einbezogen werden
Vergleichsverfahren der deutschen mit der können. Die hier diskutierten Ansätze reflek-
amerikanischen Soziokultur, das auf andere tieren in erster Linie den Bezug von (gespro-
Ausgangssprachen und Soziokulturen über- chener) Sprache und Soziokultur, mithin in-
tragen werden kann. trakulturell die Beziehung von Subjekt und
Die Frage der Kulturkunde nach Landes- Objekt des Spracherwerbs.
bildern und Nationalcharakter wird entideo- Diese Sichtweise wird erweitert durch
logisiert und ein didaktisches Vergleichsver- Konzepte einer Landeskunde, welche die ge-
fahren zur Analyse der Voraussetzungen von sellschaftlichen Rahmenbedingungen, resp.
Verstehen und sogar Verständnis des Ande- die Veränderung derselben, zum Ausgangs-
ren an seine Stelle gesetzt. „Regionalisie- punkt wählen. Als eine Reaktion auf die Ent-
rung“ differenziert die konkreten Bedingun- wicklung auch der Bundesrepublik zu einer
gen des Unterrichts entsprechend dem Lern- immer stärker multikulturell geprägten Ge-
ort; im Lehrwerk „Typisch deutsch“? wird sellschaft seit Beginn der massenhaften Ar-
das Verfahren am Beispiel des Deutsch als beitsimmigration aus der Peripherie Europas
Fremdsprache-Unterrichts in Polen ange- (und angrenzenden außereuropäischen Re-
wandt (vgl. Behal-Thomsen u. a. 1993). gionen) ab den 60er Jahren entwickelte sich
Diese Versuche, ausgehend vom sprach- das Fach Deutsch als Zweitsprache (vgl.
bzw. inhaltsbezogenen Ansatz her Sprach- Art. 5), ebenso wie eine Diskussion um die
und Kulturlernen zu integrieren, beurteilen Integration der Arbeitsmigranten (und der
Firges/Melenk eher kritisch, da nicht „große Asylsuchenden) entbrannte. Innerhalb einer
50 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

Soziokultur galt es nun, verschiedene kultu- dass Deutsch in verschiedenen Staaten und
relle Identitäten zu akzeptieren, wobei dem Regionen Muttersprache ist. Aufgrund der
gegenseitigen Wissen um die „fremde“ größte damaligen Dominanz westdeutscher Landes-
Bedeutung zukam. Von verschiedenen Diszi- kunde verlangten die „kleineren Länder“ ei-
plinen ⫺ Pädagogik, Entwicklungspsycholo- nen gerechteren Anteil. Um nicht mit einer
gie, Ethnologie ⫺ aus wurden das Aufeinan- kaum noch zu bewältigenden Stoffmenge von
dertreffen von „Fremden“, Individuen aus hoher Komplexität und Differenziertheit den
verschiedenen Kulturen, analysiert und inter- Unterricht völlig zu überfrachten, wird Lan-
kulturelle Vergleiche angestellt (vgl. Art. 87 deskunde nicht als eigener Gegenstandsbe-
und 100). Besonders im Fremdsprachenun- reich, sondern als ein „Prinzip“ (ABCD-The-
terricht wurden „Interkulturelles Lernen“ sen, 60) für den Unterricht gesehen. Das aus
und „Interkulturelle Kommunikation“ rezi- der damaligen Situation heraus verständliche
piert, während In- und Auslandsgermanistik additive Verfahren der gleichberechtigten
die „Interkulturelle Germanistik“ als eine und gleichgewichtigen Berücksichtigung aller
„Fremdkulturwissenschaft“ oder „Xenolo- deutschsprachigen Länder verdeckte die me-
gie“ weiterentwickeln, die von Alois Wierla- thodischen Fortschritte des Konzepts, das ei-
cher, der „Gesellschaft für Interkulturelle
nen integrierten Landeskundeunterricht, mit
Germanistik“ (GIG) und einem Kreis um
Aktivitäten der Lernenden außerhalb des
das „Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache“
(1975ff.) zum Paradigma erhoben wird. Klassenraums, historisch und regional situ-
Auch im Bereich der Sprachwissenschaft iert und am konkreten Kulturaustausch in-
und der Sprachlehrforschung finden sich Kon- teressiert, fordert.
zepte mit dem Epitheton „interkulturell“, so Im Anschluss an die ABCD-Thesen und
dass die Warnungen vor einem inflationären mit der Kritik an der weitgehend nur additi-
Gebrauch, bloßen Umbenennungen bekann- ven Verknüpfung der deutschsprachigen Län-
ter Sachverhalte oder gar einem „Paradigmen- der, formulierte die D-A-CH-(L)-Arbeits-
wechsel“ (Rösler 1993; Krumm 1995) berech- gruppe (unter Beteiligung von Liechtenstein)
tigt scheinen. das Konzept einer differenzierenden Landes-
Interkulturelles Lernen im Fremdsprachen- kunde, die von der Tatsache verschiedener
unterricht reagiert auf eine sich verändernde, deutschsprachiger Länder, darin verschiede-
zunehmend mehrsprachige Welt, in der im- ner Regionen ausgeht. Der binnenkontrastive
mer mehr Menschen zu immer mehr Begeg- Vergleich, der exemplarisch auf zwei, drei
nungen und Grenzüberschreitungen gezwun- oder die vier Länder mit Deutsch als Mutter-
gen sind (Krumm 1995, 159). Diese Begeg- sprache zurückgreift, hebt die Konfrontation
nungen müssen so offen gestaltet werden, zwischen zwei „fremden“ Kulturen auf, lässt
dass sie frei von Angst vor dem Verlust der Varianten und unterschiedliche Perspektiven
eigenen ebeso wie der Dominanz der anderen zu und ermöglicht die Adaption für den
Identität erlebt werden können. Thimme fremdkulturellen Vergleich. Wieder aufge-
sieht diese „Stilisierung des Interkulturellen nommen werden die didaktisch-methodi-
zu einem Ansatz, der diesen von anderen An- schen Grundsätze der ABCD-Thesen, vor
sätzen der Landeskunde trennt“ (Thimme allem die Projekt- und Handlungsorientie-
1996, 29), nicht gerechtfertigt, da Interkultu- rung, die vom Lernenden und seinem
ralität als ein übergeordnetes Lernziel die so-
Weltwissen ausgehen. Eine genaue Analyse
ziale und affektive Dimension jeglicher Erzie-
der jeweiligen Zielgruppe und des Lernortes
hung betont.
Als Bestandteile interkultureller Ansätze in differenzieren eine meist universell gedachte
der Landeskunde benennt Pauldrach demzu- Landeskunde, die als „erlebte“, „erlebbare“
folge die konfrontative Semantik, die „All- oder „virtuelle“ (vgl. Art. 96) lernerorientiert
tagskultur“, die „Fremdperspektive“ und die drei umfassende Lernzielbereiche formuliert:
„Rückbezüglichkeit des Blickes auf das „Sozio-kulturelle Sensibilisierung und Per-
Fremde“ (Pauldrach 1992, 12f.). spektivenwechsel“, „Vermittlung von Strate-
Die ABCD-Thesen gehen zurück auf eine gien zum selbständigen Wissenserwerb“ und
Arbeitsgruppe mit Mitgliedern aus den bei- „Methoden und Verfahren zur Integration
den deutschen Staaten, aus Österreich und von Vor(Welt)Wissen, Wahrnehmung und
der Schweiz aus dem Jahre 1988, also noch neuem Wissen“ (Hackl 1998, 6), die in den
mit Beteiligung der DDR; als Konzept orien- Spracherwerb zu integrieren sind, selbst aber
tieren sie sich an der historischen Situation, auch integrierend wirken.
4. Landeskundlicher Ansatz 51

4. Der landeskundliche Ansatz als Lernsituation aufeinander, so kann daraus


inhaltliches Prinzip die weitere Motivation erwachsen, sich mit
dem „Fremden“ zu beschäftigen und das „Ei-
Die unterschiedlichen Aspekte, einzelnen gene“ zu reflektieren. Diese Erfahrung von
Themenbereiche und Teilgebiete der Landes- Fremd und Eigen, von verschiedenen Per-
kunde, ergänzt durch künftige Aufgaben, spektiven und Methoden der Wahrnehmung,
sind an ihrem Ort beschrieben (vgl. Kap. muss über einzelne Themen und Gegenstands-
XVII, Art. 118). In der folgenden Zusam- bereiche der fremden Soziokultur hinaus be-
menfassung und einem Ausblick richtet sich wusst gemacht und zu Strategien im Umgang
das Augenmerk auf einen inhaltlichen Ansatz entwickelt werden. Direkten Begegnungen in
im Fremdsprachenunterricht, spezieller auf den Zielsprachenländern gehen vielfältige
den Beitrag der Landeskunde zur Strukturie- Zwischenschritte von „Kennen Lernen“, „Si-
rung und Konturierung des Faches Deutsch mulieren“ und „Erlebbar“ voraus.
als Fremdsprache. Die grundlegende Aufga- Die soziokulturellen Inhalte beim Sprach-
benstellung, die sich in der historischen Kon- erwerb lassen sich nicht aus der Systematik
stitution der Fachwissenschaft und der Fach- des gesamten Wissens über die Zielkultur ab-
didaktiken herausgebildet hat, formuliert leiten, ebenso wenig aber auch aus den Inter-
Peter Groenewold (1997, 56) wie folgt: essen und den Erwartungen der Lernenden
„Landeskundliche Theoriebildung muss von oder den Leitzielen einer Gemeinschaft. In
der Grundsituation des Fremdsprachenunter- der didaktischen Analyse als Voraussetzung
richts ausgehen und die Komponenten Spra- der Unterrichtsplanung und -gestaltung müs-
che, Gesellschaft und Unterricht miteinander sen Lernort und Lernumgebung, gesellschaft-
vermitteln“. Landeskunde als inhaltliches liche und individuelle Lernvoraussetzungen
Prinzip im Fremdsprachenunterricht er- sowie die Lernziele und -erwartungen vermit-
forscht demnach die gesellschaftlichen Anfor- telt werden:
derungen, untersucht die didaktischen Vor- ⫺ im Curriculum wird der Beitrag des lan-
aussetzungen eines integrierten Sprach- und deskundlichen Ansatzes als Perspektive so-
Kulturlernens sowie dessen konkrete Inhalte. ziokultureller Wahrnehmung in den allge-
4.1. Landeskundliches Lernen mein-pädagogischen, fachlichen und sozialen
Leitvorstellungen bestimmt; da es konkrete
Integriertes landeskundliches Lernen unter- Lernsituationen analysiert, kann es nicht ein
scheidet sich von einer impliziten Landes- Curriculum für Landeskunde geben, sondern
kunde, da es die übrigen Lernfelder des Fachs nur spezielle für verschiedene Zielsprachen-
beeinflusst, „integrierend wirkt“. Der inhalt- und Herkunftskulturen;
liche Ansatz kann nur strukturieren, wenn er ⫺ die kognitiven, kommunikativen und af-
nicht auf eine Menge an Informationen und fektiven Ziele des Fremdsprachenunterrichts
auf die Funktion, Materialien für den Erwerb müssen mit entsprechenden Zielvorgaben an-
sprachlicher Regularien und die Erprobung derer Fächer verknüpft werden und in einen
kommunikativen Verhaltens bereitzuhalten, interdisziplinären Unterricht münden;
reduziert wird. Auf der anderen Seite kann ⫺ landeskundliches Lernen bezieht das
Landeskunde in den Prozess des Sprachler- Wissen der Lernenden um Sprache, Sozialisa-
nens erst dann integriert sein, wenn sie nicht tion und Fremdheitserfahrung ein;
nur dazu dient, übergreifende pädagogische ⫺ die Wahrnehmungen, aus denen der Ein-
Ziele und gesellschaftliche Leitvorstellungen zelne sein Weltwissen aufbaut, sind in ihrer
zu proklamieren, sondern diese für das individuellen, sozialen und (inter-)kulturellen
Sprach-Kultur-Lernen begründet und opera- Prägung bewusst zu machen, damit wirkende
tionalisiert. Perspektiven erkannt und in bewusste Strate-
Abhängig von Zielgruppe, Altersstufe und gien zum Umgehen mit ihnen umgesetzt wer-
Lernumgebung wird soziokulturelles Wissen den;
in der ersten Phase des Spracherwerbs eher ⫺ landeskundliches Lernen sieht die Ler-
Texte für diesen bereithalten, die Wahrneh- nenden als Subjekte des Unterrichts, es reali-
mung der Soziokultur hinter den fremden siert sich deswegen als ganzheitliches Lernen,
Wörtern dagegen wird allenfalls in der Mut- handlungsorientiert und partnerschaftlich;
tersprache thematisiert werden können, wenn für viele Länder ist hierbei die nicht geringe
deren Verwendung im Fremdsprachenunter- Spannung zwischen traditionellen Lern- und
richt nicht tabuisiert ist. Treffen eigene Iden- Lehrmethoden und den neuen eines offenen
tität und neue Welterfahrung in einer offenen Unterrichts zu beachten (vgl. Art. 106);
52 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

⫺ Landeskunde ist der Bereich des Fremd- szenieren und moderieren, damit die Lernen-
sprachenunterrichts, in dem die Lernenden den den Nutzen von Kompetenzen einsehen
die Trennung von Sprache und Kultur erle- können und sich diese erarbeiten. Da sich
ben, in dem aber durch Begegnungen und eine Soziokultur dynamisch entwickelt, kön-
Formen der erlebbaren Landeskunde schuli- nen die Lehrenden nicht in einem Ausbil-
sche und außerschulische Realität zusam- dungsgang ein sicheres Wissen erwerben, mit
mengeführt werden; dem sie in der Folge den Unterricht inhalt-
⫺ projektorientierte Arbeitsformen werden lich-thematisch gestalten. Sie müssen viel-
dieser Zielsetzung gerecht, sie integrieren mehr Strategien erwerben, entwickeln und er-
sprachliches und soziokulturelles Wissen im proben, wie mit Informationen umzugehen,
kommunikativen Handeln und könnten zu wie fremde und eigene Wahrnehmungen zu
einer eigenständigen Unterrichtsform für das vermitteln und Erscheinungen verschiedener
Erlernen fremder Sprachen und das Ver- Soziokulturen von verschiedenen Perspekti-
ständnis anderer Kulturen weiterentwickelt ven aus zu vergleichen sind (vgl. Art. 115).
werden; Während sie unterrichten, entwickeln sie
⫺ generative Themen beziehen die Lernen- diese weiter, wie auch die Lernenden sich in
den in die Themenauswahl und die Unter- diesem Prozess aktiv beteiligen. Allerdings
richtsplanung bzw. -gestaltung ein; sie ver- werden sich Lehrende über diesen dynami-
mitteln vorhandenes Wissen und vorläufige schen Wissenszuwachs durch Vermittlung mit
Annahmen mit Recherchen zu einer immer den bereits vorhandenen eigenen Vorstellun-
besser verstehbaren fremden Welt; gen hinaus ein Raster, eine Wissenssystema-
⫺ die wachsende Menge landeskundlicher tik aufbauen, die sich auf seine Ausgangsvor-
Informationen erfordert die frühzeitige Ver- aussetzungen bezieht, aber auch die Grund-
mittlung von Strategien der Recherche und lage bildet, individuelle Vorstellungen und
der persönlichen Auswahl anhand nachvoll- thematische Wünsche der Lernenden im Ge-
ziehbarer Kriterien; samtzusammenhang der Soziokultur zu ver-
⫺ ein besonderes Augenmerk wird auf die orten. Hierfür sind die Methoden und Ergeb-
Entwicklung einer virtuellen Landeskunde zu nisse der informationsbezogenen (kognitiven)
richten sein (vgl. Art. 96); Landeskunde zu adaptieren.
⫺ kontrastive Verfahren sind als Methoden Um Begegnungen gestalten zu können,
zur reflektierten Wahrnehmung anderer Kul- sollten Lehrende des Deutschen als Fremd-
turen und Sprachen zu erlernen, nicht als In- sprache nicht nur einem deutschsprachigen
strumente, um diese zu „werten“; Land „begegnet“ sein bzw. im Rahmen einer
⫺ Landeskunde des Deutschen als Fremd- Fortbildung als erlebte Landeskunde „begeg-
sprache bezieht sich nicht auf eine Nation; nen“. Für in den deutschsprachigen Ländern
die Methode des binnenkontrastiven Ver- ausgebildete Lehrkräfte sollte ein For-
gleichs, wie im D-A-CH-Konzept entwickelt, schungs- und Lehraufenthalt in einem der
stellt ein spezielles Modell für einen differen- Herkunftsländer obligatorisch sein.
zierten Unterricht dar; Da prinzipiell die Ausbildungsgänge von
⫺ Lehrmaterialien sowie landeskundliche Deutsch als Fremdsprache-Lehrern in den
Themen und Inhalte in Lehrwerken müssen deutschsprachigen Ländern von denen im
auf die Zielgruppe, den Lernort, die pädago- Ausland verschieden sind, lassen sich, ähnlich
gischen Traditionen und in reflektierter Form wie im Unterricht und in der Forschung,
auf gesellschaftliche Leitziele nicht nur der einige gemeinsame Entwicklungen bzw. For-
deutschsprachigen Länder bezogen sein; derungen beschreiben (vgl. Art. 115):
⫺ die direkte Begegnung im Zielsprachen- ⫺ die Ausbildung von Fremdsprachenleh-
land sollte im Sinne einer gemeinsamen (eu- rern zu Sprach- und Kulturmittlern muss sich
ropäischen) Kulturentwicklung für die Ler- zunehmend auf Mehrsprachigkeit einstellen,
nenden obligatorisch, muss aber für weiter nicht die Kenntnis einzelner Soziokulturen;
entfernte Länder durch indirekte Begeg- sondern das Wissen, wie man sich über ver-
nungssituationen ebenfalls möglich sein. schiedene informiert, wird wichtig sein;
⫺ der thematische Rahmen der Ausbildung
4.2. Soziokulturelles Wissen in der Aus- und muss durch den ständigen Bezug zur „Pra-
Fortbildung von Deutschlehrern xis“, i.e. die eigene gesellschaftliche Wirklich-
Ein inhaltlich strukturierter Fremdsprachen- keit, die „Begegnungen“ mit anderen Sozio-
unterricht braucht Lehrende, die nicht Fähig- kulturen, die Zielsprache als fremde, den phi-
keiten unterrichten, sondern Begegnungen in- lologischen Teil situieren;
4. Landeskundlicher Ansatz 53

⫺ die Komepetenz, Unterricht zu planen, verschiedenen Ziel- und Altersgruppen und


setzt eine praxisnahe didaktische Forschung für unterschiedliche Lernziele bestimmen las-
durch die angehenden Lehrenden voraus, da- sen. Hierfür stellen andere Wissenschaften
mit sie ihre verschiedenen Lerngruppen ana- entsprechende analytische und methodische
lysieren, Ausgangs- und Zielsprache verglei- Verfahren bereit, derer sich Landeskunde be-
chen und die beiden Kulturen im Kontrast dient. Es geht nicht um eine Leitwissenschaft
wahrnehmen können; oder diverse Bezugs- bzw. Hilfswissenschaf-
⫺ die Prinzipien, die im gesteuerten Fremd- ten, sondern um einen interdisziplinären Dis-
sprachenunterricht gelten, müssen auch kurs, wie dies „im Modell einer integrativen
Grundlage der Lehrerausbildung sein: inte- Landeskunde“ bei Mog/Althaus (vgl. Mog
grativ, fächerübergreifend, interkulturell, bin- 1992) vorgeschlagen wird. Die Inhalte landes-
nenkontrastiv sowie handlungsorientiert (vgl. kundlichen Forschens, Lehrens und Lernens
Badstübner-Kizik; Radziszewska 1998); sind nicht aus der Systematik einzelner Wis-
⫺ das Projekt wird die bevorzugte Form senschaften (Philo-, Sozio-, Polito- oder Psy-
sein, in der sich eigene Recherchen und For- cho- usw. logie) zu deduzieren, sondern deren
schung, Praxisbezug und Lehre vereinen las- wissenschaftliche Analytik und didaktische
sen; Methoden sind bei der Beantwortung der
⫺ besonders beim individuellen Aufbau ei- fachdidaktisch begründeten Fragestellungen
ner Wissenssystematik zur eigenen und ziel- heranzuziehen.
sprachigen Soziokultur muss deutlich wer- Die Gegenstände landeskundlicher For-
den, dass damit nicht die Unterrichtsgegen- schung finden sich in der Analyse der Ge-
stände entwickelt werden; schichte inhaltlicher Ansätze im Fremdspra-
⫺ sollten während der Ausbildung keine chenunterricht (als besonderes Desiderat die
Begegnungen mit mehreren deutschsprachi-
Ansätze außerhalb der deutschsprachigen
gen Ländern möglich sein, könnte dies eine
Länder), der Klärung des Verhältnisses von
Fortbildung in einer entsprechenden Form
Sprache, Unterricht und Erziehung sowie So-
erlebter Landeskunde nachholen;
⫺ um Begegungen inszenieren und mode- ziokultur und der Erprobung geeigneter Mo-
rieren zu können, müssen Lehrende einer delle zur Beschreibung und zum Vergleich
Fremdsprache ihre eigenen Begegnungen von Erscheinungen einer Soziokultur im Ver-
analysieren können. hältnis zu den Akteuren; dazu kommen:

4.3. Interdisziplinäre Forschung ⫺ inhaltliche Ansätze in der Geschichte des


Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts in-
Die Frage, ob Deutsch als Fremdsprache eine und außerhalb der deutschsprachigen Länder
philologische, didaktische oder sozialwissen- unter Einschluss der DDR;
schaftliche Disziplin oder nur ein Praxisbe- ⫺ Formen der Wahrnehmung fremder
zug „etablierter“ Wissenschaften ist, zielt auf Soziokulturen und Perspektivenwechsel
die Definition eines Gegenstandsbereiches. (Krumm 1998, 526);
Die implizierte Trennung des Objekts vom
⫺ Modelle zur historischen, soziologischen
Subjekt verliert dann ihren heuristischen
etc. Beschreibung von Soziokulturen am Bei-
Wert, wenn damit auch die individuelle Per-
spiel der deutschsprachigen Länder und Ent-
spektive und der Zugriff auf einen Gegen-
stand aus dem Blick geraten. wicklung eines binnenkontrastiven Ver-
Landeskunde hat sich zwar mit dem ge- gleichsverfahrens (s. Hackl 1998, et al., v. a.
samten „Bedingungsgefüge“ (Neuner 1997, 8ff.);
40) oder den einzelnen „Bezügen“ von Spra- ⫺ exemplarische Vergleiche eines Landes
che auf Gesellschaft (Buttjes 1995, 142) zu oder einer Region mit einem oder mehreren
beschäftigen, die sich aber erst in den „Begeg- deutschsprachigen Ländern, die sich auf bin-
nungen“ (s. Kap. 98) der intra- und interkul- nenkontrastive Fragestellungen ebenso bezie-
turellen Kommunikation von Individuen mit- hen wie sie neue aufwerfen;
tels Sprache manifestieren, sprachlich und so- ⫺ Bestimmung des Prozesses der „tertiären
zial. Sozialisation“ (Doyé 1992, 5), des stabilisie-
Begegnungen als Praxis von Kommunika- renden und modifizierenden Einflusses auf
tion sind von der Landeskunde nicht als Ob- die Identitätsbildung;
jektbereich „zu ver-künden“, sondern landes- ⫺ ideologiekritische Überprüfung der poli-
kundliche Forschung hat „zu erkunden“, wie tisch legitimierten Erziehungsziele, diachron
sich diese an verschiedenen Lernorten, bei und synchron (Schüle 1983);
54 I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen

⫺ Einfluss von Europäisierung und Globa- Hackl, Wolfgang; Michael Langner; Hans Simon-
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und
Forschungsgebiet II: Geschichte

5. Entwicklungen des Unterrichts in Deutsch als Fremd- und Deutsch


als Zweitsprache in Deutschland

1. Definitionen sichtigt ist (das ist die Aufgabe von Art. 141),
2. Geschichtliches wird die Unterscheidung von Geldgeber,
3. Deutsch als Fremdsprache im Inland Mittler, Organisator und Träger nicht zu
4. Deutsch als Zweitsprache Gliederungszwecken benutzt. Bei der Berück-
5. Schluss
6. Literatur in Auswahl
sichtigung einzelner Institutionen wird prag-
matisch verfahren.
Der Inlandsbereich ist für den vorliegen-
1. Definitionen den Artikel mit dem Wort „Deutschland“ be-
zeichnet, einem bekanntlich vieldeutigen Be-
Die Unterscheidung zwischen Deutsch als griff. Berücksichtigt werden die Bundesrepu-
Fremdsprache (DaF) und Deutsch als Zweit- blik Deutschland (BRD) und die Deutsche
sprache (DaZ) wird als Unterscheidung typi- Demokratische Republik (DDR), im ge-
scher Lernsituationen verstanden: Ein über- schichtlichen Teil auch das Deutsche Reich
wiegend schulförmiger Erwerb, eine meist in- als Vorgängerstaat.
strumentelle Motivation, ein „mittleres“ Lern- Dargestellt wird der Unterricht mit „pri-
alter und eine deutliche Distanz zu Erst- mären“ Zielgruppen; die Fortbildung von
sprachgebrauch und Erstsprachkompetenz Multiplikatoren, also von Germanisten und
kennzeichnen das fremdsprachliche, starke Deutschlehrern des In- wie des Auslandes,
Anteile „natürlichen“ Erwerbs, sozialer wird nicht eigens behandelt (vgl. hierzu
Druck, breite Streuung des Lernalters und Art. 115).
lebensweltliche Zweisprachigkeit das zweit- Entwicklungen des Unterrichts selbst kön-
sprachliche Lernen (Reich 1997; vgl. Art. 62). nen immer nur in einer indirekten Weise er-
Mit Zwischenformen und Übergängen ist fasst werden, da die unterschiedlichen Aktivi-
durchweg zu rechnen. täten nicht direkt greifbar sind, sondern be-
Die sprachgeographische Situierung spielt stenfalls über Berichte und Dokumentatio-
eine Rolle dabei: DaF wird typischerweise, nen, normalerweise aber nur über institutio-
wenn auch nicht ausschließlich, im Ausland, nelle, organisatorische und personelle Verän-
DaZ im Inland gelernt. Die folgende Darstel- derungen, über Analysen von Lehr- und
lung bezieht sich jedoch für beide Lernsitua- Lernmitteln und von didaktischen Publika-
tionen nur auf den Inlandsbereich. Dadurch tionen erschlossen werden können. Dies gilt
verringert sich deren Unterscheidbarkeit, und auch für den vorliegenden Artikel.
es kommt hinzu, dass die darzustellenden
Aktivitäten zwar meist recht eindeutige Ar-
beitsschwerpunkte haben, aber trotzdem
2. Geschichtliches
nicht strikt entsprechend der DaF-DaZ-Un- Informationen über DaF/DaZ reichen fast so
terscheidung institutionalisiert sind. Die Dar- weit zurück wie die Informationen über die
stellung orientiert sich dementsprechend in deutsche Sprache überhaupt. Die ersten
erster Linie an den Lernsituationen und den Zeugnisse sind althochdeutsche „Reise-
ihnen zugeordneten Arbeitsfeldern, in zweiter sprachführer“ für Leute romanischer Erst-
Linie aber an Institutionen, deren Aufgaben sprache, die in germanischsprachigem Gebiet
dann von Fall zu Fall das zugeordnete Ar- unterwegs waren (Ehrismann 1966, 259f. und
beitsfeld auch überschreiten können. Da eine 264⫺266), und es ist davon auszugehen, dass
systematische Institutionenkunde nicht beab- diese Tradition eines schriftlich unterstützten
5. Entwicklungen des Unterrichts in Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache 57

natürlichen Zweitspracherwerbs des Deut- Zusammenarbeit und internationalen Aus-


schen das ganze Mittelalter und die Neuzeit tauschs und das Ausländerstudium, jeweils
hindurch angehalten hat; leider ist diese Tra- mit offenen Rändern.
dition ungenügend erforscht. Es scheint, dass
eine Institutionalisierung entsprechender Ver- 3.1. Außeruniversitäre Erwachsenenbildung
mittlungstätigkeiten im Inland praktisch erst Inlandskurse allgemeinsprachlichen Charak-
im 20. Jh. stattgefunden hat. ters für ausländische Nachfrager waren nach
Eine ganz andere Art inländischen Unter- dem Zweiten Weltkrieg die ersten DaF-Akti-
richts in DaZ entwickelte sich mit der Ver- vitäten im Inland. Sie werden heute von einer
breitung des Hochdeutschen im niederdeut- Vielzahl von Trägern angeboten, unter denen
schen Sprachgebiet (seit dem 16. Jh.), woran das Goethe-Institut eine herausragende Posi-
die Schulen neben Kirche und Verwaltung ei- tion einnimmt. Die größeren Träger haben je
nen wesentlichen Anteil hatten (vgl. Herr- eigene didaktische Profile ausgebildet, wozu
mann-Winter 1995). Im 19. Jh. hat diese Tra- in unterschiedlicher Intensität und Qualität
dition ihre Fortsetzung gefunden im deutsch- auch Qualifizierungsmaßnahmen für die
sprachigen Unterricht für die sorbische und Lehrkräfte (vgl. Art. 115) und die Produktion
die dänische, vor allem aber für die polnische didaktischer Materialien (vgl. Art. 105) gehö-
und kaschubische Minderheit, sowohl in de- ren.
ren ursprünglichen Siedlungsgebieten im
Osten des Reiches als auch ⫺ seit den 1880er 3.1.1. Die Inlandskurse des Goethe-Instituts
Jahren ⫺ in dem sich industrialisierenden Ein- Tätigkeiten im Inland, nicht Auslandsaktivi-
wanderungsgebiet an der Ruhr (Glück 1979). täten, stehen am Beginn der Nachkriegsge-
Da der Germanisierung der „nicht deutschen schichte des Goethe-Instituts. „Meist an klei-
Volksteile“ im Zeitalter des Nationalismus all- nen, idyllisch gelegenen Städten“ (so das
gemeinpolitische Bedeutung zugeschrieben Jahrbuch des Goethe-Instituts 1995/96, 17)
wurde, bemühte man sich, bewährte deutsche wurden ab 1952 Intensivkurse zum Erwerb
Lehrer für die deutschsprachige Unterweisung grundlegender Deutschkenntnisse für auslän-
der Minderheitenschüler einzusetzen, und es dische Studienbewerber, Techniker und Inge-
entstanden erste Versuche einer systematisie- nieure angeboten, die rege Nachfrage fanden;
renden Didaktik des DaZ, einschließlich einer in rascher Folge wurden daraufhin auch in
bedachten („utraquistischen“) Verbindung größeren Städten Inlandsinstitute gegründet,
von Sach- und Sprachlernprozessen (Schwarz die 1959 bereits die Zahl 15 erreichten (1996:
1905, als ein Beispiel). Die Germanisierungs- 18 Institute). Die Nachfrage blieb jedoch
bestrebungen in den während des Zweiten nicht unbeeinflusst von der politischen Groß-
Weltkriegs annektierten Gebieten dürfen in wetterlage. Dem Anstieg auf über 20.000 Teil-
diesem Zusammenhang nicht unerwähnt blei- nehmer pro Jahr folgte zu Beginn der 80er
ben; sie wurden von den nationalsozialisti- Jahre ein auffälliger Rückgang; dem Wieder-
schen Politikern als „Anschluss“ von Volks- anstieg auf über 28.000 Teilnehmer ein gra-
deutschen und germanophonen Bevölke- vierender Einbruch seit dem Jahr 1992 (Am-
rungsteilen konzipiert und im Sinne einer „in- mon 1991; Goethe-Institut 1996; von Faber
neren“ Sprachbildungspolitik betrieben (Am- 1994). (Es sei angemerkt, dass die hier und
mon 1991, 534⫺536; Hansen 1994, 91⫺106). im Folgenden mitgeteilten Teilnehmerzahlen
In vermittelter und gebrochener, oft unbe- nur bedingt miteinander vergleichbar sind.
wusster Weise wirken diese Traditionen auch Genau genommen müssten jeweils Kursdauer
in den Unterricht des DaF/DaZ nach dem und Wochenstundenzahl mit berücksichtigt
Zweiten Weltkrieg hinein. Die genauere Auf- und in Teilnehmerstunden umgerechnet wer-
arbeitung dieser Zusammenhänge ist jedoch den, um Vergleichbarkeit herzustellen; im
ein Forschungsdesiderat. Rahmen des vorliegenden Artikels ist dies je-
doch nicht zu leisten.)
Zusammensetzung und Interessen der Teil-
3. Deutsch als Fremdsprache im nehmer an den Goethe-Inlandskursen haben
Inland sich im Lauf der Jahrzehnte erheblich differen-
ziert. Mitte der 90er Jahre werden außer den
Die wesentlichen Arbeitsfelder der fremd- achtwöchigen Standardkursen aller Stufen
sprachlich orientierten Deutschvermittlung auch kürzere Intensivkurse, Spezialkurse für
im Inland sind die außeruniversitäre Erwach- Führungskräfte (Manager, Diplomaten, Jour-
senenbildung, die Programme internationaler nalisten), studienvorbereitende Kurse für Sti-
58 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

pendiaten, Prüfungsvorbereitungskurse, Leh- cher Markt privater Sprachenschulen, die


rerfortbildungskurse, Deutschkurse für Aus- Kenntnisse in international bedeutsamen
siedler und spezielle Kinder- und Jugendpro- Sprachen, darunter eben auch DaF, vermit-
gramme angeboten. teln. Auf diesem Markt konkurrieren kleinere
In didaktischer Hinsicht waren die frühen Einzelbetriebe von lokaler Bedeutung mit
Jahre geprägt durch die in den Inlandskursen großen Organisationen, die schuleigene Di-
entwickelte und gepflegte Verbindung einer daktiken und Lehrmaterialien für allgemein-
einsprachig direkten mit einer grammatisch sprachliche DaF-Kurse entwickelt haben; die
systematisierenden Vorgehensweise und allge- inlingua-Schulen und die Berlitz-Schulen in
meinen, sozusagen inhaltsneutralen Sprach- Deutschland sind hier als die beiden wichtig-
kompetenzen als Ziel. In der Folge haben die sten Beispiele zu nennen. Die dritte Kategorie
Entwicklungen des DaF-Unterrichts im Aus- bilden Einzelunternehmen unterschiedlicher
land (woran die seit den 60er Jahren über- Größe und Rechtsform, die in der DaF-Ver-
nommenen bzw. neu gegründeten Auslands- mittlung den Hauptzweck ihrer Tätigkeit se-
einrichtungen des Goethe-Instituts einen er- hen. Diese behaupten sich am Markt vor
heblichen Anteil haben) mehr und mehr auf allem durch die Ausbildung spezifischer Pro-
den Inlandsbereich zurückgewirkt. Im Goe- file, sei es hinsichtlich der Herkunftsländer,
the-Institut selbst sorgte eine zentrale Koor- aus denen die Teilnehmer kommen, sei es hin-
dination für ein hohes Maß an Qualität und sichtlich fachlicher, vor allem wirtschaftlicher
Aktualität des Unterrichts in beiden Berei- und technischer Inhalte (vgl. insgesamt
chen. Fremdsprache Deutsch 1993; FaDaF 1997).
In den didaktischen Entwicklungsarbeiten
des Instituts lassen sich einige durchgehende 3.2. Deutschunterricht im Feld der
Tendenzen feststellen: das Interesse an ak- kulturellen, wirtschaftlichen und
tuellen unterrichtstechnologischen Entwick- technischen Zusammenarbeit
lungen, das mit heute bescheiden anmuten- Mit dem vorstehend beschriebenen Arbeits-
den Hinweisen zur Nutzung von Tonbandge- feld verflochten, zugleich aber durch ein spe-
räten begann und in der Einrichtung von zifisches Lernerprofil deutlich davon unter-
„Mediotheken“ zum selbstgesteuerten Ler- schieden ist das Arbeitsfeld DaF im Kontext
nen seinen jüngsten Ausdruck gefunden hat; internationaler Zusammenarbeit und interna-
dann die Diversifikation der Unterrichtsme- tionalen Austausches. Nicht wenige Träger
thoden, insbesondere durch die Aufnahme von Qualifikations- und Austauschpro-
audiolingualer, pragmatischer und kommuni- grammen unterstützen vorbereitenden oder
kativer Verfahren, ergänzt um kognitive und begleitenden Deutschunterricht in Deutsch-
interkulturelle Elemente; die Entwicklung ei- land, führen ihn aber nicht oder nur z. T.
nes hochdifferenzierten Lehrplan- und Prü- selbst durch, so z. B. der Deutsche Akademi-
fungssystems; und schließlich die Konzeption sche Austauschdienst, der Pädagogische Aus-
der Spracharbeit als „Teil der kulturpoliti- tauschdienst, das Deutsch-Französische Ju-
schen Gesamtkonzeption des Instituts“ (Goe- gendwerk oder die Rheinisch-Westfälische
the-Institut 1998, 12), seit den 70er Jahren Auslandsgesellschaft. Sie beauftragen entwe-
auf der Grundlage eines „erweiterten Kultur- der selbst einen Sprachkurs-Träger oder
begriffs“, dessen Grenzen jedoch in den 90er überlassen den Stipendiaten die Wahl eines
Jahren in die Diskussion geraten sind (vgl. geeigneten Anbieters. Andere Organisationen
Sartorius 1996). dagegen bieten fachliche, sprachliche und
kulturelle Qualifikation „aus einer Hand“ an.
3.1.2. Sonstige Anbieter Ein herausragendes Beispiel für „Angebote
DaF in der außeruniversitären Erwachsenen- aus einer Hand“ stellt der Verbund der Carl
bildung wird auch von einer Fülle weiterer Duisberg Gesellschaft (CDG) mit den Carl
Organisationen teils gemeinnütziger, teils Duisberg Centren (CDC) dar. Ausländische
kommerzieller Art angeboten. Sie lassen sich Nachwuchs- und Führungskräfte, welche
in drei Kategorien einteilen: Zum einen gibt Qualifikationsangebote der CDG in Deutsch-
es Träger, die DaF als (notwendigen) Be- land wahrnehmen, erhalten ein spezifisches
standteil einer im Übrigen auf fachliche Ziele Angebot zum Deutschlernen (welches aber
ausgerichteten Qualifikation anbieten; sie auch anderen Nachfragern offensteht). Es
spielen für das Gesamtangebot und die Ent- wird durchgeführt von den im Jahre 1962 ge-
wicklung des Unterrichts nur eine geringe gründeten CDC an 5 inländischen Kollegs,
Rolle. Zum andern existiert ein umfangrei- mit rd. 500 Teilnehmern pro Monat. Das An-
5. Entwicklungen des Unterrichts in Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache 59

gebot umfasst einmonatige Intensivkurse auf schulen der Bundesrepublik Deutschland“ er-
8 Lernstufen, vom Anfängerniveau bis zur werben, können sich an den Studienkollegs
Mittelstufe (mit eigenen Zertifikaten), und auf diese Prüfung vorbereiten. Die Prüfung
Spezialkurse (Vorbereitung auf die DSH, enthält sprachliche, mathematische und fach-
Wirtschaftsdeutsch, Ferien-Sprachkurse für liche (natur-, wirtschafts-, sozialwissenschaft-
Jugendliche, Fortbildungs-Seminare für liche) Anteile; der sprachliche Teil ist der
Deutschlehrer). Das didaktische Grundkon- DSH äquivalent.
zept basiert auf der Kombination von Grup- Die Studienkollegs sind schulartig organi-
penunterricht, individueller Arbeit in den sierte Lehrinstitute, teils selbständig, teils den
Mediotheken und Freizeit- und Kulturpro- Hochschulen an- oder eingegliedert, teils
gramm. Ein besonderer Akzent liegt entspre- Dienststellen der Bundesländer, die den Kul-
chend den Interessen der Hauptzielgruppe tusministerien unterstehen. Sie wurden seit
auf der Hinführung zu wirtschaftlichen und 1959 eingerichtet. In der Mitte der 90er Jahre
technischen Fachtexten, produktiv und re- arbeiten Studienkollegs in allen Bundeslän-
zeptiv; für den Übergang von der allgemein- dern, an insgesamt 34 Standorten. Die jährli-
sprachlichen zur fachsprachlichen Unterwei- che Teilnehmerzahl (einschließlich Vorkurse)
sung wurde ein eigenes Lehrwerk entwickelt stieg bis 1980 auf rund 3800 an, ging dann
(vgl. Schneider 1989). bis 1985 deutlich zurück, erreichte 1992 über
In der DDR gab es für jährlich etwa 1000 4000 und ist seither wieder im Fallen begrif-
ausländische Jugendliche, die zu Facharbei- fen (DAAD/FaDaF 1999; Jansen 1996).
tern ausgebildet wurden, 5-monatige Inten- Die Kollegiaten verbleiben im Regelfall
sivkurse in deutscher Sprache, über deren zwei Semester an den Kollegs, ihre Ausbil-
Konzept jedoch keine genaueren Kenntnisse dung fußt auf einer Rahmenordnung der
vorliegen. Kultusministerien. Der Deutschunterricht be-
ansprucht etwa ein Drittel der zur Verfügung
3.3. Studienvorbereitender und stehenden Lernzeit, setzt allgemein-sprachli-
studienbegleitender Deutschunterricht che Kenntnisse (mindestens der Grundstufe
Wer in Deutschland studieren will, muss vor II) voraus und soll zu dem für ein Fachstu-
Aufnahme des Studiums an einer deutschen dium erforderlichen Niveau der Deutsch-
Universität oder Fachhochschule den Nach- kenntnisse (Abschluss der Mittelstufe) füh-
weis der dafür erforderlichen deutschen ren. Dem allgemeinen Ziel der fachbezogenen
Sprachkenntnisse erbringen. Deren Niveau Studierfähigkeit gemäß nimmt die Einfüh-
ist durch die Rahmenordnung der Hoch- rung in Wortschatz, Grammatik und Textsor-
schulrektorenkonferenz (1995) für die „Deut- ten der Fachsprachen breiten Raum ein, wo-
sche Sprachprüfung für den Hochschulzu- bei dem Leseverstehen von Fachtexten be-
gang ausländischer Studienbewerber“ (DSH; sondere Bedeutung zukommt.
früher: Prüfung zum Nachweis deutscher
Sprachkenntnisse, PNdS) festgelegt (vgl. 3.3.2. Die Lehrgebiete DaF an den
Art. 84). Grundsätzlich können diese Kennt- Hochschulen
nisse an beliebigen Institutionen erworben Aus unterstützenden Maßnahmen für auslän-
werden, doch sind an den Hochschulen oder dische Studierende und Studienbewerber, die
in enger Verbindung mit ihnen Einrichtungen anfangs vor allem von den Akademischen
entstanden, die sich dem studienvorbereiten- Auslandsämtern, aber auch von den Germa-
den Deutschunterricht in spezieller Weise nistik-Seminaren und anderen universitären
widmen und z. T. darüber hinausgehend Einrichtungen bereitgestellt wurden, entstan-
sprachliche Unterstützung während des Stu- den in den 60er Jahren an größeren deut-
diums offerieren. In der BRD sind dies die schen Hochschulen kontinuierliche Aktivitä-
Studienkollegs und die Lehrgebiete DaF; in ten, die seit Beginn der 70er Jahre nach feste-
der DDR war es das Herder-Institut. rer Organisation verlangten. Damit verbun-
den war die Forderung, die bis dahin bloß
3.3.1. Der Deutschunterricht an den „technisch“ betriebene Sprachvermittlung
Studienkollegs wissenschaftlich zu fundieren, d. h. sie mit
Ausländische Bewerber, welche die Zugangs- Forschungs- und Ausbildungsaufgaben zu
berechtigung zu einem Hochschulstudium erst koppeln. Diese Bestrebungen erhielten mäch-
im Inland durch die „Prüfung zur Feststellung tigen Nachdruck durch die vom Deutschen
der Eignung ausländischer Studienbewerber Akademischen Austauschdienst betriebene
für die Aufnahme eines Studiums an Hoch- Gründung des Arbeitskreises Deutsch als
60 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

Fremdsprache (1971; seit 1989: Fachverband den 50er Jahren vom Institut für das Auslän-
Deutsch als Fremdsprache); die wesentlichen derstudium (seit 1961: Herder-Institut) der
Forderungen konnten in den nachfolgenden Universität Leipzig wahrgenommen, das als
Jahren weitgehend durchgesetzt werden. „Vorstudienanstalt für ausländische Studie-
Mitte der 90er Jahre existieren Lehrgebiete rende in der DDR“ jährlich bis zu 1500 Stu-
DaF an so gut wie allen deutschen Universi- dienbewerber, vor allem aus Entwicklungs-
täten und an zahlreichen Fachhochschulen, ländern, in 10-monatigen Intensivkursen
wenn auch dem Umfang der jeweiligen Auf- sprachlich auf ihr Fachstudium vorbereitete
gaben entsprechend in sehr unterschiedli- und während ihres Grundstudiums beglei-
chem Ausbaustand. Organisatorisch sind sie tete. Später wurden auch Graduierte aufge-
zum größten Teil angegliedert an Sprachen- nommen und in Kursen von bis zu 5 Mona-
zentren, Germanistische Institute oder Aka- ten Dauer auf weiterführende Studien vorbe-
demische Auslandsämter, zum kleineren Teil reitet. Zugleich fungierte das Institut seit dem
sind sie selbständige wissenschaftliche Ein- Ende der 70er Jahre als „Leitinstitut“ für
richtungen im Rahmen der Fakultäten oder den Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht an
Fachbereiche (DAAD/FaDaF 1999). verschiedenen Universitäten und Pädagogi-
Die von ihnen wahrgenommenen Aufga- schen Hochschulen der DDR mit studienbe-
ben im Bereich der praktischen Vermittlung gleitendem Deutschunterricht.
deutscher Sprachkenntnisse umfassen stu- Die didaktische Konzeption, die sich in
dienvorbereitende und studienbegleitende mehreren aufeinander folgenden Lehrwerken
Angebote. Das Eingangsniveau für die vorbe- und in didaktischen Publikationen, vor allem
reitenden Kurse wird von den Hochschulen in der Zeitschrift „Deutsch als Fremdspra-
selbst bestimmt; die Möglichkeiten reichen che“, niedergeschlagen hat, war auf eine Ver-
von bloßen Vorbereitungskursen auf die DSH bindung von allgemeinsprachlicher und fach-
bis hin zu vollständigen Angeboten ab der sprachlicher Ausbildung, ergänzt durch Lan-
Grundstufe I bis zum Abschluss der Mittel- deskunde der DDR, gerichtet. Kennzeich-
stufe. Die Grundstufenkurse haben naturge- nend war ein kognitiver Zugang über das
mäß allgemeinsprachlichen Charakter, wäh- Sprachsystem, der jedoch in den 80er Jahren
rend die Mittelstufenkurse in der Regel auch durch kommunikative Erwägungen erweitert
studienbezogene Sprachfähigkeiten (Vor- wurde, und eine an der sowjetischen Lern-
tragsnotizen, Exzerpte, Versuchsprotokolle, und Gedächtnispsychologie orientierten Me-
Referate etc.), z. T. auch schon fachsprach- thodik (vgl. Blei 1997).
liche Qualifikationen (vor allem Leseverste- Nach der Wende wurde der inländische
hen von Fachtexten), vermitteln. In den stu- Aufgabenbereich nach westdeutschen Vor-
dienbegleitenden Angeboten finden sich Kurse stellungen reorganisiert. Das Herder-Institut
zur Vertiefung der studienbezogenen Sprach- wurde teilweise (mit seinen studienvorberei-
fähigkeiten (Analyse und Produktion wissen- tenden Aufgaben) in das neu gegründete Stu-
schaftlicher Texte), Kurse zur fachlichen dienkolleg Sachsen überführt, für den außer-
Kommunikation (meist nach Fächergruppen universitären Erwachsenenunterricht wurde
zusammengefasst) und zur landeskundlichen der eigene Verein inter-DaF gegründet (Hipp
und literarischen Weiterbildung. 1990/1994; Wenzel 1995). Mitte der 90er
Durch Fachtagungen, Jahrestagungen, Re- Jahre existieren Lehrgebiete Deutsch als
zensionen und Publikationen wird die didak- Fremdsprache an 12 Hochschulstandorten
tische Entwicklung in diesem Gebiet vom und Studienkollegs an 8 Hochschulstandor-
Fachverband DaF, auch im Dialog mit den ten der ehemaligen DDR (DAAD/FaDaF
Deutschlektoren im Ausland und den außer- 1999).
universitären DaF-Anbietern, konsequent
und auf breiter Basis vorangetrieben. Die von 3.4. Sommerkurse
ihm in Verbindung mit dem DAAD heraus- Rund 50 Universitäten und Fachhochschulen
gegebene Zeitschrift „Info DaF“ ist ein wich- in der Bundesrepublik Deutschland bieten
tiges Organ aktueller Information und Dis- während der Semesterferien im Sommer
kussion im Arbeitsfeld. Kurse für deutsche Sprache, Literatur und
Landeskunde an, die von ausländischen Stu-
3.3.3. Deutsch für ausländische Studierende dierenden und sonstigen Interessenten be-
in der DDR sucht werden. Sie haben üblicherweise eine
In der DDR wurden die Aufgaben, die in der Dauer von 3⫺4 Wochen und werden von den
alten BRD den Studienkollegs oblagen, seit Teilnehmern selbst oder durch Stipendien fi-
5. Entwicklungen des Unterrichts in Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache 61

nanziert. Durchgeführt werden Sprachkurse der 60er und 70er Jahre; seine heutige Ausge-
aller Lernstufen, es überwiegen jedoch die staltung ist in hohem Maße von den Gege-
Fortgeschrittenen-Kurse der Mittel- und benheiten und dem Engagement der VHS-
Oberstufe. Typisch sind Verbindungen des Leitungen vor Ort abhängig. Umfang, An-
Deutschlernens mit einer bestimmten Sach- spruch und Differenzierungsgrad der Kurse
thematik, vor allem aus dem Bereich der variieren daher erheblich. Üblich ist eine zeit-
Wirtschaft, vielfach aber auch aus den Berei- liche Gliederung nach VHS-Semestern, viele
chen der deutschen Gegenwartskultur oder Kurse begnügen sich mit ein bis zwei Doppel-
der jeweiligen regionalen Kultur und Ge- stunden pro Woche und führen dann in vier
schichte (vgl. insgesamt DAAD 2000). bis sechs Semestern zum Zertifikat DaF; an
den größeren VHS werden aber in der Regel
auch Mittelstufenkurse, Intensivkurse und
4. Deutsch als Zweitsprache zielgruppenspezifische Kurse angeboten.
Als Beispiel eines hochdifferenzierten Pro-
Die hauptsächlichen Arbeitsfelder des Deut-
gramms sei das Angebot der VHS Frankfurt
schen als Zweitsprache bilden der Deutsch-
für den Herbst 1996 skizziert: Die allge-
unterricht für ausländische Arbeitnehmer
meinen Kurse umfassen Grundstufenkurse
und ihre Familienangehörigen (DfaA), der auf vier und Mittelstufenkurse auf zwei Ni-
Deutschunterricht im Rahmen der Eingliede- veaus, ferner Vorbereitungskurse zum Zertifi-
rungsmaßnahmen für erwachsene Aussiedler kat und zur Zentralen Mittelstufenprüfung
und die Deutschförderung für Schüler aus sowie zum Kleinen und zum Großen Sprach-
Migrantenfamilien an öffentlichen Schulen. diplom und zur DSH; Grund- und Mittelstu-
In der DDR gab es für die Vertragsarbeitneh- fenkurse gibt es auch in Intensivform. Ziel-
mer einen berufsbegleitenden Deutschunter- gruppenspezifische Angebote sind eingerich-
richt im Umfang von etwa 200 Lernstunden. tet für Frauen und für Jugendliche, und noch
Von den schulischen Aktivitäten abgese- spezieller für Türkinnen, Japanerinnen und
hen, die Teil des staatlichen Bildungssystems Koreanerinnen und für iranische Jugendli-
sind, lebt die Arbeit in diesem Bereich von che, sowie zur Alphabetisierung von Schreib-
Subventionen. Die kennzeichnende institutio- unkundigen oder Schreibungewohnten. The-
nelle Struktur ist die einer Ausschreibung öf- menspezifische Kurse verbinden Deutschlern-
fentlicher Mittel, um die sich dezentral Trä- angebote mit Berufsorientierung und Berufs-
ger von Sprachkursen bewerben. Diese sind vorbereitung, der Behandlung von Wirt-
jedoch in der Regel auf die eine oder andere schaftstexten oder literarischen Texten, mit
Weise an zentrale Organisationen angebun- Museumsbesuchen, Laientheater, Kochkur-
den, welche die zur didaktischen Entwick- sen (Stadt Frankfurt am Main 1996, 236⫺
lung, zur Sicherung der Kursqualität und zur 273).
Qualifikation der Lehrkräfte notwendigen Die zentral geführte Statistik der VHS in
Arbeiten leisten, welche nicht lokal erbracht der Bundesrepublik weist für das Kalender-
werden können. Die größeren Träger bieten jahr 1995 rd. 236 000 Belegungen von DAZ-
in der Regel Deutschlernmöglichkeiten für Kursen nach. Das bedeutet einen leichten
verschiedene Zielgruppen an; es ist also auch Rückgang gegenüber dem Höchststand von
nicht ungewöhnlich, dass sie mit mehr als ei- fast 250 000 Belegungen im Jahre 1993, auf
ner der zentralen Organisationen zusammen- mittlere Frist gesehen aber immer noch eine
arbeiten. Es sei noch einmal darauf hingewie- Vervielfachung gegenüber den 70er und frü-
sen, dass die Grenzen zu DaF im Inland flie- hen 80er Jahren.
ßend sind. Das „Deutsche Institut für Erwachsenen-
bildung“ (DIE; früher Pädagogische Arbeits-
4.1. Die Volkshochschulen und das stelle des Volkshochschulverbandes, PAS)
Deutsche Institut für sieht seine Aufgabe in der Vermittlung zwi-
Erwachsenenbildung schen wissenschaftlicher Forschung und päd-
Kurse in DaZ gehören (allerdings meist unter agogischer Praxis. Im Bereich DaZ hat die
dem generalisierten Oberbegriff „Deutsch als PAS seit 1976 an der Entwicklung von didak-
Fremdsprache“) seit Jahrzehnten zum Grund- tischen Materialien gearbeitet, die dazu dienen
angebot der über 1000 Volkshochschulen sollten, lineare Lehrgangsstrukturen des her-
(VHS) in der Bundesrepublik Deutschland. kömmlichen DaF-Unterrichts aufzubrechen
Entwickelt hat sich dieses Angebot in größe- und die meist verwendeten fremdsprachdidak-
rem Umfang erst mit der Arbeitsmigration tisch angelegten Lehrwerke zu ergänzen um
62 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

offene Verfahren, die der Lebenssituation in 4.3. Die Sprachverbandskurse


Deutschland und den höchst unterschiedli- Die unterrichtlichen Aktivitäten im Arbeits-
chen Voraussetzungen der Teilnehmer Rech- feld DfaA werden koordiniert durch den
nung tragen (Fortsetzungsgeschichten, grup- Sprachverband Deutsch für ausländische Ar-
peneigene Texte, Sprachlernspiele usw.). In beitnehmer e. V., der 1974 gegründet wurde
neuerer Zeit wird vor allem die didaktische und dem u. a. das Bundesarbeitsministerium,
Entwicklung zielgruppenspezifischer Kursan- die Bundesanstalt für Arbeit, der Volkshoch-
gebote vorangetrieben, z. B. Hauptschulab- schulverband und die Bundesländer als Mit-
schlusskurse für ausländische junge Erwach- glieder angehören. Der Sprachverband för-
sene, Deutsch für Arbeitslose als Hilfe zum be- dert mit Mitteln des Bundesarbeitsministeri-
ruflichen Wiedereinstieg u. ä. ums zielgruppenspezifische Sprachkurse mit
Erhebliche Bedeutung hat die Arbeit der 70 000 bis 80 000 Teilnehmern jährlich, die
PAS bzw. des DIE für die Ausgestaltung des von zahlreichen Trägerorganisationen durch-
Zertifikats DaF (seit 1969), das vom Volks- geführt werden. „Große“ Träger sind die
hochschulverband und dem Goethe-Institut Volkshochschulen, der Internationale Bund
gemeinsam entwickelt wurde und als Grund- für Sozialarbeit und die Arbeiterwohlfahrt;
stufen-Abschlussprüfung im In- und Ausland eine Stärke des Sprachverbands besteht aber
fungiert. Die Inhalte der Zertifikatsprüfung gerade darin, dass auch zahlreiche „kleine“
haben selbstverständlich Einfluss auf die Träger, die geeignet sind, spezifische Bedürf-
Unterrichtsinhalte, und in diesem Sinne stellt nisse vor Ort abzudecken, zum Zuge kom-
das Zertifikat eine der wichtigsten Klammern men (zur Arbeit des Sprachverbands insge-
zwischen dem DaF- und dem DaZ-Bereich samt vgl. Fürs Leben … 1989; Kaufmann
dar. Das DIE hat darüber hinaus die Ent- 1995, Sprachverband 1998; Social Consult
wicklung inlandsspezifischer Prüfungen be- 1999).
trieben: Der „Grundbaustein DaF“, der etwa Zu Beginn gab es nur einen geförderten
den halben Lernweg zum Zertifikat markiert, Kurstyp: den Allgemeinen Deutschkurs für
ist besonders für die Zielgruppe der ausländi- erwachsene ausländische Arbeitnehmer, der
schen Arbeitnehmer und ihrer Familienange- ganz der audiovisuellen Unterrichtsmethode
hörigen (vgl. Abschnitt 4.3.) von Bedeutung; verpflichtet war. Die weitere Entwicklung
die Sprachstandsanalyse, deren Niveau zwi- war gekennzeichnet durch eine Differenzie-
schen Grundbaustein und Zertifikat liegt, rung nach Lernstufen und Kursformen (All-
richtet sich vor allem an die Absolventen der gemeine Sprachkurse, Intensivkurse, Alpha-
Aussiedlerkurse (vgl. Abschnitt 4.4.1.). betisierungskurse, Kurse zur Vorbereitung
auf den Grundbaustein zum Zertifikat DaF),
4.2. Sonstige Anbieter wobei zusätzlich eine Spezifizierung auf be-
DaZ-Kurse werden von zahlreichen weiteren stimmte Zielgruppen (Jugendliche, Frauen)
Organisationen gemeinnützigen Charakters ermöglicht wurde. Zur didaktischen Qualität
der Kurse trägt der Sprachverband bei, in-
angeboten; zu ihnen zählen der Internatio-
dem er Mindestausstattungen vorschreibt,
nale Bund für Sozialarbeit, die Wohlfahrts-
Unterrichtsanregungen vielfältiger Art publi-
verbände, kommunale, kirchliche und ge-
ziert und aufgrund eigener Analysen Lehr-
werkschaftliche Einrichtungen und einzelne werksempfehlungen ausspricht (vgl. Beh-
Vereine. Zielgruppen sind Jugendliche und rend-Roth u. a. 1990). Diese Arbeit hat we-
Erwachsene aus den Gruppen der Aussiedler sentlichen Anteil an der Entwicklung einer
und der Arbeitsmigranten, in geringem Um- spezifischen Zweitsprachendidaktik im Er-
fang auch aus den Gruppen der Flüchtlinge wachsenenbereich, die sich an den Verbalisie-
und Asylberechtigten. Es kann unterschieden rungsbedürfnissen und der (bilingualen und
werden zwischen Sprachkursen, die Teil be- bikulturellen) Alltagswirklichkeit der Lerner
ruflicher Eingliederungsmaßnahmen sind, orientiert, sie als bewusst handelnde Perso-
und solchen, in denen das Lernen der deut- nen anspricht und kommunikative Akzepta-
schen Sprache einziger oder überwiegender bilität ihres Deutschgebrauchs zum Ziel hat
Zweck des betreffenden Bildungsangebots ist (Barkowski u. a. 1980). Eigens zu nennen
(für einen Überblick vgl. FaDaF 1997). In sind die Kriterien zur Lehrwerksbegutach-
den beiden folgenden Abschnitten wird auf tung (Barkowski u. a. 1986), die beiden Zeit-
die Zielgruppen der Aussiedler und der aus- schriften „Deutsch lernen“ und „Bildungsar-
ländischen Arbeitnehmer gesondert eingegan- beit in der Zweitsprache Deutsch“ (bis 1991:
gen. „Bildungsarbeit mit ausländischen Jugendli-
5. Entwicklungen des Unterrichts in Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache 63

chen“), die Materialien zur Alphabetisierung dialektaler Prägung, welche die Aussiedler als
Erwachsener und zum berufsbezogenen Angehörige deutscher Minderheiten in den
Deutschunterricht. Mit der vom Sprachver- Herkunftsländern bewahrt haben (wenn auch
band unterstützten Entwicklung der Videose- in höchst unterschiedlichem Umfang) und die
rie „Korkmazlar“ ist auch eine Perspektive sie als sprachliche Ressource in ihr Leben in
zur Überwindung des Gegensatzes von kurs- der Bundesrepublik Deutschland einbringen
förmigem („schulartigem“) Lernen und dem möchten und sollten.
Lernen an und in der Sprachwirklichkeit auf-
gezeigt worden. 4.4.2. Kurse für Akademiker
Für Spätaussiedler, Asylberechtigte und
4.4. Deutschkurse für erwachsene Kontingentflüchtlinge bis zum Alter von 30
Aussiedler Jahren, die in der BRD ein Hochschulstu-
4.4.1. Allgemeine Sprachkurse dium aufnehmen oder fortsetzen wollen, ver-
Für neuzuwandernde Aussiedler mit geringen gibt die Otto-Benecke-Stiftung Beihilfen zu
oder fehlenden Deutschkenntnissen finan- Orientierungs- und Eingliederungsmaßnah-
ziert die Bundesanstalt für Arbeit Intensiv- men, die aus Mitteln des Bundesfamilienmi-
kurse von ursprünglich acht bis zehn Mona- nisteriums finanziert werden. Einen wesentli-
ten, seit 1993 sechs Monaten Dauer, die als chen Anteil hieran haben die studienvorberei-
Eingliederungshilfe verstanden werden. Ur- tenden Deutschkurse, welche die notwendi-
sprünglich sollten die (länger dauernden) gen Sprachkenntnisse für den Bereich eines
Kurse im günstigen Falle bis zum Zertifikats- Sonderlehrgangs zur Erlangung der Hoch-
niveau führen ⫺ eine Zielvorstellung, die sich schulreife (Spätaussiedler), für den Besuch ei-
als kaum erfüllbar erwiesen hat. Die Durch- nes Studienkollegs (Asylberechtigte und Kon-
führung liegt bei verschiedenen Trägern tingentflüchtlinge) oder bei entsprechender
(Volkshochschulen, Internationaler Bund für Vorbildung für die direkte Aufnahme oder
Sozialarbeit, private Sprach-Institute u. a.), Fortsetzung eines Studiums vermitteln. Die
die sich um die entsprechenden Zuschüsse bei Kenntnisse sollen dem Abschluss der Mittel-
den Arbeitsämtern bewerben. Die Teilneh- stufe bzw. der DSH entsprechen; entspre-
merzahlen unterliegen starken Schwankun- chende Abschlussprüfungen werden von der
gen, abhängig von den Phasen und dem je- Stiftung zentral verwaltet und unter ihrer
weiligen Umfang der Zuwanderung; sie be- Aufsicht durchgeführt. Die Kurse hatten ur-
laufen sich seit 1992 (bei 6-monatiger Kurs- sprünglich eine Dauer von acht Monaten,
dauer) auf rd. 100 000 jährlich (Info-Dienst auch sie wurden 1993 auf sechs Monate ge-
Deutsche Aussiedler, Heft 82, 29). kürzt, weitere Einschränkungen werden be-
Das von einem Team des Goethe-Instituts fürchtet. 1996 sind zwölf Träger, die über
ausgearbeitete Curriculum für den 6-Monate- eine Gesamtzahl von rd. 1900 Kursplätzen
Kurs verbindet einen pragmatisch orientier- verfügen, mit der Durchführung beauftragt.
ten Sprachaufbau mit allgemeinen Themen Für Spätaussiedler und Kontingentflücht-
der sozialen Integration (Hubatsch/Köchling linge im Alter zwischen 30 und 50 Jahren, die
1990). Das vom Bundesinstitut für Berufsbil- im Herkunftsland eine Hochschulausbildung
dung durchgeführte Projekt „Weiterbildung abgeschlossen haben, organisiert die Stiftung
von Aussiedlern unter besonderer Berück- aus Mitteln des Bundesbildungsministeriums
sichtigung fachübergreifender Kompetenzen“ Eingliederungsmaßnahmen, zu denen auch,
strebt dagegen eine engere Verbindung mit soweit erforderlich, Sprachkurse gehören
berufsorientierenden und -qualifizierenden können, die auf den allgemeinen Deutschkur-
Lernprozessen an (Kühn 1995). Für jugendli- sen für Aussiedler aufbauen. Auch hier han-
che Aussiedler hat das Land Rheinland-Pfalz delt es sich um Intensivkurse mit einer Dauer
ein Konzept integrierter Sprachförderung von ursprünglich bis zu acht Monaten, die
vorgelegt (SIL 1992). 1993 auf drei Monate gekürzt wurden ⫺ an-
Für den Aussiedlerunterricht gibt es eine gesichts der heterogenen (fachlichen und
Reihe spezifischer Unterrichtsmaterialien, die sprachlichen) Voraussetzungen der Teilneh-
das Deutschlernen vor allem mit Themen der mer und des angestrebten Ziels (Abschluss
sozialen Integration verbinden. Ein ungelö- auf Mittelstufenniveau) eine bedauerliche
stes didaktisches Problem der Unterrichts- Entwicklung. 1997 ist dieses Angebot auf ei-
praxis wie der Materialien ist die Frage der nige eng definierte Zielgruppen (Bewerber für
Einbeziehung von mitgebrachten Deutsch- Ergänzungsstudien, Wissenschaftler, Medizi-
kenntnissen, manchmal archaischer und oft ner) eingeschränkt worden, in geeignetem
64 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

Umfang können auch 3-monatige Fachspra- 940 000; hinzu kommen rund 230 000 auslän-
chenkurse für Naturwissenschaftler, Ärzte dische Jugendliche an den beruflichen Schu-
und Ökonomen angeboten werden. 1996 lau- len (KMK 1997). Die Zahl der Schüler aus
fen die spezifischen Aufbaukurse nach den Aussiedlerfamilien kann nur geschätzt wer-
Vorgaben der Stiftung bei acht verschiedenen den; sie dürfte um die 400 000 liegen (Grund-
Trägern mit etwa 600 bis 800 Teilnehmern lage der Schätzung: Schüleranteil an den Zu-
pro Jahr; die Zahl der Bewerber übersteigt wandernden, vgl. Dietz 1996, 10⫺13). Wie
die Zahl der zur Verfügung stehenden Plätze viele dieser Schüler Bedarf an einer spezifi-
bei weitem. schen Unterrichtung des Deutschen als
Zum didaktischen Konzept gehören die Zweitsprache haben und wie viele davon eine
Kombination von gemeinsamem Gruppen- solche Förderung tatsächlich erhalten, ist
unterricht und Arbeit in Kleingruppen, die derzeit nicht zu ermitteln. Die Bundesrepu-
nach Sprachstand differenziert sind, sowie die blik Deutschland leistet sich hier ein be-
Verbindung der Ziele allgemeinsprachlicher trächtliches Maß an Unkenntnis.
kommunikativer Kompetenz mit studienbe- Seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre bis
zogenen Sprachfähigkeiten, fachsprachlicher in die 80er Jahre hinein wurden „Vorberei-
Qualifikation (in sehr unterschiedlichen Diszi- tungsklassen“ eingerichtet, die der Intention
plinen) und Fähigkeiten der Textinterpreta- nach das fachliche Lernen im Medium der
tion. Herkunftssprache fortführen und zugleich
die für eine Integration in die Regelklassen
4.5. Deutsch als Zweitsprache an erforderlichen Deutschkenntnisse vermitteln
öffentlichen Schulen sollten. Dieses organisatorische Modell ist im
Der Deutschunterricht für Schüler aus den Hinblick auf beide Ziele gescheitert, einmal
einheimischen Sprachminderheiten hat in der weil die erforderlichen Investitionen in die
Gegenwart „muttersprachlichen“ Charakter. Qualität des Unterrichts ausblieben, und zum
Der Deutschunterricht an Auslandsschulen andern weil das Modell den Kräften sozialer
in Deutschland, z. B. den Schulen der hier Segregation als Spielball überlassen wurde
stationierten ausländischen Streitkräfte, hat (vgl. Boos-Nünning 1981). Die derzeit gülti-
fremdsprachlichen Charakter und folgt den gen Erlasse der Bundesländer sehen neben
Lehrplänen der Herkunftsländer. Beide Ar- der umstandslosen Aufnahme in eine alters-
beitsfelder sind darum in die vorliegende entsprechende (oder eine niedrigere) Klasse
Darstellung nicht aufgenommen worden. eigene vorschulische Angebote oder Ein-
Darzustellen bleibt der Deutschunterricht gangsklassen für Schulanfänger, Aufnahme-
für Schüler aus Immigrantenfamilien, zu de- klassen, Eingliederungskurse für „Seitenein-
nen ⫺ entsprechend den drei Hauptphasen steiger“, zusätzlichen Förderunterricht und
der Einwanderung ⫺ die drei Gruppen der die Verwendung regulären Förderunterrichts
Kinder und Enkel von „Gastarbeitern“ (seit für die Festigung der Deutschkenntnisse bi-
den 60er Jahren), der Kinder von Aussiedlern lingualer Schüler vor (Röhr-Sendlmeier 1986;
(seit den 70er Jahren) und der Kinder von Palt u. a. 1998).
Flüchtlingen (seit den 80er Jahren) gehören. Ansätze zu einer spezifischen Didaktik des
Seit 1965 führen die Bundesländer Statisti- DaZ entwickelten sich in diesem Arbeitsfeld
ken über die „ausländischen Schüler“, d. h. in einer diskontinuierlichen Weise. In der
über Schüler nicht deutscher Staatsangehö- Praxis gab und gibt es mehr oder minder
rigkeit. Anfänglich konnten diese noch als intuitive, mehr oder minder gelungene
Annäherungen an eine Aussage über spezifi- Versuche der Übertragung von Methoden
sche sprachliche Bildungsvoraussetzungen in- des (primarschulischen, muttersprachlichen)
terpretiert werden; doch ist dies in der Ge- Deutschunterrichts auf Deutsch als Zweit-
genwart vor allem aufgrund von Vorgängen sprache. In der Materialproduktion (vgl. Is-
der sprachlichen Assimilation einerseits, der gören-Engin 1993) und in didaktischen Ver-
Berechtigungseinbürgerungen von Aussied- öffentlichungen (vgl. Pommerin 1977; Ra-
lern andererseits längst nicht mehr der Fall. bitsch 1981; Bohn 1982) verbindet sich Pra-
Eine sachgerechtere Schulstatistik ist nicht xiserfahrung mit der Adaption jüngerer Ent-
entwickelt worden. wicklungen der Deutschdidaktik an die neue
Die Zahl der ausländischen Schüler an den Zielgruppe. Gegenläufige Tendenzen, die von
allgemeinbildenden deutschen Schulen (das der Sprachdidaktik, z. T. auch von der Schul-
sind im Wesentlichen die Lernenden der er- aufsicht ausgegangen sind und „von oben“
sten und dritten Gruppe) beträgt 1996 rund auf die Praxis einzuwirken versuchten, ver-
5. Entwicklungen des Unterrichts in Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache 65

schrieben sich einer fremdsprachlichen Orien- 5. Schluss


tierung, sei es in einer kognitiv-kontrastiven
(Meyer-Ingwersen u. a. 1977), sei es in einer Die Geschichte des Unterrichts von DaF und
kommunikativen Linie (Reich 1976; Akade- DaZ im Inland spielt im Wesentlichen in der
mie … 1979). Einen weiterführenden Ansatz, zweiten Hälfte des 20. Jhs. In diesem Zeit-
herausgefordert durch das Ungenügen der raum ist ⫺ aufs Ganze gesehen ⫺ eine starke
beiden genannten „einseitigen“ Orientierun- quantitative Zunahme von Angebot und
gen, aber auch durch die Provokationen der Nachfrage zu konstatieren. Genaue Zahlen
Forschung zum „natürlichen“ Zweitspracher- lassen sich zwar kaum angeben, doch kann
werb (mit Bezug auf Lernende im Schulalter: man im Durchschnitt mit etwa einer halben
Pienemann 1981), hat Wilms (1984) formu- Million inländischer Deutschlernender jähr-
liert. Er fordert die Verbindung von vier Prin- lich rechnen. Mitte der 90er Jahre sind die
zipien: Konzentration auf sinnvolle kommu- Teilnehmerzahlen an den verschiedenen Insti-
nikative Interaktion; sprachsystematische Ar- tutionen rückläufig, teils aufgrund nachlas-
beit, die an Kommunikation anknüpft, aber sender Nachfrage, teils aufgrund gekürzter
ihrer eigenen Logik folgt; stärkere Betonung Subventionen.
des Inhalts- oder Mitteilungsaspekts der Für die Mehrzahl der Lernenden existieren
Sprache; verstärkte Nutzung authentischer passende institutionelle Unterrichtsangebote,
Lesetexte für die Sprachvermittlung. Text- auch in der Fläche. Die beschämende Aus-
orientierte Spracharbeit hat eine zentrale nahme bildet die Gruppe der Asylbewerber,
Funktion in diesem Konzept; eine exemplari- deren Deutschlernen politisch bewusst nicht
sche Ausarbeitung hat Wilms selbst (1986) unterstützt wird.
vorgelegt, eine systematische Ausarbeitung Aufs Ganze gesehen ist auch ein hohes
steht noch aus. Maß an Differenziertheit erreicht. Zielgrup-
Einige Bundesländer haben Lehrpläne für penspezifische Kurse ⫺ untergliedert nach
den Unterricht DaZ an staatlichen Schulen Alter, Geschlecht, Bildungsniveau und fachli-
ausgearbeitet: Bayern (1978/84), Berlin (1982, chen Interessen ⫺ existieren nicht nur im
„Unterrichtseinheiten“ für den Deutschunter- privatwirtschaftlichen, sondern auch im sub-
richt in Vorbereitungsklassen), Nordrhein- ventionierten Bereich. Durch soziogeographi-
Westfalen (1982 für die Zielgruppe der Kinder sche Bedingungen wird jedoch die Zugäng-
ausländischer Arbeitnehmer, 1990 für Aus- lichkeit des so differenzierten Angebots ein-
siedlerkinder); Hamburg (1992, „Richtli- geschränkt; das Gefälle zwischen den Groß-
nien“), Thüringen (1995, „Empfehlungen“),
städten und den ländlichen Gebieten wirkt
Sachsen (1996, Vorläufiger Lehrplan für
sich in spürbarer Weise aus.
Vorbereitungsklassen, Vorbereitungsgruppen,
Von einer eigenen „Inlands-Didaktik“
Förderkurse). Die administrativen wie die
kann man nicht sprechen; es ist auch fraglich,
universitären Bemühungen konzentrieren
sich auf den DaZ-Unterricht in spezifischen ob es wünschenswert wäre, dergleichen anzu-
Organisationsformen. Zweitsprachenförde- streben. Der Inlandsbereich partizipiert in
rung im Regelunterricht (aller Fächer) findet breiter Weise sowohl an den didaktischen
sehr viel weniger Beachtung; wichtige An- Entwicklungen im DaF-Bereich allgemein
stöße hierzu kommen aus dem Bereich der (vgl. die Zeitschriften „Zielsprache Deutsch“,
Berufsbildung (vgl. Sprachliches Lernen … „Fremdsprache Deutsch“ u. a.), als auch an
1989; SIL 1992), von einer breiten Durchset- der international orientierten DaF-Lehr-
zung kann aber weder dort noch im Bereich werksproduktion (vgl. Art. 105). Dies gilt
der Allgemeinbildung die Rede sein. auch für das Arbeitsfeld der fachsprach-
Insgesamt wird DaZ an staatlichen Schu- lichen, insbesondere der wirtschaftssprach-
len zu sehr als Sondermaßnahme, zu wenig lichen Unterweisung und für den DaF/DaZ-
als dauerhafte Aufgabe des Bildungssystems Unterricht im Kindesalter (vgl. die Zeitschrift
gesehen. Es ist nur in ungenügender Weise in „PRIMAR“) Der Inlandsbereich partizipiert
Fächerkanon und Stundentafel eingebunden; schließlich auch an dem Prozess der Standar-
Lehrplanentwicklung und Lehrmittelproduk- disierung von Lernzielen, der sich in einem
tion bleiben hinter dem für andere Fächer er- differenzierten internationalen Zertifizie-
reichten Standard zurück; die Herausbildung rungswesen (vgl. Art. 84) niedergeschlagen
von Fachlehrern wird durch rasch wech- hat.
selnde Einsätze, prekäre Beschäftigungsver- Aus der allgemeinen Forderung nach Ziel-
hältnisse und Defizite im Lehrerbildungssy- gruppenorientierung des Unterrichts resultie-
stem erschwert, wenn nicht blockiert. ren jedoch auch einige Besonderheiten der in-
66 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

ländischen Didaktik-Entwicklung, vor allem Unterrichtspraktische Hilfen zum Lehrplan „Deutsch


im DaZ-Bereich. Sie betreffen zunächst die als Fremdsprache“. Donauwörth.
soziokulturelle Fassung der im Sprachunter- Ammon, Ulrich (1991): Die internationale Stellung
richt angeschnittenen Themen und Inhalte; der deutschen Sprache. Berlin.
hier ist namentlich in den Arbeitsfeldern Barkowski, Hans u. a. (1980): Handbuch für den
DfaA und Aussiedler-Kurse eigenständige Deutschunterricht mit Arbeitsmigranten. König-
Entwicklungsarbeit geleistet worden. Sie be- stein/Ts.
treffen zum Zweiten die vertiefte Beschäfti- ⫺; u. a. (1986): Deutsch für ausländische Arbeiter.
gung mit bestimmten Herkunftssprachen, Gutachten zu ausgewählten Lehrwerken. 3. Aufl.
einschließlich der Kontraste zum Deutschen; Mainz.
zu nennen sind hier insbesondere das Türki- Behrend-Roth, Karin u. a. (1990): Sprachkurse
sche, das Russische und das Polnische. Sie „Deutsch für ausländische Arbeitnehmer und ihre
betreffen drittens die Methodik eines Sprach- Familienangehörigen“ ⫺ Eine Bestandsaufnahme.
unterrichts mit Menschen, die sich Deutsch Mainz.
weniger aus freier Wahl als aus sozialer Not Blei, Dagmar (1997): Deutsch als Fremdsprache in
aneignen und oft nur eine geringe formale der DDR. In: Info DaF 24, 780⫺795.
Bildung als Voraussetzung dafür mitbringen Boos-Nünning, Ursula (1981): Muttersprachliche
(„lernungewohnte Lerner“). Erstaunlicher- Klassen für ausländische Kinder: Eine kritische
weise ist diejenige didaktisch-methodische Diskussion des bayerischen „Offenen Modells“. In:
Aufgabe, die DaF im Inland und DaZ ge- Deutsch lernen. 2/81, 40⫺70.
meinsam haben, nämlich die optimale Ab- Bohn, Edgar (1982): „Wir sind auf dem Weg!“ Ein
stimmung des Kurslernens mit dem Lernen Schuljahr mit ausländischen Grundschulkindern.
an und in der Sprachwirklichkeit, in For- München.
schung und Entwicklung bisher nur punk- DAAD (2000): Sommerkurse in Deutschland.
tuell angegangen worden (Knebler 1995 als Sprache, Literatur, Landeskunde, Musik. Bonn.
ein Beispiel), obwohl in der Praxis zahlreiche (Erscheint jährlich neu).
Ansätze und Erfahrungen dazu zu finden ⫺; FaDaF (1999): Deutsch als Fremdsprache an den
sind (vgl. Kilian u. a. 1995). Was die Qualität Hochschulen und Studienkollegs in Deutschland. Die
der Unterrichtsangebote betrifft, so ist die Sprachlehrangebote. Bonn.
Entwicklung von Standards hierfür noch we- Dietz, Barbara (1996): Jugendliche Aussiedler. Aus-
nig fortgeschritten, doch sind Ansätze dazu reise, Aufnahme und Integration (⫽ Lehrbrief 7 der
gemacht (vgl. Schneider 1998). Deutlich er- „Arbeitshilfen für die Beratung von (Spät)aussied-
kennbar ist ein sozial determiniertes Quali- lern“). o. O.
tätsgefälle, das sich mehr als in allem anderen Ehnert, Rolf; Hartmut Schröder (Hg.) (1994): Das
in den höchst unterschiedlichen Beschäfti- Fach Deutsch als Fremdsprache in den deutschspra-
gungsbedingungen der Lehrkräfte und ent- chigen Ländern. Frankfurt/M. u. a. (2. korrigierte
sprechenden Unterschieden ihrer Professio- Aufl.)
nalität bemerkbar macht (vgl. Gaddatsch Ehrismann, Gustav (1966): Geschichte der deut-
1991; Paleit 1994; Art. 115). schen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters.
Im internationalen Vergleich ist der Unter- Erster Teil: Die althochdeutsche Literatur. Mün-
richt von DaF und DaZ in Deutschland weit chen.
weniger entwickelt als der Unterricht von Faber, Helm von (1994): Die Entwicklung von
Englisch als Fremd- und Zweitsprache in den Deutsch als Fremdsprache in der Bundesrepublik
englischsprachigen Ländern. Er kann sich Deutschland unter besonderer Berücksichtigung
aber mit dem Inlandsunterricht anderer inter- des Goethe-Institutes. In: Ehnert/Schröder 1990/
1994, 9⫺33.
national bedeutsamer Sprachen durchaus
messen, auch wenn etwa im Bereich des Fachverband Deutsch als Fremdsprache (Hg.)
Migrantenunterrichts die skandinavischen (1997): Deutsch als Fremdsprache an außeruniver-
sitären Institutionen in Deutschland. Weiterbil-
Länder, oder im Bereich der Wirtschafts- dungsangebote. Ergebnisse einer Umfrage. Mün-
sprache die französischsprachigen Länder ster.
einen höheren Standard erreicht haben.
Fremdsprache Deutsch, Sondernummer (1993):
Deutsch als Fremdsprache in der Bundesrepublik
Deutschland.
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Fürs Leben Deutsch lernen. 15 Jahre Sprachkursför-
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5. Entwicklungen des Unterrichts in Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache 67

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6. Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht deutschsprachigen


Ländern

1. Begriffsdifferenzierungen: ,Deutsch als werden hier nicht weiter behandelt. Eine


Muttersprache‘ (DaM) ⫺ ,als Fremdsprache‘ neuere Entwicklung ist Deutsch als Nationa-
(DaF), ,deutschsprachige Länder‘ litätensprache für Lernende, die sich einer
2. Deutsche Auslandsschulen deutschen ethnischen Minderheit eines Lan-
3. Deutsch als Fremdsprache an Schulen
4. Deutsch als Fremdsprache und Germanistik
des zuordnen, aber ihre deutschen Sprach-
an Hochschulen kenntnisse mehr oder weniger verloren ha-
5. Erwachsenenbildung ben. Trotz des Sprachverlustes steht solchen
6. Zur Rolle und Entwicklung des Lernenden auf Grund ihrer deutschen Natio-
Deutschunterrichts in einzelnen Ländern nalität die deutsche Sprache näher als Ler-
7. Literatur in Auswahl nern von Deutsch als Fremdsprache (vgl.
Földes 1992).
Die folgenden Ausführungen beschränken
1. Begriffsdifferenzierungen ,Deutsch sich auf die nicht deutschsprachigen Länder.
als Muttersprache‘ (DaM) ⫺ Dazu gehören diejenigen Länder nicht, in de-
,als Fremdsprache‘ (DaF), nen die Muttersprachler des Deutschen die
,deutschsprachige Länder‘ Bevölkerungsmehrheit bilden, nämlich die
Bundesrepublik Deutschland, Österreich,
Deutschunterricht kann erteilt werden als Liechtenstein und die Schweiz. Wenn man die
Muttersprache, als Nationalitätensprache, als Länder als Ganze nimmt, gehört die gesamte
Zweitsprache oder als Fremdsprache. Dabei Schweiz nicht dazu; wegen des in der Schweiz
muss man unterscheiden zwischen der Stel- für die Amtssprachen geltenden Regional-
lung der Sprache im Schulcurriculum und ih- prinzips kann man allerdings die deutsch-
rer Stellung für ein Individuum. So kann sprachige Schweiz von der französisch-, ita-
Deutsch beispielsweise für ein Individuum lienisch- und rätoromanischsprachigen unter-
Muttersprache sein und gleichzeitig curricu- scheiden und nur erstere ausnehmen. Ent-
lare Fremdsprache. Dies ist etwa der Fall für sprechend kann man bezüglich der deutsch-
einen erst kürzlich aus einem deutschsprachi- sprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien und
gen Land in die USA ausgewanderten Ju- der Provinz Bozen-Südtirol in Norditalien
gendlichen, dessen Muttersprache Deutsch verfahren; die Bevölkerungen beider Landes-
ist, der dort an einer Schule den Deutsch- teile sind mehrheitlich Muttersprachler des
unterricht besucht, wobei die curriculare Stel- Deutschen, so dass nur Belgien bzw. Italien
lung des Deutschen die einer Fremdsprache ohne diese Teilgebiete zum Gegenstand
ist. Deutsch wird in diesem Fall in einer Art unserer Betrachtung gehören. In allen ge-
und Weise unterrichtet, die für Lernende an- nannten Ländern ist Deutsch entweder natio-
gemessen erscheint, für die Deutsch individu- nale Amtssprache (Deutschland, Österreich,
elle Fremdsprache ist. Dies sind im Wesentli- Liechtenstein, Schweiz) oder regionale Amts-
chen Lernende, die zu Hause kein Deutsch sprache (deutschsprachige Gemeinschaft in
gelernt haben und auch ansonsten in keiner Belgien, Provinz Bozen-Südtirol in Italien).
deutschsprachigen Umgebung leben. Letzte- Auch in Luxemburg ist Deutsch nationale
res unterscheidet sie von Lernenden mit Amtssprache, neben Französisch und Letze-
Deutsch als Zweitsprache. Beispiele sind die burgisch, es ist jedoch nicht Muttersprache
Kinder von nicht deutschsprachigen Arbeits- der Bevölkerungsmehrheit, sondern dies ist
migranten in deutschsprachigen Ländern. Sie das Letzeburgische (vgl. zu den Ländern mit
6. Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht deutschsprachigen Ländern 69

Deutsch als Amtssprache, Ammon 1991, 52⫺ ist Deutsch eine aus insgesamt fünf Wahl-
85). Daher gehört Luxemburg durchaus zu pflichtfremdsprachen; nur wenn Deutsch als
dem hier zu betrachtenden Gegenstandsbe- erste davon gewählt wird, ist es zugleich
reich. Unterrichtssprache.
(3) Deutschsprachige Auslandsschulen (auch
Expertenschulen): Sie sind gedacht für Kinder
2. Deutsche Auslandsschulen von vorübergehend im Ausland weilenden
Deutschen (Botschaftsangehörige, Mitarbei-
Die deutschen Auslandsschulen werden im
ter deutscher Firmen), nicht für Kinder des
Bericht der Bundesregierung über die deutsche
Gastgeberlandes. Zu ihnen gehören jedoch
Sprache in der Welt (1985, 4, 8) charakteri-
nicht die privaten Firmenschulen, die von im
siert als die „ältesten Einrichtungen zur Ver-
Ausland tätigen Privatfirmen aus Deutsch-
breitung der deutschen Sprache im Ausland“
und „das kostspieligste, wegen ihrer Lang- land betrieben werden und gewöhnlich nur
zeitwirkung aber auch das wirksamste Instru- vorübergehend bestehen. Ihre Anzahl im
ment zur Verbreitung der deutschen Sprache Jahre 1986: 42 mit insgesamt 7305 Schülern.
im Ausland“. Diese Schulen bilden zwar nur (4) Schulen mit verstärktem Deutschunter-
einen kleinen, aber einen besonders wichtigen richt: Hier ist Deutsch ⫺ im Gegensatz zu
Teil derjenigen Schulen, in denen im Ausland den zuvor genannten Typen ⫺ meist nicht
Deutsch gelernt wird. Ihr gemeinsames spezi- Unterrichtssprache, sondern nur obligatori-
fisches Merkmal besteht darin, dass sie be- sches zentrales Schulfach. Dieser Schultyp ist
sondere Beziehungen zu einem deutschspra- hauptsächlich für Nicht-Deutschsprachige
chigen Land pflegen, die meisten zu Deutsch- gedacht. Ihre Anzahl im Jahre 1986: 27 mit
land, einige aber auch zur Schweiz (16 im insgesamt 17 274 Schülern.
Jahre 1990) und zu Österreich (3 im Jahre (5) Sprachgruppen- und Siedlerschulen: Sie
1990). Sie orientieren sich zumindest teilweise dienen der Erhaltung und Pflege von Deutsch
an den Bildungsvorstellungen eines deutsch- als Muttersprache bei deutschsprachigen
sprachigen Landes, was sich unter anderem Minderheiten. Meistens ist Deutsch auch
daran zeigt, dass sie Zertifikate verleihen Unterrichtssprache, zusätzlich zur Mehrheits-
oder Schulabschlüsse ermöglichen, die in ei- sprache. Ihre Anzahl im Jahre 1986: 117 mit
nem deutschsprachigen Land anerkannt wer- insgesamt 33 944 Schülern.
den, oder dass sie Lehrmaterialien und päd- (6) Sonnabendschulen: Es handelt sich um
agogische Beratung aus einem deutschspra- Zusatzeinrichtungen neben der Regelschule,
chigen Land beziehen. die dem Erhalt oder der Wiederbelebung der
Innerhalb der deutschen Auslandsschulen Muttersprache Deutschstämmiger dienen sol-
lassen sich verschiedene Typen unterscheiden. len. Ihre Zahl im Jahre 1986: 94 mit insge-
Eine brauchbare Typologie für die deutschen samt 15 254 Schülern.
Auslandsschulen Deutschlands liefert der Be- Die Gesamtzahl der deutschen Auslands-
richt der Bundesregierung über Stand und Ent- schulen belief sich also im Jahre 1986 auf 336
wicklung der deutschen Schulen im Ausland mit insgesamt 129 301 Schülern (vgl. für ei-
(1988, 16): nen Gesamtüberblick über das deutsche Aus-
(1) Begegnungsschulen: In ihnen überwie- landsschulwesen in neuerer Zeit Werner 1988,
gen fremdsprachige Schüler, die mit der deut- 109⫺208).
schen Sprache und Kultur bekannt gemacht Die deutschen Auslandsschulen dürfen
werden. Ihre Zahl 1986: 47 mit insgesamt nicht einfach gleichgesetzt werden mit den
43 339 Schülern. sonstigen deutschsprachigen Schulen in den
(2) Europäische Schulen: Sie entsprechen nicht deutschsprachigen Ländern. Letztere
am ehesten dem Gedanken der gleichberech- haben im Gegensatz zu Ersteren keinen Be-
tigten Begegnung von Sprachen und Kultu- zug zum Schulwesen eines deutschsprachigen
ren, der in der Außenpolitik Deutschlands Landes. Die Geschichte der deutschsprachi-
seit den 70er Jahren zunehmendes Gewicht gen Schulen in den nicht deutschsprachigen
erlangt hat. Ihre Anzahl 1986: 9 mit insge- Ländern reicht weit zurück ⫺ im Grunde bis
samt 12 185 Schülern. Zwei der Schulen ha- ins späte Mittelalter, die Zeit der Entstehung
ben ihren Standort in Deutschland (Karls- deutscher Sprachinseln in Osteuropa. Ein
ruhe, München), die übrigen im europäischen Beispiel sind die Siebenbürger Sachsen im
Ausland. Nur für Erstere ist Deutsch notwen- Gebiet des heutigen westlichen Rumänien.
digerweise Unterrichtssprache. Für Letztere Auch in Nordeuropa sind schon in der frühen
70 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

Neuzeit deutschsprachige Schulen entstan- der Geheimen Denkschrift werden sechs un-
den. Ein Beispiel bildet die deutschsprachige terschiedliche Typen von deutschsprachigen
St.-Petri-Schule in Kopenhagen, die auf eine Schulen im Ausland ausdrücklich von der Be-
über 400jährige kontinuierliche Geschichte standsaufnahme ausgenommen, wie z. B. alle
zurückblickt. Die Massenauswanderungen deutschsprachigen Schulen in den deutschen
aus dem deutschen Sprachgebiet im 18. und Kolonien, in den nicht deutschsprachigen
19. Jh. führten dann in allen Haupteinwande- Gebieten Österreich-Ungarns, in Russland,
rungsregionen zur Gründung deutschsprachi- den Vereinigten Staaten sowie die meisten in
ger Schulen, vor allem in Russland, Nord- Australien, Südafrika und Brasilien ein-
und Südamerika sowie in Australien. Die Ge- schließlich sämtlicher deutschen Privatschu-
schichte der eigentlichen deutschen Auslands- len. Allein die Schülerzahl in den deutsch-
schulen beginnt erst nach der Gründung des sprachigen Schulen der USA wird für die Zeit
Deutschen Reichs im Jahre 1871. Äußeres um 1900 auf 549 800 geschätzt (Kloss 1966,
Zeichen ist die Einrichtung eines ständigen 234). Solche Zahlen lassen den ungeheuren
Haushaltstitels für ihre Förderung, des Schrumpfungsprozess in den deutschsprachi-
Reichsschulfonds im Jahre 1878. Kurze Zeit gen Schulen im Verlauf unseres Jahrhunderts
danach, nämlich 1881, entstand als zusätzli- ahnen. Während die deutschen Schulen nach
che private Förderungsquelle der Allgemeine dem I. und nach dem II. Weltkrieg weitge-
deutsche Schulverein, der 1901 umbenannt hend wiedererstanden sind, ist dies bei den
wurde in Verein für das Deutschtum im Aus- deutschsprachigen Schulen im Ausland nicht
land (VDA), der noch heute besteht. Seit der Fall. Zu ihrer Auflösung bzw. vollständi-
1906 gibt es auch ein eigenes Referat im Aus- gen Integration in das jeweilige nationale
wärtigen Amt für die deutschen Auslands- Schulsystem hat sicher die aggressive deut-
schulen. Das deutsche Auslandsschulwesen sche Auslandspolitik beigetragen, jedoch
entwickelte sich rasch und wurde schon bald auch ⫺ und vermutlich noch mehr ⫺ die
als wichtiges Mittel zur Förderung der deut- Sprachanpassung der ausgewanderten Deut-
schen Sprache und Kultur im Ausland ver- schen an ihre mehrheitssprachliche Umge-
standen. Dies wird deutlich in der gezielten bung. Heute hat sich die Zahl der deutsch-
Förderung eines neuen Schultyps, der „Pro- sprachigen Schulen im Ausland der Zahl der
pagandaschulen“. Sie unterscheiden sich von deutschen Auslandsschulen weitgehend ange-
den ursprünglichen deutschen Auslandsschu- nähert. Ihr Bestand ist ⫺ nicht zuletzt auf
len, die für ausgewanderte Muttersprachler Grund der Förderung durch die deutschspra-
des Deutschen gedacht waren, dadurch, dass chigen Länder ⫺ verhältnismäßig gefestigt. ⫺
sie ausdrücklich nicht deutschsprachige Aus- Eine neuere Entwicklung sind internationale
länder aufnahmen. Allerdings hatte das Wort Schulpartnerschaften zwischen Schulen im
Propaganda zur damaligen Zeit (vor dem nicht deutschsprachigen und Schulen im
I. Weltkrieg) nicht die heutige negative Kon- deutschsprachigen Ausland. Auch diese Part-
notation, die es wohl erst infolge des natio- nerschaften, von denen es mittlerweile Hun-
nalsozialistischen Wortmissbrauchs gewon- derte, wenn nicht Tausende, geben dürfte,
nen hat. Seine wesentliche Bedeutung war festigen das Deutschlernen in den jeweiligen
einfach ,Verbreitung‘, womit der Haupt- Auslandsschulen.
zweck der betreffenden Schulen bezeichnet
war, nämlich, der Verbreitung deutscher
Sprache und Kultur im nicht deutschsprachi- 3. Deutsch als Fremdsprache an
gen Ausland zu dienen. Dass diese Zielset- Schulen
zung gleichwohl als hoch politisch gewertet
wurde, lässt sich daraus schließen, dass die Es gibt umfassende Erhebungen zum
deutschen Auslandsschulen kurz vor dem Deutsch als Fremdsprache-Unterricht an
I. Weltkrieg in einer Geheime[n] Denkschrift Schulen nicht deutschsprachiger Länder, und
des Auswärtigen Amtes über das deutsche Aus- zwar (1) in den Jahren 1982/83, deren Be-
landsschulwesen erfasst wurden (ungekürzter funde veröffentlicht sind im Bericht der Bun-
Abdruck in Düwell 1976, 268⫺370). Diese desregierung über die deutsche Sprache in der
Bestandsaufnahme erfasste insgesamt 878 Welt (1985, 28⫺47), und (2) in den Jahren
Schulen mit 56 201 Schülern. Sie dürfen wie- 1993/94, die bisher unveröffentlicht dem
derum nicht verwechselt werden mit den da- Goethe-Institut und dem Auswärtigen Amt
maligen deutschsprachigen Schulen im Aus- vorliegen und für diesen Bericht freund-
land, deren Zahl weit größer war. Schon in licherweise zur Verfügung gestellt wurden.
6. Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht deutschsprachigen Ländern 71

Über weitere unvollständige Erhebungen und 1979). Für den Erhebungszeitraum 1982/83
ihre Befunde wird berichtet in Ammon 1991 wurde sie auf 15 079 640 geschätzt und für
(432⫺436) und 1993 sowie in Sturm 1987, den Erhebungszeitraum 1993/94 scheint sich
Götze 1987 und für Europa in Eurydice 1989. die Zahl auf 15 179 289 zu belaufen, wobei
Für die beiden umfassenden Erhebungen die Summierung wegen der Erhebung zu ver-
wurden die Daten einzelner Länder über die schiedenen Jahren methodisch bedingte Un-
Auslandsvertretungen Deutschlands gesam- sicherheiten birgt. Diese Zahlen vermitteln
melt. Einen Überblick über die Befunde lie- insgesamt den Eindruck beträchtlicher Stabi-
fert Tabelle 6.1. Die spaltenmäßige Einteilung lität. Die detaillierte Betrachtung der Situa-
in drei Ländergruppen nach dem Umfang des tion verrät allerdings, dass sich dahinter eine
Deutschlernens folgt dem Bericht 1985. Of- Zunahme der Lernerzahlen in Mittel- und
fenkundig handelt es sich dabei nicht um eine Osteuropa (ausgenommen Russland) und
disjunktive Klassifikation. Trotz der Über- eine Abnahme vor allem in den höher entwik-
lappungen liefert die Einteilung jedoch we- kelten westlichen Industrieländern, aber auch
nigstens grobe Anhaltspunkte. Leider lässt Ländern wie Brasilien und Russland (Mittei-
sich der Gegenüberstellung der Zahlen mei- lung Hardarik Blühdorn), verbirgt, deren
stens keine Entwicklungstendenz entnehmen, Plus- und Minustendenzen sich ungefähr aus-
da für die Erhebung von 1982/83 in der balancieren. Diese Entwicklung beinhaltet
Mehrzahl der Fälle nur Prozentzahlen vorlie- auch die Tendenz einer noch stärkeren Kon-
gen. Gemeint sind damit Prozentanteile der zentration des Deutsch als Fremdsprache-
Deutschlernenden an der Gesamtzahl der Lernens auf Europa.
fremdsprachenlernenden Schüler. Es handelt Es ist günstig, dass statistische Erhebun-
sich in so gut wie allen Fällen um Sekundar- gen vorliegen, die ⫺ wenigstens bis zu einem
stufenschüler, denn auf der Primarstufe wird gewissen Grad ⫺ Aufschluss liefern über die
nur in Ausnahmefällen Deutsch als Fremd- quantitative Entwicklung des Deutsch als
sprache gelernt, und dann auch nur von sehr Fremdsprache-Lernens in der ersten Hälfte
kleinen Schülergruppen. Diese sind in die unseres Jahrhunderts (vgl. Tabelle 6.2).
hier wiedergegebenen Zahlen einbezogen. Tabelle 6.2 lässt sich vor allem entnehmen,
Tabelle 6.1. kann man entnehmen, dass im dass Deutsch in Europa auch schon früher
Erhebungszeitraum 1982/83 in mindestens 87 einen höheren Anteil unter den Fremdspra-
Ländern Deutsch als Fremdsprache unter- chen hatte als weltweit und dass es zu be-
richtet wurde; im Erhebungszeitraum 1993/ stimmten Zeiten auffällige Einbrüche in der
94 dagegen in mindestens 101 Ländern. Bei Entwicklung gegeben hat (vgl. auch Thierfel-
oberflächlicher Betrachtung ergibt sich dar- der 1938, 1957). Die gegensätzliche Entwick-
aus eine Vermehrung um 15 Länder. Dabei lung von Französisch und Deutsch zwischen
muss man allerdings berücksichtigen, dass den beiden Zeitpunkten 1913 und 1920 ist
sich gerade in zwei für das Deutsch als vor allem auf tiefgreifende Verschiebungen in
Fremdsprache-Lernen wichtigen Regionen den angelsächsischen Ländern, insbesondere
die Länderzahl erheblich erhöht hat, nämlich in den USA, infolge des I. Weltkrieges, zu-
im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, wo rückzuführen. Vor dem I. Weltkrieg war
aus einem Staat zwölf Staaten geworden sind, Deutsch in den USA die mit Abstand meist-
im Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens, wo gelernte Fremdsprache. So stehen im Jahre
ein Staat in vier, und der einstigen Tschecho- 1910 den 216 869 Deutschlernenden nur
slowakei, die in zwei Staaten geteilt wurde. 90 591 Französischlernende gegenüber. In-
Auf der anderen Seite gibt es für 1993/94 ei- folge des I. Weltkrieges und der dadurch ver-
nige unzweifelhafte Erhebungslücken, und änderten US-amerikanischen Fremdspra-
zwar für Belgien und Luxemburg, für die chenpolitik schlägt das Verhältnis zwischen
keine Zahlen vorliegen, obwohl dort ohne beiden Fremdsprachen um. 1922 sind es nur
Zweifel Deutsch als Fremdsprache gelernt noch 13 385 Deutschlernende gegenüber
wird; in Luxemburg ist Deutsch sogar Unter- nicht weniger als 345 650 Französischlernen-
richtssprache. den. Auch Spanisch übertrifft Deutsch nach
Ob die Anzahl der Deutsch als Fremdspra- dem I. Weltkrieg und entwickelt sich dann im
che-Lernenden an Schulen weltweit insge- Weiteren zur meistgelernten Fremdsprache in
samt zugenommen hat, lässt sich nicht ohne den USA.
weiteres beantworten. Sie wurde in einer Er- Ob Deutsch heute noch weltweit als Schul-
hebung der Bundesregierung Ende der 70er fremdsprache an dritter Stelle liegt, ist frag-
Jahre auf 16 353 000 geschätzt (Sprachatlas lich. Möglicherweise wird es vom Spanischen
72 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

Tab. 6.1: Deutsch als Fremdsprache an Schulen weltweit auf Grund von Erhebungen von 1982/83 und 1993/94
An Schulen überwiegend vertreten An zahlreichen Schulen vertreten An einigen Schulen vertreten

Europa 1982/83 1993/94 Europa 1982/83 1993/94 Europa 1982/83 1993/94


Albanien ⫺ 0,2 T Portugal 1,3% 5,7 T Griechenland 0,2% 20 T
Belgien 13,6% ⫺ Malta 3% 2,7 T
Bulgarien 122 T 130 T Amerika Spanien 0,01% 25 T
Dänemark 150 T 217 T Brasilien 0,6% 58,8 T Zypern 4% 2,3 T
Finnland 78% 111,5 T Chile 1,6% 22,5 T
Frankreich 19% 1449 T Kanada 1,4% 28 T Amerika
Großbritannien 2% 126,4 T USA 2,7% 350 T Argentinien 2T 17,7 T
Irland 5,7% 94,5 T Bolivien 1% 0,8 T
Island 56% 7T Afrika Costa Rica 0,6 T 0,4 T
Italien 5,2% 40,2 T Algerien 1,3% ? Dominikan.
Jugoslawien 440 T Benin 0,9% 4T Republik 0,01% ⫺
Bundes- Madagaskar 1,7% 10 T El Salvador 0,02% 0,6 T
republik Jug. ⫺ 62 T Namibia 8,6% 2,6 T Ecuador ⫺ 2,2 T
Kroatien ⫺ 142 T Obervolta 17,4% ⫺ Guatemala 0,09% 1T
Mazedonien ⫺ 8T Senegal 4,1% 8,4 T Haiti 0,07% 0,01 T
Moldau ⫺ 56,7 T Südafrika 5,4% 15,6 T Jamaica 0,08% ⫺
Slowenien ⫺ 209 T Togo 4% 9,9 T Kolumbien ⫺ 3,8 T
Slowakei ⫺ 389 T Zentralafrikanische Mexiko 0,01% 3,4 T
Luxemburg 88% ⫺ Republik 6,5% 2T Nicaragua ⫺ 0,4 T
Niederlande 35% 661 T Paraguay 1% 7,8 T
Norwegen 48,5% ⫺ Mittlerer Osten Peru ⫺ 5,9 T
Polen 32% 1364 T Ägypten 2,3% 71 T Uruguay 1,6% 1,8 T
Rumänien ? 283,8 T Venezuela 0,04% 2T
Schweden 46,4% 209 T Asien/Ozeanien
Schweiz (nicht Afghanistan 1,1% ⫺ Afrika
deutschsprachiger Neuseeland 4% 9T Angola ⫺ 0,01 T
Teil) 100% ⫺ Äthiopien 0,01% ⫺
Tschechien ⫺ 737.5 T Burundi 0,1 T ⫺
Tschechoslowakei 50% ⫺ Burkina Faso ⫺ 7,3 T
Türkei 11% 150 T Gabun 2,1 1,3 T
UdSSR 23% ⫺ Ghana 0,1% 0,2 T
Belarus ⫺ 257 T Kenia 1,9% 1,8 T
Estland ⫺ 60 T Kongo 0,02% ⫺
Georgien ⫺ 172 T Lesotho 0,02%
Litauen ⫺ 91 T Marokko 0,4% 4,5 T
Lettland ⫺ 72,3 T Mauretanien ⫺ 0,06 T
Russ. Föderation ⫺ 4.205 T Niger 0,13 T 0,1 T
Ukraine ⫺ 834 T Ruanda 0,03 T ⫺
Ungarn 12,4% 538,5 T Sierra Leone 0,4% ⫺
Swasiland 0,15% ⫺
Afrika Tansania 0,04% ⫺
Kamerun 10% 105 T Tunesien 0,3 T 11,7 T
Elfenbeinküste 27% 99,1 T Uganda 0,8% 2T
Mali 25,4% 20,9 T Zaire 0,001% ⫺
Zimbabwe 0,05% 0,1 T
Asien/Ozeanien
Australien 9% 165 T Mittlerer Osten
Indonesien 5,7% 250 T Bahrein ⫺ 0,03 T
Kasachstan ⫺ 734 T Iran ⫺ 0,6 T
Kirgisien ⫺ 150 T Jordanien 2,9% 0,1 T
Korea 7,6 526,4 T Kuweit ⫺ 0,03 T
Tadschikistan ⫺ 270 T Libanon 0,8% 1,3 T
Turkmenistan ⫺ 75 T Oman ⫺ 0,04 T
Usbekistan ⫺ 500 T Sudan ⫺ 0,7 T
Vereinigte Ara-
bische Emirate ⫺ 0,13 T
Asien/Ozeanien
China 0,01% 0,2 T
Hongkong 0,02% 1T
Indien 0,06% ⫺
Japan 0,08% 4T
Malaysia ⫺ 0,4 T
Mongolei ⫺ 1T
Nepal ⫺ 0,04 T
Pakistan 0,01 T ⫺
Philippinen 0,001 ⫺
Singapur 0,02% 0,4 T
Sri Lanka 0,7 1T
Taiwan ⫺ 0,03 T
Thailand 0,01% 2,5 T
Vietnam ⫺ 0,2 T

… T ⫽ tausend (B : 0,2 T ⫽ 200)


⫺ ⫽ keine Zahlenangabe in Quellen oder keine Erhebung
6. Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht deutschsprachigen Ländern 73

Tab. 6.2: Anteile der Fremdsprachen an den Unterrichtsstunden in den Schulen zwischen 1908 und 1938 in Pro-
zent (nach Fränzel 1939, 110⫺115)

1908 1913 1920 1923 1928 1932 1938

Englisch Europa 20,7 20,7 20,8 25,4 25,6 25,7 30,9


Weltweit 43,3 43,9 44,0 45,9 46,6 46,4 48,0
Französisch Europa 42,1 42,1 46,2 39,4 39,0 37,3 31,2
Weltweit 27,3 26,7 29,4 26,9 26,5 25,1 23,3
Deutsch Europa 20,7 20,7 16,0 24,3 24,6 25,6 23,1
Weltweit 15,2 15,4 11,1 13,6 13,6 13,0 12,0
Italienisch Europa 1,0 1,0 1,1 1,6 1,8 1,8 3,4
Weltweit 0,6 0,4 0,5 0,7 0,7 0,7 1,3
Spanisch Europa 4,2 4,2 4,6 5,6 5,3 5,2 7,0
Weltweit 4,4 4,4 5,9 6,3 6,0 5,2 5,5
Sonstige Europa 11,3 11,3 11,3 3,7 3,7 4,4 4,4
Weltweit 9,2 9,2 9,1 6,6 6,6 9,6 9,6

übertroffen. Im größeren Pazifischen Raum Fremdsprache hinter Englisch, aber deutlich


wird außerdem das Japanische heute mehr vor Französisch. Dies lässt sich Tabelle 6.3
gelernt als das Deutsche. Daneben gewinnen entnehmen. (Bei pari passu-Platzierung von
verschiedenenorts bislang nur wenig beach- zwei Sprachen wurde für die Ermittlung der
tete Fremdsprachen an Bedeutung und wer- Rangordnung beiden Sprachen der Wert ½
den gewissermaßen zu Konkurrenten des zugeschrieben.) Die Zahlen für Russisch sind
Deutschen, insbesondere Chinesisch, Ara- unklar und wurden deshalb weggelassen; si-
bisch, Portugiesisch und Indonesisch. cher scheint nur, dass sie insgesamt weit hin-
Gesonderte Betrachtung verdient die Ent- ter denen für Deutsch liegen.
wicklung in Osteuropa. In keiner Region der
Welt hat Deutsch einen so großen Anteil am Tab. 6.3: Fremdsprachen-Schüler in Mittel- und
Fremdsprachenunterricht wie in Mittel- und Osteuropa und in der Gemeinschaft Unabhängiger
Osteuropa ⫺ wenn man von geographisch Staaten (GUS) 1994 (in Mio.)
sehr begrenzten Sonderfällen absieht wie Lu-
1. 2. 3. Gesamt-
xemburg (Deutsch staatliche Amtssprache)
Platz Platz Platz zahl
oder die französischsprachige Schweiz
(Deutsch erste Fremdsprache). Das Deutsch- Englisch 14,5 7 ⫺ 21,2 Mio.
lernen hat in Mittel- und Osteuropa einen Deutsch 4,5 12 4 11,4 Mio.
Schub erfahren durch die Auflösung der So- Französisch 2 2 17 6,7 Mio.
wjetunion und die Entstehung neuer unab-
hängiger Staaten (vgl. z. B. Götze 1996). In
den Schulen dieser Staaten wurde fast aus- Länder mit erstem Platz für Englisch:
nahmslos das zuvor obligatorische Russisch Armenien, Aserbaidschan, Bulgarien, Est-
zu einer Wahlpflicht-Fremdsprache degra- land, Georgien (pari passu mit Deutsch),
diert; gleichzeitig erhielten weitere Sprachen Kirgisistan, Lettland, Litauen, Polen,
den Status von Wahlpflicht-Fremdsprachen, Russland, Tadschikistan, Turkmenistan,
vor allem Deutsch, Englisch und Franzö- Ukraine, Usbekistan, Weißrussland.
sisch. In fünf Staaten ist Deutsch zur meistge- Länder mit erstem Platz für Französisch:
wählten Schulfremdsprache geworden, näm- Moldau, Rumänien.
lich (Prozent der Gesamtschülerzahl, die dort
Deutsch wählten, jeweils in Klammern): in 4. Deutsch als Fremdsprache und
der Tschechischen Republik (52%), in Un- Germanistik an Hochschulen
garn (47%), in der Slowakischen Republik
(47%), in Kasachstan (46%) und in Georgien An den Hochschulen muss man das Studium
(45% ⫺ pari passu mit Englisch) (Zahlen für der deutschen Sprache und Literatur, also
1994; Erhebung des Auswärtigen Amts). das Germanistikstudium, unterscheiden vom
Allerdings ist für ganz Mittel- und Osteuropa praktisch ausgerichteten Erlernen des Deut-
Deutsch nur die zweithäufigst gelernte schen (Deutschlernen bzw. spezieller Deutsch
74 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

als Fremdsprache-Lernen). Der Unterschied ser Zusammenhang wird auch durch den Be-
zeigt sich bisweilen auch deutlich darin, dass richt der Bundesregierung (1985) bestätigt,
Germanisten die deutsche Sprache zumindest der nur neun kleine Länder ausweist, in de-
mündlich nicht unbedingt gut beherrschen, nen Deutsch als Fremdsprache zwar auf der
während Sprachlerner unter Umständen keine Schule, aber nicht auf der Hochschule gelernt
Kenntnisse der deutschen Literatur haben. wird. Dagegen ist die umgekehrte Sachlage,
Die Bezeichnung Deutschstudierende an Hoch- dass nämlich Deutsch als Fremdsprache
schulen umfasst im Weiteren beide Kategorien: nicht auf der Schule, sondern erst auf der
Germanisten und Deutsch als Fremdsprache- Hochschule angeboten wird, häufiger. Sie
Lerner. In Ländern, in denen Deutsch als wird im Bericht der Bundesregierung (1985,
Fremdsprache an Schulen und an Hochschu- 28⫺47) für immerhin 21 Länder festgestellt,
len angeboten wird, entwickeln sich die Ler- und zwar:
nerzahlen in der Regel auf beiden Ebenen
Lateinamerika: Bahamas, Costa Rica,
einigermaßen parallel. Dies belegen zahlrei-
Ecuador, Kuba, Nicaragua,
che, auch indirekte Einzelbeobachtungen; re-
Panama;
präsentative Langzeituntersuchungen liegen
Afrika: Angola, Guinea, Liberia,
allerdings nicht vor. So weist Lévy (1950/52,
Mosambik, Nigeria;
224⫺228) darauf hin, dass in Frankreich in
Nahost: Irak, Israel, Kuwait, Saudi-
der Zeit nach dem I. Weltkrieg die Deutsch
Arabien, Syrien;
als Fremdsprache-Lernenden an Hochschu-
Asien: Bangladesch, Birma, China/
len und Schulen gleichermaßen hinter die Taiwan, Laos, Malaysia.
Lerner von Englisch als Fremdsprache zu-
rückgefallen sind. Entsprechendes lässt sich Sofern es an den Hochschulen sowohl Ger-
Angaben von Kloss (1971, 118⫺121) in Be- manistik als auch Deutsch als Fremdsprache-
zug auf die USA entnehmen, wo Deutsch bis Unterricht gibt, sind die Teilnehmerzahlen in
1917 an den Hochschulen wie an den Schulen der Germanistik in aller Regel geringer. So
meistgelernte bzw. -studierte Fremdsprache wird im Bericht der Bundesregierung (1985)
war, während es danach auf beiden Ebenen die weltweite Gesamtzahl der Germanisten
von Französisch und später auch von Spa- auf 91 533, die der Sprachlerner dagegen auf
nisch überflügelt wurde. Nicht-parallele Ent- 1,3 Mio. geschätzt. Diese Proportionen dür-
wicklungen der Proportionen finden sich na- fen allerdings nicht zu dem Fehlschluss verlei-
türlich dort, wo Deutsch als Fremdsprache in ten, dass das Angebot der Germanistik im-
einer der beiden Ebenen neu eingeführt oder mer mit dem Angebot praktischer Sprach-
ganz eliminiert wurde. Ein Beispiel für Letz- kurse einhergehe. Vor allem in Ländern, die
teres ist Japan, wo Deutsch als Fremdsprache schon auf der Schule ein breites Deutsch als
bis zum Ende des I. Weltkrieges auf allen Fremdsprache-Angebot vorzuweisen haben,
Gymnasien vertreten war, aber danach prak- scheinen praktische Sprachkurse auf der
tisch aus dem Schulbereich verschwand ⫺ Hochschule bisweilen nur noch eine geringe
wenn man vom Fortbestehen als bloßes Rolle zu spielen. So weist der Bericht der
Wahlfach in heute gerade noch ungefähr 90 Bundesregierung (1985) immerhin 16 Länder
Oberschulen absieht (Itoi 1994; Hirataka aus, in denen zwar Germanistikstudien, aber
1994). Als Folge der grundsätzlichen Ein- keine Deutsch als Fremdsprache-Kurse an
schränkung des Fremdsprachenunterrichts in den Hochschulen angeboten werden.
den Schulen auf das Englische in Japan hat Zwischen Germanistik und Sprachlernen
die Zahl der Deutsch als Fremdsprache-Ler- besteht auch heute noch vielfach ein eigen-
nenden an den Schulen in der Zeit nach dem tümliches Spannungsverhältnis. Für die Ger-
II. Weltkrieg drastisch abgenommen, wäh- manisten ist der praktische Sprachunterricht
rend ihre Zahl an den Hochschulen zuge- vielfach die häufigste Berufsperspektive; je-
nommen hat. Letzteres hängt mit der allge- doch werden sie mitunter gerade dafür unzu-
meinen Zunahme des Fremdsprachenunter- reichend ausgebildet. Wenn sich diese Diskre-
richts in der neueren Zeit zusammen, die panz in neuerer Zeit auch zunehmend verrin-
auch für Japan zu verzeichnen ist. gert, so besteht sie dennoch vielerorts fort
Man kann davon ausgehen, dass Länder oder wird zumindest nicht konsequent und
mit Deutsch als Fremdsprache an den Schu- nicht mit voller Bereitschaft der Beteiligten
len in aller Regel auch Deutsch als Fremd- abgebaut (vgl. z. B. Nakajima 1994). Das
sprache an den Hochschulen aufweisen. Die- praktische Sprachlernen zeigt in neuerer Zeit
6. Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht deutschsprachigen Ländern 75

einen weit stärkeren Zuwachs als das Germa- wicklungen, wie z. B. bei den 16 Goethe-In-
nistikstudium. Als Hauptmotiv lässt sich die stituten im Inland einen Rückgang der Teil-
Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen nehmerzahlen um 20% im Berichtszeitraum
zum deutschen Sprachgebiet, einschließlich 1993/94, der unter anderem durch die Angst
des Tourismus aus dem deutschen Sprachge- vor Ausländerfeindlichkeit in Deutschland
biet, ausmachen bzw. die im Zusammenhang bedingt gewesen sein dürfte (vgl. Jahrbuch
damit stehenden Berufsaussichten (vgl. des Goethe-Instituts 1993/94, 7). Bemerkens-
Glück 1992; Ammon 1991, 150⫺211, 331⫺ werte Zunahmen verzeichnen fachlich spezia-
360). lisierte Sprachkurse, vor allem in Wirt-
schaftsdeutsch und in Deutsch für Touristen.
Der Versuch, einen weltweiten Überblick
5. Erwachsenenbildung über das Deutsch als Fremdsprache-Lernen
an Privatschulen zu gewinnen, wäre eine Si-
Gemeint ist hier der Bereich außerhalb der syphusarbeit, nicht nur wegen der Vielzahl
(schon in 4. behandelten) Hochschulen, der und Heterogenität der Institute, sondern
allerdings wegen seiner Heterogenität kaum auch wegen ihrer teilweise erheblichen Fluk-
überschaubar ist. Er umfasst die Sprachkurse tuation. Nicht alle Lerner an solchen Privat-
einerseits in den Massenmedien (Radio, Fern- schulen sind Erwachsene, jedoch dürften sie
sehen) einschließlich des Selbststudiums mit- den größeren Teil ausmachen. Den enormen
tels verschiedener Medien (Lehrbücher, Ton- Umfang des Deutsch als Fremdsprache-Ler-
und Bildkassetten), andererseits im vielfäl- nens an Privatschulen verraten schon ein-
tigen personalen Unterricht (im direkten zelne Zahlen, die nur verhältnismäßig kleine
Kontakt mit Lehrpersonen), in staatlichen Teilmengen bilden dürften. So wurden an den
Zusatzbildungsinstituten (Entsprechungen Instituten der Berlitzschule, allerdings der
zur Volkshochschule), in Kulturinstituten weltweit größten privaten Sprachschule, im
deutschsprachiger Länder (Goethe-Institut Jahre 1995 nicht weniger als 411 770 Deutsch
u. a.), im berufsbezogenen Fremdsprachen- als Fremdsprache-Unterrichtsstunden erteilt.
unterricht (z. B. die Carl-Duisberg-Sprach- Damit rangierte Deutsch immerhin an dritter
Zentren), im Fremdsprachenunterricht von Stelle aller Fremdsprachen hinter Englisch
Betrieben sowie in privaten Sprachschulen. (3 202 775 Stunden) und Spanisch (449 991
Punktuelle Daten lassen die zahlenmäßige Stunden), noch vor Französisch (391 711
Größe dieses vielfältigen Bereichs ahnen. So Stunden). Die von den Berlitzschulen ge-
werden z. B. für Japan die Teilnehmer an Ra- führte Statistik liefert auch einen Überblick
dio- und Fernseh-Deutsch als Fremdsprache- über die Entwicklung und die regionale Ver-
Kursen auf jährlich rund 400 000 geschätzt teilung des Deutsch als Fremdsprache-Ler-
(Stuckenschmidt 1989, 19) oder bieten von nens im Vergleich zu anderen großen Fremd-
den mindestens 7500 privaten Sprachschulen sprachen. Sie ist wiedergegeben in Tabelle
6.4. Die Rangordnung der Sprachen richtet
in Japan immerhin rund 17%, also ca. 1275,
sich dabei nach den jüngsten verfügbaren
Deutsch als Fremdsprache-Kurse an (Noro
Zahlen (1995).
1994, 314⫺315). Die Bundesregierung kennt
Wie man sieht, ist der Gesamtanteil von
die meist verhältnismäßig großen Zahlen von Deutsch in den letzten Jahren stabil geblieben
Deutsch als Fremdsprache-Medienkursen (genauer lag er 1995 bei 8,3%). Auch Spa-
und unterstützt im Rahmen der Förderung nisch hat sich praktisch nicht verändert (1995
der deutschen Sprache die Entwicklung von 9,1%). Englisch hat noch einmal etwas zuge-
Radio- und Fernseh-Deutsch als Fremdspra- nommen (1995 64,7%), während Französisch
che-Kursen. merklich zurückgegangen ist (1995 7,9%).
Im Angebot von Deutsch als Fremdspra- Chinesisch macht sich als neue Größe be-
che für die Erwachsenenbildung spielen auch merkbar und hat sogar das Japanische über-
die Sprachkurse der Kulturinstitute Deutsch- holt (1,279% gegenüber 1,272%), dessen
lands und Österreichs eine wichtige Rolle, Anteil erstaunlicherweise zurückgegangen ist.
vor allem die des Goethe-Instituts. Die Teil- Bei der regionalen Verteilung fällt besonders
nehmerzahlen haben im Verlauf der letzten auf, dass Deutsch seinen Schwerpunkt deut-
Jahrzehnte ziemlich kontinuierlich zugenom- lich in Europa hat. Die Konzentration auf
men. Sie lagen beim Goethe-Institut 1967 bei Europa zeigt Deutsch als Fremdsprache auch
rund 65 000 und 1994 bei über 145 000. Aller- in den Bereichen von Schule und Hoch-
dings gibt es auch partiell rückläufige Ent- schule.
76 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

Tab. 6.4: Anteile der Sprachen an den Unterrichtsstunden der Berlitz-Sprachschulen in Prozent

Regionale Verteilung
Anfang Europa Nord- Latein- Fernost
der 70er amerika amerika
Jahre 1989 1995 1989 1995 1989 1995 1989 1995 1989 1995

Englisch 42 63 65 37 35 12 14 21 27 30 24
Spanisch 12 9 9 24 22 62 59 12 12 2 2
Deutsch 12 8 8 64 79 23 14 6 2 7 5
Französisch 25 11 8 54 58 34 31 5 4 7 7
Italienisch ⫺ 3 2 58 65 36 26 3 2 3 7
Chinesisch ⫺ ⫺ 1 ⫺ 5 ⫺ 23 ⫺ ⫺ ⫺ 73
Japanisch ⫺ 2 1 9 10 53 58 ⫺ 1 38 31
Niederländisch ⫺ 1 1 96 90 4 10 ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
Portugiesisch ⫺ 1 1 28 29 36 47 30 18 6 7
Russisch ⫺ ⫺ 1 ⫺ 53 ⫺ 43 ⫺ ⫺ ⫺ 4
Sonstige 9 2 2 25 52 36 27 25 1 14 21

6. Zur Rolle und Entwicklung des z. B. im Bericht der Bundesregierung (1985)


Deutschunterrichts in einzelnen dargestellt werden, bleiben sehr an der Ober-
fläche, da sie sich auf Lernerzahlen und För-
Ländern dermaßnahmen von Seiten deutschsprachiger
6.1. Methodische Vorbemerkung Länder beschränken. Insbesondere fehlt es
an länderübergreifenden Motivations- und
Beschreibungen des Deutschunterrichts in Bedarfsuntersuchungen, die genaueren Auf-
verschiedenen Ländern sollten sich zum schluss darüber liefern würden, aus welchem
Zwecke der Vergleichbarkeit an einem ein- Grund Deutsch gelernt wird und welchen Be-
heitlichen Beschreibungsschema orientieren. darf, vor allem in der Berufswelt, es an
Dieses sollte alle Komponenten enthalten, die Deutschkenntnissen gibt. Wegen dieser Lü-
für die Erklärung der Entwicklung des cken bleiben die folgenden Hinweise trotz
Deutschunterrichts in einem Land relevant teilweiser Absicherung durch Daten weitge-
sind. Ein solches Vorgehen kann hier nur als hend impressionistisch. Bei der Auswahl der
Desiderat formuliert werden. Einerseits gibt folgenden Staaten wurde darauf geachtet,
es derzeit noch keine gesicherten Erkennt- dass Merkmale variieren, an deren Bedeut-
nisse darüber, welche Komponenten einer samkeit für das Deutschlernen kein ernsthaf-
solchen Beschreibung für die Erklärung der ter Zweifel besteht:
Entwicklung des Deutschunterrichts in einem
Land relevant sind, ganz zu schweigen von (a) Der technologische Entwicklungsstand
Möglichkeiten der Gewichtung dieser Rele- des Landes: Für Angehörige von weniger ent-
vanz. Dies zeigt sich auch an der Ver- wickelten Ländern dienen Deutschkenntnisse
schiedenheit der Zugriffe in den vorliegenden nach wie vor als Schlüssel zu technologischen
Versuchen von Gesamtbeschreibungen des und wissenschaftlichen Informationsquellen,
Deutschunterrichts für einzelne Länder. Man während dies bei hochentwickelten Ländern
vergleiche diesbezüglich nur etwa Lévy (1950/ kaum mehr der Fall ist. Dies zeigt sich z. B.
51) für Frankreich, Vaagland (1991; Kurzfas- daran, dass bei Gaststudierenden in den
sung 1988) für Norwegen oder Ortmanns deutschsprachigen Ländern, die aus weniger
(1993) für Großbritannien. Andererseits feh- entwickelten Ländern kommen, die Inge-
len vergleichbare zuverlässige Daten für fast nieurwissenschaftler überwiegen, bei Gast-
alle denkbaren relevanten Komponenten. Die studierenden aus hochentwickelten Ländern
empirischen Lücken dürften teilweise durch dagegen die Kulturwissenschaftler.
theoretische Lücken bedingt sein, da mangels (b) Das Vorhandensein einer deutschen
eines fundierten Beschreibungsschemas keine Ethnie oder einer deutschsprachigen Minder-
länderübergreifenden Datenerhebungen statt- heit: Solche Personen haben bisweilen spezifi-
finden konnten. Auch die weltumspannenden sche Motive, Deutsch zu lernen, die mit Be-
Erhebungen des Auswärtigen Amtes, wie sie griffen wie ,Bewahrung der ethnischen Identi-
6. Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht deutschsprachigen Ländern 77

tät‘ oder ,Spracherhaltung‘ umrissen werden 6.2. Ungarn


können. In Ländern ohne entsprechende Ungarn gehört zu den wenigen Ländern, in de-
Minderheiten fehlen diese Motive. nen Deutsch meistgelernte Schulfremdsprache
(c) Intensität der Kontakte zu deutschspra- ist (557 292 Deutschlernende gegenüber
chigen Ländern: Solche intensiven Kontakte 519 743 Englischlernenden im Jahre 1994,
bestehen normalerweise auch im Falle der geo- nach Zahlen des Auswärtigen Amtes) (vgl.
graphischen Nachbarschaft zu den deutsch- auch Art. 160). Allerdings dominiert Deutsch
sprachigen Ländern, außer bei politisch be- nur an den „Grundschulen“ (1.⫺8. Klasse),
dingten Barrieren (z. B. „Eiserner Vorhang“). für die 1992/93 46% Deutschlerner gegenüber
Im Falle intensiver Kontakte ist die Motiva- 31% Englischlernern ausgewiesen werden.
tion zum Deutschlernen durchschnittlich hö- Deutsch rangiert auch unter den angegebe-
her, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Grün- nen Fremdsprachenkenntnissen an erster
den, als beim Fehlen solcher Kontakte. Stelle; 1986 wurden in einer Befragung bei
(d) Traditioneller Umfang des Deutschler- 7,8% der Bevölkerung Deutschkenntnisse,
nens: Eine große Tradition des Deutschler- bei 3% Russischkenntnisse, bei 1,9% Englisch-
nens hat ihre eigengesetzliche Trägheit und kenntnisse und bei 0,8% Französischkennt-
bewirkt weiterhin Deutschlernen in größerem nisse festgestellt (Bassola/Bradean-Ebinger
Umfang, auch wenn die ursprünglichen 1987, 355). Dagegen sind es am Gymnasium
Gründe für das Deutschlernen nicht mehr im gleichen Erhebungszeitraum nur 33%
oder nicht mehr im gleichen Ausmaß wie vor- Deutschlerner gegenüber 43% Englischler-
dem existieren. Dies ist nicht nur dadurch be- nern (Mitteilung Csaba Földes). (Die Zahlen
gründet, dass die vorhandenen Deutschlehrer für Russisch und Französisch liegen beide
für ihre Weiterbeschäftigung kämpfen, son- Male weit niedriger.) Auch an den Hochschu-
dern auch dadurch, dass das Deutschlernen len wird mehr Englisch als Deutsch gelernt.
zu einem Teil der Kultur des Landes gewor- Die Unterschiede zwischen den Schulformen
den ist. Daraus regeneriert sich ein fortdau- reflektieren die verschiedenartige Funktion
ernd stärkeres Interesse am Erlernen dieser der Sprachen: Deutsch dient dem Kontakt zu
Sprache, als wenn keine entsprechende Tradi- den deutschsprachigen Ländern; Englisch
tion existiert. fungiert hingegen als vorrangige internatio-
(e) Sprachkonstellation des Landes: Die nale Wirtschafts- und Wissenschaftssprache,
Mutter- und Amtssprachen und die anderen die auf dem Gymnasium und erst recht an
Fremdsprachen: Im Falle mehrerer nationa- den Hochschulen wichtiger ist. Entspre-
ler Amtssprachen müssen Schüler oft zu- chende Unterschiede lassen sich auch für an-
nächst einmal die anderen nationalen Amts- dere mittel- und osteuropäische Länder fest-
sprachen, die nicht ihre Muttersprache sind, stellen.
als Fremdsprache erlernen. Damit bleibt für Der bemerkenswerte Rang der deutschen
zusätzliche Fremdsprachen weniger Spiel- Sprache in Ungarn ist einerseits bedingt
raum. Je nachdem, ob Deutsch zu diesen an- durch die Nachbarschaft zu den deutschspra-
deren nationalen Amtssprachen gehört oder chigen Ländern und die dadurch möglichen
nicht, wird es beim Fremdsprachenlernen intensiven Kontakte. Andererseits wirkt darin
stärker bevorzugt oder mehr zurückgedrängt. sicher die traditionelle Verbundenheit mit
So ist Deutsch z. B. in der französischspra- dem deutschsprachigen Raum aus der Zeit
chigen Schweiz als Teil eines Staates, in dem der k. u. k.-Monarchie nach. Dementspre-
Deutsch nationale Amtssprache ist, erste chend wird das Deutschlernen außer durch
Fremdsprache; in Belgien, wo Deutsch nur Deutschland besonders kräftig durch Öster-
regionale Amtssprache ist, steht es dagegen reich gefördert, das in Budapest ein Kulturin-
eher hintenan. Die Belgier lernen zunächst stitut unterhält, das Deutschkurse anbietet,
einmal die jeweils andere nationale Fremd- sowie ein Gymnasium mit Deutsch als Unter-
sprache (die Flamen Französisch, die Wallo- richtssprache.
nen Niederländisch), danach gewöhnlich Eine besondere Rolle für das Deutschler-
Englisch und erst dann vielleicht Deutsch. nen spielt außerdem die Minderheit „deut-
In der nachfolgenden Länderskizze wird vor scher Nationalität“, deren Zahl auf rund
allem auf diese Faktoren rekurriert, aber teil- 220 000 geschätzt wird. Für diese Minderheit
weise auch auf andere; die detaillierte Dar- wird Deutsch neuerdings weder als Mutter-
stellung ihrer Wirksamkeit oder ihrer Ge- noch als Fremdsprache angeboten, sondern
wichtung ist jedoch mangels einschlägiger als Nationalitätensprache (vgl. Földes 1992).
Kenntnisse ausgeschlossen. Deutsch ist für die deutsche Nationalität in-
78 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

sofern nicht mehr ohne weiteres Mutterspra- Das wachsende Interesse an der deutschen
che, als beträchtliche Teile der Jugendlichen Sprache ist teilweise wissenschaftlich-techno-
keine oder nur rudimentäre Kenntnisse ha- logisch bedingt; für das sich noch entwi-
ben ⫺ in Pécs (Fünfkirchen) fanden sich bei ckelnde Land Türkei dienen Deutschkennt-
einem Fünftel der Jugendlichen keine, bei ei- nisse als wichtige Informationsquelle für den
nem weiteren Viertel nur rudimentäre fortgeschrittenen Stand von Wissenschaft
Deutschkenntnisse, und ein weiteres Drittel und Technologie, und für türkische Studie-
hatte „Verständnis- und Ausdrucksschwierig- rende bieten die Hochschulen in den deutsch-
keiten“ (Nelde/Vandermeeren/Wölck 1991, sprachigen Ländern attraktive Ausbildungs-
120). Deutsch ist für die Ungarndeutschen möglichkeiten. Eine noch wichtigere Rolle
aber auch nicht Fremdsprache im gleichen für das zunehmende Deutschlernen spielen
Sinn wie für die übrigen Ungarn, denn sie allerdings die wirtschaftlichen Kontakte zwi-
finden daran so etwas wie ihre ethnische schen der Türkei und den deutschsprachigen
Identität, auch wenn sie die Sprache nicht Ländern. Eine wesentliche Komponente die-
mehr beherrschen. Sie sind daher anders, und ser Kontakte ist die Arbeitsmigration. Sie
in der Regel in höherem Maße, motiviert zum entwickelt sich, grob gesprochen, in zwei
Deutschlernen. Diesem Umstand versucht Phasen: In den 70er Jahren wandern Millio-
das Lernen und Studium für Deutsch als Na- nen von türkischen Arbeitsmigranten in die
tionalitätensprache Rechnung zu tragen. Da- deutschsprachigen Länder, und seit den 80er
für wurden und werden auch besondere Jahren wandern beträchtliche Teile von dort
Lehrmethoden entwickelt, die einerseits die wieder zurück in die Türkei. Andere Teile
spezifischen Einstellungen der Lernenden zur bleiben dauerhaft in den deutschsprachigen
deutschen Sprache und andererseits ihre noch Ländern. Zunächst stimulierte die Aussicht
vorhandenen Sprachkenntnisse berücksichti- auf Migration aus der Türkei in die deutsch-
gen. Ein Beispiel für Letzteres ist die „dialek- sprachigen Länder das Deutschlernen. Seit
tophone Methode“ (Földes 1992, 91), mit der ungefähr der Mitte der 80er Jahre spielen da-
an den häuslichen Dialekt angeknüpft wer- gegen die Remigranten eine immer wichtigere
den soll. und heutzutage sogar die beherrschende
Rolle im Deutschunterricht in der Türkei
6.3. Türkei (vgl. z. B. Polat/Tapan 1996; Treffers-Daller/
Die deutsche Sprache hat in türkischen Erzie- Daller 1995; Sieben 1994). Schon in der zwei-
hungsinstitutionen eine lange Tradition, als ten Hälfte der 80er Jahre entstehen Reinte-
deren Beginn meist das Gründungsjahr der grationsschulen für die Remigranten aus
Deutschen Schule in Istanbul, 1868, genannt den deutschsprachigen Ländern, in denen
und in deren Zusammenhang gewöhnlich Deutsch Unterrichtssprache ist, zumindest in
auch das traditionsreiche österreichische St.- einem Teil der Fächer (Emmert 1987, 67).
Georgs-Gymnasium in Istanbul erwähnt Diese Reintegrationsschulen sind von den
wird. In den 30er Jahren dieses Jhs. wurde traditionellen Gymnasien mit Deutsch als
Deutsch auch wichtige Unterrichtssprache an Unterrichtssprache in einem Teil der Fächer
türkischen Universitäten, da dort zahlreiche zu unterscheiden, von denen es 1988 insge-
vor dem Nationalsozialismus geflohene deut- samt 10 gab (die deutsche und die österrei-
sche Wissenschaftler lehrten, die des Türki- chische Schule in Istanbul, ein staatliches tür-
schen nicht mächtig waren (Emmert 1987, kisches Gymnasium in Istanbul und sieben
61f.). Dessen ungeachtet spielte Deutsch in Privatschulen in verschiedenen Städten (Wer-
früheren Zeiten im Vergleich zu Französisch, ner 1988, 141⫺143). Vor allem an den Hoch-
und später im Vergleich zu Englisch, eine schulen werden die Germanistik und der Un-
eher untergeordnete Rolle. Allerdings nähern terricht in „Deutsch als Fremdsprache“ teil-
sich die Lernerzahlen an den Schulen für weise vollständig von den Rückkehrern do-
Deutsch Anfang der 80er Jahre denen für miniert; man könnte geradezu von einem spe-
Französisch an; für 1982/83 werden 340 000 zifischen Lehr-Lern-Typ „Deutsch als Rück-
Deutschschüler, 350 000 Französischschüler kehrersprache“ (DaR) sprechen ⫺ neben den
und 1,62 Mio. Englischschüler gezählt (Knöß zuvor schon erwähnten Typen Deutsch als
1986, 241). Im Verlauf der 80er Jahre ver- Fremdsprache (DaF), Deutsch als Nationali-
drängte das Deutsche dann schließlich das tätensprache (DaN) und Deutsch als Zweit-
Französische auf den dritten Platz und ist sprache (DaZ) (vgl. Abschnitt 1.). Eine spezi-
seitdem die zweithäufigst gelernte Fremd- fische Konzeption für diesen Typ wird zwar
sprache in der Türkei (vgl. auch Art. 164). seit einigen Jahren an türkischen Universitä-
6. Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht deutschsprachigen Ländern 79

ten diskutiert, sie scheint aber noch nicht in dere Fremdsprachen teilweise beträchtlich ge-
ausgereifter Form vorzuliegen. Dessen unge- stiegen sind, vor allem für Japanisch, Chine-
achtet ist es zugleich ungewiss, wie es mit dem sisch und Arabisch.
Deutschstudieren weitergehen soll, wenn die (b) Die wachsende wirtschaftliche und poli-
Remigranten in Zukunft ausbleiben. ⫺ An- tische Bedeutung außereuropäischer Sprach-
wendungsmöglichkeiten für Deutschkennt- gemeinschaften. ⫺ In Bezug auf die genann-
nisse gibt es außerhalb des Lehrbetriebs vor ten Sprachen braucht nur daran erinnert zu
allem in der Tourismusbranche. werden, dass Japan inzwischen ein fast dop-
pelt so hohes Bruttosozialprodukt erreicht
6.4. USA hat wie alle deutschsprachigen Länder zu-
In den USA gibt es weit mehr Hochschulen sammengenommen, dass für China progno-
mit Deutschabteilungen als in allen deutsch- stiziert ist, es werde in absehbarer Zeit die
sprachigen Ländern zusammengenommen. USA wirtschaftlich überholen und die ge-
Für 1989 werden solche Abteilungen für 271 wichtigste ökonomische Macht der Welt sein,
Hochschulen ausgewiesen, und zwar mit ins- und dass die arabischen Länder spätestens
gesamt 2350 Lehrkräften. Diese Zahlen sind seit der Ölkrise ebenfalls als bedeutsame
beeindruckend, auch wenn es sich bei den Wirtschaftsmächte von sich reden gemacht
Abteilungen meist nicht um eine vollausge- haben. Die politische Bedeutsamkeit des Chi-
stattete Germanistik handelt, sondern über- nesischen und Arabischen zeigt sich unter an-
wiegend um praktische Sprachlehre im Rah- derem auch daran, dass beide Amtssprachen
men von Modern Language Studies oder um der Vereinten Nationen sind, das Deutsche
German Studies, in denen landeskundliche dagegen nicht.
Studienbausteine im weitesten Sinn eine ge- (c) Die mangelnde wissenschaftliche und
wichtigere Rolle spielen als das Sprachlernen. technologische Attraktivität des Deutschen
Im Gegensatz zu diesen beeindruckenden für hochentwickelte Industrieländer. ⫺ Sie ist
Zahlen stehen die seit Jahren wiederholten nicht nur bedingt durch den tatsächlichen
Lageberichte, nach denen das Deutschlernen wissenschaftlich-technologischen Rückstand
und -studieren mehr oder weniger kontinu- der deutschsprachigen Länder gegenüber den
ierlich abnimmt (vgl. z. B. Lützeler 1990). Ei- USA, sondern auch durch den Umstand,
nen Stimmungsumschwung hat es nur in der dass die Wissenschaftler und Techniker der
Zeit nach der deutschen Vereinigung, also deutschsprachigen Länder über ihre wichtig-
Anfang der 90er Jahre, gegeben, als das sten Neuerungen mehr und mehr in engli-
Deutschlernen einen unerwarteten Boom er- scher statt in deutscher Sprache publizieren.
lebte. Inzwischen ist die Stimmungslage unter Dadurch verliert ein vormals wichtiges Motiv
den US-amerikanischen Germanisten und für das Erlernen der deutschen Sprache,
Lehrenden von Deutsch als Fremdsprache nämlich Zugang zum fortgeschrittensten
wieder mindestens so pessimistisch wie in den Wissenschaftsstand zu gewinnen, mehr und
Jahren davor (vgl. auch Art. 143). mehr an Boden.
Diese Stimmung ist nicht unbegründet, sie
wird genährt durch tatsächlich sinkende Ler- Als vorherrschende Motive bleiben wissen-
nerzahlen. So ist die Zahl der Deutsch-Stu- schaftshistorische sowie kultur- und geistes-
dierenden an den Hochschulen von 1990 bis wissenschaftliche Interessen, denen die neu-
1995 um 28% gesunken, von 133 348 auf entwickelten German Studies, in denen
96 263. Auch an den Schulen, in denen ohne- Deutsch in Verbindung mit Geschichtswis-
hin nur verhältnismäßig wenig Deutsch ge- senschaft, Soziologie und anderen kultur-
lernt wird, zeigt sich eine abnehmende Ten- und geisteswissenschaftlichen Fächern stu-
denz. Als Ursachen für die ungünstige Ent- diert wird, Rechnung zu tragen suchen (vgl.
wicklung spielen verschiedene Faktoren zu- Kleinfeld 1990). In der Entwicklung interdis-
sammen, deren Gewichtung allerdings geson- ziplinärer Forschungs- und Ausbildungsrich-
derter empirischer Untersuchung bedürfte: tungen hat die US-amerikanische Germani-
(a) Die weiterhin zunehmende Dominanz stik teilweise auch für die Germanistik ande-
des Englischen als Welt-Lingua franca, auf rer Länder befruchtende Problemstellungen
Grund derer vielen englischsprachigen Perso- gefunden (vgl. Lützeler 1990 und die Beiträge
nen das Erlernen von Fremdsprachen ziem- in Trommler 1989). Ein speziell auf die
lich überflüssig erscheint. ⫺ Allerdings lässt Einwanderer aus den deutschsprachigen
sich damit nicht erklären, dass in den USA Ländern zugeschnittener Deutschunterricht
in den letzten Jahren die Lernerzahlen für an- scheint in den USA bislang nicht konsequent
80 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

entwickelt zu werden. Dies ist für Außenste- gische oder wissenschaftliche Informationen
hende erstaunlich angesichts der Tatsache, in deutschsprachigen Texten, die zuneh-
dass die Immigranten aus den deutschspra- mende wirtschaftliche Wichtigkeit anderer
chigen Ländern die größte Herkunftssprach- Sprachräume und damit auch ihrer Sprachen,
gruppe in den USA bilden und dass der die wachsende Dominanz von Englisch als
Deutschunterricht lange Zeit in erster Linie Welt-Lingua franca. Der zweitletzt genannte
Muttersprachunterricht für diese Immigran- Umstand macht sich bemerkbar vor allem im
ten war (vgl. Frank 1985). Wenn auch ein zunehmenden Interesse am Chinesischen, das
auf die deutschen Immigranten bezogener ⫺ im Gegensatz zu früheren Jahren ⫺ neuer-
Deutschunterricht grundsätzlich anders aus- dings bei Sprachkursen in Fernsehen und
zusehen hätte als der Unterricht als „Natio- Radio mehr als doppelt so viele Interessenten
nalitätensprache“ in Ungarn (vgl. Abschnitt findet wie Deutsch oder Französisch (Befunde
6.2.), da die Immigranten aus den deutsch- für 1994 in Okamura 1995). Der oben zuletzt
sprachigen Ländern in den USA keine geson- genannte Faktor wirkt auf Japan ⫺ obwohl
derte Nationalität bilden, so könnte es doch es selbst ein nicht-englischsprachiges Land ist
Parallelen geben. So ließe sich insbesondere ⫺ offenbar so, dass das Erlernen anderer
anknüpfen an der teilweise noch vorhande- Fremdsprachen als des Englischen fast als
nen Herkunftsidentität und damit verbunde- überflüssig bewertet wird. Entsprechend sind
nen spezifischen Motivation für das Deutsch- die Motive japanischer Deutschlernender
lernen. Die Motive für das Deutschlernen bei mindestens ebenso diffus wie diejenigen der
amerikanischen Schülern oder Studierenden US-amerikanischen Deutschlernenden (vgl.
sind allem Anschein nach vielfältig und gro- Honda 1994; Bauer 1989).
ßenteils diffus, was unter anderem damit zu- Deutschunterricht und das Deutschlernen
sammenhängt, dass Deutschkenntnisse außer- haben im heutigen Japan eine lange Tradi-
halb der Lehrberufe selten als berufliche tion, die bis zum Ende des 19. Jhs. zurück-
Qualifikation gefordert sind. reicht, weil sich die damalige japanische Re-
gierung bei ihren Modernisierungsbestrebun-
6.5. Japan gen wesentlich am deutschen Kaiserreich als
In Japan ist Deutsch vermutlich noch immer Modell orientierte. Dieses entsprach politisch
die zweithäufigst gelernte Fremdsprache, eher den konservativen Bestrebungen des
wenngleich der Abstand gegenüber Englisch Tenno-Reiches (vgl. Naka 1994) und zugleich
überwältigend und gegenüber den nachfol- auch den technologischen und wissenschaft-
genden Fremdsprachen geringfügig ist (vgl. lichen Modernisierungsabsichten, denn die
auch Art. 168). Im Gegensatz zum Engli- deutschsprachigen Länder konnten sich da-
schen wird es praktisch nur auf der Hoch- mals technologisch und wissenschaftlich
schule gelernt ⫺ abgesehen von der Wahl- durchaus mit den angelsächsischen messen
möglichkeit an einigen wenigen Oberschulen. (vgl. zur Kombination beider Motive Am-
Bis 1991 war der Stand der Deutschstudien mon 1992). Die Rolle des deutschen Kaiser-
an den Hochschulen relativ gesichert, da bis reichs als staatspolitisches Modell hat sich
dahin das Studium einer zweiten Fremdspra- z. B. dahingehend ausgewirkt, dass große
che (neben Englisch) obligatorisch war. Eine Teile des deutschen Rechtswesens, vor allem
Hochschulreform im Jahr 1991 stellt es nun des öffentlichen Rechts, übernommen wur-
den einzelnen Hochschulen oder sogar den den (Mori 1994). Die Vorbildfunktion der
einzelnen Fachbereichen frei, auf die Forde- deutschen Wissenschaft schlug sich z. B. in
rung einer zweiten Fremdsprache zu verzich- den Einflüssen auf die japanische Medizin
ten. Einige Hochschulen haben von dieser nieder, die so weit gingen, dass bis in die
Möglichkeit schon Gebrauch gemacht und jüngste Vergangenheit sogar die Krankenkar-
weitere werden vermutlich folgen. Dies ist teien der praktizierenden Ärzte in deutscher
einer der Gründe, warum japanische Sprache geführt wurden (Kakinuma 1994).
Deutschlehrende ihr Fach ähnlich bedroht In beiden Berichten gewinnen neuerdings,
sehen, wie es oben für die USA geschildert wie auch ansonsten, die USA und die eng-
wurde (vgl. die Beiträge in Ammon 1994). In lische Sprache zunehmend an Bedeutung,
der Tat treffen die Faktoren, die oben als Ur- was zu Lasten der deutschsprachigen Länder
sachen für das abnehmende Interesse am und der deutschen Sprache geht. Für Japaner
Deutschlernen in den USA genannt wurden, ist die deutsche Sprache heute in erster Linie
mutatis mutandis auch auf Japan zu: geringe von wirtschaftlichem Interesse; die große
Hoffnung auf wirklich interessante technolo- Tradition verliert trotz aller Beständigkeit
6. Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht deutschsprachigen Ländern 81

allmählich an Gewicht. Die Stellung von scher (26%), im Tourismus (22%), im Außen-
Deutsch als Fremdsprache in Japan dürfte handel (19%) und in Auslandsämtern (9%)
daher maßgeblich von der zukünftigen wirt- (Kahn-Ackermann 1991, 35) sowie natürlich
schaftlichen Entwicklung der deutschsprachi- im Lehrbetrieb, hauptsächlich an den Hoch-
gen Länder abhängen. schulen.
Studienbegleitend wird Deutsch häufig
6.6. China von Studierenden technischer Fächer gelernt,
Die Einschätzung des Deutschlernens in die- vor allem an technischen Hochschulen (vgl.
sem Land, das sich zumindest wirtschaftlich Fluck 1985). Der Nutzen scheint auf der
fulminant entwickelt, divergieren und er- Hand zu liegen: Techniker aus China können
scheinen auf den ersten Blick sogar wider- von der Technologie in den deutschsprachi-
sprüchlich (vgl. auch Art. 167). Der Vorsit- gen Ländern noch manches lernen; außerdem
zende des Chinesischen Germanistenverban- eröffnet sich für sie die Chance, an der Hoch-
des, Zhu (DAAD 1989, 16), urteilte z. B.: schule eines deutschsprachigen Landes zu
„Wenn anderswo in der Welt von einem Zu- studieren, wenn auch die Aussichten gering
rückgehen der deutschen Sprache die Rede sind. Allerdings erfahren viele dieser Studie-
ist, ist in China sicher das Gegenteil der renden bald den Mangel an deutschsprachi-
Fall.“ Demgegenüber wurde in einer detail- ger Fachliteratur ⫺ vor allem im Vergleich
lierten Analyse des Deutschlernens in China zum Englischen ⫺ auf Grund der schon er-
dieses als „Kunst des Drachentötens“ cha- wähnten Neigung deutschsprachiger Fach-
rakterisiert, die zwar schwierig und aufwen- leute, in fast jeder wissenschaftlichen Diszi-
dig zu lernen, aber vielfach anschließend plin selbst mehr und mehr auf Englisch zu
ohne praktischen Wert sei (Hess 1992). publizieren. Inwieweit unter diesen Umstän-
Bei genauerer Betrachtung besteht zwi- den die studienbegleitenden Deutschstudien
schen beiden Einschätzungen kein Wider- der verschiedenen Fachrichtungen weiterent-
spruch. Tatsächlich wurde das Deutschler- wickelt werden können, bleibt abzuwarten.
nen, insbesondere in der Form des studienbe- Auch im Falle Chinas könnte sich auf längere
gleitenden praktischen Sprachunterrichts, in Sicht das Interesse an der deutschen Sprache
den 80er Jahren in China beträchtlich ausge- weitgehend auf die Möglichkeit wirtschaftli-
weitet. Dies geschah durch zentrale staatliche cher Kontakte reduzieren. Im Vergleich zu
Bildungsplanung, die offenbar motiviert war Japan hat das Deutschlernen in China eine
durch das Interesse der chinesischen Regie- weit begrenztere Tradition, vor allem im Ver-
rung an intensiveren Kontakten zu den hältnis zur Größe des Landes. Einzelne Tra-
deutschsprachigen Ländern. Als Folge dieser ditionsstränge reichen allerdings zurück bis
Planung wurden Studierende vielfach dazu in die Wilhelminische Zeit: 1898 pachtete das
gezwungen, Deutsch zu wählen, insbesondere Deutsche Reich das Gebiet Kiautschou mit
dann, wenn sie die Eingangsprüfungen zum der Hauptstadt Tsingtau auf 99 Jahre. Aller-
begehrten Englischstudium nicht bestanden. dings musste es bereits 1914 an Japan abge-
Am Ende des Deutschstudiums hat sich dann treten werden. Ein weiteres Beispiel ist die
häufig gezeigt, dass Deutschkenntnisse als 1907 in Shanghai gegründete Tongji Medizi-
Qualifikation für attraktive Berufe wenig nische Schule, der 1912 eine technische Abtei-
Wert hatten. Nur zusätzlich zu Englisch- lung hinzugefügt und die 1927 zur Universi-
kenntnissen waren sie wirklich gefragt. In tät wurde. Ihre Tradition wird heute fortge-
China war und ist es indes üblich, Deutsch setzt an der Medizinischen Hochschule Wu-
als einzige Fremdsprache zu lernen ⫺ anders han, deren Studierende immer noch Deutsch
als beispielsweise in Japan, wo die Studienab- lernen und in deren Umfeld auch eine Schule
solventen immer auch über Englischkennt-
mit Deutsch als Fremdsprache fortbesteht
nisse verfügen. Dies war kein Problem, so-
(vgl. He 1994; auch Hernig 1995).
lange auch der Zugang zur Berufswelt plan-
wirtschaftlich geregelt war. Mit der Einfüh-
rung der Marktwirtschaft in diesem Bereich 7. Literatur in Auswahl
in den 80er Jahren gerieten dann jedoch die
Deutschlerner, die keine weitere Fremdspra- Althof, Hans-Joachim (Hg.) (1990): Deutschstudien
che beherrschten, vielfach in Schwierigkeiten. international 1. Dokumentation des Wolfenbütteler
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82 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

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7. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in


Deutschland

1. Anfänge 8. Theoretische Klärungsprozesse


2. Neubeginn und Tendenzen nach dem 9. Kulturbegriff
Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik 10. Literatur in Auswahl
Deutschland
3. Deutsch als Fremdsprache an den
Universitäten der Bundesrepublik 1. Anfänge
Deutschland
4. Organisationen und Adressatengruppen Deutsch als Fremdsprache ist ein Kind der
5. Zeitschriften und Informationsorgane Praxis. Seit Jahrzehnten wurde im Ausland
6. Entwicklung des Faches Deutsch als wie im Inland Deutsch an Nichtmutter-
Fremdsprache in der DDR sprachler unterrichtet: Der Aufschwung der
7. Deutsch als Fremdsprache nach der deutschen Auslandsschulen im 18. und
deutschen Einigung 19. Jh., das Deutsche Institut für Ausländer
84 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

an der Berliner Universität (vgl. 6.1.) sowie tive ⫺ die Sicht von außen ⫺ hinzugefügt,
die Gründung der Deutschen Akademie ⫺ um mit Hilfe dieser kulturvergleichenden Me-
Vorläufer des Goethe-Instituts ⫺ markierten thode zum interkulturellen Dialog beizutra-
wichtige Punkte in der Pflege des Deutsch- gen. Ein typisches Lehrwerk dieser vierten
unterrichts. Freilich wurde diese Arbeit in Generation ist „Sprachbrücke“ von Mebus
der Vergangenheit häufig durch nationalisti- u. a. Zugleich entstanden zahlreiche regionale
sche und völkische Theorie und Töne beein- Lehrwerke mit dem Ziel, den Lernbedingun-
flusst und während der Nazizeit vollständig gen und Sprachproblemen in unterschiedli-
dominiert. Es dauerte Jahre, bis dieses un- chen Regionen auf dem Globus besser zu ent-
selige Erbe nach 1945 überwunden werden sprechen.
konnte. Die neunziger Jahre sind geprägt von un-
terschiedlichen didaktischen Modellen, die
aber insgesamt durch einen verstärkten kog-
2. Neubeginn und Tendenzen nach nitiven Ansatz geprägt sind. Paradigmatisch
dem Zweiten Weltkrieg in der dafür stehen die Lehrwerke „Stufen“ von
Bundesrepublik Deutschland Vorderwülbecke und „Wege“ von Neuf-Mün-
kel/Eggers. Zugleich ist das Bemühen deut-
1951 wurde die erste Unterrichtsstätte des lich, Erkenntnisse der Zweitspracherwerbs-
Goethe-Instituts e. V. in Bad Reichenhall er- forschung und Lernpsychologie im fremd-
öffnet; ihr folgten in den nächsten Jahren sprachigen Deutschunterricht umzusetzen
zahlreiche andere im Bundesgebiet. 1952 (vgl. Götze 1995a).
wurde das Goethe-Institut offiziell in Mün- Neben allgemeinsprachliche Kurse trat in
chen gegründet. Die Zahl ausländischer Kurs- den 80er Jahren zunehmend der fachsprach-
teilnehmer und -teilnehmerinnen wuchs be- liche Unterricht, um die Lernenden auf ihre
ständig und erreichte ihren Höhepunkt nach künftigen Studien der Naturwissenschaften,
der deutschen Einigung im Jahre 1991 mit Kultur- und Ingenieurwissenschaften an
insgesamt über 25 000 Studierenden. Die
deutschen Hochschulen vorzubereiten. In
Kurse gliedern sich in Grund-, Mittel- und
den späten 80er Jahren ging die Zahl der
Oberstufe; Methodenpluralismus kennzeich-
Deutschlernenden an den Goethe-Instituten
net die Curricula und Sprachkurse: Die Lehr-
im Ausland zurück; Ursachen waren der ⫺
werke der ersten Generation (50er/60er
mit Ausnahme der Länder Mittel-, Ost- und
Jahre) waren der grammatikalisierenden
Übersetzungsmethode verpflichtet und ver- Südosteuropas sowie einzelner Länder Asiens
mittelten die traditionelle Schulgrammatik ⫺ weltweite Rückgang der deutschen Spra-
(als Beispiel sei die „Deutsche Sprachlehre che, die hohen Gebühren der Sprachkurse,
für Ausländer“ von Schulz/Griesbach ge- ausländerfeindliche Aktionen in Deutschland
nannt); in der zweiten Generation (70er sowie die sinkende Bedeutung Deutschlands
Jahre) dominierten die direkten Methoden als Studienort für ausländische Bewerber.
bei Betonung der gesprochenen Sprache (bei- Eine gezielte berufspraktische Ausbildung
spielhaft steht hierfür „Deutsch als Fremd- der Lehrenden begann am Goethe-Institut
sprache“ von Braun/Nieder/Schmöe). Nach erst relativ spät. 1962 wurde die „Arbeits-
der „pragmatischen Wende“ des Fremdspra- stelle für wissenschaftliche Didaktik“ (AWD)
chenunterrichts entstanden Lehrwerke der in der Münchner Zentralverwaltung einge-
dritten Generation (80er Jahre), die sprachli- richtet, die dringend benötigte Grundlagen
ches Handeln als Teil sozialen Handelns ver- für Lehrmaterialien (Grammatiken, Fach-
mitteln sollten und kommunikative Kompe- wortschatzlexika, Phonetik, Didaktisierung
tenz statt formaler Sprachbeherrschung an- linguistischer Forschungsergebnisse) erarbei-
strebten. Im Mittelpunkt standen häufig die tete. 1971 folgte die „Zentrale Ausbildungs-
Sprechakte und deren sprachliche Ausgestal- unterrichtsstätte“ zur Ausbildung zukünftiger
tung im Deutschen. Als Beispiel sei das Lehr- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie zur
werk „Deutsch aktiv“ von Neuner u. a. ge- Fortbildung bereits angestellter Dozenten des
nannt. Ein Perspektivenwechsel trat in den Goethe-Instituts. Damit war eine kontinuier-
achtziger Jahren mit der Entwicklung einer liche professionelle Aus- und Fortbildung ge-
fremdkulturellen Hermeneutik (vgl. Art. 124) sichert. Leider verfügte das Goethe-Institut
ein; der bislang ausschließlich vertretenen 1991 einen Einstellungsstopp und schloss zu-
Eigenperspektive wurde die Fremdperspek- gleich die Ausbildungsunterrichtsstätte.
7. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Deutschland 85

3. Deutsch als Fremdsprache an den der Sprachgrenzen. Die Bezeichnungen ein-


Universitäten der Bundesrepublik schlägiger Studiengänge variierten: Deutsch
als Fremdsprache, Deutsch als Zweitsprache,
Deutschland Auländer-/Migrationspädagogik, Interkultu-
Die Einrichtung eines germanistischen Studi- relle Germanistik und Interkulturelle Kom-
engangs ausschließlich für ausländische Stu- munikation. Angesiedelt wurden und werden
dierende an der Heidelberger Universität die Studien in unterschiedlichen fachlichen
(1970), der bis heute besteht, markiert den Kontexten, wodurch sich zugleich Schwer-
Startpunkt der akademischen Auseinander- punktbildungen ergaben: In der Sprachlehr-
setzung mit dem Deutschen als Fremdspra- forschung oder Fremdsprachendidaktik, der
che in der Bundesrepublik. Ihm folgten seit germanistischen oder allgemeinen Sprachwis-
1974 Fortbildungskurse für ausländische senschaft, der Literaturwissenschaft oder
Deutschlehrer und Germanisten, die gemein- auch der Erziehungswissenschaft (vgl. Hen-
sam von den Hochschulen, dem Deutschen rici/Koreik 1994; Krumm 1994).
Akademischen Austauschdienst sowie dem Vor allem zwei Kontroversen prägten die
Goethe-Institut angeboten wurden. theoretische Diskussion der achtziger Jahre
Die Anwerbung ausländischer Arbeiter und führten zu einer Klärung von Stand-
und ihrer Familienangehörigen in den fünfzi- punkten: zum einen die Bedeutung des mut-
ger und sechziger Jahren veränderte das Fach tersprachlichen Unterrichts (Türkisch, Grie-
von Grund auf. Türken, Italiener, Griechen, chisch, Italienisch, usw.) im Rahmen des Un-
Spanier, Portugiesen und andere ausländi- terrichts für Kinder der ethnischen Minder-
sche Arbeiter lernten Deutsch, um in der heiten, zum zweiten die Auseinandersetzung
Bundesrepublik Deutschland leben und über- um die Rolle der Interkulturellen Germanistik.
leben zu können. Im Gegensatz zum fremd- Eine Reihe von Vereinen der ethnischen
sprachlichen Deutschunterricht traditioneller Minderheiten zusammen mit deutschen
Prägung waren Kurse gefragt, die Anleitungen Sprachwissenschaftlern und Didaktikern
zum sprachlichen Handeln boten: Sprach- hatte 1983 das Memorandum zum mutter-
didaktik, Sprachpsychologie und Sprachso- sprachlichen Deutschunterricht vorgelegt und
ziologie waren fortan, neben der Linguistik, darin die an der Schwellenniveauhypothese
die bestimmenden Bezugswissenschaften. In- (Cummins 1978) orientierte Auffassung ver-
nerhalb weniger Jahre, beginnend 1978 an treten, das ausländische Kind müsse zuerst in
der Ludwig Maximilians-Universität Mün- seiner Erstsprache (Muttersprache) lesen und
chen, wurden zahlreiche Lehrstühle und Pro- schreiben lernen und eine gewisse Sicherheit
fessuren für Deutsch als Fremdsprache an erreichen, ehe es in der Zweitsprache Deutsch
bundesdeutschen Universitäten eingerichtet; alphabetisiert werden könne. Werde diese
in Lehre und Forschung ging es vor allem um Reihenfolge umgekehrt, drohe doppelte
die Themen Sprachvergleich L1⫺L2 und Halbsprachigkeit und Verlust der Identität
didaktische Konsequenzen, Lehrwerkanalyse (vgl. Memorandum zum muttersprachlichen
und Lehrwerkbeurteilung, Zweisprachigkeit Unterricht in der Bundesrepublik Deutsch-
unter den Bedingungen der Migration, Lernen land). Die Gegner dieses Ansatzes argumen-
und/oder Erwerben der Zweitsprache Deutsch, tieren, der gemeinsame Deutschunterricht
Landeskunde und Literatur im fremdsprachli- mit deutschen Kindern und die Erstalphabe-
chen Deutschunterricht. Eine Vielzahl von tisierung in der Zweitsprache Deutsch seien
Aufbau-, Zusatz- und Ergänzungsstudien- vorrangig, um der Ghettoisierung vorzubeu-
gängen sowie Magister- und Promotionsstu- gen und die Kinder ethnischer Minderheiten
dien entstand in Augsburg, Bayreuth, Biele- in die multikulturelle Gesellschaft zu integrie-
feld, Bochum, Hamburg, Kassel, Nürnberg, ren (vgl. Götze 1995b). Als Ergebnis der
Saarbrücken u. a.; in der Folge teilte sich das Kontroverse war eine Annäherung der Stand-
Fach auch an den Hochschulen der alten punkte zu erkennen: Pflege der Erstsprache
Bundesrepublik in zwei Bereiche: Deutsch als und gemeinsames interkulturelles Lernen
Fremdsprache als das unterrichtlich gesteu- schließen sich nicht aus, sondern können ein-
erte Lehren und Lernen der deutschen Spra- ander befruchten. Ziel eines solchen Unter-
che jenseits des deutschen Sprachraums sowie richts Deutsch als Zweitsprache ist somit,
Deutsch als Zweitsprache als das Nebeneinan- dass die deutschsprachige Mehrheit und eth-
der von unterrichtlich gesteuertem Lehren nische Minderheiten gemeinsam und vonein-
und Lernen sowie (außerunterrichtlich) unge- ander lernen, um Vorurteile und rassistische
steuertem Erwerben des Deutschen innerhalb Ansätze zu überwinden.
86 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

Die Interkulturelle Germanistik (vgl. ⫺ Studienkollegs und Lehrgebiete der Hoch-


Wierlacher 1987) verstand Deutsch als schulen
Fremdsprache im Sinne einer hermeneuti- ⫺ Carl Duisberg Centren, Otto-Benecke-Stif-
schen Literaturwissenschaft aus der Fremd- tung sowie zahlreiche öffentliche (Deut-
perspektive ⫺ also von außen ⫺, um fremde scher Volkshochschulverband), kirchliche
und eigene Sicht von Rezeptionsprozessen (Diakonisches Werk, Caritas) und private
zusammenzubringen und besseres gegenseiti- (Berlitz u. a.) Sprachinstitute.
ges Verstehen zu ermöglichen. Teilweise vehe-
mente Kritik war die Antwort (vgl. Zimmer- Die Haupttätigkeit der Kultur- und Sprach-
mann 1980). arbeit des Münchner Goethe-Instituts liegt im
1983 schuf die Deutsche Forschungsge- Ausland; in Deutschland dominiert die
meinschaft (DFG) ein Schwerpunktpro- Spracharbeit: Ende 1996 wurden an 18 Insti-
gramm „Sprachlehrforschung“ und damit tuten insgesamt etwa 23 000 ausländische
zum ersten Mal die Möglichkeit, intensiv Studierende unterrichtet. Zusammen mit der
Probleme des Lehrens und Lernens von Ludwig Maximilians-Universität München
Fremdsprachen zu erforschen. Sechs der sowie dem Deutschen Volkshochschulver-
zwanzig geförderten Projekte waren dem band entwickelte das Goethe-Institut zudem
Fach Deutsch als Fremdsprache verpflichtet zahlreiche Prüfungen (vgl. Art. 84) sowie
(vgl. Koordinierungsgremium 1977). Lehrmaterialien (vgl. Art. 105). In Sommer-
Die aktuelle Diskussion ist vor allem ge- und Sonderkursen werden ausländische
prägt durch das Bemühen um ein Profil der Deutschlehrer fortgebildet.
Disziplin Deutsch als Fremdsprache, wobei Der Deutsche Akademische Austausch-
einerseits ihr fremdsprachenwissenschaft- dienst (DAAD) in Bonn entsendet regelmäßig
licher Standpunkt (Henrici 1996), zum ande- Dozentinnen und Dozenten für deutsche
ren die Besonderheit als eigenständiger Teil- Sprache und Literatur weltweit an Hoch-
bereich der Germanistik (Götze/Suchsland schulen sowie führt Fortbildungen für aus-
1996) betont wird (vgl. 8.). Daneben werden ländische Lehrerinnen und Lehrer und Uni-
A-Linie (auslandsorientierte Richtung) und versitätsdozenten durch. Weiterhin lädt er
M-Linie (migrationsbezogene Ausrichtung) ausländische Gastwissenschaftler zu Studien-
unterschieden (Glück 1991); Henrici (1996) aufenthalten ein.
nennt vier Schwerpunktsetzungen, die in un- Die Zentrale für das Auslandsschulwesen
terschiedlichen Studiengängen an deutschen (ZfA) in Köln entsendet Lehrerinnen und
Hochschulen ihren jeweiligen Ausdruck fän- Lehrer an deutsche Auslandsschulen, an de-
den: nen sie Deutsch sowie Fachunterricht ertei-
len. Für Lehrende, die noch keine feste Stelle
⫺ eine linguistische Ausrichtung an einer deutschen Schule haben, tut dies der
⫺ eine sprachlehr-/lernwissenschaftliche (di- Pädagogische Austauschdienst (PAD).
daktisch/methodische) Ausrichtung Die Studienkollegs und Lehrgebiete der
⫺ eine landeskundliche/kulturwissenschaft- Hochschulen bereiten ausländische Studien-
liche Ausrichtung bewerber und -bewerberinnen sprachlich auf
⫺ eine literaturwissenschaftliche Ausrich- das künftige Studium vor.
tung. Darüber hinaus werden Sprachkurse auf
unterschiedlichem Niveau und mit verschie-
denartigen Lehr- und Lernzielen an öffentli-
4. Organisationen und
chen, kirchlichen und privaten Institutionen
Adressatengruppen angeboten. Auf Grund der drastischen Kür-
zung öffentlicher Subventionen in jüngster
Die wichtigsten Organisationen des Deut-
Zeit ist die Zahl der Kursteilnehmer wie der
schen als Fremdsprache in Deutschland sind:
Kurse zurückgegangen.
⫺ Goethe-Institut zur Pflege der deutschen 1971 konstituierte sich der Arbeitskreis
Sprache im Ausland und zur Förderung Deutsch als Fremdsprache (AKDaF) der Stu-
der internationalen kulturellen Zusam- dienkollegs und Lehrgebiete, zwei Jahre spä-
menarbeit e. V. ter wurde er dem Deutschen Akademischen
⫺ Deutscher Akademischer Austauschdienst Austauschdienst integriert. Seit Mai 1990
(DAAD) heißt die Organisation Fachverband Deutsch
⫺ Zentralstelle für das Auslandsschulwesen als Fremdsprache (FaDaF); sie ist Mitglied
(ZfA) im Internationalen Deutschlehrerverband
7. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Deutschland 87

(IDV). Seit 1974 werden regelmäßig die und sprachvorbereitende Aufgaben be-
Informationen Deutsch als Fremdsprache schränkt, sondern das Fach Deutsch als
(InfoDaF) herausgegeben, weiterhin die Ma- Fremdsprache existierte bereits als Ausbil-
terialien Deutsch als Fremdsprache seit 1975 dungsfach, das mit einem Diplom abge-
zu methodischen und didaktischen Proble- schlossen werden konnte (vgl. Günther 1987,
men sowie, seit wenigen Jahren, der Informa- 813). Etwa 300 ausländische Studierende er-
tionsdienst FaDaF aktuell. Jährlich werden hielten am DIA zwischen 1923 und 1933 ei-
Fachtagungen zu unterschiedlichen Themen nen in ihren Heimatländern anerkannten Be-
wie Spracherwerb, Prüfungen, Sprachpolitik rufsabschluss für das Lehramt Deutsch als
usw. veranstaltet. Fremdsprache. Zum Studienprogramm ge-
Daneben existiert die Fachgruppe Deutsch hörten die Fächer: Sprachpraxis, Linguistik,
als Fremdsprache im Fachverband Moderne Literaturwissenschaft, Landeskunde und Me-
Fremdsprachen (FMF), die eigene Sektions- thodik sowie Hospitationen und praktische
sitzungen zu theoretischen und praktischen Lehrproben an Berliner Schulen.
Fragestellungen im Rahmen der FMF-Kon- Diese sprachpraktischen Erfahrungen und
gresse abhält. fachtheoretischen Grundlagen hätten den
Neubeginn nach 1949 in der DDR durchaus
erleichtern können, wenn nicht das Erbe der
5. Zeitschriften und Weimarer Republik aus politischen Gründen
Informationsorgane verweigert worden wäre, was u. a. dazu
Neben den bereits erwähnten Publikationen, führte, dass der Beginn des fremdsprachigen
die Fachinterne wie Fachexterne ansprechen, Deutschunterrichts in der DDR nach Leipzig
existiert eine Reihe von Fachzeitschriften. verlagert wurde. Seit 1951 studierten dort die
Der Hueber-Verlag gibt die Zielsprache ersten elf Ausländer in der Abteilung Auslän-
Deutsch ⫺ Zeitschrift für Unterrichtsmetho- derstudium der Karl-Marx-Universität, aus
dik und angewandte Sprachwissenschaft her- der 1956 wegen der immer größer werdenden
aus; der Sprachverband für ausländische Ar- Zahl ausländischer Deutschlernender ein In-
beitnehmer e. V. publiziert die Zeitschrift stitut wurde, das 1961 den Namen Herder-In-
Deutsch lernen, die Klett Edition Deutsch stitut ⫺ Vorstudienanstalt für ausländische
Fremdsprache Deutsch. Für die deutschen Studierende in der DDR und Stätte zur Förde-
Auslandsschulen gibt es Der deutsche Lehrer rung deutscher Sprachkenntnisse im Auland
im Ausland. Wesentlich für die Diskussion in (HI) erhielt. Aus der Vorstudienanstalt, die
der Disziplin ist das seit 1975 erscheinende im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens vor-
Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Daneben nehmlich studienvorbereitende Ziele ver-
erscheinen Beiträge zum Deutschen als folgte, entwickelte sich allmählich ein Lehr-
Fremdsprache in einschlägigen germanisti- und Forschungszentrum, das sowohl für das
schen und fachdidaktischen Zeitschriften. In- und auch das Ausland eine für DDR-Ver-
hältnisse einmalige Entwicklungsperspektive
geboten bekam (vgl. Porz 1972, 15ff.).
6. Entwicklung des Faches Deutsch Fachhistorisch betrachtet nahm Deutsch
als Fremdsprache in der DDR als Fremdsprache in der DDR zunächst die
Konturen einer sprachpraktischen Lehrdiszi-
6.1. Zur Institutionalisierung des Faches plin ein, die sich eng an den gesellschaftlichen
In Ostdeutschland lassen sich die Anfänge Vorgaben, den Bildungs- und Erziehungszie-
des Faches Deutsch als Fremdsprache bis ins len, -inhalten und -methoden des allgemeinen
vorige Jh. zurückverfolgen, denn bereits im Fremdsprachenunterrichts für die Hoch-
19. Jh., verstärkt jedoch zu Beginn des schulstufe orientierte, auf Erfahrungen aus
20. Jh.s, übernahmen private Stiftungen die dem Muttersprachenunterricht der sowjeti-
Ausbildung und Betreuung ausländischer schen Fremdsprachenmethodik zurückgriff
Studierender, die im Laufe der Zeit durch ein und institutionell weitgehend auf das Herder-
differenziertes System studien- und berufs- Institut konzentriert war. Mit der Heraus-
qualifizierender Deutsch als Fremdsprache- gabe eines Fachorganes 1964, der Zeitschrift
Kurse an verschiedenen deutschen Hoch- Deutsch als Fremdsprache, der Gründung ei-
schulen ergänzt und erweitert wurden. So ner Forschungsabteilung 1967 und der Ein-
blieb beispielsweise am Deutschen Institut für richtung des ersten Deutsch als Fremdspra-
Ausländer, dem DIA der Berliner Universität, che-Lehrstuhls im deutschsprachigen Raum
der Sprachunterricht nicht nur auf studien- 1969 (für Gerhard Helbig) wurden relativ
88 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

frühzeitig institutionelle und personelle Ent- log zur Institutionalisierung des Faches in den
wicklungsbedingungen geschaffen, die so- westlichen Bundesländern (vgl. Blei 1994,
wohl eine theoriegeleitete und -begleitende 287ff.).
Sprachausbildung möglich machten als auch
eine eigenständige fachwissenschaftliche Pro- 6.2. Entwicklungen im Bereich der Lehre
filierung in den Teildisziplinen Methodik, Ein wesentlicher Bestandteil des Ausländer-
Linguistik, Phonetik und Landeskunde an- studiums in der DDR war die Sprachvorbe-
strebten. Die Erweiterung des fachlichen Auf- reitung, sprachliche Studienbegleitung und
gabenspektrums in den 70er und 80er Jahren Betreuung ausländischer Bürger (vgl. Kaiser
führte zu Aktivitäten in Lehre und Forschung 1987, 20ff.). Dabei ging es zum einen um eine
in allen ostdeutschen Hochschulen (teilweise solidarische Unterstützung der Partner im
auch Fachschulen), die Germanisten und/ Osten und einiger neugegründeter National-
oder Deutschlehrer ausbildeten bzw. für den staaten bei der Heranbildung ihrer nationa-
Deutsch als Fremdsprache-Unterricht bei len Intelligenz und zum anderen um die Ge-
ausländischen Studierenden verantwortlich währleistung einer effizienten sprachprakti-
waren. Dazu gehörte: schen Ausbildung. Ziel des studienvorbereiten-
den Deutschunterrichts war, die ausländischen
⫺ der (schon traditionelle) studienvorberei- Bewerber zu befähigen, erfolgreich ein Stu-
tende/-begleitende Deutschunterricht, dium an einer Hoch- oder Fachschule auf-
⫺ das germanistische Ausländerstudium im nehmen zu können, was sowohl eine allge-
Voll- und Teilzeitrhythmus, meinsprachliche als auch eine fachlich-fach-
⫺ die verschiedenen Varianten kursorischer sprachliche Vorbereitung in einem Gesamt-
Fortbildung ausländischer Germanisten, umfang von etwa 1000 Stunden bei einer Spe-
Dolmetscher, Lehrer im In- und Ausland. zialisierung in fünf Vorbereitungsrichtungen
Dem Herder-Institut Leipzig mit seinen na- einschloss (vgl. Studienplan 1984, 5ff.). Für
hezu 300 Mitarbeitern oblagen noch spezielle diesen Deutschunterricht wurden im Laufe
Aufgaben, wie beispielsweise die Lehrmate- der Jahre lerner- und handlungsbezogene
Lehr- und Prüfungsmaterialien erarbeitet so-
rialentwicklung, die Aus- bzw. Weiterbildung
wie Curricula erstellt, die als Integrations-
deutscher Deutsch als Fremdsprache-Lehr-
konzept für einen allgemeinsprachlichen,
kräfte, die Zusammenarbeit mit internationa-
fachlichen und fachsprachlichen Unterricht
len Deutschlehrerverbänden und die Lehr-
fungierten. In den 80er Jahren bewährte sich
programmerarbeitung, sofern nicht zentrale
zunehmend die Differenzierung in eine
Gremien dafür zuständig waren.
Grund- und Oberstufenausbildung, die den
Die Erweiterung der Deutsch als Fremd- Sprachkundigenabschluss IIa vorsah und
sprache-Profile in Lehre und Forschung, die gleichzeitig die Zulassung zum Studium be-
eine Antwort auf den wachsenden und diffe- deutete (vgl. Lehrprogramme 1981, 5ff.). Da-
renzierten Bedarf an Deutsch als Fremdspra- nach setzte der studienbegleitende Deutsch-
che im In- und Ausland waren, führten 1978 unterricht ein. Er unterstützte die Studieren-
zur Gründung des Instituts für Weiterbildung den bei der sprachkommunikativen Bewälti-
ausländischer Deutschlehrer an der Pädagogi- gung ihrer Studienanforderungen (vgl. Lehr-
schen Hochschule Potsdam und 1983 des In- programm 1985, 5ff.). An über 30 Hoch- und
stituts für Deutsche Fachsprache an der Tech- Fachschulen erteilten hauptamtliche Lehr-
nischen Universität Dresden. Zeitgleich er- kräfte diesen obligatorischen Unterricht in ei-
folgte der Auf- und Ausbau von weiteren nem Umfang von 180⫺240 Stunden über vier
Deutsch als Fremdsprache-Lehrstühlen/Lehr- Semester. Für etwa 2000 Studierende pro
bereichen an einigen Hochschulen, u. a. an Jahr endete diese Ausbildung mit einem
der Humboldt-Universität Berlin, der Fried- Hochschulzertifikat (vergleichbar mit der
rich Schiller-Universität Jena, der Techni- Oberstufenprüfung des Goethe-Instituts).
schen Universität Karl-Marx-Stadt, der Pä- Übergreifendes Bildungskonzept war eine in-
dagogischen Hochschule Dresden. Nach der stitutionalisierte und sprachpraktisch akzen-
deutschen Einigung erfolgte an den ostdeut- tuierte Ausbildung, die dem Sprachlernenden
schen Universitäten, Hoch- und Fachschulen Erfolgsgarantien bei der Ausübung verschie-
ab 1990 eine schrittweise Neustrukturierung denster Tätigkeiten innerhalb typischer Stu-
des Faches Deutsch als Fremdsprache sowohl dien- und späteren Berufsanforderungen bot.
in der Lehre und Forschung als auch in der In den 60er Jahren begann an der Karl-
materiellen und personellen Ausstattung ana- Marx-Universität Leipzig der allmähliche
7. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Deutschland 89

Ausbau eines Germanistikstudiums für auslän- Eine Hauptform beruflicher Fortbildung


dische Studienbewerber. Mitte der 80er Jahre von ausländischen Deutschlehrern, Germani-
waren es bereits 140 Studierende pro Jahr, sten und Studierenden der Germanistik waren
die sich an den Universitäten Berlin, Greifs- die Internationalen Hochschulferienkurse
wald, Jena, Leipzig oder Rostock im Fach (IHFK). Die ersten fanden 1959 statt. Sie
Germanistik immatrikulieren ließen. Hinzu wurden nach und nach an allen Deutsch als
kamen ca. 550 zukünftige Deutschlehrer und Fremdsprache-profiladäquaten Hoch- und
Germanisten, die ein Teilstudium absolvier- Fachschulen angeboten. Nach Spezialisie-
ten, sowie ca. 250 Studierende, die im Rah- rungsrichtungen und Umfang differenziert,
men einer Aspirantur, eines Zusatzstudiums gliederten sie sich in sprach- und literatur-
bzw. auf kommerzieller Basis eine germanisti- wissenschaftliche, fachsprachliche, fremd-
sche Ausbildung in der DDR erhielten. sprachenmethodische sowie landeskundliche
Das Vollzeitstudium dauerte 5 Jahre. Es Kurse von kurz-, mittel- bzw. längerfristiger
gliederte sich in 3 Phasen: Dauer (2 Wochen bis 5 Monate). Im Zentrum
⫺ zwei Jahre Grundstudium mit einem rela- der Fortbildung standen solche globalen
tiv hohen Anteil an Sprachunterricht (ca. Ziele wie die Konkretisierung des Landes-
1000 Stunden); dazu kamen germanisti- kundebildes der DDR, die Vermittlung fach-
sche und allgemeinbildende Fächer sowie wissenschaftlicher Anregungen für die Unter-
Praktika und Exkursionen; richtspraxis Deutsch als Fremdsprache und
⫺ zwei Jahre Hauptstudium mit fachwis- vor allem die allseitige Förderung des fremd-
senschaftlicher Spezialisierung in den sprachlichen Könnens, die die Aktualisierung
Richtungen Sprach-, Literaturwissen- und Erweiterung kommunikativ-relevanten
schaft, Dolmetschen/Übersetzen, Metho- Wissens ebenso einschloss wie deren situativ-
dik Deutsch als Fremdsprache; angemessene Verwendung.
⫺ ein Jahr Diplomarbeits- und Prüfungs- Insgesamt nahmen von 1959 bis 1989 min-
phase. destens 45 000 Deutschlehrer, Germanisten
Die Ausbildungscurricula des Studienganges und Studierende der Germanistik an Sprach-
Auslandsgermanistik lassen das Bemühen er- kursen in der DDR teil. In den 80er Jahren
kennen, berufsrelevante Theorie-Praxis-Be- gab es zudem verschiedene Sonderkurse, z. B.
ziehungen zum strukturbildenden Prinzip zu landeskundliche Kurzkurse, die zwischen den
erheben, um sowohl fachgegenstandsadäquat nationalen Sprachlehrerverbänden oder über
als auch praxisorientiert auszubilden zu kön- die Liga der Völkerfreundschaft mit ausländi-
nen (vgl. Studienplan 1974/1982, 5ff.). schen Freundschaftsgesellschaften vereinbart
Das Teilstudium umfasste zumeist ein Se- wurden. Die Sektion Deutsch als Fremdspra-
mester und war Bestandteil des Studienpla- che beim Komitee für den Sprachunterricht in
nes Germanistik der Herkunftsländer in An- der DDR verstand sich als Vermittlungs- und
passung an die DDR-Verhältnisse. In der Re- Koordinierungsinstanz zwischen der staatli-
gel absolvierten die ausländischen Studieren- chen Administration im Lande und den natio-
den, die in der Mehrzahl aus den Nachbar- nalen Deutschlehrer- bzw. Germanisten- und
ländern kamen, ein Semester im 3. Studien- Fremdsprachenlehrerverbänden im Ausland.
jahr an einer DDR-Hochschule. Sie studier- Sie wirkte u. a. bei der Vorbereitung und
ten gemeinsam mit den deutschen Lehramts-
Durchführung der Internationalen Deutschleh-
bzw. Germanistikstudenten zuzüglich ergän-
rertagungen mit (1969 in Leipzig, 1977 in Dres-
zender Lehrveranstaltungen zur DDR-Lan-
deskunde, Sprachpraxis sowie einer aktiven den), organisierte sechs Internationale Lehr-
Teilnahme am kulturellen Rahmenpro- buchautorensymposien und vermittelte Exper-
gramm. Die Unterschiede zur Ausbildung der ten für internationale Kongresse, Konferen-
DDR-Germanisten in beiden Ausbildungs- zen bzw. an ausländische Bildungseinrichtun-
formen lagen im Wesentlichen darin, dass die gen, wo vor Ort bei der Erforschung, Pflege
inhaltlichen Schwerpunkte differenziert und und Verbreitung der deutschen Sprache und
einige Lehrgebiete im Studienablauf anders Kultur Unterstützung gewünscht wurde.
platziert waren. Für alle galt jedoch das glei- Diese leisteten in einem beträchtlichen Um-
che Studienziel: eine intensive sprachprakti- fang auch die elf Deutschlektorate an den aus-
sche Ausbildung mit der Aneignung solider, wärtigen Kultur- und Informationszentren der
studien- und berufsrelevanter wissenschaftli- DDR sowie die sechs Bilateralen Germani-
cher Kenntnisse zu verbinden. stenkommissionen.
90 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

6.3. Entwicklungen im Bereich der rithmisierung und Programmierung von


Forschung Übungsarten und -folgen zur Entwicklung
6.3.1. Vom Neubeginn zur Etablierung fremdsprachigen Könnens. Erfahrungen aus
(1951/60⫺1970) dem allgemeinen Fremdsprachenunterricht,
vornehmlich aus dem Russischunterricht,
Als nach mehrjähriger Vorbereitung 1964 die und Traditionen der sowjetischen Fremd-
erste Nummer einer Zeitschrift für Theorie sprachenmethodik lieferten Begründungen
und Praxis des Deutschunterrichts für Auslän- für die Legitimation des lehrpraktischen Vor-
der (Zeitschrift DaF; Herausgeber: Herder- gehens und regten didaktische Reflexionen
Institut) erschien, trat Deutsch als Fremd- über den Transfer auf das Deutsche als
sprache erstmalig ins öffentliche Bewusstsein Fremdsprache an.
fachwissenschaftlicher Publizität. Die theoretische Basis der meisten fachdi-
Neben aktuellen Beiträgen über gesell- daktischen Beiträge und Unterrichtsmateria-
schaftliche Ereignisse des Landes gaben die lien bildete jedoch die sprachwissenschaftliche
Rubriken Sprachwissenschaft, Methodik, Forschung dieses Jahrzehnts, besonders die in-
Landeskunde, Literatur, Phonetik, Fachspra- ternationalen Entwicklungen der generativen
che und Fremdsprachenpsychologie nähere Grammatik Chomskys und deren Anwendung
Einblicke in die theoriebildenden Grundla- auf einzelne Bereiche der deutschen Gramma-
gen der Teildisziplinen und ihrer Beziehungen tik (vgl. Studia Grammatica 1963ff.).
zu anderen Wissenschaften. Hinzu kamen Weitreichende Wirkungen gingen von tra-
Berichte über fachwissenschaftliche Ereig- ditionellen und funktionalen Beschreibungen
nisse des In- und Auslandes und Bibliogra- der deutschen Sprache aus (besonders Jung
phien zu einschlägigen Neuerscheinungen, 1953; Erben 1959; Schmidt 1965; Helbig/
die Beilage Sprachpraxis sowie Übersichten Schenkel 1969). Vor allem die Arbeiten auf
zu aktuellen Lehrmaterialien. Zuvor hatten dem Gebiet der Valenztheorie (Helbig 1971)
ostdeutsche Verlage, vor allem der Verlag En- und der Valenzlexikographie (Sommerfeld/
zyklopädie und das Bibliographische Institut Schreiber 1974/1977) boten Deutsch als
Leipzig, sowie universitäre Hausdruckereien Fremdsprache-Lehrern und -Lernern nicht
für einen bescheidenen Wissenstransfer über nur einen sprachlogisch-begründbaren Erklä-
erste Erfahrungen im fremdsprachigen rungsmechanismus für die Abhängigkeit von
Deutschunterricht gesorgt und die erforderli- Satzgliedern, sondern auch ein umfangrei-
chen Lehr- und Übungsmaterialien produ- ches Repertoire an Valenzbeschreibungen zu
ziert (vgl. u. a. Deutsch ⫺ Ein Lehrbuch für deutschen Verben, Substantiven und Adjekti-
Ausländer; Teil 1, 1958). Im Mittelpunkt der ven. Neben strukturalistischen, transforma-
didaktisch-methodischen Veröffentlichungen tionstheoretischen und funktionalen Konzep-
der 60er Jahre standen ⫺ neben der Wort- ten wurden ebenfalls kybernetische Modell-
schatzarbeit zum fachsprachlichen Unterricht vorstellungen und Auffassungen der System-
und zu Themen der DDR-Landeskunde ⫺ theorie für den Fremdsprachenunterricht ge-
die Übungssysteme. Übergreifendes Ziel war nutzt. Ausdruck dafür waren u. a. program-
der Erwerb fremdsprachlichen Wissens über mierte Lehrmaterialien, mit deren Einsatz im
die deutsche Sprache und die Entwicklung Sprachlabor eine gewisse Erwartungseupho-
fremdsprachigen Könnens im Gebrauch der rie einherging, die mit sichtbaren Fortschrit-
deutschen Sprache. Die Arbeit an den Fertig- ten im Fertigkeitsbereich rechnete. Die Ent-
keiten Hören und Mitschreiben, Lesen und täuschung über das erreichte Niveau hielt
Sprechen setzte in der Regel bei einer Aufli- sich insofern in Grenzen, als im fremdspra-
stung von Lernerschwierigkeiten und lehrme- chigen Deutschunterricht der DDR eine eher
thodischen Problemen ein, die mit konzeptio- zögerliche Aufnahme und Verarbeitung des
nellen Vorschlägen für eine erfolgverspre- amerikanischen Strukturalismus’ erfolgte.
chende Unterrichtsgestaltung einhergingen. Das lag offenbar weniger an der perspektivi-
Das Zentrum bildeten Übungsvorschläge zur schen Weitsicht der Didaktiker oder an den
Aneignung, Festigung, Systematisierung und schwer zugänglichen linguistischen Grundla-
Anwendung phonetischer, grammatischer gen für fremdsprachenerwerbliche Applika-
und lexikalischer Kenntnisse (vgl. Deutsch für tionen, sondern wohl eher an der Haltung fe-
Fortgeschrittene 1969). Die Konzepte sprach- derführender ostdeutscher Linguisten. Sie
systemorientierter Übungstypologien wurden nahmen ⫺ im Vergleich zu westdeutschen
ergänzt und erweitert durch thematische Kollegen ⫺ ein eher distanziertes, aber den-
Diskussionen über die Modellierung, Algo- noch produktives Verhältnis gegenüber inter-
7. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Deutschland 91

nationalen Entwicklungen ein. Indem sie be- Sprachtheorie und -praxis, von Bewusstheit
wusst an die humanistischen Traditionen der und Imitation, von Sprache-Sprechen und
deutschen Philologie anknüpften, halfen sie Sprachtätigkeit u. a. m. Die Einbeziehung
indirekt eine Linguistisierung des Fremdspra- von Erkenntnissen potentieller Referenz- und
chenunterrichts zu vermeiden. Den entschei- Bezugswissenschaften des Deutschen als
denden Vorlauf für die begonnene fachliche Fremdsprache förderte das Verständnis für
Profilierung des Deutsch als Fremdsprache dessen interdisziplinär-integrativen Charak-
lieferte in diesem Zeitabschnitt die nationale ter, wobei die Grammatiktheorie zwar ihre
Grammatikforschung, indem ihr der „Über- Basisfunktion beibehielt, aber um die Dimen-
gang von der empirischen Sprachwissen- sion der Tätigkeit/Handlung erweitert wurde.
schaft zu einer theoriegeleiteten Linguistik“ Die von Helbig/Buscha 1972 verfasste Deut-
(Helbig 1991, 67) gelang. Damit waren we- sche Grammatik erwies sich als unentbehr-
sentliche Voraussetzungen für eine theoriebe- liche Grundlage zur wissenschaftlichen Fun-
gleitende Lehrpraxis und für eine wissen- dierung des fremdsprachigen Deutschunter-
schaftliche Fundierung sprachlicher Vermitt- richts, der Lehrmaterialproduktion sowie der
lungsinhalte gegeben. Fremdsprachendidaktik überhaupt. Dieses
Handbuch für den Ausländerunterricht bot
6.3.2. Von der Etablierung zur Vorteile, die andere traditionelle Grammati-
Differenzierung (1970⫺1980) ken nicht aufweisen konnten, wie z. B. einen
Die bereits Anfang der 70er Jahre einsetzende hohen Grad an Explizitheit des Regelappara-
Fachdiskussion über Platz und Rolle der tes, eine Einteilung der Wortarten nach distri-
Grammatik im Fremdsprachenunterricht butionellen Kriterien, die Beschreibung von
und um deren Verhältnis zu Methodik, Satzmustern und Valenzmodellen sowie die
Sprachwissenschaft und Sprachpraxis sowie Aufnahme zahlreicher Wortlisten und Sche-
zu Psychologie und Fremdsprachentheorie mata zur Verdeutlichung grammatischer
fand nunmehr ihre Fortsetzung unter dem Funktionen.
verstärkten Einfluss der kommunikativen Aber auch die Forschungsergebnisse neuer
Wende. Die methodischen Beiträge handelten Fachdisziplinen, wie beispielsweise die der
von den Zielen, Inhalten und Methoden der Textlinguistik, die „in der DDR vor allem
Arbeit an phonetischen, grammatischen und von Isenberg, Heidolph, Steinitz, Agricola,
lexikalischen Kenntnissen, versuchten termi- Pfütze u. a.“ (Helbig 1986, 154) erarbeitet
nologische Klarheit in das Begriffsinstrumen- wurden, sollten nachhaltige Wirkungen auf
tarium der Methodik des Fremdsprachenun- den Fremdsprachenunterricht haben. Dafür
terrichts zu bringen, stellten Beziehungsrela- gab es verschiedene Gründe: Zum einen ist es
tionen zwischen Wissensaneignung und Kön- die gemeinsame Erfahrung von Sprachwis-
nensentwicklung im Fremdsprachenunter- senschaftlern und Deutsch als Fremdsprache-
richt zur Diskussion und boten eine Fülle Lehrern gewesen, dass es eine Vielzahl von
fachmethodischer Anregungen zur (Wei- sprachlichen Erscheinungen gab, deren Er-
ter-)Entwicklung der vier verschiedenen Fer- klärbarkeit innerhalb der Satzgrenze nicht
tigkeiten in Texten der Alltags- und Fach- befriedigte, z. B. Pronominalisierungen, Satz-
kommunikation. Die linguistischen Beiträge gliederung, anaphorische und kataphorische
reichten von speziellen Untersuchungen zur Elemente. Zum anderen herrschte Überein-
Morphologie (Infinitivkonstruktionen, Mo- stimmung darin, dass sprachliche Kommuni-
dalverben, Präpositionen, Partikeln usw.) kation in aller Regel mittels Texten realisiert
über die Syntax (Tempusformen, Dialog- und wird. Außerdem legte die ganzheitliche Be-
Gesprächsstrukturen, Valenz-, Semantik- trachtung des Textes den Gedanken interdis-
und Satzmodelle) bis zu ausgewählten lexiko- ziplinärer Kooperation nahe, wie sie auch in
logischen Schwerpunkten (Wortbildungsar- verschiedenen Forschungszentren in der
ten, konfrontative Wortschatzarbeit, lexika- Zusammenarbeit von Linguisten, Mutter-
lisch-semantische Felder). Außerdem standen und Fremdsprachenmethodikern, Journali-
dem Fach Deutsch als Fremdsprache wesent- sten, Pädagogen, Psychologen und anderen
liche Einsichten in den Charakter sprach- Fachvertretern über Jahrzehnte praktiziert
licher Kommunikation und Tätigkeit zur wurde(vgl. Textlinguistik 1970ff.). Die Bei-
Verfügung, die zur Erklärung fachrelevan- träge zur Unterrichtstheorie im Fremdspra-
ter Forschungsfragen herangezogen werden chenunterricht wurden in diesem Jahrzehnt
konnten, wie beispielsweise die zum Verhält- im Wesentlichen von Hochschullehrern der
nis von Kommunikation und Kognition, von Russisch- und Englischmethodik geleistet. Im
92 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

Mittelpunkt der theoriebildenden Grundsatz- Deutschen als Fremdsprache waren in die-


artikel standen Themen, die von übereinzel- sem Jahrzehnt:
sprachlicher Relevanz waren, wie:
⫺ die lernerbezogene linguistische Beschrei-
⫺ das Verhältnis der Teildisziplinen inner- bung der deutschen Sprache, die auf Ge-
halb einer Fremdsprachenwissenschaft, brauchsregeln in der Oberflächenstruktur
z. B. Rolle und Platz der Grammatik, Be- abzielte und Normen standardsprach-
ziehung der Linguistik zur Methodik, zum licher Verwendung auf der Satzebene ver-
Sprachunterricht, zur Landeskunde und mittelte,
Psychologie ⫺ die Erklärbarkeit und beginnende lehr-
⫺ die Präzisierung der Ziele, Inhalte und praktische Ausnutzung semantisch-funk-
Methoden innerhalb eines fremdsprachi- tionaler und systemhaft-struktureller Be-
gen Lehr- und Lernprozesses, z. B. Stufen ziehungen in Texten bzw. sprachlichen
und Zielbilder der Sprachbeherrschung, Äußerungen und die Erfassung sowie Be-
Stoffauswahl und -aufbereitung, Textbe- schreibung einzelner Komponenten des
schaffenheit und -arbeit, Übungssysteme/ komplexen Lehr- und Lernprozesses als
-arten/-typen/-abfolgen und Voraussetzung für die Entwicklung einer
⫺ die Bestimmung des Stellenwertes der umfassenden Theorie des Lehrens und
Unterrichtsmethoden innerhalb der Fak- Lernens von Deutsch als Fremdsprache.
torenkomplexion eines kommunikativen
Fremdsprachenunterrichts (einschließlich 6.3.3. Von der Differenzierung zur
der Darstellung von Methoden/Verfahren Konturierung (1980⫺1990)
zur Vermittlung und Aneignung von Für die theoretische Klärung des Wissen-
Sprachkenntnissen sowie zur Entwicklung schaftsfaches Deutsch als Fremdsprache wa-
von Fähigkeiten/Fertigkeiten in allen Ziel- ren in den 80er Jahren besonders die Entwick-
tätigkeiten). lungen innerhalb der Bezugs- und Referenz-
wissenschaften von Bedeutung. Im Zentrum
Mit der Theorienbildung zu übereinzelsprach- interdisziplinärer Fachdiskurse standen Aus-
lich relevanten Planungs-, Aneignungs- und einandersetzungen mit der Dialektik von
Anwendungsaspekten von Fremdsprachen Sprachtätigkeit und Sprachsystem im Sprach-
gingen Verständigungen über die Konturen erwerbsprozess, das Verhältnis von Kognition
der Teildisziplinen des Deutsch als Fremd- und Kommunikation zum Lernen und die
sprache einher, die zu einer Ausdifferenzie- Ausnutzung kommunikativ- und kognitiv-ori-
rung fachgegenstandsspezifischer Anteile der entierter Sprachbeschreibungen für die Theo-
Linguistik, Didaktik, Phonetik, Landes- rie und Praxis des Deutschen als Fremdspra-
kunde, Literaturwissenschaft und Fremd- che. Die Erkenntnis, dass Sprache in die kom-
sprachenpsychologie innerhalb des Lehr- und plexen Zusammenhänge der kommunikativen
Forschungsprofils von Deutsch als Fremd- Tätigkeit und gesellschaftlichen Interaktion
sprache führten. Teils flossen die neuen An- eingebettet ist, führte nicht nur in der Lin-
sprüche des kommunikativen Fremdspra- guistik zu einer Ausweitung ihrer Gegen-
chenunterrichts direkt in die Überarbeitung standsbereiche und zum Entstehen fremd-
bewährter Lehrmaterialien der 60er Jahre ein sprachenerwerbsrelevanter Teildisziplinen (wie
(z. B. Deutsche Konversation mit Modellen 1; z. B. die Sprechakttheorie, funktional-kom-
1979), teils erhielten sie fachsprachlich-orien- munikative Sprachbeschreibung, handlungs-
tierte Modifikationen (z. B. Deutsch ⫺ Ein orientierte Textanalyse, Soziolinguistik, Psy-
Lehrbuch für Ausländer. Einführung in die cholinguistik), sondern auch zu einer Neube-
Fachsprache Physik, Chemie, Biologie; 1975) wertung der Tätigkeits-, Lern- und Gedächt-
oder fanden ihren konzeptionellen Nieder- nistheorien.
schlag in den Curricula der Aus-, Fort- und Quantitativ erbrachte sie eine deutliche
Weiterbildung im Deutschen als Fremdspra- Zunahme an wissenschaftlichen Publikatio-
che, in den Forschungsplänen der Universitä- nen, die eine weitere Ausdifferenzierung von
ten und Hochschulen, in den Themen der Untersuchungsansätzen zur Erklärung und
Graduierungsarbeiten und schließlich auch in Beherrschung fremdsprachiger Erwerbspro-
einer sich allmählich durchsetzenden kom- zesse bedeutete. Qualitativ konzentrierten
munikativen Lehrpraxis. sich die Untersuchungsgegenstände/-themen
Wesentliche Ansatzpunkte fortschreitender auf eine interdisziplinäre theoretische Fun-
fachwissenschaftlicher Differenzierung des dierung der Teildisziplinen des Deutschen als
7. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Deutschland 93

Fremdsprache, auf didaktische Anwendun- Für die Lehre und Forschung im Deut-
gen von Sprachbeschreibungstheorien, auf schen als Fremdsprache ergab sich daraus die
Prinzipien, Inhalte, Methoden und Modelle Erwartung, die Regeln des Sprachsystems
des Spracherwerbs im Allgemeinen und fach- und die des Sprachgebrauchs sowohl funktio-
sprachlichen Unterricht sowie auf Bausteine nal interpretieren als auch lehr- und lerntheo-
einer komplexen Lehr- und Lernmitteltheo- retisch ausnutzen zu können.
rie. Diese Klärung schloss zum einen das Diesem Anliegen kam die funktional-kom-
Fortwirken traditioneller Komponenten der munikative Sprachbeschreibung insofern ent-
Konstituierung von Deutsch als Fremdspra- gegen, als sie eine sprachsystem- und ⫺ tätig-
che ein, z. B. von Teilerkenntnissen der keitsbezogene Erfassung der für Typen kom-
Valenztheorie, Grammatik- und Lexikogra- munikativen Handelns (z. B. Empfehlen, Be-
phie, der allgemeinen Fremdsprachendidak- richten, Zusammenfassen) und ihren sprach-
tik u. a. m. Zum anderen öffnete sie sich ge- lichen Produkten (z. B. die Textsorten: Re-
genüber den Forschungsansätzen/-perspekti- ferenz, Tagungsberichte, Resümee) relevan-
ven neuer Fachdisziplinen. Die wechselseiti- ten Sprachmittel und Gestaltungsprinzipien
gen Wirkungen lassen sich u. a. an der bereits anstrebte. Sie versprach, den Kommunika-
Mitte der 70er Jahre einsetzenden Prinzipien- tionsbedürfnissen/-erfordernissen erwachse-
Diskussion und den nachfolgenden einzelwis- ner Lerner innerhalb der DDR, spezifischen
senschaftlichen Ausdifferenzierungen ihrer Aus- und Fortbildungsformen und der darauf
inhaltlichen Ansprüche erkennen. Die Metho- ausgerichteten Forschungstätigkeit entgegen-
dischen Prinzipien (Apelt 1980, 3ff.) sollten zukommen. Auf der Planungsebene, insbe-
dem Lehrenden eine Hilfe sein, einen erfolg- sondere in der curricularen Arbeit, erwies
reichen kommunikativen Fremdsprachen- sich die Erfassung und Beschreibung hand-
unterricht zu erteilen. Als Leitlinien für den lungsrelevanter Sprachmittel/-strukturen als
Deutsch als Fremdsprache-Unterricht wur- wertvolle Orientierung für die Auswahl und
den z. B. in der ersten und zu DDR-Zeiten Systematisierung des Sprachstoffes; vor allem
einzigen veröffentlichten Didaktik des Fremd- zur Entwicklung produktiver Fertigkeiten
sprachenunterrichts ⫺ Deutsch als Fremdspra- (vgl. Wir diskutieren; Kommunikationsverfah-
che (Desselmann/Hellmich 1981, 28ff.) außer ren in Wissenschaft und Technik). Auf der
schulpolitischen und allgemeinen pädagogi- Prozessebene bildeten die Stufenmodelle der
schen Erziehungs- und Bildungsaufgaben sowjetischen Lern- und Gedächtnispsycholo-
fremdsprachendidaktische Prinzipien für Ziel- gie (Leontjew 1979, 101ff.; Galperin 1980,
konzeptionen, Stoffauswahl und Prozessge- 77ff.) die Integrationsbasis für aufgabenbezo-
staltung formuliert. Wenngleich auch Prozess gene Sprachstoffstrukturierungen zur syste-
und Ergebnisse der Prinzipien-Diskussion ein matischen Weiterentwicklung sprachkommu-
sprachdidaktisch lineares Denken und Han- nikativen Könnens (Lehrmaterialreihe des
deln im DDR-Fremdsprachenunterricht ver- IWD). Allerdings bestätigte die lehrpraktische
hindern sollten, so reduzierte sich deren tat- Nutzung von Ergebnissen der funktional-
sächliche Wirkung auf den Status von Postu- kommunikativen Sprachbeschreibung im
laten, deren Operationalisierung in der Praxis Sprachunterricht immer wieder die Grenzen
noch nicht zu bewältigen war, wohl aber in kommunikativ-linguistischer Beschreibungen
der fachwissenschaftlichen Reflexion kritisch sprachlichen Handelns, die den „Weg vom glo-
verarbeitet wurde. Sie förderte u. a. die Her- balen Kommunikationsmodell zum Sprach-
ausbildung eines deduktiv-multifaktoriellen system … ohne Entwicklung spezifischer
Fachdenkens einer ganzen Wissenschaftlerge- (grammatischer) Teiltheorien“ (Helbig 1991,
neration und verstärkte das Interesse an einer 72) gehen wollten, aber so ihren Anspruch auf
globalen Gesamttheorie von der sprachlichen eine sprachtätigkeits- und ⫺ systembezogene
Tätigkeit. Einige Fachvertreter glaubten die- Theoriebildung nicht einlösen konnten.
sen Anspruch in der funktional-kommunikati- Ende der 80er Jahre führten internationale
ven Sprachbeschreibung (FKS) verwirklicht Anforderungen und Entwicklungen zu neuen
zu sehen, denn diese stellte sich das Ziel, das Konzepten in Ausbildungsfächern/-program-
„Zusammenwirken der sprachlichen Mittel men (z. B. Auslandsgermanistik für Mutter-
der verschiedenen Ebenen des Sprachsystems sprachler/fachspezifische Informatik). Die in-
und ihre wechselseitige Bedingtheit und Ab- terkulturelle Orientierung spiegelte sich in
hängigkeit unter dem Aspekt der intendierten der Landeskunde durch eine verstärkte Ein-
kommunikativen Leistung“ (FKS 1981, 11/ beziehung kulturkontrastiver Komponenten
12) zu erfassen. wider. Die Lernerorientierung erhielt in der
94 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

sprachpraktischen und phonetischen Aus-, den europäischen Institutionen als gleich-


Fort- und Weiterbildung eine deutliche Beto- berechtigte Arbeits-, Verkehrs- und Ver-
nung, indem Lernstrategien/-techniken zur handlungssprache zu stärken.
Selbststeuerung individueller Erwerbspro- ⫺ Eine Fachausbildung Deutsch als Fremd-
zesse bewusst gemacht und zunehmend in die sprache für Beschäftigte in europäischen
Lehrwerke integriert wurden. In der Unter- Institutionen zu entwickeln.
richtstechnologie begann der Übergang zum ⫺ Das Bewusstsein zu stärken, dass Deutsch
video- und computergestützten Fremdspra- eine international gepflegte Publikations-
chenlernen. Das Bemühen einzelner Fachver- sprache und internationale Kongressspra-
treter um eine internationale Perspektive der che ist.
Fachprofilierung und um deren bedarfsge- ⫺ Den Erwerb der deutschen Sprache als
rechten Ausbau im nationalen Rahmen Fremd- und Zweitsprache im In- und Aus-
konnte allerdings weder die Tatsache einer land zu fördern (Dresdner Erklärung
weitgehenden Isolierung von der internatio- 1995).
nalen Fachkommunikation und -publizistik
ausgleichen noch eine flächendeckende Neu- Die Bedeutung der deutschen Sprache und
orientierung in der Lehre, Forschung sowie das Prinzip Mehrsprachigkeit werden damit
Fort- und Weiterbildung im Deutschen als ausdrücklich betont.
Fremdsprache auslösen; ganz zu schweigen Im Bereich des Goethe-Instituts wurde die
vom Abstand materiell-technischer Ausstat- Einigung als Chance begriffen, in den neuen
tung der Deutsch als Fremdsprache-Institu- Bundesländern neue Institute zu eröffnen.
tionen im Vergleich zu westeuropäischen Als erstes war dies Dresden im Jahre 1996,
Standards. Ohne Zweifel beförderte jedoch im Jahre 1997 kam Weimar hinzu, wo erst-
die Zunahme internationaler Kontakte in mals vor allem ein starker Anteil kultureller
diesem Jahrzehnt staatliche Maßnahmen zur Informationen in den Kursen zu registrieren
Herauslösung des Faches aus der Bevormun- ist. Insgesamt bietet das Goethe-Institut neue
dung traditioneller Wissenschaften, insbeson- Typen von Sprachkursen an: Superintensiv-
dere der germanistischen Literaturwissen- kurse mit 40 Unterrichtseinheiten pro Wo-
schaft in ihrer historisch-philologischen Aus- che, Sonderkurse (Firmenkurse, Senioren-,
richtung. Auch trug die Anerkennung des Jugend- und Kinderkurse) sowie verstärkt
Faches und seiner Vertreter im Ausland Fachsprachenkurse. Das Institut verzeichnet
zur Stärkung einer einzelwissenschaftlichen 1996/97 nach Jahren der Stagnation erstmals
Identität im Inland bei, so dass zunehmend wieder eine erhöhte Nachfrage nach Sprach-
eine Veränderung der Situation eingefordert kursen.
wurde.

8. Theoretische Klärungsprozesse
7. Deutsch als Fremdsprache nach der
deutschen Einigung Nach Jahren eines stürmischen Aufbruchs ist
die Disziplin Deutsch als Fremdsprache in
Nach 1989 ist auf allen Ebenen ein starker Forschung und Lehre in eine Phase der Kon-
Wunsch zur Überwindung des bislang Tren- solidierung und inhaltlichen Klärung einge-
nenden zu beobachten. Sowohl bei der Beset- treten. Charakteristisch dafür ist die enga-
zung der verantwortlichen Funktionen in den
gierte Diskussion in der Fachzeitschrift
Verbänden wie bei der inhaltlichen und orga-
„Deutsch als Fremdsprache“: Im Wesentli-
nisatorischen Ausgestaltung von Studiengän-
chen geht es bei der Forschung um die
gen in den Beitrittsländern kooperierten
Fachvertreter und -vertreterinnen aus Ost- Punkte:
und Westdeutschland zumeist vertrauensvoll ⫺ Das Verhältnis des Deutschen als Fremd-
miteinander. Von Bedeutung sind daneben sprache zu den Bezugs- bzw. Grundlagen-
vor allem Erklärungen zur Sprachpolitik und wissenschaften wie Germanistische Lingui-
zur internationalen Bedeutung der deutschen stik, Lernpsychologie, Soziologie, Sprach-
Sprache. So heißt es in der Dresdner Erklä- lehrforschung, Kultur- und Landeskunde
rung des Fachverbandes Deutsch als Fremd- sowie Neurowissenschaften.
sprache aus dem Jahre 1995, „Die politisch ⫺ Das Verhältnis der Teilbereiche der Diszi-
Verantwortlichen werden aufgefordert plin untereinander: Didaktik, angewandte
⫺ das Deutsche im europäischen Sprachen- Linguistik, Literaturwissenschaft und Lan-
wettbewerb durch seine Verwendung in deskunde.
7. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Deutschland 95

⫺ Ist die Disziplin ein Teilbereich der Ger- In der Lehre geht es vor allem um die Ent-
manistik (gewissermaßen ihr „viertes wicklung neuer Kurstypen (Intensivkurse,
Standbein“) oder ein fremdsprachenwis- fachsprachliche Kurse, Senioren-, Jugend-
senschaftliches Fach? und Kinderkurse) sowie um video- und com-
⫺ Wie lassen sich Erkenntnisse der For- putergestützte Deutschkurse.
schungen zum ungesteuerten Erwerb des
Deutschen als Zweitsprache auf den (ge-
steuerten) Unterricht übertragen? 9. Kulturbegriff
⫺ Welcher Kulturbegriff liegt dem Prinzip
der Interkulturellen Erziehung im Fach Als Lernprinzip gilt grundsätzlich das inter-
Deutsch als Fremdsprache zu Grunde? kulturelle Lernen, also das auf der Basis der
(vgl. Blei 1994; Götze/Suchsland 1996; Gleichrangigkeit der Kulturen sowie des er-
Henrici 1996; Königs 1996; Helbig 1997; weiterten Kulturbegriffs organisierte wechsel-
Hirschfeld 1997; Neuner 1997; Glück seitige Lernen von Angehörigen unterschied-
1998) licher Kulturen. Dabei ist, ebenso wie in der
Forschung, der Kulturbegriff in die Diskus-
Dabei hat sich weit gehende Einigkeit über sion geraten. War es seit den 70er Jahren na-
die folgenden Punkte herauskristallisiert: hezu umstritten, dass der erweiterte Kulturbe-
⫺ Deutsch als Fremdsprache ist ein einheitli- griff ⫺ Kultur als die Summe aller Hervor-
ches Fach, in dessen Mittelpunkt die bringungen der menschlichen Physis wie des
Theorie und Praxis des Erwerbens/Ler- Geistes ⫺ das intellektuelle Rüstzeug der Ak-
nens und Lehrens der Fremdsprache tivitäten im Deutschen als Fremdsprache lie-
Deutsch steht. ferte (Götze 1995b), plädierte der Generalse-
⫺ Den grundständigen Studiengängen und kretär des Goethe-Instituts, Joachim Sarto-
nicht den Aufbau- und Ergänzungsstu- rius, für einen ästhetisch akzentuierten und
diengängen des Faches gehört die Zu- damit engeren Kulturbegriff, der seinen Nie-
kunft, um die Disziplin akademisch fest derschlag in der Programmarbeit wie in ei-
zu etablieren. nem stärker literarisch orientierten Sprach-
⫺ Das Fach hat gleichrangige Theorie- und unterricht an Ausländer im In- und Ausland
Praxisanteile. finden solle (Sartorius 1996). Die Diskussion
⫺ Deutsch als Fremdsprache steht als eigen- hält an.
ständige Disziplin im Schnittpunkt zahl- In 10 Thesen zur Auswärtigen Kulturpoli-
reicher Bezugswissenschaften und ist so- tik äußerte sich Bundesaußenminister Kinkel
mit kein Anwendungsgebiet einer dieser 1997 zu Zielsetzungen der zukünftigen Ar-
Disziplinen. beit. Danach sollen die Kulturarbeit im Aus-
⫺ Deutsch als Fremdsprache sollte seine land deutlicher als bisher von wirtschaftli-
Eigenständigkeit selbstbewusst verteidi- chen Interessen des Landes bestimmt sein, die
gen und sich nicht durch andere Fächer bisherige relative Autonomie der Goethe-In-
und/oder modische Entwicklungen verein- stitute zugunsten der Entscheidungen der
nahmen lassen. Botschafter weiter eingeschränkt werden, re-
⫺ Deutsch als Fremdsprache dient der Völ- präsentative Kulturereignisse statt kontinu-
kerverständigung und dem Dialog der ierlicher Zusammenarbeit mit den Partnern
Kulturen. im Gastland dominieren, Spracharbeit mit
Keine Einigkeit besteht in der Frage, ob regionalen Schwerpunkten (Mittelosteuropa
Deutsch als Fremdsprache als „viertes Stand- und Russland, Asien) im Mittelpunkt stehen,
bein“ Teil der Germanistik (Götze/Suchsland der Wissenschaftleraustausch gefördert und
1996) oder aber ein fremdsprachenwissen- die Mittlerorganisationen (Goethe-Institut
schaftliches bzw. -didaktisches Fach (Henrici u. a.) organisatorisch „verschlankt“ werden
1996; Königs 1996; Neuner 1997) sei. Uneinig (Kinkel 1997). Das hieße im Klartext eine
verläuft die Diskussion auch darüber, ob Abkehr von den Leitvorstellungen der aus-
Deutsch als Fremdsprache eine wissenschaftli- wärtigen Kulturpolitik, wie sie Ralf Dahren-
che Disziplin aufgrund der vier Kriterien Ge- dorf (Dahrendorf 1970) entwickelt hatte und
genstand, Erkenntnisinteresse, Forschungs- denen das Goethe-Institut und die Bundesre-
methoden und Theoriebildungsprozesse sei publik Deutschland in den vergangenen Jah-
oder nicht. Die Diskussion ist im Jahre 2000 ren ihre Glaubwürdigkeit und ihre Erfolge
weiter im Gang. verdankten.
96 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

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8. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Österreich 97

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8. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache und des


Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Unterrichts in Österreich

1. Einleitung 1. Einleitung
2. Periodisierung
3. Entwicklungen in der Zeit vor 1945 Die Geschichte des Faches Deutsch als
4. Der Zeitraum von 1945⫺1980 Fremdsprache in Österreich ist jung, denn
5. Die Gründerphase von Deutsch als
das Fach konnte sich im Kontext des öster-
Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache
in Österreich ab Anfang der 80er Jahre
reichischen Bildungssystems endgültig erst
6. Deutsch als Fremdsprache in den 90er Anfang der 90er Jahre etablieren. Ungeachtet
Jahren dessen existierte lange zuvor bereits eine grö-
7. Offene Fragen und Ausblick ßere Zahl von Aktivitäten und Institutionen.
8. Literatur in Auswahl Zu unterscheiden ist dabei zwischen der Ent-
98 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

wicklung von Deutsch als Fremdsprache und an allen Pflichtschulen der Habsburger-Mon-
Deutsch als Zweitsprache, die auf Grund un- archie unterrichtet wurde, verhinderten die
terschiedlicher organisatorischer Zuständig- Ausbildung und Etablierung von Ansätzen ei-
keiten im Ausbildungsbereich ab Anfang der nes Faches Deutsch als Fremdsprache in den
80er Jahre eine voneinander weitgehend un- letzten Jahrzehnten des Bestehens der Mon-
abhängige Entwicklung genommen haben. archie. Dies geschah trotz der Tatsache, dass
Der Begriff „Deutsch als Fremdsprache“ noch 1923/24 35% der Hörer an österreichi-
wird im Folgenden zugleich als Oberbegriff schen Universitäten Ausländer und 19% aller
für beide Bereiche verwendet. Hörer solche mit nicht deutscher Mutterspra-
che waren. Der Hauptgrund war, dass die
meisten Studenten bereits gute bis sehr gute
2. Periodisierung Deutschkenntnisse hatten, wenn sie mit dem
Studium begannen. Die Vermittlung von
Nimmt man eine vorsichtige Periodisierung
Deutsch in zweisprachigen Gebieten der
der Entwicklungsphasen von Deutsch als
Monarchie erfolgte außerdem so gut wie aus-
Fremdsprache in Österreich vor, lassen sich
schließlich durch zweisprachige Lehrer, die
zeitlich vier Abschnitte erkennen: 1) Die Zeit
ihren Unterricht tageweise abwechselnd in
vor 1945, die durch eine Fortschreibung der
Deutsch und in den jeweiligen Sprachen der
Situation am Ende der k. u. k. Monarchie ge-
Nationalitäten durchführten und in der Regel
kennzeichnet war; 2) Der Zeitraum 1945⫺
gute Kenntnisse in beiden Sprachen aufwie-
1980, der in die erste Wiederaufbauphase der
sen.
Universitäten bis etwa 1962 und in die Kon-
In der Ersten Republik kam es nicht zu-
solidierungsphase bis Ende der 70er Jahre
letzt auf Grund der politischen Umstände zu
unterteilt ist. Dieser Zeitraum ist markiert
einem schnellen Rückgang der Zahlen nicht
durch die Gründung des Österreichischen
deutschsprachiger Studierender. Zeitgenössi-
Auslandsstudentendienstes (ÖAD) im Jahre
sche Berichte aus der Zeit von 1890⫺1935
1962 und die darauf folgende Dominanz die-
sprechen vom starken Assimilationsdruck,
ser Organisation bis etwa 1980, die erst durch
dem besonders die Einwanderer aus dem
studentische Proteste und durch die allmäh-
heutigen Tschechien und der Slowakei ausge-
liche Änderung der Organisationsstrukturen
setzt waren (vgl. dazu John/Lichtblau 1990).
nach und nach gemildert wurde; 3) Die
Da Österreich außerdem zu einem außenpoli-
Gründerphase von Deutsch als Fremdspra-
tisch inaktiven und auf sich bezogenen Klein-
che und Deutsch als Zweitsprache in Öster-
staat geworden war, verhinderte dies (im Ge-
reich fällt in die Zeit von 1979⫺1990, in der
gensatz zu Deutschland, wo 1932 der Vorläu-
intensiv an verschiedenen Orten und Institu-
fer des Goethe-Instituts gegründet worden
tionen versucht wurde, für die aufgetretenen
war) jeden Ansatz zur Herausbildung von
Probleme mit nicht deutschsprachigen Kin-
dern in den Schulen und für den Bedarf an Deutsch als Fremdsprache, so dass vor 1945
ausgebildeten Deutsch als Fremdsprache- keinerlei Aktivitäten vorhanden waren. We-
Lehrern und Lektoren Lösungen zu finden. sentlich war auch der Umstand, dass Öster-
4) Die Zeit seit 1990 ist als die endgültige Pe- reich im Gegensatz zu anderen europäischen
riode der Etablierung von Deutsch als Ländern außerhalb Europas keine Territo-
Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache rien besaß und wirtschaftlich auf Mitteleu-
anzusehen. Einschneidende Ereignisse waren ropa orientiert war, so dass es von Seiten der
einerseits die Gründung des Hochschullehr- traditionellen Außenbeziehungen keine un-
gangs Deutsch als Fremdsprache in Graz, die mittelbare Notwendigkeit gab, Institutionen
Einrichtung zweier Lehrkanzeln (jeweils in für die Vermittlung von Fremdsprachen-
Wien und Graz) sowie die Einführung des kenntnissen im Deutschen einzurichten.
Zusatzlehrplans Deutsch als Zweitsprache
für Pflichtschulen. Diese Abschnitte sollen im 4. Der Zeitraum von 1945⫺1980
Folgenden charakterisiert werden.
4.1. Die Studienvorbereitung ausländischer
Studierender als Beginn des Deutschen
3. Entwicklungen in der Zeit vor 1945 als Fremdsprache in Österreich
Die sprachnationalistischen Auseinanderset- Deutsch als Fremdsprache kommt in diesem
zungen ab etwa 1880 und der Umstand, dass Zeitraum vorerst überhaupt nur im Bereich
Deutsch in allen Gebieten (außer in Ungarn) der Studienvorbereitung nicht deutschspra-
8. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Österreich 99

chiger Studierender vor. Denn nach der er- dium in Österreich schwierig und unattraktiv
sten Aufbauphase, die bis zur Unabhängig- machte. Hinzu kam, dass die am Vorstudien-
keit des Landes im Jahre 1955 reichte, kam lehrgang unterrichtenden Lehrer in keiner
es universitär zu einem rapiden Anstieg aus- Weise auf den Unterricht in Deutsch als
ländischer Hörer. Dies hing vor allem damit Fremdsprache bzw. jenen mit nicht deutsch-
zusammen, dass die österreichischen Univer- sprachigen Lernern vorbereitet waren, da
sitäten auf viele Studenten aus südosteuropä- entsprechende Ausbildungen fehlten. All das
ischen Ländern eine große Anziehungskraft führte für viele nicht deutschsprachige Stu-
ausübten. Viele der angestrebten Studien gab dierende zu erheblichen Schwierigkeiten.
es in deren Heimatländern nicht oder, auf
Grund der Kriegsereignisse, nicht mehr. Vor 4.2. Probleme im Bereich der
allem technische Studien und Studien an Studienvorbereitung und
Kunst- und Musikhochschulen waren bei Lösungsversuche
ausländischen Hörern stark gefragt. Ihr Im Jahre 1974 kam es auf Grund dieser Miss-
Anteil betrug um 1960 im Durchschnitt aller stände zu massiven studentischen Protesten
Universitäten rund 30%, an manchen Techni- und, nach wochenlangen Streiks, zu einer or-
schen Universitäten wie in Graz und an den ganisatorischen Neuordnung durch die Er-
Kunst- und Musikhochschulen sogar 50% richtung interuniversitärer Kommissionen,
und mehr. Dies veranlasste die Universitäten die in Wien bereits 1977 sowie in Graz 1982
zur Gründung des Österreichischen Aus- ihre Arbeit aufnahmen. An den anderen Uni-
landsstudentendienstes (ÖAD), der vor allem versitätsorten blieb die Situation jedoch un-
beauftragt wurde, die ausländischen Studie- verändert. Dieser Zeitpunkt markiert auch
renden zu betreuen und Deutschkurse einzu- den Anfang vom Ende der Dominanz des
richten, da es zu erheblichen Schwierigkeiten Österreichischen Auslandsstudentendienstes,
bei der Integration der nicht deutschsprachi- der den Bereich Deutsch als Fremdsprache
gen Studierenden gekommen war. In der für sich reklamierte und jede Etablierung des
Folge wurden nach und nach in allen Univer- Faches Deutsch als Fremdsprache an den
sitätsstädten die sog. „Vorstudienlehrgänge“ Universitäten bis Ende der 80er Jahre im Zu-
gegründet. Sie sind damit die älteste Institu- sammenspiel mit den mit ihm verbundenen
tion, an der in Österreich Deutsch als Fremd- Beamten des Wissenschaftsministeriums er-
sprache-Unterricht kontinuierlich erteilt folgreich verhinderte. Lange Zeit trug dazu
wird, und entsprechen in vielem den Studien- auch der Umstand bei, dass die traditionelle
kollegs in Deutschland. Heute bestehen je- Germanistik kein Interesse an Deutsch als
doch nur mehr die Vorstudiengänge in Graz Fremdsprache zeigte. Das erklärt mögli-
und Wien. cherweise, warum von der Internationalen
Der Österreichische Auslandsstudenten- Deutschlehrertagung, die 1971 in Salzburg
dienst gab aber nicht nur Deutschunterricht, stattgefunden hatte, keine Impulse zur Eta-
es wurden dieser Organisation auch die Ver- blierung von Deutsch als Fremdsprache in
waltung von Stipendien und der anderen Österreich ausgingen.
Auslandsaktivitäten der österreichischen Uni- Die Periode der 60er und 70er Jahre ist da-
versitäten übertragen, was dieser Organisa- her durch die ausschließliche Dominanz des
tion im universitären Kontext eine zentrale Österreichischen Auslandsstudentendienstes
Position einbrachte. Eine ihrer Aufgaben war und das völlige Fehlen von Aktivitäten der
es unausgesprochen auch, den als zu massiv österreichischen Germanistik in Bezug auf
empfundenen Zustrom ausländischer Studie- die Etablierung von Deutsch als Fremdspra-
render zu drosseln. Mittels ihres schulisch or- che gekennzeichnet, was angesichts ihrer ex-
ganisierten Unterrichts und einer rigiden Or- trem starken historisch-linguistischen und li-
ganisation erfüllten die Vorstudienlehrgänge terarischen Ausrichtung nicht überrascht.
eine gewisse Zeit auch diese Funktion. Denn Deutsch als Fremdsprache gab es im Zeit-
die nicht deutschsprachigen Studierenden raum 1960⫺1980 universitär nur in schulisch
mussten nicht nur Deutschkenntnisse nach- gestalteten Kursen des Österreichischen Aus-
weisen, um das Studium aufnehmen zu kön- landsstudentendienstes, in so genannten
nen, sondern darüber hinaus ⫺ je nach Her- „Sprachkursen für Hörer aller Fakultäten“
kunftsland ⫺ in verschiedenen Fächern viele und außeruniversitär (wenn auch zuweilen
Nachprüfungen und damit faktisch eine mit Universitäten verbunden) in vereinzelten
zweite Matura ablegen, was zu jahrelangen Sommerkursen und in ganz wenigen privaten
Studienverzögerungen führte und das Stu- Sprachschulen. Vor der Errichtung der Vor-
100 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

studienlehrgänge gab es die Möglichkeit zum versuche“ eingerichtet werden mussten. Mit
Deutschlernen lediglich im Rahmen der so dem weiteren Zuzug ausländischer Arbeits-
genannten „Sprachkurse für Hörer aller Fa- kräfte und der Polenkrise Anfang der 80er
kultäten“, die teilweise auch weiter bestanden Jahre verschärfte sich die Situation in den
bzw. an neugegründeten Universitäten wie in städtischen Ballungszentren weiter, so dass
Klagenfurt erst später eingerichtet wurden. ab Anfang der 80er Jahre umfassende schuli-
Das Ausbildungsangebot betrug zwischen sche Integrationsmaßnahmen für nicht
vier und 40 Semesterwochenstunden. Kenn- deutschsprachige Kinder notwendig wurden.
zeichnend für die Situation der Studienvorbe-
reitung ausländischer Studierender war die
5. Die Gründerphase von Deutsch als
organisatorische und strukturelle Heterogeni-
tät, die sich bis heute nicht geändert hat. In Fremdsprache und Deutsch als
Innsbruck und Klagenfurt existieren dafür Zweitsprache in Österreich ab
Hochschullehrgänge, in Salzburg Deutsch- Anfang der 80er Jahre
kurse am Germanistikinstitut, in Wien und
Graz Vorstudienlehrgänge und in Linz Kurse 5.1. Der Aufbau einer Lehrerausbildung
am Sprachzentrum der Universität. Ein bun- Deutsch als Fremdsprache
deseinheitlicher Ausbildungsrahmen fehlt, da Die 80er Jahre können als Pionierjahre von
die Studienvorbereitung in den autonomen Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als
Verfügungsbereich der jeweiligen Universität Zweitsprache in Österreich angesehen wer-
fällt und hinsichtlich des Stundenausmaßes den. An verschiedenen Orten und in verschie-
und der Anforderungen der sog. Hochschul- denen Bereichen wurden Anstrengungen zur
sprachprüfung verschieden geregelt wird. Etablierung des Faches unternommen. Kenn-
Weitgehende Übereinstimmung besteht zwi- zeichnend für die Situation von Deutsch als
schen den Vorstudienlehrgängen in Graz und Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache
Wien, die Mitte der 80er Jahre entsprechende war, dass es eine große Zahl von Deutsch als
Ausbildungspläne verabschiedeten (vgl. u. a. Fremdsprache-Lernern und eine größer wer-
Muhr 1984) und in Wien von etwa 700 und dende Zahl schulischer und außerschulischer
in Graz von etwa 300 Studierenden besucht Deutsch als Fremdsprache-Aktivitäten gab,
werden. Ausbildungseinrichtungen für Deutsch als
Fremdsprache-Lehrer und Einrichtungen zur
4.3. Deutsch als Zweitsprache ab den 70er Integration nicht deutschsprachiger Schüler
Jahren und Zuwanderer jedoch fehlten. Ein weiteres
In der Folge des Wirtschaftsaufschwungs An- Problem war, dass Österreich auf Grund
fang der 70er Jahre kam es auch in Österreich zahlreicher bilateraler Kulturabkommen eine
zu einem starken Anwachsen ausländischer stetig größer werdende Zahl von Auslands-
Arbeitskräfte, die überwiegend aus dem da- lektoren (Mitte der 80er Jahre waren es be-
maligen Jugoslawien und aus der Türkei reits etwa 70 Lektoren) entsandte, die beauf-
stammten. Kennzeichnend für die Situation tragt waren, im jeweiligen Land „österreichi-
der Ausländerbeschäftigung in Österreich sche Literatur und deutsche Sprache“ zu ver-
war ihre regionale Konzentration auf Vorarl- mitteln, ohne dass jedoch eine entsprechende
berg, den Großraum Salzburg, Linz und institutionelle und materielle Unterstützung
Wien. In den entsprechenden Bundesländern in Form von Lehrmaterialien und Serviceein-
kam es in der Folge daher auch zu ersten richtungen vorhanden gewesen wären. An-
Problemen mit den nicht deutschsprachigen ders als in der Bundesrepublik Deutschland
Kindern der sog. „Gastarbeiter“. Bereits 1973 oder in der DDR waren in Österreich zu die-
reagierte das Bundesland Salzburg auf diese ser Zeit drei Ministerien (Außen-, Wissen-
Situation mit der Einrichtung so genannter schafts- und Unterrichtsministerium) für die
„bunter Klassen“, in welchen die nicht Auslandskultur zuständig. Auch fehlte eine
deutschsprachigen Kinder einer Schule ge- entsprechende Vorbereitung auf den Aus-
meinsam unterrichtet wurden. Das Modell landseinsatz in Form einer Deutsch als
war jedoch wenig effektiv und wurde bald Fremdsprache-Ausbildung (einwöchige Ein-
wieder aufgegeben. Erschwerend kam hinzu, schulungskurse gab es zwar an der Universi-
dass weder Schulen noch Schulgesetze auf tät Klagenfurt, sie waren aber nicht ausrei-
Kinder ohne Deutschkenntnisse vorbereitet chend). All das führte zu wiederholter Kritik
waren und alle Maßnahmen bis Ende der und zu Auseinandersetzungen mit den zu-
80er Jahre daher provisorisch als sog. „Schul- ständigen Ministerien. Erschwerend kam
8. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Österreich 101

hinzu, dass eine explizit formulierte Aus- engste verbundenen Österreichischen Aus-
landskulturpolitik in Form einer parlamenta- landsstudentendienst) gekennzeichnet waren.
risch abgesicherten Entschließung fehlte. Die Im Mittelpunkt dieses Machtkampfes stand
Bemühungen konzentrierten sich daher vor die Weigerung, Deutsch als Fremdsprache an
allem darauf, eine Etablierung des Faches den Universitäten in Form von organisato-
durch Einrichtung von Lehrerausbildungs- risch regulär verankerten Lehrerausbildun-
einrichtungen zu erreichen. Um die Wende zu gen zu etablieren.
den 80er Jahren hatte sich in den städtischen Allerdings hatten die Auseinandersetzun-
Ballungszentren außerdem der Integrations- gen auch ihr Gutes, da die Germanistikinsti-
druck auf die Pflichtschulen verstärkt und tute auf den Bereich Deutsch als Fremdspra-
andererseits kam es in verschiedenen Univer- che aufmerksam wurden und diesen als Zu-
sitätsstädten wie Klagenfurt, Graz, Wien und kunftschance erkannten. Im Jahre 1985 kam
Salzburg zur Einrichtung von Universitätsab- es auf Grund einer gemeinsamen Initiative
kommen für Deutschlernende. Diese waren von Graz, Wien und Klagenfurt zu einem er-
zwar häufig aus touristischen Gründen einge- sten Treffen der Gesamtstudienkommission
richtet worden, wurden von einer jüngeren Germanistik, bei dem die Einrichtung eines
Generation engagierter Universitätslehrer je- Studiums Deutsch als Fremdsprache bespro-
doch als Chance zum Aufbau von Lehrer- chen wurde. Am Ende standen elf gesamt-
ausbildungseinrichtungen für Deutsch als österreichische Kommissionstreffen, die im
Fremdsprache und zur akademischen Eta- April 1987 schließlich zur Formulierung eines
blierung des Faches erkannt. Die Verbindung gemeinsamen Ausbildungsplans führten. Er
zwischen Sommerkursen und Lehrerausbil- sah ein viersemestriges Aufbaustudium mit
dung gelang in substantiellem Ausmaß vor- rund 40 Semsterwochenstunden und einer
erst aber nur in Klagenfurt und Graz, in ge- Abschlussprüfung vor, das im Anschluss an
wisser Hinsicht auch in Innsbruck, wo der ein philologisches Studium (in erster Linie ein
Einfluss der Zweisprachigkeitssituation in Lehramtsstudium) zu absolvieren und mit ei-
Südtirol spürbar wurde. Ein wesentliches nem staatlich anerkannten Diplom verbun-
Hindernis für die Errichtung einer Deutsch den gewesen wäre (vgl. Muhr 1987). Die
als Fremdsprache-Lehrerausbildung war das Gründe für die Wahl dieses Ausbildungsgan-
tiefe Unverständnis auf Seiten der zuständi- ges waren (nach langen Diskussionen) die
gen Ministerien. Ein weiteres Problem be- starke Abhängigkeit des österreichischen Ar-
stand darin, dass die Auslandslektoren im beitsmarktes für Lehrer im Allgemeinen und
Zuge ihrer Bewerbung um ein Lektorat stets von Deutsch als Fremdsprache-Lehrern im
ein Forschungsthema präsentieren mussten, Besonderen von staatlich vergebenen Stellen
an dem sie während ihres Auslandsaufenthal- sowie die stark eingeschränkten Arbeitsmög-
tes arbeiten sollten. Diese Argumentation ließ lichkeiten im nicht-staatlichen Bereich. Hinzu
eine Deutsch als Fremdsprache-Lehrerausbil- kommt, dass Lektorenstellen zeitlich befristet
dung als überflüssig erscheinen, da die Lekto- sind (fünf Jahre) und eine Reintegration von
rate auf drei Jahre befristet sein sollten und Personen ohne Lehrbefähigung für den Un-
ihre Tätigkeit nicht primär der Vermittlung terricht an österreichischen Schulen fast un-
des Deutsch als Fremdsprache gewidmet sein weigerlich in die Arbeitslosigkeit geführt
sollte, sondern dem bei der Bewerbung ange- hätte. Die künftigen Deutsch als Fremdspra-
gebenen Forschungsvorhaben, das aber für che-Lehrer sollten daher möglichst eine Lehr-
kaum jemanden die wirkliche Motivation für amtsprüfung haben und die Deutsch als
einen Auslandsaufenthalt darstellte. Fremdsprache-Kenntnisse als Zusatzqualifi-
Schon dieses Detail zeigte, wie hemmend kation erwerben, um mehrere berufliche
die Politik des zuständigen Wissenschaftsmi- Standbeine zu haben. Zur Einrichtung eines
nisteriums für die Errichtung einer universi- entsprechenden Ausbildungsganges kam es
tären Deutsch als Fremdsprache-Lehreraus- jedoch trotz der gemeinsamen Initiative
bildung war, das stets danach trachtete, das nicht, da das zuständige Ministerium aus
Monopol des Österreichischen Auslandsstu- Kostengründen lediglich bereit war, diese an
dentendienstes im Bereich Deutsch als zwei Universitätsstandorten einzurichten.
Fremdsprache aufrechtzuerhalten. Man kann Keines der fünf Germanistikinstitute wollte
heute rückblickend feststellen, dass die 80er jedoch zurückstehen. Zu diesem Zeitpunkt
Jahre von der Auseinandersetzung zwischen gab es einzelne Lehrveranstaltungen zur
engagierten Universitätslehrern und der Mi- Deutsch als Fremdsprache-Lehrerausbildung
nisterialbürokratie (und dem mit ihr aufs in Innsbruck, Salzburg, Klagenfurt und
102 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

Graz. Während Klagenfurt auf eine gewisse an anderen Institutionen Arbeit fanden und
Kontinuität im Ausbildungsbereich verwei- bald auch in den Lehrveranstaltungen zur
sen konnte, aber über relativ wenige Lehrver- Lehrerausbildung und in Fortbildungssemi-
anstaltungen verfügte, existierte in Graz be- naren in osteuropäischen Ländern tätig wa-
reits seit dem Studienjahr 1988/89 ein ren, wo nach der „Wende“ kommunikative
Deutsch als Fremdsprache-Studiengang im Methoden des Fremdsprachenunterrichts von
Ausmaß von 22 Semesterwochenstunden, der großem Interesse waren. Ein ähnliches Sy-
allerdings keinen offiziellen Status hatte, da stem der Verbindung von Sommerkurs und
die Verankerung im Rahmen eines Studienge- Lehrerausbildung bestand auch in Klagen-
setzes fehlte. furt. Auch der Vorstudienlehrgang Wien er-
Einen Umschwung zu Gunsten der Eta- wies sich nicht zuletzt auf Grund seiner gro-
blierung der Deutsch als Fremdsprache-Aus- ßen Zahl von Studierenden (etwa 700) und
bildung brachte erst die IX. Internationale Lehrern als wichtige Institution für die Eta-
Deutschlehrertagung in Wien 1989 und die blierung von Deutsch als Fremdsprache in
im selben Jahr stattfindende „Wende“ in Ost- Österreich. An der Universität Innsbruck
europa. Beide „Ereignisse“ machten unmiss- wiederum bestanden enge Verbindungen zu
verständlich deutlich, dass Österreich auf Südtirol, da diese Universität zugleich als
dem Gebiet Deutsch als Fremdsprache nach südtiroler Landesuniversität fungiert. Dies
wie vor über keine gesetzlich abgesicherte bewirkte ein deutliches Engagement in Rich-
Lehrerausbildung verfügte und keine einzige tung auf kontrastive Linguistik und Zwei-
Deutsch als Fremdsprache-Lehrkanzel vor- sprachigkeitsforschung. In Salzburg und
weisen konnte, zugleich aber einem enormen Wien gab es zwar seit langer Zeit einen Som-
Bedarf an qualifizierten Deutsch als Fremd- merkurs, in Wien darüber hinaus auch Ganz-
sprache-Lehrern gegenüberstand, den es in jahreskurse in Form von „Internationaler
keiner Weise erfüllen konnte (allein im Jahre Wiener Hochschulkurse“. Diese wirkten je-
1990 wurden vierzig neue Lektorenstellen in doch nicht auf die Etablierung des Deutsch
Osteuropa eingerichtet). Auf Grund der ge- als Fremdsprache ein.
änderten Rahmenbedingungen und der Tat-
sache, dass in Graz de facto bereits ein Studi- 5.2. Die Gründung des Österreichischen
engang bestand, kam es 1990 zur Errichtung Lehrerverbandes Deutsch als
des „Hochschullehrgangs Deutsch als Fremd- Fremdsprache
sprache“ in Graz, der mit dem Winterseme- Ein wichtiger Impuls für Deutsch als Fremd-
ster 1990/91 seinen Betrieb aufnahm, bis sprache in Österreich ging auch von der
heute besteht und nach wie vor die einzige Gründung des Österreichischen Lehrerver-
formalisierte Deutsch als Fremdsprache-Leh- bands Deutsch als Fremdsprache im Jahre
rerausbildungseinrichtung auf Universitäts- 1984 aus, der 1985 seine erste Jahrestagung
ebene in Österreich ist. Seine Einrichtung abhielt und sich seither kontinuierlich und
steht in engem Zusammenhang mit der Ar- mit Erfolg um die Belange von Deutsch als
beitsgruppe Deutsch als Fremdsprache Graz, Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache
die 1983⫺1991 am Institut für Germanistik bemüht. Ein erster Höhepunkt dieser Arbeit
bestand und sich zuerst vor allem um die Ver- war die erfolgreiche Durchführung der IX.
besserung des Deutsch als Fremdsprache-Un- Internationalen Deutschlehrertagung in Wien
terrichts am Vorstudienlehrgang Graz und 1989, die für Deutsch als Fremdsprache in
um die Einstellung und Ausbildung neuer Österreich den endgültigen Durchbruch
Lehrkräfte bemühte. Dies geschah einerseits brachte. Die ÖDaF-Mitteilungen sind das
durch die Einrichtung von Lehrveranstal- Kommunikationsorgan für die östereichi-
tungen zur Lehrerausbildung Deutsch als sche Fachszene.
Fremdsprache sowie die Einrichtung der
Sommerkurse für Entwicklungshilfe-Stipen- 5.3. Deutsch als Zweitsprache in den 80er
diaten der Republik Österreich, die es mög- Jahren
lich machten, unterrichtspraktische Fertigkei- Während sich die strukturelle Situation von
ten zu erwerben. An diesen Kursen nahmen Deutsch als Fremdsprache gegen Ende der
in manchen Jahren bis zu 80 Stipendiaten 80er Jahre schrittweise verbesserte, stagnierte
und 30 Lehrkräfte teil. Diese Symbiose von jene von Deutsch als Zweitsprache weitge-
Theorie und Praxis führte sehr bald zur Aus- hend. Das hat nicht unwesentlich mit der
bildung einer größeren Zahl von Lehrerin- Trennung zwischen Pflichtschullehrer- und
nen, die einerseits im Vorstudienlehrgang und Gymnasiallehrerausbildung zu tun. Erstere
8. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Österreich 103

erfolgt traditionellerweise an den Pädagogi- bungslose Integration erreichte. Wesentlich


schen Akademien, ist schulpraktisch ausge- problematischer war die Situation in Wien,
richtet und ist dem Unterrichtsministerium wo der Ausländeranteil besonders groß ist
unterstellt, während Letztere an den Univer- und seit Mitte der 80er Jahre etwa 75% der
sitäten durchgeführt wird, vor allem theorie- in Österreich eingeschulten nicht deutsch-
und wissensbezogen aufgebaut ist und im sprachigen Kinder zur Schule gehen. Der
Wissenschaftsministerium ressortiert. Für je- durchschnittliche Ausländeranteil an Pflicht-
den Schultyp (Volks-, Haupt-, Sonderschule schulen stieg dort von 12,9% (11 889 Schüler)
und Mittelschule) ist eine eigene Lehramts- im Schuljahr 1981/82 auf 31,1% (24 763 Schü-
prüfung notwendig, so dass die gegenseitige ler) im Jahre 1992/93 (vgl. dazu Österreichi-
Durchlässigkeit der Ausbildungssysteme so sches Institut für Bildungsforschungs-Info 1/
gut wie nicht gegeben ist, was die Zusammen- 1993). Hinzu kommen noch hohe Konzentra-
arbeit der verschiedenen Lehrerausbildungs- tionen innerhalb des Stadtgebiets selbst: In
institutionen massiv erschwert. Der Kennt- fünf Wiener Gemeindebezirken lag der
niserwerb im Bereich Interkulturelles Lernen durchschnittliche Anteil nicht deutschspra-
und Deutsch als Zweitsprache wurde daher chiger Schüler bei 50% und darüber. Im sel-
in die Lehrerfortbildungsinstitute verlegt, ben Jahr besuchten insgesamt 55 000 Schüler
was von den bereits unterrichtenden Lehrern nicht deutscher Muttersprache Österreichs
vielfach dankbar angenommen wurde. Das Pflichtschulen, (davon allerdings nur 6858
gilt auch für die Schulberatungsstelle für die Unterstufe der Gymnasien), was durch-
Ausländer in Wien und das Interkulturelle schnittlich einem Anteil von 18% entspricht.
Zentrum am Pädagogischen Institut Wien, Anfang der 80er Jahre wurden, besonders
die Hilfestellungen anboten. in Wien, daher in vermehrter Zahl so ge-
Mit dem Studienjahr 1981/82 wurde an nannte „Begleitlehrer“ eingestellt, die den
den Pädagogischen Akademien auch das Klassenlehrern helfen sollten, das Problem
Wahlfach „Interkulturelles Lernen“ einge- der Vermittlung von Deutschkenntnissen
richtet, das künftigen Lehrern die Möglich- parallel zum regulären Unterricht zu lösen.
keit geben sollte, sich im Rahmen ihrer Aus- Das wurde teilweise auch erreicht; eine große
bildung zum Pflicht- oder Sonderschullehrer Untersuchung, die Mitte der 80er Jahre vom
auf den Unterricht mit nicht deutschsprachi- Institut für Höhere Studien zur Situation der
gen Schülern vorzubereiten. Dieses Fach be- Gastarbeiter durchgeführt wurde (vgl. Bau-
steht bis heute und umfasst Lehrveranstal- böck u. a. 1985, Fischer 1987), ergab jedoch,
tungen im Ausmaß von insgesamt 12 Seme- dass die schulischen Maßnahmen in keiner
sterwochenstunden, die auf zwei bis vier Se- Weise adäquat waren. Am deutlichsten wurde
mester verteilt werden. Es ist für Pflichtschul- dies am hohen Anteil ausländischer Kinder
lehrer nach wie vor die einzige Möglichkeit, in Sonderschulen (in Wien durchschnittlich
fremdsprachendidaktische Kenntnisse und 40%), die eigentlich als spezielle Schulform
Verfahren zur Integration nicht deutschspra- für die Integration behinderter Kinder, nicht
chiger Kinder im Rahmen der regulären Aus- aber für das Nachholen von Sprachkenntnis-
bildung an Pädagogischen Akademien zu er- sen konzipiert war und im österreichischen
werben. Sowohl der Umfang der Ausbildung Schulsystem stigmatisiert ist. Die Studie er-
als auch der Charakter eines freiwilligen Zu- gab außerdem, dass nur 24% der nicht
satzfaches bleiben jedoch problematisch, da deutschsprachigen Schüler einen Hauptschul-
es heute fast keine Pflichtschule ohne nicht abschluss in der vorgesehenen Zeit von neun
deutschsprachige Kinder gibt. Schuljahren erreichten, ein Drittel schloss die
In den Schulen selbst gab es Schwierigkei- Schule mit einer um ein Jahr verkürzten und
ten, die größer werdende Zahl von nicht ein Viertel sogar mit einer um zwei Jahre ver-
deutschsprachigen Kindern in den Unter- kürzten Schulbildung ab. Auch war der
richtsprozess zu integrieren. Dies hatte mit Anteil nicht deutschsprachiger Kinder im so
der großen Konzentration auf einige wenige genannten „2. Klassenzug“ (bis Mitte der
städtische Ballungsgebiete wie Wien, Salz- 80er Jahre) und später in den 2. und 3. Lei-
burg, Linz, Wels sowie den Großraum Feld- stungsgruppen der Hauptschule extrem hoch
kirch (Vorarlberg) zu tun. Das Bundesland (bis zu 70%, vgl. Fischer 1987), was überwie-
Vorarlberg löste dieses Problem einfach, in- gend in der mangelnden und ineffizienten
dem es die nicht deutschsprachigen Schüler Vermittlung des Deutschen begründet war.
doppelt zählte, die Höchstzahl der Schüler Die Berufschancen solcherart „Ausgebilde-
pro Klasse senkte und so eine relativ rei- ter“ waren entsprechend gering und führten
104 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

einerseits zur Einrichtung von Zusatzkursen praktizierten „Gastarbeiter“-modell notwen-


der Arbeitsämter, andererseits nahmen die dig, das so tat, als ob die nicht deutschspra-
Klagen derart überhand, dass auch die Schul- chigen Kinder lediglich ein vorübergehendes
verwaltungen reagieren mussten und Anfang „Problem“ darstellten. Deutlichstes Indiz da-
der 90er Jahre ein Reformschub eingeleitet für war die bis zum Jahre 1992 gültige
wurde, der nicht zuletzt auch durch den enor- Rechtslage, derzufolge alle Einschulungs-
men Zustrom an ausländischen Kindern in maßnahmen nicht deutschsprachiger Schüler
der Folge des Krieges in Ex-Jugoslawien not- als Schulversuch eingerichtet werden mussten
wendig wurde und zu einer Einrichtung und und die Anzahl der in diesem Rahmen einge-
Neustrukturierung des Unterrichts mit nicht schulten Kinder 10% der Gesamtzahl aller
deutschsprachigen Kindern führte. Schüler nicht überschreiten durfte (was zu-
Gegen Ende der 80er Jahre war die Situa- letzt allerdings ignoriert wurde). Ab 1992
tion von Deutsch als Fremdsprache und wurden diese Schulversuche in das Regel-
Deutsch als Zweitsprache in Österreich durch schulwesen übertragen (vgl. Satzke/Antoni/
eine rasante Entwicklung und zahlreiche Seitz/Reumüller 1992) und ein Lehrplanzu-
Maßnahmen und Aktivitäten gekennzeich- satz „Interkulturelles Lernen“ eingeführt, der
net, die in den vorangegangenen Jahren vor- dieses zum allgemeinen Unterrichtsprinzip
bereitet worden waren und jetzt zum Tragen erhob und auch die Förderung der Mutter-
kamen. sprache(n) verankerte. Wesentlich ist, dass
dieser Zusatzlehrplan lediglich sehr allgemein
formulierte inhaltlich-diaktische und lernor-
6. Deutsch als Fremdsprache in den ganisatorische Grundlagen und Rahmenbe-
90er Jahren dingungen definierte, nicht aber bestimmte
Modelle festlegte. Letzere sollten durch auto-
6.1. Die Folgen der „Wende“ in Osteuropa nome Entscheidungen der Schulen bzw. ei-
Mit der „Wende“ in Osteuropa beginnt auch gene Erlasse der jeweiligen Bundesländer um-
die bislang letzte Entwicklungsphase von gesetzt werden. Weiters wurde ein bundesein-
Deutsch als Fremdsprache in Österreich, die heitliches Förderausmaß festgelegt, das 0,83
als Etablierungsphase charakterisiert werden Stunden pro außerordentlichem Schüler und
kann und sowohl die Errichtung einer univer- Woche und 0,33 Stunden pro ordentlichem
sitären Deutsch als Fremdsprache-Lehreraus- Schüler betrug. Ein akzeptables Ausmaß an
bildung als auch die Einrichtung zweier Lehr- zusätzlichem Deutschunterricht für ein nicht
kanzeln und einer Reihe weiterer Institutio- deutschsprachiges Kind kam im Rahmen die-
nen mit sich brachte. Im Deutsch als Zweit- ses Systems allerdings nur zustande, wenn
sprache-Bereich erfolgte die Fixierung des eine ausreichende Anzahl von Kindern in ei-
Bereichs „Interkulturelles Lernen“ durch Zu- ner Schule vorhanden war und dadurch der
satzlehrpläne und die Einführung zahlreicher Einsatz einer zusätzlichen Lehrkraft möglich
neuer Unterrichtsmodelle. wurde. Dies war an Wiener Schulen auf
Grund des hohen Ausländeranteils durchge-
6.2. Die Entwicklung von Deutsch als hend der Fall, nicht jedoch in den ländlichen
Zweitsprache in den 90er Jahren Gebieten der anderen Bundesländer. Wäh-
Die rechtliche Situation der Integration nicht rend in Wien häufig das Modell der „Integra-
deutschsprachiger Kinder blieb bis 1992 un- tiven Ausländerbetreuung“ mit Team-teach-
befriedigend, da erst in diesem Jahr der Zu- ing angewendet wurde, das bei einem mehr
satzlehrplan „Deutsch für Kinder mit nicht als 50%igen Ausländeranteil pro Schule und
deutscher Muttersprache“ eingeführt und Woche sogar bis zu 18 Stunden Deutsch-
außerdem über eine Reihe neuer und positi- unterricht zusätzlich ermöglichte (Fahnl
ver Gesetzesbestimmungen klare Regelungen 1995), waren in den nicht-städtischen Gebie-
für die Integration ausländischer Kinder ge- ten meistens Begleitlehrer für den IKL-Un-
schaffen wurden. Die stark ansteigende Zu- terricht tätig, die als eine Art moderner Wan-
wanderung in der Folge des Jugoslawienkrie- derlehrer bis zu sechs Schulen betreuten und
ges und europaweiter Flüchtlings- und Mi- oft weite Anfahrtswege in Kauf nehmen
grantenströme zwang die Schulbehörden zu mussten. Das Fehlen von Empfehlungen bzw.
Integrationsmaßnahmen. Die stark anstei- Festlegungen von Unterrichtsmodellen für
genden Zahlen nicht deutschsprachiger Schü- die Einschulung nicht deutschsprachiger
ler in allen Schultypen und auf allen Schul- Pflichtschulkinder entpuppte sich damit nicht
stufen machten ein Abgehen vom zuvor als Gestaltungsmöglichkeit innerhalb der
8. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Österreich 105

Schulautonomie, sondern als Lücke in einem chen Ex-Jugoslawiens möglich ist und in der
sonst zeitgemäßen und fortschrittlichen Lehr- Regel gut angenommen wird. Damit wurden
plan. Der Versuch, dieses Manko auszuglei- gegenüber der Situation in den 80er Jahren
chen und in der Steiermark einen Rahmen- erhebliche Fortschritte im Bereich Deutsch
plan für den Unterricht mit nicht deutsch- als Zweitsprache in Österreich erzielt, doch
sprachigen Kindern einzuführen, der in Städ- bestehen unzweifelhaft noch schulorganisato-
ten interkulturelle Schwerpunktschulen und rische Defizite (vgl. Gauß u. a. 1994; 1995).
zeitlich begrenzte, einleitende Deutsch-Inten- Insgesamt ist jedoch durch eine intensive
sivkurse vorsah, scheiterte an der Schulbüro- Lehrerfortbildung eine starke Sensibilisie-
kratie und an Lehrern, die meinten, darin ein rung der Schulen für die Belange der nicht
Segregationsmodell zu erblicken: Dies trotz deutschsprachigen Kinder festzustellen. Ein
der Tatsache, dass dieses Modell mit Erfolg nach wie vor offenes Defizit bleibt die Veran-
an einer Schule mit hohem Ausländeranteil kerung der Ausbildung zum interkulturellen
erprobt wurde und das Wiener Modell „In- Lehrer als fester Bestandteil jeder Pflicht-
tegrative Ausländerbetreuung“ im Kern die- schullehrerausbildung, dem jedoch Kosten-
selben Maßnahmen setzte. Tatsächlich setzte gründe entgegengehalten werden.
sich in Bezug auf die Formen der schuli-
schen Ausländerintegration in Österreich eine 6.3. Die Entwicklung von Deutsch als
Gruppe von Didaktikern durch, die im ge- Fremdsprache in den 90er Jahren
meinsamen Leben von deutschsprachigen Insgesamt verlagern sich die Deutsch als
und nicht deutschsprachigen das oberste Ziel Fremdsprache-Aktivitäten mit Beginn der
sah, um Segregation zu vermeiden. Dieser an 90er Jahre immer mehr nach Graz und Wien,
sich richtige Ansatz wurde jedoch durch die was ursächlich mit den dort errichteten Lehr-
schulische Praxis widerlegt: Bei einem gerin- kanzeln zusammenhängt. Besonders in Graz
gen Ausländeranteil kommt durch die Pro- war es durch das Engagement einiger Kom-
Kopf-Wochenstundenanzahl nur eine nied- missionsmitglieder, die den Vorstudienlehr-
rige Zahl zusätzlicher Deutschstunden und gang leiteten, im Zusammenspiel mit der
damit eine viel zu geringe Förderung des Ziel- Germanistik zur Einstellung neuer Lehre-
sprachenlernens zustande, die auch durch die rinnen gekommen, die im Rahmen der 1983
ständige Anwesenheit unter deutschsprachi- gegründeten „Arbeitsgruppe Deutsch als
gen Schülern nicht ausgeglichen werden Fremdsprache“ nach und nach eine Aus-
kann. An Schulen mit hohem Ausländer- bildung bekamen. Der Hochschullehrgang
anteil (besonders an städtischen Hauptschu- Deutsch als Fremdsprache setzte die Arbeit
len) und in den dritten Leistungsgruppen ist der Arbeitsgruppe Deutsch als Fremdsprache
hingegen der umgekehrte Effekt festzustellen: nahtlos fort und bot eine Ausbildung im Um-
Die weitgehende Abwesenheit deutschspra- fang von 27 Semesterwochenstunden an
chiger Schüler entzieht dem gemeinsamen so- Pflicht- und weiteren zehn Semesterwochen-
zialen und sprachlichen Lernen die notwen- stunden an Wahlfachveranstaltungen an. In-
dige andere Hälfte und wird somit unmög- nerhalb von nur zwei Jahren zählte der
lich. Derzeit ist nicht zuletzt auf Grund von Hochschullehrgang 130 Studierende und 35
Sparmaßnahmen im Bildungsbereich keine Lehrkräfte, von denen mehr als die Hälfte
Verbesserung der Situation oder eine gesetz- aus dem Ausland kam. Die primäre Zielrich-
liche Lösung der Probleme in Sicht. Das tung ist nach wie vor die Ausbildung von
Herausnehmen der nicht deutschsprachigen Lehrern, die später als Auslandslektoren bzw.
Schüler aus dem Unterricht und der stunden- als Lehrer in Privatschulen und weiterführen-
weise unterrichtsparallele Deutschunterricht den Schulen unterrichten.
mit Begleitlehrern wird daher in den nächsten Schon 1990 wurde die Einrichtung von je
Jahren auch weiterhin das am häufigsten an- einer Lehrkanzel für Deutsch als Fremdspra-
gewendete Modell der Integration ausländi- che in Wien und Graz bewilligt, da die Ereig-
scher Kinder in Österreich sein. Nicht uner- nisse in Osteuropa die Notwendigkeit für die
wähnt darf allerdings bleiben, dass erfolgrei- universitäre Etablierung von Deutsch als
che Versuche zur zweisprachigen Alphabeti- Fremdsprache deutlich gemacht hatten. Die
sierung durchgeführt und in einer größer Besetzung erfolgte 1993 (Wien) bzw. 1995
werdenden Zahl von Schulen bilinguale (Graz). Dies setzte zweifelsohne den positi-
Unterrichtsformen eingeführt wurden. Zur ven Schlusspunkt unter die gut 15jährigen
Positivseite gehört auch, dass muttersprach- Bemühungen um die Etablierung von
licher Unterricht in Türkisch und den Spra- Deutsch als Fremdsprache an Österreichs
106 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

Universitäten (vgl. Krumm 1994). Die Uni- „Kultur und Sprache“ des Unterrichtsmini-
versitäten Graz und Wien sind heute im We- steriums eingerichtet wurden und mehrwö-
sentlichen auch die Zentren mit den meisten chige Kurse von Lehrergruppen aus verschie-
Aktivitäten und dem größten Angebot von denen Ländern umfasst, um Österreich in
Lehrveranstaltungen zur Lehrerausbildung. dieser Zielgruppe sprachlich, kulturell und
Auch in Wien werden Lehrveranstaltungen landeskundlich besser bekannt zu machen.
zur Lehrerausbildung angeboten, die als Auch das vom Europarat in Graz eingerich-
Wahlfächer bzw. Studienschwerpunkte inner- tete „Europäische Fremdsprachenzentrum“
halb eines regulären Germanistikstudiums hängt mit dieser Gründerphase zusammen.
fungieren. Nicht zuletzt deshalb werden, von
Wien ausgehend, Versuche unternommen, im 6.5. Das Österreichische Sprachdiplom und
Rahmen des Germanistikstudiums einen Stu- die Berücksichtigung des
dienzweig Deutsch als Fremdsprache zu eta- Österreichischen Deutsch
blieren. Die Zahl der Lektorenstellen geht Als bahnbrechender Schritt ist jedoch die
inzwischen deutlich zurück. Unmittelbar nach Erstellung des „Östereichischen Sprachdi-
der „Wende“ waren allein in Osteuropa 40 ploms“ anzusehen, das 1994 vorgestellt wurde.
neue Stellen geschaffen worden, so dass 1995 Es wird mittlerweile an über 40 Prüfungszen-
mit insgesamt 170 Lektoren ein Höchststand tren eingesetzt und ist insofern paradigmen-
erreicht wurde. Mittlerweile sind diese Stel- bildend, als damit der Plurizentrizität des
len in den angrenzenden Reformländern teil- Deutschen konsequent Rechnung getragen
weise wieder abgebaut, die Gesamtzahl der und den nationalen Varietäten ein fester Stel-
Lektorenstellen ist auf etwa 130 gekürzt wor- lenwert im Deutsch als Fremdsprache-Unter-
den. richt eingeräumt wird. Auch hat es im Test-
format zahlreiche kommunikative Prinzipien
6.4. Neugründungen von Deutsch als des Prüfungsdesigns verwirklicht und diesbe-
Fremdsprache-Vermittlungsinstitutionen zügliche Forderungen des 1995 publizierten
Als wesentlich für die Etablierung von „Framework“ des Europarats vorweggenom-
Deutsch als Fremdsprache in Österreich er- men.
wies sich, dass es in den Jahren 1991⫺1993 Gerade die Frage, welches Deutsch denn
im Umkreis der drei für die Auslandskultur in Österreich im Deutsch als Fremdsprache-
zuständigen Ministerien zur Gründung einer Unterricht zu vermitteln ist, stellte sich ange-
Reihe von wichtigen Institutionen kam. Dazu sichts der Existenz österreichischer Besonder-
gehören der Verein „KulturKontakt“, der heiten als zentral heraus. Sie wurde jedoch im
sich intensiv um die Lehrerfortbildung in Sinne des plurizentrischen Konzepts und ei-
Osteuropa kümmert, insgesamt 12 Bildungs- ner Didaktik des Deutschen plurizentrischer
beauftragte in ebensoviele Länder entsandte Sprache beantwortet, was zweifelsohne einen
und in zwei Jahren (1995 und 1996) nicht we- Richtungswechsel bedeutet, nachdem sich
niger als 450 Projekte (viele davon auch in noch 1992 leitende Beamte der Kulturabtei-
anderen Bereichen als Deutsch als Fremd- lung gegen die Einbeziehung des Österreichi-
sprache) durchführte. Weiters wurde die schen Deutsch in die Auslandskulturarbeit
„Koordinationsstelle für bilinguale Schulen“ ausgesprochen hatten. Die Frage des Öster-
gegründet, die sich vor allem um die zahlrei- reichischen Deutsch und der Plurizentrizität
chen bilingualen Schulen bemüht, die in den des Deutschen wird innerhalb der österreichi-
letzten Jahren in den Nachbarländern ent- schen Germanistik nach wie vor heftig disku-
standen sind. Das „Interkulturelle Zentrum“ tiert (vgl. dazu Muhr/Schrodt/Wiesinger
wiederum versucht Aufklärungsarbeit im In- 1995, Muhr/Schrodt 1997), doch besteht über
land zu betreiben und Schulen mit Materia- die Berechtigung des plurizentrischen Kon-
lien und Referenten zum interkulturellen Ler- zepts weitgehende Einigkeit, da sich die un-
nen zu versorgen sowie den Schüleraustausch terschiedliche sprachliche Realität der
zu fördern. Es kam auch zur Gründung deutschsprachigen Länder einfach nicht igno-
dreier österreichischer Schulen in Budapest, rieren lässt. Mit dem Österreichischen
Bratislava und Prag sowie zu einer starken Sprachdiplom ist ein wichtiger Schritt zur
Ausweitung der Entsendung österreichischer Anerkennung dieser Realität getan, da dessen
Lehrer in Schulen der Nachbarländer. Prüfungen stets Texte aus den drei deutsch-
Schließlich lässt sich eine starke Zunahme sprachigen Staaten enthalten. Mittlerweile
der Zahl von Lehrerfortbildungsseminaren wurde das Prüfungssystem auch um eine
feststellen, die vor allem von der Abteilung Wirtschaftssprachprüfung ergänzt, so dass
8. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Österreich 107

mit dem Österreichischen Sprachdiplom ein Berger, Werner (1974): Die Eingliederung nicht
umfassendes Prüfungssystem bis zur Mittel- deutschsprachiger Ausländer in österr. Hochschulen.
stufe zur Verfügung steht. Die letzte der Neu- Wien (Pädagogik der Gegenwart Nr. 604).
gründungen ist das „Österreich Institut“, das Fahnl, Huberta (1995): Integrative Ausländerkin-
1996 die Durchführung der Sprachkurse an derbetreuung: Ein Projekt des Stadtschulrates für
den österreichischen Kulturinstituten und ei- Wien, angezeigt am Beispiel Hauptschule Selzer-
ner Reihe anderer Institutionen übertragen gasse. In: R. Gauß; A. Harasek; Gerd Lau (Hg.):
Bd. 2, 291⫺306.
bekam und damit auf österreichischer Seite
(in ungleich kleinerem Rahmen) Funktionen Fielhauer, Hannelore; Hannes Pointer; Atiye Zau-
erfüllt wie das Goethe-Institut in Deutsch- ner (1989): Zur Situation der ausländischen Studen-
land. Damit kann die institutionelle Etablie- ten in Österreich. Stipendiaten und Förderungsemp-
fänger aus Entwicklungsländern. Österreichische
rung des Faches Deutsch als Fremdsprache Förderungsstiftung für Entwicklungshilfe. Wien.
in Österreich als vorerst abgeschlossen be-
trachtet werden. Fischer, Gero (1986): Aspekte der Beschulungspoli-
tik der Gastarbeiterkinder in Österreich. In: Heinz
Wimmer u. a.: Ausländische Arbeitskräfte in Öster-
7. Offene Fragen und Ausblick reich. Frankfurt a. M.
⫺ (1987): Die schulische Betreuung der Gastarbei-
Ein wesentliches Problem besteht derzeit terkinder in Österreich. In: Informationen zur
noch in der Aufteilung der Kompetenzen für Deutschdidaktik 1⫺2, 103⫺113.
die Auslandskulturarbeit auf drei Ministerien Gauß, Reiner; Anneliese Harasek; Gerd Lau (Hg.)
(Außen-, Wissenschafts- und Unterrichts- (1995): Interkulturelle Bildung ⫺ Lernen kennt
ministerium). Schmerzlich bemerkbar macht keine Grenzen. 2 Bde. Wien.
sich das Fehlen eines klaren Konzepts für die ⫺; Krista Satzke (1987): Lehrgang Ausländerpäda-
Auslandskulturarbeit. Die organisatorische gogik-Richtlinien für die Durchführung. In: Leh-
und inhaltliche Zersplitterung hat nicht zu- rerbildung heute 2, 374⫺390.
letzt dort eine ihrer Ursachen. Vielfach bleibt ⫺; Anneliese Harasek; Gerd Lau (Hg.) (1994;
ihre Formulierung einzelnen Fachabteilungen 1995): Interkulturelle Bildung ⫺ Lernen kennt keine
von Ministerien vorbehalten. Offen ist auch Grenzen. 2 Bde. Wien.
die Frage, ob die Deutsch als Fremdsprache- Hofstädter, Maria; Brigitte Stierl; Margret Lam-
Lehrerinnenausbildung in Form eines Stu- mert (1993): Schulversuche in Österreich: Kinder
dienzweigs im Rahmen der Germanistik eta- mit nichtdeutscher Muttersprache ⫺ Schulrecht
bliert werden soll. Im Grunde gelten diesel- und Fördermaßnahmen. In: Österreichisches Insti-
ben Rahmenbedingungen wie 1987, als die tut für Bildungsforschung ⫺ Info 1, 6⫺13. Wien.
Gesamtstudienkommission Germanistik ihre Hufnagel, F.; H. Krobath; R. Langthaler u. a.
Beratungen abschloss. Ein völlig ungelöstes (1978): Bildungshilfe für Entwicklungsländer in
Problem ist auch das Fehlen österreichbezo- Österreich. Eine Untersuchung der aus staatlichen
gener Deutschlehrwerke und adäquater Lehr- Mitteln geförderten Ausbildungs- und Betreuungs-
materialien für den Deutsch als Zweit- aktionen. Mit einem Anhang: Leitlinien wirksamer
Bildungshilfe von W. Clement u. a. Ein For-
sprache-Unterricht. Insgesamt lässt sich fest- schungsbericht durchgeführt von der Österreichi-
stellen, dass das Fach Deutsch als Fremd- schen Förderungsstiftung für Entwicklungshilfe im
sprache heute in Österreich als etabliert und Auftrage des Bundeskanzleramtes. Wien.
im Kontext der Germanistik als anerkannt
John, Michael; Albert Lichtblau (1990): Schmelz-
anzusehen ist. Das ist angesichts der oft tiegel Wien ⫺ einst und jetzt. Zur Geschichte und
fruchtlosen Bemühungen in vorangegange- Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten.
nen Jahrzehnten nicht selbstverständlich und Wien.
daher um so erfreulicher. Krumm, Hans-Jürgen (1994): Mehrsprachigkeit
und interkulturelles Lernen. Orientierungen im
Deutsch als Fremdsprache. In: JbDaF 20, 13⫺36.
8. Literatur in Auswahl
Muhr, Rudolf (1984): Unterrichtsplan für den Un-
Arbeitsgruppe Österreichisches Sprachdiplom terricht in Deutsch als Fremdsprache zur Vorberei-
(Hg.) (1994): Das österreichische Sprachdiplom tung ausländischer Studierender am Studienlehr-
(ÖSD). Bundesministerium für Unterricht und gang Graz.“ In: Info DaF 4, 69⫺100.
Kunst. Wien. ⫺ (1987): Die Lehrerausbildung Deutsch als
Bauböck, Rainer (1985): Arbeitsmarktpolitisches Fremdsprache in Österreich ⫺ Diskussionsstand
Ausbildungsprogramm für Ausländer. Endbericht. und Stand der Bemühungen um ihre Einrichtung.
Wien. In: Informationen zur Deutschdidaktik 1/2, 14⫺28.
108 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

⫺ (1989): Ziele und Möglichkeiten einer Lehrer- 1986): Zur Situation ausländischer Studenten in
ausbildung Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Österreich. Wien.
Zweitsprache in Österreich. In: ÖDaF-Mitteilungen Satzke, Klaus; Dieter Antoni; Peter Seitz; Alfred
2, 32⫺46. Reumüller (1992): Interkulturelles Lernen. Übertra-
⫺ (1990): Geschichte und Situation des Faches gung der Schulversuche ins Regelschulwesen ab dem
Deutsch als Fremdsprache in Österreich. In: Eh- Schuljahr 1992/93. Klagenfurt.
nert, Rolf/Hartmut Schröder (Hg.): Das Fach
Schallenberg, Wolfgang (1987): Die Rolle der deut-
Deutsch als Fremdsprache in den deutschsprachi-
schen Sprache in der Auslandskulturarbeit Öster-
gen Ländern. Bonn, 53⫺83.
reichs. In: Dietrich Sturm (Hg.): Deutsch als
⫺ (1994): Die österreichische Sprach- und Kultur- Fremdsprache weltweit. Situationen und Tenden-
politik im neuen politischen Kontext nach 1989. In: zen. München, 191⫺196.
Ruth Wodak; Rudolf DeCilia (Hg.): Sprach- und
Kulturpolitik in Mitteleuropa. Wien. Voss, Eduard (1985): Problemfeld Gastarbeiterkin-
der an der Allgemeinen Sonderschule: Statistik als
⫺; Richard Schrodt; Peter Wiesinger (Hg.) (1995): Diskussionsgrundlage. Internes Arbeitspapier des
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chologische und sprachpolitische Aspekte einer na-
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kräfte in Österreich. Frankfurt a. M.
⫺; ⫺ (Hg.) (1997): Österreichisches Deutsch und
andere Varietäten plurizentrischer Sprachen in Eu- Wollmann, Maria; Norbert Bichl (1986): Haupt-
ropa. Empirische Analysen I. Wien. schulexternistenkurse für Jugendliche nichtdeut-
ÖDaF Mitteilungen (1995): Zeit zum Nachdenken. scher Muttersprache. In: ÖDaF-Mitteilungen 1,
10 Jahre ÖDaF Heft 1/95. ⫺ Österreichischer Leh- 28⫺34.
rerverband Deutsch als Fremdsprache. Österreichi-
sches Institut für Bildungsforschung (Hg.) (1985/ Rudolf Muhr, Graz (Österreich)

9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache und des


Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Unterrichts in der Schweiz

1. Einführung sich teilweise ausschließen. Die folgenden


2. Zur Sprachensituation in der Schweiz drei Kriterienpaare werden häufig zur Unter-
3. Deutsch als Zielsprache scheidung benutzt:
4. Lehrerausbildung
5. Lehrmittel in der Schweiz 1. Natürlich erworben vs. institutionell gesteu-
6. Zukunftsperspektiven ert gelernt, also aus natürlichen Kommu-
7. Literatur in Auswahl nikationssituationen sich ergebend im Ge-
gensatz zu Lernen unter Einfluss bewuss-
1. Einführung ter, meist institutioneller Steuerungsme-
chanismen.
Die (auch deutschsprachige) Schweiz wird in 2. Lernen im Inland vs. Lernen im Ausland,
einem etwas unpräzisen Sprachgebrauch zur d. h., im ersten Fall sind die Länder der
Gruppe der deutschsprachigen Staaten ge- Zielsprache Ausland, während sich der Ler-
zählt. Sie nimmt aber darin eine Sonderstel- nende im zweiten Fall in einem deutsch-
lung ein a) durch ihre Viersprachigkeit und sprachigen Land befindet: Deutsch ist Um-
b) durch den Stellenwert des Dialekts. gebungssprache.
Deutsch als eine der vier Landessprachen ist 3. Eine dritte Differenzierung nennt Rösler
als Fremdsprache in den verschiedenen unter Bezugnahme auf Edmondson/
Schultypen und -stufen unterschiedlich reprä- House: „Zu diesen beiden Differenzierun-
sentiert (zur Situation des Deutschen in der gen kann jedoch noch eine dritte treten,
Schweiz vgl. Art. 51). dann nämlich, wenn man fragt, ob die
In der Fremdsprachendidaktik wird im neue Sprache eine ,für das Leben (und
Allgemeinen zwischen Fremd- und Zweit- Überleben) in einer bestimmten Gesell-
sprache unterschieden. Es gibt unterschiedli- schaft unverzichtbare Rolle spielt‘. Spielt
che Kriterien für diese Differenzierung, die die neue Sprache bei der Erlangung, Auf-
9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz 109

rechterhaltung oder Veränderung der sprache die jeweilige Muttersprache verstan-


Identität der Lernenden eine wichtige den wird.
Rolle und ist sie unmittelbar kommunika- Wir werden uns in diesem Artikel dennoch
tiv relevant, dann bezeichnet man sie als an der eingebürgerten Unterscheidung orien-
,Zweitsprache‘, ansonsten eher als ,Fremd- tieren, die ja schon im Titel gemacht wird,
sprache‘.“ (Rösler 1994, 8) und schreiben im Folgenden Deutsch als
Fremdsprache, wenn wir die an nicht
Deutsch als Fremdsprache wird üblicherweise
deutschsprachige Schweizer vermittelte Spra-
gebraucht als Begriff für den sprachlichen
che Deutsch meinen, und Deutsch als Zweit-
Lerngegenstand Deutsch nicht deutschspra-
sprache, wenn sie an ausländische Personen
chiger Lernender, die institutionell gesteuert
vermittelt wird.
im Ausland Deutsch lernen und für die diese
Sprache nicht unmittelbar kommunikativ re-
levant ist. 2. Zur Sprachensituation in der
Deutsch als Zweitsprache bezeichnet übli- Schweiz
cherweise ebenfalls den sprachlichen Lernge-
genstand Deutsch nicht deutschsprachiger 2.1. Mehrsprachigkeit
Lernender, aber in deutschsprachiger Umge- Die Schweiz ist als einziger der deutschspra-
bung, eher ungesteuert, und die Sprache ist chigen Staaten mehrsprachig und hat vier
für sie unmittelbar kommunikativ relevant. unterschiedliche Landessprachen: Deutsch,
Diese Unterscheidung ist für ein mehr- Französisch, Italienisch, Rätoromanisch. Da-
sprachiges Land mit dem Deutschen als einer neben gibt es zahlreiche weitere Nicht-Lan-
Landessprache problematisch, da es hier dessprachen.
häufig zu Kontaktsituationen kommt, in de- Die vier Sprachgruppen der Schweiz leben
nen die gelernte Fremdsprache sehr wohl in relativ homogenen Sprachgebieten, die
kommunikativ relevant ist. Deutsch wird als durch Sprachgrenzen voneinander getrennt
Fremdsprache ⫺ ebenso wie Französisch und sind. Im Bereich der Alpen sind sie meist geo-
Italienisch ⫺ an Schweizerinnen und Schwei- grafisch bedingt, im sogenannten Mittelland
zer vermittelt, die sich nicht im eigentlichen gilt dies nur teilweise. Wir unterscheiden im
Sinne fremd sind. Deshalb spricht man in der Folgenden die Deutschschweiz, die franzö-
Schweiz auch genauer von erster, zweiter etc. sischsprachige West- oder Welschschweiz
Landessprache, wobei unter erster Landes- (auch Romandie), die italienischsprachige

Tab. 9.1: Die grössten Hauptsprachengruppen der Schweiz

Nicht-Landessprachen Landessprachen
absolut in % der absolut in % der
Gesamt- Gesamt-
bevölkerung bevölkerung

1. Spanisch 116 818 1.7 1. Deutsch 4 374 694 63.6


2. Südslawisch 110 270 1.6 2. Französisch 1 321 695 19.2
3. Portugiesisch 93 753 1.4 3. Italienisch 524 116 7.6
4. Türkisch 61 320 0.9 4. Rätoromanisch 39 632 0.6
5. Englisch 60 786 0.9
6. Albanisch 35 853 0.5 Total Landessprachen 6 260 137 91.1
7. West- und Ostslawisch 17 823 0.3
8. Arabisch 17 721 0.3
9. Niederländisch 11 895 0.2
10. Skandin. Sprachen 9 533 0.1
11. Ungarisch 8 491 0.1
12. Griechisch 7 487 0.1
13. Rumänisch 3 704 0.1
14. Afrik. Sprachen 3 683 0.1
15. Finnisch 2 411 0.04
Andere 52 002 0.8

Total Nicht-Landessprachen 613 550 8.9

Quelle: Bundesamt für Statistik, Volkszählung 1990


110 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

Südschweiz (Kanton Tessin und drei italie- von 1990 bestätigte die Stabilität der Sprach-
nischsprachige Täler im Kanton Graubün- gebiete Deutsch, Italienisch, Französisch
den) und Romanischbünden (die Gebiete des auch für die jüngste Vergangenheit (vgl.
Kantons Graubünden, in denen Rätoroma- Franceschini 1996).
nisch gesprochen wird). Einer der wichtigsten Gründe für die Sta-
bilität der Sprachgrenzen ist das sogenannte
Sprachgruppen/Sprachgrenzen in der Schweiz Territorialprinzip. Es besagt, „daß auf einem
Gemeinde- oder Kantons(teil)gebiet nur eine
Sprache als Schul- oder Amtssprache gelten
darf“ (Löffler 1997, 1855). Dabei dominiert
das historische Element das statistische, d. h.,
die geschichtlich bedingte (sprachliche) Zu-
sammensetzung einer Gemeinde kann nicht
verändert werden, z. B. auch nicht durch Zu-
zug von Anderssprachigen (Haas 1988,
1367⫺69).
2.2. Sprachenpolitik
In Artikel 116 der Bundesverfassung (dem so-
genannten Sprachenartikel) wird die Vier-
1. Französisch, 2. Deutsch, 3. Italienisch, sprachigkeit der Schweiz festgehalten. Nach
4. Rätoromanisch
längerer Diskussion von Revisionsvorschlä-
gen wurde in der Abstimmung vom 10. März
Sprachgruppen/Sprachgrenzen im Kanton 1996 die folgende Fassung beschlossen:
Graubünden
1. Deutsch, Französisch, Italienisch und Rä-
toromanisch sind die Landessprachen der
Schweiz.
2. Bund und Kantone fördern die Verständi-
gung und den Austausch unter den
Sprachgemeinschaften.
3. Der Bund unterstützt Massnahmen der
Kantone Graubünden und Tessin zur Er-
haltung und Förderung der rätoromani-
schen und der italienischen Sprache.
4. Amtssprachen des Bundes sind Deutsch,
Französisch und Italienisch. Im Verkehr
mit Personen rätoromanischer Sprache ist
auch das Rätoromanische Amtssprache
1a. Mehrheit Rätoromanisch, 1b. Mehrheit des Bundes. Das Gesetz regelt die Einzel-
Deutsch, 2. Italienisch, 3. Deutsch heiten (Bundesverfassung).
Abb. 9.1. Die mehrsprachige Schweiz muss besondere
sprachpolitische Anstrengungen unterneh-
(Zu den verschiedenen Sprachregionen der men, damit diese Mehrsprachigkeit erhalten
Schweiz siehe Bickel/Schläpfer 1994 [alle werden kann. Grundziel einer schweizeri-
Sprachregionen]; Haas 1988; Löffler 1997 schen Sprachenpolitik ist die Erhaltung der
[Deutschschweiz], Kolde/Näf 1996; Knecht/ viersprachigen Schweiz. Als Teilziele, die in
Py 1997 [Westschweiz]; Lurati 1982; Bianconi unserem Zusammenhang von Bedeutung
1995; Bischofsberger 1997 [italienischspra- sind, können wir festhalten:
chige Schweiz]; Solèr 1997 [rätoromanische ⫺ Grundsätzliche Gleichberechtigung der
Schweiz].) vier schweizerischen Landessprachen,
Die Sprachgrenze Deutsch/Französisch ⫺ Förderung der sprachlichen Vielfalt der
bzw. Deutsch/Italienisch steht seit dem Spät- Schweiz,
mittelalter mehr oder weniger fest, diejenige ⫺ Vermeidung von Konflikten durch eine
zwischen Deutsch und Rätoromanisch hat entsprechende Kulturpolitik: Erhaltung
sich in den vergangenen hundert Jahren deut- von Sprachgebieten, möglichst Wahrung
lich zu Gunsten des Deutschen verschoben der Stabilität von Sprachgrenzen, Wah-
(Niederhauser 1997, 1837). Die Volkszählung rung des Sprachenfriedens,
9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz 111

⫺ Sicherstellung einer wirksamen Verständi- 2.3.2. Westschweiz und italienischsprachige


gung zwischen den vier Sprach- und Kul- Schweiz
turgemeinschaften über eine ausreichende Für das Fach Deutsch als Fremdsprache in
gegenseitige Beherrschung ihrer entspre- den nicht deutschsprachigen Landesteilen ist
chenden Standardsprachformen (nach: die Diglossie-Situation oft problematisch. In
EDI 1989a, XIV⫺XV). den Empfehlungen der Schweizerischen Kon-
Sprachpolitik wird in der Schweiz wegen der ferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren
Mehrsprachigkeit primär als innenpolitische (EDK) für Deutsch als Fremdsprache in der
Angelegenheit betrachtet, anders als z. B. im französischsprachigen Schweiz wird explizit
Vergleich mit Österreich und der Bundesre- festgehalten: „Die spezielle Lage der deutsch-
publik, deren Sprachpolitik auch auf die För- sprachigen Schweiz mit ihrer typischen
derung und Verbreitung der deutschen Spra- Mundart-Schriftsprache-Situation soll mit-
che im Ausland abzielt. einbezogen werden“ (EDK 1987, 15; für die
Situation bis 1985 siehe Zellweger 1987;
2.3. Die deutsche Sprache in der Schweiz Merkt 1989a). Dennoch erwerben die Ler-
2.3.1. Deutschschweiz nenden von Deutsch als Fremdsprache bzw.
Auch wenn das Deutsche in der Schweiz Deutsch als Zweitsprache häufig eine Sprach-
Thema eines besonderen Handbuchartikels form, die in der Schweiz von Sprechern der
ist (vgl. Art. 51), bedarf es zum Verständnis Muttersprache in Alltagssituationen selten
der Entwicklung des Faches Deutsch als verwendet wird.
Fremdsprache einiger grundlegender Infor- Die besondere Situation der medialen Di-
mationen. glossie, zusammen mit einem Vordringen der
In der Bundesrepublik Deutschland und Dialekte in immer mehr Domänen, führt in-
auch in Österreich unterscheiden wir zwi- nerhalb der Schweiz häufig zu Irritationen.
schen geschriebener und gesprochener Stan- Dies einerseits bei den Westschweizern und
dardsprache bzw. Schrift- und Umgangsspra- Tessinern, andererseits aber auch bei deut-
che. Im süddeutschen und österreichischen schen Migranten. Die Gründe liegen u. a. in
Raum gibt es ein Kontinuum zwischen den den unterschiedlichen Einstellungen und
verschiedenen Dialekten und der Umgangs- Normen, die aus dem System der jeweiligen
sprache, aber die Umgangssprache ist im All- Muttersprache übernommen werden. In
gemeinen nicht identisch mit dem Dialekt. sprachpolitischen Diskussionen wird daher
In der Deutschschweiz hingegen besteht oft der Mundartgebrauch in der Deutsch-
eine Diglossiesituation: Geschrieben wird schweiz als Hauptgrund für Verständigungs-
Standarddeutsch (genauer heißt es: geschrie- probleme zwischen Deutsch- und West-
benes Schweizerhochdeutsch), gesprochen schweiz genannt.
wird in sehr vielen Kommunikationssituatio- In der Westschweiz sind die Mundarten
nen Dialekt. Nach Kolde (1981) wird häufig (patois) schon seit dem 19. Jh. praktisch aus-
von ,medialer Diglossie‘ gesprochen: „die gestorben. Diese Tatsache und die Überbeto-
Wahl der einen oder andern Sprache hängt nung des Normcharakters der Sprache in der
heute fast nur noch vom Ausdrucksmedium Schule schlagen sich in deutlich negativen
ab“ (Haas 1982, 106; zur Problematik des Be- Spracheinstellungen gegenüber dem Mund-
griffs ,mediale Diglossie‘ vgl. Werlen 1998). artgebrauch in der Deutschschweiz nieder.
Im Alltag nennen die Bewohner der Deutsch- Diese Einstellungen beziehen sich auch oft
schweiz die gesprochene und geschriebene generell auf das Deutsche in der Schweiz.
Standardsprache (das Schweizerhochdeutsch) Die italienischsprachige Schweiz hingegen
meist ,Schriftdeutsch‘. kennt Mundarten. Während vor einigen Jahr-
Seit einigen Jahren gibt es Auflösungser- zehnten noch der Gebrauch der Mundart
scheinungen der klaren Diglossiesituation. vorherrschte, ist in den letzten Jahrzehnten
Die Mundart dringt stärker in Domänen ein, ihre Verwendung deutlich auf privatere Do-
die vorher eindeutig der Hochsprache vorbe- mänen eingeschränkt. Zwar haben die Mund-
halten waren, dies sowohl im schriftlichen als arten (im Gegensatz zur Westschweiz) eine
auch im mündlichen Ausdruck. Als Beispiel starke Lebenskraft bewahrt, sie geniessen
hier z. B. dialektale Werbung, E-Mails (als aber in der Einstellung der Sprecher kein ho-
schriftliches Medium stark an der gesproche- hes Ansehen (im Gegensatz zur Deutsch-
nen Sprache orientiert; zur komplexen Si- schweiz; Lurati 1982). Im Gegensatz zur
tuation Mundart-Standardsprache vgl. Haas Westschweiz sind die Einstellungen in der ita-
1986). lienischsprachigen Schweiz gegenüber dem
112 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

Mundartgebrauch in der Deutschschweiz we- noch von L1 (⫽ erste Landessprache, Mut-


sentlich weniger negativ. Nicht der Mundart- tersprache), L2 (⫽ zweite Landessprache)
gebrauch an sich wird kritisiert, sondern die und L3 (⫽ weitere Fremdsprache bzw. dritte
breite Verwendung im Alltag. Landessprache).
Die Schweiz kennt eine zumeist sechsjäh-
2.4. Sprachen im Schweizer Schulsystem rige Primarstufe, an die sich eine meist drei-
Ohne hier auf das äusserst komplexe Schwei- jährige Sekundarstufe I anschliesst. Mit die-
zer Schulsystem genauer eingehen zu kön- sen insgesamt neun (gelegentlich auch zehn)
nen, müssen jedoch einige charakteristische Jahren ist die obligatorische Schulzeit abge-
Grundzüge für den (Fremd-)Sprachunter- deckt. Die Sekundarstufe II dauert derzeit
richt skizziert werden. noch einmal vier Jahre und schliesst mit der
In der betont föderalistischen Schweiz liegt Matura ab.
die Kulturhoheit bei den einzelnen Kantonen, In den meisten Kantonen der Westschweiz
das heißt, diese tragen die Verantwortung für und im Tessin wird in der vierten Primar-
den Unterricht während der obligatorischen klasse mit dem L2-Unterricht begonnen: in
Schulzeit. Es gibt kein zentrales Kultusmini- der Westschweiz mit Deutsch. In der ersten
sterium, sondern nur einen Zusammenschluss Klasse der Sekundarstufe I beginnt dann der
der kantonalen Erziehungsdirektoren zu der Unterricht in L3. Im Tessin war bis 1997
Schweizerischen Konferenz der kantonalen Französisch als L2 und Deutsch als L3 obli-
Erziehungsdirektoren (EDK). 1970 haben die gatorisch, Englisch konnte also erst als dritte
Kantone einem „Konkordat über die Schul- Fremdsprache gewählt werden. Seit 1997 ist
koordination“ zugestimmt und damit der in diesem Kanton die Wahl von L2 und L3
Förderung einer effektiven Koordination des relativ frei: Als L2 kann zwischen Deutsch
Schulwesens. und Französisch gewählt werden, entspre-
Die Reform des Fremdsprachenunterrichts chend kann dann für L3 zwischen Deutsch,
(bzw. des Unterrichts der Landessprachen) in Französisch, Englisch und einer weiteren
der Schweiz brachte zumindest zwei Ergeb- Sprache entschieden werden. Erste Erfahrun-
nisse: Sie führte nach 1975 u. a. dazu, dass gen zeigen, dass trotz dieser Freiheit in vielen
mit dem Fremdsprachenunterricht in allen Fällen Deutsch (und Französisch) gewählt
Kantonen in der 3., 4. oder 5. Primarklasse werden.
begonnen wird (sogenannter Frühbeginn) Die neue Maturitäts-Anerkennungs-Ver-
und dass der Unterricht weitgehend auf kom- ordnung (MAV), die 1995 in Kraft trat, sieht
munikative Lernziele ausgerichtet wurde (vgl. eine Verkürzung der Sekundarstufe II auf
EDK 1975): In den romanischsprachigen Ge- drei Jahre vor. Die MAV hat ausserdem spe-
bieten des dreisprachigen Kantons Graubün- zifische Konsequenzen für das schulische
den wird in den ersten drei Jahren rein räto- Sprachenlernen:
romanisch unterrichtet. Ab der 4. Primar- a) Neben den Erwerb von Kenntnissen
klasse gibt es dann zwei Stunden Deutsch- (Wortschatz, Grammatik) tritt gleichzeitig
unterricht, und ab der 5. Primarklasse wer- die Betonung von Fähigkeiten und Ein-
den einzelne Fächer auf Deutsch unterrichtet. stellungen (Kompetenzen).
Da die Begriffsvielfalt eher verwirrt, spre- b) Zweisprachige Abschlüsse werden mög-
chen wir im Folgenden vereinfachend nur lich.

Tab. 9.2: Zum Fremdsprachenlernen an Schweizer Schulen

1. Landessprache 1. Fremdsprache 2. Fremdsprache


⫽ oder
2. Landessprache 3. Landessprache

Im Weiteren L1 Im Weiteren L2 Im Weiteren L3

Deutschschweiz Deutsch Französisch Englisch oder Italienisch

Westschweiz Französisch Deutsch Englisch oder Italienisch

Tessin/Italienischbünden Italienisch Französisch Deutsch

Romanischbünden Rätoromanisch Deutsch Französisch


9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz 113

Die Kantone werden ausserdem aufgefor- In die starre Regelung der Abfolge der
dert, anstelle der bisherigen zweiten Landes- Fremdsprachen an Schweizer Schulen ist in
sprache mindestens zwei Landessprachen an- den letzten Jahren Bewegung gekommen:
zubieten (Babylonia 3, 1996). Sensibilisert durch den Versuch des Kantons
Zürich, Englisch statt Französisch als L2 an-
zubieten, beauftragte die EDK eine Exper-
3. Deutsch als Zielsprache tengruppe, ein „Sprachkonzept Schweiz“
Ich verwende den Begriff Deutsch als Ziel- auszuarbeiten. Durch dieses soll eine flexi-
sprache als Oberbegriff für Deutsch als blere Sprachenwahl an den Schulen möglich
Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache. werden, wobei die Bedürfnisse eines mehr-
Deutsch als Zielsprache richtet sich in der sprachigen Landes unter ausdrücklichem Be-
Schweiz an drei unterschiedliche Zielgrup- zug auch auf Migrationssprachen berücksich-
pen: tigt werden müssen (EDK 1998).
1. Eine der drei anderssprachigen Gruppen 3.1.2. Kindergarten
der Schweizer Bevölkerung (Deutsch als Auch in der Schweiz finden seit einigen Jah-
L2 oder L3). Diese Zielgruppe ist spezi- ren Versuche mit mehrsprachigem Unterricht
fisch für die Schweiz. statt. Daher gibt es inzwischen mehrere In-
2. Ausländische Lernende, die sich zum itiativen, bei denen schon im Kindergarten
Deutschlernen in der Deutschschweiz auf- mit „Sachunterricht“ in der anderen Sprache
halten. begonnen wird (z. B. in den mehrsprachigen
3. Ausländische Bewohner der Schweiz Kantonen Freiburg, Wallis, Bern und Grau-
(Deutsch als Zweitsprache). bünden, aber auch in verschiedenen privaten
3.1. Deutsch als Fremdsprache Kindergärten in Zürich und Basel). Es han-
delt sich hierbei nicht um Sprachunterricht,
3.1.1. Allgemein bei dem die andere Sprache als Fach unter-
Von Deutsch als Fremdsprache im Sinne von richtet wird, sondern die Kindergarten-Akti-
L2 bzw. L3 kann man nur in der nicht vitäten geschehen in der anderen Sprache,
deutschsprachigen Schweiz sprechen. Es gel- Deutsch ist also Immersionssprache (vgl. Vet-
ten dafür gewisse Gemeinsamkeiten, die sich ter 1993; EDK 1993; Brohy 1996).
von den Bedingungen für Deutsch als Zweit-
sprache deutlich unterscheiden: 3.1.3. Primarschule
Wie schon kurz angedeutet, beginnt der
a) verhältnismässig homogenes Zielpubli-
Deutsch als Fremdsprache-Unterricht in der
kum (gleiche oder vergleichbare alters-,
Westschweiz meist in der vierten Primar-
kultur- und sprachspezifische Vorausset-
klasse. Von der Idee her ist dabei an eine spie-
zungen),
lerische Sensibilisierung für die andere Lan-
b) Förderung der interkulturellen Verständi-
dessprache ohne Notendruck gedacht. In der
gung in einem mehrsprachigen Land,
Praxis ist dies freilich inzwischen oft nicht
c) institutionelle Vermittlung bei beschränk-
mehr der Fall.
tem Kontakt mit der anderen Sprachwirk-
Die schon unter Kindergarten erwähnten
lichkeit,
Versuche mit einem Immersionsunterricht
d) kontrastive, kommunikative und kogni-
haben dazu geführt, dass eine Reihe von Pro-
tive Lehrmethoden mit teilweiser Ausrich-
jekten im Primarbereich mit Deutsch als
tung auf schriftliche Dokumente (nach
Fremdsprache in der ersten Klasse beginnen
Merkt 1994, 46).
bzw. an den Immersionsbeginn im Kinder-
Die Situation des Deutschunterrichts in den garten anschließen (z. B. im Wallis; zu Im-
obligatorischen Schulen der Westschweiz und mersionsversuchen in der Schweiz vgl. Merkt
des Tessins bis 1989 wird konzentriert zusam- 1993; Brohy 1996; zum Immersionsunterricht
mengefasst in Merkt 1989a. Dokumentiert in Sierre/Siders: Vetter 1993).
sind die Bemühungen um eine Koordination Eine positive Sonderrolle spielt hier der
des Deutschunterrichts, die Stundendotierun- Kanton Graubünden, wo in den Gebieten
gen für Deutsch in den verschiedenen Kanto- Romanischbündens schon seit Jahrzehnten
nen und die Empfehlungen der Erziehungs- Immersionsunterricht praktiziert wird, ohne
departemente, die Treffpunkte zwischen obli- diesen jedoch so zu nennen. Nachdem der
gatorischer und postobligatorischer Schulzeit Kindergarten rein Romanisch geführt wird,
(vgl. EDK 1987). ist dann die Unterrichtssprache durchgehend
114 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

Tab. 9.3: Stundentafeln der (deutsch-, italienisch- und romanischsprachigen) Volksschulen in Graubünden

Deutschsprachiger Italienischsprachiger Romanischsprachiger


Schultypus Schultypus Schultypus

Kindergarten Kindergartensprache: Kindergartensprache: Kindergartensprache:


Deutsch (Assimilation Italienisch (Assimilation Romanisch (Assimilation
fremdsprachiger Kinder) fremdsprachiger Kinder) fremdsprachiger Kinder)

Primarschule Unterrichtssprache: Unterrichtsprache: Unterrichtssprache:


1. bis 6. Schuljahr • Deutsch • Italienisch • Romanisch
(⫽ SJ) Zweitsprache (obligat.): Zweitsprache (obligat.): Zweitsprache (obligat.):
• Italienisch (4.⫺6. SJ) • Deutsch (4.⫺6. SJ) • Deutsch (4.⫺6. SJ)
und/oder
• Romanisch (4.⫺6. SJ
bzw. 1.⫺6. SJ)

Realschule Unterrichtssprache: Unterrichtssprache: Unterrichtssprache:


und • Deutsch • Italienisch • Deutsch
Sekundarschule Zusätzlich obligatorisch: Zusätzlich obligatorisch: Zusätzlich obligatorisch:
7. bis 9. Schuljahr • Italienisch • Deutsch • Romanisch
(⫽SJ) oder • Französisch • Italienisch
• Französisch oder
Fakultativ: Fakultativ: • Französisch
• Italienisch (7./8./9. SJ) • Französisch (8./9. SJ) Fakultativ:
• Romanisch (7./8./9. SJ) • Deutsch (8./9. SJ) • Deutsch (8./9. SJ)
• Französisch (8./9. SJ) • Englisch (9. SJ) • Französisch (8./9. SJ)
• Englisch (8./9. SJ) • Latein (7./8./9. SJ) • Englisch (8./9. SJ)

(aus: Babylonia 3 (1998) 49)

Romanisch. Mit Beginn der vierten Primar- In der italienischsprachigen Schweiz be-
klasse kommt dann Deutsch als erste Fremd- ginnt auf dieser Schulstufe der Unterricht in
sprache hinzu. Ab dem 7. Schuljahr wechselt Deutsch als L3 (früher obligatorisch, inzwi-
dann die Unterrichtssprache ins Deutsche, schen als Wahlmöglichkeit). (Flügel 1992)
ausser in Biologie und im Fach Romanisch.
„Für die deutsch- und anderssprachigen 3.1.5. Sekundarstufe II
SchülerInnen bedeutet dies eine frühe totale Zur Sekundarstufe II gehören in der Schweiz:
Immersion ins Romanische. […] Für die ro-
manischsprachigen SchülerInnen bedeutet a) die gymnasialen Maturitätsschulen,
dies eine späte Immersion ins Deutsche.“ b) Berufsschulen, die zur sogenannten Be-
(Carigiet 1998, 47) Französisch wird dann ab rufsmaturität führen (Ergänzung der Be-
der 7. Klasse als L3 gelernt, Italienisch und rufslehre, die zum prüfungsfreien Über-
Englisch sind bisher nur Wahlfächer (Cari- tritt in das 1. Semester eines Fachhoch-
giet 1998). schullehrgangs berechtigt),
c) die kantonalen Lehrerseminare (Ausbil-
3.1.4. Sekundarstufe I dung zu Lehrerinnen und Lehrern auf den
Niveaus Kindergarten und Primarstufe;
In den cycles d’orientation, den Schulen der
der entsprechende Abschluss gilt zusam-
Sekundarstufe I in der Romandie, wird der
men mit mehrjähriger Berufspraxis als
Unterricht Deutsch als L2 auf der Primar-
Maturaäquivalent). Die kantonalen Leh-
schule aufbauend weitergeführt. Dies geht
rerseminare werden derzeit in Fachhoch-
nicht immer ganz problemlos ab, da für den
schulen verwandelt, was deutliche Verän-
Unterricht auf der höheren Stufe häufig an-
derungen nach sich ziehen wird.
dere Prinzipien zu Grunde gelegt werden. Die
eher spielerische Sensibilisierung der Primar- (Zum Deutschunterricht in der Westschweiz
schule weicht zunehmend eher kommunika- im 20. Jh. vgl. das entsprechende Kapitel in:
tiv-kognitiven Ansätzen. Dazu kommt selbst- von Flüe-Fleck 1994, 101⫺120; zum Tessin:
verständlich auch der stärkere Notendruck. Flügel 1992)
9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz 115

3.1.6. Privatschulen Unterrichtenden des Deutschen als Fremd-


Wie in anderen Staaten existiert in der sprache an Westschweizer Schulen der Se-
Schweiz eine ganze Reihe von Privatschulen. kundarstufe I.
Was den Fremdsprachenunterricht in der Eine Besonderheit der Universität Frei-
Schweiz betrifft, haben sie in den vergange- burg sind zweisprachige Abschlüsse. So kann
nen Jahren oft eine Pionierrolle übernom- momentan an der Rechtswissenschaftlichen
men: Wenn man vom langjährigen zweispra- und an der Wirtschafts- und Sozialwissen-
chigen Unterricht in Romanischbünden ab- schaftlichen Fakultät das Studium mit einem
sieht, so waren es Privatschulen, die z. B. mit zweisprachiges Lizenziat (Deutsch⫺Franzö-
Immersionsunterricht experimentiert haben sisch) abgeschlossen werden. Es gibt dafür
(vgl. Moser 1993). besondere Regelungen, nach denen zwischen
20% und 25% des Studiums und der Examina
3.1.7. Universitäten in der jeweils anderen Studiensprache absol-
Die Germanistik an den Westschweizer Uni- viert werden müssen. In den Diplomen wird
versitäten (Lausanne, Genf, Neuenburg) ist ein solcher zweisprachiger Abschluss dann
nach klassischem Muster ausgerichtet, wobei speziell ausgewiesen.
sie dem Umstand kaum Beachtung schenkt, Auch an verschiedenen Abteilungen der
„dass die meisten Absolventen eines Studi- Philosophischen Fakultät sind solche zwei-
ums der Germanistik als Deutschlehrer be- sprachigen Abschlüsse möglich (z. B. in den
rufstätig werden“ (Merkt 1990/1994, 49). Fächern Geschichte und Philosophie). Bis
Einem Bereich Deutsch als Fremdsprache zum Jahr 2001 ist ein weiterer Ausbau der
Zweisprachigkeit geplant. So sollen ab dann
wird, ähnlich wie bei der Auslandsgermani-
an allen Fakultäten zweisprachige Studien
stik, eine ,Zubringerfunktion‘ zuerkannt, ein
und Abschlüsse möglich sein. Die Rahmenbe-
eigentlicher Fachbereich mit eigenständiger
dingungen, die eine Kommission erarbeitet
Funktion wird aber dabei erst selten wahrge-
hat, werden derzeit an den einzelnen Fakultä-
nommen. Da die Fertigkeiten in der Fremd-
ten beraten. Dazu gehören:
sprache nach der Matura im Allgemeinen für
ein Germanistikstudium nicht ausreichend a) Drei unterschiedliche Möglichkeiten zwei-
sind, beinhalten studienbegleitende Deutsch sprachigen Studierens:
als Fremdsprache-Kurse Übersetzungsübun- ⫺ Zweisprachiges Lizenziat/Diplom,
gen in und aus der Muttersprache sowie ⫺ Studium und Prüfungen in beiden
das Training studienspezifischer schriftlicher Sprachen,
Textsorten und Sprech- bzw. Aussprachetrai- ⫺ Studium in beiden Sprachen, Prüfun-
ning. Es handelt sich hier also weitgehend gen ausschließlich in der ersten Stu-
um Stützkurse. diensprache.
In den letzten Jahren zeichnet sich zumin- b) Für das zweisprachige Lizenziat/Diplom
dest in der Linguistik eine leichte Sensibilisie- soll gelten: Mindestens 40% des Studiums
rung für das Fach Deutsch als Fremdsprache und der (mündlichen und schriftlichen)
ab: Es nehmen an den Westschweizer Univer- Prüfungen in der zweiten Studiensprache.
sitäten Veranstaltungen zu, in denen Deutsch c) Ein Fachsprachenkonzept für die jeweils
als Fremdsprache-spezifische Themen bear- zweite Studiensprache.
beitet werden, so z. B. Fremd-/Zweitsprach- (Zum Zweisprachigkeitskonzept der Univer-
erwerb, Grammatik in Lehrwerken etc. sität siehe Langner 1997.)
An der zweisprachigen Universität Frei- Als voruniversitäre Einrichtung gibt es in
burg/Fribourg gibt es seit 1973 ein Institut für Freiburg noch die Vorbereitungskurse auf
deutsche Sprache, welches sich ausschliesslich das Hochschulstudium in der Schweiz ⫺ eine
Deutsch als Fremdsprache widmet; seit 1996 Stiftung, die gemeinsam von der Eidgenos-
verfügt es auch über eine Deutsch als Fremd- senschaft und den Universitäten der Schweiz
sprache-Professur. Deutsch als Fremdsprache getragen wird. Ähnlich wie die Studienkollegs
an der Universität Freiburg steht auch in Zu- in Deutschland oder die Vorstudienlehrgänge
sammenhang mit der Zweisprachigkeit dieser in Österreich bereitet diese Einrichtung aus-
Universität und der damit verbundenen Not- ländische Studienbewerber mit einem Hoch-
wendigkeit, studienbegleitende und studien- schulreifezeugnis ihres Landes auf ein Stu-
spezifische Sprachlehrveranstaltungen für die dium an einer Schweizer Hochschule vor. Als
Studiensprache Deutsch (und natürlich auch eines von fünf Fächern gilt obligatorisch
Französisch) anzubieten. Seit 1982/83 gibt es Deutsch (oder Französisch) als Fremdspra-
einen spezifischen Ausbildungsgang für die che.
116 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

3.1.8. Erwachsenenbildung Verschiedene Publikationen (Babylonia 3,


In der Erwachsenenbildung müssen wir in 1997; Mitteregger/Racine 1993) und die Zeit-
der mehrsprachigen Schweiz zwischen der schrift Le Trait d’union widmen sich aus-
Deutschschweiz und den nicht deutschspra- schliesslich den verschiedenen Austausch-
chigen Landesteilen unterscheiden. Nur in möglichkeiten. Zentraler Gedanke der Aus-
der Westschweiz und im Tessin handelt es tauschpädagogik ist die Sensibilisierung in
sich bei Deutschkursen der Erwachsenenbil- Richtung auf ein Verständnis der anderen
dung hauptsächlich um Deutsch als Fremd- Sprachgruppe.
sprache. Eine Besonderheit im zweisprachigen Kan-
In der gesamten Schweiz gibt es verschie- ton Freiburg ist das sogenannte „zehnte
denste Einrichtungen der Erwachsenenbil- fremdsprachliche Schuljahr“: Das neunte
dung, die ⫺ häufig in einer großen Vielfalt (letzte) Schuljahr der obligatorischen Schul-
von Kursangeboten ⫺ auch Fremdsprachen- zeit wird an einer Schule mit jeweils anderer
kurse anbieten. Neben verschiedenen Privat- Unterrichtssprache wiederholt.
institutionen sind dies vor allem die Volks- 3.2. Deutsch als Zweitsprache
hochschulen und die Migros-Klubschulen. Es
handelt sich bei dem Angebot an Fremdspra- 3.2.1. Allgemeines
chenkursen zumeist um extensive Kurse. Die Schweiz hat einen relativ hohen Prozent-
satz ausländischer Wohnbevölkerung (am
3.1.9. Austausch 31. 12. 1995: 18,9%). Man unterscheidet zwi-
Austauschprogramme verschiedener Art ha- schen ausländischen Arbeitnehmern und Ar-
ben in der Schweiz eine lange Tradition. Dies beitnehmerinnen, die mehr oder weniger
liegt selbstverständlich an den vier verschie- lange im Land leben werden, und Flüchtlin-
denen Sprach- und Kulturgruppen und an ei- gen/Asylbewerbern. Die Gruppe der Flücht-
ner Sprachpolitik, die darauf abzielt, das Zu- linge und Asylbewerber, aber teilweise auch
sammenleben dieser Gruppen zu verbessern. die ausländischen Arbeitnehmer, sprechen oft
Vor allem vier unterschiedliche Austausch- nicht die im jeweiligen Landesteil gespro-
formen spielen in der Schweiz eine Rolle: chene Landessprache. So ergibt sich die
1. individueller Schüleraustausch, Frage nach der sprachlichen Integration und
2. kollektiver Klassenaustausch, somit nach einem Angebot an Sprachkursen.
3. Lehrlingsaustausch, Wichtigste Lernziele von Sprachkursen für
4. Austausch von Lehrpersonen. Flüchtlinge und Asylbewerber sind das Spre-
chen und das Hörverstehen. In der Deutsch-
Dabei kann sich die Dauer des Kontakt- schweiz zeigt sich deutlich das Problem der
aufenthaltes von einigen Tagen bis hin zu medialen Diglossie. Eigenentwicklungen von
einem Jahr erstrecken. Lernmaterialien versuchen diese Situation zu
Die ersten drei Austauscharten werden ge- berücksichtigen (z. B. Nodari 1985; 1994).
samtschweizerisch und international von der In der Regel lernen die ausländischen Kin-
1976 gegründeten ch-Stiftung für eidgenössi- der in der Schule Schweizerhochdeutsch und
sche Zusammenarbeit koordiniert und orga- den jeweiligen Dialekt auf der Strasse. Dass
nisiert (EDK 1992). Der internationale Leh- die sprachliche Integration der Kinder durch
rerinnen- und Lehreraustausch (ILA-WBZ), ihre Familiensprache teilweise behindert wird
der der Weiterbildungszentrale für Mittel- und dadurch bei der Entwicklung einer kul-
schullehrer in Luzern angeschlossen ist, koor- turellen Identität und beim Zweitspracher-
diniert dagegen den internationalen Aus- werb Probleme auftreten, ist jedoch kein
tausch von Lehrpersonen. alleiniges Problem der Schweiz. Es gibt daher
Die in den letzten Jahren stärker werdende an einzelnen Schulen Kurse zur Förderung
Belastung des Zusammenlebens der verschie- der Erstsprache als Grundlage zum leichteren
denen Sprachgruppen (einige Stichworte da- Erwerb von Deutsch als Zweitsprache.
für sind: Diglossiesituation in der Deutsch- Die komplexe Sprachsituation der Deutsch-
schweiz, unterschiedliche politische Ziele in schweiz ist nicht einfach in Lehrwerke zu in-
Bezug auf Europa, wirtschaftliche Dominanz tegrieren, da die gesprochenen Dialekte Vari-
der Deutschschweiz) hat dazu geführt, dass anten sind, die nur regional verwendet wer-
die Anstrengungen für ein Zusammentreffen den. Eine Möglichkeit damit umzugehen be-
der Sprachgruppen vermehrt wurden. Daraus steht darin, als Zielsprache das Schweizer-
gewann auch der Austauschgedanke einen hochdeutsch unter explizitem Einbezug von
neuen starken Auftrieb. Dialektverstehen vorzusehen.
9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz 117

Eine weitere ⫺ zusätzliche ⫺ Möglichkeit Asylbewerber und Flüchtlinge richten. Zu-


ist das Hörverstehenstraining unter Einbezug meist sind dies kantonale Zentren, verschie-
der rezeptiven Kompetenz für Dialektverste- dene Hilfswerke, wie z. B. die Caritas, das
hen (siehe EDK 1987). Eine solche Forde- Hilfswerk der Evangelischen Kirche der
rung ist bisher leider selten realisiert worden. Schweiz (HEKS), aber auch Arbeiterhilfs-
Dieser Ansatz würde bedeuten, dass für die werke, die Heilsarmee etc., die sich um die
Verständigung zwischen Deutschschweizern (sprachliche) Integration dieses Personenkrei-
und ausländischen Sprechern die Einheimi- ses kümmern. Dabei werden zumeist selbster-
schen Dialekt sprächen, während die auslän- stellte Lehrmaterialien eingesetzt (Beispiele
dischen Kommunikationspartner Standard- hierzu siehe unter 4.).
deutsch verwendeten. (Ein Lehrwerk mit die- Weitere Angebote in diesem Bereich sind:
sem Ansatz ist Müller/Wertenschlag 1985.)
⫺ Spezielle Arbeitslosenkurse: Auf Grund
Eine dritte Möglichkeit bietet das Konzept
eines Gesetzes können Arbeitslose, die
„Dialektlernen für erste Kontaktsituatio-
Weiterbildungskurse besuchen, länger Ar-
nen“, wobei die jeweilige Regionalvariante
beitslosenunterstützung beanspruchen.
gelernt würde. Die für eine Integration in ein
⫺ Alphabetisierungskurse (besonders für
Land ebenfalls wichtigen kulturellen, landes-
Frauen) in Deutsch als Zweitsprache.
und sozialkundlichen Besonderheiten erfor-
⫺ Berufsbezogene Sprachkurse vor Ort (z. B.
dern noch mehr selbstentwickelte Lehrmittel,
im Spital).
die die Alltagsgegebenheiten eines Landes
⫺ Sprachbegleitung: eine Person als sprach-
oder einer Region reflektieren.
licher Lernbegleiter.
3.2.2. Öffentliche Schulen Ein grosses Problem für die Arbeit in diesem
Deutsch als Zweitsprache an öffentlichen Bereich ist die Tatsache, dass es in der
Schulen gibt es einerseits als Stützkurse zur Schweiz keine zentrale Arbeitsstelle für die
sprachlichen und kulturellen Integration von Koordination der vielfältigen Initiativen gibt,
Kindern ausländischer Arbeitnehmer und wie dies in Deutschland der Sprachverband
Flüchtlinge. Für fremdsprachige Kinder mit für ausländische Arbeitnehmer darstellt.
einer im Heimatland abgeschlossenen obliga-
torischen Schulzeit werden andererseits auch 3.3. Verbände für Deutsch als Fremdsprache/
sprachliche Integrationskurse angeboten, die Deutsch als Zweitsprache
diesen Kindern die Suche nach einer Lehr- In der Schweiz gibt es drei Interessenverbände
stelle erleichtern sollen. für Unterrichtende im Bereich Deutsch als
An den Berufsschulen gibt es vereinzelt Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache. In
Kurse für Deutsch als Zweitsprache, aber bis der SPASRI (Sociéte des Professeurs d’Alle-
heute kein eigentliches Konzept, obwohl der mand de la Suisse Romande et Italienne), einer
Anteil der nicht deutschsprachigen Berufs- Untergruppierung des Vereins Schweizeri-
schüler stark ansteigt. scher Gymnasiallehrer (VSG), haben sich die
Eine Grundschwierigkeit neben dem Pro- Unterrichtenden des Deutschen als Fremd-
blem Mundart/Standardsprache stellt in den sprache der Gymnasien (in der Schweiz Mittel-
Normalklassen der Regelschulen die teilweise schulen genannt) zusammengeschlossen.
große sprachliche und kulturelle Heterogeni- 1986 wurde dann der Arbeitskreis Deutsch
tät der Gruppen dar sowie die immer knap- als Fremdsprache in der Schweiz (AKDaF)
per werdenden finanziellen Mittel für solche gegründet, der allen Personen offensteht, die
Kurse bei teilweise stark steigenden Prozent- im Bereich Deutsch als Fremd-/Zweitsprache
zahlen von Ausländerkindern in Primarschu- tätig sind. Sehr viele seiner Mitglieder arbei-
len und Schulen der Sekundarstufe I ten in privaten Institutionen der Erwachse-
(Allemann-Ghionda 1988). nenbildung, in der Flüchtlingsbetreuung und
in Arbeitslosenkursen.
3.2.3. Erwachsenenbildung Der jüngste und kleinste Verband ist der
Bei den Deutschkursen der Erwachsenenbil- LEDAFIDS (Verein der Lektorinnen und
dung in der Deutschschweiz handelt es sich Lektoren Deutsch als Fremdsprache in der
in den meisten Fällen um Deutsch als Zweit- Schweiz), 1987 gegründet, in dem die Unter-
sprache. Es gibt neben den in Abschnitt 2.1.8. richtenden für Deutsch als Fremdsprache an
erwähnten Volkshochschulen und Migros- den Schweizer Hochschulen zusammenge-
Klubschulen eine Vielzahl von Einrichtun- fasst sind. An fast allen Schweizer Hochschu-
gen, deren Sprachkurse sich besonders an len gibt es Deutsch als Fremdsprache-Unter-
118 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

richtende, teilweise zur Vorbereitung und während an einigen Hochschulen eine spezi-
Begleitung von ausländischen Studierenden elle Ausbildung für die Sekundarstufe I exi-
(Deutschschweiz), teilweise zur Unterstüt- stiert, auch für die Fremdsprachenlehrer und
zung nicht deutschsprachiger Schweizer, die im besonderen Fall für die Lehrer des Deut-
Germanistik studieren (siehe Abschnitt 2.1.). schen als Fremdsprache auf dieser Stufe. An
Alle drei Verbände sind Mitglied im Inter- der Universität Freiburg gibt es auch ein Er-
nationalen Deutschlehrerverband (IDV) und gänzungsfach Deutsch als Fremdsprache für
haben häufig an den verschiedenen Interna- Deutschsprachige, die anschließend in der Se-
tionalen Deutschlehrertagungen (IDT) auch kundarstufe I an einer Schule mit französi-
organisatorisch mitgearbeitet. So wurde die scher Unterrichtssprache unterrichten wol-
IDT Bern 1986 von der SPASRI mitgetragen, len.
und die IDT 2001 in Luzern wird u. a. von Für die Sekundarstufe II gibt es hingegen
allen drei Verbänden geplant und organisiert. bisher keine spezifische Ausbildung für
Deutsch als Fremdsprache. An der Universi-
tät Freiburg kann aber seit 1997 Deutsch als
4. Lehrerausbildung Fremdsprache innerhalb der Germanischen
Philologie gewählt werden.
Die Ausführungen von Müller (1990/94) und
Immer noch unterrichten in der West-
seine Einschätzungen galten bis vor wenigen
schweiz und im Tessin auf der Sekundarstufe
Jahren. Inzwischen wird der Bereich der Leh-
I oft und auf der Sekundarstufe II weitge-
rerausbildung für Kindergarten und Primar-
hend Lehrer und Lehrerinnen, welche nur auf
stufe neu gestaltet. den Unterricht „Deutsch als Muttersprache“
4.1. Kindergarten und Primarstufe vorbereitet sind. Es besteht dabei die Gefahr,
„dass Lernschwierigkeiten von Fremdspra-
Die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer chigen nicht oder nur ungenügend erkannt
für Kindergarten und Primarstufe war bisher werden“ (Müller 1990/94, 239).
kantonal unterschiedlich geregelt: In vielen
Kantonen geschah sie an kantonalen Lehrer- 4.3. Private Aus- und Weiterbildungsstätten
seminaren im Anschluss an die obligatorische für Unterrichtende Deutsch als
Schulzeit, in einigen Kantonen an den Uni- Fremd- und Zweitsprache
versitäten. Der Abschluss berechtigte zum Neben der öffentlichen Lehrerausbildung gibt
Unterricht auf den entsprechenden Stufen es in der Schweiz eine Vielzahl von privaten
und der Abschluss der kantonalen Lehrer- Schulen und halbprivaten Einrichtungen für
seminare zusammen mit einer mehrjährigen die Ausbildung von Unterrichtenden, auch
Berufspraxis auch zu einem anschließenden für den Bereich Deutsch als Fremd-/Zweit-
Studium an den Schweizer Hochschulen. sprache. Müller (1990/94) kommt zu der Ein-
Die Diskussion der letzten Jahre um die schätzung, dass von diesen Institutionen häu-
Errichtung von Fachhochschulen hat zu fig „die Anforderungen für ein künftiges FU-
Überlegungen geführt, nach denen die kanto- Lehrerprofil [FU ⫽ Fremdsprachenunter-
nalen Lehrerseminare zu Pädagogischen richt, M. L.] um einiges ernster genommen
Fachhochschulen ausgebaut werden sollen. werden als von staatlichen Ausbildungsstel-
Für die Ausbildung zu Unterrichtenden für len“ (Müller 1990/94, 243). So wurde haupt-
Kindergarten und Primarstufe wird in Zu- sächlich von Unterrichtenden an solchen pri-
kunft ein Maturaabschluss vorausgesetzt. vaten Institutionen 1997/98 ein „Anforde-
Welche Konsequenzen diese Umstrukturie- rungsprofil DaF/DaZ-Lehrer/in“ erarbeitet.
rungen für den Deutsch als Fremd- und Auch bei den privaten Ausbildungsstätten
Zweitsprache-Unterricht der Zukunft haben gibt es große Unterschiede zwischen den ein-
werden, ist momentan noch nicht abzuschät- zelnen Kantonen. Hier eine gewisse Auswahl
zen. von Einrichtungen zur Aus- und Weiterbil-
dung von in diesem Bereich Unterrichtenden:
4.2. Sekundarstufe I und II ⫺ bask GmbH, Bern (Berufsbegleitende
Die Ausbildung für zukünftige Deutschlehrer Ausbildung für Sprachkursleitende in der
beider Sekundarstufen geschieht sowohl für Erwachsenenbildung),
L1 als auch für L2 innerhalb der Germanistik ⫺ AEB Zürich (Akademie für Erwachsenen-
an den Universitäten. An vielen Universitä- bildung),
ten wird bei der Ausbildung nicht zwischen ⫺ Klubschulen Migros, Einführungskurs für
diesen beiden Schulstufen unterschieden, Sprachkursleitende,
9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz 119

⫺ Pestalozzianum Zürich: ZALF ⫺ Zusatz- Schon Ende der siebziger Jahre gab es
ausbildung für Lehrkräfte von Nicht- Überlegungen in der Westschweiz zur Kon-
Deutschsprachigen, zeption eines Lehrwerkes Deutsch als Fremd-
⫺ Pro Didacta: ADEFA ⫺ Ausbildungsgang sprache für die besonderen Bedürfnisse des
für Deutschlehrer von fremdsprachigen Unterrichts auf der Primarstufe. Eine eher
Jugendlichen und Erwachsenen, spielerische Sensibilisierung sollte dabei zen-
⫺ SAL ⫺ Schule für Angewandte Lingui- tral sein. So wurde zu Beginn der achtziger
stik Zürich, Jahre der sogenannte Cours romand (Lang
⫺ Forum Sprache-Unterricht Luzern/Zug u. a. 1983ff.) für die vierte, fünfte und sechste
(nur Weiterbildung), Primarklasse geschaffen.
⫺ Abteilungen bzw. Ämter verschiedener Di- Die Überlegungen im Zusammenhang mit
rektionen (Amt für Berufsbildung bei der der ,kommunikativen Wende‘, eine wach-
Direktion der Volkswirtschaft des Kan- sende Unzufriedenheit über die starke
tons Zürich/Lehrerfortbildung Kanton Deutschlandlastigkeit der bisher in der Se-
Luzern/Pädagogische Arbeitsstelle Kan- kundarstufe I verwendeten Lehrwerke und
ton St. Gallen), Berner Konferenz für Er- die Notwendigkeit eines problemlosen An-
wachsenenbildung, Verein zur Förderung schlusses an den Cours romand führten zur
der beruflichen Weiterbildung (VFBW/ Entwicklung des Westschweizer Lehrwerkes
ADEFA) Unterwegs Deutsch (Birbaum u. a. 1987ff.).
(Informationen zu diesen Einrichtungen Neben einem deutlichen Bezug auf die
in: Rundbrief 34, 1997). Schweizer Realität (Texte aus der Schweiz,
Schreibanlässe innerhalb der Schweiz, Vorbe-
Teilweise schliessen diese Einrichtungen mit
reitung von Schüleraustausch etc.) kommen
Diplomen für Fremdsprachenlehrer ab.
auch die anderen deutschsprachigen Staaten
zu Wort.
5. Lehrmittel in der Schweiz Leider muss hier vermerkt werden, dass
Unterwegs Deutsch kein Lehrwerk für die ge-
Schon seit Beginn des 20. Jhs wird in der samte Westschweiz ist, denn einzelne Kan-
Schweiz, auch im Bereich des Fremdspra- tone sind sehr früh aus der Koordination
chenunterrichts, zumeist mit Schweizer Lehr- ausgestiegen. So werden heute neben dieser
mitteln gearbeitet (Briod 1915; Rochat/Loh- neueren Eigenproduktion durchaus noch
mann 1931; zur Situation bei den Lehrmitteln ältere Lehrwerke eingesetzt, die vor der kom-
in der Westschweiz vgl. von Flüe-Fleck 1994). munikativen Wende konzipiert worden sind.
Die in diesen Schweizer Lehrwerken vermit- Sowohl der Cours romand als auch Unter-
telte Standardnorm des Deutschen orien- wegs Deutsch sind inzwischen keine moder-
tiert(e) sich häufig am Binnendeutschen und nen Lehrwerke mehr, und wieder gab es ge-
entsprach daher selten der komplexen meinsame Überlegungen der Westschweiz zur
Sprachsituation in der Deutschschweiz (zum Schaffung eines modernen Lehrwerks. Neue
Umgang mit unterschiedlichen Sprachvarie- Erkenntnisse aus der Forschung zur Fremd-
täten vgl. Klotz/Sieber 1994; Beispiele für sprachendidaktik sollten in die Konzeption
Schweizer Deutsch als Fremdsprache-Lehr- einfliessen: Modularität, Möglichkeit von
werke: Birbaum u. a. 1987ff.; Gfeller 1992; Immersionsunterricht/-phasen, Stärkung des
Lang u. a. 1983ff.; Uhlig u. a. 1961ff.). eigenverantwortlichen Lernens (Transparenz,
Lösungsschlüssel, Selbstevaluationsangebote)
5.1. Lehrmittel für öffentliche Schulen etc. (zu Perspektiven einer neuen Lehrwerk-
Speziell in der Westschweiz ist man im Be- kultur im Bereich Fremdsprachen siehe No-
reich der Auswahl von Lehrwerken sehr um- dari 1995; zur Modularität Lenz 1995;
sichtig. Seit 1962 gibt es eine Koordination Merkt 1994).
der Westschweizer Kantone für die Schule. Im Mai 1998 ist die Entscheidung zumin-
Speziell für das Fach Deutsch (als L2) waren dest für die nächsten Jahre gefallen: Es wird
die großen Unterschiede zwischen den Schul- kein Westschweizer Deutsch als Fremdspra-
systemen eher hemmend, so dass von Flüe- che-Lehrwerk geben. Bis spätestens 2001/
Fleck mit Recht festhält: „Von einem koordi- 2002 werden sowohl für die Primarstufe als
nierten Deutschunterricht kann jedenfalls im auch für die Sekundarstufe I Lehrwerke aus
Jahr 1992, nach gut zwanzig Jahren Arbeit, Deutschland bzw. Großbritannien einge-
nur sehr bedingt gesprochen werden.“ (von führt. Obwohl in diesen Lehrmitteln die
Flüe-Fleck 1994, 118) Schweiz als Thema oder als Unterrichtsge-
120 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

genstand praktisch nicht vorkommt, ist kei- Dennoch leisten diese Materialien und
nerlei Bearbeitung hinsichtlich der landes- Lehrwerke einen wichtigen Beitrag zur
kundlichen und sprachlichen Situation der sprachlichen und kulturellen Integration der
(Deutsch-)Schweiz vorgesehen. sogenannten „zweiten Ausländergeneration“.
Vor dem Hintergrund umfangreicher
Überlegungen zur Funktion eines modernen 5.3. Lehrwerke für Dialekt
Westschweizer Deutsch als Fremdsprache- Da in der Deutschschweiz in der mündlichen
Lehrwerkes (siehe von Flüe-Fleck 1994; No- Kommunikation fast ausschliesslich Dialekt
dari 1995) kann man diese Entscheidung nur verwendet wird, gibt es schon seit langer Zeit
als verpasste Gelegenheit bezeichnen. Dies Lehrmaterialien zum Dialektlernen (siehe
erstaunt um so mehr, wenn man bedenkt, Baur 1941/1971). Hier müssen wir grundle-
dass sich bei internationalen Lehrwerken die gend unterscheiden zwischen Lehrmateria-
Berücksichtigung der verschiedenen deutsch- lien, die die produktive Verwendung der
sprachigen Länder immer stärker durchsetzt Mundart zum Ziel haben (Zwicky 1987;
(vgl. Abschnitt 5.5). Auch im internationalen Feuz-Thurnheer 1988; Feuz 1998), und sol-
Prüfungsbereich Deutsch als Fremdsprache chen, welche nur auf das Hörverstehen abzie-
wird immer stärker ein Ansatz verfolgt, der len, für die produktive Seite aber Standard-
der Plurizentrik des deutschsprachigen Raums deutsch voraussetzen (Müller/Wertenschlag
Rechnung trägt. Demnach sollen auch in 1985).
Deutschprüfungen Texte aus Österreich und Lehrwerke mit dem Lernziel Dialektspre-
der Schweiz vorkommen (vgl. Art. 129: Ab- chen vermitteln zumeist einen der grossräu-
satz: Internationale Kooperationen zur Lan- migeren Dialekte, wie z. B. das Berndeutsche.
deskunde der deutschsprachigen Länder). Ein Lehrwerk zum Dialekthörverstehen
5.2. Lehrmittel für Ausländer, Flüchtlinge, wie Müller/Wertenschlag (1985) setzt Kennt-
Asylbewerber und deren Kinder nisse in der deutschen Standardsprache vor-
aus und baut auf diesen auf. Das Problem
Die spezifische Situation in der Deutsch- der verschiedenen Dialekte wird durch die
schweiz mit ihren schon mehrfach erwähnten Berücksichtigung großräumiger Dialekte ge-
Eigenheiten führte zur Entwicklung einer löst, die auf den Kassetten und im Lehrbuch
ganzen Reihe von Lehrmaterialien für die vermittelt werden. Solche Lehrmittel setzen
Zielgruppe Ausländer/Flüchtlinge/Asylbewer- aber Kommunikationssituationen voraus, in
ber. Zum grossen Teil verdanken diese ihre denen die Dialektsprechenden bei der Mund-
Existenz dem persönlichen Einsatz einzelner
art bleiben, während der Fremdsprachige sich
Lehrender, aber auch dem Engagement ver-
der Standardsprache bedient. Dies ist jedoch
schiedener kantonaler Einrichtungen und
eine Situation, die häufig von Dialektspre-
Hilfswerke, die sich die Integration dieser
chern als unnatürlich empfunden wird. Ein
Zielgruppe zur Aufgabe gemacht haben. Es
Erfolg eines solchen Ansatzes stellt sich nur
sind häufig sogenannte „graue Papiere“, ein-
fach und preisgünstig gemacht. In Einzelfäl- ein, wenn der Anderssprachige darauf be-
len sind dies Materialien für spezifische steht, dass der Kommunikationspartner im
Sprachgruppen, meistens aber für verschie- Dialekt bleibt.
dene Ausgangssprachen und -kulturen. 5.4. Spezielle Lehrwerke
Vor allem für die Kinder und Jugendlichen
dieser Zielgruppen, die öffentliche Schulen Neben den genannten Lehrmaterialien müs-
besuchen, sind im Auftrag von größeren sen hier noch einige Lehrmaterialien erwähnt
Deutschschweizer Kantonen auch offizielle werden, die für spezifische Bedürfnisse er-
Lehrbücher entstanden, die auf die Deutsch- stellt wurden:
schweizer Wirklichkeit abzielen, zumindest Für das Gastgewerbe und die Hotellerie ⫺
was die landeskundlichen und kulturellen In- eine in der Schweiz wichtige Branche, in der
formationen betrifft, so z. B. Deutsch für recht viele ausländische Arbeitnehmerinnen
fremdsprachige Kinder (Nodari 1985) oder und Arbeitnehmer beschäftigt sind ⫺ wurden
Kontakt (Nodari 1994), die zudem teilweise in den letzten Jahren zwei schweizspezifische
recht neue fremdsprachendidaktische Ansätze Lehrmaterialien entwickelt: Hotellerie und
integrieren. Das Problem des Dialekts als ge- Gastronomie (Clalüna 1988) und der Fern-
sprochener Umgangssprache der Deutsch- kurs Deutsch à la carte (Clalüna 1993). Im
schweiz wird aber auch in diesen Lehrwerken Vordergrund steht hierbei die Fachsprache
nicht in befriedigender Weise berücksichtigt. dieser Branche, die sich vor allem im Wort-
9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz 121

schatz deutlich von derjenigen der Bundesre- genen und arbeitsplatzbezogenen Sprachkurse
publik unterscheidet. sollte in Zukunft weiter ausgebaut werden.
Für den Deutsch-als-Fremdsprache-Unter- Die Aus- und Weiterbildung der Fremd-
richt in der Weiterbildung konzipiert ist Wyss sprachlehrer sollte für Deutsch als Fremd-
(1997). Bovet/Künzle (1996) ist für das spezi- und Zweitsprache intensiviert und für man-
fische Hörtraining auf der Grundstufe ausge- che Schulstufen erst geschaffen werden (z. B.
legt. für die Berufsschulen und für die Sekundar-
stufe II).
5.5. Internationale Lehrwerke Ein Konzept für die Einbeziehung des Dia-
Zum Ende dieses Überblicks über die lekts besonders für den Bereich Deutsch als
Deutsch als Fremdsprache-Lehrwerksitua- Zweitsprache ist von großer Dringlichkeit.
tion in der Schweiz sollten wir noch darauf Eine zentrale Arbeitsstelle für Deutsch als
hinweisen, dass sich seit 1995 eine gewisse Zweitsprache in der Schweiz ist nötig und
Veränderung bei den kommerziellen, überre- könnte die äußerst vielfältigen Aktivitäten
gionalen Lehrwerken abzeichnet: Schweizer und Projekte koordinieren sowie z. B. einem
Autoren arbeiten mit deutschen und österrei- in der Diskussion befindlichen Anforde-
chischen Kollegen zusammen. Es ist dies so- rungsprofil für Lehrer größeres Gewicht ver-
zusagen ein dritter Schritt innerhalb einer leihen. Bisher gibt es keinen gesamtschwei-
länger andauernden Entwicklung: zerisch anerkannten Studiengang.
1. Bis weit in die achtziger Jahre gab es viele In einem mehrsprachigen Land mit vier
überregionale Lehrwerke, die von deut- ebensolchen Kantonen wird sich in den näch-
schen Autoren verfasst wurden und nur sten Jahren sicherlich der Immersionsunter-
die deutsche Wirklichkeit widerspiegelten, richt weiterentwickeln. Nach den Erfahrun-
also die anderen deutschsprachigen Län- gen im Ausland (Kanada, Luxemburg etc.)
der ignorierten (hierzu genauer Art. 126). und im Inland mit einzelnen Privatschulen,
2. Abgelöst wurde diese Situation durch die einen solchen Unterricht praktizieren, ist
Lehrwerke, die zumindest teilweise auf die in verschiedenen Kantonen auch die öffentli-
anderen deutschsprachigen Staaten ein- che Schule in Bewegung geraten. So gibt es
gingen. z. B. in den Kantonen Wallis und Bern schon
3. Seit 1995 gibt es Autorenteams aus den Projekte im Bereich Kindergarten, Primar-
verschiedenen deutschsprachigen Staaten, schule und Sekundarstufe I. Vereinzelt wird
die gemeinsam Lehrwerke konzipieren. auch auf der Sekundarstufe II experimentiert
(z. B. Kollegium St. Michael in Freiburg).
Hör- und Lesetexte aus den verschiedenen Die Zukunft sollte aber eine breite Palette
deutschsprachigen Regionen, in denen die solcher Schulen auch in anderen Kantonen
Unterschiede in Aussprache und Betonung bringen. Die Überlegungen für den zukünfti-
zum Ausdruck kommen, daneben ein Wort- gen Deutschunterricht in der Westschweiz
schatz, der die Unterschiede der Varianten ei- schliessen solche Ideen für Immersionsunter-
ner plurizentrischen Sprache ins Bewusstsein richt oder Immersionsphasen neben traditio-
bringt sowie neueste Ansätze der Fremdspra- nellem Fremdsprachenunterricht ein. Im Tes-
chendidaktik und der interkulturellen Kom- sin wird auf der Gymnasialstufe seit einem
munikation prägen diese Lehrwerke (Bei- Jahr zweisprachig Französisch/Italienisch un-
spiele für diesen Ansatz sind: Müller u. a. terrichtet. Diese Erfahrungen sollen 2001 zu
1996/98; Häublein 1995; Vorderwülbecke Versuchen mit Deutsch/Italienisch führen
1995/98). (Scuola cantonale superiore di commercio in
Bellinzona).
6. Zukunftsperspektiven Die neue Professur Deutsch als Fremd-
sprache an der Universität Freiburg berech-
Im Bereich Deutsch als Zweitsprache ist für tigt zu Hoffnungen auf einen Gymnasialleh-
die nächsten Jahre ein weiterer Einbezug der rer-Studiengang Deutsch als Fremdsprache,
Interkulturellen Pädagogik dringend erfor- zumindest für die Kantone, deren Lehreraus-
derlich (siehe Poglia u. a. 1995). bildung an dieser Hochschule stattfindet.
Es fehlen in der Schweiz, abgesehen von Ausserdem wäre ein Zusatzstudiengang zur
einigen abgeschlossenen Pilotversuchen, Pro- Weiterbildung schon im Beruf stehender Leh-
jekte zur zweisprachigen Alphabetisierung. rer wünschenswert.
Der Bereich der berufsbezogenen Kurse für Ein echter Lehrstuhl für Deutsch als
Deutsch als Zweitsprache sowie der fachbezo- Fremd-/Zweitsprache könnte diesem Fach
122 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

(ähnlich wie in Deutschland und inzwischen 1999 auf Deutsch, Französisch, Italienisch
auch in Österreich) grösseres akademisches und Englisch vor und wurde in verschiedene
Gewicht verleihen, dringend nötige For- weitere europäische Sprachen übersetzt.
schungsprojekte in diesem Bereich in der
Schweiz in Gang bringen und dem Schulun-
terricht neue Impulse geben. 7. Literatur in Auswahl
Die für 2001 geplante Erweiterung des Allemann-Ghionda, Cristina (1988): Ausländische
zweisprachigen Studienangebots und der Kinder, Jugendliche und Erwachsene im schweizeri-
zweisprachigen Abschlüsse an der Universität schen Bildungswesen. Bern.
Freiburg muss in Zusammenarbeit zwischen Ammon, Ulrich; Norbert Dittmar; Klaus J. Mat-
den einzelnen Fakultäten und dem seit dem theier (Hg.) (1988): Soziolinguistik. Ein internatio-
1. 10. 1999 existierenden Lern- und For- nales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und
schungszentrum Fremdsprachen konkreti- Gesellschaft. 2 Bde. Berlin/New York (HSK 3).
siert werden. Dabei spielt auch die Anerken- Babylonia. Zeitschrift für Sprachunterricht und
nung/Zertifizierung von während des Studi- Sprachenlernen. Comano (1991 ff.).
ums erworbenen Fremdsprachenkenntnissen Baur, Arthur (1941): Praktische Sprachlehre des
eine große Rolle. Schweizerdeutschen. 2. Aufl. Niederhasli.
Weitere überregional/international einsetz- ⫺ (1971): Grüezi mitenand. Praktische Sprachlehre
bare Lehrwerke sollten in Kooperation von des Schweizerdeutschen. 4. Aufl. Winterthur.
Fachleuten der verschiedenen deutschspra-
Bianconi, Sandro (Hg.) (1995): L’italiano in Sviz-
chigen Länder erstellt werden. Dabei sollte zera. Locarno.
weiter von den bisher üblichen Klischees über
Bickel, Hans; Robert Schläpfer (Hg.) (1994): Mehr-
die Schweiz abgerückt und die verschiedenen
sprachigkeit ⫺ eine Herausforderung. Aarau etc.
Regionen des deutschsprachigen Raumes mit (Sprachlandschaft 13).
ihren interessanten Besonderheiten in ein Ge-
samtkonzept integriert werden. Vielverspre- Birbaum, Hanspeter et al. (Hg.) (1987/89): Unter-
wegs Deutsch 7⫺9. Basis und Erweiterung. Schüler-
chend ist in dieser Hinsicht bereits die Ko- buch, Schülerheft und Lehrerhandbuch. Genf.
operation der deutschsprachigen Länder im
Bereich der Revision internationaler Deutsch Bischofsberger, Marco (1997): Suisse italienne. In:
Goebl/Nelde/Starý/Wölck (Hg.), 1870⫺1878.
als Fremdsprache-Diplome (derzeit Zertifi-
kat Deutsch/Zentrale Mittelstufenprüfung) Böschenstein, Brigitte; Jacqueline Huber; Inge
und die begonnene trinationale Zusammen- Kaus (1994): L’immersion dans les régions roman-
ches/Immersion in Romanischbünden. In: Babylo-
arbeit bei der Revision der Kontaktschwelle nia 4, 58⫺60.
Deutsch als Fremdsprache (threshold level)
und der Niveaus darunter und darüber (way- Bovet, Michelle; Beda Künzle (1996): Stereo. Das
Grundstufenhörprogramm Deutsch als Fremdspra-
stage/vantage) im Rahmen des Europarates. che ⫺ zu zweit und für Selbstlerner. München.
Die Kooperation von Fachleuten der
Schweiz mit solchen aus Deutschland und Briod, Ernest (1915): Cours élémentaire de langue
allemande. Première partie. Lausanne.
Österreich in der Lehrerweiterbildung sollte
sowohl innerhalb der Schweiz als auch im Brohy, Claudine (1996): Zweisprachige Modelle und
Ausland weiter verstärkt werden. Projekte an Schweizer Schulen. Solothurn.
Vom Europäischen Sprachenportfolio Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenos-
(ESP) (Schweizer Version), welches seit 1999 senschaft vom 29. Mai 1874 (Stand: 8. 9. 1998).
und noch bis 2001 erprobt wird, erhoffen wir Carigiet, Werner (1998): Die romanische Volks-
uns starke Impulse einerseits für die mehr- schule. In: Babylonia 3, 47⫺48.
sprachige Schweiz (vgl. EDK 1998, Spra- Clalüna, Monika (1988): Hotellerie und Gastrono-
chenkonzept Schweiz), andererseits auch für mie. Bonn.
die Realisierung eines vielsprachigen Euro- ⫺ (1993): Deutsch à la carte ⫺ Fernkurs für Gastge-
pas. Das ESP ist ein Dokument, „das dazu werbe und Hotellerie in der Schweiz. Zürich.
dient, die Kenntnisse in verschiedenen Spra- EDI [Eidgenössisches Departement des Innern]
chen sichtbar zu machen und zu dokumentie- (Hg.) (1989a): Zustand und Zukunft der viersprachi-
ren“ (EDK 1999, Informationsbroschüre, 1). gen Schweiz. Abklärungen, Vorschläge und Empfeh-
Es soll einerseits als Informationsinstrument lungen einer Arbeitsgruppe des Eidgenössischen De-
dienen (Vorzeigefunktion), andererseits ein partementes des Innern. Bern.
Arbeitsinstrument sein, das zum Sprachenler- ⫺ (1989b): Materialienband zum Schlussbericht der
nen motiviert und die Selbständigkeit der Arbeitsgruppe zur Revision von Artikel 116 der Bun-
Lernenden fördert. Das ESP liegt seit Januar desverfassung. Bern.
9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz 123

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10. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in


nichtdeutschsprachigen Ländern I: Europäische Perspektive

1. Einleitung lung Europas markiert, hat der Prozess der


2. Deutsch in Europa europäischen Einigung eine völlig neue Dy-
3. Entwicklungslinien der europäischen namik entwickelt. Die Schaffung des europä-
,Auslandsgermanistik‘
4. Germanistik und Deutsch als Fremdsprache ischen Binnenmarktes 1993, der EU-Beitritt
in einzelnen Ländern der bis dahin neutralen Länder Österreich,
5. Ausblick Schweden und Finnland 1995 und vor allem
6. Literatur in Auswahl die Einführung einer gemeinsamen Währung
in elf europäischen Ländern am 1. Januar
1. Einleitung 1999 sind Meilensteine auf dem Weg zu dem
,gemeinsamen Haus‘ Europa, das Politiker
Seit der historischen Zäsur des Jahres 1989, seit den 80er Jahren immer wieder gefordert
die das Ende der Nachkriegszeit und der Tei- haben. Auch die Länder des mittleren und
10. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache I: Europäische Perspektive 125

östlichen Europa, die sich seit der politischen und in der Schweiz (ca. 4 Mio.), wo es außer
Wende von 1989 in einem schwierigen politi- Deutsch auch andere Amtssprachen gibt. Re-
schen und ökonomischen Transformations- gionale Amtssprache ist Deutsch darüber
prozess befinden, werden in absehbarer Zeit hinaus im östlichen Belgien und im italieni-
zur europäischen Union gehören. Verhand- schen Südtirol (vgl. Ammon 1991, 58ff. und
lungen zum EU-Beitritt einiger mittel- und 66ff.).
osteuropäischer Reformstaaten sind im Gang, Als Muttersprache deutschsprachiger Min-
von einer Erweiterung auf bis zu 26 Länder derheiten ohne offiziellen Status spielt
ist gelegentlich die Rede. Deutsch in Ostfrankreich (Elsass-Lothringen;
Aber die Einigung Europas wird auf ca. 1,2 Mio. Sprecher), im südlichen Däne-
Dauer nur gelingen, wenn die politische und mark (Nordschleswig, ca. 20 000) und in den
ökonomische Integration mit einer geistig- ehemals deutsch besiedelten Gebieten Polens
kulturellen verbunden wird, wenn die neuen (ca. 700 000) und Tschechiens (150 000) eine
Möglichkeiten und Chancen, die das geeinte gewisse Rolle. Hinzu kommen die deutschen
Europa seinen Bürgern bietet, auch mit einer Siedlungsgebiete in Russland bzw. der ehe-
entsprechenden ,europäischen Kompetenz‘ maligen Sowjetunion, Ungarn und Rumä-
eben dieser Bürger einhergehen (vgl. Dethloff nien, die allerdings als Verbreitungsgebiete
1993, 6). Kenntnisse nicht nur des Engli- des Deutschen als Mutter- und Nationali-
schen, sondern mehrerer Fremdsprachen so- tätensprache im Zuge der Aussiedlung der
wie interkulturelle bzw. transnationale Kom- deutschstämmigen Bevölkerung an Bedeu-
munikationsfähigkeit sind wichtige Bestand- tung verloren haben.
teile einer solchen europäischen Kompetenz,
die der kulturellen und sprachlichen Vielfalt 2.2. Deutsch als Verkehrssprache
des zusammenwachsenden Europa gerecht Die vergleichsweise hohe Zahl an Mutter-
werden soll. sprachensprechern konnte dennoch den Be-
In diesem hier nur grob skizzierten politi- deutungsverlust des Deutschen als Verkehrs-
schen Rahmen ist die Entwicklung des Fa- sprache in der 2. Hälfte des 20. Jh.s nicht ver-
ches Deutsch als Fremdsprache in Europa hindern. Im 19. Jh. und bis zum 2. Weltkrieg
heute zu sehen. Die folgende Übersicht geht galt das Deutsche welt- und europaweit als
von der Bedeutung der deutschen Sprache als die Wissenschafts- und Bildungssprache. In
Muttersprache, Amtssprache und Fremd- den 20er und 30er Jahren noch war es als
sprache in Europa aus und beschreibt dann Sprache der Naturwissenschaften zumindest
allgemeine Entwicklungstendenzen des Fa- gleichrangig mit dem Englischen (vgl. Am-
ches Deutsch als Fremdsprache bzw. der Ger- mon 1991, 251ff.), und auch in den Geistes-
manistik. Den Abschluss bilden detaillierte und Sozialwissenschaften wurden deutsch-
Darstellungen der Situation in vier ausge- sprachige Publikationen auf der ganzen Welt
wählten west- bzw. osteuropäischen Ländern, anerkannt und rezipiert. Auf Grund der poli-
an denen sich aktuelle Tendenzen auf exem- tischen Dominanz Deutschlands und Öster-
plarische Weise veranschaulichen lassen. reichs im östlichen Mitteleuropa fungierte
das Deutsche zudem hier als Lingua Franca
und als Sprache der gebildeten Oberschicht.
2. Deutsch in Europa Nach 1945 ging die Bedeutung der deut-
schen Sprache als Verkehrssprache deutlich
2.1. Deutsch als Muttersprache und zurück; sie erlebte einen „Funktions- und
Amtssprache Wertewandel von einer internationalen Wis-
Unter den etwa 80 in Europa gesprochenen senschaftssprache zu einer Wirtschaftsspra-
Muttersprachen nimmt das Deutsche mit ca. che von regionaler Geltung“ (Földes 1996,
91,5 Millionen Sprechern nach dem Russi- 371). Insbesondere als Publikations-, Vor-
schen (135 Mio.) und mit deutlichem Abstand trags- und Konferenzsprache der Wissen-
vor Französisch (58 Mio.) und Englisch (55 schaft scheint das Deutsche heute gegenüber
Mio.) den zweiten Rang ein (vgl. Haarmann dem Englischen auch im deutschsprachigen
1993, 53ff.). Den Status einer Amtssprache Raum kaum noch konkurrenzfähig zu sein
auf nationaler Ebene genießt das Deutsch in (vgl. Ammon 1991, 254f.). Dies gilt vor allem
Deutschland (mit ca. 76 Mio. Sprechern), in für das westliche Europa, weniger für die ehe-
Österreich (ca. 7,6 Mio.) und im Fürstentum mals sozialistischen Länder in Mittel- und
Liechtenstein (ca. 30 000), wo Deutsch ein- Osteuropa, wo das Deutsche seine ange-
zige Amtssprache ist, sowie in Luxemburg stammte Position als Verkehrssprache und
126 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

Lingua Franca nicht nur der Wissenschaft ischen Einigungsprozesses im Jahr 1958 eine
noch stärker behaupten konnte. Eine empiri- der zunächst vier, seit 1995 elf Amts- und Ar-
sche Erhebung von Ammon noch vor der po- beitssprachen der EG bzw. EU; zwar gelten
litischen Wende von 1989 deutet allerdings alle elf Amtssprachen offiziell als gleichbe-
auch hier auf einen Trend zu Ungunsten des rechtigt, faktisch kann aber von einer Gleich-
Deutschen und zu Gunsten insbesondere des berechtigung nicht die Rede sein. Eine Reihe
Englischen als Verkehrssprache hin (vgl. Am- empirischer Untersuchungen seit Anfang der
mon 1991, 126ff.). 90er Jahre (Haselhuber 1991; Gehnen 1991;
Zuverlässige empirische Daten zur Bedeu- Mohr/Schneider 1994), insbesondere eine
tung des Deutschen als Verkehrssprache in größere Erhebung von Michael Schloßma-
Europa liegen derzeit kaum vor. Unter dem cher, die im Rahmen des oben erwähnten
Titel „Deutsch in Europa“ hat ein zwischen Forschungsprojekts „Deutsch in Europa“
1991 und 1995 durchgeführtes und von der entstanden ist (Schloßmacher 1996), belegen
Deutschen Forschungsgemeinschaft geför- die eindeutige Dominanz des Französischen
dertes Projekt der Universität Duisburg an- und ⫺ seit dem EG-Beitritt Großbritanniens
hand repräsentativer Erhebungen die Ver- 1973 ⫺ des Englischen, mit einer gewissen
wendung des Deutschen (im Vergleich zu an- Tendenz zur Bevorzugung des Englischen ge-
deren Sprachen) in Kommunikationssituatio- genüber dem vor allem bei EU-Beamten
nen zwischen Sprechern verschiedener Mut- heute noch vorherrschenden Französisch.
tersprachen in Wirtschaft, Wissenschaft und Das Deutsche nimmt im Vergleich aller elf
Politik untersucht. Die Resultate dieses For- Amts- und Arbeitssprachen zwar den dritten
schungsprojekts, zur Zeit erst teilweise publi- Platz ein, spielt aber tatsächlich weder als Ar-
ziert (vgl. Ammon 1993; Glück 1992; Schloß- beitssprache bei Konferenzen noch als Ver-
macher 1996), bestätigen im Wesentlichen kehrssprache bei formellen und informellen
das oben Gesagte. So weist etwa die Untersu- Kommunikationssituationen eine nennens-
chung von Stellenanzeigen in wichtigen euro- werte Rolle.
päischen Tages- und Wochenzeitungen und Auch in dem bereits 1949 gegründeten Eu-
der darin formulierten Anforderungen an die roparat, dem mit derzeit 40 weitaus mehr eu-
Sprachkenntnisse der Bewerber auf einen si- ropäische Länder angehören als der EU und
gnifikanten Unterschied zwischen West- und in dem außer den westeuropäischen auch die
Osteuropa hin: meisten mittel- und osteuropäischen Länder
„Während in Westeuropa Englisch die vertreten sind, spielt Deutsch eine vergleichs-
überwiegend dominierende Verkehrssprache weise bescheidene Rolle. Anders als in der
des Wirtschaftslebens ist und das auch weit EU genießen im Europarat nur Englisch und
hinter Englisch zurückliegende Französisch Französisch Amtssprachenstatus. Die 1970
vor Deutsch rangiert, hat Englisch in Osteu- (zusammen mit Italienisch) erfolgte Anerken-
ropa keine so deutlich dominante Stellung. nung des Deutschen als Arbeitssprache des
Vielmehr ist Deutsch in Osteuropa neben Europarats kann über ihre faktische Zweit-
Englisch (noch?) eine durchaus gewichtige rangigkeit in dieser gesamteuropäischen In-
Verkehrssprache“ (Ammon 1993, 44). stitution nicht hinwegtäuschen (vgl. Ammon
1991a, 80).
2.3. Deutsch als Arbeitssprache in Die Gründe für die im Vergleich zu ihrer
europäischen Institutionen quantitativen und ökonomischen Bedeutung
Die Diskrepanz zwischen der quantitativ relativ schwache Stellung der deutschen
starken Präsenz des Deutschen als Mutter- Sprache als Verkehrs- und Arbeitssprache in
sprache und seiner geringen Bedeutung als Europa sind sicher vielfältig. Politische Aver-
Verkehrssprache in Europa zeigt sich auch in sionen gegenüber dem Deutschen auf Grund
den europäischen Institutionen, insbesondere der Vergangenheit (vgl. Ammon 1991a, 81)
den Institutionen der Europäischen Union. mögen noch eine Rolle spielen, sind aber, wie
Unter rein quantitativen und ökonomischen die Arbeit von Schloßmacher zeigt, empirisch
Gesichtspunkten ist Deutsch innerhalb der tatsächlich kaum nachweisbar (vgl. Schloß-
EU die weitaus gewichtigste Sprache, zumal macher 1996, 169). Wichtiger scheint dagegen
seit dem EU-Beitritt Österreichs 1995. Dem das geringe Ansehen, das die deutsche Spra-
entspricht die faktische Bedeutung der deut- che bei den Deutschen selbst genießt und das
schen Sprache als Arbeitssprache in den ver- bei vielen Vertretern des Faches Deutsch als
schiedenen EU-Gremien jedoch nicht. Zwar Fremdsprache insbesondere in den Ländern
ist Deutsch schon seit Beginn des europä- Mittel- und Osteuropas auf wenig Verständ-
10. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache I: Europäische Perspektive 127

nis stößt (vgl. Földes 1996, 379). Der zweifel- nenden an mittel- und osteuropäischen Schu-
los wichtigste Grund für die Schwäche des len. Zwar kann sich das Deutsche in man-
Deutschen als europäische Verkehrssprache chen dieser Länder (v. a. in Ungarn) auch ge-
in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik ist genüber dem Englischen sogar als erste
aber die vergleichsweise geringe Verbreitung Fremdsprache behaupten, dennoch zeichnet
des Deutschen als Fremdsprache, vor allem sich auch hier eine deutliche Tendenz zu
im westlichen Teil Europas. Die Bemühungen Gunsten des Englischen ab, die aber vorläu-
der Bundesregierung, die Stellung des Deut- fig vor allem zu Lasten des Russischen und
schen in den europäischen Institutionen zu nur teilweise des Deutschen geht. Den 10
verbessern, sollten sich daher auf die Förde- Millionen Deutschlernern in dieser Region
rung deutscher Sprachkenntnisse im Rahmen stehen deutlich über 20 Millionen Englisch-
einer europäischen Fremdsprachenpolitik lernende gegenüber. Der weltweite Trend hin
konzentrieren. zum Englischen und weg von allen anderen
(Fremd-)Sprachen ist auch in Europa unge-
2.4. Deutsch als Fremdsprache und brochen und wird sich auch in Zukunft fort-
europäische Mehrsprachigkeit setzen. In einigen Ländern vor allem West-
Von den weltweit etwa 20 Millionen Men- und Nordeuropas (so in den Niederlanden, in
schen, die nach Angaben des Auswärtigen Dänemark und in Norwegen) ist Englisch
Amtes in den verschiedensten Bildungsinsti- obligatorische erste und daher auch häufig
tutionen Deutsch als Fremdsprache lernen, einzige Fremdsprache, ähnlich administrative
leben drei Viertel in Europa (vgl. Thiede- Maßnahmen zur Förderung der Englisch-
mann 1996, 24). Deutsch ist, wie Ammon kenntnisse sind auch anderswo im Gespräch,
schon 1993 festgestellt hat, „schwerpunktmä- etwa in Frankreich und einigen osteuropäi-
ßig eine europäische Schulfremdsprache“ schen Ländern.
(Ammon 1993a, 14). Die Tendenz zur Kon- Die eindeutige Dominanz des Englischen
zentration des Deutschlernens in Europa hat in einer Region, deren Eigenart gerade in ih-
sich in den vergangenen Jahren noch ver- rer sprachlichen und kulturellen Vielfalt be-
stärkt, einmal infolge des abnehmenden In- steht, hat in den vergangenen Jahren lebhafte
teresses an europäischen Sprachen außerhalb Diskussionen über eine angemessene euro-
Europas, zum andern aber auch infolge des päische Fremdsprachenpolitik ausgelöst. Da-
Deutsch-Booms in den Staaten Mittel- und bei besteht Einigkeit darin, dass dem Erler-
Osteuropas seit der politischen Wende von nen von Fremdsprachen in einem zusammen-
1989. Innerhalb der EU nimmt das Deutsche wachsenden Europa in der Zukunft eine noch
mit ca. 3 Millionen Lernenden den dritten größere Rolle zukommen wird als heute. Bei
Rang der Schulfremdsprachen ein, vor Spa- aller Unterschiedlichkeit der vorgeschlage-
nisch mit ca. 1,4 Millionen, aber doch mit nen fremdsprachenpolitischen Konzepte (vgl.
deutlichem Abstand zum Französischen (9 Bosch 1997) besteht doch auch darüber hin-
Mio.) und vor allem zum Englischen mit etwa aus weitgehend Konsens, dass nicht der Be-
30 Millionen Lernenden (Zahlen nach Am- schränkung auf eine Fremdsprache, die in
mon 1993a; 14; Zahlen für Deutsch auf diesem Fall zweifellos die europa- und welt-
Grund neuerer Angaben zu den neuen EU- weite Leitsprache Englisch wäre, sondern ei-
Mitgliedern Finnland und Schweden aktuali- ner individuellen Mehrsprachigkeit die Zu-
siert). Erweitert man die Perspektive über die kunft gehören wird. Nicht in der Konkurrenz
EU hinaus auf Gesamteuropa und bezieht zum Englischen, sondern im Kontext einer
man insbesondere die Länder Mittel- und europäischen Mehrsprachigkeit wird auch
Osteuropas ein, so stellt sich die Lage der das Deutsche seinen Platz als eine der wich-
Fremdsprache Deutsch weitaus günstiger dar. tigsten europäischen Sprachen behaupten
Rechnet man die Angaben aus einer neuen können.
Erhebung des Auswärtigen Amtes zu allen
Ländern des östlichen Europa einschließlich
der ehemaligen Sowjetunion (mit Ausnahme 3. Entwicklungslinien der
der mittelasiatischen Republiken sowie Ar- europäischen ,Auslandsgermanistik‘
meniens und Aserbaidschans, zu denen An-
gaben fehlen) und des ehemaligen Jugosla- Das Studium der deutschen Sprache, Litera-
wien (mit Ausnahme Bosniens, wozu keine tur und Landeskunde an Hochschulen außer-
Angaben vorliegen) zusammen, so ergibt sich halb des deutschsprachigen Raums steht in
eine Zahl von ca. 10 Millionen Deutschler- engem Zusammenhang mit der Präsenz der
128 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

deutschen Sprache an den Schulen der betref- nistik an Bedeutung verloren hat“ (Blamber-
fenden Länder. An Schulen werden die vor ger/Neuner (Hg.) 1996, 5).
allem sprachlichen Grundlagen gelegt, auf Die Gründe für diese Entwicklung sind si-
denen das Studium aufbauen kann; die Schu- cherlich weniger in den Bemühungen der ,in-
len bieten den Absolventen aber in der Regel terkulturellen Germanistik‘ zu suchen, die
auch am ehesten eine Berufsperspektive als Vielfalt der kulturspezifischen ,Blickwinkel‘
Deutschlehrer. Insofern gilt, dass sich nur da, auf Deutsches und die deutschsprachigen
wo der Deutschunterricht an Schulen vertre- Länder stärker zur Geltung zu bringen. Eher
ten ist, auch die Hochschulgermanistik gut schon dürfte der von Anthony Stephens aus
entwickeln kann (vgl. Ammon 1991, 456f.). australischer Perspektive beklagte Jargon
Nach dem Bericht der Bundesregierung deutschsprachiger germanistischer Publika-
zur Stellung der deutschen Sprache in der tionen (vgl. Stephens 1996) und der erstaunli-
Welt gab es zu Beginn der 80er Jahre in na- che Provinzialismus der muttersprachlichen
hezu allen europäischen Ländern (Ausnah- Germanistik eine Rolle gespielt haben, die die
men sind die Kleinstaaten Andorra, Vatikan, erforderliche Internationalisierung ihrer In-
Malta und Zypern) germanistische Studien- halte und Forschungsperspektiven bis heute
gänge (vgl. Auswärtiges Amt 1985, 62ff.). weitgehend verweigert und die darum für die
Was oben für die deutsche Sprache als internationale Germanistik als Ansprechpart-
Fremdsprache gesagt wurde, gilt entspre- nerin von immer geringerem Interesse ist. Die
chend auch für die Germanistik: Sie ist vor letztlich entscheidenden Ursachen für die be-
allem eine europäische Wissenschaft und ein schriebene Entwicklung sind aber nicht so
europäisches Studienfach. sehr in der Germanistik selbst als in den (bil-
dungs-)politischen Rahmenbedingungen zu
3.1. ,Inlandsgermanistik‘ ⫺ suchen, unter denen sich germanistisches
,Auslandsgermanistik‘ Forschen und Lehren heute in Europa be-
Die Germanistik außerhalb des deutschspra- haupten muss. Diese Bedingungen aber sind
chigen Raums orientierte sich in der Vergan- in den meist der EU angehörenden Ländern
des westlichen, südlichen und nördlichen Eu-
genheit sowohl in Bezug auf die Gegenstände
ropa gänzlich anders als in den ehemals so-
und Methoden der Forschung als auch in Be-
zialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas,
zug auf Struktur und Inhalte der Studien-
weshalb eine separate Darstellung an dieser
gänge an der muttersprachlichen Germani-
Stelle geboten scheint.
stik in den deutschsprachigen Ländern. Seit
etwa Anfang der 80er Jahre ist allerdings eine 3.2. Westeuropa
weltweite Tendenz zur Emanzipation und Die westliche Welt stand seit den frühen 80er
zur Besinnung auf die je eigenen kulturellen Jahren im Zeichen des Neoliberalismus, mit
und bildungspolitischen Rahmenbedingun- den bekannten Implikationen: Rückführung
gen germanistischen Forschens und Lehrens der Staatsquote, Sanierung der öffentlichen
zu beobachten ⫺ eine Tendenz, die ursprüng- Haushalte und zum Teil dramatischer An-
lich vor allem von den zielsprachenfernen stieg der Arbeitslosenzahlen. Dies wirkte sich
Ländern außerhalb Europas ausging, wo auf die europäischen Bildungsinstitutionen
die wissenschaftliche Beschäftigung mit unter anderem dadurch aus, dass an staatli-
europäischen Sprachen und Kulturen unter chen Schulen vielfach deutlich weniger Leh-
den Bedingungen einer postkolonialen Besin- rer eingestellt wurden als früher. Die ange-
nung auf das Eigene zunehmend fragwürdig stammte Berufsperspektive vieler ,geisteswis-
und legitimationsbedürftig wurde. Ähnliche senschaftlicher‘ und insbesondere fremdspra-
Emanzipationstendenzen sind aber längst chenphilologischer Fächer ging verloren, was
auch in der europäischen Germanistik spür- wiederum zu teilweise deutlich rückläufigen
bar, wenn auch unter gänzlich anderen Vor- Zahlen bei Neueinschreibungen für diese Fä-
aussetzungen als etwa in Afrika oder Asien. cher führte. Einige der auf Grund dieser Ent-
Ein Vergleich zwischen inner- und außerdeut- wicklungen um ihr Überleben kämpfenden
schen germanistischen Curricula, wie er bei- Deutschabteilungen der Universitäten vor
spielsweise auf der internationalen Germani- allem in West- und Nordeuropa, aber auch
stentagung des DAAD 1995 in Kassel vorge- beispielsweise in der Türkei (vgl. Balcı 1997),
nommen wurde, zeigt, dass „die innerdeut- waren zu flexiblen Reaktionen gezwungen
sche Germanistik […] als Bezugs- und Orien- und entwickelten neue, stärker berufsqualifi-
tierungsmodell für die ausländische Germa- zierende Studiengänge, mit denen sie den ge-
10. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache I: Europäische Perspektive 129

wandelten Arbeitsmarktbedingungen und der kanischen Master entsprechenden Grad abge-


gestiegenen Nachfrage nach unmittelbar pra- schlossen wird.
xis- und berufsrelevanten Ausbildungsinhal- Nach der relativ schnell und auf admini-
ten gerecht zu werden versuchten. Traditio- strativem Weg erfolgten formalen Änderung
nell philologische und insbesondere literatur- der gesamten Hochschullandschaft wurden
wissenschaftliche Inhalte treten in diesen an vielen Deutschabteilungen des östlichen
neuen Studiengängen gegenüber praktischen Europa und unter maßgeblicher Beteiligung
Sprach- und vor allem Fachkenntnissen aus ausländischer, d. h. vor allem deutscher Lek-
den Bereichen Wirtschaft, Recht oder Touris- toren und Gastdozenten ehrgeizige Reform-
mus, aber auch landeskundlichen Kenntnis- projekte initiiert, die der formalen Moderni-
sen in den Hintergrund. Das in den USA sierung nunmehr auch eine inhaltliche folgen
entstandene Konzept der ,German Studies‘ lassen wollten. Nicht zuletzt als Reaktion auf
mit seinen primär politik- und sozialwissen- die dramatisch veränderten Bedingungen auf
schaftlichen Inhalten gewinnt auch in Europa dem Arbeitsmarkt für Absolventen fremd-
zunehmend an Einfluss und droht die tradi- sprachlicher Fächer verfolgten diese Reform-
tionell philologischen Studiengänge auf den projekte meist das Ziel einer stärkeren Pro-
Rang von Orchideenfächern zurückzudrän- fessionalisierung der Studiengänge. Nicht
gen. Ein Germanistikstudium gänzlich ohne mehr nur die germanistische Fachsystematik
Literatur ist heute etwa an manchen Univer- sollte die Studieninhalte bestimmen, vielmehr
sitäten in Großbritannien schon Alltag, und sollten die Anforderungen der künftigen be-
diese Tendenz wird sich in den kommenden rufspraktischen Tätigkeit weitaus mehr Ge-
Jahren auch in anderen europäischen (wie wicht bekommen, als dies in den traditionel-
außereuropäischen) Ländern weiter verstär- len Studiengängen der Fall war. Neben einer
ken. Ausbildung als Dolmetscher und Übersetzer
wurden neue Curricula insbesondere für die
3.3. Mittel- und Osteuropa Ausbildung von Deutschlehrern entwickelt,
Gänzlich anders als in den westlichen Län- die die herkömmlichen philologischen Inhalte
des Studiums zumindest durch eine Auswei-
dern Europas verlief die Entwicklung der
tung und Modernisierung der fremdspra-
Germanistik in Mittel- und Osteuropa, also
chendidaktischen Anteile ergänzen wollten.
in den Ländern des ehemals sozialistischen
Die meisten der in einschlägigen Publika-
Lagers einschließlich des ehemaligen Jugosla-
tionen (vgl. z. B. Altmayer 1995; Gehrmann
wien und Albaniens (vgl. zum Folgenden Kö-
1993; Koreik 1997) beschriebenen Reform-
nig (Hg.) 1995). Nach der Eingliederung der
projekte scheinen in der Praxis wenig erfolg-
meisten dieser Länder in den sowjetischen reich zu sein. Viele Reformvorhaben scheiter-
Machtbereich in der Nachkriegszeit wurden ten an den übergeordneten Instanzen der
die Bildungsinstitutionen nach sowjetischem nunmehr gänzlich autonomen Universitäten
Vorbild umgestaltet. In der Germanistik wur- oder aber konnten aus eher pragmatischen
den fünfjährige Diplomstudiengänge einge- Gründen, z. B. Mangel an einschlägig qualifi-
führt, die, neben den bekannten ideologi- ziertem Lehrpersonal oder einfach an Geld,
schen Inhalten, traditionell philologisch ori- nicht umgesetzt werden. Ein nicht unerhebli-
entiert waren und den Absolventen aus- cher Widerstand gegen Reformen aber kam
schließlich den Weg in den Lehrerberuf eröff- und kommt auch von den Germanisten
neten, ohne dass dafür im Studium entspre- selbst, die eine so weitgehende Professionali-
chende berufsqualifizierende Lehrveranstal- sierung und Entphilologisierung ihres Fachs,
tungen vorgesehen waren. wie es viele der an westlichen Vorbildern ori-
Nach der politischen Wende 1989 bzw. entierten und die eigenkulturellen Traditio-
1991 wurde das sowjetische System der nen weitgehend vernachlässigenden Refor-
Hochschulausbildung vielfach abgeschafft men vorsahen, nicht mittragen wollten. Er-
und durch ein am angloamerikanischen Mo- folgversprechende Ansätze einer Erneuerung
dell orientiertes mehrstufiges System ersetzt. der Deutschlehrerausbildung sind daher viel-
An die Stelle des alten Diploms tritt als erster fach eher von neu gegründeten Lehrerkollegs
akademischer Grad und berufsqualifizieren- etwa in Polen zu erwarten als von einer
der Abschluss der Bachelor (nach drei oder inneren Reform der traditionellen Germani-
vier Jahren), an den sich ein ein- oder zwei- stik (vgl. Krumm 1996 und 1999).
jähriges wissenschaftliches Aufbaustudium Die herkömmliche deutsche Philologie hat
anschließen kann, das mit einem dem ameri- heute an vielen Deutschabteilungen Mittel-
130 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

und Osteuropas noch einen guten Ruf, wie der Institutionen in den verschiedenen Län-
etwa ein Blick in die seit der ,Wende‘ vom dern. Während sich beispielsweise in Frank-
DAAD betreuten germanistischen Jahrbü- reich mit seinem stark zentralistischen Bil-
cher der ungarischen (Jahrbuch der ungari- dungssystem gewisse Beharrungstendenzen
schen Germanistik), polnischen (Convivium), zeigen, haben Schulen und Universitäten in
tschechischen und slowakischen (Brücken), Großbritannien und den Niederlanden teil-
der russischen (Das Wort) oder der baltischen weise sehr flexibel auf die neuartige Heraus-
(Triangulum) Germanistik zeigt. Die histori- forderung durch zurückgehende Schüler- und
sche Sprachwissenschaft beispielsweise ist Studentenzahlen im Fach Deutsch reagiert.
hier gut vertreten, und auch die altehrwür- Ungarn schließlich steht hier stellvertretend
dige geistesgeschichtliche Literaturinterpreta- für die besonders schwierige Situation in Mit-
tion wird gepflegt. Hier scheinen auch die tel- und Osteuropa, die bei aller wachsenden
Diskussionen um eine ,interkulturelle Ger- Heterogenität der Region derzeit doch noch
manistik‘ auf fruchtbaren Boden zu fallen, zu viele Ähnlichkeiten bei der Umgestaltung
denn in einigen Ländern der Region besinnt der Bildungssysteme aufweist, als dass die de-
man sich zunehmend auf die multikulturelle taillierte Darstellung dieser Entwicklung
Tradition und auf das reichhaltige kulturelle etwa auch noch in Polen oder im Baltikum
Erbe, das die deutschsprachige Bevölkerung an dieser Stelle gerechtfertigt wäre.
etwa in der Ukraine, im Baltikum oder in
Ungarn hinterlassen hat ⫺ ein Erbe, das 4.1. Frankreich
heute vielfach als Teil der eigenen Tradition Trotz der wechselvollen Geschichte der
aufgefasst wird. Hier eröffnen sich auch einer deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jh.
philologischen und sich als ,interkulturell‘ be- spielte die deutsche Sprache im schulischen
greifenden Germanistik in ,Mitteleuropa‘ Fremdsprachenunterricht in Frankreich im-
neue und sinnvolle Perspektiven, die zu einer mer eine relativ große Rolle (vgl. Art. 155).
neuen Identitätsbildung in dieser europä- Zwar sank der Anteil deutschlernender Schü-
ischen Kernregion beitragen können (vgl. ler von 25⫺27% in den 20er und 30er Jahren
Altmayer 1995a; Grucza 1995; Vajda 1995). infolge Nationalsozialismus, Krieg und Be-
satzung bis 1945 auf nahezu Null, die rasche
und positive Entwicklung der Beziehungen
4. Germanistik und Deutsch als zwischen Westdeutschland und Frankreich
Fremdsprache in einzelnen Ländern nach dem Krieg führte aber in den 50er und
60er Jahren zu einer Neubelebung des schuli-
Den bisherigen, eher allgemein gehaltenen schen Deutschunterrichts (vgl. Martin 1987,
Ausführungen über aktuelle Entwicklungs- 28f.). Seit dieser Zeit ist der Anteil deutsch-
tendenzen des Faches Deutsch als Fremd- lernender Schüler bei ca. 15% in etwa kon-
sprache bzw. der Germanistik in Europa sol- stant geblieben. Nach Erhebungen des Aus-
len nun detaillierte Darstellungen zur Situa- wärtigen Amtes ist die absolute Zahl der
tion in vier ausgewählten europäischen Län- Deutschlernenden an französischen Schulen
dern folgen. Dabei ist die Auswahl von sogar von ca. 1 Mio. (1982/83) auf ca. 1,5
Frankreich, Großbritannien, der Niederlande Mio. (1993/94) gestiegen. Innerhalb der Eu-
sowie Ungarns einerseits dadurch begründet, ropäischen Union ist Frankreich damit das
dass das Deutsche als Fremdsprache in die- Land mit der höchsten Zahl deutschlernen-
sen Ländern von besonderer Bedeutung ist der Schüler: auch dies sicherlich ein Indiz für
und/oder auf eine längere Tradition zurück- die besondere Rolle des deutsch-französi-
blicken kann. Andererseits aber versteht sich schen Verhältnisses in Europa.
die Auswahl auch als exemplarisch, da sich Mit ca. 1,5 Mio. Lernenden ist Deutsch
gerade an diesen Beispielen die z. T. wider- nach Englisch mit ca. 5 Mio. die zweitwich-
sprüchlichen Tendenzen des Faches verdeutli- tigste Fremdsprache in Frankreich, teilt sich
chen lassen. Gemeinsam ist allen ausgewähl- diesen Rang aber mit dem Spanischen, das
ten Ländern der Anpassungsdruck, der seit ebenfalls von etwa 1,5 Mio. Schülern gelernt
1989 von den veränderten politischen und wird (mit deutlichem Übergewicht in den
ökonomischen Rahmenbedingungen auf die südwestlichen Landesteilen, wohingegen das
Bildungsinstitutionen im Allgemeinen und Deutsche gegenüber dem Spanischen im Nor-
den Fremdsprachenunterricht im Besonderen den und Osten dominiert, David 1993, 247f.).
ausgeht. Unterschiedlich, auch unterschied- Während das Deutsche als 2. Fremdsprache
lich erfolgreich, sind jedoch die Reaktionen gegenüber dem Spanischen landesweit zu-
10. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache I: Europäische Perspektive 131

rückgeht, kann es sich als 1. Fremdsprache fast die Hälfte (44%) davon allerdings in den
mit einem Anteil von ca. 15% (gegenüber neuen, 1976 eingeführten praxis- und berufso-
Englisch mit ca. 80%) behaupten, während rientierten LEA-Studiengängen (Langues
das Spanische als 1. Fremdsprache so gut wie Etrangères Appliquées ⫺ Angewandte Fremd-
keine Rolle spielt. Abgesehen von der spezifi- sprachen), nur etwa 56% in der traditionellen
schen Bedeutung des Deutschen als Nationa- Germanistik (Langues et Civilisations
litätensprache in Lothringen und im Elsass Etrangères-Allemand; LCE).
hat dies vor allem damit zu tun, dass Deutsch Die LEA-Studiengänge wurden in den
als besonders schwierige Sprache gilt und da- 70er Jahren als Reaktion auf die Konkurrenz
her im Rahmen des auf Elitebildung angeleg- der Elitehochschulen und auf die zuneh-
ten französischen Bildungswesens als „ver- mende Akademikerarbeitslosigkeit als berufs-
schleiertes Selektionsmittel“ (David 1993, qualifizierende Alternative zu den herkömm-
243) fungiert. lich philologischen Fremdsprachenstudien-
Diese Tendenz zur Elitebildung ist insbe- gängen eingerichtet. Die Absolventen werden
sondere im Hochschulbereich deutlich er- hier für Berufswege außerhalb von Schule
kennbar, der durch das traditionelle, noch in und Hochschule ausgebildet, etwa in Touris-
die napoleonische Zeit zurückgehende Ne- mus, Wirtschaft oder Lokalverwaltung. Zwei
beneinander von Elitehochschulen (Grandes Fremdsprachen sind obligatorisch, eine dritte
Ecoles) und Universitäten geprägt ist. Wäh- kann zusätzlich gewählt werden, wobei der
rend die Grandes Ecoles, aus denen der Füh- Unterricht eine starke fachsprachliche Kom-
rungsnachwuchs in Wirtschaft, Verwaltung ponente besitzt. Hinzu kommen Lehrveran-
und Forschungsinstitutionen des Landes re- staltungen zu fachlichen, etwa rechts-, wirt-
krutiert wird, schwere Aufnahmeprüfungen schafts- oder verwaltungswissenschaftlichen
vornehmen, die eine zweijährige Vorberei- Fragen sowie obligatorische Praktika in
tungszeit (classes préparatoires) nach dem Wirtschaft und Verwaltung, vorzugsweise in
Abitur voraussetzen, stehen die meisten Uni- den jeweiligen Zielsprachenländern. Auch die
versitäten allen offen, kennen weder Aufnah- Landeskunde (civilisation allemande) spielt
meprüfungen noch andere Auswahlkriterien eine hervorgehobene Rolle.
wie etwa einen Numerus Clausus. Dies hat Die radikale Entphilologisierung und die
zur Folge, dass die leistungsfähigsten Abitu- Anpassung an die Anforderungen des Ar-
rienten auf die Elitehochschulen streben, die beitsmarktes in den LEA-Studiengängen ist
ihren Absolventen attraktive und in der Re- nicht unumstritten, bei den Studierenden er-
gel gut bezahlte Arbeitsplätze garantieren freuen sich diese Studienangebote jedoch ei-
können, während die Universitäten unter ner wachsenden Beliebtheit. Über die tat-
Massenandrang und einem schwächeren Lei- sächlichen Chancen der LEA-Absolventen
stungsprofil ihrer Studierenden zu leiden ha- auf dem Arbeitsmarkt in- und außerhalb
ben und sich dagegen mit einer rigorosen Frankreichs liegen allerdings keine verlässli-
Auslese während des Studiums und mit at- chen Angaben vor (vgl. Schneilin 1986, 12f.;
traktiveren Studienangeboten zur Wehr set- zur Kritik vgl. Hofmann 1993, 378ff.).
zen (vgl. Ewert/Lullies 1984, 192f.; Krebs Die Ausgliederung der praxis- und berufs-
1994). orientierten LEA-Studiengänge aus den tra-
Die durchweg fach- und berufsorientierten ditionellen Fremdsprachenphilologien hat de-
Studiengänge der Grandes Ecoles sehen zwar ren Modernisierung nicht gefördert, eher sah
einen obligatorischen Anteil an Fremdspra- man sich zu einer stärkeren Absicherung und
chenunterricht vor, wobei sich das Deutsche Verfestigung traditioneller Orientierungen
auf Grund seines schon erwähnten Status’ als herausgefordert. Den Absolventen der fremd-
schwierige Sprache erstaunlich gut behaupten sprachenphilologischen Germanistik bieten
kann (vgl. Jung 1993); germanistische Studi- sich Arbeitsmöglichkeiten vor allem im Lehr-
engänge sind aber ⫺ sieht man von den leh- beruf, was allerdings neben dem universitä-
rerausbildenden Ecoles Normales Supérieures ren Abschluss (licence bzw. maı̂trise) noch
ab ⫺ in der Regel an den Universitäten ange- das Bestehen eines nationalen ,Wettbewerbs‘
siedelt. Nach einer nicht repräsentativen und (concours) voraussetzt. Frei werdende Leh-
in ihren Ergebnissen daher wohl nicht ganz rerstellen an Schulen werden ausschließlich
zuverlässigen Umfrage der DAAD-Außen- nach den Resultaten dieser Fachprüfungen
stelle Paris waren im Studienjahr 1997/98 an (CAPES ⫺ Certificat d’Aptitude Profession-
40 Universitäten mit germanistischem Ange- nelle au Professorat de l’Enseignement du Se-
bot etwa 16 000 Studierende eingeschrieben, cond degré bzw. Agrégation) vergeben, was
132 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

zur Folge hat, dass sich die Programme der tiges Amt 1985, 62). Legt man die Zahl der
Lehramtsstudiengänge weitgehend an den Abschlussprüfungen (General Certificate of
Programmen der ,concours‘ orientieren. In Education ⫺ Ordinary Level: GCEO) des bri-
der Germanistik ist vor allem aus diesem tischen Sekundarschulwesens in den einzel-
Grund eine deutliche Dominanz der Litera- nen Fächern als Indikator zu Grunde, lässt
tur gegenüber anderen Teilbereichen des Fa- sich allerdings eine etwas freundlichere Ent-
ches wie der Linguistik oder der Landes- wicklung ablesen. So stieg die Zahl der
kunde zu verzeichnen. Hinzu kommt, dass GCEO-Prüfungen im Fach Deutsch von 1951
Literatur auf eher traditionelle Weise vermit- (dem Jahr der Einführung des GCEO) bis zu
telt wird, meist in Form von Vorlesungen Beginn der 80er Jahre mehr oder weniger
oder travaux dirigés, und dass der Kanon vor kontinuierlich von etwa 10 000 auf 53 000 an.
allem Texte vom späten 18. bis zum frühen Dieser deutliche Zuwachs wird in seiner Be-
20. Jh. vorsieht, die zeitgenössische Literatur deutung etwas relativiert durch den gleichzei-
dagegen eher unterrepräsentiert ist (Schneilin tigen Anstieg der Prüfungen in Fremdspra-
1986, 14; Zeyringer 1991). Pädagogische oder chen generell (von ca. 120 000 1951 auf ca.
(fremdsprachen-)didaktische Anteile kennt 265 000 1980), dennoch ist ein proportionaler
das Germanistikstudium an französischen Zugewinn des Deutschen in dieser Zeit un-
Universitäten schließlich so gut wie gar nicht. verkennbar. Im Vergleich aller an britischen
Seit Mitte der 80er Jahre kam es zu anhal- ,secondary schools‘ unterrichteten Fremd-
tenden Diskussionen über die nachlassende sprachen einschließlich der alten Sprachen
Qualität des Schulunterrichts, was das fran- hat Deutsch seit den 70er Jahren dem konti-
zösische Erziehungsministerium schließlich nuierlich zurückgehenden Lateinischen den
zu einer Reform der Lehrerausbildung ver- zweiten Platz abgenommen und diesen auch
anlasste. Landesweit wurden zu Beginn der gegenüber dem Spanischen klar behauptet.
90er Jahre 26 sogenannte IUFM (Instituts Zwar ist die Dominanz des Französischen
Universitaires de Formation des Maı̂tres ⫺ (mit ca. 166 000 GCEO-Prüfungen 1980)
Universitätsinstitute für Lehrerbildung) ge- nach wie vor ungebrochen; das Verhältnis hat
gründet, die die angehenden Lehrer nach sich jedoch von etwa 1 : 8 zu Beginn der 50er
bestandenem CAPES in einer einjährigen zu etwa 1: 3,5 zu Beginn der 80er Jahre zu
Praxisphase auf ihre Berufstätigkeit vorbe- Gunsten des Deutschen verschoben (Zahlen
reiten. Außerdem wurde eine berufsbezo- nach Ortmanns 1993, 167f.). Diese Tendenz
gene Teilprüfung (épreuve sur dossier) in das ist noch deutlicher erkennbar, wenn man die
Programm zur Erlangung des CAPES auf- Zahlen der Oberstufenprüfung (General Cer-
genommen (vgl. Ott 1994). tificate of Education ⫺ Advanced Level:
GCEA) zu Grunde legt, die in der Regel als
4.2. Großbritannien Voraussetzung für ein Studium des entspre-
Seit der Einführung moderner Fremdspra- chenden Faches gilt. Auch hier ist ein Anstieg
chen in den Unterricht britischer secondary von ca. 2000 im Jahr 1951 auf etwa 9000 im
schools zu Beginn des 20. Jh.s führt die deut- Jahr 1983 zu verzeichnen; der Anteil der A-
sche Sprache hier eher ein Schattendasein Level-Prüfungen in Deutsch an den Prüfun-
(vgl. Art. 149). Dies hat seine Ursache nicht gen in allen Fremdsprachen ist im gleichen
nur darin, dass sich Schüler im Mutterland Zeitraum um ca. 120% gestiegen, während
der Weltsprache Englisch prinzipiell für der Anteil der Französisch-Prüfungen mit
Fremdsprachenkenntnisse weniger begeistern etwa 14% nur geringfügig gewachsen ist ⫺
lassen als anderswo, sondern vor allem in der beides im Übrigen zu Ungunsten des Lateini-
traditionellen und bis heute ungebrochenen schen, dessen Anteil um 78% gesunken ist
Dominanz des Französischen als erster und (Zahlen nach Ortmanns 1993, 173f.).
vielfach einziger Fremdsprache. Nach einer In der Mitte der 80er Jahre weisen alle sta-
Statistik des britischen Erziehungsministeri- tistischen Angaben einen deutlichen Abwärts-
ums lernten in den achtziger Jahren nur ca. trend aus, der sich aber nicht allein auf
5% der britischen Schüler Deutsch (gegen Deutsch, sondern auf das Interesse an
87% Französisch) (vgl. Sandford 1986, 4), Fremdsprachen überhaupt bezieht. Mit Be-
nach dem Bericht der Bundesregierung zur ginn der 90er Jahre lässt sich jedoch an allen
Stellung der deutschen Sprache in der Welt britischen Bildungsinstitutionen ein neu er-
waren es 1982/83 sogar nur 2%, was besagt, wachtes Interesse zumindest am Deutschen
dass etwa 88 000 Schüler an britischen Se- verzeichnen; inwieweit es sich dabei um ein
kundarschulen Deutsch lernten (vgl. Auswär- auf die Fremdsprache Deutsch beschränktes
10. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache I: Europäische Perspektive 133

Phänomen handelt, ist anhand der zugängli- Zahl der Studierenden weist wieder steigende
chen Daten nicht zu erkennen. So weist die Tendenz auf, und eine Reihe von Stellen auf
neue Erhebung der Bundesregierung zur Si- Professoren- und ,Lecturer‘-Ebene konnten
tuation der deutschen Sprache in der Welt für zwischenzeitlich neu eingerichtet und besetzt
1993/94 eine Zahl von 126 400 Deutschler- werden. Allerdings ist die britische Germani-
nenden an britischen Sekundarschulen (ge- stik aus der Krise der 80er nicht unverändert
genüber 88 000 1982/83) aus. Auch die Zahl hervorgegangen. Die politisch durchgesetzte
der Deutschstudierenden an britischen Hoch- Koppelung der Finanzierung der Universitä-
schulen, die in den 80er Jahren gegen Null ten und Colleges an die Zahl der Studieren-
tendierte und eine erhebliche Legitimations- den und die Qualität der Forschung hat einen
krise der britischen Germanistik verursachte, heilsamen Anpassungsdruck hervorgebracht,
steigt in der Zwischenzeit landesweit wieder der in der Germanistik zu einer stärkeren Be-
deutlich an (vgl. Kolinsky 1994, 26ff.). Die rücksichtigung der Interessen der Studieren-
nahe liegende Frage, ob es sich bei dieser klei- den und des Arbeitsmarktes führte. Zwar las-
nen Aufwärtsentwicklung des Schul- und sen sich auf Grund der weitgehenden Selbst-
Studienfaches Deutsch um eine kurzfristige ständigkeit der einzelnen Universitäten und
und vorübergehende Reaktion auf die politi- ihrer German Departments kaum allgemein
sche Entwicklung der Jahre 1989/90 handelt gültige Aussagen über die sehr heterogenen
oder um einen tiefer motivierten Wandel des Studiengänge machen. Dennoch ist eine deut-
Ansehens von Fremdsprachen im Allge- liche Entwicklung weg von den traditionel-
meinen und der Fremdsprache Deutsch im len philologischen Inhalten und hin zu den
Besonderen, kann zur Zeit nicht beantwortet neuen combined studies, der Verbindung des
werden. Immerhin aber stellt das gestiegene Deutschstudiums mit vor allem sozialwissen-
Interesse am Deutschen bei Schülern und schaftlichen Fachstudien, überall erkennbar.
Studenten einen höchst aufschlussreichen Eine herausragende Rolle bei dieser Entwick-
Gegensatz zu dem von Teilen der politischen lung spielen die neuen praxis- und berufs-
Führungselite und der Medien im Jahr 1990 orientierten German Area Studies oder ein-
kolportierten Bild vom hässlichen und be- fach German Studies, Studiengänge also, bei
drohlichen Deutschen dar (zum Deutsch- denen die literarisch-philologische Kompo-
landbild in Großbritannien vgl. Kettenacker nente einerseits zu Gunsten einer Aufwertung
1991; zum Deutschlandbild insbesondere bri- des Sprachunterrichts und andererseits zu
tischer Studierender vgl. Hortmann 1993). Gunsten im weitesten Sinne landeskund-
Eine vergleichbare Entwicklung wie der licher, d. h. etwa politik-, rechts- oder wirt-
Deutschunterricht an Schulen nahmen in den schaftswissenschaftlicher Inhalte zurückge-
80er Jahren auch die germanistischen Studi- drängt wurde. Zwar stößt die Entwicklung zu
engänge an britischen Universitäten: Nach ei- einer „literaturlosen Germanistik“ (Sandford
ner Phase der Expansion in den 70er Jahren 1986, 3) nicht überall auf Zustimmung; auch
geriet die Germanistik seit etwa 1980 in eine sind gewisse Defizite insbesondere im For-
Krise, die vor allem durch zwei Faktoren be- schungsprofil des neuen multidisziplinären
dingt war. Zum einen führte die Deregulie- Faches ,German Studies‘ unübersehbar (vgl.
rungspolitik der konservativen Regierung zu Reeves 1990; 1992). Dennoch spricht vieles
empfindlichen Haushaltskürzungen im uni- dafür, dass nicht der traditionellen philologi-
versitären Bereich; Einsparungen von bis zu schen Ausrichtung der Germanistik, sondern
40% des Etats innerhalb eines Jahres waren den weitgehend entphilologisierten ,German
bei manchen Universitäten zu verkraften, Studies‘ die Zukunft an britischen Universi-
was insbesondere zu Lasten der geisteswis- täten ⫺ und nicht nur dort ⫺ gehören wird.
senschaftlichen Fächer ging. In der Germani-
stik ist in dieser Zeit ein Stellenverlust beim 4.3. Niederlande
Lehrpersonal von landesweit etwa 30% zu Als relativ kleines Land mit intensiven Kon-
verzeichnen (vgl. Durrell 1992, 27). Zum an- takten zu den Nachbarn in Wirtschaft, Han-
dern ging die Zahl der Studierenden des Fa- del und Tourismus sind die Niederlande in
ches zur gleichen Zeit so drastisch zurück, noch höherem Maße auf die Ausbildung von
dass an einigen Abteilungen zeitweise über- Fremdsprachenkenntnissen angewiesen als
haupt keine Neuaufnahmen zu registrieren die großen EU-Länder wie Deutschland,
waren (vgl. Kolinsky 1994, 26). Frankreich oder Großbritannien (vgl. Art.
Beide Entwicklungen haben sich seit An- 153). Der objektive ,Bedarf‘, insbesondere an
fang der 90er Jahre wieder umgekehrt, die Deutschkenntnissen in Wirtschaft und Ver-
134 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

waltung, spiegelt sich allerdings in der schuli- zu bestätigen. Allerdings zeigt die oben er-
schen Situation nicht immer angemessen wähnte Erhebung von 1997, dass einige Er-
wider. Die Bedeutung der Fremdsprache gebnisse des seinerzeit auch in Deutschland
Deutsch in den Niederlanden ist rückläufig, viel diskutierten Clingendael-Berichts doch
allerdings nimmt sie hier nach wie vor unge- deutlich relativiert werden müssen. Weit über
fährdet den 2. Rang nach Englisch und deut- 60% der niederländischen Schüler haben
lich vor Französisch ein. Andere Fremdspra- demnach kein negatives, sondern ein neutra-
chen spielen in den Niederlanden praktisch les oder positives Bild vom Nachbarn im
keine Rolle. Als Indikator für die Popularität Osten (vgl. Schalkwijk 1998, 7).
von Deutsch gelten in den Niederlanden Die sich bereits in den 80er Jahren deut-
heute die Zahlen der Schüler weiterführender lich abzeichnende negative Entwicklung der
Schulen, die Deutsch neben den Pflichtfä- Fremdsprache Deutsch hat in den Niederlan-
chern Niederländisch und Englisch und ⫺ je den zur Gründung zweier Stiftungen (Stich-
nach Schulform ⫺ 2⫺4 weiteren Fächern in ting ter bevordering van de duitse taal in Ne-
ihr ,Examenspaket‘ aufnehmen (vgl. Beers- derland ⫺ Stiftung zur Förderung der deut-
mans 1987, 39). Nach einer von der Stichting schen Sprache in den Niederlanden; Stichting
Platform Duitsland durchgeführten repräsen- Duitslandstudies ⫺ Stiftung Deutschlandstu-
tativen Erhebung haben sich 1997 in den drei dien) geführt, die sich die Förderung der
Schulformen des allgemeinbildenden Sekun- deutschen Sprache und des Wissens über
darbereichs (mavo, havo, vwo) zwischen 37 Deutschland in den Niederlanden zum Ziel
und 40% für Deutsch und 20⫺34% für Fran- gesetzt haben. Beide Stiftungen, die sich 1997
zösisch entschieden. Im Schuljahr 1973/74 zur Stichting Platform Duitsland zusammen-
hatten die Zahlen für alle drei Schulformen schlossen, versuchen über die direkte politi-
zusammen noch bei 65% gelegen und sind bis sche Beeinflussung, über öffentlichkeitswirk-
1982/83 auf 57% zurückgegangen. Der nega- same Aktivitäten oder auch durch die Ent-
tive Trend setzte sich in den 80er und 90er wicklung didaktischer Materialien Einfluss
Jahren fort: in der mavo (etwa vergleichbar auf die niederländische Sprachenpolitik zu
mit der deutschen Hauptschule) von 55% nehmen.
1989 auf 49% 1997, in der havo (Realschule) Das Studienfach Deutsch bzw. Germani-
von 45 auf 37 und in der vwo (Gymnasium) stik gibt es an niederländischen Universitäten
von 46 auf 43% im gleichen Zeitraum. Ledig- seit der 2. Hälfte des 19. Jh.s, als erstmals ein
lich in der Ende der 80er Jahre eingeführten germanistischer Lehrstuhl an der Universität
neuen weiterbildenden Berufsschule vbo war Groningen eingerichtet wurde. Erst seit den
die Tendenz gleichbleibend, allerdings mit 20er Jahren ist die Germanistik ein voll aner-
19% auf eher bescheidenem Niveau (Zahlen kanntes Universitätsstudium mit allen aka-
nach: Schalkwijk 1998, 9ff.). demischen Abschlussmöglichkeiten. Dabei
Die Ursachen für das abnehmende Inter- werden an den Universitäten traditioneller
esse am Deutschen und an allen Fremdspra- Weise Deutschlehrer für die höheren Klassen
chen außer dem Englischen dürften nicht zu- (Sekundarstufe II) ausgebildet, daneben gibt
letzt auf bildungsadministrative Maßnahmen, es eine nicht-akademische Ausbildung für
vor allem auf die Abschaffung des Pflicht- Deutschlehrer der unteren Klassen, die von
fachcharakters der drei modernen Fremd- Fachhochschulen durchgeführt wird (vgl.
sprachen im Zuge der Bildungsreform von Schönau 1992, 466f.).
1968, zurückzuführen sein. Die Beschrän- Das Germanistikstudium an den sechs nie-
kung auf nur noch eine Fremdsprache im derländischen Universitäten ist bisher eher
Pflichtfachkatalog führt in der Regel zu einer traditionell philologisch ausgerichtet. Einer
weiteren Bevorzugung des Englischen ⫺ eine einjährigen ,propädeuse‘ mit sprachprakti-
Entwicklung, die zu der Politik der Mehr- schem Schwerpunkt schließt sich die dreijäh-
sprachigkeit in Europa in einem eklatanten rige ,doctoralfase‘ an, in der sprach- und lite-
Widerspruch steht. Welche Rolle die Spezifik raturwissenschaftliche sowie landeskundliche
des Deutschlandbildes für das schwindende Lehrveranstaltungen absolviert werden. Auch
Interesse an der Fremdsprache Deutsch spielt, in dieser zweiten Studienphase findet noch
lässt sich kaum empirisch belegen. Eine Un- Sprachunterricht statt, der die Studierenden
tersuchung von 1993 (der sog. ,Clingendael- zu einem ,near native‘-Niveau führen soll.
Bericht‘) schien zunächst die schlimmsten Die eigentliche Lehrerausbildung schließt
Befürchtungen über das negative Deutsch- sich in Form eines einjährigen Zusatzstudi-
landbild unter niederländischen Jugendlichen ums mit allgemein pädagogischen und fach-
10. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache I: Europäische Perspektive 135

didaktischen Inhalten an das philologische mehr die vorrangige Aufgabe des Studiums
Fachstudium an. fremdsprachenphilologischer Disziplinen zu
Ganz anders, nämlich von vornherein be- sein. An ihre Stelle treten ,verwertbare‘
rufs- und praxisorientiert, verläuft das Stu- Kenntnisse und Fertigkeiten wie etwa spezifi-
dium an den pädagogischen Fachhochschu- sche Fremdsprachenkenntnisse oder auch
len. Auch hier dauert das Studium vier Jahre; kulturelles Wissen. Man mag dies bedauern
es wird bisher nur ein Fach studiert, was aber (vgl. Bormann 1995), aufhalten wird man es
demnächst zu Gunsten eines zweiten Unter- nicht.
richtsfachs geändert werden soll. Die Inhalte
des Studiums, also etwa Sprachwissenschaft, 4.4. Ungarn
Literatur und Landeskunde, sind stark di- Das Deutsche hat als Fremdsprache, Ver-
daktisch orientiert und zudem eng mit dem kehrssprache und Nationalitätensprache in
eigentlichen Sprachunterricht verzahnt. Ungarn eine lange Tradition. Bedingt vor
Aufgrund demographischer Entwicklun- allem durch eine offensive Sprachenpolitik
gen wurden in den Niederlanden seit etwa der habsburgischen Doppelmonarchie im 18.
Mitte der 70er Jahre kaum noch Lehrer in und 19. Jh. konnte sich das Deutsche hier als
den Schuldienst eingestellt; es kam zu einer Staatssprache und als Verkehrs- und Publika-
nicht unerheblichen Arbeitslosigkeit unter tionssprache der Gebildeten und Intellektuel-
den Absolventen der Lehramtsfächer. Die da- len etablieren (vgl. auch Art. 160). Die Min-
durch fehlende Berufsperspektive wirkte sich derheit der Ungarndeutschen war um die
auf die Zahlen der Studierenden dieser Fä- Wende zum 20. Jh. mit ca. 2 Millionen Men-
cher negativ aus, nicht zuletzt die Deutsch- schen (nach Bassola 1995, 224) die nicht nur
Studiengänge an den Universitäten und Fach- zahlenmäßig bedeutendste Minderheiten-
hochschulen waren dadurch zum Teil in ihrer gruppe des Landes. An den ungarischen
Existenz bedroht. Zwar wurde bisher noch Schulen war Deutsch die bei weitem wichtig-
keine germanistische Abteilung an einer ste (lebende) Fremdsprache (vgl. Földes 1993,
der Universitäten geschlossen, überall aber 218f.). Diese Situation änderte sich drama-
wurde, bedingt nicht zuletzt durch die Kop- tisch durch den politischen Systemwandel in
pelung der Hochschulfinanzierung an die Ungarn nach 1945. Die deutschsprachige
Zahl der Studierenden, drastisch gekürzt, vor Minderheit wurde weitgehend vertrieben
allem beim Personal. Die Deutsch-Abteilun- oder hat in den Folgejahren das Land verlas-
gen waren zur Anpassung an die veränderten sen, ihre Zahl wird heute allgemein mit nur
Bedingungen, d. h. zur Schaffung neuer at- noch ca. 220 000 Menschen angegeben (Bas-
traktiver und (arbeits-)marktorientierter Stu- sola 1995, 225). In den nach sowjetischem
dienangebote, gezwungen. So wurde zum ei- Muster umgestalteten Bildungsinstitutionen
nen das Sprachlehrangebot auf unterschiedli- wurde Russisch als Pflichtfremdsprache ein-
chen Niveaus und mit unterschiedlichen Ziel- geführt, lediglich an den vierklassigen Gym-
setzungen stark ausgeweitet. Zum andern nasien und an den Hochschulen bestand die
wurden Studiengänge wie Europäische Stu- Möglichkeit, neben dem obligatorischen Rus-
dien oder Deutschlandstudien geschaffen, die sisch eine weitere Fremdsprache zu lernen,
zu den herkömmlichen philologischen Fä- und hier spielte dann auch das Deutsche ne-
chern in Konkurrenz traten. In den 80er und ben dem Englischen und anderen westlichen
90er Jahren wurden an drei Universitäten Sprachen noch eine gewisse Rolle.
(Amsterdam, Groningen, Nijmegen) interdis- Die ideologisch motivierte und an den tat-
ziplinäre Forschungszentren für Deutsch- sächlichen Bedürfnissen eines sprachlich von
landstudien eingerichtet, die im Wesentlichen seiner Umgebung weitgehend isolierten Lan-
sozial- und wirtschaftswissenschaftlich oder des völlig vorbeigehende Fremdsprachenpoli-
historisch ausgerichtet sind und bei denen die tik führte zu geradezu katastrophalen Ergeb-
herkömmliche Germanistik allenfalls eine nissen. Nach einer Ende der 80er Jahre er-
Nebenrolle spielt. Es zeichnet sich in den Nie- stellten Statistik verfügten zu dieser Zeit nur
derlanden eine Tendenz ab, wie sie auch 4,6% der Ungarn über Fremdsprachenkennt-
schon in Frankreich und besonders in Groß- nisse ⫺ eine Zahl, mit der Ungarn vor Alba-
britannien beobachtet wurde. Die klassischen nien den zweitletzten Platz in Europa ein-
philologischen Inhalte des Germanistikstudi- nimmt (vgl. Manherz u. a. 1998, 4). Schon
ums, vor allem die Literaturwissenschaft, ver- vor der politischen Wende von 1989 sah man
lieren zunehmend an Kredit. Die traditionelle sich daher zu einschneidenden Maßnahmen
sprachlich-literarische Bildung scheint nicht in der Bildungspolitik gezwungen. 1989
136 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

wurde Russisch als Pflichtfremdsprache abge- geregelten Minderheitenschutz, der sich unter
schafft, mit der Folge, dass das Interesse am anderem in der Bereitstellung national-
Russischen innerhalb weniger Jahre auf na- sprachlicher staatlicher Bildungseinrichtun-
hezu Null zurückgegangen ist, während gen auswirkt (vgl. Szende 1990 und 1990a).
gleichzeitig die Nachfrage nach Unterricht in So standen der ungarndeutschen Minderheit
den westlichen Sprachen, und hier fast aus- im Schuljahr 1990/91 170 deutsche Kinder-
schließlich Englisch und Deutsch, enorm ge- gärten, 190 Grundschulen für die Klassenstu-
stiegen ist. Nach Angaben des ungarischen fen 1⫺8 und vier Gymnasien zur Verfügung,
Bildungsministeriums von 1997 ist die Zahl wo zweisprachig unterrichtet wird (vgl. Föl-
der Deutsch lernenden Schüler aller Schulty- des 1992a, 260ff.). In der Praxis des nationa-
pen von Primarstufe bis Sekundarstufe II von litätensprachlichen Unterrichts zeigen sich je-
etwa 300 000 im Schuljahr 1990/91 auf doch zunehmend Probleme. Zum einen näm-
560 000 im Schuljahr 1996/97 gestiegen, seit lich verfügt ein immer kleiner werdender Teil
1994 allerdings mit stagnierender Tendenz. der deutschen Minderheit überhaupt noch
Gleichzeitig ist die Zahl der Englischlerner über deutsche Sprachkenntnisse (nach Bas-
von 270 000 auf 537 000 gestiegen, mit konti- sola 1995, 241 sind es derzeit nur noch 15%),
nuierlich steigender Tendenz (Zahlen nach was zur Folge hat, dass der ,muttersprach-
Manherz u. a. 1998, 14). Vergleicht man je- liche‘ Unterricht tatsächlich eher Fremdspra-
doch die Zahlen für Deutsch und Englisch chenunterricht ist und von einer wirklichen
nach ihrer Verteilung auf die verschiedenen Zweisprachigkeit nicht die Rede sein kann.
Schulformen (achtklassige Grundschule, Zum andern aber entspricht die Ausbildung
Fachmittelschule, Gymnasium) und nach ih- der in den Bildungseinrichtungen der deut-
rer regionalen Verteilung (städtische vs. länd- schen Minderheit Tätigen derzeit kaum den
liche Regionen), so zeigt sich ein signifikanter Anforderungen, die an einen bilingualen Un-
Unterschied in der sozialen Funktion der bei- terricht zu stellen wären. Neue, auf das spezi-
den Schulfremdsprachen: Während Deutsch fische Tätigkeitsprofil zugeschnittene Ausbil-
eher in kleineren Orten und in der Grund- dungsmodelle sind hier erst seit kurzer Zeit in
und Fachmittelschule dominiert, wird Eng- der Diskussion (vgl. Földes 1992b und 1994).
lisch vor allem in größeren Städten und am Auch im frendsprachlichen Deutschunter-
Gymnasium sowie an Hochschulen gewählt. richt an schulischen und außerschulischen
Englisch gilt in akademischen Kreisen als Bil- Bildungsinstitutionen stellt der Mangel an
dungssprache, die Modernität symbolisiert, qualifizierten Lehrkräften für westliche
und wird vorwiegend aus Prestigegründen ge- Fremdsprachen das zur Zeit drängendste
wählt, wohingegen Deutsch eher aus pragma- Problem dar. Das seit 1989 schnell wach-
tischen Gründen der Berufsorientierung ge- sende Interesse an Deutsch- und Englischun-
lernt wird. Die geographische Nähe und die terricht konnte von den relativ wenigen Leh-
politische und vor allem wirtschaftliche Be- rern für diese bis dahin eher unterrepräsen-
deutung des deutschsprachigen Raums für tierten Fächer nicht befriedigt werden. Hinzu
Ungarn wirkt sich hier in besonderer Weise kam, dass sich durch die Öffnung der ungari-
aus: 40% des ungarischen Außenhandels und schen Wirtschaft nach Westen und die An-
70% des Tourismus werden mit den deutsch- siedlung vieler westlicher Unternehmen für
sprachigen Ländern realisiert, deutschspra- Fachkräfte mit guten Kenntnissen in Deutsch
chige Presse und deutschsprachiges Fernse- und/oder Englisch attraktive und gut be-
hen sind in Ungarn problemlos erreichbar, zahlte Arbeitsmöglichkeiten außerhalb des
was den unmittelbaren Praxisbezug der deut- Bildungsbereichs boten, was den vorhande-
schen Sprache noch verstärkt (Földes 1992, nen Mangel an Fremdsprachenlehrkräften an
32f.; Paul 1996, 111f.). Schulen und Hochschulen noch weiter ver-
Eine spezifische Bedeutung kommt dem schlimmerte. Um diesem Mangel wenigstens
Deutschen in Ungarn auch heute noch als teilweise zu begegnen, wurden seit 1990 ca.
Sprache der deutschen Minderheit bzw., nach 1000 der infolge der Abschaffung des Pflicht-
ungarischem Sprachgebrauch, der deutschen unterrichts in Russisch von Arbeitslosigkeit
,Nationalität‘ im Lande zu. Zwar macht die bedrohten Russischlehrer in nebenberufli-
deutsche Minderheit mit ihren ca. 220 000 chen Kontaktstudiengängen zu Deutschleh-
Angehörigen heute nur noch etwa 2% der Be- rern umgeschult (vgl. Bassola 1995, 237f.).
völkerung aus, dennoch genießt sie wie die Auch im Rahmen der Hochschulgermanistik
anderen nationalen Minderheiten der Rumä- wurden Reformen auf den Weg gebracht, die
nen, Slowaken und Kroaten einen gesetzlich den veränderten Bedingungen des schuli-
10. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache I: Europäische Perspektive 137

schen Deutschunterrichts nicht nur quantita- aus Kostengründen auf ein Semester redu-
tiv, sondern auch qualitativ gerecht zu wer- ziert), und auch die eher traditionellen In-
den versuchen. halte des Studiums wie Literatur und Lingui-
Die Germanistik in Ungarn kann auf eine stik werden nicht nach fachsystematischen,
bis ins 18. Jh. reichende Tradition zurückblik- sondern berufspraktischen Gesichtspunkten
ken. Schon 1874 wurde in Budapest auf aus- unterrichtet (vgl. Zalán-Szablyár 1994; Pet-
drücklichen Wunsch von Kaiser Joseph II. neki/Zalán-Szablyár 1993). Die sich hier ab-
der erste Lehrstuhl für Deutsch mit dem Ziel zeichnende sinnvolle Neuentwicklung scheint
eingerichtet, zu einer besseren Verbreitung aber in allerjüngster Zeit von gewissen Ten-
der deutschen Sprache in Ungarn beizutra- denzen einer Rephilologisierung bedroht:
gen. Aber erst Ende des 19. Jh.s konnte die Das ursprünglich eigenständige Institut für
Germanistik in Budapest und an den Univer- Deutsch als Fremdsprache wurde 1992 in das
sitäten in Pécs (Fünfkichen), Debrecen und Institut für Germanistik an der ELTE inte-
Szeged sich von politischen Abhängigkeiten griert und hat damit seine Selbständigkeit
befreien und ein eigenes wissenschaftliches eingebüßt. Es gibt weniger spezifische Lehr-
Profil entwickeln. Die politische Entwicklung veranstaltungen für die Studierenden der
nach 1945 hatte für die ungarische Germa- dreijährigem Deutschlehrerausbildung, so
nistik dramatische Folgen: 1949 wurde sie als dass die bisher deutlichen inhaltlichen Unter-
Fachrichtung an allen Universitäten abge- schiede zwischen philologischem und berufs-
schafft, erst im Zuge der Entstalinisierung orientiertem Studiengang zunehmend un-
nach 1953 bzw. 1956 wurden wieder neue ger- kenntlich werden. Auch Versuche einer stär-
manistische Lehrstühle aufgebaut, wobei keren Verzahnung beider Studiengänge tra-
Forschung und Lehre von ideologischen gen dazu bei, dass möglicherweise der Unter-
Zwängen bestimmt waren. Mit dem enorm schied zwischen beiden bald nicht mehr qua-
gestiegenen Interesse an Deutschunterricht in litativ, sondern quantitativ sein, das fünfjäh-
den Schulen erlebte auch die Hochschulger- rige Philologiestudium auf Grund seiner
manistik in Ungarn nach 1989 eine Zeit der längeren Dauer aber ein größeres Ansehen
Expansion und der strukturellen Veränderun- genießen wird (vgl. Orosz 1994, 38).
gen. 1992 wurde an der Universität Budapest
ein Germanistisches Institut gegründet, das
die bis dahin auf verschiedene Lehrstühle 5. Ausblick
verteilten germanistischen Kompetenzen un-
ter einem Dach zu bündeln versucht (vgl. Die Perspektiven des Faches Deutsch als
Mádl 1995; Bernáth 1995). Fremdsprache in Europa haben sich mit den
Wie in anderen sozialistischen Ländern veränderten politischen, gesellschaftlichen
gab es auch in der ungarischen Germanistik und ökonomischen Rahmenbedingungen seit
bis 1989 ausschließlich fünfjährige Ein-Fach- 1989 zum Teil erheblich gewandelt. Die Do-
Studiengänge mit traditionell philologischer minanz der Weltsprache Englisch als erster
Ausrichtung, die in der Regel für eine Lehrtä- und wichtigster Fremdsprache ist auch in Eu-
tigkeit in der Schule qualifizierten. Diese Stu- ropa ungebrochen und unumkehrbar. Auch
diengänge wurden nach 1989 von ideologi- wenn das Deutsche sich in einigen Ländern
schen Inhalten befreit und teilweise leicht Mittel- und Osteuropas derzeit noch auf glei-
modernisiert, ansonsten aber beibehalten. Als chem Rang behaupten kann, wird sich in ab-
Alternative dazu wird beispielsweise an der sehbarer Zeit auch hier das Englische weiter
Eötvös Lorand Universität Budapest (ELTE) durchsetzen. Gleichwohl sind die Chancen
seit 1990 ein dreijähriger Studiengang zur für Deutsch als zweite Fremdsprache keines-
Ausbildung von Deutschlehrern angeboten, wegs schlecht. Zwar geht in einigen, vor
der von einem eigens zu diesem Zweck ge- allem west- und nordeuropäischen Ländern
gründeten Institut für Deutsch als Fremd- die Nachfrage nach Deutsch zurück, gleich-
sprache entwickelt wurde und der ⫺ im Ge- zeitig steigt sie aber im südlichen (z. B. in
gensatz zum fünfjährigen Studiengang ⫺ Spanien und Griechenland auf allerdings
nicht philologisch, sondern berufspraktisch niedrigem Niveau), vor allem aber im östli-
angelegt ist. Neben der Sprachpraxis spielt chen Europa teilweise deutlich an. Deutsch
die Fremdsprachendidaktik (,Sprachpädago- wird sich auch im 21. Jh. im Kontext einer
gik‘) eine bedeutende Rolle, das integrierte an der Idee der Mehrsprachigkeit orientierten
und betreute Schulpraktikum erstreckte sich (Fremd-)Sprachenpolitik neben Französisch
bis 1996 über ein ganzes Studienjahr (seitdem und Spanisch als eine der wichtigsten euro-
138 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

päischen Regionalsprachen behaupten kön- Beersmans, Frans (1987): Deutsch als Fremdspra-
nen. Angesichts der zunehmenden Bedeutung che in den Niederlanden. In: Sturm (Hg.), 35⫺45.
von Regionalsprachen wie Spanisch in Nord- Bernáth, Árpád (1995): Das Wechselspiel zwischen
amerika oder Chinesisch bzw. Japanisch in Zentrum und Peripherie. Die Universitäten von
Ostasien wird sich die Schwerpunktbildung Pécs, Debrecen, Szeged und die ungarische Germa-
des Faches Deutsch als Fremdsprache in Eu- nistik. In: König (Hg.), 271⫺283.
ropa weiter verstärken. Schließlich wird dem Blamberger, Günter; Gerhard Neuner (Hg.) (1996):
Deutschen im Zuge einer Förderung europä- Reformdiskussion und curriculare Entwicklung in
ischer Nachbarsprachen in Grenzregionen in der Germanistik. Dokumentation der Internationa-
Zukunft ein größeres Gewicht zuwachsen, len Germanistentagung des DAAD 24.⫺28. Mai
1995. Universität Gesamthochschule Kassel. Bonn.
bedingt nicht zuletzt durch die zentrale Lage
des deutschen Sprachraums (vgl. Neuner Bormann, Alexander von (1995): Germanistik im
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41/2, 176⫺187.
Was schließlich die Entwicklung der ,Aus-
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schulen angeht, so wird sich der insbesondere Deutsch als Verkehrssprache in Euopa. Berlin etc.
durch die äußeren ökonomischen und finan- Bosch, Gloria (1997): Sprachenpolitik und Fremd-
ziellen Rahmenbedingungen, aber auch durch sprachenunterricht im vereinten Europa. In: Info
fachimmanente Entwicklungen entstandene DaF 24/4, 459⫺469.
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logisierung des Faches mit einiger Wahr- französischen Bildungswesen. In: Born/Stickel
scheinlichkeit fortsetzen. Es bleibt zu hoffen, (Hg.), 236⫺250.
dass traditionelle Inhalte des Faches wie die Dethloff, Uwe (1993): Interkulturalität und Europa-
Literaturwissenschaft dabei nicht einfach ver- kompetenz. Die Herausforderung des Binnenmarktes
schwinden, sondern ihren Ort innerhalb einer und der Europäischen Union. Tübingen.
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11. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in


nichtdeutschsprachigen Ländern II: Außereuropäische Perspektive

1. Deutsch als Fremdsprache außerhalb welcher Warte aus man das Fachgebiet auch
Europas überblicken mag, immer wird man bemerken,
2. Bereiche und Schwerpunkte von Deutsch als wie unterschiedlich die Bedingungen sind,
Fremdsprache außerhalb Europas
unter denen Deutsch als Fremdsprache in der
3. Literatur in Auswahl
Welt unterrichtet wird. In Ländern mit einer
historisch bedingten starken Bindung an
1. Deutsch als Fremdsprache Europa und einer beachtlichen Einwande-
außerhalb Europas rung von deutschsprachigen Minderheiten,
wie z. B. Nordamerika und das südliche La-
Allgemein wird heute in der Fachwelt aner- teinamerika (Argentinien, Brasilien, Chile),
kannt und davon ausgegangen, dass Deutsch mussten sich andere Traditionen und Institu-
als Fremdsprache in außereuropäischen Län- tionen entwickeln als in Asien oder Afrika.
dern anders gewichtet und vermittelt werden Der Schwerpunkt dieser Übersicht liegt in
muss als in Europa. In vielen Ländern außer- der Erwachsenenbildung, vor allem im uni-
halb Europas spielt Deutsch als Sprache im versitären Bereich.
akademischen Bereich, in der Kultur, in der
Wirtschaft und im Berufsleben überhaupt 1.1. Das Verhältnis von Germanistik und
nur eine unbedeutende Rolle. Es lassen sich Deutsch als Fremdsprache
in den einzelnen Kontinenten, Regionen und In allen Regionen hat sich Deutsch als
Ländern verschiedene Situationen, Traditio- Fremdsprache in der zweiten Hälfte des
nen und Schwerpunkte beobachten, die sich 20. Jh.s in unterschiedlichem Ausmaß als
auf die Stellung und die Ausrichtung von Fach im Austausch mit den Entwicklungen in
Deutsch als Fremdsprache auswirken. Von den deutschsprachigen Ländern definiert und
11. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache II: Außereuropäische Perspektive 141

etabliert. Aber bevor es das akademische Deutschlehrern sieht. In diesen Fällen sollte
Fach gab (seit Ende der sechziger Jahre), war eine methodisch-didaktische Spezialisierung
der Deutschunterricht in vielen akademi- zur Ausbildung der Absolventen gehören,
schen und schulischen Institutionen präsent. aber oft kann sich eine auf Deutschlehrer-
Außerhalb Europas gilt bis heute: Ein Ger- ausbildung und Angewandte Linguistik ori-
manistikstudium ohne Unterricht in Deutsch entierte Auslandsgermanistik wegen des ex-
als Fremdsprache ist selten, d. h., fast im- plizit oder implizit ausgesprochenen Vor-
mer werden Übungen zur Verbesserung der wurfs der mangelnden „Wissenschaftlichkeit“
Sprachkenntnisse angeboten, denn in vielen nur schwer gegen traditionelle Studiengänge
Ländern beginnt das Deutschlernen erst mit durchsetzen. Dass Curriculumentwicklungen,
der Aufnahme des Universitätsstudiums. Das die sich an den realen Gegebenheiten und
gilt selbst in einem Einwandererland wie Ka- Notwendigkeiten der einzelnen Länder orien-
nada: „Studierende, die zwar Deutsch studie- tieren, sowohl für die Germanisten- als
ren wollen, aber kaum Deutsch an der Schule auch für die Deutschlehrerausbildung (mit
gelernt haben, verbringen einen großen Teil einer stärkeren Betonung des Deutschen als
ihrer universitären Ausbildung mit dem blo- Fremdsprache, der Pädagogik, der Spracher-
ßen Sprachenlernen“ (Hufeisen 1996, 178). werbstheorien und der Kommunikationswis-
Aus der außereuropäischen Perspektive ist senschaften) berechtigt sind, setzt sich mehr
die ⫺ mit Vorliebe in Thesenform geführte und mehr in der Fachdiskussion durch (vgl.
⫺ Diskussion um das Selbstverständnis des Neuner 1987, 1993, 1996). Auch die Tren-
Faches nicht von vorrangiger Bedeutung, wie nung zwischen dem Prestige und den Aufga-
z. B.: „Deutsch als Fremdsprache ist ein ben der Dozenten und Professoren, je nach-
eigenständiges Fach innerhalb der Germani- dem, ob sie sich in Forschung und Lehre, Ge-
stik, das Eigen- und Fremdperspektive ver- bieten der traditionellen Germanistik oder
bindet.“ (Götze/Suchsland 1996, 69) gegen: dem Fach Deutsch als Fremdsprache in allen
„Deutsch als Fremdsprache ist nicht zwangs- seinen Bezügen zur Sprachlehr- und -lernfor-
läufig Bestandteil der Germanistik.“ (Königs schung widmen, ist nicht so strikt wie in
1996, 195) Das komplexe Verhältnis von deutschsprachigen Ländern, wo die Dozen-
Deutsch als Fremdsprache und Germanistik ten für Deutsch als Fremdsprache oft glau-
belegt der Bericht der Bundesregierung über ben, sich mühsam gegen überhebliche Attitü-
die Stellung der deutschen Sprache in der den in der traditionellen Germanistik be-
Welt (1985), auf den sich auch Ammon (1991, haupten zu müssen (Henrici 1996, 69). In vie-
544ff.) im Kapitel 12.4 über „DaF und Ger- len Ländern Lateinamerikas wären ohne die
manistik an Hochschulen nicht-deutschspra- Sprachenzentren und Lehrerausbildungspro-
chiger Länder“ bezieht. Demnach kann man gramme, die noch Deutsch anbieten, aus
in mehr als zwanzig Ländern in Lateiname- manchen Universitäten herkömmliche Ger-
rika, Afrika, Nahost und Asien mit Deutsch manistik-Abteilungen verschwunden oder sie
als Fremdsprache oder Germanistik erst wären nie eingerichtet worden. Eine völlig
an der Hochschule beginnen. Dazu kommen andere Entwicklung hat die Germanistik in
mehr als zehn Länder, in denen die Zahl der den USA genommen: Auf dem Weg aus dem
Deutschlernenden in Sprachenzentren an den Dilemma der in den 70er Jahren gelegentlich
Hochschulen wesentlich höher ist als an all- schon totgesagten Germanistik und der
gemeinbildenden Schulen und erst recht als Fremdsprachen an amerikanischen High
an Germanistischen Abteilungen. In Ländern Schools und Hochschulen haben germanisti-
wie Bolivien, Ecuador, Ghana, Guinea, Za- sche Abteilungen eine Art Überlebensstrate-
ire, Libanon, Kuweit, Syrien oder Bangla- gie entwickeln müssen, die notgedrungen aus
desch kann man nur Deutschkurse belegen, den traditionellen Lehrinhalten hinausge-
aber kein Germanistikstudium absolvieren. führt hat zu einer innovativen Konzeption
Logischerweise wird in solchen Ländern auch des Faches, das sich auf der Grundlage von
an den Schulen kein Deutsch gelernt, wäh- Theorien und Erkenntnissen über Multikul-
rend umgekehrt in Ländern mit relativ gut turalität, Postmoderne und Postkolonialis-
etabliertem Deutschunterricht in den Schulen mus neu definieren musste. Die interdiszipli-
(USA, Kanada, Indonesien, Südkorea, Aust- nären „German Studies“ haben an einigen
ralien, Argentinien, Südafrika, vgl. Bericht amerikanischen Elite-Universitäten ein neues
der Bundesregierung 1985) auch die Germa- Selbstbewusstein entwickelt (Seeba 1996, 34)
nistik an den Universitäten ihre Daseinsbe- und eine Universität wie Berkeley kann es
rechtigung vor allem in der Ausbildung von sich leisten, die von hochkarätigen Germani-
142 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

sten vertretenen Bereiche der Angewandten nicht erwarten, dass die sich konzentrisch
Linguistik und des Deutschen als Fremdspra- ausbreitenden Wellen jedermann in der wei-
che praktisch als Hilfswissenschaften einzu- ten Welt noch die Sicht nehmen. Dies ist der
stufen, die auf dem Weg zum PhD in „Ger- Tenor nicht weniger Publikationen aus
man Studies“ nicht einmal als „credits“-wür- außereuropäischen Perspektiven, die teilweise
dig gelten. auch in Deutschland zur Kenntnis genom-
men werden (müssen). So zogen Blamberger/
1.2. Das Verhältnis von Inlandsgermanistik Neuner (1996, 5) aus der Internationalen
und Auslandsgermanistik Germanistentagung in Kassel 1995 das Fazit,
Generell sind verschiedene Grade des Aus- dass „die aktuellen deutschen Debatten um
tausches und der Interdependenz zwischen die disziplinäre Identität der Germanistik
außereuropäischer Germanistik (einschließ- außerhalb Deutschlands kaum Widerhall fin-
lich Deutsch als Fremdsprache) und der Ger- den“, dass die innerdeutsche Germanistik für
manistik in den deutschsprachigen Ländern die ausländische Germanistik an Bedeutung
zu beobachten. Auf Grund der intensiveren verloren habe und die traditionelle Germani-
Kommunikationsmöglichkeiten, der verbes- stik auf Grund der von Land zu Land ver-
serten Ausstattung der Bibliotheken, der Prä- schiedenen kulturellen Kontexte zunehmend
senz auf Kongressen und des Aufenthalts in von interdisziplinären „German Studies“ und
deutschsprachigen Bildungseinrichtungen ha- dem Fach Deutsch als Fremdsprache (Leh-
ben Lehrer des Deutschen als Fremdsprache rerausbildung; Fachsprache) abgelöst werde.
und Germanisten heutzutage vielfältige Mög- Noch drastischer fällt das Urteil Seebas aus,
lichkeiten, sich über die Entwicklung des Fa- wonach in den USA die deutsche Germani-
ches Deutsch als Fremdsprache auf dem Lau- stik oft für konventionell und belanglos ge-
fenden zu halten. Beim Aufbau von Studien- halten werde und ⫺ schlimmer noch ⫺ aus
gängen Deutsch als Fremdsprache, Germani- amerikanischer Sicht der aktuelle kulturelle
stik und Deutschlehrerausbildung richtete Beitrag Deutschlands „auf den Rang einer
man sich früher oft nach Modellen aus den exotischen Provinz für Feldstudien reduziert“
deutschsprachigen Ländern, aber „in jüngster wurde (Seeba 1996, 34). Von den repräsenta-
Zeit ist die Entwicklung eigener und regio- tiven Vertretern der deutschen Germanistik,
nenspezifischer Schwerpunktsetzungen in
die in Sachen Deutsch als Fremdsprache seit
Lehre und Forschung zu erkennen“ (Götze/
Jahrzehnten in und um die Welt reisten,
Pommerin 1995, 360). Allgemein lässt sich
wurde oft mit großer Selbstsicherheit und
sagen, dass die Entwicklung des Faches
ohne genaue Kenntnis der örtlichen Verhält-
Deutsch als Fremdsprache in der sog. Dritten
nisse der Eindruck vermittelt, sie hätten Lö-
Welt etwas langsamer vor sich geht als in Eu-
ropa (Ehlich 1994, 7, gebrauchte für das Ver- sungen für alle Probleme der Auslandsgerma-
hältnis von Inlands- und Auslandsgermani- nistik parat. Dass das Fach Deutsch als
stik das Bild von „Tross“ und „Nachhut“) Fremdsprache in den deutschsprachigen Län-
und dass die Fachdiskussionen weniger inten- dern selbst um seine Legitimierung kämpfen
siv und weniger polemisch geführt werden; musste (Henrici 1996, 69), dass es lange für
Deutsch wird mit anderen Sprachen an man- „noch sehr entwicklungsbedürftig“, aber
chen Universitäten, wie z. B. in Mexiko an „entwickelbar“ gehalten wurde (Glück 1989,
der UNAM, bewusst als linguistische und 86), war den meisten Deutschlehrern im
kulturelle Alternative zum Englischen ange- außereuropäischen Ausland nicht unbedingt
boten; und in der Forschung wird an sprach- geläufig. Ein zunehmendes Selbstbewusstsein
vergleichenden, sprachdidaktischen, kom- der Auslandsgermanistik auch in den Län-
paratistischen, rezeptionsorientierten und li- dern der sog. Dritten Welt ist seit mehreren
teraturdidaktischen Themen und Problemen Jahren zu beobachten; das lässt sich u. a.
gearbeitet, ohne sich von schnell wechselnden daran ablesen, dass nun auch ⫺ wie es in Ka-
Moden allzu abhängig zu machen. Denn es nada und den USA längst der Fall ist ⫺ in
ist doch der Vorteil der zeitlichen und räumli- Ländern wie Mexiko, Argentinien, Chile,
chen Distanz, dass neuere Strömungen, die in Brasilien die pädagogische Verbindungsarbeit
den Metropolen der Germanistik hohe Wo- des Goethe-Instituts nicht mehr entwick-
gen schlagen mögen, als sanftere Dünung ab- lungs- sondern partnerschaftsorientiert ist.
ebbend und gewissermaßen geläutert an die Die inländischen Experten kommen aus den
Strände ferner Kontinente plätschern. Wer in Universitäten und Schulen, das Goethe-Insti-
Europa einen Stein ins Wasser wirft, kann tut und der DAAD stellen Mittel für Veran-
11. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache II: Außereuropäische Perspektive 143

staltungen und Gastdozenturen bereit und len Traditionen. Gerade im Bereich von
fördern damit den Austausch unter Gleichge- Deutsch als Fremdsprache ist die Reflexion
stellten. über die Möglichkeiten und Lücken der
„interkulturellen Kommunikation“ und der
1.3. Einige Zentren für Deutsch als „interkulturellen Germanistik“ noch längst
Fremdsprache, ihre Geschichte und ihre nicht abgeschlossen. Für die Entwicklung des
Traditionen Faches Deutsch als Fremdsprache in China
Mit dem zunehmenden Austausch zwischen und das stetig wachsende Interesse am
Germanisten und Deutschlehrern aus aller Deutschlernen sei u. a. auf Ammon (1991,
Welt, dank Informationsdiensten, Fachzeit- 503ff.) verwiesen, für die Situation des Deut-
schriften, Bestandsaufnahmen, zahlreichen schen als Fremdsprache in einigen anderen
Kongressberichten und Buchpublikationen Ländern auch auf Sturm (1987, 249ff.),
zur Geschichte der Germanistik und des Götze (1987, 232ff.) und die zahlreichen Län-
Deutschunterrichts in allen Teilen der Welt, derberichte z. B. im Jahrbuch Deutsch als
wird immer deutlicher, dass sich Deutsch als Fremdsprache und in der Zeitschrift Informa-
Fremdsprache, trotz des Rückgangs von tionen Deutsch als Fremdsprache. In Japan
Schüler- und Studentenzahlen in einigen Län- war bis etwa 1970 Deutsch aus bildungs- und
dern, als Fach weltweit konsolidiert hat (vgl. wissenschaftsgeschichtlichen Gründen fest in
Art. 143ff.). Im Folgenden wird es nicht mög- den Universitäten verankert, aber mit der sin-
lich sein, einen kompletten Überblick zu ge- kenden Bedeutung des Deutschen als Wissen-
ben. Die Darstellung der Geschichte und schaftssprache müssen sich die Lehrenden
Traditionen einiger Zentren mag exempla- des Faches Deutsch als Fremdsprache und
risch für die Vielfalt der Gegebenheiten ste- die Sprachinstitute an die sich wandelnden
hen, in denen Deutsch als Fremdsprache an Motivationen der Studenten anpassen (Kut-
Universitäten, Schulen und im außerschu- suwada/Mishima/Kouji 1987, 76ff.; Ammon
lischen Bereich betrieben wird. 1991, 495ff.), was zu intensiven „Reformdis-
In Asien sind China (Art. 167), Indien kussionen“ (Sugitani 1996) geführt hat.
(Art. 165), Japan (Art. 168) und Korea (Art. In Indien müsse man sich wundern, dass
166) die Länder mit den meisten Deutsch- überhaupt eine Fremdsprache wie Deutsch
abteilungen und Deutschlernenden an Uni- gelernt werde (Ammon 1991, 500). Immerhin
versitäten und ebenfalls im außerschulischen wurden in Pune, „der Wiege der indischen
Bereich (Goethe-Institute). Germanistik“ (Kuntz 1996, 55), schon 1975
Bemerkenswert ist aber auch die Dyna- 60 Jahre Deutschunterricht gefeiert. Bedarf
mik des Deutschunterrichts in Indonesien an Deutsch als Fremdsprache und Germani-
(Art. 169) und Thailand, wo auf eine Aktuali- stik in Indien gibt es bis heute: Deutsch für
sierung der germanistischen Curricula mit Wirtschaft und Technik (ein Gebiet, auf dem
Blick auf „eine instrumentelle Basis für die seit den 70er Jahren auch DAAD-Lektoren
Ausübung eines späteren Berufs“ (Saenga- in Indien gearbeitet haben), Deutsch für
ramruang 1996, 288), die Deutschlehreraus- internationale Beziehungen, Tourismus, Aus-
bildung und die Ausarbeitung eigener Lehr- wanderung, Gegengewicht zu dem domi-
materialien großen Wert gelegt wird. Indone- nierenden englischen Einfluss, Berufsziel
sien ist einer der seltenen Fälle eines außereu- Deutschlehrer. Aber selbst im letztgenannten
ropäischen Landes, wo Deutsch nach dem Fall sind die Berufsbilder nicht besonders
Krieg verstärkt als 2. Fremdsprache an den klar (Ammon 1991, 502f.). Dies scheint in
Oberstufen der Gymnasien eingeführt wurde. einem gewissen Widerspruch zu stehen zu
An der Entwicklung geeigneter Lehrwerke, dem exzellenten Niveau einiger Repräsentan-
welche die universalistisch konzipierten ablö- ten der indischen Germanistik, von denen die
sen sollten („Regionalisierung heißt vielmehr meisten in Deutschland studiert haben. Von
die Devise!“; Strauss 1985, 180), haben so- ihnen werden die „Möglichkeiten und Gren-
wohl in Indonesien als auch in Thailand zen“ der German Studies in Indien (Gane-
(Schalbruch 1987, 137ff.) deutsche Mittler- shan 1990, 187f.) nicht verschwiegen: ver-
organisationen und Universitäten beratend schwommene Ausbildungsziele, schwache
mitgewirkt. Der Erfolg der Zusammenar- Motivation, fehlendes literarisches Vorwis-
beit zwischen Vertretern spezifischer Wissen- sen, fehlende fremdsprachliche und fremd-
schaftskonzeptionen wird dabei unterschied- kulturelle Kompetenz, Konzeptionslosigkeit
lich gewertet, je nach der Sensibilität der Be- der literarischen Studien. Viele der Probleme
teiligten gegenüber anders gearteten kulturel- und Forderungen aus indischer Sicht gelten
144 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

ebenso für andere Schwellenländer und Län- sich die interkulturellen Fremdheitskundler
der der sog. Dritten Welt: Die wenigsten in der fernen Bundesrepublik vorstellen kön-
Deutschlerner werden je ein deutschsprachi- nen.“ (Glück 1989, 86) In Lateinamerika
ges Land persönlich kennen lernen; den ent- stand bei der Neu- und Wiedergründung ger-
sandten Lehrkräften aus Europa fehlt es oft manistischer Abteilungen in einigen Ländern
an „interkultureller Kompetenz“; Literatur- (z. B. Argentinien, Brasilien, Chile, Mexiko)
studien sollten nur komparatistisch betrieben zunächst die Literaturwissenschaft im Vor-
werden; die Beschäftigung mit deutscher dergrund, da die meisten Germanisten Lite-
Sprache und Kultur ist ein Weg zur „Eigen- raturwissenschaftler waren. Mit dem zuneh-
besinnung“, zu „Anschlussmöglichkeiten“ menden Interesse an der Linguistik und der
zwischen Indien und Europa. So gesehen Angewandten Linguistik sowie der Aufwer-
kann in Indien das periphere Fach „German tung und Konstituierung des Deutschen als
Studies“ eine zentrale Bedeutung erhalten Fremdsprache als Studienfach fand in zahl-
(Ganeshan 1990, 194). reichen Ländern Lateinamerikas seit den 70er
In manchen Teilen des frankophonen Jahren eine Umgewichtung der Deutsch-
Afrika lässt sich einerseits die Geschichte der studien statt. Wie in vielen anderen außereu-
Germanistik und damit von Deutsch als ropäischen Ländern ist eine extreme Speziali-
Fremdsprache aus dem französischen Erzie- sierung auf ein Gebiet, eine Epoche, einen
hungssystem der Kolonialzeit heraus erklären Autor, wie dies in den deutschsprachigen
(Prinz 1989, 181). Entsprechendes gilt für die Ländern oft noch der Fall ist, in Lateiname-
englischen Traditionen. Andererseits haben rika nicht möglich. Und dies ist auch eine
sich an afrikanischen Universitäten lehrende berufliche Chance für alle, die im Bereich
Dozenten seit der Unabhängigkeit ihrer Län- Deutsch als Fremdsprache tätig sind: Die Zu-
der und der Gründung von Deutschabteilun- sammenarbeit mit anderen Sprachabteilun-
gen mit der deutschen Germanistik auseinan- gen ist die Regel, manchmal ist es sogar die
dergesetzt (Sadji 1984, 75ff.), ohne die spezi- einzige Überlebenschance für den Deutsch-
elle Situation einer „Entwicklungsgermani- unterricht. Da ausgebildete Germanisten oft
stik“ in der sog. Dritten Welt zu übersehen: (auch) Deutsch als Fremdsprache unterrich-
„Deutscher Literaturunterricht in der Dritten ten, sind sie an der sprachlichen und metho-
Welt ist ein elitäres Unterfangen“ und „Der disch-didaktischen Ausbildung ihrer Studen-
Deutschunterricht in der Dritten Welt leidet ten, von denen viele Deutschlehrer werden,
unter den generellen Bedingungen des Nord- beteiligt. Diese Aspekte stehen heutzutage in
Süd-Gefälles“ (Ihekweazu 1984, 102). Dies den Curricula der Lehrerausbildungsinstitute
mögen Gründe dafür sein, warum im Rah- im Vordergrund, zusammen mit der Überset-
men der Deutschstudien in Afrika der Beitrag zer- und Dolmetscherausbildung (z. B. in Ar-
der „Interkulturellen Germanistik“ zum Fach gentinien, Kuba und Venezuela), und die Li-
Deutsch als Fremdsprache besonders kritisch teraturwissenschaft und Landeskunde kom-
beleuchtet und sensibel auf eine mögliche Be- men im Grundstudium manchmal etwas zu
vormundung, auf das Verhaftetsein im euro- kurz. Nicht so im Postgraduiertenbereich, wo
päischen Individualismus und auf koloniale in den entsprechenden Studiengängen (z. B.
Klänge in den Begriffen „Fremdperspektive“, in der vergleichenden Literaturwissenschaft)
„Kulturmündigkeit“, „Weltoffenheit“, „ei- im Allgemeinen ein hohes Niveau sowohl in
gen- und fremdkulturelle Kompetenz“ abge- der Kenntnis neuerer Literaturtheorien als
klopft wurde (Zimmermann 1989, 15ff.; Welz auch der neueren deutschen Literatur festzu-
1986, 169). Der Deutsch als Fremdsprache- stellen ist. Trotzdem kann dies nicht darüber
Lehrer wird deutsche Sprache und Kultur im- hinwegtäuschen, dass die traditionellen Ger-
mer vor dem Hintergrund der Kolonisierung, manistikabteilungen in Lateinamerika nur
kulturellen Entfremdung und Identitätsprob- verhältnismäßig wenige Studenten zum aka-
lematik einerseits und der Übernahme west- demischen Abschluss führen. In vielen Län-
licher Wertsysteme durch die Gebildeten an- dern kann man an Schulen und sogar an Uni-
dererseits vermitteln müssen. Und es kann versitäten unterrichten, ohne einen Abschluss
nicht genug betont werden, dass akademische gemacht zu haben.
Modelle, die von Gelehrten in Deutschland Deutsch als Fremdsprache lebt vor allem
entwickelt wurden, damit noch längst nicht dank der Sprachenzentren, der „Deutschen
in Entwicklungsländern funktionieren: „Die Schulen“ und der Goethe-Institute. In Argen-
Germanistik in vielen Ländern der Dritten tinien gibt es etwa 20 Universitäten mit
Welt hat einfach ganz andere Probleme, als Deutschabteilungen, in Brasilien ebenfalls
11. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache II: Außereuropäische Perspektive 145

etwa 20, von denen 16 ein Curriculum für die 2. Bereiche und Schwerpunkte von
Ausbildung von Deutschlehrern anbieten. In Deutsch als Fremdsprache
Chile (vgl. Art. 148) haben etwa 10 Universi-
täten Deutschabteilungen, aber nur in Sant- außerhalb Europas
iago und Concepción kann man Germanistik Die Orientierung der außereuropäischen
studieren, teils mit Schwerpunkt Deutschleh- Germanistik an derjenigen der deutschspra-
rer- und Übersetzerausbildung. In Mexiko chigen Länder hatte über Jahrzehnte hinweg
(vgl. Art. 145) kann man in Sprachenzen- den Vorrang literaturwissenschaftlich orien-
tren von etwa 20 Universitäten Deutsch tierter Curricula zur Folge, mit einer damit
als Fremdsprache lernen, aber nur an der einhergehenden Vernachlässigung linguisti-
UNAM in Mexiko-Stadt Germanistik studie-
scher und fachdidaktischer Themen, Frage-
ren. Eine Spezialisierung für Deutschlehrer
stellungen und Forschungsgebiete. In Nord-
bieten die Sprachenzentren der UNAM und
amerika und Australien z. B. wurden zwi-
des Polytechnikums an. In Venezuela und
schen 1930 und 1950 viele Deutschabteilun-
Kolumbien kann man ebenfalls nur in der je-
gen an Universitäten von Emigranten aufge-
weiligen Hauptstadt ein volles akademisches
baut und von ihnen geprägt. Die allermeisten
Studium „Letras Alemanas“ absolvieren,
dieser Professoren waren Literaturwissen-
ebenso in Lima (Peru), wo auf Grund der po-
schaftler. Auch in anderen Regionen, in de-
litischen Situation über lange Jahre hinweg
nen germanistische Abteilungen unter ganz
nur eine Universität („Ricardo Palma“) bis
anderen Bedingungen eingerichtet wurden, so
zum Diplomdolmetscher führte. In Kuba hat
die DDR 30 Jahre lang eine hervorragende z. B. in Japan und Brasilien (vgl. Art. 168 u.
Aufbauarbeit für Deutsch und Germanistik 146), überwogen Literaturgeschichte und Li-
an Universitäten und Abendschulen geleistet. teraturwissenschaft bis in die sechziger Jahre
Davon profitieren die Universität Havanna hinein ⫺ und dies, obwohl die Vermittlung
und andere berufsbildende Einrichtungen linguistischer, landeskundlicher, sprach- und
noch heute. Nach der Wende 1989/90 hat das literaturdidaktischer Kenntnisse ⫺ eben
Goethe-Institut die pädagogische Verbin- Deutsch als Fremdsprache ⫺ im Vorder-
dungsarbeit übernommen. Gerade in Latein- grund stand oder hätte stehen sollen. In vie-
amerika waren deutsche Mittlerorganisatio- len Fällen wurden Sprachkurse bereits vor
nen immer sehr wichtig für die Pflege der Spra- der Einrichtung von germanistischen Abtei-
che und der Kontakte zu den deutschsprachi- lungen erteilt, wie immer wieder im Rück-
gen Minderheiten, welche ihr soziales Netz oft blick auf die Entstehung der „Germanistik
um die Schulen herum geknüpft hatten (Ent- in …“ berichtet wird. Beispiele dafür unter
sprechendes gilt für die Schweizer Schulen) vielen sind Mexiko und Thailand. In man-
und in Handel und Industrie der einzelnen chen Ländern Afrikas, Asiens und Latein-
Länder eine wichtige Rolle spiel(t)en. Kaum amerikas entstanden Deutschabteilungen und
ein Staatsbesuch in Lateinamerika, wo nicht Sprachenzentren ab den fünfziger Jahren in
die Schulen im Programm der Politiker vor- enger Zusammenarbeit mit der Bundesrepub-
gesehen wären. Die „deutschen Schulen“ ⫺ lik Deutschland, der DDR und Österreich,
meistens Begegnungsschulen ⫺ sind in vielen mit Institutionen wie dem Deutschen Akade-
Regionen die einzigen, an denen man mischen Austauschdienst (DAAD) (Lekto-
Deutsch lernen kann. (Und sie haben wie an- ren, Stipendien für Germanisten, Gastprofes-
dere ausländische und Privatschulen unter soren) und dem Goethe-Institut (Pädago-
den einheimischen Eliten immer noch großes gische Verbindungsarbeit, Stipendien für
Prestige.) Trotz der Einwanderertradition, Deutschlehrer). In diesen Fällen (z. B. Uni-
der gegenseitigen Wirtschaftsinteressen und versitäten in Kairo, Mexiko-Stadt, Buenos
der immer noch relativ großen Bedeutung des Aires, Campinas, Shanghai) standen Sprach-
Deutschen ist das Angebot ständig zurückge- arbeit, Angewandte Linguistik und Lehrer-
gangen. Aber im Bildungskanon des Sekun- ausbildung im Vordergrund. Im Unterschied
darschulbereichs hat Deutsch keine Tradi- zu Europa wurde in vielen außereuropä-
tion, so dass Deutsch als Fremdsprache vor ischen Ländern unter dem Druck, viele prak-
allem im Erwachsenenbereich und oft berufs- tische Probleme der Ausbildung in den Griff
bezogen gelehrt wird: Hier kommt den Goe- zu bekommen, die Sprachlehr- und -lernfor-
the-Instituten, den Sprachenzentren an den schung über Jahrzehnte hinweg vernachläs-
Universitäten und den (relativ wenigen) Ger- sigt. Das zeigte sich unter anderem in der ge-
manistikabteilungen hohe Bedeutung zu. ringeren Anzahl von Publikationen.
146 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

Seit etwa zwei Jahrzehnten wird dieser schung in Deutsch als Fremdsprache verbun-
Rückstand langsam aufgeholt und es gibt den wird. Während früher in vielen Regionen
Gebiete, wie z. B. die Entwicklung der „Ger- die pädagogische Verbindungsarbeit des
man Studies“, die Erforschung fremdkultu- Goethe-Instituts, DAAD-Lektoren oder ent-
rellen Verstehens und der interkulturellen sandte Experten das inhaltliche Wissen ver-
Kommunikation, wo die außereuropäische mittelt haben, ist heute vielmehr weltweit
Germanistik wichtige Anregungen und Bei- eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit
träge geleistet hat. den Fachleuten vor Ort zu beobachten, wel-
che die Forschungsschwerpunkte in der An-
2.1. Sprachkurse gewandten Linguistik/Deutsch als Fremd-
Deutsch als Fremdsprache außerhalb Euro- sprache bestimmen. Dazu gehören die Ent-
pas betrifft vorrangig den Erwachsenenbe- wicklung von Lehrwerken und Lesekursen;
reich. Zwar gibt es Länder mit eindrucksvol- Spracherwerbsforschung, Sprachvergleich,
len Schülerzahlen im Sekundarbereich (vgl. autonomes Lernen; didaktische Grammatik,
1.1.); und wie wichtig dieser ist, zeigt sich Übersetzungsprobleme, interkulturelle Her-
in der Förderung des Auslandsschulwesens meneutik; Curriculumentwicklung, Sprach-
durch die Bundesrepublik Deutschland. Nach politik, Lehreraus- und -fortbildung. Auch in
Ammon (1991, 434f.) wird Deutsch in etwa den außereuropäischen Ländern haben die
der Hälfte der 172 Länder angeboten, und Bemühungen zugenommen, moderne Medien
zwar im Allgemeinen nur „an einigen Schu- für den Deutschunterricht nutzbar zu ma-
len“; „überwiegend vertreten“ war Deutsch chen. Abgesehen von den USA, Kanada und
1988 an außereuropäischen Schulen nur in Japan sind Schwellenländer wie Brasilien,
Kamerun, Elfenbeinküste, Mali, Australien, Indien, Malaysia und Mexiko besonders auf-
Indonesien und Südkorea, „an zahlreichen geschlossen, Selbstlernzentren und computer-
Schulen“ in Brasilien, Chile, Kanada, den gestützten Unterricht einzurichten. In der
USA, Neuseeland und in zehn Ländern Mitte der neunziger Jahre wurden dortige
Afrikas. Universitätsinstitute konsequenter an Inter-
Für diese Schulen gilt, dass Deutsch für net und E-Mail angeschlossen als vergleich-
die meisten Schüler Fremdsprache ist, und bare mitteleuropäische Institutionen.
das trifft heutzutage auch für die deutschen
Auslandsschulen zu. Entsprechend hat sich 2.2. Lehreraus- und -fortbildung
die Zahl der Deutschkurse und die der dafür Auch in diesem Bereich gibt es grundsätzliche
benötigten Lehrer erhöht. Unterschiede zwischen dem traditionellen
Aber weltweit gesehen wird Deutsch vor Germanistik- und dem Deutsch-als-Fremd-
allem aus mannigfaltigen beruflichen Grün- sprache-Studium in Europa und außerhalb
den (z. B. Wirtschaft und Tourismus), zu Stu- Europas. In den deutschsprachigen Ländern
dienzwecken und aus kultureller Neugier ge- führt das Studienfach Germanistik gewöhn-
lernt. Hier spielen die Goethe-Institute eine lich zum Staatsexamen und zum Beruf des
große Rolle, aber sie können bei weitem nicht Deutschlehrers an allgemeinbildenden Schu-
die Nachfrage bewältigen. Deshalb sind len. Erst im Referendariat wird die wissen-
außer privaten Sprachinstituten (z. B. Berlitz) schaftliche Ausbildung durch eine metho-
die an den Universitäten entstandenen Spra- disch-didaktische ergänzt. Mit der Gründung
chenzentren besonders wichtig geworden. Sie von Studiengängen Deutsch als Fremdspra-
haben vielerorts eine größere Bedeutung er- che kam man dann seit den siebziger Jahren
langt als die traditionellen Germanistikabtei- dem Desiderat nach, Deutsch als Fremdspra-
lungen, weil von vielen Universitäten ver- che- und Deutsch als Zweitsprache-Lehrer
langt wird, dass Hörer aller Fakultäten für das Ausland wie das Inland auszubilden.
Fremdsprachenkenntnisse erwerben. Für das Außerhalb Europas führt die Ausbildung in
Studium moderner Fremdsprachen gibt es Germanistik in den meisten Fällen zu einer
dagegen wenig Interesse, weil in den Schulen Berufstätigkeit im Fach Deutsch als Fremd-
außer für Englisch kaum Sprachlehrer ge- sprache an Schulen oder Universitäten. Die
braucht werden. Ein wesentlicher Unter- Einsicht, dass ein traditionelles, literaturwis-
schied zwischen den an universitären Spra- senschaftlich ausgerichtetes Germanistikstu-
chenzentren und den an anderen Sprachinsti- dium nicht unbedingt auf die Anforderungen
tuten organisierten Kursen besteht darin, vorbereitet, die auf künftige Deutschlehrer
dass auch zunehmend an Universitäten der zukommen, hat in vielen Ländern zu einer
sog. Dritten Welt die Lehre mit der For- Erweiterung oder Umstrukturierung in Rich-
11. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache II: Außereuropäische Perspektive 147

tung auf ein stärker praxisorientiertes Curri- chigen Ländern. Beispiele dafür, wo solche
culum geführt. Diese Diskussion ist übrigens Tendenzen mit landesspezifischer Ausrich-
auch innerhalb des nicht deutschsprachigen tung in die Praxis umgesetzt und auch bei der
Europas in Gang, besonders in den osteuro- Lehrerfortbildung berücksichtigt werden,
päischen Ländern. Ein wesentlicher Unter- sind Thailand (Otrakul 1996, 451ff.), Brasi-
schied besteht in den sprachlichen Vorausset- lien (Sartingen/Stahr 1996), Kamerun (Ngat-
zungen, die z. B. Studenten in der sog. Drit- cha 1996, 323ff.), Algerien (Hami 1996) und
ten Welt für den Lehrberuf mitbringen, wel- die Mongolei (Kuhn 1996, 55ff.). In Nord-
che ⫺ wie gesagt ⫺ oft erst an der Universi- amerika und Neuseeland gibt es andere An-
tät anfangen Deutsch zu lernen. Diese Kom- sätze, Deutsch-Curricula in Richtung auf
ponente muss in die Entwicklung der Curri- German Studies, Applied Linguistics, Euro-
cula eingebracht werden. Man kann nicht pean Studies zu aktualisieren (Hufeisen 1995;
umhin, von den jeweiligen Gegebenheiten Lopdell 1996). In Lateinamerika sind die be-
auszugehen; darüber scheint inzwischen Kon- reits erwähnten Umstrukturierungen an
sens zu herrschen: „Die Entwicklung von Deutschlehrerausbildungszentren in Argenti-
Curricula ist im Kern stets von den Studien- nien, Chile, Venezuela und Mexiko zu spü-
und Lernbedingungen, den Fächerstrukturen ren. Dort und in anderen Ländern ist die Re-
sowie den personellen Kapazitäten und vision der Curricula ebenso im Gange wie in
Schwerpunkten abhängig, die jeweils vor Ort Europa. Vor allem der mangelhafte histori-
bzw. in einem bestimmten Land oder in einer sche, literaturgeschichtliche und sprachliche
bestimmten Region gegeben sind.“ (Bausch Kenntnisstand der Studenten gebietet es,
1996, 97) Eine solide Deutschlehrerausbil- Basisinformationen zu vermitteln, akademi-
dung muss demnach anders aussehen als ein sche Arbeitstechniken beizubringen, didak-
herkömmliches Germanistikstudium. Dieser tische, psychologische und pädagogische
Erkenntnis wurde gegen Ende des 20. Jh.s an Aspekte in den Vordergrund zu rücken und
vielen Sprachenzentren und Deutschlehrerse- nur allmählich, besonders im Postgraduier-
minaren gefolgt, in der sog. Dritten Welt oft tenstudium, zum wissenschaftlichen Höhen-
unbekümmert ob der verehrungswürdigen flug anzusetzen.
Tradition germanistischer Lehrstühle. Ohne Selbst für die relativ gut etablierte Germa-
den „Ballast“ mittelalterlicher Literatur- nistik in Brasilien forderte Rosenthal (1980,
kenntnisse, der historischen Sprachwissen- 312) eine von der deutschen Germanistik
schaft und oft leider auch des Kanons der grundverschiedene Studienplanung und Di-
klassischen Literatur und ihrer Nachfolgerin- daktik. Auch in China steht im Mittelpunkt
nen (mit der damit einhergehenden Gefahr des vierjährigen Studiums der Spracherwerb,
der inhaltlichen Ausdünnung des Studiums) und die vielen Germanistikabsolventen fin-
wurden Curricula entwickelt, deren zentrale den nur schwer einen Arbeitsplatz ⫺ es sei
Inhalte sind: Methoden des Fremdsprachen- denn, sie verbinden die fremdsprachliche
unterrichts, Grundlagen der Angewandten Ausbildung mit technischem Fachwissen
Linguistik, Psycholinguistik und Spracher- (Hess 1993, 61).
werbstheorien, Lehrwerkanalyse, Entwick-
lung von Lehrmaterialien, Medienkunde, 2.3. Regionale Lehrwerkentwicklung
Kultur- und Sprachvergleich. Dass dieser An- In vielen Teilen der Welt gab es ⫺ ganz im
satz sinnvoll ist, wurde auch aus der Perspek- Gegensatz zu Europa, wo viele Länder längst
tive der Inlandsgermanistik bestätigt. Neuner eine eigene Deutschlehrwerktradition entwik-
(1993, 23f.) zieht aus den Gegebenheiten und kelt hatten ⫺ bis in die 70er Jahre hinein
Tendenzen der Deutschlehrerausbildung in keine landesspezifischen Lehrwerke für
Europa Folgerungen, die auch für die Situa- Deutsch als Fremdsprache. Ausnahmen bil-
tion außerhalb Europas bedenkenswert sind: deten z. B. die USA und Japan, wobei es in
a) in der Linguistik Vergleich der eigenen Japan üblich war, dass viele Lehrstuhlinhaber
Sprache mit der Zielsprache Deutsch, b) in für ihr Institut eigene Lehrbücher publizier-
der Literaturwissenschaft komparatistische ten, in denen lange die Übersetzungsmethode
Ansätze: Vergleich der eigenen mit der vorherrschte. Modernere Ansätze des audio-
deutschsprachigen Literatur, c) in der Lan- visuellen, kommunikativen und interkulturel-
deskunde Kenntnis der historischen Bezie- len Unterrichts fanden nur langsam Eingang
hungen und Alltagskultur im Vergleich, d) in in japanische Deutschlehrwerke, und eine ge-
der Sprachlehr- und -lernforschung: Traditio- wisse Orientierungslosigkeit ist noch heute zu
nen im eigenen Land und in den deutschspra- spüren (Slivensky 1995, 352).
148 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

In Afrika, Asien und Lateinamerika wur- chung von solchen Projekten sind viele
den vorwiegend Lehrwerke verwendet, die in Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Soll das
Deutschland erarbeitet und vor allem vom Konzept der Region kulturell, politisch oder
Goethe-Institut eingeführt worden waren. sprachlich definiert werden und rechtfertigt
Lehrwerke aus der DDR waren im Wesentli- die Zahl der Lerner überhaupt ein adressa-
chen auf die sog. sozialistischen Länder be- tenspezifisches Lehrwerk (Götze 1994, 244)?
schränkt; österreichische Lehrwerke erober- Nur in relativ wenigen Fällen fiel die Ent-
ten erst in den 90er Jahren Marktanteile. Im scheidung für die Entwicklung regionaler
Zuge der Verwissenschaftlichung des Faches Lehrwerke, während die Mehrheit der
Deutsch als Fremdsprache und einer zuneh- Deutschkurse weiterhin mit den in Europa
menden Professionalisierung wuchsen in vie- entstandenen Lehrwerken bestritten wird.
len Regionen der Wunsch und die Notwen- Eine Zwischenlösung stellen lehrwerkbeglei-
digkeit, eigene Lehrwerke zu erarbeiten (vgl. tende zweisprachige Glossare und kontra-
Art. 106). Die in deutschsprachigen Ländern stive Arbeitsbücher (z. B. Deutsch-Spanisch,
konzipierten und publizierten Lehrwerke Deutsch-Brasilianisch zum Lehrwerk Sprach-
wurden lange wie selbstverständlich in die brücke) dar. Beispiele für die Zusammenar-
ganze Welt exportiert, obwohl sie an vielen beit zwischen deutschen Institutionen und ih-
ortsspezifischen Erwartungen und Themen ren Partnern in verschiedenen Teilen der Welt
vorbeigingen. In der Regel waren sie nicht sind die für das frankophone Westafrika kon-
sprachvergleichend angelegt, ignorierten die zipierten Lehrwerke Yao lernt Deutsch und
Lehr- und Lerntraditionen eines Landes oder Ihr und wir, das in Indonesien entstandene
einer Region und waren nicht auf den Ausbil- Lehrbuch für die indonesischen Oberschulen
dungs- und Wissensstand der Lehrkräfte aus- Kontakte Deutsch und das deutsch-chileni-
gerichtet. Manchmal berührten sie Tabus und sche Lehrwerk Wegweiser. In dem letztge-
widersprachen sozialen Normen, verwende- nannten Fall entschied man sich für das 1994
ten eurozentristische Darstellungen und In- abgeschlossene Projekt, weil es aus inhalt-
terpretationen, thematisierten Kulturunter- lichen und strukturellen Gründen schwer
schiede, Alterität und Fremdperspektiven war, ein für Lateinamerika geeignetes Lehr-
nicht ⫺ hier machen sich also Gesichts- buch für den Deutsch als Fremdsprache-Un-
punkte geltend, die seit den achtziger Jahren terricht mit Jugendlichen zu finden. Wie pro-
zunehmend in das Bewusstsein von Lehr- blematisch es aber bleibt, bei der Verwirkli-
werkautoren und Verlegern gedrungen sind. chung eines regionalen Lehrwerks deutsche
In den verschiedenen Bildungseinrichtungen Interessen mit der jeweils einheimischen Per-
stand man nun vor der Entscheidung, ob spektive zu verbinden, zeigen eine Untersu-
man eigene Lehrwerke entwickeln, schon exi- chung über die Rezeption von Yao lernt
stierende adaptieren, Lizenzausgaben publi- Deutsch (Ngatcha 1994, 70) und die kriti-
zieren oder ergänzende Zusatzmaterialien er- schen Anmerkungen zur Darstellung landes-
arbeiten sollte. kundlichen Wissens in Ihr und wir von
Alle vier Wege wurden beschritten, am we- Gouaffo (1996, 472ff.).
nigsten der eigener Lehrwerke, sieht man von
den recht intensiven Publikationsaktivitäten 2.4. Interdisziplinäre, interkulturelle,
auf dem Gebiet der Fachsprachenlesekurse internationale Ansätze
ab, die z. B. in Argentinien, Brasilien, Me- Wie sich aus dem Bisherigen ergibt, befinden
xiko, China, Indien ausgearbeitet wurden. sich das Fach Deutsch als Fremdsprache und
Für die Entwicklung eigener Grund- und die Germanistik in außereuropäischen Län-
Mittelstufenlehrwerke fehlten in vielen Fällen dern und Kulturen in einem dynamischen
die finanziellen Mittel, oft auch entsprechend Veränderungsprozess, möglicherweise sogar
ausgebildete Autoren, und mit den stetig stärker als in den deutschsprachigen Ländern
wachsenden Ansprüchen, der Konkurrenz selbst. Der Austausch mit diesen ist einerseits
auf dem Lehrmittelmarkt und der zunehmen- selbstverständlich geworden, andererseits kann
den Perfektionierung in der Herstellung ent- man einen wachsenden Abstand zu ihrem
fiel in vielen Regionen eine eigene Produk- Wissenschaftsbetrieb und die Verfolgung re-
tion von Deutschlehrwerken. So ging die In- gionenspezifischer Ziele beobachten. Die dar-
itiative zur Entwicklung regionaler Lehr- gestellten Bereiche und Schwerpunkte des
werke wieder einmal von den deutschsprachi- Deutschen als Fremdsprache sind nicht die
gen Ländern aus, nicht zuletzt aus kulturpoli- einzigen, in denen sich die Forschung und
tischen Überlegungen. Bei der Verwirkli- Lehre weiterentwickeln und konsolidieren.
11. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache II: Außereuropäische Perspektive 149

Anhand der Situation des Deutschen als Übersetzerausbildung in Lateinamerika, die


Fremdsprache in Lateinamerika seien noch Inhalte und die zu entwickelnden Kompeten-
einige wichtige Gebiete und Tendenzen er- zen gibt Lauterbach (1996a und 1996b).
wähnt, die man mit ihren Varianten auch in In der Literaturwissenschaft und Litera-
anderen Regionen vorfindet. turdidaktik liegt es nahe, deutschsprachige
Meistens ist Deutsch an lateinamerikani- Werke komparatistisch zu behandeln: Rezep-
schen Universitäten ein kleines Studienfach; tionsstudien, Wirkungsästhetik, imagologi-
seine Stellung ist aber relativ stabil, besonders sche Untersuchungen. Was in der Kompara-
im Sprachunterricht. Soweit Deutsch als tistik schon immer der Fall war, sollte auch
Fremdsprache als wissenschaftliches Fach be- für die Germanistik angestrebt werden:
trieben wird, steht es im engen Austausch Deutschsprachige Literatur kann nur kultur-
und in Konkurrenz mit anderen Fremdspra- spezifisch gelesen werden, wenn es gelingt,
chenphilologien, wird interdisziplinär betrie- den jeweiligen Verstehenshorizont zu be-
ben und hat sich zunehmend mit den Ent- schreiben. Deutsche Literaturgeschichte und
wicklungen der amerikanischen Angewand- Literaturdidaktik sollte nicht ohne Bezug auf
ten Linguistik und den German bzw. Cultu- die literatischen Traditionen der Region be-
ral Studies auseinanderzusetzen. Dies zeigt trieben werden. Die Verknüpfung von Ger-
sich deutlich an der Aktualisierung der ger- manistik, Lateinamerikanistik und Kom-
manistischen Studiengänge und der Curricula paratistik kann nicht genug gefordert wer-
in Angewandter Linguistik in den Magister- den. Dass sie in mehreren lateinamerikani-
und Doktorstudien, wie z. B. an der UNI- schen Universitäten praktiziert wird, zeigen
CAMP in Campinas, Brasilien, oder an der Zeitschriften wie Boletı́n de Literatura Com-
UNAM, Mexiko (vgl. Blühdorn/Sartingen/ parada (Mendoza, Argentinien), Pandaemo-
Sielaff 1996). nium Germanicum (São Paulo, Brasilien) und
In dem Magisterstudium in Angewandter Anuario de Letras Modernas und Poligrafı́as
Linguistik und der Lehrerausbildung an der (UNAM). Der Nachholbedarf an Studien
Universität Mexiko absolvieren Studenten über die Literaturbeziehungen zwischen La-
verschiedener Fremdsprachen gemeinsam ei- teinamerika und den deutschsprachigen Län-
nen Teil der Kurse. Dazu gibt es Seminare, dern ist immens, und an systematischer Pro-
die speziell den Sprach- und Kulturvergleich
jektarbeit bleibt noch viel zu tun. Einen Ein-
zwischen Mutter- und Zielsprache zum Inhalt
blick in interkulturelle Thematik und Bei-
haben. Der Forschungsbeitrag aus deutsch-
spiele für komparatistische Studien geben
sprachigen Ländern wird immer im interna-
Barth u. a. (1992) und Cziesla/Engelhardt
tionalen Kontext gesehen. Ein aktueller
(1996). Die von der Interkulturellen Germa-
Trend in der Lehreraus- und -fortbildung ist
die Forderung nach Fernstudiengängen und nistik angeregten Fragestellungen und Dis-
der Einsatz moderner Medien. Die wach- kussionen wurden zwar aufgegriffen, aber es
sende Bedeutung der Angewandten Lingui- haben sich keine Zentren herausgebildet, die
stik im Vergleich mit der traditionellen Philo- einer besonderen Schule verpflichtet wären.
logie spiegelt sich in neugegründeten interdis- Die Berufspraxis ist interkulturell; Sprache,
ziplinären Zeitschriften wie Trabalhos de Lin- Landeskunde und Literatur sind das Fremde,
güı́stica Aplicada (Campinas) und Estudios de dem man sich zu nähern sucht.
Linguı́stica Aplicada (UNAM), wider und Der Austausch unter den Ländern und
diese zeigen den Rahmen, in dem das Fach Regionen nimmt stetig zu. In den letzten
Deutsch als Fremdsprache sich entwickelt. zehn Jahren wurden z. B. in Argentinien,
In den letzten Jahren ist das Bewusstsein Brasilien, Chile, Kuba, Guatemala und Me-
dafür gewachsen, dass die Übersetzerausbil- xiko Deutschlehrerverbände gegründet, die
dung ausgebaut werden müsste, wie über- meistens dem Internationalen Deutschlehrer-
haupt die Nachfrage nach berufsbezogenen verband angeschlossen sind.
Kursen steigt. Übersetzer braucht man für Der lateinamerikanische Germanistenver-
alle Bereiche, aber in den wenigsten Ländern band (ALEG) wird zunehmend seiner Mitt-
der Region ⫺ oder höchstens in den Haupt- lerfunktion gerecht mit Tagungen in Men-
städten ⫺ gibt es formale Studiengänge mit doza (1991), Mexiko-Stadt (1994), und Con-
einem akademischen Abschluss. Übersetzen cepción (1998). Einblick in die Entwicklung
ist oft mehr eine Frage des Könnens und des von Deutsch als Fremdsprache und Ger-
Marktes als der nachgewiesenen Diplome. manistik in Lateinamerika geben Rall/Rall
Einen guten Überblick über den Stand der (1996a) und Rosenthal/Fleischer (1974).
150 II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte

Regionale Deutschlehrertagungen fanden Ganeshan, Vridhagiri (1990): German Studies in


in Havanna (1990) und Stanford (1995) statt. Indien: Möglichkeiten und Grenzen ⫺ Zur zentra-
Die Tagung in Stanford war die erste, die ge- len Bedeutung eines peripheren Faches. In: Hans-
meinsam von Germanisten aus Nord-, Mit- Joachim Althof (Hg.) (1990): Deutschlandstudien
international. Dokumentation des Wolfenbütteler
tel- und Südamerika organisiert und besucht DAAD-Symposiums 1988. München, 187⫺194.
wurde.
Auch Publikationen werden zahlreicher Glück, Helmut (1989): Meins und Deins ⫽ Unsers?
Über das Fach „Deutsch als Fremdsprache“ und
ausgetauscht als früher, mehrere Deutschleh- die „Interkulturelle Germanistik“. In: Peter Zim-
rerverbände geben ihre Verbandszeitschriften mermann (Hg.), 57⫺92.
heraus (z. B. Projekt, São Paulo, und In-
Götze, Lutz (Hg.) (1987): Deutsch als Fremdspra-
foAMPAL, Mexiko) und das Interesse an che. Situation eines Faches. Bonn-Bad Godesberg.
überregionaler Zusammenarbeit wächst.
Die aufgezeigten Tendenzen lassen sich ⫺ (1994): Grundsätze für die Erstellung regionaler
Lehrwerke. In: Kast/Neuner (Hg.), 243⫺246.
ähnlich in den übrigen Regionen beobachten,
wie die Aussage von Ammon über die ⫺; Gabriele Pommerin (1995): Deutsch als Fremd-
Deutschlehrer und Germanisten zeigt: „Sie sprache. In: Karl-Richard Bausch; Herbert Christ;
Hans-Jürgen Krumm (Hg.): Handbuch Fremdspra-
haben ein starkes berufliches Interesse daran, chenunterricht. 3. Aufl., Tübingen/Basel, 355⫺360.
daß ihr Fach floriert und bilden daher gewis-
sermaßen eine Lobby für die Fächer Deutsch ⫺; Peter Suchsland (1996): Deutsch als Fremdspra-
che. Thesen zur Struktur des Faches. In: DaF 33,
und Germanistik und damit auch für die 2, 67⫺72.
deutsche Sprache in ihrem Land“. (Ammon
1991, 507f.) Kurz, Deutsch als Fremdsprache Gouaffo, Albert (1996): Das frankophone schwarz-
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13, 2, 161⫺177.
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Latinoamérica y la Europa de habla alemana. Mé-
xico. Dietrich Rall, Mexiko-Stadt (Mexiko)
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

12. Das deutsche Lautsystem

1. Laute und Lautsystem Analyse des Sprechkontinuums zu beobach-


2. Merkmale der Lautsprache tenden Phänomene ganz grob zwei Arten zu-
3. Die Lautsegmente ordnen:
4. Phonotaktik
5. Prosodien (1) Phänomene, die sich auf einzelne Glieder
6. Phonologie der Lautkette (Segmente) beziehen, sind
7. Literatur in Auswahl dem segmentellen Bereich zuzurechnen.
(2) Phänomene, die sich auf die Lautkette als
1. Laute und Lautsystem Ganzes (oder auf größere Teile der Kette)
beziehen und die einzelnen Glieder über-
Unter ,Laut‘ verstehen wir jedes Segment, in lagern, gehören zum suprasegmentellen
das sich eine lautsprachliche Äußerung audi- Bereich.
tiv zerlegen lässt, die aus einer mit den Arti-
kulations- und Phonationsorganen erzeugten Hinzu treten solche Phänomene, die an der
Kette von Schallsignalen besteht. ,Laut‘ ist Segmentfuge, d. h. an den Schnittstellen zwi-
ein linguistisch nicht definierter Begriff und schen zwei Gliedern der Kette, zu beobach-
daher überall dort anwendbar, wo eine Spezi- ten sind.
fizierung (z. B. Phon, Variphon, Allophon, Entsprechend den drei Manifestationsbe-
Orthophon, Phonem, Serienelement usw.) reichen der Lautsprache bieten sich drei ver-
nicht erwünscht oder nicht möglich ist. Ent- schiedene Ebenen der phonetischen Beschrei-
sprechend kann unter ,Laut‘ auch eine Klasse bung an:
einander ähnlicher Segmente verstanden wer-
den. (1) auf der Grundlage der Erzeugung (Ge-
Unter ,Lautsystem‘ wird die systematische nese, Produktion) der Lautsprache mit
Zusammenfassung der Laute einer gegebenen den Mitteln der artikulatorischen Phone-
Sprache und ihrer Interrelation verstanden. tik;
Häufig werden aber über die Segmente hin- (2) auf der Grundlage der Übertragung der
ausgehend ⫺ wie auch hier ⫺ diejenigen Lautsprache (vom Sender zum Empfän-
Merkmale mitverstanden, die die einzelnen ger) mit den Mitteln der akustischen Pho-
Laute überlagern, so dass in diesem erweiter- netik und
ten Sinn unter ,Lautsystem‘ alle in der laut- (3) auf der Grundlage des Empfangs der
sprachlichen Kommunikation zu beobach- Lautsprache (Rezeption, Perzeption) mit
tenden Phänomene zusammengefasst wer- den Mitteln der auditiven Phonetik.
den.
Darstellungen des deutschen Lautsystems Zwar werden häufig zur Lautbeschreibung
sind meist eingegrenzt auf den Bereich der Begriffe aus der auditiven Phonetik (wie hart,
Standardlautung (vgl. Art. 13); andere Lau- weich, muet, mouillé, liquid, sonorant, scharf,
tungsebenen werden nur insoweit erwähnt, spitz usw.) gebraucht, doch entstammen die
als die in ihnen repräsentierten Varietäten meisten Beschreibungsparameter dem Be-
tendenziell Eingang in die Norm gefunden reich der artikulatorischen Phonetik. Erst
haben. Phonostilistische und emotionale Aus- die instrumentelle akustische Sprachanalyse
sprachevarietäten bleiben ebenso unberück- (v. a. mit Hilfe des Sonographen) hat ⫺ ins-
sichtigt wie regionale. besondere im Rahmen der Distinctive Feature
Theory ⫺ auch eine Reihe akustischer Be-
schreibungsparameter in die Phonetik einge-
2. Merkmale der Lautsprache
führt. Diese Parameter werden zwar in
Wie bereits angedeutet, lassen sich die in instrumentalphonetischen Analysen und bei
der lautsprachlichen Kommunikation bei der der Erstellung von Merkmalmatrizes verwen-
12. Das deutsche Lautsystem 153

det, jedoch kaum bei Lautbeschreibungen in


phonetischen Handbüchern und überhaupt
nicht zur Lautbeschreibung in Lexika und
Sprachlehrwerken. Aus diesem Grund und
aus Gründen, die mit dem Erwerb einer frem-
den Aussprache zusammenhängen, wird hier
das Repertoire der in der artikulatorischen
Phonetik verwendeten Termini zur Lautbe-
schreibung verwendet.

3. Lautsegmente
Zur Klassifikation der Laute unter paradig-
matischem Aspekt werden üblicherweise die Abb. 12.1: Artikulationsorgane, soweit sie für die
Parameter des Artikulationsortes und der Bildung deutscher Laute relevant und im Text er-
wähnt sind (aus: Kelz 1995, 17).
Artikulationsart herangezogen. Die Artikula-
tionsart wird im Wesentlichen durch den
Grad der Behinderung des Luftstroms be-
bestimmend. Vom Grundsatz her ist es jeweils
stimmt. Da alle Laute des Deutschen durch
ein (flexibler) Artikulator, der sich bei der Arti-
Ausatmen von Luft entstehen, ist entschei-
kulation einer (festen) Artikulationsstelle
dend, welche Hindernisse der Luftstrom auf
mehr oder weniger stark nähert. Dabei sind
seinem Weg von der Lunge in die Atmo-
allerdings physiologische Grenzen gesetzt.
sphäre überwinden muss. Im Hinblick auf die Aus dem physiologisch Möglichen wählt jede
im Deutschen gegebenen Artikulationsmög- Sprache ⫺ so auch das Deutsche ⫺ eine be-
lichkeiten sind insgesamt sechs Grade der Be- grenzte Zahl von Artikulationsorten aus.
hinderung und damit sechs Artikulationsar- Bei den Plosiven und Nasalen gibt es im
ten zu unterscheiden: Deutschen drei Artikulationsorte: Unterlippe
(1) Bei einer völligen Unterbrechung des ⫺ Oberlippe (bilabiale), Zungenspitze ⫺
Luftstroms durch Verschluss im Mund- Zahndamm (alveolare) und Zungenrücken ⫺
raum und gleichzeitigen Abschluss des hinterer Gaumen (velare Artikulation).
Nasenraums (Hebung des Gaumensegels) Frikative können im Deutschen an folgen-
entstehen Verschlusslaute (Plosive). den Artikulationsorten gebildet werden: Un-
(2) Bei einer dauerhaften Unterbrechung des terlippe ⫺ obere Schneidezähne (labio-den-
Luftstroms im Mundraum und gleichzei- tale), Zungenspitze ⫺ Zahndamm (alveo-
tiger Öffnung des Nasenraums (Senkung lare), Zungenspitze ⫺ hinterer Zahndamm
des Gaumensegels) entstehen Nasenlaute (palato-alveolare), Zungenrücken ⫺ vorderer
(Nasale). Gaumen (palatale), Zungenrücken ⫺ hinterer
(3) Bei einer periodischen Unterbrechung Gaumen (velare) und Zungenwurzel ⫺ Zäpf-
des Luftstroms entstehen Zitterlaute chen (uvulare Artikulation).
(Vibranten). Die physiologischen Möglichkeiten für die
(4) Bei einer Engebildung im Mundraum, Bildung von Vibranten sind auf zwei Artiku-
wobei im Bereich der Enge durch die dort lationsorte begrenzt. Im Deutschen kommen
herrschende höhere Fließgeschwindigkeit beide vor: Vibration der Zungenspitze (api-
der Luft ein Reibegeräusch erzeugt wird, kale) und Vibration des Zäpfchens (uvulare
entstehen Reibelaute (Frikative). Artikulation).
(5) Bei einer Behinderung des Luftstroms in Im Deutschen kommt nur ein Lateral vor.
der Mundmitte, aber gleichzeitigem freien Der Artikulationsort wird bestimmt durch
Ausgleiten des Luftstroms an den Seiten den Kontakt Zungenspitze⫺Zahndamm (al-
entstehen Seitengleitlaute (Laterale). veolare Artikulation).
(6) Bei freiem Ausgleiten des Luftstroms Vokale können nur in einem eng begrenz-
(auch in der Mundmitte) ohne Behinde- ten Teil des Mundraums gebildet werden:
rung entstehen Vokale. durch mehr oder weniger große Hebung des
vorderen Zungenrückens gegen den vorderen
Neben dem Grad der Behinderung, durch den Gaumen (Vorderzungenvokale), des mittle-
die Artikulationsart der Laute bestimmt wird, ren Zungenrückens gegen den mittleren Gau-
ist für die Klassifizierung der Artikulationsort men (Mittelzungenvokale) und des hinteren
154 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

Zungenrückens gegen den hinteren Gaumen 3.1. Plosive


(Hinterzungenvokale). Bei den Plosiven sind Fortisplosive und Le-
Weitere wichtige Mittel zur Lautunter- nisplosive zu unterscheiden. Sie stehen einan-
scheidung sind der Spannungsgrad (der Arti- der paarweise gegenüber. Im Deutschen sind
kulationsmuskulatur) und die Stimmbeteili- Fortisplosive immer stimmlos, Lenisplosive
gung; danach unterscheiden wir stimmhafte im Auslaut und nach stimmlosen Konsonan-
und stimmlose Laute, Fortes und Lenes. Ne- ten ebenfalls stimmlos, sonst stimmhaft. Le-
ben der Stimmkorrelation (stimmhaft ⬃ nisplosive sind [b] (bilabial), [d] (alveolar)
stimmlos) spielt für das Verstehen der Laute und [g] (velar). Fortisplosive sind [p] (bila-
also auch die Spannungskorrelation (ge- bial), [t] (alveolar) und [k] (velar).
spannt ⬃ ungespannt) eine Rolle. Lenes wer- Ferner kann bei Plosiven noch die Aspira-
den bei geringer Spannung mit schwachem tion hinzutreten. Es handelt sich bei der Aspi-
Geräusch erzeugt, Fortes bei kräftiger Span- ration um einen stärkeren Lufthauch, der un-
nung mit starkem Geräusch. Plosive und Fri- mittelbar der Lösung des Verschlusses folgt.
kative können im Deutschen als Lenis oder Lenisplosive sind im Deutschen generell nicht
als Fortis artikuliert werden. Auch bei den aspiriert: bohren, dir, Gala. Fortisplosive sind
Vokalen spielt der Spannungsgrad eine Rolle; aspiriert (wie in Poren, Tier, kahl), wenn kein
allerdings entfällt hier das Geräusch. Stimm- Frikativ vorausgeht und kein anderer Plosiv
hafte Laute werden von einem Stimmton be- folgt (wie in Sporen, Stier, Skala, Akt, Abt).
gleitet. Der Stimmton wird durch eine Vibra-
tion der Stimmbänder an der Glottis erzeugt. 3.2. Nasale
Plosive und Frikative können im Deutschen Nasale sind im Deutschen immer stimmhaft.
sowohl stimmhaft als auch stimmlos sein. Nasale sind [m] (bilabial) wie in mit, immer,
Nasale, Laterale und Vibranten kommen im Arm, [n] (alveolar) wie in nie, Winter, Sinn
Deutschen nur stimmhaft vor. und [n] (velar) wie in Inge, eng.
Auch Vokale sind stimmhaft. Spricht man
jedoch einen Vokal stimmlos aus, so entsteht 3.3. Frikative
ein ,Hauchlaut‘. Alle derartigen ,stimmlosen Frikative kommen als Lenes und als Fortes
Vokale‘ fassen wir als eine Gruppe zusam- vor. Im Deutschen sind Fortisfrikative immer
men, die wir im Deutschen als /h/ betrachten. stimmlos, Lenisfrikative meist stimmhaft,
Man kann also sagen, dass die Lautkette be- können aber nach stimmlosen Konsonanten
stehend aus /h/ ⫹ Vokal (an anderen Stellen entstimmt sein. Fortisfrikative sind [f] (labio-
kommt /h/ im Deutschen nicht vor) ein Laut dental) wie in fein, Phase, Vater, Affe, auf,
ist, der durchgehend alle artikulatorischen naiv, [s] (alveolar) wie in Skala, Masse,
Merkmale des jeweiligen Vokals enthält, des- Straße, Fuß, Eis, [s] (palato-alveolar) wie in
sen erster Teil stimmlos und dessen zweiter Schule, Asche, Chef, [ç] (palatal) wie in Che-
stimmhaft ist. Man nennt dies auch den be- mie, Eiche, euch, [x] (velar) wie in machen,
hauchten Vokaleinsatz. Wegen der (wenn Buch und [x] (uvular). Lenisfrikative sind [v]
auch geringen) Reibung im glottalen Bereich (labio-dental) wie in Wein, Vase, ewig, No-
erscheint der ,Hauchlaut‘ /h/ in der IPA- vember, [z] (alveolar) wie in sein, Rasen,
Tabelle unter dem Artikulationsort ,glottal‘. [z] (palato-alveolar) wie Genie, Journalist,
Neben dem behauchten Vokaleinsatz ist Dschungel, [j] (palatal) wie in jetzt, Yacht und
ein weiterer für das Deutsche kennzeichnend: [R] (uvular).
der harte Vokaleinsatz. Vor der eigentlichen Die beiden uvularen Frikative werden
Vokalartikulation verschließen die Stimmlip- später noch ausführlich behandelt und mit
pen den Luftstrom, und es kommt zu einem Beispielen belegt. Der (stimmhafte) palato-
explosionsartigen Einsetzen des Vokals. Wir alveolare Lenisfrikativ [z] kommt nur in
sprechen daher vom Glottisverschluss oder Fremd- und Lehnwörtern vor. Umgangs-
vom ,Knacklaut‘. Er tritt regelmäßig am sprachlich kommt im Deutschen außerdem
Wortanfang vokalisch anlautender Wörter ⫺ ein (stimmhafter) velarer Lenisfrikativ [¥]
wie in Eis, aus, in, oder ⫺ auf. Präfixe werden zwischen zwei Vokalen vor, von denen einer
durch den Knacklaut abgetrennt, Suffixe je- ein Hinterzungenvokal sein muss, wie in
doch nicht: beenden, erarbeiten ⬃ Bauer, Wagen, Bogen, Agathe.
frohe.
Damit ergeben sich folgende Laute des 3.4. Lateral
Deutschen (deren Lautwerte im folgenden Der Lateral ist im Deutschen immer stimm-
mit den Zeichen der IPA in eckigen Klam- haft. Er wird alveolar gebildet. Beispiele: [l]:
mern gekennzeichnet werden): leicht, alle, mal.
12. Das deutsche Lautsystem 155

3.5. Vibranten hinten) und nach der Form der Lippen (rund
Vibranten sind im Deutschen ebenfalls ⬃ nicht-rund) klassifiziert. Während im Deut-
stimmhaft. Zwar gibt es zwei Artikulations- schen die Hinterzungenvokale immer gerun-
orte, an denen im Deutschen Vibranten gebil- det und die Mittelzungenvokale immer un-
det werden, durch Vibration der Zungen- gerundet sind, kommen die Vorderzungen-
spitze am Zahndamm (apikal) und durch vokale sowohl gerundet als auch ungerundet
Vibration des Zäpfchens an der Zungenwur- vor. Insgesamt sind fünf Stufen der Zungen-
zel (uvular), doch sind die beiden Vibranten höhe zu unterscheiden, wobei die Zungen-
im Deutschen austauschbar; sie sind freie höhe mit dem Öffnungsgrad des Mundes
Varianten. Ob die eine oder andere Variante (d. h. dem Lippenabstand) korreliert: Hohe
gesprochen wird, ist für das Sprachverstehen Vokale sind relativ geschlossen, tiefe Vokale
unerheblich und gibt allenfalls Auskunft über relativ offen. Die fünf Öffnungsgrade vertei-
die sprachliche Heimat des Sprechers. Die len sich auf Vorder-, Mittel- und Hinterzun-
phonetischen Zeichen hierfür sind [r] für api- genvokale wie folgt: Hinterzungenvokale [u]
kales und [r] für uvulares R, doch wird in wie in Mus, [u] wie in muss, [o] wie in Ofen
den meisten Lexika nur [r] verwendet. und [c] wie in offen; Mittelzungenvokale [e]
Neben der Aussprache des R als Vibrant wie in bitte, [B] wie in bitter und [a] wie in
kommt im Deutschen heute immer häufiger kam, Kamm; ungerundete Vorderzungenvo-
die Aussprache als (uvularer) Frikativ vor. kale [i] wie in Miete, [i] wie in Mitte, [e] wie
Das ,Reibe-R‘ wird v. a. prävokalisch und in wen und [i] wie in wenn, hätte, Käse; ge-
nach kurze Vokalen, insbesondere in der Stel- rundete Vorderzungenvokale [y] wie in süß,
lung vor Konsonanten, wie in Korb, Kerbe, [y] wie in flüssig, [ø] wie in König und [œ] wie
Arm, Torf, Kurve, geworden, Kern, Kerl, in können.
Ferse, Marge, Mark, bergen, Kirche artiku-
liert. Als weitere Besonderheit ist eine Ten-
denz zur stimmlosen Aussprache des frikati-
ven R vor stimmlosen alveolaren und palato-
alveolaren Frikativen und Plosiven festzustel-
len, wie in hart, Kurs, kurz, Marsch.

Abb. 12.3: Zusammenfassung der Vokalwerte des


Deutschen.

Die Vokalwerte sind im Deutschen unter den


folgenden beiden Gesichtspunkten ungleich
verteilt:
(1) unter dem Gesichtspunkt der Betonung:
Die beiden Zentralvokale, das geschlos-
sene [e] und das offenere [B], kommen nur
in unbetonten Silben vor, alle übrigen
Vokalwerte sowohl in betonten als auch
Abb. 12.2: Zusammenfassung der Konsonanten in unbetonten.
des Deutschen.
(2) unter dem Gesichtspunkt der Dehnung:
Sechs Vokalwerte sind in betonter Stel-
lung immer lang: [i:], [y:], [u:], [e:], [ø:]
3.6. Vokale und [o:]. Zwei Vokalwerte kommen so-
Die Vokalwerte werden im Deutschen nach wohl lang als auch kurz vor: [i] und [i:],
dem Grad der Zungenhebung (hoch ⬃ tief), [a] und [a:]. Die übrigen Vokalwerte sind
nach der Richtung der Zungenlage (vorn ⬃ immer kurz.
156 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

4. Phonotaktik ten [pf], [ts] und [ts] wie in Apfel, Kopf, Zeit,
sitzen, Satz, Deutsch, klatschen. In Lehn- und
Für die Beschreibung des Lautsystems einer Fremdwörtern kommt außerdem [dz] (das
Sprache sind aber nicht nur die einzelnen stimmhafte Leniskorrelat von [ts]) vor, wie in
Laute unter paradigmatischem Aspekt, son- Dschungel, Adagio.
dern auch die Möglichkeiten ihrer Verknüp- Vokalkombinationen ⫺ genauer: die Gleit-
fung unter syntagmatischem Aspekt zu be- bewegung von einem Vokalwert zu einem an-
rücksichtigen. Die Untersuchung der syntag- deren ⫺ werden Diphthonge genannt. Die
matischen Aspekte eines Lautsystems ist Auf-
gabe der Phonotaktik. In den phonotakti-
schen Regeln sind die Distributions- und
Kombinationsmöglichkeiten für die Laute
einer Sprache zusammengefasst.
Die Verteilung und Verknüpfung der Ein-
zellaute auf der syntagmatischen Achse ist
nicht nur unter Aspekten der Kommunika-
tionserleichterung zwischen Muttersprach-
lern von Bedeutung, sondern auch für die
Ausspracheschulung. Grundsätzlich ist die
Kombination von Vokalen und Konsonanten
im Deutschen frei, während die Kombination
von Konsonanten miteinander und die Kom-
bination von Vokalen miteinander besonde-
ren Regeln unterliegen, die hier nicht im Ein-
zelnen erläutert werden sollen.
4.1. Silbenstruktur
Allein die Silbenstruktur einsilbiger Mor-
pheme weist im Deutschen bereits eine be-
trächtliche Vielfalt auf. Beispiele: v (oh); kv
(du, so, wie); kkv (Knie, froh, Schnee); kkkv
(zwo, sprüh, Stroh); vk (an, ihn, all); kvk
(Ton, Ball, Tip); kkvk (frag, Klang, Blick,
zehn); kkkvk (Spross, Strahl, Zweck); vkk
(Ost, Ulk, Arm, elf, acht); kvkk (West, Mark,
Kurs, Milch, sechs, Jagd, gelb); kkvkk (Frost,
flix, Kraft, Gracht, Knopf, stark); kkkvkk
(Strand, zwölf); vkkk (Obst, Axt); kvkkk
(Markt, sanft, Furcht, Herz, Papst); kkvkkk
(Schmerz, Knirps); kkkvkkk (Strumpf);
vkkkk (Ernst); kvkkkk (Herbst).
Statt v kann an einigen Stellen auch vv
stehen: vv (Ei, au); kvv (Bau, bei, neu); kkvv
(grau, schlau, Blei); kkkvv (Spreu, zwei); vvk
(ein, aus, euch); kvvk (Beil, faul, neun, weit);
kkvvk (braun, klein, Zeug); kkkvvk (Streik,
zweit, Spleiß); kvvkk (meist, Haupt, Feind,
Kauz, Faust); kkvvkk (Freund). An Mor-
phemgrenzen kann es zu einem ,Konsonan-
tenstau‘ kommen, wie z. B. in Marktstrategie
oder Herbststurm mit insgesamt sechs Kon-
sonanten.
4.2. Lautkombination
Zu den häufigen Konsonantenkombinatio-
nen, die sich phonotaktisch wie Einzellaute Abb. 12.4: Darstellung der Vokalqualitäten und
verhalten, gehören im Deutschen die Affrika- Bewegungsvokale im Vokalviereck.
12. Das deutsche Lautsystem 157

wichtigsten sind [ai], [au] und [cy] wie in Eis, 5. Prosodien


Kaiser, aus, heute, Käufer. Daneben gibt es
eine Gruppe von Vokalkombinationen, deren Zu den wichtigsten suprasegmentalen Merk-
letztes Element immer der offene Zentralvo- malen gehören die Intonation (Tonhöhenbe-
kal [B] ist. Diese sind [iB], [yB], [uB], [eB], [øB] wegung), die Akzentuierung (Veränderung
und [oB] wie in Tier, Tür, Tour, Teer, Tör- der Lautstärke) und die Rhythmik (zeitliche
chen, Tor. Anordnung des Sprechkontinuums).

4.3. Lautdistribution 5.1. Akzentuierung


Von den zahlreichen Distributionsregeln des Akzentuierung ist die Heraushebung einzel-
Deutschen seien hier nur einige wichtige als ner Teile des Sprechkontinuums, meist Sil-
Beispiele genannt: ben, mit dem Mittel der Lautstärke und
durch größere Spannung. Regeln werden
(1) Stimmhafte Lenes (Frikative und Plosive) meist für das Wort oder den Satz angegeben.
kommen am Silbenende im Deutschen Wir sprechen daher von Wort- und Satz-
nicht vor. Die morphologischen Lenes akzent.
werden in diesen Positionen entstimmt Während die temporale und melodische
und zu ihren Fortiskorrelationen. Diese Gestaltung des Einzelwortes je nach Sprech-
Lautveränderung nennen wir ,Auslaut- situation variieren kann, ist die Akzentsilbe
verhärtung‘: [b] J [p]: Loben ⬃ Lob, [d] vorgegeben (und in Wörterbüchern festgehal-
J [t]: Räder ⬃ Rad, [g] J [k]: tagen ⬃ ten). Die Wortakzentuierung wird im Deut-
Tag, [z] J [s]: hausen ⬃ Haus, [v] J [f]: schen durch zahlreiche Regeln bestimmt.
naive ⬃ naiv. Grundsätzlich hat man zwischen der Akzen-
(2) Während die Nasale [m] und [n] in allen tuierung von Wörtern des Erbwortschatzes
Positionen vorkommen, ist die Distribu- und denen des Fremdwortschatzes zu unter-
tion des [n] defizitär: Der velare Nasal scheiden. Ferner ist zu unterscheiden zwi-
kommt nicht am Wortanfang, nicht nach schen der Akzentuierung von einfachen Wör-
Konsonanten und nicht nach langen Vo- tern, von Komposita und von Wörtern mit
kalen vor. Affixen.
(3) Der velare Frikativ [x] kommt ebenfalls Für die Wörter des Erbwortschatzes gilt im
nicht am Wortanfang und nicht nach Deutschen vornehmlich die ,Stammbeto-
Konsonanten sowie nicht nach Vorder- nung‘. Dies bedeutet, dass die erste Silbe ei-
zungenvokalen vor. Umgekehrt kommt nes Wortstamms akzentuiert ist und dann
der palatale Frikativ [ç] nicht nach Hin- auch akzentuiert bleibt, wenn Affixe hinzu-
terzungenvokalen vor. treten oder weitere Wortstämme angefügt
(4) /j/ kommt nur initial vor, außer in Lehn- werden. Beispiele: schreiben ⬃ Schreibtisch ⬃
und Fremdwörtern (einschließlich solcher verschreiben ⬃ unterschreiben ⬃ Schreibma-
schine ⬃ Beschreibung, Gold ⬃ goldene ⬃ ver-
aus dem Niederdeutschen wie Koje,
golden ⬃ Goldschmied ⬃ Goldarmband.
Boje), wo es auch medial vorkommt. Fi-
Präfixe und Suffixe sind im Allgemeinen
nal kommt /j/ nicht vor.
unbetont. Ausnahmen bilden Präfixe wie ein-,
(5) Der Lenisfrikativ [z] und der Fortisfrika-
aus-, vor-, an-, ab-, her-, hin-, mit-, zu- usw.
tiv [s] stehen in teilkomplementärer Dis- Sie sind immer betont. Betonte Präfixe finden
tribution. Am Wortanfang kommt der wir bei vielen Verben (nämlich den ,trennba-
Fortis nur vor Konsonanten, der Lenis ren Verben‘, z. B. führen ⬃ vorführen ⬃ zu-
nur vor Vokalen vor, am Silbenende führen) und bei deren substantivischen Ablei-
kommt nur der Fortis vor, intervokalisch tungen (wie z. B. einsteigen ⬃ Einstieg, aus-
kommt nach kurzen Vokalen ebenfalls steigen ⬃ Ausstieg, abfahren ⬃ Abfahrt, an-
nur der Fortis vor; lediglich nach langen kommen ⬃ Ankunft, herkommen ⬃ Herkunft,
Vokalen können beide Laute stehen (wie vorfahren ⬃ Vorfahrt usw.).
in reisen ⬃ reißen, Muse ⬃ Muße). Manche Präfixe (wie z. B. über, unter,
(6) Die Konsonantenkombinationen [st] (wie durch) können betont oder unbetont sein. In
stehen) und [sp] (wie in spielen) kommen vielen Fällen lassen sich dadurch Bedeutun-
nur am Anfang des Wortstamms vor, gen unterscheiden (z. B. einen Text übersetzen
während die Kombinationen [st] (wie in ⬃ ans andere Ufer übersetzen). Viele Präfixe
Lust) und [sp] (wie in Wespe) in medialer kommen überwiegend betont vor, wie z. B.
und finaler Stellung vorkommen. un- (ungenau, unschön, aber auch: unmöglich,
158 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

unglaublich), miss- (Missverständnis, Miss- als Wort gelesen werden, und Akronyme wer-
ernte, aber: missbrauchen, misstrauen) und ur- den vorwiegend auf der vorletzten Silbe be-
(Ursache, Urwald, Urkunde, aber auch: ur- tont: UNO, BAFöG, NATO, UNESCO, Mit-
sprünglich). ropa (aber: Unicef).
Von der Regel, nach der die erste Stamm- Der Wortakzent ist im Deutschen in vielen
silbe zu akzentuieren ist, wird fernerhin abge- Fällen distinktiv: August ⬃ August, Tenor ⬃
wichen, wenn betonte Suffixe angefügt wer- Tenor, durchbrechen ⬃ durchbrechen, Blinde-
den, wie z. B. Bäcker ⬃ Bäckerei, Bank ⬃ kuh ⬃ blinde Kuh.
Bankier, sowie bei Anfügung des Suffixes -ig Silben, die den Wortakzent tragen, sind
an das Suffix -haft wie z. B. in wahr ⬃ wahr- auch potenzielle Träger des Satzakzents.
haft ⬃ wahrhaftig (analog dazu auch: lebend Allerdings kann mit der Wahl der akzentuier-
⬃ lebendig). ten Silbe auch ein bestimmtes Implikat ver-
Bei Komposita ist generell zu unterschei- bunden sein, wie die folgenden Beispiele zei-
den zwischen Determinativ-Komposita (wie gen:
z. B. Bücherschrank, Hochhaus, Liegewagen,
Fahrzeug), die auf dem ersten Teil, und Ko- Ich habe ihr den Ball zurückgeworfen.
pulativ-Komposita (wie z. B. blaugrün, rosa- Ich habe ihr den Ball zurückgeworfen.
rot), die auf dem zweiten Teil betont sind. Ich habe ihr den Ball zurückgeworfen.
Nach dem Muster der Kopulativ-Kompo- Ich habe ihr den Ball zurückgeworfen.
sita werden sehr viele Orts- und Eigennamen Ich habe ihr den Ball zurückgeworfen.
betont, wie z. B. Sachsen-Anhalt, Mayer- Ich habe ihr den Ball zurückgeworfen.
Schalburg, Neunkirchen-Seelscheid, Rottach- Ich habe ihr den Ball zurückgeworfen.
Egern, aber auch: Travemünde, Bremerhaven,
5.2. Intonation
Bayrischzell, Mühlhausen, Oberkassel, Berg-
zabern, Hohenzollern usw. Die Vielfalt der im Deutschen möglichen In-
Für dreigliedrige Komposita gilt die glei- tonationsweisen lässt sich hier nicht ausbrei-
che Regel: Determinativ-Komposita sind auf ten, doch können deutlich drei Grundtypen
der ersten Silbe betont, wenn das Grundwort unterschieden werden: die steigende Intona-
selbst ein Kompositum ist, z. B. Lastkraftwa- tion, die fallende Intonation und die ebene
gen, Fachhochschule, Uhrenarmband. Ist je- Intonation. Entscheidend für die Ausprägung
doch in dem dreigliedrigen Kompositum ein der Intonationskontur ist die Position der
Kopulativ-Kompositum enthalten, so liegt Silbe, die den Satzakzent trägt. Sie liegt bei
die Akzentuierung auf diesem, z. B. Schwarz- der steigenden Intonation auf der tiefsten
weißfilm. Ebenso werden betont: Dreikäse- Tonstufe und bei der fallenden Intonation
hoch, Rotkreuzschwester. Auch hier gilt Ent- auf der höchsten Tonstufe. Dies gilt nur, so-
sprechendes wieder für viele Ortsnamen, wie fern weitere Silben im Satz folgen. Diese lie-
z. B. Mönchengladbach, Schenklengsfeld. gen bei der steigenden Intonation auf der
Bei der Bildung von Komposita aus Parti- höchsten und bei der fallenden Intonation
keln (Adverbien und Präpositionen) wie in auf der tiefsten Stufe. Die Silben vor dem
hinzu, sogar, wieso, heraus, vorüber ist das Satzakzent liegen in beiden Fällen auf der
letzte Element betont, und bei der Komposi- mittleren Stufe. Liegt der Satzakzent auf der
tabildung von Adjektiven, bei denen das Be- ersten Silbe des Satzes, so entfällt die mittlere
stimmungswort nicht wörtlich gemeint ist, Stufe; liegt er auf der letzten Silbe des Satzes,
sondern der Verstärkung dient, wie in eiskalt, so bewegt sich die Tonhöhe innerhalb dieser
mausetot, hundemüde usw., sind beide Ele- Silbe von der höchsten zur tiefsten Stufe bei
mente gleichermaßen betont. der fallenden Intonation und von der tiefsten
Die Regel der ,Stammbetonung‘ gilt nicht zur höchsten Stufe bei der steigenden Intona-
für den deutschen Fremd- und Lehnwort- tion. Damit ergeben sich insgesamt die fol-
schatz. Hier werden meist die Akzentmuster genden Muster (s. Abb. 12.5).
der Ausgangssprachen übernommen. Bei- Die Regeln für die Anwendung der stei-
spiele: Doktor ⬃ Doktoren ⬃ Doktorat, phy- genden, fallenden und ebenen Intonation
sisch ⬃ Physik ⬃ physikalisch, Foto ⬃ Foto- sind komplex, lassen aber folgende Grund-
graf ⬃ Fotografie. aussagen zu:
Bei Abkürzungen wird immer der letzte
Buchstabe betont, sofern einzeln buchstabiert (1) Aussagesätze werden in der Regel mit fal-
wird: EU, AG, VHS, USA, BGB, GmbH, lender Intonation gesprochen. (Abwei-
OSZE, StGB, UNHCR. Abkürzungen, die chungen davon sind häufig in der Kom-
12. Das deutsche Lautsystem 159

(6) Wird die Wortfrage (Beispiel: Wohin fahrt


ihr im Urlaub?) mit fallender Intonation
gesprochen, so dient sie der Informa-
tionsabfrage; wird sie dagegen mit stei-
gender Intonation gesprochen, so signali-
siert sie Zweifel oder Missverstehen.
5.3. Rhythmik
Jede Sprache organisiert die zeitliche Anord-
nung der Elemente des Sprechkontinuums in
ihrer eigenen Weise. Die Rhythmik ist ein
wichtiges Mittel in der Kommunikation der
Muttersprachler untereinander; sie prägt die
Hörerwartung und kann so die Kommunika-
tion erleichtern. Da durch diese Phänomene
jedoch innerhalb einer Sprache keine Bedeu-
tungen unterschieden werden, blieb dieser
Aspekt in der phonetischen Beschreibung
(und als Folge davon auch in der Aus-
spracheschulung) weitgehend unberücksich-
tigt. Für eine gute Aussprache ist jedoch be-
achtenswert, dass ein ,fremder Akzent‘ bei
Abb. 12.5: Zusammenfassung der Grundkonturen
nicht adäquater Rhythmik sofort erkannt
der deutschen Intonation:
1 ⫽ fallende, 2 ⫽ steigende, 3 ⫽ ebene Intonation; wird, auch wenn Segmente, Intonation und
a ⫽ mit Vor- und Nachlauf, b ⫽ ohne Vorlauf, Akzentuierung richtig gesetzt sind.
c ⫽ ohne Nachlauf (Satz endet mit akzentuierter Die rhythmische Gliederung der deutschen
Silbe; die Tonhöhenbewegung wird in dieser Silbe Sprache ist durch seine Akzentorientierung
realisiert), d ⫽ Satz besteht nur aus einer (akzen- gekennzeichnet. Während z. B. in den ,silben-
tuierten) Silbe. zählenden‘ Sprachen eine gleichmäßige Ver-
teilung der Silben auf der zeitlichen Achse des
Sprechkontinuums erfolgt, die Abstände von
munikation mit Kindern und Tieren zu Silbe zu Silbe ungefähr gleich sind und somit
hören.) die Takte als rhythmische Einheiten jeweils
(2) Aufzählungen werden in der Regel mit eine Silbe beinhalten, ist im Deutschen die
ebener Intonation gesprochen. Verteilung der Silben auf der zeitlichen Achse
(3) Bei Aufforderungen (wie etwa Setzen Sie recht ungleich.
sich!) kann der Grad der Freundlichkeit Im Deutschen sind die Abstände von Ak-
aus der Intonation abgelesen werden: Bei zent zu Akzent ungefähr gleich ⫺ ungeachtet
ebener Intonation klingt die Aufforde- der Zahl der nichtakzentuierten Silben. Das
rung teilnahmslos, bei fallender Intona- bedeutet auch, dass jeder Takt nur eine ak-
tion direkt, fast befehlend, bei steigender zentuierte, aber eine beliebige Zahl nichtak-
Intonation zuvorkommend, freundlich. zentuierter Silben enthält. Dies hat zur Folge,
(4) Eine Frageintonation gibt es im Deut- dass für die Artikulation der unbetonten Sil-
schen nicht. Vielmehr ist zwischen ver- ben unterschiedlich viel Zeit zur Verfügung
schiedenen Arten von Fragesätzen zu un- steht, je nachdem, wieviele unbetonte Silben
terscheiden, zunächst zwischen Satzfra- sich in einem Takt befinden. Bei entspre-
gen und Wortfragen. Bei Satzfragen ist chend großer Silbenzahl führt dies im Deut-
ferner die Syntax zu beachten. schen zur quantitativen und qualitativen Re-
(5) Steht bei einer Satzfrage das Verb an der duktion, zur regressiven und progressiven
ersten Stelle (Beispiel: Fährt er heute nach Assimilation, zur Tilgung von Lauten und zu
Bonn?), kann der Satz mit steigender oder verschiedenen Formen von ,Verschleifungen‘.
fallender Intonation gesprochen werden; Zu den quantitativen Reduktionen gehört
steht es dagegen an 2. Stelle (Beispiel: Er v. a. die Kürzung langer Vokale ([i:] in wieder,
fährt heute nach Bonn?), so muss die stei- [i] in wiederholen). Ein Beispiel für qualitative
gende Intonation verwendet werden, da Reduktion ist die Abschwächung des Vollvo-
der Satz sonst als Aussage verstanden kals zum Zentralvokal in der Tonsenke (und
würde. J [ent]). Die Elision betrifft z. B. das [e] in
160 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

den Endsilben -el, -en, -em. Gerät dabei das gleicher lautlicher Umgebung vor (wie z. B.
[n] in die Nachbarschaft eines Plosivs, wird das Zungenspitzen-R und das Zäpfchen-R im
meist assimiliert: n J [m] (haben), n J [n] Deutschen, freilich in der Regel bei verschie-
(Haken). Derartige Lautveränderungen kön- denen Sprechern), so sprechen wir von Vari-
nen für Nicht-Muttersprachler zunächst ein phonen.
Hindernis beim Hörverstehen sein. Unter funktionalem, phonologischem
Aspekt lassen sich die Laute des Deutschen
wie folgt zusammenfassen:
6. Phonologie Die Lenisplosive /b/, /d/, /g/ stehen in Op-
position zu den Fortisplosiven /p/, /t/, /k/.
Zur Beschreibung des Lautsystems einer Zwar ist diese Opposition im Auslaut aufge-
Sprache gehört nicht nur die Feststellung der hoben, doch kann sie initial und medial be-
phonetischen Phänomene, sondern auch de- deutungsdifferenzierend wirken. Beispiele:
ren Deutung in Bezug auf den Stellenwert in-
nerhalb des Systems. Dies im Einzelnen fest- Bein ⬃ Pein, Blatt ⬃ platt, eben ⬃ Epen.
zustellen, ist Aufgabe der Phonologie. Wäh- Deich ⬃ Teich, Dronen ⬃ thronen, Kader ⬃
rend die Phonetik die Lautsprache unter dem Kater.
Aspekt ihrer Substanz betrachtet, richtet die gern ⬃ Kern, Gram ⬃ Kram, Egge ⬃ Ecke.
Phonologie ihr Augenmerk auf die Funktion Labio-dentale Frikative stehen initial eben-
der erzeugbaren Laute innerhalb der Spra- falls in Opposition: wie ⬃ Vieh. Final ist die
che. Eine phonologische Untersuchung kann Opposition aufgehoben. Medial kommt der
deshalb immer nur auf eine Einzelsprache be- Lenisfrikativ nur selten (ewig, Löwe), haupt-
zogen sein. sächlich in Lehn- und Fremdwörtern (Novem-
Die Entscheidung für die Zuordnung von ber, Provision, Klavier) vor.
unterschiedlich artikulierten Lauten zu Laut- Auf die teilkomplementäre Distribution
klassen ist nicht ausschließlich von ihrer pho- der beiden S-Laute ⫺ /z/ bzw. /s/ ⫺ wurde
netischen Ähnlichkeit abhängig, sondern bereits verwiesen. Lediglich in intervokali-
auch von der Frage, ob sie in einer gegebenen scher Position nach langen Vokalen und nach
Sprache die Funktion erfüllen, Bedeutungen Diphthongen können durch die Spannungs-
unterscheiden zu können oder nicht. Zwei und Stimmkorrelation Bedeutungen unter-
Laute, die beim Austausch des einen durch schieden werden (Beispiele s. o.).
den anderen innerhalb einer Lautkette zu Der (stimmhafte) velare Lenisfrikativ ist
verschiedenen Bedeutungen der so erzeugten als Allophon des /g/ zu werten; dieses Allo-
Wörter führen, müssen verschiedenen Klas- phon kommt umgangssprachlich nur intervo-
sen angehören. Solche Lautklassen nennen kalisch in der Nachbarschaft dunkler Vokale
wir Phoneme. Das einfachste Mittel zum vor (Beispiele s. o.).
Nachweis der Phonemdifferenzierung ist die Die beiden (stimmlosen) dorsalen Fortis-
Bildung eines Minimalpaares; das sind paar- frikative stehen in komplementärer Distribu-
weise angeordnete Lautketten, bei denen je- tion: Der velare Frikativ [x] kommt nur nach
weils nur ein Glied verschieden ist, wie z. B. dunklen Vokalen vor (Dach, Lache, Koch,
in Wein ⬃ fein, Leben ⬃ loben, Flug ⬃ frug, Kuchen, Frucht, Bauch), während der palatale
Männchen ⬃ Menschen. Die bedeutungs- Frikativ [ç] an den übrigen Stellen vor-
unterscheidende Funktion der Phoneme ist kommt: nach hellen Vokalen (ich, riechen,
die Grundlage jeder phonologischen Be- Eiche, echt, Ächzen, euch, Bäuche, Köche,
schreibung. Küche, Bücher), nach Konsonanten (manche,
Phoneme sind daher als Lautklassen defi- Milch, durch) und am Anfang eines Mor-
niert, deren Mitglieder austauschbar sind, phems (Chemie, China und in dem Diminu-
ohne dass sich die Bedeutung des Wortes in tiv-Suffix -chen). Im Diminutiv-Suffix wird ch
der gegebenen Sprache ändert. Stehen diese nach dieser Regel auch dann palatal artiku-
Mitglieder in verschiedenen lautlichen Um- liert, wenn das vorausgehende Morphem auf
gebungen, so sprechen wir von Allophonen einen dunklen Vokal endet (wie in Frauchen).
(so kommt z. B. im Deutschen ein nicht- Wie bereits ausgeführt, werden die ,stimm-
aspiriertes P nach Frikativen vor, während losen Vokale‘ unter phonologischem Ge-
sonst vor Vokalen nur das aspirierte P steht). sichtspunkt zu einer funktionalen Einheit,
Allophone stehen also in komplementärer dem Phonem /h/ zusammengefasst. Ob dem
Distribution. Stehen die Laute hingegen in Knacklaut [{] auch ein phonematischer Sta-
paralleler Distribution, d. h. kommen sie in tus zukommt, ist strittig. Er kommt regelmä-
12. Das deutsche Lautsystem 161

ßig vor betonten Vokalen im Anlaut eines (1) Es gibt im Deutschen sowohl ein langes
Wortstammes oder Präfixes vor. /a:/ als auch ein kurzes /a/ (Bahn ⬃ Bann,
/l/ und /r/ werden häufig in phonologi- fahl ⬃ Fall, raten ⬃ Ratten, Lachen ⬃
schen Analysen unter dem Begriff ,Liquide‘ lachen). Viele Phonetiker beschreiben den
zusammengefasst, da sie ähnliche Merkmale Unterschied zwischen den beiden Phone-
aufweisen und in vielen Sprachen in komple- men nicht nur auf der Basis der Quanti-
mentärer Distribution stehen. Im Deutschen tät, sondern auch auf der der Qualität:
stehen sie jedoch in Opposition (Rast ⬃ Last, Danach ist kurzes /a/ weiter vorn, langes
Kragen ⬃ klagen, Warze ⬃ Walze, Herr ⬃ /a:/ weiter hinten gesprochen. Konse-
hell). Während das Phonem /l/ in der Stan- quenterweise wird im (Großen) Wörter-
dardlautung keine umgebungsbedingten Va- buch der deutschen Aussprache der kurze
rianten aufweist, ist die Realisation des Pho- Vokal mit [a] und der lange Vokal mit [a:]
nems /r/ im Deutschen recht unterschiedlich. transkribiert. Hingegen transkribiert der
Auf die grundsätzliche Unterscheidung ⫺ be- DUDEN einheitlich mit [a] bzw. [a:], der
dingt durch zwei verschiedene Artikulations- SIEBS einheitlich mit [a] bzw. [a:].
stellen (apikal und uvular) ⫺ wurde bereits (2) Der Vokalwert [i] kommt in süddeut-
hingewiesen, ebenso auf die Tendenz zur fri- scher Aussprache als Kurzvokal und als
kativen Aussprache, insbesondere bei ,ge- Langvokal vor, in norddeutscher Aus-
decktem R‘. Strittig ist jedoch die Zuordnung sprache nur als Kurzvokal. Wörter wie
des geschriebenen * r + nach langen Vokalen Käse, Mädchen, Säge werden in süddeut-
wie in Tür, Tier, Tor, Teer usw., was in man- scher Aussprache mit [i:] und in nord-
chen Analysen zur Bezeichnung ,vokalisches deutscher Aussprache mit [e:] ausgespro-
R‘ geführt hat. Fasst man dieses vokalisierte chen. Dies hat zur Konsequenz, dass das
/r/ als Allophon des R-Phonems auf, dann phonematische System des Deutschen auf
haben die ,zentrierenden Diphthonge‘ keinen der Grundlage der süddeutschen Aus-
Phonemstatus; vielmehr sind die jeweils er- sprache ein Phonem mehr aufweist als
sten Elemente (die gespannten Vokale) Allo- auf der Grundlage der norddeutschen
phone des jeweiligen Monophthongs. Bei ei- Aussprache.
nem solchen Ansatz würde allerdings auch
der offene Zentralvokal seinen phonemati- Zusammenfassend ergeben sich damit fol-
schen Status verlieren; er stünde dann in gende Phoneme für das Deutsche: /b/, /d/, /g/
komplementärer Distribution zum geschlos- (mit den Allophonen [g] und [¥]), /p/ (mit den
senen Zentralvokal. Allophonen [p] und [ph]), /t/ (mit den Allo-
Von den drei Nasalen des Deutschen kom- phonen [t] und [th], /k/ (mit den Allophonen
men zwei ⫺ nämlich /n/ und /m/ ⫺ in allen [k] und [kh]), /m/, /n/ /n/, /r/ (mit den Varipho-
Positionen vor; es wurde bereits darauf ver- nen bzw. Allophonen [r], [r], [R] und [x]), /l/,
wiesen, dass die Verteilung des velaren Nasals /f/, /v/, /s/, /z/, /s/, /z/, /j/, /x/ (mit den Allopho-
defizitär ist. Der velare Nasal steht zwar in nen [ç] und [x]), /i/, /y/, /u/, /i/, /œ/, /c/, /a/,
komplementärer Distribution zu /h/ (ersterer /a:/, /i:/ (mit den Allophonen [i:] und [iB]), /y:/
kommt nur final und medial, letzterer nur (mit den Allophonen [y:] und [yB]), /u:/ (mit
initial vor), doch würde sich aufgrund der ge- den Allophonen [u:] und [uB], /e:/ (mit den
ringen Ähnlichkeit der beiden Laute eine Zu- Allophonen [e:] und [eB]), /i:/ (nur in süddeut-
sammenfassung zu einem Phonem verbieten. scher Aussprache), /ø/ (mit den Allophonen
Ob den drei Affrikaten des Deutschen ein [ø] und [øB]), /o:/ (mit den Allophonen [o:]
eigener phonematischer Status zukommt, ist und [oB]), /e/ (mit den Allophonen [e] und [B]),
strittig; unstrittig hingegen ist der phonemati- /ai/, /au/ und /cy/.
sche Status der drei (dezentrierenden) Diph-
thonge. 7. Literatur in Auswahl
Den dreizehn monophthongischen Vokal-
qualitäten entsprechen unter Berücksichti- Boor, Helmut de; Hugo Moser; Christian Winkler
gung der Vokalquantität fünfzehn vokalische (Hg.) (1969): SIEBS ⫺ Deutsche Aussprache. Reine
Phoneme. Nach der Zungenhöhe sind die Vo- und gemäßigte Hochlautung mit Aussprachewörter-
kalwerte auf fünf Ebenen angeordnet. Dabei buch. 19. Aufl. Berlin.
fällt auf, dass in betonter Stellung die Vollvo- Essen, Otto von (1964): Grundzüge der hochdeut-
kale der Ebenen 1, 3 und 5 lang, die auf den schen Satzintonation. Ratingen/Düsseldorf.
Ebenen 2 und 4 kurz sind. Dieses System ⫺ (1979): Allgemeine und angewandte Phonetik.
wird jedoch an zwei Stellen durchbrochen: Berlin.
162 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

Gehrmann, Siegfried (1994): Deutsche Phonetik in Martens, Carl; Peter Martens (1965): Phonetik der
Theorie und Praxis. Zagreb. deutschen Sprache. Praktische Aussprachelehre.
Guberina, Petar (1961): Deutsch. Aussprache und 2. Aufl. München.
Intonation. Zagreb (Acta Instituti Phonetici 3). Meinhold, Gottfried; Eberhard Stock (1990): Pho-
Hakarainen, Heikki J. (1995): Phonetik des Deut- nologie der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig.
schen. München. Rausch, Rudolf; Ilka Rausch (1991): Deutsche
Kelz, Heinrich P. (1976): Phonetische Probleme im Phonetik für Ausländer. Ein Lehr- und Übungsbuch.
Fremdsprachenunterricht. Hamburg. 2. Aufl. Leipzig.
⫺ (1995): Deutsche Aussprache. Bonn. 2.Aufl. 1999. Ungeheuer, Gerold (1977): Materialien zur Phone-
⫺; Ursula Müller (Hg.) (1997): Deutsch im Kon- tik des Deutschen. Hamburg (IKP-Forschungsbe-
trast: Phonetik. Leipzig. richte 61).
⫺ (2000): Deutsch als Fremdsprache: Phonetik. Vater, Heinz (Hg.) (1979): Phonologische Probleme
Bonn. des Deutschen. Tübingen (Studien zur deutschen
Kohler, Klaus J. (1995): Einführung in die Phonetik Grammatik 10).
des Deutschen. 2. Aufl. Berlin (Grundlagen der Wängler, Hans-Heinrich (1964): Atlas deutscher
Germanistik 20). Sprachlaute. 3. Aufl. Berlin.
Krech, Eva-Maria; Eduard Kurka; Helmut Stelzig ⫺ (1983): Grundriss einer Phonetik des Deutschen.
u. a. (Hg.) (1982): Großes Wörterbuch der deutschen 4. Aufl. Marburg.
Aussprache. Leipzig.
Wiese, Richard (1996): The phonology of German.
Mangold, Max (Hg.) (2000): DUDEN ⫺ Aus-
Oxford.
sprachewörterbuch. Wörterbuch der deutschen Stan-
dardaussprache. 4. Aufl. Mannheim (Der Große
Duden 6). Heinrich P. Kelz, Bonn (Deutschland)

13. Die Standardaussprache des Deutschen

1. Begriff und Geschichte • die viele Sprachbenutzer emotional positiv


2. Forschungsstand, Probleme bewerten, weil ihr Gebrauch uneinge-
3. Merkmale der Standardaussprache schränkte Verständlichkeit und einen Ge-
4. Literatur in Auswahl winn an sozialem Prestige verspricht.
Neben dem Begriff Standardaussprache sind
1. Begriff und Geschichte für das Deutsche u. a. auch die Begriffe Aus-
sprache des Schriftdeutschen, Bühnenausspra-
Zu den drei Standardvarietäten des Deut- che, Hochsprache und allgemeine deutsche
schen in Österreich, der Bundesrepublik Hochlautung verwendet worden. Diese Be-
Deutschland und der deutschsprachigen zeichnungen sind nicht vollkommen syn-
Schweiz gehören auch Varianten einer Stan- onym. Hinter ihnen stehen verschiedene seit
dard-Aussprache. Der Begriff Standardaus- dem letzten Viertel des 19. Jh.s unternom-
sprache ist umstritten. Viele Linguisten be- mene Versuche, überregional akzeptierte
schreiben mit ihm musterhafte Aussprache- Ausspracheformen, die neben denen der zahl-
formen, reichen Dialekte und Umgangssprachen ge-
braucht wurden, für einzelne Länder oder
• deren Akzeptanzareal weit über dasjenige unterschiedliche Kommunikationsbereiche zu
dialektaler und umgangssprachlicher Aus- vereinheitlichen. Das Vorbild für solche Ver-
spracheformen hinausreicht und Merkmal suche war die Vereinheitlichung der Schrei-
der Identität einer Nation oder Kulturge- bung im Deutschen Reich. Dessen Landesre-
meinschaft sein kann, gierungen hatten bereits 1872, also nur ein
• die beim Sprechen der Standardsprache in Jahr nach der Reichsgründung, eine unifizie-
öffentlichen Bereichen, z. B. in Rundfunk- rende amtliche Regelung der Orthographie
und Fernsehsendungen, auf der Bühne, im angemahnt. Sie kam nach zweimaligem An-
Bildungswesen und in den Kirchen, ver- lauf 1902 zustande und wurde von Österreich
wendet werden, und der Schweiz übernommen. Eine verein-
13. Die Standardaussprache des Deutschen 163

heitlichende Kodifizierung der Aussprache staben-Beziehungen. Obwohl dieses Regel-


lag also nahe. Ohnehin hatten Pädagogen, werk als Ergänzung zur preußischen Schul-
Theaterleute und Grammatiker seit langem orthographie angelegt worden war, wollte es
eine „reine“ Aussprache gefordert, die nach Viëtor nicht nur für die Schule, sondern allge-
einem Wort Goethes frei von Provinzialismen mein für das Sprechen der Gebildeten ange-
sein sollte (vgl. Mangold 1985, 1495f.). Dabei wandt wissen. Als Musteraussprache betrach-
wurde immer wieder auf den Zusammenhang tete er wie andere Sprachwissenschaftler vor
zwischen Schreibung und Aussprache hinge- und nach ihm die Aussprache der Bühne, weil
wiesen. Insbesondere ging es um die Frage, in ihr und der gehobenen Sprache des Vor-
welche Lautwerte die einzelnen Buchstaben trags die mundartlichen Eigentümlichkeiten
haben sollten. Im 17. und 18. Jh. fiel die Ant- bereits beseitigt und weitgehend einheitliche
wort der Sprachgelehrten unterschiedlich aus phonetische Realisationen ausgebildet wor-
und war meist von ihrer landschaftlichen den wären. Für diese Aussprache sei charak-
Herkunft abhängig (vgl. Kurka 1980, 1ff.). teristisch, dass die hochdeutschen Formen
Gegen Ende des 18. Jh.s beruhigte sich die der Schriftsprache mit niederdeutschen Lau-
Auseinandersetzung. Es wurde nun zumeist ten gesprochen würden. Viëtor bezog sich
das niederdeutsche Lautsystem bevorzugt. hierbei in erster Linie auf die Frikative und
Das wachsende Gewicht Preußens im Deut- Plosive, die vom Schauspieler nicht nur
schen Bund und die daraus folgende Verlage- durch „weiche“ oder „harte“ Artikulation,
rung des politischen Schwergewichts nach sondern gleichzeitig auch durch Stimmhaftig-
Norddeutschland unterstützte diese Entwick- keit bzw. Stimmlosigkeit unterschieden wür-
lung. Den ungeteilten Beifall der Süddeut- den. Seine Beschreibung war im übrigen be-
schen, Österreicher und Schweizer fand sie merkenswert realistisch und nahm z. B. in
allerdings nicht. Für das Niederdeutsche folgenden Punkten das Ergebnis späterer
sprach jedoch, dass seine in bestimmten Posi- phonetischer Untersuchungen vorweg: (1)
tionen und in einigen Landschaften ge- Die Aspiration der Fortisplosive ist nur vor
brauchten Lautunterscheidungen die ortho- und nach betontem Vokal die Regel; lediglich
graphischen Unterscheidungen gut wiederge- „bei besonders bestimmter und deutlicher
ben können. In verschiedenen Büchern zur Aussprache“ (1885, 9) ist sie unabhängig von
Vortragskunst und zum Sprachunterricht wa- der Position für jeden Plosiv zu fordern. (2)
ren solche Laut-Buchstaben-Beziehungen Teil Die meisten Vokale sind gleichzeitig nach
der „Pronunciation“. Quantität und Qualität zu unterscheiden. Die
Die erste systematische Darstellung veröf- langen [i6 o6] z. B. sind geschlossen (mit klei-
fentlichte 1885 der Marburger Professor Wil- nerer oraler Öffnung), die kurzen [i c] dage-
helm Viëtor (1850⫺1918). Er hatte zuvor in gen sind offen (mit etwas größerer oraler Öff-
überwiegend zu Preußen gehörenden Städten nung) zu bilden. Das lange A [a6] und das
und Landschaften mehrere philologisch ge- kurze A [a] sind dagegen nur an der verschie-
schulte Studenten und Lehrer schriftlich nach denen Quantität zu erkennen, so dass für die
Aussprachegewohnheiten befragt, 17 Frage- Transkription auch nur ein A-Symbol benö-
bögen zurückerhalten und deren Aussagen tigt wird. (3) Lange Vokale können in unbe-
als Kodifizierungsgrundlage genommen. Seine tonten Silben verkürzt werden, hierbei
Schrift hieß: „Die Aussprache der in dem „bleibt die Qualität bei sorgfältiger Aus-
Wörterverzeichnis für die deutsche Recht- sprache unverändert“ (1885, 9). (4) Auch die
schreibung zum Gebrauch in den preussi- Reduzierung von -el, -em, -en und -er zu silbi-
schen Schulen enthaltenen Wörter“. Titel und schem l, m, n und r ließ er zu, untersagte aber
Erscheinungsjahr zeigen, dass dieses Werk die koartikulatorisch bedingte Assimilation
zunächst eine Unifizierung in Preußen an- von [n] an vorausgehenden labialen bzw. gut-
strebte und dass seine Wortauswahl von turalen Plosiv zu [m 0 ] bzw. [n1]. Im übrigen ko-
orthographischen Gesichtspunkten bestimmt difizierte er im Morphem für die Verbindung
war. Dennoch kann es als das erste deutsche * ng + [n] statt [nk] sowie für * sp st + vor ak-
Aussprachewörterbuch bezeichnet werden. zentuiertem Vokal [sp st] statt [sp st]. Er ent-
Es beschrieb im „Wörterverzeichnis“ erstmals schied damit, auch aus sprachgeschichtlichen
die Aussprache für rund 4000 Wörter mit ei- Gründen, gegen den Gebrauch auch in Teilen
ner phonetischen Umschrift und enthielt ne- Norddeutschlands. Diese Festlegungen gelten
ben den Ausspracheregeln mit ausführlichen bis heute. Dagegen wurde der Vorschlag,
Kommentaren in späteren Auflagen auch * g + z. B. in Siege und Sieg als [j] und [ç] so-
eine komplette Darstellung der Laut-Buch- wie in Tage und Tag als [g] und [x] zu spre-
164 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

chen, von den nachfolgenden Kodifikatoren Deutschland“ und Österreich sowie für die
verworfen. Viëtors Schrift erschien später un- Deutschlernenden „im Auslande … die mu-
ter dem Titel „Die Aussprache des Schrift- stergültige Aussprache“ schaffen (Siebs 1898,
deutschen“. Gemessen an der Zahl der Aufla- 6f.). Um zu sichern, dass der Schauspieler
gen muß ihre Wirkung beträchtlich gewesen speziell beim Versdrama im höchsten Grade
sein. Die letzte, von E. A. Meyer herausgege- verständlich spricht, wurde vorgeschrieben,
bene 13. Auflage erschien 1941. Viëtor hat äußerst präzise zu artikulieren und für die
1912 zusätzlich ein „Deutsches Aussprache- einzelnen Phoneme jeweils nur eine einzige
wörterbuch“ veröffentlicht, in dem er etwa Realisationsvariante zu verwenden (vgl. Stock
45 000 Stichwörter nach seinen Regeln pho- 1996a, 47ff.). Die durch Akzentuierung,
netisch transkribierte. In diesem Buch greift Lautumgebung und Position verursachte Dy-
er weniger auf das Niederdeutsche als viel- namik der Phonemrealisation mit ihren Assi-
mehr auf ein Ausspracheideal zurück, „das milationen, Reduktionen und Elisionen blieb
allen gebildeten deutschen Sprechern im Nor- unberücksichtigt. Aus dem gleichen Grunde
den wie im Süden vorschwebt“ und dem die wurde auch die lautliche Anpassung an der
Umgangssprache von Hannover oder Berlin Wortgrenze wie die an der Silbengrenze un-
nicht genügt (1912, VI). Als Gewährsleute tersagt. Nur beim Zusammentreffen gleicher
nennt er Sprachwissenschaftler aus Nord- oder homorganer Konsonanten durfte koar-
und Süddeutschland sowie aus Österreich. tikuliert werden. Ziel war die „reine und voll-
Auch das Aussprachewörterbuch erlebte ständige Aussprache jedes einzelnen Wor-
mehrere Auflagen. tes“ durch die regelgerechte Artikulation aller
Der orthoepische Neuanfang nach dem „Laute der einzelnen Worte“ (Siebs 1930,
2. Weltkrieg wurde aber nicht durch die Ar- 83f., gesperrt). Dies zeigt sich in fast allen
beiten Viëtors bestimmt, sondern durch die Regeln. Während Viëtor beispielsweise die
von Theodor Siebs 1898 erstmals herausgege- Behauchung von der Akzentuierung abhän-
bene „Deutsche Bühnenaussprache“ und ihre gig gemacht hatte, forderte der „Siebs“, dass
Nachauflagen. Der Grund hierfür ist in dem jeder einzelne Fortisplosiv zu behauchen ist
institutionellen Rückhalt zu suchen, den (1898, 60ff.). Die Siebskommission kodifi-
Siebs (1862⫺1941) seiner Kodifizierung zu zierte also eine extrem überartikulierte und
geben verstand. Es gelang ihm nämlich, 1898 unnatürliche Aussprache, die die Kommuni-
eine Beratung „zur ausgleichenden Regelung kativität des Schauspielers zwangsläufig her-
der deutschen Bühnenaussprache“ zu organi- absetzen musste. Nach Auffassung Viëtors
sieren, an der drei hochrangige Vertreter des (1912, VIII) und vieler anderer Zeitgenossen
Deutschen Bühnenvereins und neben ihnen wirkte diese Artikulation in der Alltagskom-
zwei weitere Sprachwissenschaftler, der da- munikation „geziert und daher lächerlich“
mals bedeutendste deutsche Phonetiker Edu- und wurde „nicht einmal von jedem Schau-
ard Sievers und der Österreicher Karl Luick, spieler“ erreicht. Untersuchungen von frühen
teilnahmen. Für die Ergebnisse der Beratung Plattenaufnahmen berühmter Mimen bestä-
erlangte Siebs im Laufe der Jahre nicht tigten diese Aussage (vgl. E.-M. Krech 1961,
nur die Zustimmung des Deutschen Bühnen- 24ff.). Für eine allgemeine Musteraussprache
vereins und der Genossenschaft Deutscher war diese Kodifizierung also untauglich.
Bühnenangehöriger, sondern auch die des Wie Viëtor, der als Korrespondent an der
Allgemeinen Deutschen Sprachvereins und Siebsschen Kodifizierung mitgearbeitet hatte,
der Versammlung deutscher Philologen und wandte sich auch Karl Luick (1865⫺1935),
Schulmänner. Sein Buch, zunächst nur ein Mitglied der Siebskommission und Vertreter
Ergebnisbericht über die Kodifizierungsbera- der österreichischen Linguistik, bereits 1900
tungen und erst nach 1908 durch Einfügung entschieden gegen eine Übertragung der
eines Wörterverzeichnisses mit phonetischer Siebsschen Regeln auf die Schule. Auch
Umschrift ein reguläres Aussprachewörter- lehnte er grundsätzlich alle Regelungen ab,
buch, wurde dadurch allseitig bekannt. Der die die Kommission für die zahlreichen Wör-
„Siebs“, wie das Buch später bezeichnet ter mit schwankender Aussprache („nament-
wurde, erschien ⫺ nach 1922 unter dem Titel lich für das Schwanken in Vokalqualitäten“
„Deutsche Bühnenaussprache Hochsprache“ ⫺ Siebs 1958, 20) getroffen hatte. Dies wäre
⫺ bis 1930 in 15 Auflagen, obwohl er von nach dem Gebrauch in einer der Umgangs-
Wissenschaftlern und Praktikern wiederholt sprachen entschieden worden und die Kom-
bemängelt wurde. Diese Kodifizierung sollte mission hätte hierfür keine ausreichenden Er-
„für Bühnen- und Schulzwecke … in ganz fahrungen gehabt. Dabei ist sicher von Be-
13. Die Standardaussprache des Deutschen 165

deutung gewesen, dass die Besonderheiten stimmlos. (5) In den Endungen -en, -el, -er
Österreichs, wie übrigens auch die der wird das [e] außer nach Nasalen elidiert, da-
Schweiz, in der „Bühnenaussprache“ von bei wird [n] nach labialen bzw. gutturalen
1898 nur sehr selten erwähnt wurden. Luick Plosiven zu [m 0 ] bzw. [n1] assimiliert. (6) Die
hielt zwar die Kodifizierung einer Bühnen- Realisation der Endung -ig schwankt noch;
aussprache für berechtigt, die Siebssche Aus- in der Schule sollte vorerst [ik] gesprochen
spracheform aber bezeichnete er ⫺ offen- und [iç] nicht „befehdet“ werden. Aus diesen
sichtlich wegen ihrer unrealistischen Überhö- Festlegungen werden die gegensätzlichen
hung ⫺ ausdrücklich als „abstraktes Bühnen- Auffassungen deutlich. Während Luick häu-
deutsch“. Dementsprechend setzte er für den fig auftretende Aussprachegewohnheiten zur
Aussprachestandard situative (phonostilisti- Regel erhob, idealisierte Siebs die Realität,
sche) Varianten an. Neben der „höchsten, um eine Höchstnorm beschreiben zu können.
verfeinertsten Sprechweise“, die nur im In der Schweiz sind derartige Reaktionen
„Drama höchsten Stils“ verwendet werden auf die Siebssche Kodifizierung zunächst
könne, gäbe es die „Vortragssprache“ mit ei- nicht zu erkennen. Leumann (1905) vertei-
ner gewissen Tendenz zur Bühnenaussprache digte gegenüber dem norddeutschen Stan-
und die „gebildete Umgangs- oder Verkehrs- dard nur die süddeutschen und nicht speziell
sprache“, die stärker als die Vortragssprache die schweizerdeutschen Besonderheiten. Diese
von der Lautung der jeweiligen Mundarten wurden erst 1911 durch Stickelberger be-
beeinflusst werde. Nach Luicks Auffassung schrieben. Dessen Haltung ist einerseits
werden also diese situativ-stilistischen Vari- durch das Bemühen um die Wahrung der na-
anten mit Ausnahme der Bühnenaussprache tionalen Eigenart bestimmt und andererseits
auch areal variiert, und zwar im Groben zu- durch das Bewusstsein, dass der sprachliche
nächst den Ländergrenzen folgend. In der Kontakt zum Nachbarland nicht beeinträch-
Schule sollten ⫺ jeweils landschaftsgebunden tigt werden dürfe (vgl. Ammon 1995, 55).
⫺ die „sorgfältigsten“ Lautformen der Um- Siebs reagierte auf die Publikationen von
gangssprache und einige Formen der Vor- Luick, Leumann und anderen Autoren, die
tragssprache vermittelt werden; fremde nicht die orthoepischen Besonderheiten der Schul-
in der Landschaft gebrauchte Aussprachefor- sprache z. B. auch in Sachsen und für
men würden „geziert oder lächerlich“ klin- deutschsprachige Gebiete im Ausland auf-
gen. Für den Bereich des Niederdeutschen listeten, mit dem Vorschlag, die Schulver-
träfe dies allerdings nicht zu, hier würde die waltungen dieser Gebiete müssten entschei-
Schriftsprache als fremde Sprache gelernt den, wieweit der Bühnenaussprache dennoch
und demzufolge schriftnah artikuliert, was Rechnung zu tragen sei (Siebs 1930, 22).
die Orientierung der Siebsschen Kodifizie- Die Entwicklung seit dem Ende des
rung auf diese Ausspracheform erkläre 2. Weltkrieges wurde durch die Gründung
(Luick 1900, 257ff.). Unter dem Titel „Deut- zweier Staaten in Deutschland beeinflusst.
sche Lautlehre. Mit besonderer Berücksichti- Als die in der Bundesrepublik ansässigen Er-
gung der Sprechweise Wiens und der österrei- ben von Theodor Siebs 1953 mit Fachleuten
chischen Alpenländer“ veröffentlichte er 1904 über eine erste Nachkriegsauflage des „Siebs“
eine orthoepische Phonetik, in der er als beraten wollten, schlugen Hans Krech und
Reaktion auf den „Siebs“ die Schul- und Irmgard Weithase aus der DDR vor, das
Vortragssprache Österreichs kodifizierte. Vom Werk durch neue phonetische Untersuchun-
„Siebs“ unterschied sich diese Kodifizierung gen zu fundieren und gründlich zu überarbei-
u. a. durch folgende Empfehlungen: (1) Bei ten (vgl. H. Krech 1960). Diese Vorschläge
anlautenden Vokalen kann statt des „festen“ wurden jedoch zurückgewiesen, weil „die Re-
Einsatzes der „leise“ Einsatz gebraucht wer- gelung der alten Bühnenaussprache im we-
den. (2) In verschiedenen Gegenden Öster- sentlichen unverändert beibehalten“ werden
reichs wird das postvokalische /r/ als dunkler sollte (Siebs 1958, 6). Die ersten Neuauflagen
Vokal realisiert; in dem dabei entstehenden glichen folglich weitgehend der von Siebs
Diphthong wird der erste Vokal verdunkelt; noch selbst besorgten Ausgabe von 1930.
ein vibrierendes R muß nur nach den kurzen Dennoch waren die Herausgeber bemüht, auf
Vokalen und den beiden A-Lauten gefordert die Veränderungen in der kommunikativen
werden. (3) [p t k] werden nicht in allen Posi- Realität einzugehen. Dies zeigte sich in der
tionen aspiriert, sondern nur im Anlaut. (4) Veränderung einiger Ausspracheregeln, z. B.
[b d g] und auch [z] sind als Lenes zu spre- in der Anerkennung des Zäpfchen-R neben
chen, sie sind nicht stimmhaft, sondern dem Zungenspitzen-R, insbesondere aber in
166 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

der Beachtung des Sprechens vor dem Mi- Diese Kommission, die wie die Siebs-Kom-
krofon. Siebs hatte schon 1931 eine „Rund- mission in der Bundesrepublik u. a. aus Ver-
funkaussprache“ für den Gebrauch in den tretern der Radiosender, der Bühnen, der
deutschen Sendeanstalten verfasst. Nunmehr Kirchen, der Universitäten und der Schulen
wurde ein entsprechender Abschnitt auch in zusammengesetzt war, wollte eine Aus-
das Aussprachewörterbuch aufgenommen. sprache empfehlen, die sich „klar abhebt von
Wegen der Mannigfaltigkeit der Sendungen allem Mundartlichen“ und in der sich „der
verbot sich zwar die Formulierung spezieller Schweizer trotz allem in einer sympathischen
Regeln und für Österreich und die Schweiz Weise verrät“. Eine derartige Abwandlung
mussten sogar landschaftliche Besonderhei- der Siebsschen Hochsprache sollte dem Spre-
ten konzidiert werden, trotzdem aber wurde cher durch „landschaftlich bestimmte Gren-
die „Notwendigkeit eines besonders klaren, zen“ ermöglicht werden; eine „Erfüllung der
deutlichen und reinen Sprechens“ hervorge- idealen Anforderungen“ komme „von vorne-
hoben und festgestellt, dass „im Munde des herein nicht in Frage“. Obwohl die Siebs-
erzogenen und geübten Sprechers … auch Herausgeber dieses Verfahren ablehnten, wi-
die reine Hochsprache“, also die Aussprache chen Boesch und seine Mitstreiter nicht
nach dem überhöhten Siebsschen Kodex, zurück und wollten sogar typisch schweize-
„natürlich und frei“ wirke (Siebs 1958, 14f.). rische Ausdrucksmomente wie Druckvertei-
Im Übrigen wurde der bisher schon erhobene lung und Sprachmelodie berücksichtigt wis-
Geltungsanspruch wiederholt: Sowohl der sen (Boesch 1957, 15ff.).
Lehrer bei der Rezitation und beim Vortrag Eine tiefgreifende Umarbeitung des Siebs
als auch der deutschsprechende Ausländer wurde erst mit der 19. Auflage von 1969 vor-
sollten nach den Regeln der Bühnenausspra- gelegt. Das Buch hieß nunmehr „Siebs/Deut-
che artikulieren (vgl. Siebs 1958, 9). Der sche Aussprache/Reine und gemäßigte Hoch-
österreichische und der schweizerdeutsche lautung mit Aussprachewörterbuch“ und
Standard wurden auch jetzt nicht beachtet. zeichnete sich durch einige interessante Neue-
Es gab jedoch ein „Österreichisches Beiblatt“, rungen aus. Erstmals enthielt es eine umfang-
das im Auftrag des „Erweiterten Siebsaus- reiche Liste mit Abweichungen von der
schusses“ von einem Arbeitsausschuss unter Hochlautung, vor allem mit den landschaftli-
Teilnahme mehrerer Universitätsprofessoren chen Eigenarten in Nord-, Mittel- und Süd-
beschlossen und von F. Trojan verfasst wor- deutschland sowie in Österreich und der
den war. Es enthielt Richtlinien „für den un- Schweiz. Neu und bemerkenswert waren
terrichtenden Vortrag in Österreich … insbe- auch Ausführungen zum Phonemsystem der
sondere für die Zwecke der österreichischen deutschen Hochlautung und zur Klanggestalt
Schule“ und sollte die Sprechweise dort in des Satzes, die jedoch für die orthoepische
„ungleich höherem Maße“, als dies Luick Beschreibung kaum genutzt wurden. Eine
1904 vorgesehen hatte, der Siebsschen Hoch- wirklich einschneidende Veränderung aber
sprache annähern. Einige Abweichungen stellte die Kodifizierung einer „gemäßigten“
aber sollten bei den Lauten und der Wortak- neben einer „reinen Hochlautung“ dar. Die
zentuierung erlaubt sein. Die Universitäts- „reine Hochlautung“ entsprach der bisheri-
sprecherzieher jedoch, die in dem verantwort- gen Höchstnorm nach den Siebsschen Re-
lichen Arbeitsausschuss offenbar nur durch geln. Die „gemäßigte Hochlautung“ sollte
Trojan vertreten waren, distanzierten sich dagegen eine reale überlandschaftliche Aus-
von dieser Regelung. Sie sahen die Grundlage sprache mit größerer Varianz abbilden und
ihrer Arbeit in der „Pflege der reinen Hoch- deshalb auch die „landschaftliche Hochlau-
sprache“. Immerhin aber erklärten sie sich tung“ Österreichs und der deutschsprachigen
bereit, die Richtlinien des Beiblatts den Lehr- Schweiz einschließen (Siebs 1969, 6ff.). Die
amtskandidaten wissensmäßig zu vermitteln. Regelung der gemäßigten Hochlautung ist
Eine solch enge Anlehnung an den Siebs erkennbar durch phonetische Untersuchun-
wurde in der Schweiz nicht befürwortet. gen angeregt worden, die in größerer Zahl
Deren Vertreter beharrten auf einer größe- durch Mitglieder der von Hans Krech (1914⫺
ren Zahl von nationalen Aussprachebeson- 1961) in Halle aufgebauten Forschungs-
derheiten. Eine Zusammenstellung hierzu gruppe durchgeführt worden waren und die
wurde 1957 von B. Boesch unter dem Titel dem 1964 in der DDR erschienenen „Wörter-
„Die Aussprache des Hochdeutschen in der buch der deutschen Aussprache“ zugrunde
Schweiz“ herausgegeben, und zwar im Auf- lagen (vgl. Siebs 1969, 6f.). Diese Untersu-
trag der Schweizerischen Siebs-Kommission. chungen wurden jedoch ohne Beachtung der
13. Die Standardaussprache des Deutschen 167

phonetischen Gesetzmäßigkeiten rezipiert. So Spannungsgrad. Außerdem enthielt es eine


wurde etwa in der gemäßigten Hochlautung Liste von häufig gebrauchten synsemanti-
für /b, d, g/ anlautend vor Vokal nicht gene- schen Wörtern mit ihren reduzierten Formen
relle Stimmhaftigkeit wie in der reinen Hoch- (vgl. Krech/Kurka/Stelzig 1982, 73ff.). Wegen
lautung, sondern generelle Stimmlosigkeit ge- der politischen Verhältnisse konnten phoneti-
fordert (vgl. Siebs 1969, 107). Die Phonetiker sche Untersuchungen, die die erforderlichen
hatten jedoch gefunden, dass Stimmlosigkeit Sonderregeln für Österreich und die Schweiz
bei Lenisplosiven nur nach Sprechpause und hätten fundieren können, bis zum Ende der
stimmlosen Konsonanten realisiert wird und DDR nicht durchgeführt werden.
die Stimmhaftigkeit in allen anderen Fällen Bereits 1962 war als Band 6 in der Mann-
erhalten bleibt. Ähnliche phonetisch abwe- heimer Duden-Reihe das von Max Mangold
gige Regelungen gab es auch zu anderen Aus- und der Dudenredaktion erarbeitete „Duden
spracheproblemen, so dass diese Siebs-Auf- Aussprachewörterbuch“ erschienen. Es rich-
lage eine massive Kritik auslöste (vgl. Krech/ tete sich in der Darstellung und Transkrip-
Stock 1991) und das Buch seither nicht wie- tion der Stichwörter nach den Regeln der
der aufgelegt wurde. Siebsschen Bühnenaussprache, enthielt aber
Das hallesche Aussprachewörterbuch er- in der Einleitung neben Kapiteln zur „Nicht-
schien bis 1982 in fünf Auflagen und zwei hochlautung“ (Umgangslautung und Über-
Lizenzausgaben, die letzte Auflage unter dem lautung) bereits vor der 19. Siebs-Auflage Be-
Titel „Großes Wörterbuch der deutschen merkungen zu einer „gemäßigten Hochlau-
Aussprache“. Seine Mustersprecher waren tung“. Diese Lautungsstufe, die Mangold
nicht nur Schauspieler, sondern auch Rund- durch „verminderte Deutlichkeit und größere
funksprecher, deren Aussprache in sehr um- Toleranz“ gekennzeichnet sah, wurde von der
fangreichen Untersuchungen analysiert wor- Bühnenhochlautung vor allem mit folgenden
den war. Seine Kodifizierung war demzufolge Merkmalen abgegrenzt: (1) Die unbetonten
wirklichkeitsnäher und differenzierter als die [i y u] werden vor Vokal in bestimmten Posi-
des „Siebs“. Dies zeigte sich insbesondere (1) tionen unsilbisch gesprochen (z. B. [di̋a1lo6k]
in der Einführung zweier neuer Realisations- für Dialog). (2) Statt [e] kann in der nichter-
varianten für /r/ (Reibe-R und vokalisiertes sten Silbe vieler Fremdwörter [e] gesprochen
R) und der Bestimmung ihrer Distribution; werden (z. B. [gene1ra6l] statt [gene1ra6l]. (3)
(2) in der Regelung der kontextabhängigen [i] kann in den Vorsilben ver- und zer- durch
[e]-Elision für die Endungen -en und -el; (3) [e] ersetzt werden. (4) Der Glottisschlagein-
in der Beschreibung der Bedingungen für die satz bei Vokalen im Silbenanlaut ist fakulta-
Stimmlosigkeitsassimilation bei [b d g v z j]; tiv. (5) In der Endung -iker kann [i] durch [i]
(4) in der Bestimmung der Positionen für ersetzt werden. (6) Auf die Behauchung bei
stärkere oder schwächere Behauchung von den Fortisplosiven kann in vielen Fällen ver-
[p t k]; (5) in den Angaben zum Auftreten des zichtet werden. (7) Nach stimmlosen Ob-
Neueinsatzes bei anlautenden Vokalen und struenten kann [z] durch [s] (z. B. [1apsa6ge])
zur Realisation dieses Neueinsatzes durch ersetzt werden (Mangold/Dudenredaktion
Glottisschlag. Für die orthoepische Betrach- 1962, 39ff.). Diese Regeln wurden zwar noch
tung war dabei von Bedeutung, dass in den nicht im Wörterverzeichnis angewandt, sie
beiden letzten Komplexen nicht nur die Ak- zeigen aber dennoch, in welcher Weise sich
zentbedingungen des Wortes, sondern auch Mangold bereits in der 1. Auflage seines Bu-
die der Äußerung systematisch berücksichtigt ches von der Siebsschen Kodifizierung ab-
wurden (Krech/Kurka/Stelzig 1964, 23ff.). setzte. In der 2. Auflage von 1974 (3. Auflage
Das hallesche Aussprachewörterbuch kodifi- 1990) gab er die nunmehr als „übersteigert“
zierte eine situativ variable „Standardaus- empfundene Bühnenaussprache gänzlich auf
sprache“, die nicht nur für Theater und und ersetzte sie durch eine „allgemeinere Ge-
Rundfunk, sondern auch für die Schule und brauchsnorm“, die bereits im Untertitel des
die öffentliche Rede gelten sollte. In seiner Buches als „Standardaussprache“ bezeichnet
letzten Auflage (1982) stellte es erstmals stili- wurde. Bei der Beschreibung dieser Ge-
stische Aussprachevarianten vor, und zwar brauchsnorm stützte sich Mangold ausdrück-
(1) die der Rezitation und des feierlichen, lich auf das „Wörterbuch der deutschen Aus-
festlichen Vortrags, (2) die des Vorlesens von sprache“ und die ihm zugrunde liegenden
Manuskripten im Rundfunk und von schön- „großangelegten, systematischen Untersu-
geistiger Prosa sowie (3) die des sachlichen chungen“ (Mangold/Dudenredaktion 1974,
Gesprächs und des Vortrags mit geringem 5, 29). Er führte eine Reihe von Neuerungen
168 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

ein, im Wörterverzeichnis insbesondere die In den letzten Jahrzehnten sind mehrfach


Transkription [B] für die Endung -er, ferner überprüfende Untersuchungen zur Standard-
die /e/-Elision in den Endungen -en und -el aussprache durchgeführt worden, in Öster-
nach Obstruenten. Die bei der /e/-Elision auf- reich z. B. durch S. Moosmüller (1987) und
tretende Assimilation des [n] an [p b] zu [m] M. Bürkle (1995), für den schweizerdeut-
und an [k g] zu [n] wurde allerdings nicht be- schen Bereich etwa durch P. Panizzolo (1982)
rücksichtigt; so wurde z. B. für Happen die und A. Hofmüller-Schenk (1993) und für das
artikulatorisch wenig wahrscheinliche Form deutschländische Deutsch u. a. durch F.
[1hapn0 ] statt [1hapm
0 ] transkribiert. Schindler (1974), M. Sperlbaum (1982) und
Die Vereinigung der beiden deutschen die Mitglieder der halleschen Forschungs-
Staaten im Jahre 1990 bot die Möglichkeit, gruppe (vgl. die Aufstellung der experimentel-
die bisherigen Kodifikationen für den deutsch- len Untersuchungen in Krech/Kurka/Stelzig
ländischen Standard zu überprüfen und mit 1982, 141f.). Alle diese Arbeiten bezogen sich
einem neuen Regelwerk der Weiterentwick- zunächst fast ausschließlich auf die Artikula-
lung des phonetischen Denkens und dem tion der einzelnen Laute im Wort, beispiels-
heutigen Gebrauch der Standardaussprache weise auf die von der Lautumgebung und Po-
gerecht zu werden. Eine Forschergruppe aus sition abhängige Realisation des /r/ (vgl. Ul-
Halle und Köln nahm dieses Projekt in An- brich 1972) oder auf die Aspiration der Plo-
griff. sive im Deutschen (vgl. Lotzmann 1975).
Schon bald aber reifte die Erkenntnis, dass
eine realitätsbezogene Orthoepie nicht nur
2. Forschungsstand, Probleme
die Aussprache von isolierten Wörtern, son-
Die Varianten der deutschen Standardaus- dern auch die von Äußerungen, also von
sprache, die arealen sowohl wie die situativ- Wortgruppen beschreiben müsse. In Äuße-
stilistischen, sind bisher in Österreich, der rungen aber wird die Artikulation bei einer
Bundesrepublik und der Schweiz nur un- akzentzählenden Sprache wie dem Deutschen
gleichmäßig untersucht worden. Unabhängig ähnlich stark wie im Wort selbst von der Ak-
davon haben sich die Ansprüche an orthoepi- zentverteilung bestimmt. Der für solche Spra-
sche Forschungen im Laufe der Zeit deutlich chen typische Sprechrhythmus führt u. a.
gewandelt. Um 1900 wurde den Kodifizie- dazu, dass akzentuierte Silben bzw. Wörter
rungen von Siebs und Luick bereits eine em- artikulatorisch und intonatorisch sehr deut-
pirische Grundlage unterstellt, wenn die lich von nichtakzentuierten Silben bzw. Wör-
Autoren von „Beobachtungen“ sprachen und tern abgesetzt werden, und zwar insbeson-
gelegentlich einzelne Ergebnisse dieser Beob- dere durch Dehnung und präzise Artikula-
achtungen (vgl. z. B. Siebs 1898, 66; 1930, 40) tion der akzentuierten Silben einerseits und
mitteilten. Ein halbes Jahrhundert später for- durch Schwächung, also reduzierte Artikula-
derte man dagegen methodisch fundierte Un- tion der akzentlosen Silben andererseits. Die
tersuchungen. Zu solchen Untersuchungen größte Schwächungstendenz zeigt sich dabei
gehört: (1) eine repräsentative Auswahl von zwangsläufig in den vielfach einsilbigen syn-
Mustersprechern für den vorgesehenen Gel- semantischen Wörtern (z. B. Artikel und Pro-
tungsbereich der Kodifizierung, (2) die audi- nomen), weil diese in der Regel pro- oder
tive und instrumentelle Analyse einer größe- enklitisch an autosemantische Wörter an-
ren Zahl von Äußerungen dieser Sprecher geschlossen werden und eine solche Einheit
und (3) die detaillierte Dokumentation der aus einer kontinuierlichen Artikulationsbe-
Ergebnisse. Besondere Schwierigkeiten berei- wegung heraus als ein „phonetisches Wort“
tet die auditive Analyse. Erst wenn die Auf- produziert wird. Meinhold (1973), Kohler
zeichnung einer Äußerung von erfahrenen (1977) und andere haben solche schwachen
Fachleuten mehrfach abgehört worden ist, Formen und Lautschwächungen dargestellt.
kann mit verlässlichen Ergebnissen gerechnet Meinhold (1973) und E. M. Krech (1996,
werden. Das von Siebs geschilderte Verfah- 135ff.) haben darüber hinaus belegt, dass die
ren, Schauspieler während der Aufführung zu Tendenz zur Lautschwächung zunimmt,
beobachten, bietet keine Gewähr dafür, dass wenn der Sprecher nicht reproduziert, also
einzelne Artikulationsmerkmale wirklichkeits- vorliest oder Gelerntes rezitiert, sondern
gerecht erfasst werden. Die älteren Beobach- wenn er ohne Vorlage frei produziert, sich
tungsergebnisse mussten folglich überprüft also beispielsweise unvorbereitet in einem
werden, um gesicherte Daten als Kodifika- Gespräch äußert. Die bisherigen Untersu-
tionsgrundlage zu gewinnen. chungen lassen erkennen, dass die schweize-
13. Die Standardaussprache des Deutschen 169

rische, österreichische und deutschländische che Weise oder mit planmäßig variierter Arti-
Variante der Standardaussprache partiell kulation produziert worden waren (vgl. die
eigene Schwächungstendenzen und Re- Zusammenfassung in Krech/Richter/Stock/
duktionsformen aufweisen. Gewisse Unter- Suttner 1991, 79ff.). Auf gleiche Weise ver-
schiede bestehen auch in der Wortakzentuie- fuhr Sylvia Moosmüller bei ihren „soziopho-
rung, insbesondere bei Lehnwörtern, Fremd- nologischen“ Untersuchungen zur Abgren-
wörtern und Namen. Für den Vergleich gibt zung von Hochsprache und Dialekt in Öster-
es eine ausreichende Materialbasis; neben den reich (vgl. Moosmüller 1991). Eine weitere
vorhandenen Aussprachewörterbüchern kön- soziophonetische Studie stammt von H. Ta-
nen das von Back, Benedikt, Hornung und kahashi (1996, 181ff.), der 1993 über 300 Per-
Pacolt herausgegebene „Österreichische Wör- sonen in der Bundesrepublik, in Österreich
terbuch“ (1985) sowie weitere lexikographi- und der Schweiz zu Einstellungen gegenüber
sche Darstellungen (vgl. Meyer 1989; Ebner der Standardaussprache des Deutschen, ihrer
1980; sowie die Aufsätze in Wiesinger 1988) Variation und ihrer Kodifizierung befragte.
herangezogen werden. Um die Aussprache Schließlich führte auch die hallesch-kölnische
von Äußerungen vollständig darstellen zu Forschungsgruppe eine derartige Untersu-
können, müssen zusätzlich die Intonationsre- chung mit rund 1600 Personen aus allen
geln, also die Regeln der Akzentuierung in Sprachlandschaften der Bundesrepublik durch.
Wortgruppen und der Melodisierung angege- Dabei wurden TV-Ausschnitte aus Nachrich-
ben werden können. Für das deutschländi- tensendungen, Talk-shows, Interviews usw.
sche Deutsch liegen hierzu zahlreiche Unter- von insgesamt 43 Sprechern mit unterschied-
suchungen vor (vgl. die Belege in Stock lichen Ausspracheweisen vorgeführt. Die Ver-
1996b, 239f.); für die beiden anderen Stan- suchspersonen wurden um Gefallensurteile
dardvarianten gibt es nur vereinzelte Darstel- zu diesen Ausschnitten gebeten und anschlie-
lungen (vgl. z. B. Panizzolo 1982, 41ff.). Be- ßend nach ihren Auffassungen zur Standard-
züglich der Intonation besteht ein weiteres aussprache befragt. Die in diesen Tests er-
Problem darin, dass sich die Mehrzahl der langten Angaben gestatteten es, Aussagen zur
Forscher bisher nur für die Intonation beim phonetischen Form des deutschländischen
reproduzierenden Sprechen interessiert hat, Standards und zur Akzeptanz von standard-
also beispielsweise für das Vorlesen von Tex- nahen und standardfernen Ausspracheva-
ten. Der Regelfall für den deutschsprechen- rianten in Nord und Süd sowie in verschiede-
den Ausländer ist aber das freie Sprechen im nen Sprechsituationen zu formulieren (vgl.
Gespräch, das durch einen spezifischen In- Stock/Hollmach 1996, 271ff.).
tonationsgebrauch gekennzeichnet ist. Die
Standardaussprache hat auch dafür Regeln,
die jedoch erst ansatzweise ermittelt worden 3. Merkmale der Standardaussprache
sind.
Bei jeder Kodifizierung ist die Frage zu be- In den Ländern mit Deutsch als Amtssprache
antworten, durch welche Mustersprecher der richtet sich die Schreibung in den Schulen
vorgesehene Geltungsbereich vertreten wer- und Behörden seit langem nach einer vorge-
den soll. Die Entscheidungen hierzu können schriebenen Orthographie. Die Aussprache
nur objektiviert werden, wenn eine größere dagegen ist niemals amtlich geregelt worden.
Gruppe von Muttersprachlern nach ihren Er- Die in Aussprachewörterbüchern, Übungs-
wartungsvorstellungen zur Aussprache be- büchern und anderen Publikationen präsen-
fragt wird. Befragungen sind in der orthoepi- tierten Kodifikationen hatten stets nur emp-
schen Forschung durchaus üblich. Bereits fehlenden Charakter. Dennoch bildete sich
Viëtor hatte seine Kodifizierung auf eine sol- für einige Verwendungsgebiete ein Aus-
che Recherche gestützt und selbst Siebs ver- sprachestandard mit deutlich erkennbaren
schickte 1907 an 200 Theater Fragebögen, arealen und situativ-stilistischen Varianten
um die „vielleicht kritischen Punkte“ seiner heraus. Diese Entwicklung gründete sich ei-
Kodifizierung zu ermitteln (Siebs 1898, 13; nerseits auf die in den Kodifikationen er-
1930, 8). Nach 1970 führten auch hallesche kennbaren, oft uneinheitlichen Vorstellungen
Sprechwissenschaftler ausgedehnte soziopho- von einer musterhaften Aussprache und an-
netische Untersuchungen zu orthoepischen dererseits auf die davon beeinflussten Artiku-
Gegenständen durch. Dabei wurden die Be- lationsgewohnheiten der in der Öffentlichkeit
fragungen durch das Abhören von Sprach- kommunizierenden Sprecher. Um unter die-
aufnahmen ergänzt, die entweder auf natürli- sen Bedingungen den Standard realitätsnah
170 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

beschreiben zu können, muss man sich folg- diert. (3) /b d g/ werden als Lenes (mit schwa-
lich vorzugsweise auf Analysen der Artikula- cher Spannung und schwachem Geräusch)
tionsgewohnheiten stützen. Kodifikationen realisiert. Sie sind nach stimmhaften Lauten
sind sinnvollerweise nur dann zu beachten, stimmhaft, nach Sprechpause und stimmlo-
wenn sie selbst auf solchen Analysen beru- sen Lauten dagegen stimmlos. sD, Ö, S haben
hen. eine verstärkte Tendenz zur Stimmlosigkeit.
Die Standardaussprache ist eine der Mög- Im Silben- und Wortauslaut wie in regsam
lichkeiten, das deutsche Lautsystem mit sei- und Sieb werden /b d g/ infolge der soge-
nen lautlichen und intonatorischen Einheiten nannten Auslautverhärtung als Fortes reali-
zu realisieren. Die folgende Auflistung orien- siert, also [1re6kza6m] bzw. [zi6p]. Ö und S ha-
tiert sich deshalb an der abstrahierenden ben in diesen Fällen im Wortauslaut keine
Darstellung dieses Systems in Kapitel 12. Sie Aspiration. (4) Für die Endung -ig wie in we-
berücksichtigt vor allem Merkmale, die in der nig hat nD [iç], sD, Ö und S [ik]. (5) Red.:
Orthoepiediskussion seit längerem umstritten Zwischen Vokalen z. B. in aber, -ige besteht
sind oder die für die Unterscheidung der Va- die Tendenz zur Frikatisierung (Realisierung
rianten herangezogen werden müssen. Die des Plosivs als schwach gespannter Reibe-
deutschländische Variante wird mit D (dabei laut).
steht sD für den Süden, nD für den Norden), Frikative: (1) /f s s ç x/ werden als Fortes
die österreichische mit Ö und die schweizeri- mit kräftigem Reibegeräusch, /v z z j/ als Le-
sche mit S angezeigt. Die Angabe Red. kenn- nes mit schwachem Reibegeräusch realisiert.
zeichnet außerdem reduzierte Formen, die Die Lenes sind nach stimmhaften Lauten
phonostilistische Funktion haben und situa- stimmhaft; nach stimmlosen Lauten besteht
tiv-stilistischen Aussprachevarianten zuzu- die Tendenz zur Stimmlosigkeit. sD, Ö, S:
ordnen sind. Solche Varianten lassen sich [z v z] sind stimmlos mit einer Tendenz zur
grob nach mehreren Äußerungsweisen abstu- Fortisierung; in Ö sind jedoch Fremdwörter
fen, die vom „Vorlesen“ und „Rezitieren“ bis mit stimmhaftem [z] zu sprechen, z. B. à jour,
zum unvorbereiteten „freien Sprechen“ rei- Gelee, Jackett, Jury, Regie, Sujet. S: Bei
chen. Reduzierte Formen sind mit unter- Schreibung * v + wird in „jüngeren Fremd-
schiedlichem Grad der Reduzierung vorzugs- wörtern“ häufig [f] gesprochen, z. B. Advo-
weise bei akzentlosen, schnell gesprochenen kat, Evangelium, Klavier, Konvikt, November,
Wörtern zu beobachten. Sie können bereits Proviant, provisorisch, Vagabund, Vagant,
beim Vorlesen oder Rezitieren auftreten und Veltlin, Ventil, Vikar, Visier, Vogesen, Vulkan.
häufen sich beim mehr oder weniger freien (2) Wortanlautendes * ch + wird vor vorde-
Sprechen. Die volleren ungeschwächten For- rem Vokal in nD als [ç], in Ö und auch in sD
men dagegen werden vorwiegend beim lang- mehrfach als [k], in S als [x] gesprochen, z. B.
samen Sprechen und unter Akzent verwen- Chemie, Cherub, China, Chinin, Chirurg, Chi-
det. Sie sind beim Vorlesen und Rezitieren tin. S hat [x] auch z. B. in Chaos, Charakter,
sehr viel häufiger als im freien Sprechen und Chor, Choral, Cholera, cholerisch, Chrom,
werden als Normalformen betrachtet. Ge- Chronik, Chronometer und inlautend auch in
naue Literaturbelege sind aus Platzgründen Melancholie, Orchester. D und Ö haben hier-
nicht möglich. für anlautend nur [k], inlautend hat D [k] und
Plosive: (1) /p t k/ werden als Fortes (mit Ö [ç] neben [k]. (3) Red.: Die Fortes werden
starker Spannung) realisiert. In akzentuierten vielfach lenisiert, besonders vor [z] wie in
Silben werden sie prävokalisch und im Wort- gleichsam.
auslaut auch postvokalisch aspiriert (kräfti- /r/ (1) nD: Prävokalisch und nach kurzen
ges Hauchgeräusch bei Verschlusslösung). (2) Vokalen wird für /r/ nicht nur ein Zungen-
Red.: Beim schnellen Sprechen besteht die spitzen-R [r] oder Zäpfchen-R [r], sondern
Tendenz zur Lenisierung (Verringerung der vorwiegend ein Lenis-Frikativ [R], ein soge-
Spannung, Wegfall der Aspiration). Folgen nanntes Reibe-R realisiert. Nach langem Vo-
zwei verschiedene Plosive wie in Takt aufein- kal sowie in den Affixen er-, her-, ver-, zer-
ander, so wird der erste nicht gesprengt; fol- und -er wird ein vokalisches R gesprochen.
gen [m n l], so wird der Verschluß nasal bzw. Nach [a6] wird das R elidiert. Das „vokalische
lateral gesprengt. Im Anlaut akzentuierter R“ [B] wird für /r/, /er/ und in er-, her-, ver-,
Silben wird der Plosiv in * pf + (z. B. Pferd) zer- für /ir/ verwendet. (2) Red. in nD: Das
häufig elidiert; dies gilt weniger häufig auch R wird auch nach kurzem Vokal vokalisiert,
für den Plosiv in * ts + wie in zu. In Wörtern es entsteht ein Kurzdiphthong. (3) sD, Ö, S:
wie und, sind, ist, nicht wird [t] sehr oft eli- Prävokalisch, nach kurzem Vokal und auch
13. Die Standardaussprache des Deutschen 171

in anderen Positionen wird ein Vibrant, [r] wird der Vokal [e] nach Plosiven, Frikativen,
oder [r], gesprochen. S hat stets einen Vib- nach /l/ und zur Hälfte auch nach Vokalen
ranten, auch nach langem Vokal im Auslaut. (in -el auch nach Nasalen, aber nicht nach
Vokale akzentuierter Silben: (1) Lange Vo- Vokalen und [g l r]) elidiert. Die Plosive wer-
kale sind mit Ausnahme von [a6 i6] geschlos- den nasal bzw. lateral gesprengt, der Nasal
sen, kurze offen. nD hat für [i6] oft [e6]. S: bzw. [l] werden silbisch; [n] wird außerdem
[e6 ø6 o6] sind geschlossener als in D. Die ho- nach [p b] zu [m] und nach [k g] zu [n] assimi-
hen kurzen Vokale werden auch geschlossen liert. Ö zeigt tendenziell die gleichen Erschei-
gesprochen, also [i y u], die anderen kurzen nungen. (2) Red. bei D im Gegensatz zu Ö:
Vokale werden weniger zentralisiert. (2) In ei- Die [e]-Elision in -en nimmt auch nach Nasa-
ner Reihe von Wörtern weicht die Vokal- len zu; es kommt zu einer Ersatzdehnung des
quantität in D, Ö und S voneinander ab, z. B. Nasals (z. B. [de6n6 kcm6] für dehnen und
D und Ö lang, S kurz: düster, knutschen; Ö kommen); gehäuft treten stark kontrahierte
und S kurz, D lang: Appetit, Dolomiten, Ere- Formen auf, z. B. [ha6m ve6BŒ n] für haben und
mit, Erde, Fabrik, Geburt, Hospiz, Krebs, Li- werden. (3) Die Vokale der nichtakzentuier-
ter, Miliz, Nische, Notiz, Parasit, Profit, ten Synsemantika (Pronomen, Artikel, Prä-
Städte, Wucher u. a.; D und Ö kurz, S lang: positionen usw.) und die der nicht akzen-
Andacht, brachte, dachte, Gedächtnis, Nach- tuierbaren Affixe, insbesondere -bar, -sam,
bar, Rache, rächen, vierzig, Vorteil; D und S -tum zeigen in D und Ö die gleiche Schwä-
lang, Ö kurz: Behörde, Husten, Schuster; D chungstendenz (für S nur ungenaue Anga-
und S kurz, Ö lang: Bruch, Chef, Walnuß; Ö ben): Lange geschlossene Vokale werden zu-
und S lang, D kurz: Geschoss, Rebhuhn. (3) erst gekürzt und bei weiterer Reduktion auch
Auch die Qualität variiert bei akzentuierten qualitativ verändert; /de6n/ kann so als [de6n
sowie bei nichtakzentuierten Vokalen in eini- de5n din den], /i6nen/ als [i6nen i5n6 in5 in], /zi6/
gen Wörtern und Namen, z. B. D [y y6], S [i i6] als [zi6 zi zi ze] und /za6m/ als [za6m za5m zam]
in Ägypten, Asyl, Gymnasium, Gymnastik, Ly- realisiert werden. Die Formen mit [e] gelten
dia, Mylius, Mythen, Pyjama (Nebenform mit in D als umgangssprachlich, in Ö treten sie
[y]), Physik, Schwyz, Wyl, Zylinder, S und Ö nicht auf.
[i i6] in Forsythie, Libyen, Pyramide, System Wortakzentuierung: (1) In einer größeren
(Ö auch mit [y]). (4) Die Diphthonge [a«e c«ø] Zahl von Lehn- und Fremdwörtern weichen
des D klingen in S eher wie [a«e c«e]. Die in die Wortakzentstellen in Ö, S und D bei
S bei Namen auftretenden Verbindungen * ie, wechselnden Übereinstimmungen voneinan-
ue, üe + werden in den meisten Fällen als der ab, z. B. Ö 1. Silbe, S und D 2. Silbe: Er-
[ie ue ye] gesprochen, z. B. in Dieth, Dietikon, laucht, Muskat; Ö und S 1. Silbe, D 3. Silbe:
Lienert, Rieter, Spiez; Fueter, Hueb, Hueber; Äskulap, Hospital; S 1. Silbe, Ö und D 2.
Büeler, Rüegg, Grüebler. Auch sD hat die Silbe: Budget, Filet, Ö und S. 2. Silbe, D 1.
Formen mit [ue ye]. (5) Der Neueinsatz gilt Silbe: Sakko. (2) Besonderheiten zeigen sich
für anlautende Vokale in Stamm- und Vorsil- vor allem in der Akzentuierung der Ortsna-
ben. Er wird nach Sprechpause und in beton- men, weil die Akzentmuster für den Landes-
ten Silben einer Wortgruppe (z. B. den ‘An- fremden nicht voraussagbar sind, z. B. S:
fang machen) vorwiegend mit Glottisschlag Braun’wald, Ennen’da, St. Ni’klaus: Ö: Ab’fal-
realisiert; in unbetonten Silben einer Wort- tersbach, Feld’kirchen, Summe’rau; D: Lübbe-
gruppe tritt der Glottisschlag seltener auf ’nau, München’bernsdorf, Wol’lin.
(z. B. einen ‘Gast empfangen). Innerhalb der Melodisierung: Gegenüber D und Ö weicht
Wortgruppe wird der Neueinsatz in unbeton- die von vielen Schweizern gebrauchte Melo-
ten Silben nach Vokal oder stimmhaften disierung auffällig ab. Wie die Verlaufsmuster
Konsonanten häufig aufgegeben (z. B. die in der Abbildung zeigen, liegt der Unter-
Etüde). In Zusammensetzungen mit dar-, schied vor allem in der mit der letzten Satz-
wor-, her-, hin-, vor- entfällt der Neueinsatz. akzentstelle beginnenden Endphase der Äu-
Ö, S: In einigen Wörtern (z. B. beobachten, ßerungen. In S tragen vielfach die am Ende
erinnern, Verein, vollenden) fehlt der Neuein- stehenden akzentlosen Silben eine lebhafte
satz. Red.: Vor allem bei Synsemantika be- Melodiebewegung, wohingegen in D und Ö
steht die Tendenz zum Wegfall des Neueinsat- die Akzentsilben melodisch herausragen.
zes und zu verstärkter Bindung. Auch bei der Kennzeichnung der Fragefor-
Vokale nichtakzentuierter Silben: (1) S: men können Unterschiede auftreten. Jedoch
Nach Meyer (1989, 27) wird im Gegensatz zu ist ein direkter Vergleich isolierter Äußerun-
D [e] in -en, -em, -el und -er „meist noch ge- gen problematisch, weil die Melodisierung
sprochen“. D: In den Endungen -en und -el nicht nur von der Satzform, sondern auch
172 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

von kommunikativ-pragmatischen Erwägun- fentlichen Sprechen zurückhaltend eingesetzt.


gen und der Art der Emotionalisierung ab- Die folgenden Beispiele zeigen die Melodisie-
hängig ist. Die schweizerdeutsche Melodisie- rung verschiedener Aussageweisen in der Ge-
rung wird von manchen Sprechern als situa- genüberstellung von schweizerdeutschen und
tiv-stilistisches Mittel verwendet und im öf- deutschländischen Formen.

Abb. 13.1
13. Die Standardaussprache des Deutschen 173

Abb. 13.1: Melodieverläufe in der schweizerdeutschen (S) und deutschländischen (D) Stan-
dardaussprache (akzentuierte Silben unterstrichen).

4. Literatur in Auswahl Hofmüller-Schenk, Agnes (1993): Die Standardaus-


sprache des Deutschen in der Schweiz. 2 Teile,
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174 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

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(Der große Duden 6). 2. Aufl. 1974 mit Untertitel: auditive R-Untersuchungen im Deutschen. Berlin
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Wien etc. Eberhard Stock, Halle (Saale) (Deutschland)
14. Arten und Typen von Grammatiken 175

14. Arten und Typen von Grammatiken

1. Zum Begriff „Grammatik“ gelsystem, das die (vermittelten) Zuord-


2. Arten von Grammatiken nungsbeziehungen zwischen Lauten/For-
3. Typen von Grammatiken men und Bedeutungen (Ausdrucks- und
4. Literatur in Auswahl
Inhaltsseite) beschreibt ⫺ unter Ein-
schluss des Lexikons und der Semantik
1. Zum Begriff „Grammatik“ sowie der Phonologie/Phonetik.
1.1. Grammatik als Objekt, als Das jüngere Konzept b) hat sich immer mehr
linguistisches Abbild und als mentale durchgesetzt auf Grund der Einsicht, dass
Realität Bedeutung nicht nur den Wörtern, sondern
Der Begriff „Grammatik“ wird in unter- auch den grammatischen Formen zukommt,
schiedlicher Weise verstanden (vgl. Helbig dass die Semantik folglich Grammatik im en-
1972; 1981, 49ff.) und bezieht sich auf drei geren Sinne (⫽ Morphosyntax) und Lexik
Sachverhalte: nicht trennt, sondern verbindet (dieselben Be-
deutungen können mitunter morphosyntak-
a) auf die dem Objekt Sprache selbst inne-
tisch und/oder lexikalisch ausgedrückt wer-
wohnenden Regeln, unabhängig von de-
ren Erkenntnis/Beschreibung durch die den), dass Morphosyntax und Lexikon sich
Linguistik und unabhängig von deren Be- auch nicht prinzipiell voneinander unter-
herrschung durch Sprecher/Hörer; scheiden, dass auch im Lexikon eine Zuord-
b) auf die wissenschaftlich-linguistische Be- nung von Lauten/Formen und Bedeutungen
schreibung der der Sprache objektiv inne- erfolgt. Dennoch sind in diesem Handbuch ⫺
wohnenden Regeln, d. h. auf die Abbil- aus Gründen der Darstellung ⫺ der Phone-
dung von a); tik/Phonologie (Art. 12 und 13) und dem Le-
c) auf das dem Sprecher/Hörer interiorisierte xikon (Art. 17, 18 und 19) eigene Artikel ge-
Regelsystem, das sich im Kopf des Ler- widmet. Aber die Grammatik wird ⫺ im
nenden beim Spracherwerb herausbildet Sinne von b) ⫺ nicht reduziert auf die bloßen
und auf Grund dessen dieser die betref- (formalen) Verknüpfungsregeln, sondern um-
fende Sprache beherrscht (⫽ mentale oder fasst Zuordnungsbeziehungen zwischen For-
subjektive Grammatik). men und Bedeutungen generell.
Es handelt sich um unterschiedliche Sachver-
halte (grob: a) existiert in Sprachtexten selbst, 2. Arten von Grammatiken
b) in Büchern, c) in Köpfen). Gegenstand die-
ses Beitrags ist b). 2.1. Abhängigkeit von verschiedenen
1.2. Grammatik im engeren und weiteren Parametern
Sinne Unter Arten von Grammatiken werden Be-
Nach dem Umfang müssen zwei Konzepte schreibungen des Objekts verstanden, die in
von Grammatik differenziert werden (vgl. unterschiedlicher Weise abhängig sind vom
Helbig 1988, 161): Objekt selbst, von dem Kenntnisstand über
den abzubildenden Objektsbereich, den ver-
a) Grammatik im engeren Sinne als Lehre folgten Erkenntnisinteressen, dem gesell-
von den morphologischen und syntakti-
schaftlichen Zweck (z. B. Fremdsprachenun-
schen Regularitäten einer Sprache, als der
terricht, Übersetzung, Theoriebildung), den
Teil der Sprachwissenschaft, der die Bil-
dung verschiedener Formen gleicher Wör- unterschiedlichen Benutzern (z. B. Lingui-
ter („Morphologie“) und die Verknüpfung sten, Lehrbuchautoren, Lehrer, Lerner) und
von Wörtern zu Wortgruppen und Sätzen den unterschiedlichen Benutzungssituationen
(„Syntax“) zum Gegenstand hat ⫺ also un- (innerhalb des Fremdsprachenunterrichts
ter Ausschluss des Lexikons (der Wort- z. B. als direktes Lehrbuch, als Leitfaden
lehre) und der Semantik (der Bedeutungs- oder Handbuch). Nach diesen Parametern
seite), ja in komplementärer Gegenüber- unterscheiden sich verschiedene Arten von
stellung zum Lexikon und zur Semantik; Grammatiken (auch wenn sie nicht immer
b) Grammatik im weiteren Sinne als Abbil- „rein“ vorkommen, sondern eher „idealty-
dung des gesamten Sprachsystems, als Re- pisch“ zu verstehen sind.
176 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

2.2. Normative vs. deskriptive nen, ist doch die Diachronie nichts als die
Grammatiken Abfolge mehrerer Synchronien und die Syn-
Normative (auch: präskriptive) Grammati- chronie ein Ausschnitt aus der diachroni-
ken wollen Wertungen vornehmen, wollen sa- schen Abfolge (vgl. Helbig 1986a, 36f.).
gen, was richtig und falsch, was gut oder
schlecht ist, enthalten Vorschriften und Nor- 2.4. Wissenschaftliche Grammatiken vs.
men, wollen vorschreiben, was sein soll. Gebrauchsgrammatiken
Demgegenüber sind deskriptive Grammati- Von einem unterschiedlichen Benutzerkreis
ken wertungsfrei (weder vorschreibend noch her werden wissenschaftliche Grammatiken
normierend); sie wollen ⫺ in der Regel ausge- und Gebrauchsgrammatiken unterschieden:
hend von Belegsammlungen ⫺ den vorhan- Erstere wenden sich vornehmlich an Lingui-
denen Sprachgebrauch festhalten und kodifi- sten und an solche Nutzer, die Sprache ver-
zieren, möchten beschreiben, was ist. Zwi- mitteln wollen, letztere sind „praxisbezogen“
schen normativen und deskriptiven Gramma- und richten sich an „gebildete Laien“, die
tiken bestand in der Vergangenheit eine fast über kein linguistisches Spezialwissen verfü-
unüberbrückbar scheinende Kluft: Schul- gen. Als Musterbeispiel für eine solche Ge-
grammatiken wurden als normativ angesehen brauchsgrammatik (unabhängig von einem
(und deshalb von der Wissenschaft wenig speziellen Benutzerkreis und von speziellen
ernst genommen), wissenschaftliche Gram- Benutzungssituationen) kann die Duden-
matiken galten als deskriptiv. Der Unter- Grammatik (1995) angesehen werden. Auf
schied zwischen beiden sollte jedoch nicht der Basis desselben Objektsbereichs und der-
überbetont oder gar verabsolutiert werden: selben grammatiktheoretischen Grundlage
Auf der einen Seite ist im Grunde nicht die kann einerseits eine wissenschaftliche Gram-
Grammatik selbst normativ, sondern nur ihr
matik (Grundzüge einer deutschen Gramma-
Gebrauch (so dass auch deskriptive Gram-
tik 1981) und andererseits eine Gebrauchs-
matiken normativ verwendet werden kön-
grammatik (Flämig 1991) erarbeitet werden.
nen). Auf der anderen Seite gehen manche
Grammatiktheorien (vgl. 3.4.) heute (mit 2.5. Problem- vs. Resultatsgrammatiken
Recht) davon aus, dass die Grammatiken
nicht nur Belege sammeln und beschreiben, Mit dem in 2.4. genannten Unterschied ist oft,
sondern ⫺ vor allem ⫺ die diesen Belegen aber nicht notwendig verbunden der Unter-
zugrundeliegenden Regeln erklären sollten. schied zwischen einer Problem- und einer Re-
Damit sollten sie eine Basis für Bewertungen sultatsgrammatik (vgl. Helbig/Buscha 1984,
(z. B. grammatisch vs. ungrammatisch) abge- 17f.). Im Unterschied zu einer Problemgram-
ben, die indirekt auch für den Fremdspra- matik werden in einer Resultatsgrammatik
chenunterricht unverzichtbar ist. nur Ergebnisse präsentiert, wird nicht erör-
tert, wie die Autoren (auch in Auseinander-
2.3. Diachronische vs. synchronische setzung mit anderen Autoren) zu ihren Resul-
Grammatiken taten gekommen sind, werden die Beschrei-
Diachronische Grammatiken erfassen die bungsverfahren nicht explizit entwickelt, be-
Sprache in zeitlich-historischer Veränderung, gründet und problematisiert. Problemgram-
also z. B. vom Alt- über das Mittel- zum Neu- matiken müssen nicht notwendig vollständig
hochdeutschen. Synchronische Grammatiken sein, basieren in der Regel aber auf einer ein-
beschreiben dagegen die Sprache in ihrem heitlichen theoretischen Grundlage ⫺ im Un-
Funktionieren zu einem bestimmten Zeit- terschied zu Resultatsgrammatiken, die (da
punkt (z. B. die deutsche Sprache der Gegen-
auf Vollständigkeit bedacht) oft Einsichten
wart). Während die Junggrammatiker des
verschiedener Grammatiktheorien nutzen.
19. Jh.s allein eine diachronische Grammatik
für wissenschaftlich hielten (vgl. Paul 1898, Diese Unterscheidung deckt sich weder ein-
19f.), hat sich das Verhältnis mit de Saussure fach mit der zwischen wissenschaftlichen und
(1931, 96ff.) umgekehrt, der nicht nur beide Gebrauchsgrammatiken (obwohl Problem-
Richtungen getrennt, sondern auch die Wis- grammatiken immer wissenschaftliche Gram-
senschaftlichkeit einer synchronischen Gram- matiken sind) noch mit der zwischen Mutter-
matik legitimiert (und sie der diachronischen und Fremdsprachengrammatik (obwohl für
Grammatik übergeordnet) hat. Allerdings den Lerner im Fremdsprachenunterricht eine
wird man den von ihm postulierten antinomi- Resultatsgrammatik im Mittelpunkt stehen
schen Gegensatz kaum aufrechterhalten kön- muss).
14. Arten und Typen von Grammatiken 177

2.6. Produktions- vs. solche Bereiche vernachlässigt werden kön-


Rezeptionsgrammatiken nen, die in der Muttersprache nicht fehleran-
Manchmal wird (z. B. Heringer 1988) zwi- fällig sind.
schen einer Produktions- und einer Rezep- d) Das führt zu unterschiedlichen Propor-
tionsgrammatik unterschieden. Eine solche tionen: Eine FSG muß viele Sachverhalte
Unterscheidung wird freilich nicht von allen enthalten, die in einer MSG nur am Rande
Richtungen akzeptiert, vor allem nicht von oder gar nicht dargestellt werden (müssen),
jenen, die mit Chomsky (1969, 13ff.) davon weil die Lehrer einer Fremdsprache fortlau-
ausgehen, dass die Grammatik die Kompe- fend auf Fehler treffen, denen sie im Mutter-
tenz des idealen Sprechers/Hörers zu model- sprachunterricht (aus der „Binnenperspek-
lieren habe und deshalb neutral gegenüber tive“) nicht begegnen.
Sprecher/Hörer sei, die ihrerseits von der 2.8. Einzelsprachliche vs. konfrontative
Grammatik erst in der Performanz Gebrauch (kontrastive) Grammatiken
machen. Produktive und rezeptive Gramma-
tiken stellen zwar die gleichen Sachverhalte Für den Fremdsprachenunterricht spielen ne-
dar und benutzen auch die gleiche Beschrei- ben einzelsprachlichen vor allem auch kon-
bungssprache, unterscheiden sich aber durch frontative Grammatiken eine wichtige Rolle.
eine andere Perspektive und durch andere Der konfrontative Sprachvergleich unter-
Benutzungssituationen: Bei der produktiven scheidet sich vom historischen, arealen und
Grammatik geht es um die „aktive Kompe- typologischen Sprachvergleich, obwohl die
tenz“ des Sprechers (und den Weg vom Inhalt klassische Komparativistik und die Sprachty-
zur Form), bei der rezeptiven Grammatik um pologie Quellen für den heutigen synchroni-
die „passive Kompetenz“ des Hörers bzw. schen konfrontativen Sprachvergleich dar-
Rezipienten (und den Weg von der Form stellen. Es waren jedoch vor allem praktische
zum Inhalt). Bedürfnisse des Fremdsprachenunterrichts,
die die Entwicklung des konfrontativen
2.7. Muttersprachen- vs. Sprachvergleichs stimuliert haben (vgl. Hel-
Fremdsprachengrammatiken big 1976, 9ff.). Die ursprüngliche kontrastive
Grammatiken für den Muttersprachenunter- Linguistik war mit dem (praktischen) Ziel an-
richt (⫽ MSG) und Grammatiken für den getreten, die Probleme zu finden, die die
Fremdsprachenunterricht (⫽ FSG) unter- Sprecher einer Sprache haben würden, wenn
scheiden sich ⫺ bedingt durch den verschie- sie eine andere Sprache lernen ⫺ in der An-
denen Zweck und Benutzerkreis ⫺ in folgen- nahme, dass die in der Muttersprache ähn-
der Weise (vgl. Helbig 1981, 52ff.; Helbig/Bu- lichen Elemente leichter erlernbar, die von
scha 1984, 17ff.): der Muttersprache divergierenden Elemente
aber schwierig sein würden (vgl. Lado 1964,
a) Eine MSG ist vornehmlich auf die Be- 215; Fries 1945, 9). Diese Annahme hat sich
wusstmachung und Systematisierung sprach- jedoch als falsch herausgestellt, weil die
licher Regeln gerichtet, über die der Mutter- schwierigen Stellen beim Erlernen einer
sprachler auf Grund seiner sprachlichen Fremdsprache keineswegs nur im Bereich
Kompetenz (seines „Sprachgefühls“) bereits starker Kontraste lokalisiert werden können,
vor der grammatischen Unterweisung intuitiv weil vielmehr gerade auch Ähnlichkeiten
verfügt. Während eine MSG von dieser Kom- äußerst fehlergefährdet sind (vgl. Juhász
petenz ausgehen und sich auf sie stützen 1970, 92ff.), weil ⫺ noch allgemeiner gespro-
kann, muss eine FSG (da dem Lerner zu- chen ⫺ der Schwierigkeitsgrad beim Erlernen
nächst die Kompetenz in der zu erlernenden einer Sprache keine direkte und proportio-
Sprache fehlt) dazu beitragen, diese Kompe- nale Folge von Strukturdifferenzen zwischen
tenz erst aufzubauen. zwei Sprachen ist. Deshalb wurde ⫺ im Un-
b) Bedingt durch die „Außenperspektive“ terschied zur ursprünglichen kontrastiven
(vgl. Weinrich 1979, 2ff.), müssen die Regeln Linguistik, die nur auf die Kontraste ausge-
in einer FSG expliziter sein als in einer MSG; richtet war ⫺ sehr bald die Forderung nach
diese Regeln sollten möglichst genau ange- einer umfassenderen konfrontativen Lingu-
ben, wie richtige Sätze gebildet, interpretiert istik artikuliert (vgl. Zabrocki 1970; Coseriu
und verwendet werden. 1970), die sowohl Unterschiede als auch Ge-
c) Die fehlende Kompetenz führt auch zur meinsamkeiten zwischen verschiedenen Spra-
Forderung nach (größtmöglicher) Vollstän- chen aufzudecken habe. Dadurch wurde die
digkeit für die FSG, während in einer MSG alte Einsicht „Beschreiben vor Vergleichen“
178 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

gefestigt, d. h. die Einsicht, dass eine kon- Lehrern schon immer betrieben wird) wies
frontative Darstellung ⫺ wenn sie nicht Fehler nach, die von der kontrastiven Ana-
aphoristisch bleiben will ⫺ die vorherige Be- lyse nicht vorhergesagt worden waren, und
schreibung der zu vergleichenden Einzelspra- sie konnte Fehler nicht nachweisen, die von
chen voraussetzt. Der Vergleich kann die der kontrastiven Analyse vorhergesagt wor-
vollständige Beschreibung der zu vergleichen- den waren. Dieser Widerspruch ist jedoch
den Einzelsprachen weder ersetzen noch ab- nur scheinbar, denn in Wahrheit sind Fehler-
kürzen (vgl. Růžička 1969, 169f.), weil er analyse und kontrastive Analyse eher kom-
mindestens zwei Grammatiken von Einzel- plementär und verfolgen nicht völlig dasselbe
sprachen voraussetzt, die miteinander und Ziel (es gibt unterschiedliche Arten von Feh-
zueinander in Beziehung gesetzt werden. lern, keineswegs alle sind von der Mutter-
Auf diese Weise wurde die ursprüngliche sprache her bedingt). e) Aus der Fehlerana-
Euphorie der kontrastiven Grammatiken lyse erwuchsen Vorstellungen und Theorien,
stark gedämpft, schlug die anfängliche Über- nach denen sich im Prozess des Lernens von
bewertung zunehmend in Kritik und Unter- Fremdsprachen „Zwischensprachen“ oder
bewertung um, die unterschiedliche Ursachen „approximative Systeme“ herausbilden. Als
und Ausgangspunkte hatte (vgl. Helbig 1981, Signale für diese „Zwischensprachen“ werden
77ff.; 1986c, 273ff.): a) Die ursprünglichen bestimmte Fehler angesehen, die von der
Ziele, aus sprachlichen Strukturdifferenzen in Muttersprache der Lernenden weitgehend
direkter Weise Schwierigkeitsgrade zu pro- unabhängig sind. Die „Kontrastiv-Hypo-
gnostizieren, erwiesen sich als „Falschziele“ these“ wurde ergänzt bzw. ersetzt durch die
(Raabe 1976, 29f.). b) Die Vorstellung, aus „Interims-Hypothese“. ⫺ Insgesamt wird
einzelsprachlichen Grammatiken sofort kon- man sich gleichermaßen vor einer Über- wie
frontative Grammatiken entwickeln zu kön- vor einer Unterbewertung der konfrontativen
nen, erwies sich ebenfalls als zu einfach, weil Grammatik hüten müssen. Vielmehr kommt
sich der Vergleich keineswegs direkt aus den es darauf an, ihre Möglichkeiten und Gren-
einzelsprachlichen Grammatiken ergibt. Es zen genauer auszuloten (vgl. Helbig 1976;
wurde immer deutlicher, dass zwischen bei- 1986c), um zu erkennen, was sie leisten, was
den (als theoretische Voraussetzung für die sie nicht leisten und was sie nur im Zusam-
Konfrontation) eine wichtige Stufe einge- menhang mit anderen (Teil-)Disziplinen lei-
schoben werden muss, auf der zunächst die sten kann.
Vergleichbarkeit festgestellt werden muss: Es Überdies verbirgt sich hinter dem Termi-
handelt sich einerseits um die Vergleichbar- nus „konfrontative Grammatik“ nicht immer
keit im Objekt Sprache; es muss ermittelt dasselbe. Mindestens sollte zweierlei un-
werden, welche Erscheinungen in den zu ver- terschieden werden (vgl. Helbig 1981, 74ff.):
gleichenden Sprachen miteinander kompara- a) Man kann eine Sprache in Bezug auf eine
bel sind (da sich die Kategorien nicht not- andere ohne Tertium comparationis (als Me-
wendig decken). Andererseits muss nach der tasprache) darstellen: Die Ausgangssprache
Vergleichbarkeit der Beschreibungen gefragt ist das Bezugssystem für die Beschreibung
werden: Es genügt nicht das Vorliegen von der Zielsprache (nur diese wird vollständig
Einzelbeschreibungen schlechthin, sondern und systematisch beschrieben), der Vergleich
diese müssen in ihrer Art theoretisch, metho- ist nur in einer Richtung (unilateral) ver-
dologisch und terminologisch miteinander wendbar. Andererseits gibt es die Möglichkeit
vergleichbar sein. c) Manchmal wird der einer vollständigen Beschreibung der Ge-
praktische Wert der konfrontativen Gram- meinsamkeiten und Unterschiede beider
matik mit der Begründung in Frage gestellt, Sprachen, die dann gleichwertig sind und auf
dass der Lerner nicht bewusst über die Struk- ein metasprachliches Bezugssystem (als Ter-
turen seiner Muttersprache verfüge und folg- tium comparationis außerhalb der beiden
lich auch nicht konfrontieren könne. Bei die- Einzelsprachen) bezogen werden. Ein solcher
ser Begründung wird aus einer richtigen Prä- Vergleich ist in beiden Richtungen (bilateral)
misse ein unzulässiger Schluss gezogen, da verwendbar. b) Bei der Konfrontation kann
die primären Benutzer der konfrontativen es sich um eine Ermittlungs- oder um eine
Grammatiken nicht die Lerner, sondern die Darstellungsmethode handeln (vgl. Jäger
Lehrbuchautoren und die Lehrer ⫺ als Ver- 1972, 233ff.): Wenn die Konfrontation als
mittlungsinstanzen zwischen Sprachwissen- Methode zur Ermittlung linguistischer Er-
schaft und Fremdsprachenunterricht ⫺ sind. kenntnisse benutzt wird, ist in der Regel nur
d) Die empirische Fehleranalyse (wie sie von eine Sprache (vollständiger) Gegenstand der
14. Arten und Typen von Grammatiken 179

Darstellung, die andere ist (gelegentliche) Be- Bezug genommen. Die Klassifikationskrite-
zugsgröße, weil eine Sprache im Spiegel (in rien für grammatische Einheiten sind unein-
den Termini) der anderen beschrieben wird heitlich, heterogen und nicht systematisch be-
(wie das intuitiv von Fremdsprachenlehrern gründet (da die verschiedenen „Ebenen“
schon lange getan wird). Wenn die Konfron- nicht deutlich genug unterschieden werden).
tation dagegen als Methode der Darstellung Die Arbeitsweise der traditionellen Gramma-
linguistischer Erkenntnisse dient ⫺ das ist tik ist zumeist „intuitionistisch“, d. h., statt
weit anspruchsvoller ⫺, sind beide Sprachen der Formulierung expliziter Regeln wird an
gleichwertiger, systematischer und vollständi- die Intuition des Lesers appelliert, der oft aus
ger Gegenstand (die Sprachmittel werden sy- Beispielen die Regeln selbst rekonstruieren
stematisch korreliert). muss. Bei der Erklärung von Erscheinungen
der Gegenwartssprache werden vielfach syn-
2.9. Linguistische vs. didaktische chronische und diachronische Aspekte ver-
Grammatiken mischt. Die traditionellen Grammatiken ⫺
Linguistische Grammatiken bedürfen für die soweit sie nicht historisch sind ⫺ sind zu-
Zwecke des Fremdsprachenunterrichts im- meist normativ ausgerichtet (vgl. 2.2.), des-
mer der Umsetzung in didaktische Gramma- halb auch nicht frei von Vorurteilen gegen-
tiken, letztlich in unmittelbare Lehr- und über dem tatsächlichen Sprachgebrauch. Sie
Lernmaterialien, die einer Progression unter- sind primär an der geschriebenen, nicht an
liegen und dem Lerner direkt präsentiert wer- der gesprochenen Sprache orientiert. Ihr
den (können). Diese Umsetzung, Adaption Kernstück ist die Lehre von den Wortarten
bzw. Applikation ist von verschiedenen und den Satzgliedern; auch bei diesen Grund-
(außerlinguistischen) Faktoren abhängig und einheiten ist die Uneinheitlichkeit der Klassi-
führt zu unterschiedlichen Arten von Gram- fizierungskriterien zunehmend stärker kriti-
matiken. Vgl. dazu ausführlich Art. 15. siert worden.
3.3. Strukturalistische Grammatik
3. Typen von Grammatiken „Strukturalistische Grammatik“ oder „Struk-
turalismus“ gilt als Sammelbegriff für ver-
3.1. Grammatiken und Grammatiktheorien
schiedene Schulen und Konzeptionen in der
Grammatiken sind abhängig von Gramma- Sprachwissenschaft, die sich auf de Saussure
tiktheorien bzw. -modellen, die den theoreti- berufen, sich gegen die ältere Sprachwissen-
schen Hintergrund für einzelsprachliche schaft (sowohl gegen die junggrammatische
Grammatiken darstellen. Auf Grund dieser Schule als auch gegen die traditionelle Schul-
Abhängigkeit ergeben sich verschiedene Ty- grammatik) richten und ein neues Paradigma
pen von Grammatiken (die auf den Fremd- geschaffen haben (vgl. Helbig 1986a, 33ff.;
sprachenunterricht unterschiedliche Auswir- 1986b, 15ff.). Diese Neuorientierung bei de
kungen haben). Saussure (1916) beruhte auf den Grundideen,
a) dass die Sprache als System („langue“) zu
3.2. Traditionelle Grammatik unterscheiden ist von der aktuellen Realisie-
Unter „traditionellen Grammatiken“ werden rung des Systems durch den Sprecher im Ge-
gewöhnlich „vorstrukturalistische“ Gramma- brauch der Sprache („parole“), dass der Ge-
tiken (vor allem: ältere Schulgrammatiken) genstand der Sprachwissenschaft die „lan-
verstanden, die in der Tradition der aristoteli- gue“ ist (unabhängig vom individuellen Spre-
schen Logik und der lateinischen Grammatik chen); b) dass dieses System nur wahrgenom-
stehen (für das Deutsche z. B. von K. F. Bek- men wird in der Synchronie, dass deshalb
ker, Heyse, Blatz, Sütterlin). Ihnen kommen nicht nur streng zwischen synchronischer und
folgende Eigenschaften zu (die später beson- diachronischer Sprachwissenschaft unter-
ders von den strukturalistischen Grammati- schieden, sondern auch die synchronische
ken kritisiert worden sind): Ihre Kategorien Sprachwissenschaft als primär angesehen
und Termini sind an der griechischen Logik werden müsse; c) dass die Sprache ein System
und der lateinischen Grammatik orientiert von Zeichen und ein Zeichen immer bilateral
und werden von dort auf die modernen Spra- ist, d. h. die Verbindung einer Lautform (des
chen übertragen. Der Ausgangspunkt ist zu- Bezeichnenden) und einer Bedeutung (einem
meist formbezogen; auf der anderen Seite Bezeichneten); d) dass das Zeichen eine
wird vielfach auf (ungenügend definierte) se- Größe im internen Relationssystem der Spra-
mantische und außersprachliche Kriterien che ist, dass die Sprache eine immanente
180 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

Struktur hat und ein System von Werten ist lyse (vor allem die Analyse der unmittelbaren
(deren Glieder sich alle gegenseitig bedingen), Konstituenten durch Segmentierung in Phra-
dass die Sprachwissenschaft folglich eine sen, die die Hierarchie der sprachlichen
autonome Wissenschaft ist, die ihre Gegen- Struktur bloßlegt), die Substitution (Ersatz
stände ohne Rückgriff auf außersprachliche einer sprachlichen Einheit im gleichen Kon-
(logische, psychologische, historische, geistes- text durch eine andere), die Transformation
wissenschaftliche u. a.) Erklärungen in ihren (Umwandlung von syntaktischen Einheiten
internen Beziehungen (als Form und nicht als ohne Veränderung der lexikalischen Ele-
Substanz) zu beschreiben habe. mente), die Permutation (Umstellung im
Auf der Basis dieser Grundideen entwik- Satz) u. a. Mit Hilfe dieser Methoden und
kelten sich zunächst verschiedene Schulen des unter Verzicht auf die Bedeutung (als Aus-
„klassischen Strukturalismus“ mit teilweise gangskriterium) war es möglich, Grammatik-
recht divergierenden Konzepten (vor allem: beschreibungen für den Fremdsprachenun-
die Prager funktionale Linguistik, die Kopen- terricht bereitzustellen (für das Englische vgl.
hagener Glossematik und der amerikanische Fries 1952). Für das Deutsche hat ⫺ unab-
Deskriptivismus). Die weitreichendste Wir- hängig davon ⫺ Glinz (1952) im Sinne seines
kung ⫺ sowohl für die Linguistik als auch „empirischen Strukturalismus“ den Versuch
für den Fremdsprachenunterricht ⫺ hatte gemacht, mit Hilfe sprachimmanenter „Expe-
wohl der amerikanische Strukturalismus, der rimente“ (Ersatz-, Verschiebe- und Weglass-
mit dem Behaviorismus verbunden war und probe) ⫺ ähnlich den Proben von Chemikern
sich auf das sichtbare und beobachtbare und Physikern mit ihren Stoffen ⫺, be-
äußere Verhalten (behavior) konzentrierte stimmte Einheiten zu ermitteln (z. T. auch
(vgl. Bloomfield 1933). Das führte zu einer Einheiten, die uns so aus der traditionellen
physikalistischen Beschränkung der Sprach- Grammatik nicht bekannt sind), die er dann
wissenschaft auf den eigentlichen Sprechakt, ⫺ erst in einem zweiten Schritt ⫺ nach ihrem
der nur aus Formen besteht, und zu einem Inhalt interpretiert. Deshalb gehören zum
Ausschluss der Bedeutung aus der Sprachwis- Stichwort „strukturalistische Grammatik“
senschaft („meaning“ als die dem Sprechakt nicht nur rein distributionelle Grammatiken
entsprechenden außersprachlichen Stimulus- (die eine Klassifizierung von Oberflächenele-
und Reaktionselemente). Die Bedeutung menten allein nach ihrer Verteilung anstre-
wurde nicht ausgeschlossen, weil man sie für ben), sondern auch „operationale Grammati-
unwesentlich ansah, sondern deshalb, weil ken“, die den Prozess der Regelfindung mit
man ihre exakte Beschreibung für unmöglich Hilfe strukturalistischer Analyseverfahren
hielt. Einen Teil der Bedeutung glaubte man, zum Hauptgegenstand machen.
über die Formen und ihre Verteilung (Distri-
bution) erfassen zu können. Die Erkenntnis 3.4. Generative Grammatik
der Distribution wurde schließlich zur Die generative Grammatik (⫽ GG) ist zwar
Hauptaufgabe der deskriptiven Linguistik aus dem amerikanischen Distributionalismus
(vgl. Harris 1951) ⫺ deshalb spricht man von entstanden, führte aber sehr bald über ihn
„Distributionalismus“ ⫺: Die kleinsten Ein- hinaus und stellte sich in einen deutlichen
heiten sollten zunächst im Redefluss segmen- Gegensatz zu ihm. Sie will keine bloße Seg-
tiert und die Segmente danach ⫺ auf Grund mentierung und Klassifizierung konkreter
ihrer Distribution in unterschiedlichen Um- Sprachdaten sein, vielmehr eine abstrakte
gebungen ⫺ zu Klassen zusammengefasst Theorie mit dem Ziel, mit Hilfe eines axioma-
werden. tischen Systems von expliziten Regeln das im-
Trotz der oft (und mit Recht) kritisierten plizite Wissen des idealen Sprechers/Hörers
„Bedeutungsfeindlichkeit“ der amerikani- von seiner Sprache erfassen, das dem aktuel-
schen Deskriptivisten (und der damit verbun- len Sprachgebrauch zugrunde liegt. Vor allem
denen Einengung des Gegenstandsbereichs will sie die grammatischen Sätze einer Spra-
der Sprachwissenschaft) haben sie die Sprach- che von den ungrammatischen trennen und
wissenschaft und den Fremdsprachenunter- die Struktur der grammatischen Sätze auf
richt dadurch bereichert, dass sie Wege für den verschiedenen Ebenen aufweisen. Inso-
eine exakte Beschreibung von Einzelsprachen fern versteht sich die GG nicht als bloße Be-
gewiesen und ein Inventar von neuen Metho- schreibung von gegebenen Sprech- und
den entwickelt haben: die Distribution (als Schreibereignissen, sondern als Explizierung
Summe aller Umgebungen, in denen ein Ele- unserer Intuitionen über die Sprache mit
ment auftreten kann), die Konstituentenana- Hilfe eines Regelmechanismus, der alle gram-
14. Arten und Typen von Grammatiken 181

matischen Sätze einer Sprache ⫺ und nur einem Transformationsteil, der diese Tiefen-
diese ⫺ erzeugt (generiert). Allerdings haben strukturen in Oberflächenstrukturen über-
sich die Wege zu diesem Ziel stark verändert, führt (vgl. Helbig 1968b, 104f.):
sind in rascher Folge unterschiedliche „Ver-
sionen“ der GG ausgearbeitet worden.
Ersetzungsregeln
Syntax
3.4.1. Die erste Version hat Chomsky (1957) Lexikon
entwickelt, ausgehend von drei Repräsenta-
tionsebenen: Phrasenstrukturregeln weisen Transforma-
Tiefenstruktur Grammatik
für jeden Satz die Konstituentenstruktur auf, tionsregeln
Transformationsregeln verwandeln die gege-
bene Konstituentenstruktur in neue Ketten Oberflächenstruktur
von abgeleiteten Konstituentenstrukturen,
morphophonemische Regeln setzen die Mor-
phem- in Phonemsequenzen um. Es gibt eine Phonologie Semantik
endliche Menge von „Kernsätzen“ (die nur
durch Phrasenstrukturregeln und obligatori- Abb. 14.1
sche Transformationen erzeugt werden), aus
denen durch weitere Transformationen alle Diese zweite Version der GG (Standardtheo-
Sätze einer Sprache abgeleitet werden kön- rie) akzentuiert den fundamentalen Unter-
nen. Jeder Satz gehört entweder zum Kern schied zwischen der Kompetenz (dem implizi-
oder kann vom Kern durch Transformatio- ten Wissen des Sprechers/Hörers von seiner
nen abgeleitet werden. Die neue Ebene der Sprache) und der Performanz (dem, was der
Transformationen (deshalb auch: „generative Sprecher bei der tatsächlichen Verwendung
Transformationsgrammatik“) erlaubt es ⫺ der Sprache in konkreten Situationen tut).
im Unterschied zum distributionalistischen Die Grammatik muss aus den beobachtbaren
Strukturalismus ⫺, die Anwendung von Daten der Verwendung das zugrunde lie-
Phrasenstrukturregeln zu beschränken und gende System von Regeln konstruieren, muss
den potentiell unendlichen Gebrauch von ein Bericht über die Kompetenz sein, wenn
endlichen Mitteln zu erklären. Diese (auf die sie die Fähigkeit des Sprechers erklären will,
Syntax beschränkte) Theorie fußt auf einer beliebige Sätze der betreffenden Sprache zu
beschränkten Menge von Beobachtungen, produzieren und zu verstehen. Dazu gehört
aus denen jedoch allgemeine Gesetze kon- neben den Grammatiken der Einzelsprachen
struiert werden, mit deren Hilfe man in die eine Universalgrammatik, weil die GG eine
Lage versetzt wird, neue Sätze (auch solche, Hypothese sein will über die angeborene Fä-
die man nicht in Texten gefunden hat) vor- higkeit der Sprachbildung bei Menschen. Der
herzusagen („prädiktive Kraft“). Prozess des Spracherwerbs wird gesehen in
Analogie zur Arbeit des Linguisten, der eine
3.4.2. Diese asemantische Theorie der Syntax Grammatik auf der Basis gegebener Daten
hat Chomsky (1965; 1969) weiterentwickelt konstruiert. Im Gegensatz zum deskriptiven
zum „Standardmodell“ der GG: Die syntak- Strukturalismus stellt sich Chomsky jetzt auf
tische Komponente wird jetzt spezifiziert in die Seite des Mentalismus und Rationalismus
eine Tiefenstruktur (als Grundlage für die se- (von Humboldt und Descartes). Mit der An-
mantische Interpretation) und eine Oberflä- nahme eines angeborenen Spracherwerbsme-
chenstruktur (als Grundlage für die phonolo- chanismus auf der Basis von Universalien er-
gische Interpretation), weil ⫺ im Unterschied weitert er seine (ursprünglich asemantische)
zur strukturalistischen Grammatik ⫺ Tiefen- Syntaxtheorie nicht nur zu einer (umfassen-
und Oberflächenstruktur nicht gleichgesetzt deren) Grammatiktheorie (die er zugleich als
werden dürfen. Die Grammatik enthält eine Sprachtheorie versteht), sondern auch zu ei-
syntaktische, eine semantische und eine pho- ner Theorie des Spracherwerbs.
nologische Komponente, von denen nur die
syntaktische Komponente generativ ist (die 3.4.3. Die Standardtheorie leitete eine Phase
anderen Komponenten sind interpretativ). schneller Veränderungen und Spaltungen in-
Die syntaktische Komponente ihrerseits be- nerhalb der GG ein: Auf der einen Seite
steht aus einem Basisteil (mit Ersetzungsre- führte die Kritik an ihr zu ihrer Verwerfung
geln und ⫺ auch das ist neu ⫺ einem Lexi- und zu den alternativen Modellen der genera-
kon), der die Tiefenstrukturen generiert, und tiven Semantik und der Kasustheorie (vgl.
182 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

3.6.), auf der anderen Seite zu ihrer Modifi- sprachlicher Ausdrücke zusammenwirken,
kation und Erweiterung durch Chomsky dass es ⫺ neben dem Sprachsystem ⫺ andere
selbst (und einige seiner Anhänger). Aus- kognitive Systeme mit spezifischen Eigen-
gangspunkt dafür war das Verhältnis von schaften gibt, die wieder aus getrennten, aber
Syntax und Semantik und besonders die Ein- zusammenwirkenden Komponenten zusam-
sicht, dass die von Chomsky angenommene mengesetzt sind und mit der Grammatik zu-
syntaktische Tiefenstruktur (mit den gram- sammenwirken. Es bleibt folglich bei der
matischen Relationen wie z. B. Subjekt/Ob- Trennung von Syntax und Semantik; die we-
jekt-von) für die semantische Interpretation sentliche Rolle der Semantik (und anderer
nicht ausreicht. Chomsky selbst hat seine Module, z. B. des konzeptuellen Systems)
Standardtheorie in mehreren Stufen revidiert hebt die (relative) Autonomie der Syntax
und erweitert: a) Zwischen 1968 und 1970 nicht auf und führt auch nicht zu einer se-
entstand die „Erweiterte Standardtheorie“ mantischen Erklärung der Syntax. Vielmehr
(EST) (vgl. Chomsky 1972), in der zwar die nimmt Chomsky ⫺ außer Regeln und Reprä-
grammatischen Relationen fundamental für sentationen ⫺ jetzt ein zusätzliches System
die semantische Interpretation bleiben, in der von Prinzipien (Rektion, Bindung, themati-
aber andere Aspekte der Bedeutung (z. B. Fo- sche Relation, Kontrolle u. a.) an, die zu den
kus, Topikalisierungen, Präsuppositionen) als generellen Eigenschaften einer UG gehören.
von der Oberflächenstruktur determiniert an- Das Ziel ist es, generelle Eigenschaften von
gesehen werden. b) Spätestens seit Mitte der Sprachen zu postulieren, mit denen zugleich
70er Jahre wird von einer „Revidierten Er- psychische Gesetzmäßigkeiten bei mentalen
weiterten Standardtheorie“ (REST) gespro- Prozessen (des Spracherwerbs und der
chen. Chomsky (1976, 81ff.; 1979, 165) Sprachentwicklung) korrelieren. Auf der Ba-
nimmt nun einen noch radikaleren Umbau sis einer solchen UG sollen durch spezifische
seiner Grammatik vor: Er trennt die beiden Parametrisierungen einzelsprachliche Regeln
ursprünglich der Tiefenstruktur zugeschrie- und Beschränkungen gewonnen werden.
benen Eigenschaften (syntaktischer Aus-
gangspunkt für die Transformationen einer- 3.4.4. Diese verschiedenen Versionen der GG
seits, Basis für die semantische Interpretation lassen erkennen, daß ihr (von Anfang an)
andererseits) und erkennt ihr nur noch die er- zwei Seiten und Ziele eigen sind (die nicht un-
ste Eigenschaft zu. Die Basiskomponente er- abhängig voneinander sind): Auf der einen
zeugt die Tiefenstruktur (D-Struktur), die als Seite ist sie ein Versuch, mit einem subtilen
Ausgangsstruktur („initial P-Marker“) durch formalen Beschreibungsapparat Einzelspra-
Transformationen in eine „seichte Struktur“ chen zu beschreiben, auf der anderen Seite
(S-Struktur) überführt wird, die ihrerseits entwickelte sie den konzeptuellen und philo-
Eingabe sowohl für die semantische als auch sophischen Hintergrund einer Theorie über
für die phonetische Interpretation ist (erst die mentale Repräsentation der Sprache und
letztere führt zur phonetisch interpretierten deren Erwerb (vgl. Fanselow/Felix 1987,
Oberflächenstruktur). Die S-Struktur (nun- 7ff.). Beide Seiten sind jedoch in den einzel-
mehr allein für die semantische Interpreta- nen Versionen unterschiedlich stark akzen-
tion zuständig) ist keine Tiefenstruktur mehr, tuiert: Am Anfang stand eher der Beschrei-
sondern eine Art Oberflächenstruktur, aller- bungsapparat im Vordergrund, später dann
dings eine ⫺ gegenüber der Standardtheorie der konzeptuelle Hintergrund und die UG.
⫺ „bereicherte“ Oberflächenstruktur, berei- Die Entwicklung führte von der „distributio-
chert vor allem durch „Spuren“, die die D- nalistischen“ über die „vermittelnde“ (Gram-
Struktur hinterlassen hat („Spurentheorie“). matik als Vermittlung von Laut und Bedeu-
Dabei werden die Transformationen ⫺ die tung) zur „psychologischen“ Hypothese (vgl.
die D- in S-Strukturen überführen ⫺ erheb- Huck/Goldsmith 1995). Entsprechend war
lich reduziert, letztlich auf eine Bewegungsre- auch die Wirkung auf den Fremdsprachenun-
gel beschränkt. c) Seit etwa 1980 mündet die terricht recht unterschiedlich (je nachdem, ob
Entwicklung in das Government-and-Bind- man eher adäquate Beschreibungen von Ein-
ing-Modell (GB) (Chomsky 1980; 1981) und zelsprachen oder allgemeine Einsichten über
in eine Universalgrammatik (UG), die auf den Spracherwerb erwartete).
dem Prinzip der Modularität beruhen, d. h.
der Einsicht, dass das Sprachsystem aus sub- 3.5. Abhängigkeitsgrammatik und
stantiell, strukturell und funktional eigen- Valenztheorie
ständigen Komponenten (Modulen) besteht, Die Abhängigkeitsgrammatik (Dependenz-
die bei der Bildung und Interpretation grammatik) wurde bekannt vor allem durch
14. Arten und Typen von Grammatiken 183

Tesnière (1959) und versteht sich als struktu- sucht.), ein Verb wie angewöhnen drei obliga-
relle Syntax, die hinter der (eindimensiona- torische Aktanten (*Er gewöhnt das Trinken
len) linearen Redekette die (mehrdimensio- an.), ein Verb wie essen einen obligatorischen
nale) hierarchische strukturelle Ordnung und einen fakultativen Aktanten (Er ißt
sichtbar machen will. Diese tiefere struktu- (Brot).). Die Ergänzungen sind nicht nur
relle Ordnung (die absieht von Wortstellung quantitativ (nach der Zahl), sondern auch
und von morphologischen Markierungen) qualitativ ⫺ und zwar sowohl syntaktisch
beruht auf Konnexionen, d. h. auf Abhängig- nach Satzgliedschaft und morphologischer
keitsbeziehungen zwischen einem regierenden Realisierung als auch semantisch nach inhä-
und mindestens einem regierten Glied, die je- renten Merkmalen ⫺ festlegbar. Deshalb ent-
weils in Abhängkeitsstammbäumen mit ver- standen Valenzwörterbücher zu Verben, Ad-
schieden vielen Gabelungen repräsentiert jetiven und Substantiven, es entwickelte sich
werden. Dabei regiert das Verb ⫺ als Knoten ⫺ nicht nur für das Deutsche ⫺ eine reich-
aller Knoten, als strukturelles Zentrum ⫺ haltige Valenzlexikographie (vgl. Art. 17).
den gesamten Satz (im Unterschied zur binä- Der Valenzbegriff erweiterte sich dabei nicht
ren Subjekt-Prädikat-Struktur sowohl in der nur vom Verb auf andere Wortklassen, son-
traditionellen Grammatik als auch in der dern auch von der syntaktischen auf die se-
Konstituentenstrukturgrammatik): Es steht mantische und schließlich sogar auf die prag-
an der Spitze der Konnexionen im Stamm- matische Ebene: Es wird von „syntaktischer
baum. Vom Verb unmittelbar abhängig sind Valenz“, von „semantischer Valenz“ (vor
die zahlenmäßig begrenzten „actants“ (die allem im Hinblick auf die Verbindung mit der
Handelnden) und die zahlenmäßig unbe- Kasustheorie; vgl. 3.6.) und von „pragmati-
grenzten „circonstants“ (die die Umstände scher Valenz“ (vor allem auf Grund einer
der Handlung angeben). Die Abhängigkeits- Einbindung in „Szenen“ und „Perspektiven“)
grammatik beschränkt sich nicht auf die Be- gesprochen, ohne dass über die Beziehungen
ziehungen der Konnexion, sondern umfasst zwischen diesen Ebenen, den Nutzen einer
auch solche der „Junktion“ (die der Koordi- solchen Erweiterung des Valenzbegriffs und
nation dienen) und solche der „Translation“ die Kriterien für die fundamentale Unter-
(für die Überführung eines Wortes in die Po- scheidung zwischen Ergänzungen („actants“)
sition einer anderen Wortklasse). Am stärk- und freien Angaben („circonstants“) ⫺ auf
sten verbreitet hat sich jedoch die (Teil-) den verschiedenen Ebenen ⫺ völlige Einhel-
Theorie, die sich mit den Konnexionen be- ligkeit besteht. Die Erweiterungsfähigkeit des
fasst, und innerhalb dieser wieder mit jenen Valenzkonzepts ist jedoch ein Indiz für des-
abhängigen Gliedern, die als „actants“ ange- sen Attraktivität (auch für den Fremdspra-
sehen werden. Tesnière vergleicht die Fähig- chenunterricht), zu dem auch psycholingui-
keit eines Verbs, eine bestimmte Zahl von stische Untersuchungen beigetragen haben
„actants“ zu sich zu nehmen, mit der Wertig- (die auf eine Art psychologischer Realität als
keit eines Atoms (in der Chemie) und nennt Korrelat hinzuweisen scheinen).
sie „Valenz“; entsprechend hat er (im Franzö-
sischen) null-, ein-, zwei- und dreiwertige Ver- 3.6. Generative Semantik und Kasustheorie
ben unterschieden. Die generative Semantik (Lakoff, McCawley,
Daraus entwickelte sich die Valenztheorie, Ross) entstand Ende der 60er Jahre aus der
ursprünglich als Teil der Abhängigkeitsgram- GG (vgl. 3.4.), aber zugleich als Alternative
matik entstanden und auf syntaktische Kon- zu deren Standardtheorie. Ausgangspunkt
nexionen ausgerichtet, sehr bald aber über war der Chomskysche Begriff der syntak-
diesen Ausgangspunkt hinausreichend. Der tischen Tiefenstruktur, der als kohärente
als Metapher aus der Chemie in die Sprach- Strukturebene abgelehnt wird, da er für die
wissenschaft übertragene Begriff der Valenz semantische Interpretation nicht ausreicht.
wurde ⫺ im weiteren Sinne ⫺ verstanden als Daraus resultierte ein Umbau des gesamten
die Fähigkeit von sprachlichen Ausdrücken Systems, bei dem die Semantik nicht mehr in-
(vor allem von Verben, aber bald auch von terpretativ, sondern generativ ist. Es entstand
weiteren Wortklassen), um sich herum be- die Kontroverse zwischen interpretativer und
stimmte Leerstellen zu eröffnen, die zahlen- generativer Semantik. In der generativen Se-
mäßig festgelegt und obligatorisch oder fa- mantik wird die strikte Trennung zwischen
kultativ zu besetzen sind. So verlangt z. B. im Semantik und Syntax aufgehoben; statt des-
Deutschen ein Verb wie besuchen zwei obliga- sen werden die semantischen Strukturen er-
torische Aktanten (Ergänzungen) (*Er be- zeugt mit Hilfe einer der Prädikatenlogik an-
184 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

gelehnten Art (einer „natürlichen Logik“) komponente eine Proposition enthält, die
und dann (ohne vermittelnde Ebene einer sich ihrerseits zusammensetzt aus einem Verb
„Tiefenstruktur“) in die Oberflächenstruktur und einer bestimmten Zahl und Art von Tie-
überführt. Der Darstellung der semantischen fenkasus, die in regulärer Weise miteinander
Struktur liegt die Auffassung zugrunde, dass verbunden sind und den entsprechenden
nur drei Kategorien nötig sind, dass die Pro- „Satz“- oder „Kasusrahmen“ bilden. Damit
position (⫽ Satz) aus einem (semantischen) werden auf semantischer Ebene ähnliche Be-
Prädikat (in der Regel: Verb) und einem oder ziehungen erfasst, wie sie die ⫺ von ganz an-
mehreren Argumenten (in der Regel: Nomi- deren Positionen (der Abhängigkeitsgramma-
nalphrasen) besteht, die wiederum eine Pro- tik) ausgehende ⫺ Valenztheorie auf syntak-
position in sich enthalten können. Entspre- tischer Ebene zu beschreiben versucht (vgl.
chend stellen sich auch lexikalische Einheiten 3.5.). Es entstand eine (fruchtbare) Liaison
als strukturierte und hierarchische Komplexe von Valenz- und Kasustheorie: Was „seman-
von solchen Prädikaten dar, z. B. tische Valenz“ genannt wird, wird zuneh-
mend in der Terminologie der Kasustheorie
„geben“ beschrieben (die Aktanten des Valenzträgers
werden klassifiziert z. B. als Agens, Instru-
Präd.1 Arg. Arg.
mental, Lokativ (vgl. Helbig 1992b, 17ff.).
Allerdings gibt es heute nicht die Kasus-
theorie (ebensowenig wie die Valenztheorie),
[CAUS] a Präd.2 Arg. sondern recht unterschiedliche Kasustheorien
(und Valenztheorien). Sie unterscheiden sich
nicht nur in divergierenden Vorstellungen
[INCHO] Präd.3 Arg. Arg. über die Zahl der semantischen Kasus (ihre
Liste ist fortwährend modifiziert worden)
[HAB] b c und den verwendeten Abgrenzungskriterien,
sondern vor allem auch hinsichtlich des Sta-
Abb. 14.2 tus dieser Tiefenkasus. Manche setzen sie re-
lativ oberflächennahe, andere sehr oberflä-
Dabei sind a, b und c Variable, [CAUS], chenfern (z. T. ontologisch oder universal)
[INCHO] und [HAB] Termini für solche Ele- an. Fillmore selbst (1977) hat sein ursprüngli-
mentarprädikate („abstrakte Verben“). Ent- ches (eher ontologisch ausgerichtetes) Kon-
sprechend ließe sich die Bedeutung von geben zept inzwischen modifiziert und eine Zuord-
etwa verbalisieren: a veranlasst eine Verände- nung der Kasus zu (situativen) „Szenen“ und
rung, die zum Beginn eines neuen Zustands unterschiedlichen „Perspektiven“ auf sie vor-
führt, in dem ein b ein c hat. ⫺ genommen (da außersprachliche Sachver-
Ausgangspunkt für die vor allem von Fill- halte immer nur durch sprachliche Perspekti-
more (1968; 1971) begründete Kasustheorie vierung gebrochen ausgedrückt werden kön-
war ebenfalls die Einsicht, dass die in der nen). Damit verbunden waren Versuche, die
Standardtheorie der GG angenommene syn- semantischen Kasus „pragmatisch“ einzubin-
taktische Tiefenstruktur (mit den grammati- den und zu erklären. Schon vorher ⫺ durch
schen Relationen) für die semantische Inter- die Auffassung der Kasus als Relationen und
pretation nicht ausreicht. Statt dessen setzte Funktionen (von Argumenten) ⫺ war das
er für die Tiefenstruktur noch „tiefere“ Be- (theoretische) Problem entstanden, welchen
griffe an, die als „semantische Kasus“ oder Erklärungswert die Kasus als Zwischenin-
„Tiefenkasus“ bezeichnet werden (zunächst: stanzen im Vermittlungsprozess zwischen
Agentiv, Instrumental, Dativ (⫽ Experien- Syntax (Aktanten und Satzgliedern) und Se-
cer), Faktitiv (⫽ Resultativ), Lokativ, Objek- mantik (Argumenten) haben. Ihre (prakti-
tiv), die nicht verwechselt werden dürfen mit sche) Bedeutung z. B. für Lexikographie,
den herkömmlichen Oberflächenkasus (No- Grammatikographie und Fremdsprachenun-
minativ, Genitiv u. a.). Vielmehr sind diese terricht dürfte indes unbestritten sein.
Oberflächenkasus nur morphologische Reali-
sierungen dieser Tiefenkasus und neutralisie- 3.7. Funktionale und pragmatische
ren z. T. auch die semantischen Kasusrelatio- Grammatik
nen. Auf diese Weise wird den „Subjekt-Ob- Von „funktionalen“ Grammatiken ist oft in
jekt-Grammatiken“ eine Kasusgrammatik Abgrenzung von „formalen“ oder „struktu-
gegenübergestellt, die neben der Modalitäts- rellen“ Grammatiken die Rede. Aber hinter
14. Arten und Typen von Grammatiken 185

diesem Stichwort verbergen sich recht unter- nersprachliche Gegebenheiten (der Laut-Be-
schiedliche Sachverhalte und Richtungen ⫺ deutungs-Zuordnung) in Beziehung gesetzt
bei der Mehrdeutigkeit des Funktionsbegrif- zu und abgeleitet aus kommunikativ-pragma-
fes (vgl. Helbig 1968) gewiss nicht verwun- tischen Faktoren (kann von „pragmatischer
derlich ⫺: a) eine Richtung, die ⫺ im Gegen- Grammatik“ gesprochen werden). Über die
satz zur GG ⫺ vom Primat der funktionalen Legitimität einer solchen „pragmatischen
über die kategorialen Begriffe ausgeht, dabei Grammatik“ gibt es sehr kontroverse Auffas-
auch gegebenenfalls nach den verschiedenen sungen: Die Befürworter halten sie für not-
Ebenen differenziert ⫺ in syntaktische Funk- wendig auf Grund der kommunikativ-prag-
tionen (Subjekt, Objekt u. a.), semantische matischen Orientierung der Linguistik gene-
Funktionen (Agens, Goal u. a.) und pragma- rell (seit etwa 1970), ihre Gegner halten sie
tische Funktionen (Thema⫺Rhema, Topik⫺ für ungerechtfertigt, weil diese Orientierung
Fokus u. a.) (vgl. Dik 1978; 1987, 37ff.); nicht notwendig zu einem neuen Typ von
b) eine Richtung, die Beschreibungen an- Grammatik führen müsse, die kommunikati-
strebt, die nicht nur grammatisch adäquat ven Faktoren zwar ihre Projektionen in der
sein, sondern auch der psychologischen Rea- Grammatik haben, die Grammatik selbst
lität (und damit auch dem Spracherwerb) aber Grammatik bleibe. Auf jeden Fall wird
weitgehend entsprechen sollen, manchmal dabei die Grenze dessen, was Grammatik ⫺
auch als „realistische Grammatik“ bezeich- auch im weiteren Sinne (vgl. 1.2.) ⫺ umfasst,
net; c) mehrere Richtungen, die Formen und überschritten; die Intentionen sind Basis für
Bedeutungen sprachlicher Mittel unter dem andere Teiltheorien (vor allem: der Sprech-
Gesichtspunkt ihrer Intention, ihrer kommu- akttheorie) geworden. Und grammatische Ei-
nikativen Leistung (⫽ Funktion) erfassen genschaften und Intentionen/Sprechhandlun-
wollen. gen decken sich durchaus nicht immer (z. B.
Umstritten sind besonders b) und c). Der führen Fragehandlungen nicht notwendig zu
Forderung nach „psychologischer Realität“ Fragesätzen, Aufforderungen können auch
der Grammatik bei b) widersprechen andere vollzogen werden durch Aussage- und Frage-
Autoren und halten dies für einen „psycho- sätze ⫺ vgl. Wunderlich 1978, 181ff.).
linguistischen Trugschluss“, weil auf diese
Weise ungerechtfertigt „linguistische Gram-
matiken“ (als Produktgrammatiken) und 4. Literatur in Auswahl
„psycholinguistische Grammatiken“ (als
Bloomfield, Leonard (1933): Language. London.
Prozessgrammatiken) gleichgesetzt werden.
Grammatiken vom Typ c) werden unter ver- Chomsky, Noam (1957): Syntactic Structures.
schiedenen Stichwörtern vorgelegt: funktio- ’s Gravenhage.
nale, kommunikative oder pragmatische ⫺ (1965): Aspects of the theory of syntax. Cam-
Grammatik. In der ehemaligen DDR (vor bridge/Mass. (Deutsch als: Aspekte der Syntax-
allem: in Potsdam) z. B. wurde eine „funktio- Theorie. Berlin 1969).
nale Grammatik“ entwickelt, bei der unter ⫺ (1972): Deep structure, surface structure, and
„Funktion“ anfangs die inhaltliche Seite des semantic interpretation. In: N. Chomsky: Studies
sprachlichen Zeichens (⫽ Bedeutung) (vgl. on semantics in generative grammar. The Hague/Pa-
Schmidt 1965, 23ff.), später eher der inten- ris, 62⫺119.
dierte Kommunikationseffekt (als Wirkung ⫺ (1976): Reflections on language. London.
oder Leistung, also sprachextern) verstanden ⫺ (1979): Language and responsibility. London.
wurde (vgl. Schmitt 1969). Damit ist ein er-
⫺ (1980): Rules and representations. Columbia.
stes Problem angedeutet (vgl. Helbig 1986a,
169ff.), das aus einem wenig eindeutigen ⫺ (1981): Lectures on government and binding. The
Funktionsbegriff resultiert: Es handelt sich Pisa lectures. Dordrecht/Cinnaminson.
teils um einen Ausgangspunkt in der sprach- Coseriu, Eugenio (1970): Über Leistung und Gren-
internen Bedeutung (in der Weise, dass etwa zen der kontrastiven Grammatik. In: Probleme der
formale Mittel zum Ausdruck einer gemein- kontrastiven Grammatik (Sprache der Gegenwart
samen Bedeutung ⫺ z. B. des Grundes, der VIII). Düsseldorf, 9⫺30.
Zeit (als „Felder“) ⫺ zusammengestellt wer- Dik, Simon S. (1978): Functional grammar. Amster-
den), teils aber um einen Ausgangspunkt bei dam.
der kommunikativen Intention bzw. der er- ⫺ (1987): Some principles of functional grammar.
reichten Wirkung (z. B. überzeugen, aktivie- In: R. Dirven; G. Radden (Hg.): Concepts of case.
ren). Im zuletzt genannten Falle werden in- Tübingen, 37⫺53.
186 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

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15. Linguistische und didaktische Grammatik 187

15. Linguistische und didaktische Grammatik

1. Definition für jene disziplin und jenes unterrichtsfach an klo-


2. Historische Entwicklung ster- und domschulen sowie an der artistenfakultät
3. Linguistische Grammatik der universitäten, die es mit der sprache im allge-
4. Didaktische Grammatik meinen sinne und ihrer erlernung zu tun haben, die
5. Literatur in Auswahl speziellere bedeutung des wortes, … die einer spra-
che zugrundeliegende struktur, die summe und das
system der sich in ihr ausdrückenden und auswir-
1. Definition kenden regeln, gesetze und ordnungsprinzipien;
ebenso deren kenntnis und anwendung … ein-
Unter der Vielzahl der Bedeutungen, die dem schlieszend, aber nicht auf sie eingeengt, des weite-
Terminus Grammatik verliehen werden, wird ren auch lektüre und interpretation antiker autoren
hier die Beschreibung jener Regeln verstan- umfassend.“ (Grimm 1958, 1799f.)
den, deren Kenntnis einerseits den Sprecher/ Bis in die frühe Neuzeit also wurde Gramma-
Schreiber in die Lage versetzen, morpholo- tik als historische Grammatik begriffen; nur
gisch und syntaktisch korrekte sowie seinen naheliegend war es daher, grammatische Be-
kommunikativen Intentionen entsprechende schreibungen am historischen Vorbild des
und angemessene Wörter, Sätze und Texte zu Griechischen und des Latein auszurichten, so
bilden (a) wie andererseits solche Wörter, Ickelsamer mit seiner teütsche grammatica
Sätze und Texte zu verstehen (b). Typ (a) (vor 1537) oder Brückners teutsche gramma-
verweist auf Produktionsgrammatiken, Typ tic (1620) (vgl. Grimm 1958, 1803).
(b) auf Rezeptionsgrammatiken (Verstehens- Als Idealfall einer Historischen Gramma-
grammatiken). Der Gegenstandsbereich einer tik des Deutschen gilt Jacob Grimms deut-
Grammatik umfasst eine oder mehrere natür- sche Grammatik (1819); doch schon frühzei-
liche Sprachen (Deutsch, Englisch usw.) in ih- tig trat neben dieses Verständnis von Gram-
rem heutigen Zustand (synchronische Be- matik jenes der Sprachlehre für die Schulen,
schreibung) bzw. in ihrer historischen Ent- also Grammatik als Sprachlehrbuch (Paul
wicklung (diachronische Beschreibung), oder 1992, 368), so bei Emsers annotationes (1535)
es handelt sich um eine Grammatik für und Ölingers erster Grammatik der deut-
künstliche Sprachen (z. B. Logiksprachen); schen Sprache für ausländische Lernende
die Beschreibungsmethode einer Grammatik (Reich 1972).
ist unterschiedlich und richtet sich nach (a) Ein drittes Verständnis von Grammatik
Beschreibungsziel, (b) Adressaten, (c) Grad hat Noam Chomsky begründet. Für ihn ist
der Explizitheit sowie (d) dem Erkenntnis- Grammatik die „Kenntnis eines kompetenten
interesse. Im Allgemeinen werden die folgen- Sprechers von seiner Sprache“ (Chomsky
den Grammatiktypen unterschieden (Kiefer 1969, 40). Chomsky argumentiert, dass der
1995): Terminus Grammatik systematisch mehrdeu-
⫺ Theoretische (linguistische) Grammatik tig verwendet würde: Einmal werde darunter
⫺ Deskriptive (beschreibende) Grammatik die im Sprecher intern repräsentierte Theorie
⫺ Normative Grammatik seiner Sprache verstanden, zum Anderen sei
⫺ Didaktische Grammatik. damit der linguistische Zugang zu diesem
Phänomen bezeichnet.
Diese Mehrdeutigkeit des Terminus Gram-
2. Historische Entwicklung matik führte in der Nachfolge Chomskys zu
einer Vielzahl von attributiven Erklärungen
Grimm verweist darauf, dass Grammatik seit oder „Bindestrich-Grammatiken“, um deut-
dem frühen Mittelalter ⫺ im Rückgriff auf lich zu machen, worum es sich im Einzelfall
die Antike ⫺ als erstes Fach des Triviums ne- handelte (generative Grammatik, strukturelle
ben Rhetorik und Dialektik sowie dem ma- Grammatik, lehrwerkunabhängige Gramma-
thematischen Quadrivium mit den Fächern tik, normativ-präskriptive Grammatik, de-
Arithmetik, Geometrie, Musik und Astrono- skriptive Grammatik, Gebrauchs-Gramma-
mie verstanden und als Historische Gramma- tik, Referenz-Grammatik, Selbstlern-Gram-
tik interpretiert wurde: matik, Produkt-Grammatik usw.). Auch die
„auf grund antiker tradition das ganze christliche Unterscheidung zwischen einer linguistischen
mittelalter hindurch als terminus technicus für die und einer didaktischen Grammatik hat hier
erste und grundlegende der septem artes liberales, ihre Ursache.
188 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

3. Linguistische Grammatik men der Regelbeschreibung normative Festle-


gungen ein, womöglich gar Empfehlungen
Seit Chomskys kategorieller Unterscheidung für den guten Sprachgebrauch.
wird unter einer linguistischen (oder auch Im Sinne dieser toleranteren Definition ei-
wissenschaftlichen) Grammatik eine Darstel- ner linguistischen Grammatik der deutschen
lung einer natürlichen Sprache verstanden, Gegenwartssprache lassen sich die folgenden
die durch die folgenden Kriterien gekenn- Grammatiken diesem Typ zuordnen:
zeichnet ist:
Bierwisch, Manfred: Grammatik des deutschen
⫺ Sie ist vollständig, d. h., sie stellt die Ge- Verbs. Berlin 91983.
samtheit aller Regeln oder die Morpholo- Eisenberg, Peter: Grundriß der deutschen Gram-
gie und Syntax ⫺ den Kernbereich jegli- matik. Stuttgart 31994.
cher Grammatik ⫺ einer Sprache in ihrem Engel, Ulrich: Deutsche Grammatik. Heidelberg
1998.
aktuellen Zustand dar. Erben, Johannes: Deutsche Grammatik. Ein Ab-
⫺ Sie ist deskriptiv, also beschreibend, und riß. München 121980.
somit nicht normativ. In ihrer Beschrei- Götze, Lutz/Hess-Lüttich, Ernest W. B.: Gramma-
bung erfasst sie standardsprachliche wie tik der deutschen Sprache. Sprachsystem und
auch sozio- und regiolektale Varietäten. Sprachgebrauch. Gütersloh 1999.
⫺ Sie ist widerspruchsfrei. Grundzüge einer deutschen Grammatik. Von
⫺ Sie basiert auf einer linguistischen Theorie einem Autorenkollektiv unter Leitung von Karl-
wie z. B. der Generativen Transforma- Erich Heidolph u. a. Berlin 21984.
tionsgrammatik (Standard- oder Aspekte- Helbig, Gerhard/Buscha, Joachim: Deutsche
Grammatik ⫺ Ein Handbuch für den Auslän-
Version). Stützt sich die Darstellung in derunterricht. Leipzig/Berlin/München 171996.
Teilbereichen auf unterschiedliche lingui- Heringer, Hans-Jürgen: Theorie der deutschen
stische Theorien, so müssen diese mitein- Syntax. München 31973.
ander kompatibel sein und in ihren Zu- Weinrich, Harald: Textgrammatik der deutschen
sammenhängen erklärt werden. Eine lin- Sprache. Mannheim u. a. 1993.
guistische Grammatik kann die Bereiche
Phonologie sowie Semantik und Pragma-
tik gleichfalls darstellen; sie kann weiter- 4. Didaktische Grammatik
hin die Grenze des isolierten Einzelsatzes
Der pointierte Topos Chomskys vom idealen
⫺ und damit die Wortarten- und Satz-
Sprecher/Hörer und die Unterscheidung von
grammatik ⫺ transzendieren und die
Kompetenz bzw. Performanz führte in der
Ebene des Textes in ihre Beschreibung ein-
Konsequenz zur Entwicklung einer linguisti-
beziehen. Im Extremfall kann sie von der
schen Pragmatik (Searle 1969; Wunderlich
Textebene ausgehen und Satz, Wort und
1972), einer Generativen Semantik (Lakoff
Laut inkorporieren. Andererseits gibt es
1970) sowie ⫺ in der Sprachlehr- und -lern-
auch linguistische Darstellungen von
forschung ⫺ zur Diskussion um eine „didak-
grammatischen Teilbereichen: Generative
tische Grammatik“ (Bausch 1979). Ganz all-
Phonologie, Generative Syntax, Depen-
gemein bezieht sich dieser Terminus auf eine
denzsyntax u. a.
Sprachbeschreibung, die ihr vorrangiges Ziel
⫺ Eine linguistische Grammatik dient dem
im Lehren und Lernen der jeweiligen Sprache
Diskurs zwischen Fachwissenschaftlern
bzw. Sprachen sieht. Sie ist damit Teil der
und zielt darauf ab, den linguistischen Er-
Angewandten Linguistik und ein Beitrag zum
kenntnisstand zu verbessern; weiter ge-
Verhältnis von Linguistik und Sprachunter-
hende Interessen wie Sprachenlehren oder
richt schlechthin. Implizit wird die traditio-
-lernen sind ihr fremd.
nelle Schulgrammatik aufgegriffen und im
In der Wirklichkeit werden diese Kriterien dreifachen Sinne Hegels aufgehoben. Freilich
freilich nur teilweise erfüllt. Auch die von lin- ist der Terminus Didaktische Grammatik zu
guistischer Seite häufig als unverzichtbar und unspezifisch; sein Begriffsinhalt braucht eine
geradezu konstitutiv bezeichnete Unterschei- genauere Beschreibung, um in der Praxis
dung von (1) „linguistisch-deskriptiv“ sowie handhabbar zu sein.
(2) „normativ-präskriptiv“, wobei nur Vari-
ante (1) dem Anspruch einer linguistischen 4.1. Kriterien einer didaktischen Grammatik
Grammatik genüge, ist in Wahrheit nicht in ⫺ Eine didaktische Grammatiken ist eine
voller Rigidität zu gewährleisten. So fließen Beschreibung für das Lehren und Lernen
auch in linguistische Grammatiken im Rah- einer Sprache oder mehrerer Sprachen.
15. Linguistische und didaktische Grammatik 189

⫺ Es gibt didaktische Grammatiken für den (vgl. 4.7.) zu empfehlen (Götze 1995, 235;
Unterricht in der Erstsprache (Mutter- 1996, 141).
sprachenunterricht) sowie den Unterricht/ ⫺ Didaktische Grammatiken haben die-
Erwerb in der Fremdsprache/Zweit- nende Funktion und sind also Mittel zum
sprache. Erreichen kommunikativer Fähigkeiten
⫺ Didaktische Grammatiken für den und Fertigkeiten. Sie sind kein Lernziel
Fremdsprachenunterricht und damit mu- des Fremdsprachenunterrichts.
tatis mutandis auch für Deutsch als
Wesentlich für didaktische Grammatiken
Fremdsprache sollen aus einer umfassen-
sind damit die folgenden Faktoren:
den Beschreibung der deutschen Gegen-
wartssprache in ihrer geschriebenen und ⫺ Welcher Zweck soll erreicht werden? (Pro-
gesprochenen Variante die hochfrequenten, duktion oder Rezeption von Sätzen/Tex-
für die Kommunikation wichtigen und für ten, einzelne Fertigkeiten u. a.)
den Lernenden schwierigen Strukturen ⫺ Für welche Zielgruppe wird die Gramma-
auswählen und darstellen. tik geschrieben? (Lehrbuchautoren, Leh-
⫺ Sie sollen unterschieden werden in Didak- rende, Lernende mit geringen oder fortge-
tische Grammatiken für Lehrende und sol- schrittenen Kenntnissen?)
che für Lernende. Erstere sollen Problem-/ ⫺ Sind Rückgriffe auf ungesteuerte Zweit-
Prozessgrammatiken sein, letztere Resul- spracherwerbsprozesse (Lernergrammati-
tatsgrammatiken. ken) möglich?
⫺ Sie sollen unterschiedliche theoretische ⫺ Welche Kenntnisse aus dem Erstspracher-
Ansätze linguistischer Grammatiken auf- werb können für den Fremdsprachenun-
greifen und diese selektiv verknüpfen, terricht vorausgesetzt oder genutzt wer-
aber nicht eklektizistisch oder wider- den?
sprüchlich sein.
⫺ Sie sollen mehr beschreiben, als es eine 4.2. Schwerpunkte und Differenzierungen
Grammatik für Muttersprachler tut, und Eine Differenzierung didaktischer Gramma-
sind damit vollständiger und expliziter als tiken schlägt Zimmermann (1979) vor. Er un-
eine didaktische Grammatik für den Erst- terscheidet zwischen (a) einer lehrbuchunab-
sprachenunterricht, weil sie auch die Phä- hängigen Lehrergrammatik, (b) einer lehr-
nome erklären müssen, die beim Mutter- werkbezogenen Lehrergrammatik, (c) einer
sprachler als bekannt vorausgesetzt wer- lehrwerkunabhängigen Nachschlagegramma-
den können. tik für den Lerner sowie (d) einer lehrwerkbe-
⫺ Sie sollen Prozesse und Sequenzen des un- zogenen Lerngrammatik. Typ (a) sei eine di-
gesteuerten Spracherwerbs und daraus ab- daktisch orientierte Beschreibung der Gegen-
leitbare Lerngrammatiken (Interimsgram- wartssprache für Lehrende und Autoren von
matiken) in ihre Beschreibung aufnehmen Lehrmaterial, Typ (b) ein Lehrerhandbuch
sowie neuro-psychologische Erkenntnisse mit Hinweisen für die Behandlung der Gram-
des Spracherwerbs berücksichtigen. matik eines bestimmten Lehrwerks im Unter-
⫺ Sie sollen einem erweiterten Grammatik- richt, Typ (c) ein Nachschlagewerk mit gram-
begriff verpflichtet sein, also die Bereiche matischen Erläuterungen für den Lernenden,
Phonologie, Morphologie, Syntax, Se- unabhängig von einem bestimmten Lehrwerk
mantik und Pragmatik beinhalten. und Typ (d) eine auf ein bestimmtes Lehr-
⫺ Sie sollen im Bedarfsfall zweisprachig kon- werk bezogene Grammatik für den Lernen-
zipiert sein, also den Sprachkontrast zwi- den, also für eine definierte Zielgruppe. Deut-
schen Ausgangs- und Zielsprache und sich lich wird bereits hier, dass es nicht die eine
daraus ergebende Interferenzen und Lern- didaktische Grammatik gibt, sondern höchst
schwierigkeiten berücksichtigen. unterschiedliche Ausprägungen entsprechend
⫺ Sie sollen ihre Regelfindung induktiv-em- der Zielsetzung, den Adressaten sowie der
pirisch, also nicht deduktiv-theoretisch, or- Funktion von Grammatik im Sprachlehr-
ganisieren: ausgehend vom Text und ver- und -lernprozess überhaupt.
tieft durch Übungen. Die weitere Diskussion kreiste im Wesent-
⫺ Sie sollen ihre Metasprache (Beschrei- lichen um folgende Punkte: das Verhältnis
bungssprache) dem Kenntnisstand ihrer von Linguistik und Fremdsprachenunterricht
Benutzer anpassen und deshalb notwen- als Sonderfall der Angewandten Linguistik,
dige Vereinfachungen enthalten. Grund- sodann die Frage nach den Kriterien für eine
sätzlich ist die lateinische Terminologie Auswahl grammatischer Inhalte für den
190 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

Lernprozess und schließlich die Frage gram- rerseits sowie (unter Berücksichtigung des in-
matischen Wissens im Lernprozess über- stitutionellen Rahmens) Schulgrammatiken,
haupt, um deren Klärung sich insbesondere Universitätsgrammatiken und Grammatiken
die Lernpsychologie und die Kognitionspsy- für die Erwachsenenbildung, wobei zumindest
chologie bemühen (vgl. Edelmann 1994). Ei- die zuletzt gemachte Unterscheidung frag-
nen Überblick über die Konzeption didakti- würdig bleibt.
scher Grammatiken geben Gnutzmann/Kö- In Bezug auf die Funktionen im Sprach-
nigs (1995, 15). lehr- und -lernprozess (b) differenzieren sie
zwischen einer systematischen Grammatik
4.3. Darstellungsformen didaktischer und einer progressionsbezogenen grammati-
Grammatiken schen Beschreibung. Erstere ist nicht lehr-
Wenn von Seiten der Vertreter linguistischer werkbezogen und hat den Charakter einer
Grammatiken (Kiefer 1995) die Behauptung Referenzgrammatik, Nachschlagegrammatik
aufgestellt wird, didaktische Grammatiken bzw. einer Lerngrammatik. Sie enthalte im
seien per se normativ, weil sie notwendiger- Regelfall eine umfassende Gegenstandsbe-
weise die Norm der Mutter- bzw. Zielsprache schreibung (Gesamtgrammatik); es sind je-
⫺ das Ziel/Resultat des Erwerbs der Erst- doch auch auf grammatische Teilbereiche
oder Zweitsprache ⫺ darstellten, so ist das spezialisierte Schwerpunkt- oder Selbstlern-
nur teilweise richtig. Neben solchen Gram- grammatiken möglich. Zum Typ progressions-
matiken (Resultatsgrammatiken) gibt es auch bezogene Sprachbeschreibung rechnen die
andere, die den Erwerbsprozess des Lernen- Autoren grammatische Beihefte, abhängig
den und dessen Regelhaftigkeit wie Variabili- von der Progression im entsprechenden Lehr-
tät zumindest ansatzweise beschreiben, also werk. Im Bereich der angestrebten Fähigkei-
intralinguale Prozesse wie Übergeneralisie- ten (c) werden produktions-, rezeptions- und
rung, Simplifizierung oder Vermeidungsstra- analyseorientierte Grammatiken unterschie-
tegien (Problem-/Prozessgrammatiken). Sol- den; eine nach Kleineidams/Raupachs Auf-
che Erwerbsstrategien können eine wichtige fassungen freilich eher theoretische Unter-
didaktische Hilfe für den schulisch gesteuer- scheidung, denn die Praxis sei im Regelfall
ten Lernprozess sein. Daneben gibt es weitere durch eine „die verschiedenen Fertigkeiten
Faktoren, die den je unterschiedlichen Cha- integrierende ,Mehrzweckgrammatik‘ “ (Klei-
rakter einer didaktischen Grammatik bestim- neidam/Raupach 1995, 299) gekennzeichnet.
men: Ist es eine Grammatik für die Produk- Bei der Darstellungssystematik (d) unter-
tion oder für die Rezeption (Verstehen) von scheiden Kleineidam/Raupach zwischen Wort-
Sätzen oder Texten ⫺ Neuner (1995, 147) artengrammatiken, Satzgrammatiken, Text-
spricht von Mitteilungs- bzw. Verstehens- grammatiken und kommunikativen Gramma-
grammatik ⫺, ist es weiterhin eine Gramma- tiken und konstatieren, die Mehrzahl der
tik für Lehrende oder Lernende bzw. eine Grammatiken für den Fremdsprachenunter-
Grammatik für den Muttersprach- oder richt seien solche der Wortarten- und Satz-
Fremdsprachenunterricht? Entsprechend dif- grammatiken, bezögen also die Textebene
ferenziert Götze (1995, 234): und den Erwerb kommunikativer Fähigkei-
Resultatsgrammatik vs. Prozessgrammatik ten nicht ein. Für Grammatiken neueren
Produktionsgrammatik vs. Identifikations- Typs (Häussermann 1989 u. a.) trifft diese
grammatik Bemerkung nicht zu. In mehreren Beiträgen
Lehrergrammatik vs. Lernergrammatik hat Gerhard Helbig (1979; 1991; 1993; 1995)
Grammatik für den Muttersprach- vs. Fremd- sein Verständnis von didaktischer Gramma-
sprachenunterricht. tik definiert und darauf hingewiesen, dass das
Handbuch für den Ausländerunterricht (Hel-
Eine andere Unterscheidung nehmen Kleinei- big/Buscha) nicht konzipiert sei
dam/Raupach (1995, 298f.) vor. Sie differen-
zieren nach folgenden Gesichtspunkten: Ei- „als didaktische Grammatik in dem Sinne, daß es
genschaften der Adressaten und angenomme- als unmittelbares Lehrmaterial (didaktisch-metho-
disch aufbereitet) dem Unterricht zugrunde gelegt
nen Bedürfnisse (a), Funktionen im Sprach-
und dem Schüler präsentiert werden sollte. … Das
lehr- und -lernprozess (b), angestrebte Fähig- Handbuch ist weder unterrichtsintegriert und kurs-
keiten (c) und Darstellungssystematik (d). Im determiniert (wie auf Stoffprogression beruhende
Bereich (a) unterscheiden sie Basis-/Elemen- Lehrbücher im engeren Sinne) noch unterrichtsbe-
tar-/Grund-/Mindestgrammatiken einerseits gleitend und kursorientiert (wie systematische
und Grammatiken für Fortgeschrittene ande- Lehrbücher), sondern unterrichts- und kursunab-
15. Linguistische und didaktische Grammatik 191

hängig. Es entspricht somit weitgehend dem Typ, che. Heidelberg 1985. Hans-Jürgen Heringer:
der manchmal als Referenz-Grammatik bezeichnet Lesen lehren lernen: Eine rezeptive Grammatik
wird. … Wenn man unter einer didaktischen des Deutschen. Tübingen 1988. Hans Barkowski:
Grammatik direktes, d. h. unterrichtsintegriertes Kommunikative Grammatik und Deutsch lernen
und kursdeterminiertes Lehrmaterial versteht und mit ausländischen Arbeitern. Königstein/Ts. 1982.
von der Alternative linguistische vs. didaktische Joachim Buscha u. a.; Grammatik in Feldern.
Grammatik (als Endpolen einer Skala) ausgeht, München 1998.
handelt es sich beim Grammatik-Handbuch um
eine linguistische, nicht um eine didaktische Gram- ⫺ Kontrastive Grammatik für Lehrende und
matik, da sie von Ordnungsprinzipien des Sprach- fortgeschrittene Lernende
systems und nicht von solchen des Lehr- und Lern- Beispiel: François Schanen/Jean-Paul Confais:
prozesses her konzipiert ist. Wie jede linguistische Grammaire de l’allemand. Formes et fonctions.
Grammatik, so bedarf auch sie einer Umsetzung Paris 1986.
(Adaption) in verschiedene didaktische Grammati-
ken (direkte Lehrmaterialien), ⫺ einer Umsetzung, ⫺ Übungsgrammatik
die bedingt ist durch zahlreiche Faktoren des kon- Beispiel: Hilke Dreyer/Richard Schmitt: Deut-
kreten Bedingungsgefüges, einer „Faktorenkomple- sche Übungsgrammatik. Ismaning 1996. Monika
xion“, die zumindest solche Determinanten enthält Reimann: Grundstufen-Grammatik für Deutsch
wie die im Unterricht angestrebten Ziele und Zielfä- als Fremdsprache. Erklärungen und Übungen. Is-
higkeiten (z. B. Sprechen, (verstehendes) Lesen, maning 1997.
Übersetzen), lerntheoretische Vorstellungen (etwa
die Alternative kognitive vs. habituelle Lerntheorie), ⫺ Lehrerhandbuch zum Lehrwerk
Lernalter, Lernstufe, Kursart und Stand der techni- Beispiel: Lehrerhandbuch zum Lehrwerk „The-
schen Hilfsmittel. Diese Faktoren sind nicht (pri- men“.
mär) Gegenstand der Linguistik, sondern anderer
Grundlagenwissenschaften für den Fremdsprachen- Damit wird die Vielfalt didaktischer Gram-
unterricht (z. B. Psychologie, Theorie des Spracher- matiken deutlich. Sie reichen von Adaptio-
werbs, Didaktik, Methodik)“ (Helbig 1995, 16). nen linguistischer Grammatiken auf unter-
Es handelt sich daher beim Handbuch für den schiedlichem Niveau über kontrastive Gram-
Ausländerunterricht in der Tat um eine lingui- matiken bis hin zu reinen Übungsgrammati-
stische Grammatik, obwohl sie einen klaren ken und Lehrerhandreichungen und schlie-
Adressatenbezug (für den Ausländerunter- ßen Produktions- und Rezeptionsgrammati-
richt) hat: Sie folgt der Wortarten- und Satz- ken ein. Die Trennlinien sind häufig eher un-
klassifikation des Sprachsystems, bietet eine scharf.
vollständige explizite Darstellung der Gegen-
wartssprache und ist im Syntaxteil einer 4.5. Kontrastive Grammatiken
Theorie ⫺ der Valenztheorie ⫺ verpflichtet; Unter den Grammatiken, die zwei Sprachen
sie bietet kaum didaktische Erklärungen und miteinander vergleichen, gibt es solche lin-
ist unabhängig von Sprachkursen und Lehr- guistischer Art, die keinerlei didaktisches
werken zu benutzen. Interesse verfolgen (Beispiel: Jean Marie
4.4. Typen didaktischer Grammatiken Zemb: Kontrastive Grammatik Französisch-
Deutsch. Mannheim 1978), und andere, de-
Folgende Typen didaktischer Grammatiken ren Zielsetzung der Lehr-Lernprozess ist
für den Fremdsprachenunterricht werden (Beispiel: François Schanen/Jean-Paul Con-
hier unterschieden: fais: Grammaire de l’allemand, Paris 1986,
⫺ Lehrwerkbezogene Grammatik für Lehrer Ulrich Engel/Rozemaria K. Tertel: Kommu-
und Lernende nikative Grammatik Deutsch als Fremdspra-
Beispiel: Ulrich Häussermann/Jürgen Kars: che. München 1993). Ihre theoretische
Grundgrammatik Deutsch. Frankfurt 1989. Bernd Grundlage ist die Kontrastivhypothese der
Latour: Mittelstufen-Grammatik für Deutsch als Zweitspracherwerbsforschung in ihrer star-
Fremdsprache. Ismaning 1988. ken bzw. schwachen Variante (Bausch/Kas-
⫺ Lehrwerkunabhängige Lernergrammatik per 1979), derzufolge ein starker Kontrast
Beispiel: Lorenz Nieder: Lernergrammatik für zwischen Ausgangs- und Zielsprache Lern-
Deutsch als Fremdsprache. Ismaning 1987. Roland schwierigkeiten bereite und die Zahl der Feh-
Schäpers/Renate Luscher: Deutsch 2000. Ismaning ler vergrößere, umgekehrt geringer Kontrast
1974. Wolfgang Rug/Andreas Tomaszewski: Gram- lernerleichternd und Fehler reduzierend
matik mit Sinn und Verstand. München 1993. wirke. Von didaktischer Seite ist dem wider-
⫺ Lehrwerkunabhängige Lehrergrammatik sprochen und die Hypothese vor allem kriti-
Beispiel: Marlene Rall/Ulrich Engel/Dieter Rall: siert worden, weil sie statischer Natur sei und
Verbvalenzgrammatik für Deutsch als Fremdspra- damit dem Prozesshaften des Spracherwerbs
192 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

nicht gerecht werde. Vor einer Überbewer- zu bilden, ⫺ wo also diese biochemischen
tung des Sprachvergleichs im Hinblick auf Prozesse in einem qualitativen Sprung zum
Fehlerinterpretation oder gar -vorbeugung Sprachverstehen führen, noch wenig er-
muss daher gewarnt werden; dennoch ist ge- forscht. Auch die Ursache von Interferenzen
rade für den Unterricht in sprachlich homo- L1⫺L2 beim Sprachverstehen lässt sich der-
genen Klassen die Kenntnis der Grammatik zeit neuropsychologisch nur ansatzweise er-
von Ausgangs- und Zielsprache für die Leh- klären: Vermutlich sind stabile neuronale
renden von Nutzen. Voraussetzung ist eine Netze des Erstspracherwerbs aktiv und beein-
grammatische Theorie, die beide zu verglei- flussen neue Schaltungen.
chenden Sprachen adäquat beschreibt. Beim Sprachproduktionsprozess in der
Fremdsprache (Produktionsgrammatik) an-
4.6. Rezeptionsgrammatik und dererseits müssen Intentionen und Argu-
Produktionsgrammatik mente versprachlicht werden: Dabei wird auf
Die in diesen oder anderen Termini (Ver- Speicher des Regelwissens zurückgegriffen,
stehensgrammatik ⫺ Mitteilungsgrammatik, um eine korrekte Äußerung hervorzubringen.
Identifikationsgrammatik ⫺ Mitteilungs- Es ist derzeit davon auszugehen, dass explizi-
grammatik, Identifikationsgrammatik ⫺ Äu- tes und bewusstes (deklaratives) Regelwissen
ßerungsgrammatik, Dekodiergrammatik ⫺ wie implizite (prozedurale) Kenntnis von Re-
Enkodiergrammatik/Konstruktionsgramma- gelsachverhalten dabei zusammenspielen,
tik) bezeichnete Dichotomie benennt zwei möglicherweise in gleichen neuronalen Schal-
unterschiedliche Beschreibungsformen bzw. tungen. Wichtig ist freilich darüber hinaus,
Anwendungen einer Grammatik: das Verste- dass beide Varianten einer Grammatik ⫺
hen von Wörtern, Sätzen bzw. Texten einer- Produktionsgrammatik und Rezeptionsgram-
seits sowie das Bilden korrekter Wörter, Sätze matik ⫺ nur die eine Seite einer erfolgreichen
und Texte andererseits. In der Tat sind die Kommunikation in der Fremdsprache sind:
dabei ablaufenden Prozesse im zentralen Ner- Entscheidend ist neben dem grammatischen
vensystem des Menschen höchst unterschied- Regelwissen die Beherrschung von Kommuni-
licher Art: Beim Rezeptionsprozess ⫺ Hören kationsstrategien, die eigen- und fremdkultu-
von Texten gesprochener Sprache bzw. Lesen relles Wissen, nichtsprachliche (Gestik und
geschriebener Texte ⫺ wird auf bereits beste- Mimik) sowie parasprachliche Elemente
hende neuronale Netze zurückgegriffen (z. B. (Pausen, Intonation) beinhalten.
textkonstituierende Elemente wie Konnekto-
ren, anaphorische und kataphorische Ele- 4.7. Grammatische Terminologie
mente), die Ergebnis von Begriffsbildungen In zahlreichen Grammatiken wird nicht sau-
und bereits gemachten Erfahrungen sind. ber unterschieden zwischen Begriff und Ter-
Dabei werden Wissensspeicher des deklarati- minus, oder anders: zwischen Begriffsinhalt
ven und prozeduralen Wissens aktiviert. Wei- und Begriffsbenennung. Beispiele sind die
terhin ist davon auszugehen, dass ein Parsing Gleichsetzung von Gegenwart (Begriffsinhalt)
(Zergliedern) der sprachlichen Daten vor und Präsens (Terminus), Möglichkeitsform
dem Hintergrund bereits vorhandener Sche- (Begriffsinhalt) und Konjunktiv (Terminus)
mata erfolgt. Diese im Neocortex ablaufen- oder eine solche Fehlkoppelung wie Partizip
den Prozesse werden mit den Bewertungsin- Präsens (statt: Partizip I) oder Konjunktiv
stanzen im subkorticalen Bereich (Limbisches Präteritum (statt: Konjunktiv II). Deshalb
System) zusammengeschaltet und daraus spielt die Terminologie ⫺ die grammatischen
werden einerseits das Verstehen ermöglicht Fachausdrücke ⫺ eine wesentliche Rolle:
wie andererseits die Entscheidung darüber „Grammatische Terminologie und grammatische
getroffen, ob die neuen Daten im Gedächtnis Kultur sind wechselseitig miteinander verflochten.
aufbewahrt oder aber verworfen („verges- Grammatische Terminologie ist Teil einer gramma-
sen“) werden. Dieser Verstehensprozess ist tischen Kultur und kann sogar ein essentieller,
von außerordentlicher Abstraktheit und ins- sprich: ein sensibler Bereich der grammatischen
besondere in jenem Bereich, wo elektrische Kultur sein. In grammatischer Terminologie äußert
neuronale Erregungen an Synapsen gelangen, sich grammatische Kultur, in grammatischer Ter-
dort in biochemische Prozesse, bei denen minologie wird grammatische Kultur aufbewahrt“
Neurotransmitter (z. B. Glutamat) eine we- (Raasch 1995, 167).
sentliche Rolle spielen, umgesetzt werden, um Unbestritten ist die Bedeutung grammati-
das nächste Neuron (Nervenzelle) zu errei- scher Terminologie: Sie ist im Regelfall ver-
chen und auf diese Weise ein durch Langzeit- ständnisfördernd und grenzt grammatische
potenzierung wirksames Nervenzellensemble Inhalte voneinander ab, sie ist darüber hinaus
15. Linguistische und didaktische Grammatik 193

bei kontrastiven Grammatiken das notwen- Mitteln wie Imperativ, Passiv, Partizip II,
dige Bindeglied und ermöglicht überhaupt Modalpartikeln, dass-Sätzen, Fragesätzen
erst metasprachliche Kommunikation. und würde-Form gebildet wird.
Eine grammatische Terminologie für eine Zugleich wird damit die Diskussion
didaktische Grammatik sollte die folgenden über language awareness (Sprachbewusstheit,
Bedingungen erfüllen: Sprachbewusstsein, linguistic consciousness)
⫺ Sie muss adressatengerecht sein, d. h. ins- weitergeführt (Gnutzmann 1995) und für den
besondere bei Kindern und jugendlichen Fremdsprachenunterricht nutzbar gemacht.
Lernenden der Fremdsprache dem kogni- Dies ist besonders für den Erwachsenenun-
tiven Niveau der Altersstufe entsprechen. terricht von Bedeutung, der auf Erfahrungen
⫺ Sie kann durchaus ihr Inventar unter- und Weltwissen bei den Lernenden in rei-
schiedlichen linguistischen Theorien ent- chem Maße aufbauen und zudem grammati-
nehmen; diese müssen jedoch kompatibel sches Regelwissen der Erstsprache nutzen
sein und dürfen nicht im Widerspruch zu- kann. Diese Lernenden bringen Zielsetzun-
einander stehen. gen, kommunikative Absichten sowie ästheti-
⫺ Bei kontrastiven Grammatiken muss die sche Intentionen in den Fremdsprachenun-
Terminologie beide Sprachen abbilden terricht mit, die sie in der Zielsprache
und adäquat wiedergeben. Deutsch realisieren wollen. Eine kommuni-
⫺ Empfehlenswert ist jene Terminologie, die kativ-funktionale Grammatik, die hier an-
auf dem griechisch-lateinischen Vorbild setzt und zudem sowohl normbezogen wie
fußt: Sie ist am wenigsten „sprechend“, in- normkritisch verfährt und damit die indivi-
ternational verbreitet und daher den mei- duelle Sprachauswahl und -variation ermög-
sten Lernenden zumindest ansatzweise be- licht, kommt den Interessen der Lernenden
kannt sowie in didaktische Grammatiken sehr entgegen. Erste Realisierungen solcher
vergleichsweise leicht zu integrieren. kommunikativ-funktionalen Grammatiken
⫺ Grammatische Terminologie ist Mittel liegen vor (Macheiner 1991; Rug-Tomaszew-
ski 1993; Götze u. a. 2000).
zum Zweck, nämlich der Erklärung gram-
Aus der Sicht der Auslandsgermanistik hat
matischer Strukturen. Ein Zuviel schadet
Mulo Farenkia (1996) darauf hingewiesen,
ebenso wie der Versuch, grammatische
dass ein kommunikativ-funktionaler Ansatz
Terminologie zum Lernziel zu erklären.
der didaktischen Grammatik auch jenseits
Der Fremdsprachenunterricht ist kein lin-
des deutschen Sprachraums wichtig sei, um
guistisches Oberseminar.
die Lernenden in die Lage zu versetzen, er-
4.8. Kommunikativ-funktionale Grammatik folgreich kommunizieren zu können. Jedoch
müsse gleichzeitig ⫺ oder besser: zuvor ⫺
In jüngster Zeit wird in wachsendem Maße
eine ausreichende Kenntnis formalsprach-
das Konzept einer funktionalen bzw. kom-
licher Mittel sichergestellt sein, weil anderen-
munikativ-funktionalen Grammatik wieder
falls das Konzept scheitere. Die Diskussion
diskutiert (Barkowski 1982; Engel/Rytel-Kuc
hält an.
1995; Götze 1995, 1997 und 1999; Mulo Fa-
renkia 1996). Damit werden frühere Überle-
gungen zu einem anderen bzw. integrativen 5. Literatur in Auswahl
Grammatikunterricht (Böttcher/Sitta 1978,
Barkowski, Hans (1982): Kommunikative Gramma-
Gnutzmann 1995) aufgegriffen und weiterge- tik und Deutsch lernen mit ausländischen Arbeitern.
führt. Ziel ist eine ganzheitliche grammati- Königstein/Ts.).
sche Beschreibung, die vom Inhalt bzw. von Bausch, Karl-Richard (Hg.) (1979): Beiträge zur
der Funktion/Intention zur Form der sprachli- Didaktischen Grammatik. Probleme, Konzepte, Bei-
chen Äußerung gelangt und nicht umgekehrt, spiele. Königstein/Ts.
wie es zahlreiche bisherige Grammatiken ge- ⫺; Herbert Christ; Hans-Jürgen Krumm (Hg.)
tan haben. Dabei werden kognitive und kom- (1995): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübin-
munikative mit strukturellen Beschreibungs- gen.
elementen zusammengeführt und sprachliche ⫺; Gabriele Kasper (1979): Der Zweitspracher-
Inhalte, die zu einer Äußerung gehören, ge- werb: Möglichkeiten und Grenzen der großen Hy-
meinsam dargestellt und nicht, wie häufig in pothesen. In: Linguistische Berichte 64, 3⫺35.
der Vergangenheit, getrennt behandelt, weil Böttcher, Wolfgang; Horst Sitta (1978): Der andere
sie unterschiedlichen grammatischen Krite- Grammatikunterricht. München u. a.
rien (Wortarten, Satzarten usw.) angehören. Buscha, Joachim; Jochen Schröder (Hg.) (1989):
Als Beispiel diene der Aufforderungssatz, der Linguistische und didaktische Grammatik. Beiträge
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194 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

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Wörterbuch. Vierter Band I. Abteilung 5. Teil.
112.
Hg. v. Deutscher Akademie der Wissenschaften zu
Berlin. Leipzig. Lutz Götze, Saarbrücken (Deutschland)
16. Kontrastivität in der Grammatik 195

16. Kontrastivität in der Grammatik

1. Begriffsbestimmung lernprozesses durch Eigentümlichkeiten einer


2. Kontrastivität und Sprachvergleich anderen oder der gleichen Sprache. Negativer
3. Kontrastivität und Zweitspracherwerb Transfer, d. h. Interferenz ist dagegen
4. Kontrastivität und Fehleranalyse
5. Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung die durch die Beeinflussung von Elementen einer
des Zweitspracherwerbsprozesses aufgrund anderen oder der gleichen Sprache verursachte Ver-
des Prinzips der Kontrastivität letzung einer sprachlichen Norm bzw. der Prozeß
6. Literatur in Auswahl dieser Beeinflussung (Juhász 1980, 646).

Kontrastivität lässt sich aber trotz der auffäl-


1. Begriffsbestimmung ligen Gemeinsamkeiten nicht ohne weiteres
auf Transfer und Interferenz reduzieren. Aus
Das Konzept der Kontrastivität wird in der
diesem Umstand leitet sich die Notwendig-
einschlägigen Forschung nicht explizit defi-
keit einer klaren begrifflichen Abhebung des
niert. Dies spiegelt sich auch in seiner Nicht-
Kontrastivitätskonzeptes ab. Im Zusammen-
beachtung als Stichwort in Nachschlagewer-
hang mit dem Transfer- und Interferenzkon-
ken und Lexika zur Sprachwissenschaft. Da
zept sei hier auf Juhász (1970, 9ff., 29ff.;
der entsprechende Terminus eine durch die
1980, 646ff.) sowie Gass (1996, 558ff.) ver-
Teilkonstituenten motivierte komplexe Wort-
wiesen.
struktur darstellt, so geht man wohl von
Im Folgenden unternehme ich den Versuch,
problemloser Dekodierung seitens der Rezi-
für Kontrastivität in der Grammatik eine Ar-
pienten aus. Motiviertheit schließt aber einen
beitsdefinition auszuarbeiten, in der unter-
gewissen Grad an semantischer Vagheit nicht
aus, so dass Unsicherheiten in der Bedeu- schiedliche Aspekte der Kontrastivität klar
tungsinterpretation bei Termini zu Unklar- voneinander abgehoben werden. Die Notwen-
heit und Konturschwäche in der Begriffsbil- digkeit für diese Arbeitsdefinition erwächst
dung und Kategorisierung führen können. aus der gegenwärtigen Forschungssituation,
Kontrastivität als komplexe Wortstruktur die durch eine undifferenzierte Begrifflichkeit
lässt sich einerseits an Kontrast, andererseits gekennzeichnet ist. In der Terminologie zur
an kontrastiv (als Attribut zu Analyse, Gram- Bezeichnung verschiedener Spracherwerbs-
matik und Linguistik) anschließen. Auf die arten orientiere ich mich an Klein (1992, 32),
Wortbildung als Dekodierungshilfe gestützt, der gesteuert erworbene und ungesteuert er-
sind zumindest folgende Bedeutungen des worbene Zweitsprache unter den Oberbegriff
Wortes zu konstruieren: Kontraste betreffen- Zweitsprache subsumiert. Grammatik ver-
des nominales Konzept; nominales Konzept, wende ich im Sinne von regulären Zuord-
das die Herausstellung von Kontrasten zum nungsrelationen zwischen Formen und Funk-
Ziel hat; nominales Konzept, das auf Ergeb- tionen, die nach Helbig (1981, 49) in Gram-
nissen des Kontrastierens bzw. der Kontrasti- matik A, B und C jeweils unterschiedlich lo-
ven Linguistik beruht. kalisiert sind. Kontrastivität in der Gramma-
Aufgrund des weiteren Forschungskontex- tik betrachte ich einerseits als Relation, ande-
tes lassen sich zudem folgende Verwendungs- rerseits als Strategie. Unter Kontrastivität als
weisen des Wortes ermitteln: „Berücksichti- Relation verstehe ich erstens das Verhältnis
gung des Verhältnisses zwischen der Mutter- von Erstsprache und Zweitsprache im inter-
sprache (MS) und der Fremdsprache (FS)“ lingualen Vergleich, zweitens das Verhältnis
(Hessky 1994, 20), wobei die zwischen den von Erstsprache, Lernersprache und Zweit-
beiden Sprachen bestehende Ähnlichkeitsre- sprache im Zweitspracherwerbsprozess sowie
lation gemeint ist. Kielhöfer setzt sich im Be- drittens das Verhältnis von interlingualem
reich der Kontrastivität primär mit der Frage Vergleich und Zweitspracherwerbsprozess. Es
auseinander, „ob und wie der Kontakt zwi- werden dabei Unterschiede, Ähnlichkeiten
schen Muttersprache (⫽ L1) und Fremdspra- und Identitäten in den Form- und Funktions-
che (⫽ L2) den Sprachlernprozeß beeinflußt“ zuordnungen auf jeder dieser drei relationa-
(Kielhöfer 1995, 35). Bei dieser Art der Prob- len Ebenen gleichermaßen mit einbezogen.
lemstellung ergeben sich Berührungspunkte Kontrastivität als Relation von interlingua-
zwischen den Konzepten Kontrastivität und lem Vergleich und Erwerb einer Zweitsprache
Transfer bzw. Interferenz. Mit Transfer meint bedeutet in erster Linie das Verhältnis von
man die positive Beeinflussung des Sprach- objektiver Distanz zwischen Erst- und Zweit-
196 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

sprache und der subjektiven Wahrnehmung ischen Tradition ist auch die Bezeichnung
der besagten Distanz durch den Lerner. Da konfrontative Linguistik anzutreffen, die im
dieser Aspekt der Kontrastivität kaum er- vermeintlichen Gegensatz zur Kontrastiven
forscht ist, soll hier lediglich auf Kellerman Linguistik die gleichrangige Behandlung von
(1979, 37ff.) verwiesen werden, der das Phä- interlingualen Unterschieden, Ähnlichkeiten
nomen des Transfers im Rahmen eines kogni- und Identitäten betonen soll. Des Weiteren
tiven Modells untersucht. Die Feststellung werde ich den in der Forschung besser eta-
von Klein (1992, 151), dass das Aufeinander- blierten ersten Terminus verwenden. Die
beziehen bewusster und unbewusster Distanz- Kontrastive Linguistik stellt kein homogenes
wahrnehmung in Bezug auf Lernersprache Phänomen dar, sondern ist durch viele Rich-
und Zielsprache ein Forschungsdesideratum tungen gekennzeichnet, die jeweils unter-
darstellt, kann ohne weiteres auch auf das schiedlichen sprachtheoretischen Ansätzen
Verhältnis von Erst- und Zweitsprache über- zuzuordnen sind und über unterschiedliche
tragen werden. Hier kann nur die Hoffnung Proportionen theoretischer und deskriptiver
zum Ausdruck gebracht werden, dass Kon- Komponenten verfügen. Dies ist nicht der ge-
trastivität auch als bewusste und unbewusste eignete Ort, die einzelnen Richtungen Revue
Distanzwahrnehmung bald die gebührende passieren zu lassen. Mir kommt es vielmehr
Aufmerksamkeit in der Sprachlehrforschung darauf an, das Verhältnis von theoretischer
erfahren wird. Mit Kontrastivität als Strate- und anwendungsorientierter Kontrastiver
gie meine ich einerseits die explizite Bewusst- Linguistik zu klären sowie Möglichkeiten
machung von Unterschieden, Ähnlichkeiten und Grenzen Kontrastiver Grammatiken ab-
und Identitäten in den Form- und Funktions- zuwägen.
zuordnungen als Strategie des kognitiven Die gegenwärtige Situation ist dadurch ge-
Lernens sowie andererseits die implizite Be- kennzeichnet, dass die Kontrastive Linguistik
wusstmachung von Kontrasten und Kon- zwar im größten Teil Europas, in Südostasien
trastmangel in Situationen des Zweitsprach- und im Fernen Osten gut vertreten ist, in den
erwerbs zur optimalen Steuerung des Lern- USA jedoch ihre Anziehungskraft weitge-
prozesses. hend eingebüßt hat. Fisiak (1990, 3ff.) erklärt
Die einzelnen Komponenten der obigen diese Asymmetrie zum einen mit der längeren
Arbeitsdefinition werden des Weiteren in se- und reicheren europäischen Forschungstradi-
paraten Gliederungseinheiten näher beleuch- tion und zum anderen mit der anfangs eu-
tet. Kontrastivität als Relation wird in den phorischen Überbewertung der Bedeutung
Abschnitten 2., 3. und 4. behandelt. Kontra- der Kontrastiven Linguistik für den Fremd-
stivität im interlingualen Vergleich wird unter sprachenunterricht. Vertreter der amerikani-
2.1. bis 2.2. thematisiert. Kontrastivität im schen kontrastiven Welle traten nämlich in
Zweitspracherwerbsprozess in Bezug auf den 60er Jahren mit dem Anspruch auf, über
Erstsprache, Lernersprache und Zweit- Voraussage und Hierarchisierung von Lern-
sprache wird unter 3.1. bis 3.4. besprochen. schwierigkeiten auf die Progression in Unter-
Das Aufeinanderbeziehen der beiden oben richtsmaterialien einen direkten Einfluss aus-
genannten Kontrastivitätsarten, d. h. Kontra- zuüben. Die europäische kontrastive For-
stivität im interlingualen Vergleich und im schung betonte dagegen stets, dass Kontrasti-
Zweitspracherwerbsprozess, erfolgt in Ab- vität nur einer unter vielen anderen Faktoren
schnitt 4. Kontrastivität als Strategie wird in sei, die bei der Steuerung des Fremdsprachen-
Abschnitt 5. erläutert, die explizite Bewusst- unterrichtes mit berücksichtigt werden soll-
machung von Kontrast und Kontrastmangel ten. Nach Nickel (1992, 214) war keines der
unter 5.1., die implizite Bewusstmachung un- europäischen kontrastiven Projekte behavio-
ter 5.2. ristisch-taxonomisch geprägt, die europä-
ische kontrastive Forschung war vielmehr
deskriptiv und theoretisch orientiert, wobei
2. Kontrastivität und Sprachvergleich die Idee von einer für den Fremdsprachenun-
terricht konzipierten Angewandten Kontra-
Die Kontrastive Linguistik hat den synchro- stiven Linguistik mit einem realistisch einge-
nen Vergleich zweier oder mehrerer Sprachen schränkten Geltungsbereich auch nicht abge-
zum Gegenstand, um dadurch zu sprachtheo- lehnt wurde. Immer wieder muss aber davor
retischen Erkenntnissen zu gelangen und/ gewarnt werden, mit falschen Erwartungen
oder zur Deskription der zu vergleichenden an die Kontrastive Linguistik heranzutreten,
Sprachen beizutragen. In der osteuropä- die ja nicht unmittelbar auf die Bedürfnisse
16. Kontrastivität in der Grammatik 197

des Fremdsprachenunterrichtes ausgerichtet satz zu seiner im Jahre 1980 erschienenen


ist, sondern sprachliche Problemstellungen Monographie vertritt nun James die Position,
theoretischer oder deskriptiver Art zu thema- dass nicht nur entsprechende Subsysteme
tisieren hat. Die Didaktisierung der Ergeb- zweier Sprachen verglichen werden können,
nisse des Sprachvergleichs ist zwar möglich sondern Sprachen auch einer holistischen
(z. B. in Form von kontrastiven Fremdspra- kontrastiven Analyse unterzogen werden
chengrammatiken), die Angewandte Kontra- können. Die Ergebnisse der kontrastiv-typo-
stive Linguistik kann aber nicht für sich in logischen Forschung referierend, hebt James
Anspruch nehmen, Fragestellungen aus dem hervor, dass Kontraste nicht mehr isoliert er-
Kompetenzbereich der Spracherwerbs- und fasst werden, sondern in ihren implikationel-
Sprachlehrforschung zu behandeln. len Zusammenhängen. Festzuhalten bleibt,
dass in der theoretischen Kontrastiven Lin-
2.1. Theoretische, deskriptive und guistik immer tiefere Systemzusammenhänge
Angewandte Kontrastive Linguistik und Implikationshierarchien aufgezeigt wer-
In Anlehnung an Nickel (1980, 633) lässt sich den, die mit den nötigen Transmissionen
die klassische Fisiaksche Einteilung als theo- auch zur Optimierung des Fremdsprachenun-
retische und deskriptive Kontrastive Lingui- terrichts beitragen können. James weist u. a.
stik wiedergeben, wobei die letztere bereits darauf hin, dass Lernende von einer minima-
eine Art Anwendung darstellt, die Anwen- len Information über ein Detail eines interlin-
dung des durch die Grundlagenforschung ge- gualen Kontrastes ausgehend durch Inferie-
schaffenen Theoriegebäudes auf den systema- ren auf die Existenz eines implikativ begrün-
tischen detaillierten Sprachvergleich. Diese deten Kontrastes schließen können. Wekker
Aufgliederung findet bei Fisiak auch in der (1992, 289f.) argumentiert dafür, dass die
Angewandten Kontrastiven Linguistik eine Kontrastive Linguistik in der Zweitspracher-
analoge Entsprechung in der Gegenüberstel- werbsforschung eine zunehmend wichtige
lung von allgemeinen und spezifischen an- Rolle spielen sollte. Während Wekker den
gewandten kontrastiven Untersuchungen. GB-basierten universalgrammatisch orien-
Nickel (1980, 635) betont, dass diese Auftei- tierten Ansatz scharf kritisiert, meint er, in
lung viel problematischer sei als die erste. der Synthese der traditionellen und der typo-
Des Weiteren soll einfach von Angewandter logisch orientierten Kontrastiven Linguistik
Kontrastiver Linguistik die Rede sein, wobei eine zukunftsträchtige Variante gefunden zu
sie im Sinne einer spezifischen Anwendung haben, die zur Erforschung von Lernerspra-
verwendet werden soll, und zwar in Bezug chen einen wichtigen Beitrag leisten könnte.
auf den Fremdsprachenunterricht. Da die Kontrastive Linguistik die Mutter-
Hinsichtlich der Anwendbarkeit der Kon- sprache der Lernenden ernstnimmt, ermög-
trastiven Linguistik zeichnen sich gegenwär- licht sie die Abgrenzung der universalen Phä-
tig zwei einander diametral entgegengesetzte nomene von den sprachspezifischen Merkma-
Positionen ab: eine anwendungsskeptische len. Eine Wiederbelebung der Kontrastiven
und eine anwendungsoptimistische. Bemer- Linguistik erwartet Wekker außerdem auch
kenswerterweise nehmen beide Parteien auf im Zusammenhang mit der Interferenzfor-
dieselbe kontrastiv-typologische Richtung Be- schung.
zug. Repräsentativ für die Anwendungsskep-
tiker ist König, der die Ansicht vertritt, dass 2.2. Möglichkeiten und Grenzen einer
die „als Komplement zur Typologie“ (König kontrastiven Grammatik
1990, 117) bzw. „als Grenzfall eines typologi- Deskriptive kontrastive Untersuchungen
schen Vergleichs“ (König 1996, 31) konzi- können linguistische kontrastive Grammati-
pierte Kontrastive Linguistik kaum im ken als Ergebnis haben, die zwar für den un-
Fremdsprachenunterricht anwendbare Er- mittelbaren Einsatz im Fremdsprachenunter-
gebnisse hervorbringen könne. richt nicht geeignet sind, die aber Lehrwerk-
Als repräsentative Vertreter der Anwen- autoren als Didaktisierungsgrundlage bei der
dungsoptimisten sollen James und Wekker Erarbeitung von kontrastiven Lernergramma-
genannt werden. Eine neue Möglichkeit für tiken dienen können.
die Bewusstmachung interlingualer Kontra- Unter Forschern wie Praktikern herrscht
stivität meint James (1992, 195) in bestimm- Konsens über die Beurteilung der Grenzen
ten Entwicklungstendenzen der Kontrastiven der Einsetzbarkeit von pädagogischen kon-
Linguistik, vor allem der typologisch orien- trastiven Grammatiken. Es ist festzuhalten,
tierten Forschung, zu entdecken. Im Gegen- dass sich Lernschwierigkeiten und Schritte zu
198 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

deren Überwindung allein aufgrund der be- stivhypothese zuzuschreiben, dass die Kon-
schriebenen interlingualen Kontraste bzw. trastive Linguistik für lange Zeit in Misskre-
Ähnlichkeiten nicht bestimmen lassen. Diese dit geraten war und zum Teil auch gegenwär-
sind lediglich als „Orientierungs- und Ent- tig noch einen schlechten Ruf hat. Die meiste
scheidungshilfe“ (Hessky 1994, 24) bei der Kritik richtete sich gegen die behavioristi-
Didaktisierung der grammatischen Kompo- schen Annahmen der amerikanischen Taxo-
nente der Fremdsprache anzusehen, wobei nomisten. Nickel (1992, 214) weist allerdings
die Differenzierung des Begriffs des zwischen- darauf hin, dass die Vorstellungen der ameri-
sprachlichen Unterschiedes bzw. der Ähnlich- kanischen Klassiker der Kontrastiven Lingui-
keit nach formalem und funktionalem stik allzu oft als Beweismaterial zur Unter-
Aspekt als besonders wichtig eingeschätzt mauerung kontrastivitätsfeindlicher Positio-
wird. nen aus dem Gesamtzusammenhang heraus-
Es darf schließlich nicht übersehen wer- gerissen zitiert und dadurch entstellt wurden.
den, dass Probleme bei der methodischen Ge- Die Kontrastivhypothese gilt im Sinne ei-
staltung der Grammatikvermittlung durch nes Modells des Zweitspracherwerbs als
eine pädagogische kontrastive Grammatik überholt, weil sie wegen ihrer behavioristi-
nicht gelöst werden können. schen Beschränktheit und der Überbewer-
tung der Rolle der Erstsprache die zu erklä-
renden Phänomene nicht in ihrer Komplexi-
3. Kontrastivität und tät erfassen kann. Wenn nun Klein die abge-
Zweitspracherwerb schwächte Variante der Kontrastivhypothese,
In den folgenden Abschnitten sollen die be- wonach „es positive und negative Einwirkun-
kanntesten Hypothesen zum Verhältnis von gen aus der Erstsprache gibt“ (Klein 1992,
Erst- und Zweitspracherwerb unter dem 38), als trivial bezeichnet, so kann damit
Aspekt der Kontrastivität kurz besprochen nicht gemeint sein, dass die Frage nach der
werden. Da in diesem Rahmen auf Ergeb- Rolle der Erstsprache im Zweitspracherwerb
nisse der Zweitspracherwerbsforschung nicht und nach den Mechanismen ihres Einflusses
ausführlich eingegangen werden kann, soll auf den Lernprozeß trivial wäre. In diesen
hier zur Orientierung auf Housen (1996, Zusammenhang fügt sich auch der For-
517 ff.) verwiesen werden, der einen Über- schungsbericht von Gass (1996, 562ff.) ein, in
blick über neuere Ansätze auf diesem Gebiet dem die Rolle der Erstsprache aus der Sicht
liefert. der neueren Interferenzforschung beleuchtet
wird. Gass betont, dass Transfer und Interfe-
3.1. Kontrastivhypothese renz in der neueren Forschung nicht mehr be-
Nach dieser auf strukturalistischer und beha- havioristisch angegangen werden und dass
vioristischer Grundlage entstandenen Hypo- die lernerbezogene Selektivität von Interfe-
these wird der Zweitspracherwerb primär renzphänomenen immer mehr in den Mittel-
durch die Struktur der Erstsprache des Ler- punkt des Interesses rückt.
ners gesteuert. Aus dieser Annahme folgt,
3.2. Identitätshypothese
dass Transfer- und Interferenzprozessen
überragende Bedeutung zugeschrieben wird. Die radikalste Variante dieser Hypothese be-
Die Hypothese liegt in unterschiedlich star- sagt, dass Erst- und Zweitspracherwerb den
ken Ausprägungen vor, die jeweils davon ab- gleichen Verlauf haben. Nach Klein (1992,
hängig zu unterscheiden sind, inwieweit in ih- 36) gibt es keine Anhänger dieser Form der
rem Rahmen Lernschwierigkeiten und Er- Hypothese. Viele Forscher behaupten jedoch,
werbssequenzen aus interlingualen Unter- dass Erst- und Zweitspracherwerb im We-
schieden und Identitäten abgeleitet werden. sentlichen identisch sind, wobei hinsichtlich
Hier sei nur auf Bausch/Kasper (1979, 5ff.) der Interpretation der wesentlichen Züge des
verwiesen, die einen kritischen Überblick Spracherwerbs die Meinungen weit auseinan-
über die einzelnen Varianten bieten. dergehen. Vertreter der gemäßigten Variante
Es kann wegen der zahlreichen Missver- der Identitätshypothese gehen von der An-
ständnisse und Fehlinterpretationen nicht oft nahme aus, dass die Erstsprache im Prozess
genug davor gewarnt werden, die Kontrastiv- des Zweitspracherwerbs nur eine marginale
hypothese mit Kontrastivität oder mit Kon- Rolle spielt. Dies führt dann folgerichtig zur
trastiver Linguistik gleichzusetzen. Es ist Vernachlässigung des Prinzips der Kontrasti-
größtenteils der Popularisierung der Kontra- vität im Fremdsprachenunterricht.
16. Kontrastivität in der Grammatik 199

3.3. Interlanguage-Hypothese fassung gehören auch Fehlertherapie, -prog-


Diese Hypothese geht von der Annahme aus, nose und -prophylaxe als Teilgebiete zur Feh-
dass Lernende auf der Grundlage kognitiver leranalyse im Sinne einer Disziplin. Gegen-
Prozesse und kommunikativer Strategien stand der Fehleranalyse sind die Abweichun-
Lernervarietäten, sog. Interlanguages auf- gen in Lernersprachen von den zielsprach-
bauen, die einerseits durch Übergangscha- lichen Normen. Seit den 70er Jahren werden
rakter, andererseits durch Systemhaftigkeit Fehler zunehmend mehr als Indikator für
gekennzeichnet sind. Ausgangspunkt ist die Lernprozesse bzw. sogar als Lernstrategie an-
Untersuchung authentischer zweitsprach- gesehen.
licher Äußerungen. Seit Ende der 70er Jahre Es ist bereits allgemein anerkannt, dass
sind in erheblicher terminologischer Vielfalt Fehler nicht nur durch die erstsprachliche In-
verschiedene Varianten der Interlanguage- terferenz bedingt sein können. In der euro-
Hypothese vorgelegt worden. Die einzelnen päischen kontrastiven Forschung ist nach
Ausprägungen des Modells haben zwar die Nickel (1992, 213) nie angenommen worden,
Annahme gemeinsam, dass eine Lernervarie- dass interferenzbedingte Fehler den einzig
tät neben Erscheinungen der Erst- und Zweit- möglichen Fehlertyp darstellen würden. Der
sprache auch von diesen unabhängige Phäno- Beitrag der Kontrastiven Linguistik zur
mene aufweist, hinsichtlich der Beurteilung Optimierung des Fremdsprachenunterrichtes
des genauen Status der Erstsprache gehen je- wurde nicht so sehr in der Voraussage, son-
doch die einzelnen Modellvarianten stark dern vielmehr in der Erklärung von Fehlern
auseinander. gesehen. Über das Ausmaß des Einflusses der
Erstsprache sowie über das Verhältnis der auf
3.4. Monitorhypothese interlingualen Kontrasten bzw. auf Kontrast-
Diese Hypothese stellt eine der sechs Kompo- mangel beruhenden Fehler zu den nicht kon-
nenten des Monitormodells dar, das über das trastiv verursachten Fehlern gehen die Mei-
Verhältnis von Erst- und Zweitspracherwerb nungen stark auseinander. Ein wichtiges An-
hinausgehend auch das von gesteuertem und liegen der Fehleranalyse ist, durch Interferenz
ungesteuertem Zweitspracherwerb themati- verursachte Fehler und entwicklungsbe-
siert (vgl. Krashen 1985). Kerngedanke der dingte, durch universale Prinzipien erklär-
Monitorhypothese ist, dass intuitiv erworbe- bare Fehler, die einem bestimmten Stadium
nes Sprachwissen von bewusst Gelerntem zu einer Lernersprache zuzuordnen sind, gegen-
trennen ist und dass Lernen nur über eine einander abzuheben. Es handelt sich dabei
Kontrollinstanz, den sog. Monitor möglich um das Verhältnis von Kontrastiver Lingui-
ist. Mit Monitor ist die Fähigkeit des Lerners stik, Fehleranalyse und Lernersprachfor-
gemeint, die eigene Sprachproduktion und schung. Die Diskussion über das Verhältnis
-rezeption bewusst zu überwachen. Die Rolle von Kontrastiver Linguistik und Fehlerana-
der Erstsprache wird als marginal, das Kon- lyse ist über die letzten 30 Jahre hinweg vor
zept der Interferenz als überholt eingeschätzt. allem im Zusammenhang mit der Lernerspra-
James (1991, 247ff.) zeigt in kritischer Aus- chenforschung in bestimmten zeitlichen Ab-
einandersetzung mit diesem vor allem durch ständen sehr intensiv geführt worden. Nickel
Krashen bekannt gewordenen Modell, dass (1992, 220) hält fest, dass in diesem interdiszi-
sich durch die Untersuchung der Relationen plinären Bereich noch kein Konsens unter
zwischen Erstsprache und universal gültigen den Anhängern verschiedener Forschungstra-
Erscheinungen von Lernersprachen sowie ditionen erzielt werden konnte. In diesen
durch die Einführung der Konzepte des Mo- Kontext ist auch die Frage nach dem Ver-
nitorgebrauchs und der Selbstkorrektur trotz hältnis von kontrastiven zu nicht-kontrasti-
ven Fehlern einzuordnen. Während die kon-
der expliziten Negierung der Wichtigkeit der
trastive Komponente in bestimmten Phasen
Interferenz neue Perspektiven für die Erfor-
der Forschung überdimensioniert war, wer-
schung der Rolle der Erstsprache eröffnen.
den entwicklungsbedingte Fehler durch be-
stimmte neuere Ansätze der Fehleranalyse oft
4. Kontrastivität und Fehleranalyse auf Kosten von kontrastiven Fehlern überbe-
tont. Nickel (1992, 212ff.) bietet in kritischer
Die Fehleranalyse setzt sich als Teildisziplin Auseinandersetzung mit den Hypothesen von
der Fremdsprachendidaktik mit Untersu- Dulay/Burt/Krashen (1982) als repräsentati-
chung und Klassifizierung zweitsprachlicher ven Vertretern der kontrastivitätsfeindlichen
Fehler auseinander. Nach einer weiteren Auf- Richtung einen Überblick über den gegen-
200 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

wärtigen Forschungsstand. Nickel dokumen- werbsprozesses breit angelegte empirische


tiert, dass sich die Unterschätzung der Kon- Untersuchungen erforderlich sind, die unter
trastivität auf Fehlinterpretationen der For- Konstanthaltung aller anderen Variablen sy-
schungspositionen bestimmter Richtungen stematisch jeweils nur eine Variable abwan-
der Kontrastiven Linguistik, auf Definitions- deln. Hinsichtlich des Problems der Unter-
probleme bei entwicklungsbedingten Fehlern, scheidung von kontrastiven und nicht-kon-
auf die Möglichkeit von Mehrfachinterpreta- trastiven Fehlern sind erst dann aussagekräf-
tionen bei bestimmten Fehlertypen sowie auf tige Beobachtungen zu erwarten, wenn die
das Unterbleiben der systematischen Erfas- einzige abgewandelte Variable die Erstspra-
sung und Analyse von Fehlern in verschiede- che der Lerner betrifft. Als konsensfähig gilt
nen Bereichen der Grammatik zurückführen gegenwärtig lediglich die Erkenntnis, dass die
lässt. durch die Kontrastive Linguistik ermittelten
Aus der Perspektive der Interlanguage-Hy- interlingualen Unterschiede, Ähnlichkeiten
pothese werden von Selinker (1989, 268ff.) und Identitäten nicht die direkte Wiederspie-
die frühesten Forschungsergebnisse der Kon- gelung unterschiedlicher Grade von Lern-
trastiven Linguistik und der Fehleranalyse schwierigkeiten darstellen und deshalb auch
ausgewertet. Es wird durch frühe experimen- nicht unhinterfragt zur Voraussage von Feh-
telle Ergebnisse bestätigt, dass der Zweit- lern eingesetzt werden können. Die Ergeb-
spracherwerbsprozess nicht nur von der Erst- nisse der Kontrastiven Linguistik sind aus
sprache und der Zielsprache beeinflusst wird, diesem Grunde immer zu Beobachtungen der
sondern auch von autonomen sprachlichen Fehleranalyse in Bezug zu setzen. Da struk-
Erscheinungen begleitet wird, die sich weder turale Kongruenz für bestimmte Transfer-
aus der Erstsprache noch aus der Zielsprache phänomene unbedingt erforderlich ist, wird
ableiten lassen. Selinker weist überzeugend der Sprachvergleich als Ausgangspunkt für
nach, dass sich Kontrastive Linguistik, Feh- Überlegungen zur Optimierung des Lernpro-
leranalyse und Lernersprachforschung zu ei- zesses angesetzt. Die aus dem Sprachver-
ner ganzheitlichen Betrachtungsweise inte- gleich abgeleiteten Voraussagen über potenti-
grieren lassen, und ruft zur eingehenden Ana- elle Fehlerquellen sind unbedingt durch die
lyse der lange Zeit als überholt angesehenen Ermittlung von Lernschwierigkeiten durch
umfangreichen Fachliteratur zur Kontrasti- die Fehleranalyse zu überprüfen und zu mo-
ven Linguistik und Fehleranalyse auf, um difizieren. Durch die Fehleranalyse können
durch die Verifizierung bzw. Falsifizierung zwar tatsächlich bestehende Lernschwierig-
der Annahmen der bisherigen Forschung der keiten identifiziert werden, es können aber
Untersuchung von Zweitspracherwerbspro- bei weitem nicht alle potentiellen Fehlerquel-
zessen wichtige Anregungen zu vermitteln. len erfasst werden. Hinzu kommt noch, dass
Auf diese Weise könnte man nach Selinker die beschriebenen Abweichungen von den
letzten Endes zu einer Neubewertung des Sta- zielsprachlichen Normen durch das Metho-
tus der Interferenzforschung gelangen, wobei deninstrumentarium der Fehleranalyse nicht
die Frage nach dem Verhältnis von universa- angemessen interpretiert werden können.
len Prozessen und dem Einfluss der Erstspra- Dies wird erst durch die Einbeziehung der
che sowie anderer parallel existenter Lerner- Erforschung von Lernersprachen ermöglicht.
sprachen differenzierter als bisher betrachtet
werden sollte. Die Kontrastive Linguistik ist
der beste Ansatzpunkt für Interferenzunter-
5. Möglichkeiten und Grenzen der
suchungen, wird doch strukturale Kongruenz Steuerung des
oder zumindest eine teilweise strukturale Zweitspracherwerbsprozesses
Ähnlichkeit als notwendige, wenn auch nicht aufgrund des Prinzips der
als ausreichende Voraussetzung für die mei- Kontrastivität
sten Transfertypen angesehen.
Für den gegenwärtigen Forschungsstand Die Behauptung, dass eine Zweitsprache
ist kennzeichnend, dass es mehr offene Fra- immer auf der Grundlage einer Erstsprache
gen gibt als gesichertes und allgemein akzep- erworben wird, scheint eine Binsenwahrheit
tiertes Wissen. Die Diskussion über das Ver- zu sein. Nichtsdestoweniger sind im Kielwas-
hältnis von kontrastiven Fehlern zu nicht- ser verschiedener Zweitspracherwerbsmo-
kontrastiven ist noch bei weitem nicht abge- delle (vgl. dazu u. a. die unter 3.2. behandelte
schlossen. Festzuhalten bleibt, dass ange- Identitätshypothese) immer wieder Versuche
sichts der Komplexität des Zweitspracher- zu beobachten, die Erstsprache der Lerner
16. Kontrastivität in der Grammatik 201

aus dem Unterrichtsprozess vollkommen die gleichzeitige Präsentation aller Erschei-


auszuschließen. Die Vermarktungsstrategien nungen eines Subsystems der Zweitsprache
internationaler Verlage begünstigen auch im Vergleich zu dem entsprechenden Sub-
vielfach den Vertrieb einseitig zielsprachen- system der Erstsprache. Das Verfahren wird
orientierter Lehrwerke, in denen das Prinzip von James am Beispiel der Tempora erläu-
der Kontrastivität sowohl in sprachlicher als tert.
auch in kultureller Hinsicht vollkommen aus- Juhász (1970, 164) unterscheidet drei For-
geblendet ist. Im kommunikativ orientierten men der kontrastiven Vermittlung zweit-
Fremdsprachenunterricht wird Kontrastivität sprachlicher Erscheinungen:
als Bewusstmachungsstrategie vielfach abge-
(1) Interlingual isomorphe Erscheinungen
lehnt, wobei übersehen wird, dass kognitive
müssen einmal verstanden werden und
Elemente der Kommunikation in der Zweit-
können dann in den meisten Fällen ohne
sprache in den Dienst gestellt werden kön-
Bewusstmachung unmittelbar automati-
nen. Die Ignorierung der Erstsprache lässt
siert werden.
sich aber nicht nur auf Prämissen bestimm-
(2) Stark abweichende Erscheinungen müs-
ter Ansätze der Zweitspracherwerbs- und
sen in scharfem Kontrast zur Erstsprache
Sprachlehrforschung zurückführen, sondern
vermittelt und auch noch bei der darauf
in vielen Fällen auch auf eine Fehlinterpreta-
folgenden Automatisierung mehrmals
tion des Prinzips der Kontrastivität: Kontra-
durch eine Konfrontation mit der Erst-
stivität im Sprachvergleich und Kontrastiv-
sprache bewusst gemacht werden.
hypothese werden nicht selten mit Kontrasti-
(3) Bei Kontrastmangel müssen die entspre-
vität als Strategie gleichgesetzt (vgl. dazu
chenden Erscheinungen zur Überwin-
3.1.). Diese simplifizierende Auffassung der
dung der homogenen Hemmung häufig
Kontrastivität führt auch zur Ablehnung der
bewusst gemacht werden.
Mitberücksichtigung der Erstsprache. Bei ei-
ner differenzierteren Betrachtung der Kon- Nach einer lange Zeit währenden Dominanz
trastivität eröffnen sich dagegen vielfältige des Prinzips der absoluten Einsprachigkeit im
Möglichkeiten für die optimale Steuerung des Fremdsprachenunterricht mehren sich gegen-
Unterrichtsprozesses. Kontrastivität als Stra- wärtig die Stimmen, die sich für eine mög-
tegie hat zwei Erscheinungsformen: explizite lichst vielfältige Einsetzung der Mutterspra-
und implizite Bewusstmachung. In der For- che aussprechen. So sieht u. a. Butzkamm
schung herrscht Konsens darüber, dass die die Muttersprache als Vorleistung für die
Bestimmung des Verhältnisses von Automati- Fremdsprache an (vgl. Butzkamm 1993,
sierung und Bewusstmachung sowohl im All- 14ff.). Von dieser Grundposition ausgehend
gemeinen als auch auf interlinguale Kontra- will er die Erstsprache als Vermittlungsin-
stivität bezogen von einem äußerst komple- stanz auch im Sinne einer Vermittlungs-
xen Geflecht diverser Faktoren (Alter und sprache beim Erwerb einer Fremdsprache
Persönlichkeit der Lerner, Lernziele usw.) ab- gelten lassen. Die beiden wichtigsten Funk-
hängt und sich von Unterrichtssituation zu tionen der Erstsprache beim Grammatiker-
Unterrichtssituation jeweils unterschiedlich werb sind jedoch nach Butzkamm die Sicher-
gestalten kann. Die Klärung der Rolle der stellung der funktionalen Transparenz durch
einzelnen Faktoren sowie ihrer Zusammen- idiomatische Übersetzung sowie die Gewähr-
hänge bei der Beeinflussung des Lernprozes- leistung der strukturalen Transparenz durch
ses durch die Erstsprache gilt gegenwärtig als erstsprachliche Spiegelung, d. h. durch wort-
eine der wichtigsten Forschungsaufgaben. wörtliche Übersetzung der zweitsprachlichen
Konstruktion in die Erstsprache. Letzteres
5.1. Explizite Bewusstmachung der wird bei nah verwandten Sprachen als weni-
Kontrastivität als Strategie des ger notwendig eingeschätzt.
kognitiven Lernens Übersetzung als kontrastive Bewusstma-
Explizite Bewusstmachung der Kontrastivität chungsstrategie wird gegenwärtig häufig mit
erfolgt durch die kontrastive Vermittlung Skepsis betrachtet. Dies spiegelt sich auch in
grammatischer Erscheinungen. James (1980, der immer noch anhaltenden Tendenz, keine
154ff.) spricht in diesem Zusammenhang von Übersetzungsübungen in Lehrwerke zu inte-
„contrastive teaching“ als einer besonderen grieren. Von der Mitte der 80er Jahre an mel-
Erscheinungsform der kontrastiven Vermitt- den sich im Gegenzug dazu immer mehr For-
lung zweitsprachlicher Elemente und Kon- scher, die der Übersetzung zu den ihr zuste-
struktionen. Als „contrastive teaching“ gilt henden Rechten verhelfen wollen. Erste An-
202 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

zeichen der Herausbildung einer neuen über- in der unterschiedlichen Detailschärfe und
setzungsfreundlichen Richtung in der Fremd- Ausführlichkeit bei Deskription, Präsenta-
sprachendidaktik werden von James (1992, tion und Einübung der unter dem Aspekt der
194f.) dokumentiert und interpretiert. interlingualen Kontrastivität jeweils unter-
Es darf schließlich nicht unerwähnt blei- schiedlichen Teilbereiche der Grammatik der
ben, dass immer mehr Lehrwerke konzipiert Zweitsprache. Auf diese Weise kommt es bei
werden, in denen das Prinzip der Kontrastivi- der Vermittlung bestimmter grammatischer
tät mit berücksichtigt wird. Grießhaber Erscheinungen im Fremdsprachenunterricht
(1995, 288ff.) analysiert zweisprachige Lehr- zu einer erheblichen Komplexitätszunahme
werke unter dem Aspekt der Einbeziehung im Vergleich zu deren Behandlung im Mut-
der Erstsprache und belegt überzeugend, dass tersprachenunterricht. Die Differenzierung
sie über den direkten Sprachvergleich hinaus- des Lehrstoffes unter dem Aspekt der
gehend vielfältige Funktionen im Bereich der Sprachrezeption und Sprachproduktion wird
impliziten Bewusstmachung der Kontrastivi- von Hessky (1994, 24) ebenfalls in diesem
tät übernehmen kann. Zusammenhang betrachtet.
Selektion wird immer von Komplexitätsre-
5.2. Strategien der impliziten duktion begleitet. Nach Butzkamm (1993,
Bewusstmachung der Kontrastivität im 124) ist der Fremdsprachenunterricht „ein
Fremdsprachenunterricht schwieriger Balanceakt zwischen den Erfor-
Implizite Bewusstmachung der Kontrastivität dernissen der Kommunikation und der Kom-
umfaßt Strategien, die letztendlich herbeifüh- plexitätsreduktion“. Es ist dabei konsequent
ren sollen, dass der Lerner durch Inferieren zwischen einer Strategie der impliziten Be-
Hypothesen über die Struktur der zu erler- wusstmachung der Kontrastivität sowie ver-
nenden Sprache aufstellt und diese ständig schiedenen bewussten und unbewussten Re-
verbessert. Es handelt sich dabei um Selek- duktionsstrategien der Lerner zu unterschei-
tion, Komplexitätsreduktion, Progression so- den. Der Terminus Komplexitätsreduktion
wie Metapher als Bewusstmachungsstrate- soll hier ausschließlich in der ersten Bedeu-
gien bei der Vermittlung der Grammatik der tung verwendet werden. James (1980, 158ff.)
Zweitsprache. schlägt vor, drei Arten der Komplexitätsre-
Selektion bedeutet nach James (1980, 151) duktion gegeneinander abzuheben, und zwar
die Bestimmung dessen, was unterrichtet strukturale, funktionale und entwicklungsbe-
werden soll. Die Erstsprache dient dabei mit- zogene Vereinfachung. Dadurch wird die nur
telbar über die Schwierigkeiten, die die Ler- strukturale Reduktion anerkennende tradi-
ner der Zweitsprache haben, als Grundlage tionelle Konzeption um zwei weitere Katego-
für die Auswahl der zu behandelnden Er- rien ergänzt. Funktionale Reduktion bedeu-
scheinungen. James versteht jedoch unter Se- tet demnach die Vermittlung eines zweit-
lektion nicht die ausschließliche Berücksichti- sprachlichen Inputs, in dem die feineren
gung grammatischer Erscheinungen, die in funktionalen Distinktionen aufgehoben sind.
interlingualer Hinsicht Lernschwierigkeiten Entwicklungsbezogene Reduktion wird von
bedeuten. Als Terminus wurde von ihm des- James auf Lernersprachen bezogen. Es
wegen Intensitätsselektion vorgeschlagen, um kommt dabei zu Überlappungen zwischen
klarzustellen, dass Erscheinungen, bei denen Komplexitätsreduktion und Vereinfachung
mit der transferierenden Wirkung der Erst- seitens der Lerner. Es darf nicht übersehen
sprache gerechnet werden kann, nicht ganz werden, dass Komplexitätsreduktion, die zu
und gar aus dem Unterricht ausgeschlossen einem bestimmten Zeitpunkt Lernerleichte-
werden dürfen. Intensitätsselektion bezieht rung bedeutet, in einer späteren Phase zur
sich auf die Unterscheidung von Bestärkung Lernbehinderung werden kann. Ein offenes
und Lernen als zwei verschiedenen Zielset- Problem stellt die Differenzierung von kon-
zungen bei der Erarbeitung von Unterrichts- trastiv begründeten und allgemeinen Lehr-
materialien. Bestärkung, die bei interlingua- und Lernschwierigkeiten dar. Dies ist in sei-
len Isomorphismen in den Lernenden den po- ner Tragweite mit dem Problem der Unter-
sitiven erstsprachlichen Transfer einwurzeln scheidung kontrastiv und nicht kontrastiv
lassen soll, ist nicht so zeit- und arbeitsinten- motivierter Fehler zu vergleichen.
siv wie das Lernen von stark kontrastieren- Grammatische Progression bedeutet die
den oder ähnlichen, durch Kontrastmangel Anordnung der grammatischen Komponente
gekennzeichneten, zweitsprachlichen Erschei- des Lehrstoffs in Sequenzen, d. h. die Bestim-
nungen. Intensitätsselektion äußert sich auch mung der Reihenfolge ihrer Vermittlung, wo-
16. Kontrastivität in der Grammatik 203

bei das didaktische Prinzip ,Einfacheres vor sen beteiligter Verben ohne isomorphe Ent-
Schwierigerem‘ maßgebend ist. Die grundle- sprechungen in der Erstsprache im Rahmen
gende Problemstellung lautet für uns wie eines kognitiven Modells aufgezeigt. Dieser
folgt: Ist es möglich, die grammatische Pro- Ansatz ist von der traditionellen Herange-
gression nach kontrastiven Gesichtspunkten hensweise, die die Metapher als Quelle für
zu begründen? Es ist auf jeden Fall vorauszu- Transfer aus der Erstsprache ansieht, abzuhe-
schicken, dass die Verzahnung der grammati- ben, zumal es sich hier um ein Strukturie-
schen Progression mit der lexikalischen sowie rungsprinzip bei der Aufbereitung des ziel-
mit allgemeinen kommunikativen Anforde- sprachlichen Inputs handelt. Die von Selinker
rungen zahlreiche Widersprüche und Kon- und Kuteva vorgeschlagene Strategie scheint
flikte in sich birgt. Das wichtigste For- der von James (1992, 192) geforderten Integra-
schungsdesideratum in diesem Bereich stellt tion von Bewusstmachung und Sprachbe-
die Klärung des Verhältnisses zwischen den wusstsein gerecht zu werden. Die Überlegun-
kontrastiven und nichtkontrastiven Anteilen gen zur Metapher als Strategie der impliziten
der lernerleichternd wirkenden Anordnung Bewusstmachung interlingualer Kontrastivi-
des zweitsprachlichen Inputs. Die kontrasti- tät sollen andeuten, dass es in diesem Bereich
ven Aspekte des Problemfeldes werfen aber noch viele offene Fragen und unausgeschöpfte
auch viele Fragen auf, die gegenwärtig noch Potenzen gibt, die sowohl Theoretiker als auch
nicht befriedigend beantwortet werden kön- Praktiker zur weiteren intensiven Forschung
nen. Die These der nicht ausgereiften Vari- einladen.
ante der Kontrastivhypothese, nach der sich
Lernschwierigkeiten in direkter Abhängigkeit
von der interlingualen Distanz auf einer 6. Literatur in Auswahl
Skala hierarchisieren ließen, gilt zwar zusam- Althaus, Hans Peter; Helmut Henne; Herbert Ernst
men mit der Annahme, dass sich die Progres- Wiegand (Hg.) (1980): LGL. Studienausgabe IV.
sion unmittelbar an der interlingualen Di- Tübingen.
stanz zu orientieren hätte, als falsifiziert, ein Bausch, Karl-Richard; Gabriele Kasper (1979):
systematisch ausgearbeiteter Gegenentwurf Der Zweitsprachenerwerb: Möglichkeiten und
ist jedoch noch nicht verfügbar. Die Lösung Grenzen der „großen“ Hypothesen. In: LB 64,
des Problems ist ⫺ wie unter 1. erwähnt ⫺ 3⫺35.
erst von der empirischen Erforschung der Butzkamm, Wolfgang (1993): Psycholinguistik des
subjektiven Distanzwahrnehmung zu erwar- Fremdsprachenunterrichts. Tübingen/Basel (UTB
ten. Der gegenwärtige Forschungsstand lässt für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher 1505).
die Erarbeitung einer in die Praxis umsetzba- Dittmar, Norbert; Martina Rost-Roth (Hg.)
ren Alternative noch nicht zu, ist doch unser (1995): Deutsch als Zweit- und Fremdsprache. Me-
Wissen über Erwerbssequenzen in unter- thoden und Perspektiven einer akademischen Diszi-
schiedlichen Typen von Spracherwerbssitua- plin. Frankfurt am Main etc. (Werkstattreihe
tionen äußerst bruchstückhaft. Das Verhält- Deutsch als Fremdsprache 52).
nis der Spezifik von Erwerbssequenzen im Dulay, Heidi C.; Marina K. Burt; Stephen Krashen
Erstspracherwerb, im ungesteuerten Zweit- (1982): Language two. London.
spracherwerb sowie in verschiedenen Ent- Fisiak, Jacek (1990): On the present status of some
wicklungsstadien von Lernervarietäten ist ge- metatheoretical and theoretical issues in contra-
genwärtig weitgehend ungeklärt. Festzuhal- stive linguistics. In: Further insights into contrastive
ten ist, dass sich Ergebnisse aus einem dieser analysis. Hg. v. Jacek Fisiak. Amsterdam/Philadel-
drei Bereiche nicht unhinterfragt in die bei- phia, 3⫺22.
den anderen übertragen lassen. Die zahlrei- Gass, Susan (1996): Transference and interference.
chen einander oft widersprechenden Hypo- In: Hans Goebl; Peter H. Nelde; Zdenek Stary u. a.
thesen der gegenwärtigen Forschungssitua- (Hg.) (1996), 558⫺567.
tion müssen durch Längsschnittuntersuchun- Goebl, Hans; Peter H. Nelde; Zdenek Stary u. a.
gen empirisch verifiziert oder falsifiziert wer- (Hg.) (1996): Kontaktlinguistik. Ein internationales
den. Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbband.
Die Möglichkeiten der Einsetzung der Me- Berlin/New York (HSK 12).
tapher als Bewusstmachungsstrategie im Grießhaber, Wilhelm (1995): Zweisprachige Lehr-
Fremdsprachenunterricht bei Erwachsenen werke für Deutschlerner. In: Norbert Dittmar;
werden von Selinker/Kuteva (1992, 249ff.) Martina Rost-Roth (Hg.) (1995), 283⫺302.
am Beispiel der Vermittlung stark polysemer Helbig, Gerhard (1981): Sprachwissenschaft ⫺
und zudem an Grammatikalisierungsprozes- Konfrontation ⫺ Fremdsprachenunterricht. Leipzig.
204 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

Hessky, Regina (1994): Der Sprachvergleich als König, Ekkehard (1990): Kontrastive Linguistik
Hilfe beim Grammatiklernen. In: DaF 31/1, 20⫺ als Komplement zur Typologie. In: Kontrastive
25. Linguistik. Hg. v. Claus Gnutzmann. Frankfurt am
Main etc. (Forum angewandte Linguistik 19),
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117⫺131.
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acquisition 2/1, 37⫺57. a consciousness-raising strategy. In: Christian
Mair; Manfred Markus (Hg.), 247⫺259.
Kielhöfer, Bernd (1995): Die Rolle der Kontrastivi-
Wekker, Herman (1992): On contrastive linguistics
tät beim Fremdspracherwerb. In: Norbert Dittmar;
and second language acquisition. In: Christian
Martina Rost-Roth (Hg.), 35⫺51.
Mair; Manfred Markus (Hg.), 279⫺292.
Klein, Wolfgang (1992): Zweitspracherwerb. Eine
Einführung. 3. Aufl. Frankfurt am Main. Rita Brdar-Szabó, Budapest (Ungarn)

17. Wörterbücher

1. Zum Gegenstandsbereich Wörterbuch sozialgeschichtliche Studien werden Wörter-


2. Wörterbuch-Typologie bücher gebraucht. Letztlich erweisen sie sich
3. Literatur in Auswahl für alle Lebensbereiche und -situationen in
Geschichte und Gegenwart, in denen mit
1. Zum Gegenstandsbereich Texten gearbeitet wird, als unentbehrlich. In
Wörterbuch diesem Sinn spricht Reichmann der Lexiko-
graphie zu Recht „eine kulturpädagogische
1.1. Begriffsbestimmung Aufgabe“ zu (1988, 400; zur Rolle von Wör-
Wörterbücher sind Nachschlagewerke, sie terbüchern bei der Verbreitung von Wissen in
können Dokumentations- und Informations- frühbürgerlicher Zeit vgl. v. Polenz 1994,
zwecken (deskriptiv) sowie der Anleitung 37ff.).
zum regelgerechten Sprachgebrauch (prä- Die unterschiedlichen Zwecksetzungen ha-
skriptiv) dienen. Sie unterstützen Wissenser- ben in einer langen historischen Tradition
werb und Kommunikation, einige Typen ha- eine große Vielfalt von Wörterbuchtypen her-
ben als „Lesebücher“ auch Unterhaltungs- vorgebracht, und auch gegenwärtig entstehen
wert (Kühn 1989, 121; Strauß 1988, 200). immer wieder neuartige Wörterbücher, wie
Ihre wichtigsten Anwendungsbereiche sind etwa Neubert am Beispiel des einsprachigen
muttersprachlicher und fremdsprachiger Un- englischen Produktionswörterbuchs „Lan-
terricht, selbständiges Sprachenlernen sowie guage Activator“ erläutert (1996, 158; vgl.
die Sprachmittlung. Auch für kulturelle und auch Langenscheidt’s Power Dictionary 1997)
17. Wörterbücher 205

oder wie das schon im Titel innovative Werk werden können, zum anderen sind es Funk-
„Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch tion, potentieller Adressatenkreis des Wörter-
zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/1990“ buchs und unterschiedliche Benutzungssitua-
(Herberg/Steffens/Tellenbach 1997; Hervor- tionen, die Bedingungen an seine Beschaffen-
hebung I.B.) zeigt. Entsprechend heterogen heit stellen. Und nicht zuletzt entscheiden
fallen die Bestimmungen des Begriffs Wörter- auch kommerzielle Gründe über Größe, Ge-
buch aus (Schaeder 1987, 23ff.), und als ent- stalt und Informationsangebot des Wörter-
sprechend schwierig erweist sich eine systema- buchs, worauf schon solche unterschiedlichen
tische Erfassung des Wörterbuchbestandes. Benennungen wie Groß-, Hand-, Kompakt-,
Hausmann erklärt das Wörterbuch als Liliput-, Taschenwörterbuch aufmerksam ma-
„eine durch ein bestimmtes Medium präsen- chen. Die Vielfalt und Komplexität dieser Pa-
tierte Sammlung von lexikalischen Einheiten rameter sowie ihre gegenseitige Abhängigkeit
(vor allem Wörtern), zu denen für einen be- bedingen zwangsläufig ebenso viele verschie-
stimmten Benutzer bestimmte Informationen dene Wörterbuchtypen.
gegeben werden, die so geordnet sein müssen, In der Metalexikographie ist es allgemein
daß ein rascher Zugang zu Einzelinformatio- üblich, bei der Beschreibung der Wörterbü-
nen möglich ist“ (Hausmann 1985, 369). Da- cher zwischen deren Makro- und Mikro-
mit ist der Terminus Wörterbuch festgelegt struktur zu unterscheiden. Erstere umfasst
auf Sprachwörterbücher. Ausgeschlossen aus den „gesamten Inhalt und Aufbau eines Wör-
dieser begrifflichen Fassung bleiben Lexika, terbuchs“, letztere „Inhalt und Aufbau eines
mitunter auch Sachwörterbücher genannt, Wörterbuchartikels“ (Kempcke 1996, 116).
die primär Informationen zu den benannten
Sachverhalten und nicht zu deren sprachli- 1.2.1. Umfang, Heterogenität und Dynamik
chen Benennungen liefern. Dass die Grenzen des Wortschatzes sorgen dafür, dass Makro-
zwischen Sprachwörterbuch einerseits und und Mikrostruktur der Wörterbücher ⫺ un-
Lexikon andererseits fließend sind, zeigt sich abhängig vom jeweiligen Wörterbuchtyp ⫺
in der praktischen Lexikographie besonders grundsätzlich „ärmer“ bleiben als ihre Vorla-
deutlich bei „Mischtypen“ wie Fremdwörter- gen. Das gilt auch für ein so umfassendes all-
büchern, Korpuswörterbüchern (Strauß/Haß/ gemeines Bedeutungswörterbuch, wie es das
Harras 1989; Hellmann 1992; Herberg/Stef- DWB (1999) darstellt, selbst wenn seine Kon-
fens/Tellenbach 1997) und „Fachwörterbü- zeption vorsieht, „den Wortschatz der deut-
chern für den Laien“ (Kalverkämper 1990, schen Gegenwartssprache mit allen Ableitun-
1515), die mit ihren fachlich begründeten Be- gen und Zusammensetzungen so vollständig
deutungserklärungen zugleich auch Sachin- wie möglich“ zu beschreiben (DWB Vor-
formationen anbieten. Auch in der Titelge- wort). Besonders an der Wortschatzdynamik
bung wird zwischen den beiden Arten von lässt sich demonstrieren, dass die angestrebte
Nachschlagewerken terminologisch nicht Vollständigkeit illusorisch bleiben muss. Neu-
streng differenziert. Lexikon, Wörterbuch und bildungen kommen schneller in Gebrauch,
auch Enzyklopädie kommen in Titeln von als Wörterbuchauflagen aufeinander folgen
Wörterbüchern vor, ohne dass sich die ent- können. Die Neuauflage des Rechtschreibdu-
sprechenden Werke in jedem Fall wirklich ty- dens (Duden 1991), fünf bzw. sechs Jahre
pologisch unterscheiden (Schaeder 1987, 42). nach den jeweiligen Vorgängern (Mannheim
Gegenstand dieses Abschnitts sind Sprach- 1986, Leipzig 1985) erschienen, enthält bei-
wörterbücher. spielsweise 5000 neue Wörter (laut Verlagsan-
gabe auf dem Einbanddeckel). Das bedeutet
1.2. Wörterbuch und Wortschatz einen jährlichen Zuwachs von etwa 1000
Während der Wortschatz einer natürlichen Wörtern im Standardwortschatz. Insofern ist
Sprache eine objektive Gegebenheit darstellt, jedes gegenwartssprachliche Wörterbuch in
sind Wörterbücher Artefakte, in denen Wort- seinem Stichwortbestand schon beim Er-
schatzeinheiten nach bestimmten Prinzipien scheinen geringfügig veraltet, auch hinsicht-
ausgewählt, geordnet und erklärt werden lich der Berücksichtigung von Bedeutungs-
(Lutzeier 1995, 2). Diese Prinzipien unterlie- veränderungen und der Tilgung ungebräuch-
gen ⫺ stark verallgemeinert ⫺ einer wenigs- lich gewordener Wörter (zu den Auswirkun-
tens dreifachen Determination. Zum einen gen langer Bearbeitungszeiten auf die Wör-
bestimmen die Eigenschaften des Wortschat- terbuchqualität vgl. Schmidt 1997). Da Wör-
zes und der entsprechende linguistische terbücher gewissermaßen Momentaufnah-
Kenntnisstand, welche Daten wie präsentiert men sind, können „Wortwanderungen“ nur
206 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

im Ergebnis, nicht aber im Verlauf erfasst buch. Es ist weder möglich, allen Ansprüchen
werden. Ausgleichsbewegungen zwischen den in einem Wörterbuch optimal gerecht zu wer-
Wortschätzen verschiedener Varietäten und den, noch für jeden einzelnen Verwendungs-
Sprachen sowie Phraseologisierungsprozesse zweck ein besonderes Wörterbuch anzubie-
sorgen für weitere Schwierigkeiten bei der ten. Wörterbücher sind daher schon aus öko-
Entscheidung über die Buchung lexikalischer nomischen Gründen stets für eine polyfunk-
Einheiten im Wörterbuch und damit zwangs- tionale Nutzung konzipiert, was immer Kom-
läufig auch für Defizite. promisse in Makro- und Mikrostruktur ein-
schließt. Da sich die Adressaten schließlich
1.2.2. Auf einen weiteren Nachteil der Wör- nicht in trennscharfe Interessengruppen glie-
terbücher haben die Forschungen zum men- dern lassen, überlappen sich auch in dieser
talen Lexikon aufmerksam gemacht. Men- Hinsicht die Bedingungsfaktoren für die
schen besitzen ein „weitaus umfangreicheres Wörterbuchkonzipierung mehrfach (Kühn
Wissen über die Bedeutung von Wörtern […], 1989, 121).
als jemals in ein Wörterbuch hineinpassen
würde“ (Aitchison 1997, 17). Weder kann ein 1.3. Perspektiven der Lexikographie
Wörterbuch alle möglichen Bedeutungsnuan- Durch die schnelle Entwicklung der elektro-
cen und Kontextpartner eines Lexems noch nischen Datenträger und der multimedialen
alle seine paradigmatischen Bezüge auflisten, Kommunikation deuten sich gegenwärtig
von weitergehenden Assoziationen innerhalb tiefgreifende Veränderungen in der Lexiko-
von Frames und Scripts sowie kommunika- graphie an, und zwar sowohl in Bezug auf
tionskulturell bedingten Spezifika ganz ab- die lexikographischen Arbeitsgrundlagen und
gesehen (Fix 1997). Insbesondere Letzteres, Methoden als auch in Bezug auf die Pro-
die „kulturspezifisch-pragmatische Markiert- dukte. Wörterbücher existieren nicht mehr
heit“ lexikalischer Einheiten, ist bislang im nur als Printwörterbücher, sondern auch als
Wörterbuch kaum systematisch darstellbar elektronische Offline- und Online-Wort-
(Lerchner 1996, 129). Theoretische Entwürfe sammlungen. Storrer/Freese (1996, 109 und
(wie z. B. der in Agricola 1987), die eine um- 131) registrieren im August 1996 in einer
fassende Repräsentation semantischen Wis- Wörterbuchsammlung im Internet immerhin
sens in Wörterbüchern anmahnen, sind vor schon 154 verschiedene Online-Wörterbücher.
diesem Hintergrund in ihren Erfolgschancen Die elektronische Erstellung und Verwal-
zu relativieren. Auch wenn in jüngster Zeit tung großer Datenkorpora schaffen völlig
mit den elektronisch verfügbaren Sammlun- neuartige Bedingungen und Voraussetzungen
gen von Texten „(Speicher-)Platzprobleme“ für die Produktion von Wörterbüchern („com-
gegenstandslos zu werden scheinen (Teubert puterunterstützte Lexikographie“, Storrer
1996, 8), bleibt die Kluft zwischen mentalem 1996, 240) und auch für die Wörterbuchgestalt
Lexikon und möglichem Wörterbuchinhalt („Computerlexikographie“, Storrer ebd.). Sie
bestehen. ermöglichen v. a., auf ein Korpus in vielfach
verschiedener Weise zuzugreifen, so dass un-
1.2.3. Nicht nur die Komplexität sprachli- terschiedliche Informationsbedürfnisse mit
chen (lexikalischen) Wissens, sondern auch ein und demselben Verzeichnis befriedigt
Adressatenkreis und Wörterbuchfunktionen werden können. Der gewissermaßen unbe-
stellen Wörterbuchautoren vor komplizierte grenzt große Raum für Einträge und die hohe
Bedingungen. Obwohl die Erforschung der Arbeitsgeschwindigkeit der Rechner dürften
Wörterbuchbenutzungssituationen in jüngs- optimale Bedingungen für Wörterbuchauto-
ter Zeit stärker akzentuiert wird (Püschel ren und Wörterbuchbenutzer gleichermaßen
1989; Zöfgen 1994), weiß man über Benut- darstellen. Noch gelten jedoch die Printwör-
zungsanlässe noch zu wenig. Die Schwierig- terbücher gegenüber elektronischen Wörter-
keiten bei der Abstimmung von Wörterbuch- büchern als überlegen. In ihrer Analyse des
konzeptionen auf Benutzerinteressen ergeben Angebots an Online-Wörterbüchern kommen
sich aus der Vielfalt der möglichen Interessen Storrer/Freese (1996, 129) zu dem Schluss,
unterschiedlicher Benutzergruppen (Kompe- dass insbesondere „Verbindlichkeit und Ver-
tenzkontrolle, Textrezeption, Übersetzung läßlichkeit“ der elektronischen Verzeichnisse
und Textproduktion, Wortschatzerwerb; je- derzeit unbefriedigend seien. Auch die mikro-
weils muttersprachlich oder fremdsprachig) strukturellen Angaben, sofern davon über-
und aus der Vielfalt der daraus resultierenden haupt schon gesprochen werden kann, wiesen
unterschiedlichen Ansprüche an ein Wörter- noch erhebliche Mängel auf. Als Grund nen-
17. Wörterbücher 207

nen die Autorinnen die bisherige Zurückhal- Er kann zeigen, dass sich die Informationsbe-
tung der großen professionellen Wörterbuch- dürfnisse des Muttersprachlers und des
verlage in dem neuen Medium, die in erster Fremdsprachlers ganz wesentlich voneinander
Linie mit der unsicheren Rechtslage zu erklä- unterscheiden.
ren sei. Für sich schnell verändernde Fach- Da jedes Wörterbuch mehr als eine der für
wortschatzbereiche, wie etwa die Terminolo- einen Typ relevanten Eigenschaften hat, d. h.
gie in Informationstechnik und Informatik, jeweils mehrere Typen repräsentieren kann,
bieten die elektronischen Wörterbücher je- und demzufolge auch mehreren Zwecken zu
doch schon jetzt erhebliche Vorteile, v. a. we- dienen vermag, ergeben sich bei allen Typolo-
gen der optimalen Aktualisierungsmöglich- gien potentielle Mehrfachzuordnungen der
keiten der Einträge und der Vielfalt der Zu- Wörterbücher (Hausmann 1989, 969f.).
griffsarten auf die Daten- und Informations-
typen. 2.2. Monolinguale, bilinguale und
Im Zusammenhang mit den verbesserten multilinguale Wörterbücher
Möglichkeiten der Korpusarbeit ist auch das Nach der Zahl der aufgenommenen Sprachen
Entstehen großangelegter selektiver Korpus- ist zwischen monolingualen, bilingualen und
wörterbücher (vgl. 1.1.) zu sehen. Sie doku- multilingualen Wörterbüchern zu differenzie-
mentieren sämtliche Vorkommensfälle ihrer ren. Im monolingualen Wörterbuch domi-
Lemmata, beschreiben deren mögliche Um- niert das Erklären, im bi- und multilingualen
gebungen, erklären Begriffliches und liefern das Vergleichen (Henne 1980, 779). Einen
die für das Wortverständnis erforderlichen jüngeren „Mischtyp“ stellt das sog. „bilin-
sachbezogenen Hintergrundinformationen gualisierte Lernerwörterbuch“ dar (Hart-
(Hellmann 1992, *22). mann 1994, 17), das jeweils eine Übersetzung
der Bedeutungserklärungen der fremdspra-
chigen Lemmata enthält, alle anderen Anga-
2. Wörterbuchtypologie ben jedoch nicht übersetzt.
Am verbreitetsten unter den Wörterbü-
2.1. Typologisierungsaspekte
chern mit mehr als einer Sprache sind die bi-
Wörterbücher lassen sich nach folgenden lingualen. Allein für das Sprachenpaar Fran-
Parametern gruppieren (vgl. Schaeder 1990, zösisch-Deutsch zählt Rettig 1984 im Buch-
692): handel 27 verschiedene Wörterbücher (Rettig
a) nach der Anzahl der aufgenommenen 1991, 2988), wobei allgemeine Wörterbücher
Sprachen; überwiegen.
b) nach Sprachstadien; Bei den bilingualen Wörterbüchern unter-
c) nach Informationsart und Lemmatypen; scheidet man je nach Benutzungssituation
d) nach Benutzergruppen und deren Infor- passive (Übersetzung in die Muttersprache)
mationsbedürfnis. und aktive Wörterbücher (Übersetzung in die
Fremdsprache) (Hausmann 1985, 377). In der
Ein anderer Vorschlag zur Typologisierung ar- lexikographischen Praxis sind allerdings die
beitet v. a. sprachzeichentheoretisch begrün- meisten bilingualen Wörterbücher aus kom-
dete (semasiologisch/onomasiologisch, para- merziellen Gründen doppelt gerichtet, d. h.,
digmatisch/syntagmatisch, formativbezogen/ sie wollen sowohl Muttersprachler als auch
semantisch) und sprachsoziologisch be- Fremdsprachler der Ausgangs- und Zielspra-
stimmte (zeitliche, soziale, regionale, funktio- chen ansprechen. Vor der unkritischen Ver-
nale, benutzerabhängige) Unterschiede zwi- wendung bilingualer Wörterbücher als Über-
schen den Wörterbüchern heraus (Henne setzungswörterbücher wird wegen der mögli-
1980, 779ff.). Kühn bietet schließlich eine chen semantischen Diskrepanzen zwischen
detaillierte Typologie nach Benutzungsmög- Systemwörtern (im Wörterbuch) und Text-
lichkeiten (1989), Kromann (1992) ergänzt ei- wörtern zu Recht gewarnt. Bi- und multilin-
nen Typologieentwurf aus der bis dahin in guale Wörterbücher stellen aus übersetzungs-
der deutschen Lexikographie eher vernach- wissenschaftlicher Sicht lediglich „Orientie-
lässigten Perspektive des fremdsprachigen rungshilfen“ für den Benutzer dar, da Über-
Wörterbuchbenutzers, indem er zwischen sen- setzung immer Text- und nicht Wortüberset-
derbezogenen, sprachzeichenbezogenen und zung sein muß (Neubert 1996, 159). Zur
empfängerbezogenen Klassifizierungskrite- Überwindung der als unbefriedigend emp-
rien differenziert und spezifische Bedürfnisse fundenen Wörterbuchsituation für die Text-
des fremdsprachigen Lerners berücksichtigt. produktion in der Fremdsprache macht Zöf-
208 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

gen (1994, 338) Vorschläge für die Erarbei- und Lemma- oder Einheitstypen (Hausmann
tung bilingualer Lernerwörterbücher nach 1989, 971). Spezialwörterbücher greifen ein-
dem Vorbild der monolingualen. Bilinguale zelne Bauteile aus den allgemeinen Wörterbü-
Lernerwörterbücher sollten ihren Schwer- chern heraus oder entscheiden sich für eine
punkt auf die Verbesserung der Mikrostruk- spezifische Auswahl von Lemmatypen und
tur legen, v. a. durch die Aufnahme von Ver- machen sie zu ihrem Hauptinhalt. Sie ordnen
wendungsbeispielen. Eine elektronische Al- die Lemmata initial- oder finalalphabetisch
ternative zum herkömmlichen bilingualen oder onomasiologisch. Schließlich arbeiten
Wörterbuch, ein „Übersetzungswerkzeug“ bestimmte Typen auch mit anderen semioti-
der Zukunft, das möglichst viele Original- schen Systemen (Bildwörterbücher). Adressa-
texte einer Sprache und deren übersetzte tenspezifische Spezialwörterbücher, wiede-
Äquivalente (das gesamte „Übersetzungswis- rum als allgemeine oder spezielle Wörterbü-
sen“) bereitstellt, wird gegenwärtig als cher konzipiert, richten sich vornehmlich an
deutsch-französisches Projekt entwickelt Lernende.
(Teubert 1996). Der Übersetzer könnte seine
Aufgabe mit einem solchen Verwendungs- 2.4.1. Als typische Bauteile für allgemeine
Korpus nach einem gebuchten Vergleichsfall Wörterbücher gelten die Bedeutungsdefini-
lösen oder aus verschiedenen bereits über- tion und „weitere identifizierende Angaben“,
setzten Sätzen eine Variante auswählen. die Syntagmatik und Paradigmatik sowie die
Wörterbücher mit mehr als zwei Sprachen Markierungen (Hausmann 1989, 974). Weg-
erscheinen wegen ihrer zwangsläufig stark re- weisend für die Entwicklung allgemeiner ein-
duzierten Mikrostruktur in erster Linie für sprachiger Wörterbücher für die Standard-
Fachlexik sinnvoll (Haensch 1991, 2924), ins- sprache war in den letzten Jahrzehnten das
besondere für Nomenklaturen, weniger für WDG (1961⫺1977); seinen Nachfolgern
allgemeinsprachlichen Wortschatz (außer konnte es wesentliche Anregungen für die
etwa in „Gesprächsbüchern“ oder „Sprach- Auswahl von Datentypen und Präsentations-
führern“). Für multilinguale Wörterbücher verfahren geben. Heute ist das zehnbändige
wird im Sinne der dominierenden Benutzerin- DWB (1999) mit mehr als 200 000 Stich-
teressen die onomasiologische (begriffliche) wörtern das repräsentativste und aktuellste
Ordnung der Stichwörter, ergänzt um ein al- allgemeine einsprachige gegenwartssprach-
phabetisches Register, empfohlen. liche Wörterbuch. Seine Zielgruppe sind pri-
mär Muttersprachler ⫺ nach Gesamtumfang,
2.3. Historische und gegenwartssprachliche, Beschreibungssprache und mikrostrukturel-
synchrone und diachrone Wörterbücher ler Ausprägung des Wörterbuchtextes geur-
Ebenso grundsätzlich für eine Wörterbuchty- teilt fortgeschrittenen Fremdsprachenlernern
pologie wie die Zahl der aufgenommenen wird es vermutlich vor allem rezeptiv nützen.
Sprachen ist die Trennung zwischen histori- Das DWB verzeichnet Wörter, Kurzwör-
schen und gegenwartssprachlichen Wörter- ter, Phraseologismen und Wortbildungsele-
büchern. Diese Wörterbücher erfassen jeweils mente als Lemmata, ordnet sie alphabetisch
unterschiedliche Sprachstadien, z. B. das Alt- und erklärt sie phonetisch, flexionsmorpho-
hochdeutsche, Mittelhochdeutsche, den Wort- logisch, semantisch, etymologisch und in ih-
schatz der Gegenwartssprache oder auch den rer diasystematischen Markiertheit. Die para-
Wortschatz historischer Autoren und Texte. digmatische und syntagmatische Einordnung
Die Sprachstadienwörterbücher können syn- der Wort-Lemmata erfolgt durch die Angabe
chron oder diachron angelegt sein (Reich- von Synonymen, Antonymen, Wortfamilien-
mann 1990, 1589). gliedern sowie Verwendungsbeispielen und
-belegen. Veraltender und veralteter Wort-
2.4. Allgemeine und Spezialwörterbücher schatz des 19. und 18. Jhs. wird aufgenom-
Nach „Art und Umfang des Informationsan- men, soweit er durch die Literatur aus dieser
gebots“ (Schaeder 1990, 692), der Art der Zeit (passiv) noch lebendig ist.
Lemmata und nach den Wörterbuchadressa-
ten unterscheidet man allgemeine oder Ge- 2.4.2. Informationstypische Spezialwörter-
samtwörterbücher von Spezialwörterbüchern. bücher beschreiben ihre Lemmata nach je-
Allgemeine Wörterbücher erfassen den Stan- weils ausgewählten Gesichtspunkten. Para-
dardwortschatz in der Regel in semasiologi- digmatische Spezialwörterbücher ordnen sie
scher (alphabetischer) Ordnung und beinhal- in Wortfamilien, synonymische und antony-
ten eine große Zahl von Informationstypen mische Paradigmen oder lexikalische Felder
17. Wörterbücher 209

ein (Schröder/Fix 1997). Syntagmatische Spe- pragmatisch bestimmt ist und von weiteren
zialwörterbücher verzeichnen typische se- Satzelementen (freien Angaben, Modalverben
mantische und syntaktische Verknüpfungen u. a.) abhängt (Wegener 1981, 238). Es
und Konstruktionen (Kollokations-, Stil-, scheint nach der langjährigen Praxis mit den
Konstruktions-, Phraseologismen-, Sprich- Valenzwörterbüchern und der Argumenta-
wortwörterbücher). Weitere Informationsty- tion der Praktiker aus heutiger Sicht erfolg-
pen sind z. B. die Schreibung, Aussprache versprechender zu sein, die Angaben zur Va-
oder Struktur der Lemmata. lenz in den allgemeinen Wörterbüchern zu er-
Die informationstypischen Valenzwörter- weitern und zu präzisieren, wie das etwa in
bücher sind nach der Typologie der HSK- LWB (1993) mit den Strukturformeln ver-
Bände Wörterbücher (1989⫺1991) „wortart- sucht wird. Dafür stellen die Valenzwörter-
bezogene selektive Konstruktionswörter- bücher eine nützliche Grundlage dar.
bücher“ (Hausmann 1990). Entwickelt haben
sie sich aus Bedürfnissen des Unterrichts für 2.4.3. Lemma- oder einheitstypische Spezial-
Deutsch als Fremdsprache, und zwar vor wörterbücher wählen aus dem Gesamtwort-
allem mit dem Ziel, Syntaxfehler bei der schatz bestimmte Klassen lexikalischer Ein-
Sprachproduktion vermeiden zu helfen. Da- heiten nach morphologischen, syntaktischen,
her sind sie vornehmlich für Lerner be- semantischen, etymologischen, funktionalen
stimmt, die semantische und grammatische oder anderen Eigenschaften als Stichwörter
Informationen für die Satz- und Textbildung aus, beispielsweise Fremdwörter, Eigenna-
suchen. In den Valenzwörterbüchern werden men, Phraseologismen, Kurzwörter, diasyste-
in der Regel die Aktantenzahl sowie die syn- matisch markierte Wörter, Wortbildungsmit-
taktische und semantische Charakteristik der tel oder auch Wörter bestimmter Wortarten,
Aktanten der jeweils in Frage kommenden und erklären sie nach verschiedenen Aspek-
Wörter bereitgestellt. Für das Deutsche sind ten, meistens semantisch. Exemplarisch für
die Verb-, die Substantiv- und die Adjektiv- wortartbezogene Spezialwörterbücher und als
valenz lexikographisch beschrieben (z. B. besonders nutzbringend für DaF-Lerner ist
Helbig/Schenkel 1980), wodurch die Fremd- die „Lexikon-Reihe“ zu den Funktionswör-
sprachendidaktik, aber auch die valenztheo-
tern zu nennen, zu einer Lexikgruppe, der in
retische Forschung und die Lexikographie
allgemeinen Wörterbüchern in der Regel we-
maßgeblich befördert wurden (Helbig 1983;
niger Raum gewidmet ist. In separaten Bän-
Wiegand 1990, 2171ff.; Glück 1991, 20).
den werden Wörter der Wortarten Präposi-
Nach der vielseitigen Erprobung der Valenz-
tion (Schröder 1986), Partikel (Helbig 1988),
wörterbücher im Fremdsprachenunterricht
schätzt man ihren praktischen Nutzen inzwi- Konjunktion (Buscha 1989), Modalwort
schen als etwas geringer ein. Als Grund dafür (Helbig/Helbig 1990) und schließlich der Ar-
gilt vor allem die Erfahrung, dass ihr An- tikelgebrauch (Grimm 1987) lexikographisch
spruch, die Bildung agrammatischer Sätze dargestellt, was für Wörter dieser Wortarten
verhindern zu helfen, meist zu hoch ist. Ihre v. a. eine lexikographische Aufbereitung ihrer
Benutzung erfordert linguistische und beson- Grammatik bedeutet. Das Partikelwörter-
ders valenztheoretische Kenntnisse. Mit der buch bietet z. B. zu jedem Lemma (im Falle
niedrigen Stichwortanzahl ⫺ 488 Verben in von Polyfunktionalität zu jeder Funktionsva-
Helbig/Schenkel (1980); etwa 1000 Verben in riante) syntaktische Erklärungen (Stellungs-
Schumacher (1986) ⫺ ist die Auskunftsfähig- regeln, Kompatibilität, Bevorzugung be-
keit außerdem beschränkt, zumal die Auswahl stimmter Satzarten), Erläuterungen zur
der Stichwörter zwangsläufig willkürlich ist, Funktion einschließlich der Synonyme, Ver-
auch wenn Frequenz, Gebräuchlichkeit und wendungsbeispiele oder -texte, meist eine
Schwierigkeitsgrad (Helbig/Schenkel 1980) Paraphrase ihrer Gesamtbedeutung sowie ge-
oder auch Lernzielorientierung (Schumacher legentlich Anmerkungen zu weiteren Ge-
1986) als durchaus zweckmäßige Auswahlkri- brauchsmerkmalen (Helbig 1988, 77ff.). Wie-
terien gedient haben. Und schließlich abstra- gand (1990, 2189) empfiehlt die Übertragung
hiert die meist kontextlose systemorientierte dieses Wörterbuchtyps auf funktional mar-
Wörterbuch-Beschreibung weitestgehend von kierte nennlexikalische Einheiten, wie etwa
dem Sachverhalt, dass die Grammatikalität auf die Funktionsverbgefüge. Wortartbezo-
von Sätzen nicht nur von der (korrekt beach- gene Wörterbücher mit diesen Informations-
teten) Valenz der beteiligten Verben, Substan- typen entsprechen der für einsprachige Wör-
tive und Adjektive, sondern sehr stark auch terbücher forschungsgeschichtlich nachweis-
210 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

baren Tendenz vom „Wörterbuch ohne ohne dass wiederum die schnelle Auffindbar-
Grammatik zu einem mit immer mehr Gram- keit der Stichwörter beeinträchtigt sein darf.
matik“ (Wellmann 1996, 228). Diese unterschiedlichen Anforderungen an
Informationsumfang und Informationsarten,
2.5. Adressatenspezifische Wörterbücher die im Grunde genommen jeweils einzeln
Eine adressatenorientierte Typologie syste- ein eigenständiges Wörterbuch rechtfertigen
matisiert mono-, bi- und multilinguale Wör- könnten (vgl. 1.2.1.), erzwingen bei allen
terbücher nach ihrem potentiellen Benutzer- konzeptionellen Entscheidungen gewisse Ab-
kreis (Mutter- und Fremdsprachler, Lerner, striche in Bezug auf die optimale Bedienung
Sprachinteressierte, Journalisten, Übersetzer, einer Funktion.
Wissenschaftler, Schriftsteller etc.) und den Für das Deutsche existiert ein allgemeines
daraus ableitbaren Benutzungssituationen einsprachiges Lernerwörterbuch erst seit
(Wiegand 1985; Kühn 1989; Kromann 1992). 1993 (LWB), ein weiteres wird gegenwärtig
Wörterbuchtypologisch relevante Situationen zur Veröffentlichung vorbereitet (Kempcke
sind vor allem das Nachschlagen bei der 1996, 115). Da Lernerwörterbücher selektive
Textrezeption und -produktion sowie die Ver- Wörterbücher sind, ist ihr Stichwortbestand
wendung eines Wörterbuchs zum erbauenden quantitativ geringer als der in allgemeinen
Lesen und systematischen Lernen, und zwar Wörterbüchern für Muttersprachler. Die nö-
durch Mutter- und Fremdsprachler (vgl. den tige Auswahl, die auch in Wörterbüchern für
Begriff „wortorientiertes Lese- und Sprach- Muttersprachler ein grundsätzliches Problem
lehrbuch“ bei Strauß 1988, 200). Für fremd- darstellt, wird nach lernerspezifischen Ge-
sprachige Lerner von besonderem Interesse sichtspunkten getroffen. Fremdsprachenler-
sind die sog. didaktischen Spezialwörter- ner suchen weniger Auskunft über das Seltene,
bücher. Periphere, sondern eher über den verbreiteten
Standardwortschatz und hierbei insbesondere
2.5.1. Gegenüber dem allgemeinen einspra- über Bedeutung und Gebrauch der Prono-
chigen Wörterbuch für Muttersprachler weist mina und Funktionswörter (Kempcke 1992,
ein allgemeines einsprachiges Lernerwörter- 175). Als Richtwert gilt ein Umfang von etwa
buch für Fremdsprachler konzeptionelle Be- 30 000 Einheiten. Je weiter die Stichwortzahl
sonderheiten auf, die sich aus seiner Adressa- darüber hinaus geht, um so stärker müssen
tenorientierung und Funktionszuschreibung Umfang und Informationsvielfalt der einzel-
ergeben (Barz/Schröder 1994; Zöfgen 1994; nen Wörterbuchartikel reduziert werden. Op-
Kromann 1995, Wiegand 1995). Sie betreffen timale Lösungen für eine lernergerechte Aus-
insbesondere die Stichwortmenge, -auswahl wahl indes gibt es weder für ein kleineres
und -anordnung einschließlich der typogra- Wörterverzeichnis noch für ein umfangrei-
phischen Gestaltung und Ausstattung mit ches (Kühn 1989). Sowohl die Frequenz lexi-
Abbildungen, Zeichnungen, Übersichten und kalischer Einheiten, ihre etymologische Selb-
landeskundlichen Hinweisen (Makrostruk- ständigkeit bzw. Wortbildungsstruktur als
tur) sowie die gesamte Mikrostruktur. Ein- auch semantisch-pragmatische Prinzipien sind
sprachigen Lernerwörterbüchern werden drei zu berücksichtigen (Kühn 1990). Im LWB
Grundfunktionen zugeordnet: Sie sollen er- (1993) gelingt der Aufbau einer lernergerech-
gänzend zu zweisprachigen Wörterbüchern ten Mikrostruktur trotz einer relativ großen
möglichst gleichzeitig als Rezeptions-, Pro- Lemmazahl beispielsweise nur um den Preis,
duktions- und Lernhilfe geeignet sein. Da- dass ein Großteil usueller transparenter
raus erwachsen die unterschiedlichen An- Komposita keinen eigenen Artikel bekommt,
sprüche an die Ausformung von Makro- und sondern den Bedeutungsvarianten der Erst-
Mikrostruktur. Die Lesefunktion fordert z. B. oder auch der Zweitglieder in deren jeweili-
ein umfangreiches Stichwortinventar, die gem Artikel zugeordnet ist. Die Einbettung
Schreibfunktion dagegen eine reichhaltige des Einzelbeispiels in ganze Kompositionsrei-
Mikrostruktur mit differenzierten grammati- hen sorgt neben der semantischen Ableitbar-
schen Angaben (Wellmann 1996, 240) und keit der Gesamtbedeutung aus den Konsti-
mit typischen Verwendungskontexten. Um tuentenbedeutungen dennoch in den meisten
mit einem Wörterbuch auch systematisch ler- Fällen für dessen adäquate Semantisierung.
nen zu können, muss die alphabetische Ord- Zugunsten der großen Stichwortzahl ist dar-
nung zugunsten einer onomasiologischen über hinaus das Verweissystem bei Synony-
Feldgliederung systematisch durchbrochen men eingeschränkt (Barz/Schröder 1994,
sein, auch durch Übersichten und Tabellen, 134). Andererseits bietet ein so großes Stich-
17. Wörterbücher 211

wortinventar wie das im LWB die Gewähr, Adverbien (eine Forderung an jmd., nach et-
dass das gesamte Definitionsvokabular im was; eifersüchtig auf jmd., etwas; mitten in et-
Wörterbuch nachgeschlagen werden kann ⫺ was/Dat.);
ein unübersehbarer Vorteil. Außerdem sind ⫺ die nestalphabetische Einbettung der
auch relativ seltene Wörter, die vor allem bei Komposita mit dem jeweiligen Stichwort als
der Textrezeption gebraucht werden, enthal- Erst- oder Zweitglied, die nicht nur komple-
ten (Barz 1995, 22). Weitere adressatenspezi- mentär zur Bedeutungserklärung Aufschlüsse
fische makrostrukturelle Besonderheiten im über die lexikalische Bedeutung des jeweili-
LWB sind die Aufnahme verbaler Stammfor- gen Lemmas ermöglichen, sondern auch typi-
men als Lemmata, das Angebot von Über- sche Kompositionsmuster repräsentieren,
sichten zur Stammbildung der starken Ver- was besonders für die Wortproduktion hilf-
ben, zur Adjektiv- und Artikelflexion und zur reich sein kann (Wellmann 1996, 238).
Rektion der Präpositionen. Für künftige Ler-
nerwörterbücher erwägt Wellmann (1996, 2.5.2. Neben den allgemeinen Lernerwörter-
226) eine noch stärkere Berücksichtigung von büchern spielen im Fremdsprachenunterricht
Makrosegmenten, „die das Zusammenspiel makrostrukturell selektive Spezialwörter-
zwischen sprachlichen Formen der morpho- bücher eine wichtige Rolle, insbesondere sog.
logischen, syntaktischen und lexikalischen Grundwortschatzwörterbücher. Ihre Konzep-
Ebene zeigen“, wie etwa die Aufnahme von tionen folgen dem sprachpädagogischen Ge-
Feldern des Vergleichens oder Begründens. danken, dass Lernern im Sinne der Lernmoti-
Was die Anordnung der Lemmata betrifft, vation überschaubare Wortinventare angebo-
so eignet sich eine onomasiologische deutlich ten werden sollten. Sie sind mono-, bi- oder
besser für Textproduktion und Wortschatzer- multilingual konzipiert sowie fachsprachlich
werb als die semasiologische (alphabetische). oder allgemeinsprachlich orientiert. Als Maß-
Sie beeinträchtigt jedoch Handlichkeit und stab für die optimale Zahl und Auswahl der
Übersichtlichkeit des Wörterbuchs für den Einträge werden dabei sowohl die „potenti-
Benutzer; daher wird die Integration der bei- elle kommunikative Verwendung des Wort-
den Ordnungsverfahren empfohlen (Zöfgen schatzes“ (Kühn 1990, 1358; vgl. Krohn
1994, 75). Die einzelnen Artikel des Lerner- 1992) als auch typische Bedürfnisse ihrer
wörterbuchs geben dem Benutzer außer der Adressaten bestimmt. Der Wortschatz wird
lexikalisch und syntaktisch möglichst un- dementsprechend ausgewählt nach der Vor-
kompliziert formulierten Bedeutungsum- kommensfrequenz und komplementär dazu
schreibung vor allem solche Informationen, nach seinem Vertrautheitsgrad, seiner Nütz-
die die korrekte Verwendung des Lemmas ge- lichkeit und Verfügbarkeit in typischen (All-
währleisten sollen. Im Vergleich mit dem all- tags- oder fachlichen) Situationen sowie nach
gemeinen einsprachigen Wörterbuch für seiner Wichtigkeit für die gedachte Adressa-
Muttersprachler sind dafür u. a. folgende Be- tengruppe (Zöfgen 1994, 253ff.). Empfohlen
sonderheiten charakteristisch: wird, v. a. schwierige und fehleranfällige
Wörter zu berücksichtigen, des Weiteren sol-
⫺ eine strikte Homonymisierung durch das che, die in mehreren Lehrwerken vorkommen
Ansetzen separater Einträge bei Wortartver- (Zöfgen 1994, 283ff.). Schulwörterbücher
schiedenheit formengleicher Wörter (z. B. sollten gestalterisch durch Zeichnungen,
aber als Konjunktion, als Partikel und auch Übersichten, Landkarten u. ä. aufgelockert
als Adverb), dasselbe auch bei deutlicher se- sein (Lübke 1995, 296). Die Angaben zum
mantischer Differenz wortartgleicher Wörter Umfang eines Grundwortschatzes schwan-
(Messe: ,Gottesdienst‘, ,Ausstellung‘, ,Eß- ken je nach Wörterbuchfunktion beträcht-
raum auf einem Schiff‘; zur didaktischen lich. Wenn die Zahl zugrunde gelegt wird, die
Funktion dieser „Degruppierung“ vgl. Zöf- der Lerner für das Verständnis eines „norma-
gen 1994, 84 und 94); len“ Textes braucht, müsste ein Grundwort-
⫺ die Angabe von satzbildenden Ge- schatzwörterbuch etwa 15 000 Einträge ent-
brauchsmustern in Form von „Strukturfor- halten (Hausmann 1979, 332). Für den akti-
meln“ bei Verben, die Auskunft geben über ven Wortschatz eines Lerners werden etwa
obligatorische und fakultative sowie variable 6000 Wörter als ausreichend angesehen; mit
Aktanten, über die Rektion und halbfeste ihnen seien die meisten Situationen im Alltag
Kollokationspartner der Verben; sprachlich zu bewältigen (Zöfgen 1994, 78).
⫺ die Angabe von präpositionalen Anschlüs- Was die Wörterbuchgestaltung angeht, so ist
sen bei Verbalsubstantiven, Adjektiven und man sich weitgehend einig in der Forderung,
212 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

dass Grundwortschätze für eine optimale Grimm, Hans-Jürgen (1987): Lexikon zum Artikel-
Verwertbarkeit onomasiologisch geordnet gebrauch. Leipzig.
und möglichst auch didaktisch aufbereitet Helbig, Gerhard (1988): Lexikon deutscher Parti-
sein sollten. Langenscheidts Grundwort- keln. Leipzig.
schatzwörterbuch zum Deutschen, das als bi- Helbig, Gerhard; Wolfgang Schenkel (1980): Wör-
linguales Wörterbuch für Lerner verschiede- terbuch zur Valenz und Distribution deutscher Ver-
ner Muttersprachen (z. B. englisch, italie- ben. Leipzig.
nisch, spanisch) vorliegt, ordnet seine etwa Helbig, Gerhard; Agnes Helbig (1990): Lexikon
4000 Stichwörter in 21 Gruppen wie deutscher Modalwörter. Leipzig.
„Mensch, Handlungen und Aktivitäten, Hellmann, Manfred W. (1992): Wörter und Wortge-
Sprache und Sprechabsichten, Mensch und brauch in Ost und West. Ein rechnergestütztes Kor-
Gesellschaft, Alltagswelt, Wirtschaft und pus-Wörterbuch zu Zeitungstexten aus den beiden
Verwaltung oder Länder und Völker“ (Basic deutschen Staaten. 3 Bde. Tübingen.
German Vocabulary 1991) und bietet parallel Herberg, Dieter; Doris Steffens; Elke Tellenbach
zu diesen Wortschatzinventaren Übungsbü- (1997): Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch
cher mit Lösungsschlüssel an, die zum richti- zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/90. Berlin/
gen Gebrauch der Wörter anleiten. Als typi- New York.
sche Adressatengruppen für Grundwort- Langenscheidt’s Power Dictionary Englisch-
schatzwörterbücher werden vor allem fremd- Deutsch/Deutsch-Englisch. Zum Nachschlagen und
sprachige Lerner aller Altersstufen und mut- Lernen. Völlige Neuentwicklung 1997. Hg. v. der
tersprachliche Schüler angesehen. Wann je- Langenscheidt-Redaktion. Berlin etc.
mand wozu ein Grundwortschatzwörterbuch LWB (1993) ⫽ Langenscheidts Großwörterbuch
tatsächlich benutzt, gilt allerdings immer Deutsch als Fremdsprache. Das neue einsprachige
noch als offene Frage (Kühn 1990, 1360). De- Wörterbuch für Deutschlernende. Hg. v. Dieter
ren Beantwortung gehört zu den Aufgaben Götz/Günther Haensch/Hans Wellmann. Berlin
der Wörterbuchbenutzungsforschung, die ne- etc.
ben der typologischen, historischen und kriti- Schröder, Jochen (1986): Lexikon deutscher Präpo-
schen Wörterbuchforschung eine wesentliche sitionen. Leipzig.
Komponente einer Theorie der Lexikogra- Schumacher, Helmut (1986): Verben in Feldern. Va-
phie darstellt. lenzwörterbuch zur Syntax und Semantik deutscher
Verben. Berlin/New York.
Strauß, Gerhard; Ulrike Haß; Gisela Harras
3. Literatur in Auswahl (1989): Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist.
3.1. Wörterbücher Ein Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch. Ber-
lin/New York.
Basic German Vocabulary (1991): A learner’s dic-
tionary divided into subject categories with exam- WDG (1961⫺1977) ⫽ Wörterbuch der deutschen
ple sentences. Langenscheidts Grundwortschatz Gegenwartssprache. Hg. v. Ruth Klappenbach und
Deutsch für Englisch sprechende Lerner. Berlin etc. Wolfgang Steinitz. Bd. 1⫺6. Berlin.
Buscha, Joachim (1989): Lexikon deutscher Kon- 3.2. Literatur zu Wörterbüchern
junktionen. Leipzig.
Agricola, Erhard (1987): Ermittlung und Darstel-
DWB (1999) ⫽ Duden. Das große Wörterbuch der lung der lexikalischen Makrostruktur des Wort-
deutschen Sprache in zehn Bänden. Hg. vom Wiss. schatzes. In: Studien zu einem Komplexwörterbuch
Rat der Dudenredaktion. 3., völlig neu bearbeitete der lexikalischen Mikro-, Medio-, Makrostrukturen
und erweiterte Auflage. Mannheim etc. („Komplexikon“). LS ZISW A 169/II, Berlin.
Duden (1985) ⫽ Der Große Duden. Wörterbuch und Aitchison, Jean (1997): Wörter im Kopf. Eine Ein-
Leitfaden der deutschen Rechtschreibung mit einem führung in das mentale Lexikon. Tübingen.
Anhang: Vorschriften für den Schriftsatz, Korrektur-
vorschrifen, Hinweise für das Maschinenschreiben. Barz, Irmhild (1995): Komposita im Großwörter-
18. Neubearb. Leipzig. buch Deutsch als Fremdsprache. In: Inge Pohl;
Horst Erhardt (Hg.): Wort und Wortschatz. Bei-
⫺ (1986) ⫽ Duden. Rechtschreibung der deutschen träge zur Lexikologie. Tübingen, 13⫺24.
Sprache. Hg. v. der Dudenredaktion. Auf der
Grundlage der amtlichen Rechtschreibregeln. 19., Barz, Irmhild; Marianne Schröder (1994): Das an-
neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim etc. dere Wörterbuch. In: DaF 31, 131⫺138.

⫺ (1991) ⫽ Duden. Rechtschreibung der deutschen ⫺ ⫺ (Hg.) (1996): Das Lernerwörterbuch Deutsch
Sprache. Hg. v. der Dudenredaktion. Auf der als Fremdsprache in der Diskussion. Heidelberg.
Grundlage der amtlichen Rechtschreibregeln. 20., Fix, Ulla (1997): Kulturelle Konnotationen. Eine
völlig neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim etc. Möglichkeit der kultursemiotischen Betrachtung
17. Wörterbücher 213

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Zeitschr. f. Fremdsprachenforschung 2, 12⫺63. 5.1., 111⫺127.
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Wörterbücher und ihre Probleme. In: Wörterbücher Wörterbücher 5.2., 1353⫺1364.
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Harras, Gisela (Hg.) (1988): Das Wörterbuch ⫺ Ar- kulturspezifisch-pragmatische Markiertheit von le-
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Rolf Klemmt (Hg.): Von Frames und Slots bis Tübingen/Basel, 295⫺297.
Krambambuli. Jyväskylä, 9⫺27. Lutzeier, Peter Rolf (1995): Lexikologie. Ein Ar-
Hausmann, Franz Josef (1979): Neue Wörterbü- beitsbuch. Tübingen.
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ein Schulwörterbuch? In: DNS 78, 331⫺351.
ein- und mehrsprachigen Wörterbüchern aus der
⫺ (1985): Lexikographie. In: Christoph Schwarze; Sicht ihrer unterschiedlichen Zwecke. In: Barz/
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Wörterbücher 5.2., 1221⫺1223. nutzung. In: Wörterbücher 5.1., 128⫺135.
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Viehweger (Hg.): Die Lexikographie von heute und
bung I: Synchronische und diachronische histori-
das Wörterbuch von morgen. Analysen ⫺ Probleme
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phischer Praxis. Tübingen, 165⫺243. derne korpusbasierte deutsche Wortschatzfor-
schung. In: LiLi 22/106, 19⫺30.
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Krohn, Dieter (1992): Grundwortschätze und Aus-
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chendidaktische Studien zur Struktur und Funktion thoden in der Computerlexikographie. In: Herbert
deutscher Grundwortschätze. Göteborg. Ernst Wiegand (Hg.): Wörterbücher in der Diskus-
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Kromann, Hans-Peder (1992): Wörterbücher und
phischen Kolloquium. Tübingen, 239⫺255.
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jektsprache. In: Vilmos Ágel; Regina Hessky (Hg.): Storrer, Karin; Katrin Freese (1996): Wörterbücher
Offene Fragen ⫺ offene Antworten in der Sprachger- im Internet. In: Deutsche Sprache 24, 97⫺153.
manistik. Tübingen, 151⫺164. Strauß, Gerhard (1988): Artikelsorten und Artikel-
⫺ (1995): Deutsche Wörterbücher aus der Perspek- strukturen im „Lexikon schwerer Wörter im Deut-
tive eines fremdsprachigen Benutzers. In: Heidrun schen“. In: Harras, 196⫺222.
214 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

Teubert, Wolfgang (1996): Deutsch-französische ⫺ (1995): Lexikographische Texte in einsprachigen


Verständigung. Ein Übersetzungswerkzeug für das Lernerwörterbüchern. Kritische Überlegungen an-
21. Jahrhundert. In: Sprachreport 2, 7⫺11. läßlich des Erscheinens von Langenscheidts Groß-
Wegener, Heide (1981): Zur Bedeutung von Verb- wörterbuch Deutsch als Fremdsprache. In: Hei-
wörterbüchern und Grammatiken im Deutsch- drun Popp (Hg.): Deutsch als Fremdsprache: An den
unterricht für Ausländer. In: JbDaF 7. Heidelberg, Quellen eines Faches. München, 463⫺500.
232⫺239. Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Le-
Wellmann, Hans (1996): Das Wörterbuch als xikographie. Hg. v. Franz Josef Hausmann; Oskar
Grammatik? In: Barz/Schröder 1996, 219⫺241. Reichmann; Herbert Ernst Wiegand; Ladislav
Wiegand, Herbert Ernst (1985): Fragen zur Gram- Zgusta. Erster Teilband HSK 5.1. 1989, zweiter
matik in Wörterbuchbenutzungsprotokollen. Ein Teilband HSK 5.2. 1990, dritter Teilband HSK 5.3.
Beitrag zur empirischen Erforschung der Benutzer 1991, Berlin/New York.
einsprachiger Wörterbücher. In: Henning Bergen-
Zöfgen, Ekkehard (1994): Lernerwörterbücher in
holtz; Joachim Mugdan (Hg.): Lexikographie und
Grammatik. Tübingen, 20⫺98. Theorie und Praxis. Tübingen.
⫺ (1990): Die deutsche Lexikographie der Gegen-
wart. In: Wörterbücher 5.2., 2100⫺2245. Irmhild Barz, Leipzig (Deutschland)

18. Kontrastivität in der Lexik

1. Vorbemerkung: Was will dieser Beitrag Die Grenzen werden wohl u. a. dadurch ge-
leisten? zogen, dass Wortbedeutungen (und somit
2. Kontraste bei Internationalismen Wortverwendungen) ⫺ wie andere sprachli-
3. Kontraste durch lexikalisch-semantische che Phänomene auch ⫺ grundsätzlich einzel-
Divergenz bzw. Konvergenz
4. Kontraste durch Anwendung
sprachlich festgelegt sind, dass sie aber ⫺ da
unterschiedlicher Nominationsverfahren lexikalische Einheiten Individuen sind ⫺ weit
5. Kontraste durch unterschiedliche weniger verallgemeinerbaren Gesetzmäßig-
Distribution von Wortbildungsmitteln keiten (im Sinne von exakt beschreibbaren
6. Kontraste durch unterschiedliche Regularitäten) folgen, als dies beispielsweise
morphosemantische Motivation in vielen Bereichen der Grammatik der Fall
7. Kontraste durch kulturhistorisch bedingte ist. Hinzu kommt, dass Wortbedeutungen
Benennungsmotivation (und somit Wortverwendungen) sehr oft in
8. Kontraste bei den „falschen Freunden“ mehr oder weniger subtiler Weise kontextab-
9. Literatur in Auswahl
hängig sind. Auch diese Kontextabhängigkeit
ist in ihrem konkreten Wirken grundsätzlich
1. Vorbemerkung: Was will dieser intralingual festgelegt. Hausmann (1995, 21)
Beitrag leisten? leitet aus der bedeutenden Rolle des Kontex-
tes sogar die Unterscheidung zweier Arten
Die Überschrift eines Aufsatzes von Haus- von interlingualer Äquivalenz ab: Wortäqui-
mann (1995) „Von der Unmöglichkeit der valenz und Textäquivalenz (der terminologi-
kontrastiven Lexikologie“ könnte die Sinn- schen Eindeutigkeit halber vielleicht besser:
haftigkeit unseres Beitrags von vornherein in Kontextäquivalenz). Die Überschrift unseres
Frage stellen. Die Überschrift eines Aufsatzes Beitrags könnte die Vermutung nahelegen,
von Lutzeier (1995b), im gleichen Band wie dass uns jeweils nur die Kontraste (also die
Hausmanns Beitrag veröffentlicht, „Es lohnt Unterschiedlichkeiten) zwischen L1 und L2
sich ⫺ Kontrastive Lexikologie Deutsch/ interessieren werden. Wir versuchen in An-
Englisch im Bereich ,Einkünfte‘ “ stimmt lehnung an Helbig (1981), Sternemann
schon hoffnungsvoller. (1983a) u. a., durch konfrontatives Vorgehen
Auch Hausmann (1995, 20) präzisiert seine sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die
Überschrift: „Dass kontrastive Lexikologie Kontraste in der Lexik von L1 und L2 zu er-
möglich ist, bedarf keiner Frage. Die Frage mitteln. Diese Orientierung auf beides ist
ist: Wieweit ist kontrastive Lexikologie mög- nicht nur untersuchungsmethodologisch be-
lich?“ (Hervorhebungen durch Hausmann) gründet: Erst durch die Ermittlung der Ge-
18. Kontrastivität in der Lexik 215

meinsamkeiten und der Unterschiede zwi- maj) und Dezember (dän. december, norw. de-
schen L1 und L2 lassen sich durch Vernach- sember) weisen geringfügige Unterschiede
lässigen der Gemeinsamkeiten die Kontraste auf. Auch zwischen dem Deutschen und
feststellen. Unsere Vorgehensweise ist auch in nichtgermanischen Sprachen bestehen punk-
starkem Maße den Bedürfnissen des Faches tuell durchaus Identitäten: Januar, kroat.,
Deutsch als Fremdsprache verpflichtet. Lutz- slowen. januar; Februar, kroat., slowen. fe-
eier (1995b, 10) begründet dieses Vorgehen bruar; April, kroat., slowen. april; August, slo-
einleuchtend: „Die Beachtung der Gemein- wak. august; September, slowak., slowen. sep-
samkeiten ist mindestens genauso wichtig wie tember; Oktober, slowen. oktober; November,
die beliebte Betonung der Unterschiede, ga- slowak., slowen., ungar. november. Schwache
rantieren doch die Gemeinsamkeiten erst den Kontraste entstehen z. B. durch orthographi-
Rahmen, der als Bezugspunkt für den Ver- sche Assimilation (Gladrow 1989, 168f.). Sie
gleich unabdingbar ist.“ Unser Beitrag ist na- reicht von der Verwendung diakritischer Zei-
türlich ⫺ in der Terminologie von Lutzeier chen (hier besonders im Slowakischen und im
(1995b, 10) ⫺ „mehrsprachlich kontrastiv“ Ungarischen: slowak., ungar. január, február;
angelegt, d. h. Lexik der Sprachen L1, L2, L3 slowak. aprı́l; slowak., ungar. október) bis zur
usw. bildet unseren Untersuchungsgegen- (phonologisch bedingten) Verwendung ande-
stand und nicht etwa Lexik verschiedener Va- rer Buchstaben bzw. Buchstabengruppen:
rietäten des Deutschen. Diesen Gegenstands- russ. janvar’, bulg. januari; russ. fevral’; bulg.,
bereich hätte nach Lutzeier eine „einzel- kroat., russ. mart; poln. marzec, slowak., slo-
sprachlich kontrastive Lexikologie“ zu bear- wen. marec; bulg., poln., russ., slowen. maj
beiten. Wir beschränken uns auf die „Suche usw. Diese phonologisch-orthographische
der 1:1-Entsprechungen“ zwischen L1 und Assimilation ist auch innerhalb der germani-
L2, die Hausmann (1995, 20) zur „Hauptauf- schen Sprachen zu beobachten: März, engl.
gabe der kontrastiven Lexikologie“ erklärt. March, niederl. maart, norw., schwed. mars,
Unser Ziel lässt sich aus einer bei Hausmann dän. marts; Mai, dän., schwed. maj, engl.
(1995, 23) zu findenden Metapher ableiten: May, niederl. mei. Sie führt in den romani-
„Der Lexikologe konstruiert eine mehr oder schen Sprachen zu teilweise bedeutenden Un-
weniger grobe Gliederung der gesamten terschieden im Schrift- und Lautbild: Januar,
Landschaft (eines Wortschatzes; G.) und frz. janvier, ital. gennaio, span. enero; August,
nimmt ein paar herausragende Berge, Seen frz. août, ital., span. agosto usw. Hinzu kom-
und Wälder auf. Wie sollte er der Knorrigkeit men in einigen Sprachen Erscheinungen ak-
jedes einzelnen Baumes nachspüren?“ Wir zentologischer Assimilation und auch mor-
setzen uns das Ziel, anhand einiger „heraus- phologischer Assimilation (Gladrow 1989,
ragende(r) Berge, Seen und Wälder“ ⫺ gele- 168f.), wobei die Grenze zwischen pho-
gentlich auch nur einiger Hügel, Teiche und netisch-orthographischer und morphologi-
Baumgruppen ⫺ einen Eindruck von der scher Assimilation nicht immer exakt gezo-
Vielfalt, der Komplexität und der Kompli- gen werden kann (vgl. z. B. bulg. septemvri,
ziertheit der Kontrastivität in der Lexik zu oktomvri, noemvri, dekemvri oder kroat. sep-
vermitteln. Es versteht sich, dass wir nicht die tembar, oktobar, novembar, decembar). Das
Absicht haben, der „Knorrigkeit jedes einzel- Ungarische lehnt sich unter diesem Aspekt
nen Baumes“ (jedem Äquivalentpaar) nach- häufig eng ans Lateinische an (vgl. lat. Mar-
zuspüren. Dieses Anliegen muss Einzelunter- tius, ungar. március; lat. Aprilis, ungar.
suchungen vorbehalten bleiben. április; lat. Maius, ungar. május; lat. Iunius,
ungar. június; lat. Iulius, ungar. július; lat. Au-
gustus, ungar. augusztus usw.). Ein Lerner mit
2. Kontraste bei Internationalismen polnischer, tschechischer oder ukrainischer
Muttersprache hat nichts (außer poln. mar-
Die Namen der Monate in zahlreichen euro- zec, maj) von der gerade gezeigten „Interna-
päischen Sprachen sind ein Beispiel par excel- tionalität der europäischen Monatsnamen“:
lence für die Graduierung von Kontrasten bei Januar, poln. styczeń, tsch. leden, ukr. sı̀čen’;
Internationalismen. Deutschlerner mit däni- Februar, poln. luty, tsch. únor, ukr. ljutij;
scher oder norwegischer Muttersprache wer- März, tsch. březen, ukr. berezen’; April, poln.
den im Schriftbild der meisten deutschen Mo- kwiecień, tsch. duben, ukr. kvı̀ten’; Mai, tsch.
natsnamen nichts Fremdes bemerken (sieht květen, ukr. traven’ usw. Selbst zwischen dem
man von der Großschreibung ab). Lediglich nahe verwandten Polnischen, Tschechischen
März (dän. marts, norw. mars), Mai (dän. und Ukrainischen treten z. T. beachtliche
216 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

Differenzen auf. Kontraste entstehen aber zeichnung einer erwachsenen weiblichen Per-
nicht nur durch unterschiedlich verlaufende son, žena zur Bezeichnung der Ehefrau und
Assimilationsprozesse, sie gehen auch auf gospoža in der Anrede vor Eigennamen. Ähn-
(partiell) unterschiedliche Wortbildungspro- lich ist die Situation im Englischen (woman,
zesse zurück. Für das Sprachenpaar Deutsch- wife, mistress). Dem Adjektiv alt entsprechen
Russisch geht Gladrow (1989, 169f.) dieser u. a. russ. staryj, starinnyj und drevnij. Die se-
Frage nach: So können beide Sprachen un- mantischen Unterschiede sind z. T. eher sub-
terschiedliche (heimische oder fremde) Deri- til: Ein alter Mann ist staryj čelovek, die Alte
vationsaffixe verwenden: Darwinismus ⫺ dar- Geschichte (im Sinne von Geschichte des
vinizm, Saboteur ⫺ sabotažnik, Methodiker ⫺ Altertums) ist drevnjaja istorija. Auch neuere
metodist, Orientierung ⫺ orientacija, Dirigent zweisprachige Wörterbücher sind nicht im-
⫺ dirižër, Sanatorium ⫺ sanatorij, Dramatur- mer hilfreich. So führen Leping/Leyn u. a.
gie ⫺ dramaturgija, Aggression ⫺ agressija, (1976, 708) unter dem Stichwort starinnyj
Tourismus/Touristik ⫺ turizm usw. Ebenso u. a. das Beispiel starinnyj prijatel’ mit der
können die Ableitungswege unterschiedlich Übersetzung alter (⫽ langjähriger) Freund
verlaufen, vgl.: an. Unter dem Stichwort staryj findet sich
u. a. das russische Sprichwort Staryj drug
¿¿¿¡ Mass-eur
dt. mass-ieren lučše novych dvuch mit der Übertragung Die
¿¿¿¡ Mass-age
alten Freunde sind die besten. Ähnlich ist die
russ. mass-irovat’ ¿¿¡ mass-až ¿¿¡ massaž-ist Situation beim Adjektiv blau mit seinen russi-
Schließlich gilt auch hier, dass sprachliche schen Äquivalenten goluboj und sinij. Iva-
Zeichen letztendlich arbiträr sind: Einem nova/Schenk (1989, 85 u. 412) übersetzen das
(weitestgehend) identischen Formativ müssen erste Wort mit hellblau, das zweite mit (dun-
in beiden Sprachen nicht die gleichen Se- kel)blau. Die angeführten Beispiele lassen die
meme zugeordnet werden. Ein Deutscher oben erwähnte Subtilität erahnen: blauer
sähe sich durch die Frage Wo ist hier ein Himmel und blaue Augen können ⫺ fein
Automat? zumindest zu einer Rückfrage ver- nuancierend ⫺ mit beiden Adjektiven wieder-
anlasst. Ein Russe wüsste in der entsprechen- gegeben werden: goluboe nebo oder sinee
den Situation, dass die Frage Gde zdes’ avto- nebo, golubye glaza oder sinie glaza. Ähnlich
mat? nichts weiter bedeutet als Wo ist hier häufig begegnet Divergenz zum Deutschen
eine Telefonzelle?. hin: Russischem brak entspricht entweder
Ehe oder Ausschuss (im Sinne eines fehlerhaf-
ten Produktes). Weithin bekannt ist die Über-
3. Kontraste durch lexikalisch- setzbarkeit von russ. mir als Frieden oder
semantische Divergenz bzw. Welt oder von russ. ruka als Arm oder Hand.
Konvergenz Bilaterale Vergleiche zeigen, dass die interlin-
gualen Relationen durchaus noch komplizier-
Diesen Problemkreis erörtern für das Spra- ter sein können. Sternemann (1983a, 53) zeigt
chenpaar Deutsch und Russisch beispiels- das anhand der Wörter Schüler und Lehrling
weise Sternemann (1983a, bes. 52f.) und Bir- und ihrer russischen Äquivalente:
kenmaier (1987, bes. 52ff.). Aus Sternemanns
Definition wird deutlich, dass hierbei der škol’nik
Schüler
grundsätzlich intralinguale Charakter von učenik
Bedeutungsumfängen (bes. der Polysemie) Lehrling
eine große Rolle spielt: „Die Erscheinung,
dass einem Wort einer Ausgangssprache meh- Die Kompliziertheit der interlingualen Rela-
rere Wörter in der Zielsprache entsprechen tionen vergrößert sich bei hochgradiger Poly-
können …, bezeichnet man als Divergenz semie eines Wortes in L1 und/oder L2. Für
(auch Diversifikation). Das umgekehrte Ver- das Wort Scheibe unterscheiden größere
hältnis, das Vorhandensein mehrerer Wörter Wörterbücher der deutschen Gegenwarts-
in der AS, die ihre Entsprechung in nur einem sprache zwischen sechs und acht Bedeutungs-
Lexem in der ZS finden, wird Konvergenz varianten. Hier bestätigt sich in der lexiko-
(auch Neutralisation) genannt.“ (Hervorhe- graphischen Praxis die These von Hausmann
bungen durch Sternemann) Dem polysemen (1995, 19), dass wir letztendlich nicht (genau)
Wort Frau stehen im Russischen drei Äquiva- wissen, „wie viele Bedeutungen ein Wort
lente gegenüber, die jeweils eine Bedeutungs- hat“, dass wir auch nicht wissen, „wann die
variante von Frau abdecken: ženščina zur Be- Sememe vollständig sind“. Denn: „Die Se-
18. Kontrastivität in der Lexik 217

meme sind kontextabhängig. Die Kontexte blakitnij, golubij) zur Verfügung. Polysemie in
sind unendlich.“ Diese intralinguale semanti- L1 und/oder L2 führt nicht selten auch zu
sche Differenzierung liefert jedoch noch nicht Konvergenzen bzw. Divergenzen im Bereich
in ausreichendem Maße die Tertia compara- der Wortbildung. So differenziert das Deut-
tionis für eine zuverlässige Zuordnung z. B. sche ziemlich präzise zwischen einem Bewoh-
der russischen Äquivalente. Lötzsch (Band 3, ner und einem Einwohner. Sehr ähnlich unter-
1984, 39) nennt immerhin rund 20 Äquiva- scheidet auch das Niederländische zwischen
lente, die sich grob den folgenden vier Bedeu- bewoner und inwoner. Mittelgroße zweispra-
tungsbereichen zuordnen lassen: 1. Technik: chige Wörterbücher des Bulgarischen, Fran-
blok, disk, krug, plastina, plastinka, šajba, zösischen, Polnischen, Schwedischen, Slowa-
škiv; 2. Sport: girja, disk, mišen’, raznoves, kischen, Tschechischen und anderer Spra-
šajba; 3. Glas: okno, okonnoe steklo; 4. Le- chen geben keinerlei Hinweis auf eine ähn-
bensmittel: dolja, dol’ka, kružok, kusok, kuso- liche Differenzierung. Unter beiden deut-
ček, lomot’, lomtik. Für eine eindeutige Äqui- schen Stichwörtern findet sich jeweils aus-
valentzuordnung sind weitere semantische schließlich dasselbe Äquivalent: bulg. žitel,
Differenzierungen erforderlich. Das sei am frz. habitant, poln. mieszkaniec, schwed. invå-
Beispiel des Bedeutungsbereiches „(von be- nare, slowak. obyvatel’, tsch. obyvatel. Die
stimmten Lebensmitteln) mehr oder weniger Angabe jeweils zweier Äquivalente in umge-
dünnes einzelnes Stück, das von einem größe- kehrter Reihenfolge lässt eine weniger scharfe
ren Stück abgeschnitten, abgetrennt worden Differenzierung, wohl aber bestimmte Präfe-
ist“ (DUW 1989, 1309) gezeigt: Eine Scheibe renzen vermuten, so z. B. im Ungarischen: Be-
Brot, Käse, Speck, Wurst o. Ä. kann neben wohner ⫺ lakó, lakos, Einwohner ⫺ lakos, lakó.
kusok auch lomtik sein, mit kusoček hebt man Auch im Russischen und im Ukrainischen
das Merkmal „klein“ und mit lomot’ das scheint eine (scharfe) Differenzierung nicht
Merkmal „groß“ hervor. Soll das Merkmal obligatorisch, wohl aber möglich zu sein: russ.
„rund“ akzentuiert werden, dann steht kru- žitel’ gilt als Äquivalent für beide, der Bewoh-
žok zur Verfügung. Die abgetrennten Stücke ner kann aber auch obitatel’ und der Einwoh-
einer Apfelsine o. Ä. werden dolja oder dol’ka ner auch obyvatel’ sein, im Ukrainischen steht
genannt. Die hier gemachten Beobachtungen meškanec’ für beide, Bewohner kann auch po-
lassen sich anhand beliebiger Sprachenpaare žilec’, Einwohner auch žitel’ sein. Die Liste
wiederholen. So listet Hausmann (1995, 20f.) der englischen Äquivalente für beide deut-
für frz. sauvage immerhin 15 potenzielle schen Wörter verrät eine sehr starke semanti-
Äquivalente auf, die sich z. T. in ihrer Seman- sche Differenzierung: inhabitant, resident, ci-
tik recht stark voneinander unterscheiden: tizen, lodger (amerik. roomer), occupant, te-
wild, wildlebend, ungezähmt, wildwachsend, nant u. a. (An dieser Stelle sei eine interes-
unberührt, primitiv, unzivilisiert, urtümlich, sante Lehnkonstruktion des Obersorbischen
natürlich, barbarisch, bestialisch, menschen- angemerkt: Als Äquivalent für Bewohner und
scheu, ungesellig, schüchtern, unerlaubt. Auch Einwohner gilt hier wobydler.) Auf einen an-
hier urteilt Hausmann realistisch: „Wir wis- deren Zusammenhang zwischen Polysemie
sen nicht, wieviele französische Äquivalente und Wortbildung macht Birkenmaier (1987,
ein deutsches Wort hat. Denn die Äquivalenz 52f.) aufmerksam. Das russ. Substantiv lico
ist kontextabhängig und die Kontexte sind kann sowohl Person als auch Gesicht bedeu-
unendlich. Die zweisprachigen Wörterbücher ten. Bei der Bildung der zugehörigen Bezugs-
bieten immer nur eine Äquivalentauswahl adjektive wird diese Mehrdeutigkeit (mindes-
und eine Kontextauswahl.“ Auch hier bieten tens durch die Betonung) auch formal dis-
die europäischen Sprachen ein buntes Bild. ambiguiert: das Syntagma persönliche Verant-
Kehren wir noch einmal zum Adjektiv blau wortung wird als lı́čnaja otvetstvennost’ wie-
zurück. Die Äquivalente z. B. im Bulgari- dergegeben, während z. B. die Seife für das
schen (sin), Englischen (blue), Französischen Gesicht als ličnóe mylo erscheint. Bei Akzen-
(bleu), Tschechischen (modrý) und Ungari- tuierung des Anatomischen lautet das Be-
schen (kék) verfügen etwa über den gleichen zugsadjektiv zu lico (im Sinne von Gesicht)
Bedeutungsumfang wie dt. blau. Kroatisch licevoj: licevoj nerv. Allerdings gibt es auch
(plav oder modar), Slowakisch (modrý oder be- hier ⫺ wie so oft im Wortschatz ⫺ Irregulä-
lasý) und Slowenisch (moder oder sinji) diffe- res: ein persönliches Konto (Bank usw.) sollte
renzieren ähnlich wie das Russische. Drei wohl das Adjektiv lı́čnyj haben, tatsächlich
Äquivalente stehen dem Polnischen (niebiesky, heißt es aber licevoj sčët. Auch das Deutsche
blȩkitny, modry) und dem Ukrainischen (sinı̀j, nimmt mit Hilfe von Wortbildungsmorphe-
218 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

men durchaus subtile semantische Differen- die Übernahme von Nominationseinheiten


zierungen vor. Erinnert sei nur an die ⫺ auch aus anderen Sprachen und nicht zuletzt die
nicht jedem Muttersprachler ad hoc gegen- unterschiedlichen Verfahren der Wortbil-
wärtige ⫺ Unterscheidung solcher Wortpaare dung. Gerade im Bereich der Wortbildung
wie vierwöchentlich vs. vierwöchig oder vier- sind zahlreiche Kontraste im Einzelfall zu be-
zehntäglich vs. vierzehntägig. Müller (1973, obachten, obwohl viele Sprachen grundsätz-
286) definiert das zuletzt genannte Wortpaar lich über die gleichen Wortbildungsverfahren
wie folgt: „Findet eine Sitzung vierzehntäglich verfügen. Schon ein flüchtiger Blick auf die
statt, so bedeutet das, dass die Teilnehmer Wiedergabe deutscher Substantivkomposita
alle vierzehn Tage zu einer Sitzung zusam- im Englischen, Französischen und Russi-
menkommen. Nimmt jemand an einem vier- schen bietet ein buntes Bild: Die entspre-
zehntägigen Kursus teil, so bedeutet das, dass chende Nominationseinheit in L2 kann eben-
der Kursus vierzehn Tage dauert.“ (Hervor- falls ein Kompositum mit derselben formalen
hebungen durch Müller) Die entsprechenden Struktur und mit identischer lexikalisch-se-
Derivate ohne Numerale sind offenbar nur mantischer „Füllung“ sein (vgl. Großmutter
mit -lich möglich: stündlich, täglich, wöchent- ⫺ engl. grandmother, Wandzeitung ⫺ russ.
lich, monatlich, jährlich, nicht *stündig usw.,
stengazeta). Intralinguale orthographische
wohl aber einstündig usw. Wir haben keine
Festlegungen können schon zu schwachen
Sprache gefunden, die diesen semantischen
Unterschied ausschließlich durch unter- Kontrasten führen (Zusammenschreibung in
schiedliche Wortbildungskonstruktionen aus- L1 und Bindestrichschreibung in L2, vgl.
drückt. Die Äquivalente für vierzehntägig Großneffe ⫺ engl. grand-nephew, Großmutter
werden in einigen Sprachen ähnlich wie im ⫺ frz. grand-mère). Stärkere Kontraste erge-
Deutschen gebildet, so tsch. čtrnáctidennı́, ben sich u. a. daraus, dass L1 und L2 zwar
slowak. štrnást’dňový bzw. štrnást’denný, das entsprechende Kompositum mit dersel-
ähnlich auch poln. dwutygodniowy (zweiwö- ben formalen Struktur bilden (z. B. Substan-
chig) oder wohl auch niederl. veertiendaags tiv 1 ⫹ Substantiv 2), aber eine der beiden
und gelegentlich erwähntes engl. fortnightly. unmittelbaren Konstituenten (UK) lexika-
Das Gegenstück vierzehntäglich wird meist lisch-semantisch abweichend voneinander
durch eine syntaktische Konstruktion wieder- „füllen“ (vgl. Schneeglöckchen ⫺ engl. snow-
gegeben, so z. B. tsch. každý druhý týden (jede drop, Schutzumschlag ⫺ russ. superobložka),
zweite Woche) oder auch ob týden, slowak. oder auch daraus, dass die (identischen) UK
každých štrnást’ dnı́ (alle vierzehn Tage) oder in unterschiedlicher Reihenfolge angeordnet
auch (vždy) po štrnástich dňoch (‹immer› werden (vgl. Internatsschule ⫺ russ. škola-in-
nach vierzehn Tagen), russ. povtorjajuščijsja ternat). Noch stärker werden die Kontraste,
čerez dve nedeli oder auch sostojaščijsja čerez wenn L1 und L2 nicht nur lexikalisch-seman-
dve nedeli (sich in/alle zwei Wochen wieder- tisch unterschiedlich „füllen“, sondern die
holend bzw. in/alle zwei Wochen stattfin- einzelnen UK auch unterschiedlichen Wort-
dend), niederl. om de veertien dagen. arten entnehmen (vgl. Liegestuhl ⫺ frz. chaise
longue, Schneeglöckchen ⫺ frz. perce-neige).
4. Kontraste durch Anwendung Häufig entspricht einem Kompositum in L1
eine Mehrwortnomination in Form einer
unterschiedlicher
(syntaktisch strukturierten) Wortgruppe in
Nominationsverfahren L2 (vgl. Großmacht ⫺ engl. great power, frz.
Es ist eine bekannte Tatsache, dass die Spra- grande puissance, russ. velikaja deržava;
chen zu jedem beliebigen Zeitpunkt „unter Schulweg ⫺ engl. way to school; Schulferien
dem Druck gesellschaftlicher Bedürfnisse der ⫺ frz. vacances scolaires; Großhandel ⫺ frz.
Kognition und Kommunikation“ (Fleischer/ commerce en gros; Großbaustelle ⫺ russ. krup-
Barz 1992, 2) neue Nominationen schaffen. naja strojka; Großbuchstabe ⫺ russ. propis-
Die Möglichkeiten der Nominationsbildung naja bukva). Das Deutsche genießt den Ruf,
sind vielfältig: Sie reichen von der Wortschöp- eine der kompositionsfreudigsten Sprachen
fung (auch „Urschöpfung“) bis zur „Wieder- zu sein. Deshalb verwundert es auch nicht,
belebung untergegangener Ausdrücke“, zu ih- dass nur selten einem Kompositum in L2 ein
nen gehören die unterschiedlichen Möglich- deutsches Nicht-Kompositum entspricht (vgl.
keiten semantischer Umprägung, Phraseolo- engl. girlfriend ⫺ Freundin, engl. schoolgirl ⫺
gisierung und Terminologisierung ebenso wie Schülerin neben möglichem Schulmädchen).
18. Kontrastivität in der Lexik 219

5. Kontraste durch unterschiedliche entsprechen. Ähnlich ist die Situation beim


Distribution von russisch-deutschen Vergleich: In zahlreichen
Fällen wird russisches ne- nicht durch un-,
Wortbildungsmitteln sondern beispielsweise durch miss- oder
Auch Wortbildungsmorpheme sind sprachli- nicht- wiedergegeben (nedoverie ⫺ Miss-
che Zeichen, auch sie sind letztendlich arbi- trauen, nevmešatel’stvo ⫺ Nichteinmischung).
trär und intralingual festgelegt. Das lässt sich Ein weiteres Phänomen vergrößert punktuell
anhand einiger Affixe im Deutschen, Engli- die Kontraste: Einem Präfixderivat in L1
schen, Französischen und Russischen zeigen. kann in L2 ein Suffixderivat entsprechen
Ein erster flüchtiger Eindruck scheint unserer oder umgekehrt (unbrauchbar ⫺ engl. useless,
These zu widersprechen: In vielen Fällen ent- russ. nevesomyj ⫺ schwerelos). Gelegentlich
spricht dem deutschen Negationspräfix un- entspricht einem Suffixderivat in L1 ein Prä-
englisches un-, frz. in- und russisches ne-: un- fix-Suffix-Derivat in L2 (arbeitslos russ. bez-
bekannt ⫺ engl. unknown, unbrauchbar ⫺ frz. rabotnyj). Schließlich treten auch Fälle auf,
inutile, unangenehm ⫺ russ. neprijatnyj. Doch wo einem Derivat in L1 ein Mehrwortlexem
spätestens beim zweiten Hinsehen bemerkt als Äquivalent gegenübersteht (erreichbar ⫺
man, dass auch hier die interlingualen Bezie- frz. qu’on peut atteindre, Schulwesen ⫺ russ.
hungen wesentlich komplizierter sind. Das škol’noe delo, unaufgefordert ⫺ russ. (situa-
ergibt sich zum einen daraus, dass sowohl L1 tionsabhängig) bez priglašenija oder bez vy-
als auch L2 in ihren Wortbildungssystemen zova, unbeantwortet ⫺ russ. ostavlennyj bez
über eine Vielzahl (annähernd) synonymer otveta). Die Umkehrung dazu begegnet vor
Affixe verfügen. So stehen im Englischen ne- allem beim russisch-deutschen Vergleich (ne-
ben dem Präfix un- u. a. noch in- (unabhängig bespoleznyj ⫺ nicht (gerade) unnütz, nebla-
⫺ independent), ir- (unabänderlich ⫺ irrevoca- gosklonnyj ⫺ nicht wohlwollend).
ble), dis- (unähnlich ⫺ dissimilar). Das Fran-
zösische hat neben in- (und der Variante im-,
vgl. unbezahlbar ⫺ impayable) u. a. noch ir-
6. Kontraste durch unterschiedliche
(unbesonnen ⫺ irréfléchi), dis- (unähnlich ⫺ morphosemantische Motivation
dissemblable) und dé- (unangebracht ⫺ dé-
Nominationseinheiten können auf unter-
placé zur Verfügung. Im Russischen konkur-
schiedliche Weise und in unterschiedlichem
rieren die Varianten bez- und bes- mit ne- (un-
Maße motiviert sein. Man bezeichnet eine
bedingt ⫺ bezuslovnyj, ununterbrochen ⫺ bes-
Nominationseinheit dann als motiviert, wenn
preryvnyj). Der umgekehrte Blick von L2
ihre Bedeutung (direkt oder indirekt) aus ih-
auf L1 zeigt für das Deutsche ein prinzipiell
ähnliches Bild: Englischem un- können im rem Formativ ableitbar ist. Motivation bzw.
Deutschen neben un- auch ent- (uncork ⫺ Motiviertheit in diesem Sinne widerspricht
entkorken), aus- (undress ⫺ ausziehen), auf- nicht dem Konzept der (grundsätzlichen) Ar-
(uncover ⫺ aufdecken), los- (untie ⫺ losbin- bitrarität bzw. Konventionalität sprachlicher
den) u. a. entsprechen. Hier ist eine Zwischen- Zeichen, wie es von de Saussure vorgelegt
bemerkung angebracht: Die einzelsprachlich worden ist, sondern sie präzisiert bzw. er-
festgelegte Distribution der Affixe determi- gänzt dieses Konzept: „Eine natürliche Spra-
niert nicht nur das Zusammentreten eines Af- che kommt weder ohne das eine noch ohne
fixes mit einer konkreten Derivationsbasis das andere aus.“ (Fleischer/Barz 1992, 13) In-
(vgl. etwa unbezahlbar vs. unverkäuflich oder zwischen unterscheidet man verschiedene Ar-
glaubhaft vs. unglaubhaft vs. unglaublich), ten von Motivation, so die phonetisch-pho-
sondern sie begrenzt gelegentlich auch ⫺ so- nemische Motivation (vgl. dt. Kuckuck, engl.
gar bei der Präfixderivation ⫺ das Wortar- cuckoo, frz. coucou, russ. kukuška, tsch. ku-
tenspektrum, dem die betreffenden Wortbil- kačka, poln. kukułka, ungar. kakuk usw.), die
dungsprodukte angehören können. Während figurative Motivation (vgl. Fuchs im Sinne
englisches un- auch in der verbalen Wortbil- von Schlaukopf), daneben auch die Zeichen-
dung genutzt werden kann (siehe oben), ist feldmotivation und die situative Motivation
das deutsche un- auf den nominalen Bereich (vgl. Fleischer/Barz 1992, 13ff.).
beschränkt (vgl. Fleischer/Barz 1992, 38ff.; Wir wollen hier einigen Fragen der mor-
202). Französischem dé- können im Deut- phosemantischen Motivation von Wortbil-
schen u. a. ab- (déboiser ⫺ abholzen), aus- (dé- dungskonstruktionen im Sinne von Fleischer
baller ⫺ auspacken), de- (décentraliser ⫺ de- und Barz nachgehen. Es ist allgemein be-
zentralisieren), ent- (décarburer ⫺ entkohlen) kannt, dass Wortbildungskonstruktionen oft
220 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

nur einen Teil der Informationen explizieren, net sein müssen, selbst dann nicht, wenn es
die das betreffende Semem konstituieren und sich sowohl in L1 als auch in L2 um Wortbil-
somit für ihr Verständnis unabdingbar sind. dungskonstruktionen handelt. Vergegenwär-
Machen wir uns das an einem (zugegebener- tigen wir uns das am deutschen Wort Regen-
maßen drastischen) Beispiel deutlich: Im schirm. Dieses Kompositum ist vollmotiviert,
Amtsdeutsch gibt es das Kompositum Rind- denn ein Regenschirm ist eben ein Schirm ge-
fleisch-Sondererstattungs-Verordnung. Was re- gen (die Einwirkungen von) Regen bzw. ein
gelt diese Verordnung? Wer erstattet wem un- Schirm (zum Schutz vor) Regen. Ähnlich ex-
ter welchen Umständen was? Die Überschrift plizit verfahren in diesem Falle z. B. das
dieser Verordnung im vollen (d. h. morpho- Kroatische und das Ungarische: kroat. kišo-
syntaktisch und lexikalisch ausformulierten) bran besteht aus den UK kiša (Regen) und
Wortlaut klärt uns auf: Es ist eine „Verord- dem Verbalstamm bran(iti) (schützen), ungar.
nung über das Verfahren für die Gewährung esernyö besteht aus den UK esö (Regen) und
von Sondererstattungen bei der Ausfuhr von ernyö (Schirm). Das Französische (parapluie),
Rindfleisch nach Drittländern“ (Bundesge- das Slowakische (dáždnik) und das Tschechi-
setzblatt, Teil 1, Nr. 10/1994). Diese Verknap- sche (deštnı́k) weisen nur eine Teilmotivation
pung expliziter Information durch Wortbil- auf: das Französische expliziert die „Zielrich-
dung ist aber auch im alltäglichen Wortschatz tung“ par (für) und den Regen (pluie). Die
zu beobachten. Häufig werden die semanti- genannten slawischen Sprachen explizieren
schen Beziehungen zwischen den UK nicht jeweils den Regen (dážd’, dešt’) und lassen ⫺
expliziert; sie lassen sich durch Paraphrasie- ähnlich wie das Französische ⫺ mit dem Suf-
rung gleichsam „rekonstruieren“. Fleischer/ fix -nik offen, ob eine Person (etwa Petrus)
Barz (1992, 17) nennen hier beispielsweise oder ein Gegenstand (z. B. ein Schirm, wobei
verschiedene Typen von Gläsern: Bierglas aber auch ein Mantel, ein Umhang o. Ä. vor-
(ein Glas für Bier), Bleikristallglas (ein G. aus stellbar wäre) gemeint ist. Die in diesen slawi-
Bleikristall), Messglas (ein G. zum Messen), schen Wörtern explizierten Informationen lie-
Stielglas (ein G. mit einem Stiel) u. a. Man ßen auch den Schluss zu, dass ein Gerät ge-
spricht zu Recht von verschiedenen Stufen meint sei, das im Deutschen mit dem ⫺ mor-
oder Graden der morphosemantischen Moti- phematisch vergleichbaren ⫺ Wort Regner
vation. Ziemlich praktikabel scheint die ver- („Gerät, das zum Beregnen von Pflanzen
breitete Annahme dreier Motivationsgrade dient“; WdG Band 4, 1977, 2991) benannt ist.
zu sein: 1. vollmotiviert, 2. teilmotiviert, 3. Die englische (umbrella), die polnische (para-
unmotiviert bzw. idiomatisch. Diese Abstu- solka und die russische Nomination (zontik
fung lässt sich gut am Beispiel von Kompo- sind f́ür einheimische Sprecher unmotiviert,
sita mit der 1. UK Groß- zeigen: Ein Groß- auch wenn sich etymologisch durchaus ein
brand ist ein großer Brand. Die Bedeutung positiver Motivationsgrad rekonstruieren lässt
des Kompositums ist aus den Bedeutungen (für das Englische vgl. ital. ombrello, für das
seiner Konstituenten lückenlos rekonstruier- Polnische span. parasol und für das Russische
bar. Eine (flächenmäßig) große Stadt ist nur niederl. zonnedek; zur Etymologie von russ.
dann eine Großstadt, wenn sie mehr als zontik vgl. Cyganenko 1989, 147). Ein noch
100 000 Einwohner hat (WdG Band 3, 1970, bunteres Bild bieten die Äquivalente des
1654). Diese zusätzliche Bedingung wird im Wortes Bahnhof, das etwa um 1840 älteres Ei-
Kompositum nicht expliziert, Großstadt ist in senbahnhof (Pfeifer 1989, 110f.) in der Be-
diesem Sinne nur teilmotiviert. Die Bedeu- deutung „Halle, Gebäude am Halteplatz von
tung des Kompositums Großeltern lässt sich Eisenbahnzügen“ (WdG Band 1, 1978, 408)
nicht aus der Summe der Bedeutungen von abgelöst hat. Die Bedeutungsparaphrase
groß und Eltern ableiten. Wenn man nach zeigt, dass das Wort aus heutiger Sicht
dem Modell von Großstadt verführe, erhielte allenfalls noch als morphosemantisch teilmo-
man die sinnlose Paraphrase „Großeltern tiviert angesehen werden kann. In ähnlicher
sind große Eltern, aber nur unter der Bedin- Weise wie das Deutsche mit seinem älteren
gung, dass sie die Eltern der Mutter oder des Eisenbahnhof verfährt das Mongolische mit
Vaters sind“. In solchen Fällen spricht man tömör zamyn buudal, wobei tömör für „Ei-
von unmotivierten bzw. idiomatisierten Wör- sen“, zam für „Weg, Straße, Bahn“ und bu-
tern. Interlinguale Kontraste ergeben sich vor udal für „Standort, Lager, Haltestelle, Sta-
allem aus der Tatsache, dass zwischensprach- tion“ steht (vgl. Vietze 1988, 212ff.). In glei-
liche lexikalische Äquivalente nicht notwen- cher Weise wie Bahnhof sind beispielsweise
dig dem gleichen Motivationsgrad zugeord- dän. banegård, kroat. kolodvór, schwed. ban-
18. Kontrastivität in der Lexik 221

gård, slowen. kolodvor und ungar. pályaudvar wische Sprachen verwenden das entspre-
strukturiert. Zahlreiche (europäische) Spra- chende Adjektiv für groß: bulg. Veliki četvǎr-
chen benutzen das jeweilige Pendant zu engl. tǎk, kroat. Veliki Četvrtak, poln. Wielki
station, so dän. (jernbane)station (neben ba- Czwartek, slowen. Veliki Četrtek. Die roma-
negård, frz. station (neben gare), ital. stazione, nischen Sprachen bevorzugen das Äquivalent
niederl. station, poln. stacja (kolejowa) (ne- für heilig: frz. jeudi saint, ital. giovedı̀ santo,
ben dworzec *kolejowy+), russ. stancija (ne- span. Jueves Santo. Das Russische mit seinen
ben vokzal), schwed. (järnvägs)station (neben zwei Varianten Svjatoj četverg und Čistyj čet-
bangård), serb. (željeznička) stanica, slowak. verg „vermittelt“ gleichsam zwischen den ro-
(železničná) stanica, span. estación (de ferro- manischen und einigen germanischen Spra-
carril), türk. istasyon und ukr. (zalı̀znična) chen: schwed. skärtorsdag: skär steht für rein,
stancı̀ja (neben vokzal). Schwächer als Bahn- unbefleckt, ähnlich auch im Dänischen und
hof sind wohl die folgenden slawischen Deri- im Norwegischen. Unter Umständen könnte
vate bezüglich ihrer morphosemantischen man auch eine gewisse Berührung zwischen
Motivation: obersorb. dwórnišćo, poln. dwor- niederl. Witte Donderdag und russ. Čistyj čet-
zec, tsch. nádražı́. Bulgarisches gara (vgl. frz. verg sehen, da ja doch zwischen weiß und sau-
gare) ist für einen Muttersprachler absolut ber, rein eine partielle semantische Nähe be-
unmotiviert. Russisches vokzal wäre volks- steht. Ähnlich interessante Beobachtungen
etymologisch eventuell als teilmotiviert (zal lassen sich auch bei phraseologisierten Mehr-
⫽ Saal) zu interpretieren. Etymologen des wortbenennungen machen: Ein Deutscher
Russischen belegen jedoch die Fehlerhaftig- hält es für die normalste Sache der Welt, von
keit einer solchen Hypothese. Cyganenko böhmischen Dörfern zu sprechen, wenn ihm
(1989, 66) gibt an, dass vokzal (ursprünglich etwas in hohem Maße unverständlich er-
voksal geschrieben) im 18. Jh. als engl. vaux- scheint: Das sind für mich böhmische Dörfer.
hall ins Russische gekommen ist. Im 17. Jh. Spätestens wenn man sich in die Rolle eines
habe es in der Nähe von London ein Vergnü- Tschechen versetzt (auch der Nichtbohemist
gungsetablissement gegeben, dessen Besitze- vermutet, dass man dort eine andere Benen-
rin eine Dame namens Vaux gewesen sei (also nung wählt), fragt man sich, warum wir aus-
ursprünglich wohl Vaux’ Hall). Ältere russi- gerechnet dieses Bild verwenden. Tschechen
sche Wörterbücher geben in der Tat zu vokzal und Slowaken sprechen hier von spanischen
noch Bedeutungsparaphrasen wie „Saal für Dörfern: tsch. To je pro mne španělská ves-
Tänzer und Kartenspieler“ oder (schon zum nice, slowak. To je pre mňa španielska dedina.
heutigen Wortgebrauch hinführend) „Kon- Andere Sprachen heben das Problem ins
zertsaal in der Nähe von Eisenbahnstatio- „Linguistische“: Bulgaren, Polen und Russen
nen“. bemühen das Chinesische (bulg. Tova mi
zvuči kitajski, poln. To dla mnie chińszczyzna,
russ. Èto dlja menja kitajskaja gramota). Das
7. Kontraste durch kulturhistorisch Englische verbleibt mit Shakespeare (vgl.
bedingte Benennungsmotivation Gutknecht 1995, 65f.) beim Griechischen
(That’s Greek to me). Für Niederländer ist La-
Der Donnerstag in der Karwoche heißt im tein der Bezugspunkt (Dat is Latijn voor me),
Deutschen Gründonnerstag. Tschechische und für Schweden ist es Hebräisch (Det är hebrei-
ungarische Deutschlerner werden sich kaum ska för mig), Spanier können zwischen drei
wundern, denn in den entsprechenden Benen- Sprachen wählen (Esto es griego / chino / ará-
nungen besteht die Wortgruppe bzw. das bigo para mı́). Einem Franzosen stehen im-
Kompositum auch aus den Komponenten merhin Griechisch und Hebräisch zur Verfü-
/grün/ und /donnerstag/: tsch. zelený čtvrtek, gung (Pour moi c’est de l’hébreu / du grec).
ungar. zöldcsütörtök. Die meisten anderen Die Lektüre einschlägiger etymologischer
Europäer fragen sich natürlich, warum dieser Wörterbücher bietet spannende (kultur)histo-
Tag für die Deutschen ausgerechnet grün sei. rische Hintergründe für die Wahl des einen
(Auch Etymologen und Lexikographen des oder anderen Bildes.
Deutschen stellen sich diese Frage seit lan-
gem, ohne bisher zu einem eindeutigen Er- 8. Kontraste bei den „falschen
gebnis gelangt zu sein.) Nur wenige europä- Freunden“
ische Sprachen verwenden für diese Benen-
nung überhaupt ein Farbadjektiv (so das Nie- Gottlieb (1972, 14) versteht unter „falschen
derländische: Witte Donderdag). Mehrere sla- Freunden“ (fF) Wörter in L1 und L2, „die
222 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

sich einander auf Grund der Ähnlichkeiten in russ. èkspozicija. 3. morphosyntaktische fF,
Aussprache und Schriftbild zuordnen lassen, insbesondere im Bereich des Genus der
deren Bedeutungen oder deren Gebrauch Substantive, vgl. die Vase ⫺ frz. le vase, der
aber in den beiden Sprachen auseinanderge- Likör ⫺ frz. la liqueur, das Butterbrot ⫺ russ.
hen“. Die meisten Wörterbücher der fF wei- buterbrod (m.), die Chance ⫺ russ. šans (m.),
sen ausdrücklich auf ihre Absicht hin, das Katheder ⫺ russ. kafedra (f.). Seltener
„sprachlichen Fehlleistungen vorzubeugen“ sind die Unterschiede im Bereich der Numeri,
(Wotjak/Herrmann 1987, 11). Diese Fehlleis- vgl. Gage (sg.) ⫺ frz. gages (pl.). Häufig ent-
tungen beruhen wesentlich auf der „unreflek- stehen auch dadurch fF, dass die Valenz-
tierten Annahme von Bedeutungsgleichheit bzw. Rektionsverhältnisse in L1 und L2 un-
bei formal weitgehend gleichen lexikalischen terschiedlich sind, vgl. etw. abonnieren ⫺ frz.
Einheiten“, sie ergeben sich „aus einer unbese- s’abonner à. 4. Orthographische fF, bei denen
henen Übertragung der Bedeutung(en) der sich die Wortpaare (geringfügig) in der
muttersprachlichen LE auf die fremdspra- Schreibung unterscheiden, vgl. außer den
chige“. Die fF sind durchaus „ernstzuneh- schon genannten einschlägigen Beispielen:
mende Stolpersteine“ (Breitkreuz 1991, 11) dick ⫺ engl. thick, Fleisch ⫺ engl. flesh, Kanal
für Lerner (auch fortgeschrittene) der betref- ⫺ engl. canal, Mann ⫺ engl. man; Aggression
fenden Fremdsprache. Inzwischen sind zahl- ⫺ frz. agression, Rhythmus ⫺ frz. rythme,
reiche Klassifizierungsvorschläge gemacht Rum ⫺ frz. rhum, Havarie ⫺ frz. avarie, Dro-
worden. Man unterscheidet u. a. folgende Ty- gerie ⫺ frz. droguerie, Etappe ⫺ frz. étape,
pen von fF: 1. semantische fF: Es sind gleich Fauxpas ⫺ frz. faux pas; Affäre ⫺ russ. afera,
oder sehr ähnlich aussehende (klingende) Annonce ⫺ russ. anons, Artikel ⫺ russ. artikl’
Wörter in L1 und L2, die aber in beiden Spra- oder artikul, Atelier ⫺ russ. atel’e, Barriere ⫺
chen ausschließlich Unterschiedliches be- russ. bar’er. 5. fF hinsichtlich der Aussprache
deuten, z. B.: Schellfisch (engl. haddock) vs. (einschließlich Betonung, auf die wir uns hier
engl. shellfish (Schalentier), nett (frz. gentil, beschränken): Analyse ⫺ span. análisis, At-
aimable) vs. frz. net, nette (sauber, makellos, mosphäre ⫺ span. atmósfera, Atom ⫺ span.
glatt u. a.), Dom (russ. sobor) vs. russ. dom átomo, Homonym ⫺ span. homónimo, Me-
(Haus). Es können auch solche Wörter sein, thode ⫺ span. método; Album ⫺ russ. al’bóm,
die sich bei partieller semantischer Identität Ambition ⫺ russ. ambı́cija, Butterbrot ⫺ russ.
in ihren Bedeutungsumfängen voneinander buterbród, Organ ⫺ russ. órgan (russ. orgán
unterscheiden, z. B.: Fotografie (1. „Einzel- bedeutet „Orgel“). 6. Stilistische fF sind Wör-
bild“, 2. „Fach“ ⫽ das Fotografieren) vs. ter (in L2), deren stilistische Anwendungs-
engl. photograph („Einzelbild“) und photo- breite gegenüber L1 drastisch eingeengt ist.
graphy („Fach“). Russ. vaza steht nicht nur Das geht oft Hand in Hand mit einer deutli-
für (Blumen-)Vase, sondern auch für (kunst- chen Verringerung des Bedeutungsumfangs.
voll gestaltete) Schale (z. B. für Obst oder Das illustrieren z. B. Wörter deutschen Ur-
Konfekt). (Vgl. auch das in Abschnitt 3 dis- sprungs in der slowakischen Umgangsspra-
kutierte Wortpaar Scheibe vs. russ. šajba.) che (vgl. Hochel 1993): Gesicht ⫺ slowak.
Von semantisch-distributionellen fF könnte ksicht (nur ugs. in der Bedeutung „Gri-
man z. B. beim Wortpaar Transport vs. russ. masse“: robit’ ksichty „Grimassen schnei-
transport sprechen: Beide Wörter sind „als den“), Loch ⫺ slowak. loch (nur ugs. für
solche“ in ihrer Semantik (nahezu) identisch. „Gefängnis“), niemand ⫺ slowak. nı́mand
Sie unterscheiden sich aber in ihrer Distribu- (nur als Substantiv für Personen: jemand ist
tion bei der Bildung von Nominationen, vgl. eine Null), Stich ⫺ slowak. štich (ugs. nur für
russ. vodnyj transport ⫺ Schiffstransport, den Stich beim Kartenspiel), Strich ⫺ slo-
russ. vnutrizavodskoj transport ⫺ innerbe- wak. štrich (ugs. nur in der Sprache des „Mi-
trieblicher Transport, aber russ. passažirskij lieus“, z. B. in chodit’ na štrich „auf den
transport ⫺ Personenverkehr, -beförderung, Strich gehen“), Zimmer ⫺ slowak. cimra (stu-
russ. prigorodnyj transport ⫺ (städtischer) dentensprachlich für „Zimmer im Wohn-
Nahverkehr. 2. fF durch Verwendung formal heim“). 7. Aus der Sicht der Gegenwartsspra-
unterschiedlicher Wortbildungsmittel: vgl. che stehen die historischen fF eher am
Fotograf(in) ⫺ engl. photographer, Physi- Rande. Es sind Wörter aus L1, die in einer
ker(in) ⫺ engl. physicist, katastrophal ⫺ frz. (oft fachsprachlichen) Verwendung früher
catastrophique, Anonymität ⫺ frz. anonymat, auch in L2 gebräuchlich waren, die aber in-
familiär („vertraut“, „vertraulich“) ⫺ russ. zwischen in L2 (völlig) außer Gebrauch ge-
famil’jarnyj, Exposition („Ausstellung“) ⫺ kommen sind. Sie wirken heute noch insofern
18. Kontrastivität in der Lexik 223

nach, als sie in älteren Texten begegnen. Das selten mit orthographischen Unterschieden
betrifft z. B. zahlreiche Wörter des tschechi- kombiniert: Likör (m.) ⫺ frz. liqueur (f.),
schen Eisenbahn- und Militärwortschatzes Chance (f.) ⫺ russ. šans (m.). Oft sind auch
(vgl. Hubáček 1988): Bremse ⫺ tsch. bremza Abweichungen auf mehr als zwei Ebenen
(heute: brzda), Zahnrad ⫺ tsch. cánrád (z. B. Betonung, Orthographie und Genus) zu
(heute: ozubené kolo), Zugführer ⫺ tsch. cuk- beobachten: Methode (f.) ⫺ span. método
fı́ra (heute: vlakvedoucı́), Drehscheibe ⫺ tsch. (m.), Album (n.) ⫺ russ. al’bóm (m.), Werk-
dréšajba (heute: točna) oder in der Militär- zeug (n.) ⫺ slowak. vercajg (m.).
sprache: Deckung ⫺ tsch. dekunk (heute:
kryt), Leutnant ⫺ tsch. lajtnant (heute: poru-
čı́k), Laufschritt ⫺ tsch. laufšrit (heute: po-
9. Literatur in Auswahl
klus), Stellung ⫺ tsch. štelung (heute: pozice Bausch, Karl-Richard; Herbert Christ; Frank G.
oder postavenı́). Ebenfalls in der Peripherie Königs u. a. (Hg.) (1995): Erwerb und Vermittlung
der fF sind die Pseudo-L2-Wörter angesie- von Wortschatz im Fremdsprachenunterricht. Tübin-
delt. Das sind nach Kühnel (1979, 6), der gen (Gießener Beiträge zur Fremdsprachendidak-
deutsch-französische Kontraste bearbeitet, tik).
„Wörter, die zwar völlig französisch ,ausse- Birkenmaier, Willy (1987): Vergleichendes Studium
hen‘ und tatsächlich auch aus französischem des deutschen und russischen Wortschatzes. Tübin-
Stamm und französischen Ableitungssilben gen.
gebildet sind, im Französischen aber gar Bodmer, Frederick (1955): Die Sprachen der Welt.
nicht bzw. nicht mehr oder nur in ganz fach- Geschichte ⫺ Grammatik ⫺ Wortschatz in verglei-
chender Darstellung. Köln.
spezifischer Bedeutung existieren“. Es han-
delt sich u. a. um folgende Wörter, wenn man Breitkreuz, Hartmut (1991): False friends. Stolper-
als L2 das Französische wählt: Abitur (frz. steine des deutsch-englischen Wortschatzes. Reinbek
bei Hamburg.
baccalauréat), Abiturient (frz. bachelier), ak-
kurat (frz. exact), Apotheke (frz. pharmacie), Cyganenko, Galina Pavlovna (1989): Etymologi-
sches Wörterbuch der russischen Sprache (russ.).
Balletteuse (frz. ballerine), Blamage (frz. com-
Kiew.
promission), Effektivität (frz. efficacité), Fri-
seur (frz. coiffeur), Garderobiere (frz. dame du DUDEN (1989): Deutsches Universalwörterbuch.
(Im Text als: DUW.) 2. Aufl. Mannheim/Wien etc.
vestiaire), Gratulant (frz. celui qui félicite),
Hasardeur (frz. joueur oder aventurier). In der Fleischer, Wolfgang; Irmhild Barz (unter Mitarbeit
von Marianne Schröder) (1992): Wortbildung der
Nähe der fF stehen Wörter, „deren Lautge-
deutschen Gegenwartssprache. Tübingen.
stalt bzw. Schriftbild in beiden Sprachen eine
rein zufällige Ähnlichkeit aufweist“ (Gottlieb Gladrow, Wolfgang (1989): Russisch im Spiegel des
Deutschen. Leipzig.
1972, 17). Man könnte sie vielleicht auch „in-
terlinguale Homonyme“ nennen. Sie werden Gottlieb, Karl Heinrich Mavrikič (1972): Deutsch-
russisches und russisch-deutsches Wörterbuch der
in der Regel nicht in Wörterbüchern der fF
„falschen Freunde des Übersetzers“ (russ.). Mos-
verzeichnet. Vgl. (ich) war ⫺ engl. (the) war, kau.
Krug (russ. kuvšin) ⫺ russ. krug (Kreis), Angel
Gutknecht, Christoph (1995): Lauter böhmische
(russ. udočka) ⫺ russ. angel (Engel). Schließ- Dörfer. Wie die Wörter zu ihrer Bedeutung kamen.
lich fällt auf, dass das eine oder andere Wort- 2. Aufl. München.
paar durchaus mehreren Typen „falscher
Hansen, Klaus (1983): Studien zur Sprachkonfron-
Freunde“ zugeordnet werden kann. Breit- tation (Englisch/Deutsch). Berlin.
kreuz (1991, 12) nennt sie „Mehrfach-False-
Hausmann, Franz Josef (1995): Von der Unmög-
Friends“. Häufig treffen semantische und lichkeit der kontrastiven Lexikologie. In: Von der
orthographische Unterschiede zusammen: Allgegenwart der Lexikologie. Kontrastive Lexiko-
Schellfisch ⫺ engl. shellfish, Fotografie ⫺ logie als Vorstufe zur zweisprachigen Lexikographie.
engl. photography, Büro ⫺ frz. bureau, Butter- Tübingen (Lexicographica Series Maior 66), 19⫺
brot ⫺ russ. buterbrod, niemand ⫺ slowak. nı́- 23.
mand, Kreuzung ⫺ tsch. krajcunk. In anderen Helbig, Gerhard (1981): Sprachwissenschaft ⫺
Wortpaaren lassen sich Unterschiede sowohl Konfrontation ⫺ Fremdsprachenunterricht. Leipzig
in der Orthographie als auch in der Wortbil- (Zur Theorie und Praxis des Deutschunterrichts
dung beobachten: Fotograf(in) ⫺ engl. pho- für Ausländer).
tographer, katastrophal ⫺ frz. catastrophique, Hochel, Braňo (1993): Wörterbuch des slowaki-
Exposition ⫺ russ. èkspozicija, helfen ⫺ slo- schen Slang (slowak.). Bratislava.
wak. helfnut’, lagern ⫺ tsch. lágrovat. Auch Hubáček, Jaroslav (1988): Kleines Wörterbuch der
morphosyntaktische Abweichungen sind nicht tschechischen Slangausdrücke (tsch.). Ostrava.
224 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

Ivanova, Evgenija Aleksandrovna; Werner Schenk europäischen Sprachen. Tübingen (Reihe Germani-
(1989): Russisch-deutsches Wörterbuch für Lehr- stische Linguistik 169).
und Lernzwecke. 2. Aufl. Moskau/Leipzig. Ohnheiser, Ingeborg (1987): Wortbildung im
Klappenbach, Ruth; Wolfgang Steinitz (Hg.) Sprachvergleich. Russisch-Deutsch. Leipzig.
(1961ff.): Wörterbuch der deutschen Gegenwarts- Pfeifer, Wolfgang (1989): Etymologisches Wörter-
sprache. (Im Text als: WdG.) Berlin. buch des Deutschen. Berlin.
Kühnel, Helmut (1979): Kleines Wörterbuch der Rovere, Giovanni; Gerd Wotjak (Hg.) (1993): Stu-
„faux amis“ Deutsch-Französisch und Französisch- dien zum romanisch-deutschen Sprachvergleich. Tü-
Deutsch. Leipzig. bingen (Linguistische Arbeiten 297).
Lang, Ewald; Gisela Zifonun (Hg.) (1996): Deutsch Schippan, Thea (1984): Lexikologie der deutschen
⫺ typologisch. Berlin/New York. Gegenwartssprache. Leipzig.
Leping, Elena Ivanovna; Karlfried Leyn u. a. Sörensen, Ilse (1995): Englisch im deutschen Wort-
(1976): Russisch-deutsches Wörterbuch. 7. Aufl. schatz. Berlin.
Moskau. Sternemann, Reinhard (1983a): Einführung in die
Lötzsch, Ronald (1983f.): Deutsch-russisches Wör- konfrontative Linguistik. Leipzig.
terbuch. Begründet von Hans Holm Bielfeldt. Ber- ⫺ (1983b): Konfrontative Linguistik und Deutsch
lin. als Fremdsprache. Eine kritische Musterung. In:
DaF 20/2, 65⫺70.
Lutzeier, Peter Rolf (1995a): Lexikologie. Ein Ar-
beitsbuch. Tübingen. Störig, Hans Joachim (1992): Abenteuer Sprache.
Ein Streifzug durch die Sprachen der Erde. Mün-
⫺ (1995b): Es lohnt sich ⫺ Kontrastive Lexikolo- chen (Humboldt-Taschenbuch).
gie Deutsch/Englisch im Bereich ,Einkünfte‘. In:
Telling, Rudolf (1987): Französisch im deutschen
Von der Allgegenwart der Lexikologie. Kontrastive
Wortschatz. Berlin.
Lexikologie als Vorstufe zur zweisprachigen Lexiko-
graphie. Tübingen (Lexicographica Series Maior Vietze, Hans-Peter (1988): Lehrbuch der mongoli-
66), 7⫺18. schen Sprache. 5. Aufl. Leipzig.
Müller, Klaus (1995): Slawisches im deutschen WdG: siehe Klappenbach/Steinitz.
Wortschatz. Berlin. Wotjak, Gerd; Ulf Herrmann (unter Mitarbeit
von Roquelina Beldarraı́n und Mario Medina)
Müller, Wolfgang (1973): Leicht verwechselbare
(1987): Kleines Wörterbuch der „falschen Freunde“
Wörter. Mannheim/Wien etc. (Duden-Taschen-
Deutsch-Spanisch und Spanisch-Deutsch. 2. Aufl.
buch 17).
Leipzig.
Munske, Horst Haider; Alan Kirkness (1996): Eu-
rolatein. Das griechische und lateinische Erbe in den Hans-Jürgen Grimm, Leipzig (Deutschland)

19. Kontrastivität in der Phraseologie

1. Gliederung des Gegenstandsbereichs jeweils Gegenstand kontrastiver Betrachtun-


2. Kontrastive Phraseologie: Dimensionen, gen sein kann, leiten wir die Notwendigkeit
Äquivalenzen und Vergleichsmaßstäbe ab, eine genauere Bestimmung und Eingren-
3. Forschungsüberblick zur interlingualen
kontrastiven Phraseologie
zung des Objektbereichs vorzuschalten. Wir
4. Bilanz und Ausblick favorisieren im Rahmen der Vielzahl von
5. Literatur in Auswahl Gruppierungsmöglichkeiten (vgl. dazu vor
allem die Grundlagenwerke Burger/Buhofer/
Sialm 1982, Binger 1998 und Fleischer 1997)
1. Gliederung des eine weite Phraseologieauffassung: „Phraseo-
Gegenstandsbereichs logismus“/„phraseologische Wortverbindung“
als generischer Oberbegriff mit den Merkma-
1.1. Phraseologismus als generischer len „Polylexikalität“, „(relative) Stabilität“
Oberbegriff und „Reproduzierbarkeit“, d. h. als eine als
Aus der Uneinheitlichkeit und Vielgestaltig- Ganzes gespeicherte Wortfolge, die nicht je-
keit dessen, was in der Forschung unter des Mal neu produziert wird, sondern die in
„Phraseologismus“ verstanden wird und was ihrer Ganzheit als feste Wortkombination im
19. Kontrastivität in der Phraseologie 225

Gedächtnis abrufbar ist (vgl. auch Häcki schen) Benennungen mit Wortgruppencha-
Buhofer/Burger 1992, 13). Hinsichtlich einer rakter (das Rote Meer, der rote Faden) vgl. Flei-
Binnendifferenzierung des Objektbereichs scher (1997, 69ff.). Die vorstehend aufgeführ-
sind grundsätzlich mehrere Entscheidungen ten Untergruppen können u. a. die folgenden
denkbar, so u. a.: Satzgliedfunktionen wahrnehmen: Prädikat,
Subjekt, Objekt, Adverbial, Prädikativ und
(a) ein primär an der Art der Polylexikalität Attribut (vgl. J. Korhonen 1995, 22ff.).
orientierter Ansatz: Phraseologismen unter- Allen PL gemeinsam ist das Kriterium der
halb der Satzebene sowie satz- und textwer- (vollen oder teilweisen) Idiomatizität. Idiom-
tige Phraseologismen (vgl. u. a. J. Korhonen intern geben die Wörter (unabhängig davon,
1995, 19ff.); (b) ein Ansatz, der neben Polyle- ob die Einheit eine literale Lesart zulässt oder
xikalität und Reproduzierbarkeit primär das nicht) mehr oder weniger weitgehend ihre
Merkmal der Idiomatizität berücksichtigt; (c) eigene Bedeutung auf, um in Kooperation
eine „Mischklassifikation“, die mehrere Kri- eine neue, transponierte, idiomatisierte phra-
terien (semantische, formalstrukturelle, prag- seologische Bedeutung, d. h. ein oder in Son-
matische) gleichzeitig in das Kriterienraster derfällen auch mehrere phraseologische(s)
einbezieht. Semem(e) zu konstituieren. Hinzu kommen
die Kriterien der Ergänzungsbedürftigkeit
1.2. Binnendifferenzierung
und der hohen Assoziations- und Modifika-
1.2.1. Bei einer Einteilung, die sich primär an tionspotenz bei der Vernetzung im Text; der
formalstrukturellen Kriterien orientiert, las- letztgenannten Eigenschaft ist es auch ge-
sen sich im Wesentlichen die folgenden Grup- schuldet, dass man in der Phraseologie von ei-
pierungen ermitteln, die die Breite des phra- ner nur relativen Stabilität ausgeht. Es gibt
seologischen Spektrums und die jeweilige kaum eine Abwandlung einer phraseologi-
Zuordnungs- und Eingrenzungsproblematik schen „Originalform“ (als im Gedächtnis ver-
zeigen: ankerte Schablone und Hintergrund), „die in
irgendeinem Kontext nicht möglich und
(1) Phraseologismen unterhalb der Satzebene
durchaus sinnvoll wäre“ (Burger/Buhofer/
(a) Phraseolexeme (PL)/satzgliedwertige Idi- Sialm 1982, 68; Wotjak 1992c, 99ff.).
ome (vgl. Fleischer 1997, 138ff.; J. Korhonen (b) Funktionsverbgefüge stellen Lexikali-
1995, 13ff.) umfassen Mehrwortzeichen vom sierungen aus einem weitgehend bedeutungs-
Typ bei jmdm. einen Stein im Brett haben, ba- entleerten (nicht aber bedeutungsleeren)
den gehen, alt aussehen (verbale PL mit unter- Funktionsverb und einem meist deverbalen/
schiedlicher wendungsinterner Struktur als deadjektivischen Nomen dar (zur Aufführung
größte morphosyntaktische Untergruppe); bringen; zur Verfügung stehen, stellen; den Be-
bei jmdm. ist endlich der Groschen gefallen, weis antreten) und sind der Phraseologie eher
jmdm. reißt der Geduldsfaden (festgeprägte am Rande zuzurechnen (vgl. Fleischer
prädikative Konstruktionen); großer Bahn- 1997, 134ff.; Helbig 1984).
hof, nicht die Bohne, der Mann auf der Straße; (c) Bei den Nominationsstereotypen (Flei-
auf Anhieb, durch die Bank, unter der Hand scher 1997, 58ff.; Häcki Buhofer/Burger
(unterschiedlich strukturierte substantivische 1992, 13) handelt es sich um nichtidiomati-
PL), über kurz oder lang, dann und wann (ad- sche (relativ leicht vorhersagbare) Wortver-
jektivische und adverbielle Idiome). Einige bindungen/Zusammenvorkommen von Wör-
PL weisen in ihrer Komponentenstruktur be- tern vom Typ gesammelte Werke, öffentliche
stimmte „Irregularitätsmerkmale“ auf, wie Meinung, schwerer Schlag. Als Kollokationen
z. B. unikale Komponenten, die in freiem i. w. S. bezeichnet man typische, bevorzugte
Sprachgebrauch nicht (mehr) anzutreffen und im Gedächtnis gespeicherte Verbindun-
sind (jmdm./einer Sache den Garaus machen; gen von Wörtern mit Abstufungen im Grad
sich nicht lumpen lassen). Als besondere der Vorhersagbarkeit des Zusammenvorkom-
Strukturtypen lassen sich die phraseologi- mens (z. B. Substantiv-Verb-Kollokationen
schen Vergleiche einerseits (frieren wie ein wie Blumen pflücken, Geld abheben, Rasen
Schneider, lügen wie gedruckt) und die Wort- mähen, Brot schneiden).
paare/Zwillingsformeln andererseits (das Wohl
und Wehe, mit Hängen und Würgen, klipp und (2) Satz- und textwertige Phraseologismen
klar) herausstellen. Zu Ausdrücken mit expliziter Satzstruktur,
Zur Problematik der Abgrenzung von ony- relativ festem lexikalischem Bestand und to-
mischen und nichtonymischen (phraseologi- taler bzw. partieller Idiomatizität als einer
226 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

Untergruppe innerhalb der satzförmigen 1.2.2. Bei einer Einteilung, die die „Idiomati-
Phraseologismen vgl. insbesondere J. Korho- zität“ als primäres Zuordnungskriterium
nen (1995, 43ff.). Wir untergliedern im Weite- wählt, werden von den unter 1.2.1. genannten
ren wie folgt: Phraseologismen nur die voll- und teilidio-
(a) Routineformeln, die in bestimmten prag- matischen integriert, die weiteren dort ange-
matischen Situationen als eine Art situative führten Erscheinungen jedoch ausgeschlos-
Stereotypien fungieren, verfügen über eine sen; es würde damit bspw. ein entsprechender
voll ausgeprägte bzw. reduzierte Satzstruktur Schnitt durch die Routineformeln und die
(Nun halt aber mal die Luft an! Kopf hoch!). Sprichwörter führen. Zusätzlich als Rand-
Solche Formeln (Coulmas 1981), die in der gruppe aufzunehmen wären u. U. die sog.
Literatur auch als kommunikative Formeln Einwortidiome (z. B. Lauschangriff, Schwarz-
(Fleischer 1997, 125ff.), als feste Phrasen/ markt); allerdings sind Konzeptionen, die
pragmatische Phraseologismen (Burger/Bu- diese als Gegenstand der Phraseologie akzep-
hofer/Sialm 1982, 39ff.) oder Satzphraseolo- tieren, eher Ausnahmen.
gismen (J. Korhonen 1995, 43ff.) bezeichnet
werden, können vollidiomatisch (Ach, du 1.2.3. Bei einer semantisch-syntaktischen
grüne Neune!), teilidiomatisch (Abwarten und Mischklassifikation (vgl. u. a. Häcki Buhofer/
Tee trinken.) und nichtidiomatisch (Was nicht Burger 1992, 14) könnte die Gruppierung wie
ist, kann ja noch werden!) sein. folgt aussehen, wobei jeweils gruppenintern
(b) Sprichwörter (Gegenstand der Parömio- ⫺ ausgehend von einem prototypischen
logie) als eigenständige, oft lehrhafte Mikro- Zentrum (als den besten Vertretern und da-
texte, die sich durch strukturelle Selbstgenüg- mit „Maßstab“ einer Gruppe) hin zu den
samkeit (jedoch kontextuelle Interpretations-
Randzonen ⫺ weiter zu differenzieren wäre:
breite) auszeichnen, können vollidiomatisch
(1) voll- und teilidiomatische PL (satzglied-
(Es ist nicht alles Gold, was glänzt.), teilidio-
wertige Idiome); (2a) voll- und teilidiomati-
matisch (Wer rastet, der rostet.) und nicht-
sche Routineformeln/kommunikative For-
idiomatisch (Was du heute kannst besorgen,
meln (Satzidiome); (2b) nichtidiomatische
das verschiebe nicht auf morgen.) sein.
Routineformeln; (3a) voll-, teil- und nichti-
(c) Sagwörter als „dreigeteilte“ Einheiten
diomatische Sprichwörter; (3b) Sagwörter;
bestehen aus (i) einem Ausspruch: Sprich-
(4) Funktionsverbgefüge; (5) Kollokationen;
wort, Zitat; (ii) der Nennung desjenigen, der
(6) Phraseoschablonen; (7) formelhafte Texte;
den Ausspruch äußert/zitiert und (iii) einer
(8) Einwortidiome …
überraschenden, oft derben Pointe; z. B.:
Abschließend noch eine Bemerkung zum
Alles mit Maßen, sagte der Schneider, und
schlug seine Frau mit der Elle tot. (vgl. Flei- Sonderstatus der „geflügelten Worte“. Obers-
scher 1997, 78f.). tes Kriterium für die Zuordnung zu dieser
(d) Phraseoschablonen sind Konstruktionen Gruppe ist die Nachweisbarkeit des Urhe-
„im Grenzbereich der Phraseologie zur Syn- bers, der konkreten Quelle. Diese kann ⫺
tax“, die nach Fleischer (1997, 130ff.) im We- sprachbenutzerabhängig ⫺ mehr oder weni-
sentlichen die folgenden grob skizzierten Mo- ger präsent bzw. auch ganz verblasst, der
delle umfassen: (i) Wiederholung des gleichen Ausdruck aber dennoch als Phraseologismus
Substantivs, Adjektivs … verbunden durch im individuellen Sprachbesitz gespeichert
die Kopula ist: Dienst ist Dienst. Sicher ist sein. Die so benannten Einheiten können for-
sicher; (ii) Wiederholung des finiten Verbs, mal ganz unterschiedlich strukturiert sein: (a)
verbunden durch und: Sie kommt und kommt Einworteinheiten: Benjamin (Bibel); (b) poly-
nicht; (iii) Frageadverb bzw. -pronomen ⫹ lexikalische Einheiten unterhalb der Satz-
Substantiv (als Ausrufesatz): Was für ein ebene: gegen Windmühlen kämpfen (Cervan-
Glück! tes); (c) ganze Sätze/Kurztexte: Grau, teurer
(e) Formelhafte Texte als an der Peripherie Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens
der Phraseologie anzusiedelnde Erscheinung goldner Baum (Goethe).
(Gülich 1997) sind Texte mit einem relativ Damit ist der Objektbereich für kontras-
stabilen ⫺ immer wiederkehrenden ⫺ Auf- tive Untersuchungen im Bereich der Phraseo-
bau und stereotypen lexikalischen Grundbe- logie grob abgesteckt. Wir werden uns im
stand (z. B. Selbständigkeitserklärungen am Weiteren vor allem auf PL und Routinefor-
Ende wissenschaftlicher Graduierungsarbei- meln sowie am Rande auch auf Sprichwör-
ten); vgl. auch Eckkrammer (1996). ter beziehen.
19. Kontrastivität in der Phraseologie 227

2. Kontrastive Phraseologie: Deklination …, z. B.: jeden Pfennig/jeden


Dimensionen, Äquivalenzen und Schilling zweimal umdrehen (müssen); auf
dem Zahnfleisch gehen/am Zahnfleisch gehen)
Vergleichsmaßstäbe bzw. Phraseologismen, die im jeweils anderen
2.1. Mehrdimensionaler Vergleich: intra- deutschsprachigen Land kein Pendant haben,
und interlingual herausgestellt. Burger (1996) zeigt in Bezug
auf das Schweizerhochdeutsche ebenfalls
In neueren Untersuchungen wird davon aus- strukturelle und semantische Typen von Dif-
gegangen, dass eine kontrastive Sprachbe- ferenzen (z. B. sauberen Tisch machen statt
trachtung in mehreren Dimensionen möglich reinen Tisch machen); (iii) Vergleich der Phra-
und sinnvoll ist. Es geht damit nicht nur um seologie des Deutschen als Minderheitenspra-
den im Allgemeinen assoziierten interlingua- che (z. B. ungarndeutsche Phraseologie) mit
len Vergleich, d. h. die Ermittlung und Be- dem in den deutschsprachigen Ländern ge-
schreibung zwischensprachlicher Gemein- sprochenen Deutsch (Földes 1996, 59ff.).
samkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede,
sondern darüber hinaus um die lange Zeit 2.2. Phraseologische Äquivalenzen am
vernachlässigte intralinguale Dimension. Int- Beispiel von PL
ralinguale kontrastive phraseologische Stu- Bei einer synchronisch-vergleichenden Ana-
dien können sowohl in diachronischer als lyse formativisch komplexer Wortschatzein-
auch in synchronischer Ausrichtung durchge- heiten sind neben der phraseologischen Be-
führt werden. In synchronischer Hinsicht er- deutung der Formativkette auch die einzel-
geben sich im Falle einer plurinationalen nen wendungsinternen Komponenten in die
Sprache wie des Deutschen u. a. folgende Äquivalenzbestimmung einzubeziehen. Die
Möglichkeiten: (i) Gegenüberstellung der Be- folgende Übersicht soll in grober Näherung
sonderheiten der Phraseologie in Dialekt/Re- die hauptsächlichen Äquivalenttypen ver-
giolekt mit denen der Standardsprache (vgl. deutlichen; mögliche Differenzierungen in
Burger/Buhofer/Sialm 1982, 274ff.; Piirainen der jeweiligen semantischen Spezifik und
1994; J. Korhonen 1995, 171ff.); (ii) Vergleich Konnotiertheit sowie in der formativischen
der Phraseologismen der deutschsprachigen Struktur bleiben dabei unberücksichtigt (s.
Länder. Földes (1996, 32ff.) hat sich mit Abb. 19.1).
österreichspezifischen Phänomenen in der Von den „echten Freunden“ des Fremd-
deutschen Phraseologie beschäftigt und Ge- sprachenlerners bzw. Übersetzers (i), d. h.
meinsamkeiten und Unterschiede in Pho- von in L1 und L2 semantisch äquivalenten
netik/Prosodie, Lexik, Wortbildung und und formal kongruenten PL (dt.: sich den
Morphosyntax ermittelt (Unterschiede im Kopf zerbrechen ⫺ span.: romperse la cabeza;
Genus, in den Präpositionen, in der Verbfle- dt.: sich auf seinen Lorbeeren ausruhen ⫺
xion und Valenz, bei den Kasus und in der franz.: se reposer sur ses lauriers) sind die

Abb. 19.1: Grober Überblick über zentrale phraseologische Äquivalenttypen.


228 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

Scheinäquivalenzen/„falschen Freunde“ (FF) seit ihren Anfängen in den 60er Jahren des
mit formaler Kongruenz/Teilkongruenz der 20. Jhs. gegeben. Unter Beachtung der be-
Komponentenkette, aber fehlender semanti- merkenswerten Intensitätszunahme der ein-
scher Äquivalenz deutlich abzuheben (dt.: schlägigen Forschung wird das Hauptgewicht
jmdm. einen Floh ins Ohr setzen ⫽ jmdm. ei- auf die Entwicklung ab Anfang der 80er
nen Gedanken, einen Wunsch eingeben, der Jahre gelegt. Dabei werden die einzelnen
diesen dann nicht mehr ruhen lässt ⫺ franz.: Publikationen anhand der Sprachen, denen
mettre la puce à l’oreille à qn ⫽ jmdn. miss- das Deutsche gegenübergestellt wurde, in
trauisch/hellhörig machen); vgl. zu dieser Gruppen zusammengefasst. Aus Raum-
Problematik allgemein und zu einer Differen- gründen konnte naturgemäß keine absolute
zierung innerhalb der phraseologischen FF Vollständigkeit angestrebt werden (zu einer
im Besonderen u. a. Ettinger (1994, 113f.). ausführlicheren Darstellung vgl. J. Korho-
Für das Phänomen der semantischen nen 1998).
Äquivalenz bei formaler Teilkongruenz (ii),
bei formaler Inkongruenz (iii) und im Falle 3.1. Kontrastive Phraseologieforschung seit
so genannter phraseologischer Nulläquiva- den 60er Jahren
lenz (iv) stehen ⫺ wiederum in grober Verall- Mit ihren phraseologiespezifischen Studien,
gemeinerung ⫺ die folgenden Beispiele: in denen die deutsche Sprache nicht selten als
(ii) dt.: Öl auf die Wogen gießen ⫺ engl.: pour Vergleichsobjekt erscheint, haben sowjetische
oil on troubled waters; Sprachforscher das neue Untersuchungsge-
(iii) dt.: das Pulver auch nicht gerade erfunden biet der interlingualen kontrastiven Phraseo-
haben ⫺ engl.: not set the Thames on logie eröffnet. Aus der Bibliographie von
fire; Eckert/Böhme (1976) ist ersichtlich, dass die
(iv) dt.: etw. an den Tag legen ⫺ engl.: display ersten Arbeiten zur deutsch-russischen Sprach-
s.th. konfrontation zu einem wesentlichen Teil um
Kontrastivität in der Phraseologie ist natür- die Mitte der 60er Jahre entstanden sind.
lich weit mehr als das bisher Beschriebene. Welches die Untersuchungsgegenstände und
Ein sorgfältig ausgearbeitetes, möglichst Methoden der früheren sowjetischen For-
auch für die Computerimplementierung ge- schung auf diesem Gebiet waren, wird von
eignetes, mehrdimensionales Kriterienraster Burger/Buhofer/Sialm (1982, 289ff.) in einem
als Tertium comparationis und damit als instruktiven Überblick dargestellt. Es wurden
Messlatte, die an jedes einzelne L1/L2-PL nicht nur phraseologische Einheiten unter
akribisch angelegt wird, sollte unterschiedli- Einteilung in bestimmte Äquivalenzgruppen,
che sprachliche Ebenen integrieren, in ihrer sondern auch phraseologische Systeme unter
Eigenständigkeit wie Interdependenz zeigen: Berücksichtigung des lexikalischen, syntakti-
Semantik (denotativer Bedeutungskern und schen und semantischen Aspekts untersucht.
Konnotationen; syntagmatisch-semantische Von den weiteren slawischen Sprachen
Kompatibilität und paradigmatisch-semanti- wurden in der früheren Phase der kontrasti-
sche Beziehungen), Lexik, Morphosyntax ven Phraseologieforschung das Polnische,
(phraseologismusintern und -extern), Prag- Tschechische und Ukrainische mit dem Deut-
matik, Bildspenderbereich, Gebrauchsüblich- schen kontrastiert (vgl. u. a. Czochralski
keiten und -restriktionen, Kollokabilität, 1977). Zur Äquivalenz deutscher und engli-
Textsortenpräferenzen … Wie dabei im Ein- scher Idiome mit entsprechenden Überset-
zelnen vorgegangen werden kann und wie der zungsproblemen werden in Burger (1973)
Vergleichsmaßstab aussehen könnte, wird am Beispiele geliefert und in einer zweiten
Beispiel verbaler PL des Deutschen und Fin- deutsch-englischen Studie stehen Wortpaare
nischen von J. Korhonen (1995, 252 ff.) ex- im Mittelpunkt (Fill 1977). Für den deutsch-
emplarisch gezeigt; siehe dazu auch ein mehr- französischen Vergleich können drei Arbeiten
stufiges, valenzbasiertes Vergleichsraster für genannt werden: Esser (1969) (Erläuterung
verbale PL bei Wotjak (1992c, 80ff.). von Parallelen mit Hinweisen auf die Her-
kunft von PL und Sprichwörtern), Klein
3. Forschungsüberblick zur (1972) (falsche Freunde; Wörterbuchkritik),
interlingualen kontrastiven Militz (1980) (Semantik und Syntax). Unter-
Phraseologie suchungen mit drei oder mehr kontrastierten
Sprachen sind Vapordžiev (1980) (Wortpaare
Im Folgenden wird ein Überblick über die im Deutschen, Russischen und Bulgarischen),
Entwicklung der kontrastiven Phraseologie Koller (1974) (Deutsch-Englisch-Schwedisch-
19. Kontrastivität in der Phraseologie 229

Französisch; Syntax, Semantik, Äquivalenz) durch ein Projekt von G. Gréciano vorange-
und Wandruszka (1979) (Deutsch-Englisch- trieben (vgl. u. a. Gréciano 1991; 1993). Ein
Französisch-Italienisch-Spanisch; Syntax, Se- neues Projekt befasst sich verstärkt mit dem
mantik, Übersetzung). Gebrauch von PL und Kollokationen mit
Blick auf eine „Kontrastive Phraseologie
3.2. Kontrastive Phraseologie ab Anfang der Deutsch-Französisch“ (Gréciano/Rothkegel
80er Jahre 1995). Zu erwähnen ist weiterhin die Mono-
Anfang der 80er Jahre hat die interlinguale graphie von Higi-Wydler (1989): Hier liegt auf
kontrastive Phraseologieforschung einen leb- der einen Seite eine umfassende systemlingu-
haften Aufschwung erfahren und seitdem istische Klassifizierung, auf der anderen Seite
dauert das Interesse an entsprechenden Fra- eine übersetzungsbezogene Erfassung idioma-
gestellungen mit unverminderter Intensität tischer Einheiten vor. Im Rahmen der deutsch-
an. Für diesen Zeitraum sind folgende Aktivi- spanischen Sprachkonfrontation sind vor
täten zu verzeichnen: internationale Tagun- allem Arbeiten zur Erfassung der Äquivalenz-
gen, Forschungsprojekte, Sammelschriften, beziehungen von Verbidiomen entstanden
Themenhefte wissenschaftlicher Zeitschriften, (Wotjak 1987; 1992b). Die deutsch-portugiesi-
Handbücher und Einführungen, Arbeits- und sche Phraseologieforschung hat zwei Mono-
Übungsbücher, eine Publikation mit einem graphien vorzuweisen: Schemann (1981) be-
umfassenden, nicht an bestimmte Sprachen schreibt Idiome mit dem portugiesischen Verb
gebundenen Fragenkatalog (Wotjak 1992a) dar und ihre deutschsprachigen Entsprechun-
sowie eine Vielzahl von Monographien, Auf- gen, Funk (1993) hingegen legt eine kontras-
sätzen und Beiträgen. tive Analyse portugiesischer und deutscher
Sprichwörter im Kontext vor. Nicht uner-
3.2.1. Unter den größeren und kleineren wähnt bleiben soll Hundt (1994, 92ff.), die
kontrastiven Arbeiten bilden solche mit zwei ausgewählte Strukturmuster verbaler PL im
Sprachen eine überwältigende Mehrheit. Zu Portugiesischen und Deutschen vergleicht.
den germanischen Sprachen, die in den ent- Unter den slawischen Sprachen heben sich
sprechenden Untersuchungen als Vergleichs- das Russische und das Polnische in der Rolle
objekt dienen, gehören Englisch, Niederlän- des Vergleichsobjekts von den anderen deut-
disch, Schwedisch, Dänisch und Isländisch. lich ab. Kammer (1985) erläutert interlin-
Mit dem Englischen wurde das Deutsche in guale Entsprechungstypen und untersucht sie
mehreren Publikationen von Gläser (u. a. in Übersetzungen aus dem Russischen ins
1985; 1986) kontrastiert. In den Arbeiten zur Deutsche. Spezielle Untersuchungsgegenstän-
deutsch-niederländischen Phraseologie fällt de sind festgeprägte prädikative Konstruktio-
die favorisierte Untersuchung der unikalen nen (Günther 1984) und satzwertige Phraseo-
Komponenten ins Auge, vgl. etwa Feyaerts logismen (Eckert 1986). Ein beliebtes Thema
(1994). Eine Untersuchung, in der neben der sind ferner die Äquivalenzrelationen, so z. B.
Syntax, Lexik und Äquivalenz Aspekte der in Eismann (1995). Die polnisch-deutsche
kognitiven Linguistik zum Tragen kommen, phraseologische Forschung hat eine Reihe
ist Piirainen (1995). Das Deutsche und das von Publikationen aufzuweisen, in denen
Schwedische wurden in mehreren Arbeiten ebenfalls Fragen der Äquivalenz im Mittel-
von K. Krohn anhand von Somatismen ein- punkt stehen, vgl. stellvertretend Rechtsiegel
ander gegenübergestellt, so z. B. in Krohn (1990). In Łabno-Fale˛cka (1995) kommen
(1994), wo ein kontrastives Beschreibungs- Aspekte der Struktur und des Gebrauchs, der
modell der Äquivalenz entwickelt wird. Dä- Äquivalenz und der Übersetzung zur Spra-
nisch und Deutsch sind die kontrastierten che, und Worbs (1994, 141ff.) widmet sich
Sprachen in der Arbeit von Kjær (1994) zu insbesondere Fragen der Phraseographie und
Nominationsstereotypen der Rechtssprache, der Äquivalenzfindung.
Isländisch und Deutsch wiederum in der Mo- Außer dem Russischen und Polnischen
nographie von Sverrisdóttir (1987), für die wurden folgende slawische Sprachen mit dem
Redensarten aus der Seemannssprache als Deutschen kontrastiert: vereinzelt Tsche-
Untersuchungsgegenstand gewählt wurden. chisch (u. a. Untersuchungen von Grimm
Französisch, Spanisch und Portugiesisch zum Artikelgebrauch in deutschen PL und ih-
sind die romanischen Sprachen, die in phra- ren tschechischen Äquivalenten; 1986, 117⫺
seologischen Untersuchungen mit dem Deut- 133) sowie Serbokroatisch bzw. Kroatisch,
schen kontrastiert wurden. Die französisch- vor allem aber Slowakisch und Bulgarisch. In
deutsche Forschung wurde besonders aktiv Ďurčo (1994) werden Fragen der Struktur,
230 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

Stabilität/Variabilität und Motivation sowie Idiomreihen und zur lexikalischen Variabili-


der Interpretation und des Verständnisses tät sowie zur Semantik. Für die übrigen Pro-
von PL im Slowakischen und Deutschen ab- jektpublikationen (mit weiteren Bereichen
gehandelt. Hinsichtlich des bulgarisch-deut- und Phänomenen wie Onomasiologie und
schen Sprachvergleichs verdienen die Arbei- Scheinäquivalenz) sei auf die Bibliographie in
ten von Vapordžiev (u. a. 1996) besondere J. Korhonen (1992b, 213ff.) verwiesen. Ein
Beachtung. vom Projekt unabhängiges Werk ist Schell-
Besonders aktiv war seit etwa Mitte der bach-Kopra (1985), eine finnisch-deutsche
80er Jahre eine kontrastive Phraseologiefor- Idiomatik mit einer theoretischen Einführung
schung, in der das Deutsche zwei finnougri- in ausgewählte Aspekte der Phraseologie der
schen Sprachen, dem Ungarischen und dem beiden Sprachen, ebenso die Dissertation von
Finnischen, gegenübergestellt wurde. Die un- Wilske (1989) zu PL mit Eigennamen.
garisch-deutsche Forschung verdankt ihre Von den nichteuropäischen Sprachen wur-
vielseitigen Ergebnisse vornehmlich den Akti- den u. a. das Arabische, Chinesische und Ja-
vitäten von Cs. Földes und R. Hessky. Das panische mit dem Deutschen kontrastiert. In
Wesen der interlingualen Äquivalenz zwi- Studien zur arabisch-deutschen Phraseologie
schen dem Ungarischen und Deutschen wurden sowohl Sprichwörter (Matta 1986)
wurde von Földes unter verschiedenen Ge- als auch PL (Matta 1993) zum Untersu-
sichtspunkten beleuchtet (vgl. u. a. Földes chungsobjekt gemacht. Diese beiden Klassen
1990b). Faktoren der Konvergenz, entspre- des phraseologischen Materials begegnen uns
chende Äquivalenztypen sowie eine verglei- auch in Arbeiten mit Chinesisch und Deutsch
chende Untersuchung onymischer PL des als beteiligten Sprachen, vgl. Yao-Weyrauch
Deutschen und des Ungarischen sind die drei (1990) zu Sprichwörtern sowie Wenliang
zentralen Themenbereiche in Földes (1996); (1991) und Weng (1992) zu PL. Eine japa-
außerdem werden hier die theoretischen Dar- nisch-deutsche Sprachkonfrontation anhand
legungen durch Textbelege veranschaulicht. von PL liegt in den Arbeiten von Ueda (1991)
In Hessky (1987) wird für die Erfassung und Itoh (1996) vor.
phraseologischer Gemeinsamkeiten und Un-
terschiede des Deutschen und des Ungari- 3.2.2. Im Vergleich zu den oben erwähnten
schen ein detailliertes Modell entwickelt und Untersuchungen sind Arbeiten, in denen die
auch auf die Analyse von Texten angewendet. Beschreibungseinheiten aus drei oder mehr
Am Beispiel einer phraseologischen Sub- Sprachen stammen, wesentlich seltener. Zu
klasse werden in Hessky (1989) sprach- und einer Konfrontation mit drei Sprachen hat
kulturspezifische Züge aufgedeckt. am konsequentesten Cs. Földes beigetragen.
Die deutsch-finnische Phraseologiefor- Er hat Deutsch, Russisch und Ungarisch mit-
schung wurde hauptsächlich im Rahmen ei- einander verglichen und dabei sein Beschrei-
nes von J. Korhonen geleiteten Projekts zur bungsmaterial unter folgenden Aspekten ge-
Verbidiomatik betrieben. In J. Korhonen wählt: Sachgruppen (Földes 1991; 1993),
(1987; 1992a; 1992b) finden sich Überlegun- Herkunftsbereich (Földes 1990a) und syntak-
gen zu folgenden Gebieten: Syntax (u. a. Va- tisch-semantische Subklasse (Földes 1992).
lenz; Modifikationen), Lexik, Semantik, Die übrigen dreisprachigen Untersuchungen
Äquivalenzrelationen, phraseologische Sub- sind Ergebnisse vereinzelter Forschungsinitia-
klassen, Vorkommen von Verbidiomen in ei- tiven und weisen u. a. die Sprachenkombina-
ner Gruppensprache, Idiome bestimmter tionen Deutsch-Englisch-Niederländisch (Do-
Herkunft und Phraseodidaktik. Die linguisti- brovol’skij 1988), Deutsch-Englisch-Franzö-
schen Teildisziplinen und Erscheinungen, auf sisch (Roos 1985), Deutsch-Englisch-Finnisch
die sich die Ausführungen in J. Korhonen (J. u. B. Korhonen 1995) und Deutsch-Nieder-
(1995) beziehen, sind Syntax und Wortbil- ländisch-Polnisch (Bartoszewicz 1994) auf.
dung, Lexikographie bzw. Phraseographie, Mit Ausnahme von Bartoszewicz (1994) han-
Äquivalenzbeziehungen, Vorkommen von delt es sich in diesen Studien um PL-bezogene
Verbidiomen in einer bestimmten Textsorte Darlegungen, die sich entweder an spezifische-
und Übersetzung aus dem Deutschen ins Fin- ren innersprachlichen oder an generelleren
nische. J. Korhonen (1996) enthält Beiträge außersprachlichen Aspekten orientieren.
zu zwei syntaktischen Sondergruppen, ausge- Konstellationen mit vier Sprachen enthal-
wählten Transformationsmöglichkeiten und ten bspw. folgende Untersuchungen: Erichsen
Modifikationstypen, zur Valenz, zu einer be- (1989) (Deutsch-Englisch-Norwegisch-Fran-
sonderen lexikalischen Strukturgruppe, zu zösisch), Braun/Krallmann (1990) (Deutsch-
19. Kontrastivität in der Phraseologie 231

Englisch-Französisch-Italienisch) und Hen- fizierungen beliebt zu sein; gebrauchsbe-


schel (1984) (Deutsch-Russisch-Tschechisch- zogene Untersuchungen (Stil, Vorkommen
Slowakisch). Anliegen dieser Arbeiten sind die phraseologischer Einheiten im Text, sonstige
Erschließung von Äquivalenztypen, die Fest- pragmatische Gebrauchsbedingungen) sind
stellung von Gemeinsamkeiten, die Klassifi- deutlich seltener. Kennzeichnend für die Ent-
zierung der Einheiten, die Erläuterung der wicklung ist, dass früher die Rolle der Über-
Herkunft sowie die Berücksichtigung von Be- setzung, entweder allein oder in Verbindung
langen der Übersetzung und des Fremd- mit der Äquivalenz, besonders zentriert war.
sprachenunterrichts. Idiome mit einer be- Zu den einzelnen Klassen des phraseologi-
stimmten lexikalischen Komponente sind Be- schen Materials lässt sich feststellen, dass PL
schreibungsobjekt in Strazhas (1981), einer wesentlich häufiger als Beschreibungsgegen-
Untersuchung mit fünf Sprachen (Deutsch- stand gewählt wurden als bspw. Sprichwör-
Englisch-Französisch-Russisch-Litauisch). In ter. Bei den PL sind es mehrheitlich die Verb-
sechssprachigen Beiträgen wurde das Deut- idiome, die die Aufmerksamkeit der Forscher
sche mit Vertretern einer oder mehrerer auf sich gezogen haben. Spezielle syntakti-
Sprachfamilien kontrastiert. Zu ersteren zählt sche und lexikalische Strukturtypen, denen
Kühnert (1982) (Deutsch-Russisch-Polnisch- viel Beachtung zuteil wurde, sind u. a. Wort-
Tschechisch-Slowakisch-Bulgarisch), zu letz- paare und phraseologische Vergleiche bzw.
teren Menac (1987) (Deutsch-Englisch-Fran- PL mit unikalen Komponenten und solche
zösisch-Italienisch-Russisch-Kroatisch). Zum mit Eigennamen. Wurden die Beschreibungs-
Schluss kann noch eine Studie mit neun Spra- einheiten anhand einer Sachgruppe/Kern-
chen, und zwar mit Deutsch, Englisch, Schwe- wortgruppe zusammengestellt, dann wurden
disch, Französisch, Italienisch, Russisch, Un- nicht selten Somatismen und PL mit Tierbe-
garisch, Estnisch und Finnisch, erwähnt wer- zeichnungen präferiert.
den (J. Korhonen 1995, 221ff.). Wie in den
sechssprachigen Untersuchungen gibt hier die 4.2. Trotz der relativen Vielseitigkeit in der
interlinguale Äquivalenz mit ihren verschiede- bisherigen Forschung zur kontrastiven Phra-
nen Teilaspekten die Grundlage ab, auf der seologie gibt es nicht wenige offene Fragen
phraseologische Ausdrücke zueinander in Be- und Desiderata, von denen hier nur einige
ziehung gesetzt werden. angedeutet werden sollen. Für stärker theo-
retisch ausgerichtete Untersuchungen zeigt
sich, dass sie weitgehend auf Bemühungen
4. Bilanz und Ausblick einzelner Forscher fußen. Hier wäre es sicher
günstiger, in größeren, internationalen Ge-
4.1. Eine Bilanz der rund 30 Jahre kontrasti- meinschaftsprojekten zu arbeiten, um zu
ver Phraseologie lässt zunächst erkennen, gründlicheren und weiter gefächerten Be-
dass zu den mit dem Deutschen am häufigs- schreibungen zu kommen (vgl. u. a. Gréciano/
ten bzw. am intensivsten kontrastierten Rothkegel 1995; J. Korhonen 1996). Allge-
Sprachen außer dem Russischen das Polni- meine, übereinzelsprachlich gültige Erkennt-
sche, Französische, Ungarische und Finni- nisse zu phraseologischen Universalien, zum
sche zählen. Für das Englische fällt der rela- Verhältnis von Idiosynkratischem und Uni-
tiv geringe Anteil auf, namentlich in Untersu- versellem wurden bisher erst in Ansätzen ge-
chungen mit zwei Sprachen. Werden drei wonnen. Mit Recht wird in der Forschung
oder mehr Sprachen miteinander verglichen, darauf aufmerksam gemacht, dass in diesem
dann ist das Englische häufiger vertreten, Zusammenhang auch die Phraseologie histo-
aber im Großen und Ganzen wurde der Vor- rischer Sprachstufen, außereuropäischer Spra-
rang nichtgermanischen Sprachen gegeben. chen wie auch der Dialekte und Minderhei-
In besonders vielen Arbeiten bemühen sich tensprachen zu berücksichtigen sei. Dobro-
die Autoren darum, für die zugrunde gelegten vol’skij (1988) weist am Beispiel einer struk-
phraseologischen Ausdrücke Gemeinsamkei- turtypologischen Analyse der phraseologi-
ten bzw. Ähnlichkeiten und Unterschiede schen Systeme des Deutschen, Englischen
nachzuweisen und das Beschreibungsmaterial und Niederländischen einen möglichen Weg,
in Äquivalenzgruppen aufzuteilen. Die Krite- wobei er eine Dreiteilung der zu ermittelnden
rien, die dabei zumeist Anwendung finden, phraseologischen Universalien vornimmt in:
sind Bildhaftigkeit, Struktur (Syntax und Le- (i) außersprachlich bedingte (begriffliche)
xik) und Bedeutung (denotativ und konno- Universalien, (ii) lexikalisch-phraseologische
tativ). Vor allem scheinen strukturelle Klassi- Universalien als sprachsysteminterne, aber
232 III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem

nicht eigentlich phraseologische Phänomene ⫺; Annelies Buhofer; Ambros Sialm (1982): Hand-
und (iii) eigentliche phraseologische Univer- buch der Phraseologie. Berlin/New York.
salien als innere Gesetzmäßigkeiten des phra- Coulmas, Florian (1981): Routine im Gespräch. Zur
seologischen Systems. pragmatischen Fundierung der Idiomatik. Wiesba-
Künftige Untersuchungen sollten über die den.
bisher bevorzugten struktur- und kernwortbe- Czochralski, Jan A. (1977): Konfrontatives zur
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kenntnisse der kognitiven Linguistik (z. B. zu Dobrovol’skij, Dmitrij (1988): Phraseologie als Ob-
den konzeptuellen Bereichen, die durch Phra- jekt der Universalienlinguistik. Leipzig.
seologismen abgedeckt bzw. nicht abgedeckt ⫺; Elisabeth Piirainen (1996): Symbole in Sprache
werden) berücksichtigen. Ebenso bedarf es und Kultur. Studien zur Phraseologie aus kulturse-
intensiverer Recherchen zur Pragmatik, zu miotischer Pespektive. Bochum.
ethnolinguistischen und kultursemiotischen
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Fragestellungen sowie zur textsortentypi- kontrastiven Phraseologie. Am Beispiel Deutsch und
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schung von Symbolen in Sprache und Kultur
(z. B. Farben und Zahlen als Symbole in fer- ⫺; Ulrich Böhme (1976): Ausgewählte Bibliogra-
phie zur Phraseologie unter besonderer Berück-
nen bzw. nahen Kulturkreisen, vgl. Dobro-
sichtigung der Konfrontation zwischen Russisch
vol’skij/Piirainen 1996, 448). und Deutsch und von Arbeiten zur Verknüpfbar-
Bereiche, denen eine praxisorientierte kon- keit der Lexeme. In: DaF 13, 379⫺382.
trastive Phraseologieforschung Nutzen brin-
Eckkrammer, Eva Martha, unter Mitarbeit von Sa-
gen kann, sind insbesondere Übersetzung,
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(zweisprachige) Lexikographie bzw. Phraseo- Spiegel kultureller Konventionen: eine kontrastive
graphie und Fremdsprachenunterricht; hier Analyse deutscher, englischer, französischer, spani-
sollten neben den im Allgemeinen aufgezähl- scher, italienischer und portugiesischer Todesanzei-
ten phraseodidaktischen Aspekten hinsicht- gen. Bonn.
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IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch

20. Sprachsystem und Sprechhandlungen

1. Mit Sprache handeln ein Schiff tauft, würde es kaum als angemes-
2. Sprechhandlung und Satz sene Reaktion empfinden, wenn ein Anwe-
3. Komponenten der Sprechhandlung sender ruft:
4. Sprechhandlungstaxonomien
5. Explizite Performativität (2) Das ist doch nicht wahr!
6. Modalisierte Sprechhandlungen Wer jedoch z. B. erzählt
7. Indirekte Sprechhandlungen
8. Konversationelle Implikaturen (3) Königin Margrethe hat das Schiff auf den
9. Verbalisierungsmuster für Sprechhandlungen Namen „Christine“ getauft,
10. Sprechhandlung und Text
der berichtet über den Zustand der Welt und
11. Literatur in Auswahl
erhebt damit einen Wahrheitsanspruch: seine
Aussage kann angezweifelt werden. Auch in
1. Mit Sprache handeln diesem Fall liegt im Sinne der Sprechhand-
lungstheorie eine SH vor, mit der die Wissens-
Wer „handeln“ sagt, meint oft das Gegenteil basis des Hörers erweitert werden soll (vgl. 4.)
von „reden“. Jedoch kann man durchaus vor.
„handeln“, indem man etwas sagt oder Eine SH kann vom Sprecher nur hier und
schreibt. Man denke etwa an Kriegserklärun- jetzt (in der ich- oder ev. wir-Form) ausge-
gen, Kündigungen, Taufen oder Ernennun- führt werden. Mit
gen. Sie haben alle das gemeinsam, dass (4) Ich ernenne Sie morgen zum Oberinspek-
durch sprachliche Äußerungen (schriftlich tor
oder mündlich) der Zustand der Welt verän-
vollzieht der Sprecher im Sinne der SH-Theo-
dert wird. Und wer die Welt verändert, han- rie noch nicht die SH der ERNENNUNG,
delt. Dies ist, wie wir in 3. und 4. sehen wer- sondern nur die MITTEILUNG einer noch
den, nur eine, aber vielleicht die unmittelbar zu erfolgenden Ernennung (SH werden übli-
einleuchtendste Form der „Sprechhandlung“ cherweise durch Versalien gekennzeichnet,
(im Folgenden SH). um sie von den entsprechenden Verben zu
Es war das Verdienst des englischen unterscheiden).
Sprachphilosophen John L. Austin (1965), SH sind leicht zu erkennen, wenn das
den Handlungsaspekt der Sprache hervorge- Verb, mit dem die SH bezeichnet werden
hoben zu haben. Sein Schüler John R. Searle kann, auch explizit verwendet wird (wie tau-
(1969, 1976) hat diese sog. Sprechakttheorie fen in (1) ). Ein weiterer guter Test, ob mit
(eng. speech act theory) weiterentwickelt und einem Satz eine SH ausgeführt wird, ist die
ihr zum Durchbruch in der modernen Lin- Hinzufügung von hiermit:
guistik verholfen (Stichwort: „pragmatische (5) Ich taufe dich hiermit auf den Namen
Wende“ in den siebziger Jahren). „Christine“.
Die zentrale Beobachtung in diesem Zu- (6) Ich ernenne Sie hiermit zum Oberinspek-
sammenhang ist, dass Sätze der Sprache tor.
nicht immer nur Zustände der Welt beschrei-
Aber nicht:
ben (und damit, was in der logisch orientier-
ten Linguistik als wichtigster Bedeutungs- (7) *Königin Margrethe hat gestern hiermit
aspekt betrachtet wird, wahr oder falsch sein das Schiff auf den Namen „Christine“ ge-
müssen). Wer mit den Worten tauft.
(1) Ich taufe dich auf den Namen „Chri- oder
stine“. (8) *Ich erschrecke dich hiermit.
20. Sprachsystem und Sprechhandlungen 237

In (7) liegt, wie bereits besprochen, keine SH einheit (vgl. Brandt 1990; Brandt/Rosengren
des Taufens vor, und (8) zeigt, dass erschrek- 1991). Eine Informationseinheit besitzt eine
ken kein SH-Verb im eigentlichen Sinne ist. eigene informationsstrukturelle Gliederung,
Es gibt eine ganze Reihe solcher Verben, die insb. eine eigene Fokus-Hintergrund-Gliede-
zwar eine sprachlich auszuführende Hand- rung (wir können diesen Problembereich hier
lung bezeichnen, aber dennoch nicht als di- nicht näher behandeln, vgl. z. B. Molnár 1991
rekte SH in der Form „ich ⫺ Verb ⫺ hiermit“ zur Unterscheidung verschiedener Typen von
verwendet werden können (weitere Beispiele Informationsgliederung im Deutschen). Nach
sind drohen, verleumden, belügen). dieser Theorie würden in (10) zwei Informa-
tionseinheiten vorliegen, jedoch nur eine SH.
In (11) wiederum funktioniert der Test, was
2. Sprechhandlung und Satz darauf hindeutet, dass ein weiterführender
Relativsatz eine selbständige SH repräsentie-
Eine vieldiskutierte Frage ist das Verhältnis
ren kann (vgl. zu diesem Problem Brandt
von Satz und SH. Ein naheliegender Ge-
(1990) ).
danke wäre, dass jeder Satz eine SH aus-
(12) ist bemerkenswert, weil hier bei nor-
drückt und umgekehrt jede SH durch einen
Satz ausgedrückt wird. Dies ist in den bisher malem Sprachgebrauch nicht um etwas gebe-
genannten Beispielen der Fall. Wenn sich ten wird, sondern metakommunikativ mitge-
heute auch die meisten Forscher darin einig teilt wird, warum man um etwas bittet (etwa
sind, dass es keine Eins-zu-eins-Beziehung als Antwort auf die Frage: „Warum bitten Sie
zwischen Satz und SH gibt, ist die Frage der mich, Sie zu vertreten?“).
Abgrenzung dennoch nicht trivial. Verglei-
chen wir die folgenden Formulierungen: 3. Komponenten der Sprechhandlung
(9) Ich verreise morgen. Deshalb bitte ich
Austin (1965) unterschied hauptsächlich zwi-
Sie, mich zu vertreten.
(10) Da ich morgen verreise, bitte ich Sie, schen konstativen Sätzen (z. B. (3) ), die de-
mich zu vertreten. skriptiv sind und wahr oder falsch sein kön-
(11) Ich verreise morgen, weshalb ich Sie nen, und performativen Sätzen (z. B. (1) ), mit
bitte, mich zu vertreten. denen man eine Handlung vollzieht. Die Be-
(12) Ich bitte Sie, mich zu vertreten, weil ich zeichnungen explizit performativ verwenden
morgen verreise. wir auch heute noch, um Sätze wie (1) zu be-
zeichnen, in denen ein explizites SH-Verb
In Beispiel (9) finden wir zwei Sätze, die zwei auftritt (Näheres hierzu in 5.). Wie bereits in
verschiedene SH repräsentieren. Man könnte 1. angeführt, ist es ein wichtiger Unterschied,
sie ⫺ nicht sehr elegant, aber zweifellos kor- ob wir einen Satz als wahr oder falsch bewer-
rekt ⫺ etwa so paraphrasieren: ten können oder ob wir ihn als eine SH auf-
fassen, auf die der Begriff der Wahrheit nicht
(13) Ich teile Ihnen hiermit mit, daß ich mor-
gen verreise. Deshalb bitte ich Sie hier- sinnvoll angewendet werden kann. Da diese
mit, mich zu vertreten. beiden Aspekte ⫺ Wahrheit bzw. SH ⫺ zwei
verschiedene Seiten einer Äußerung erfassen,
Zwischen diesen beiden SH besteht eine logi- ist es nicht erstaunlich, dass wir leicht Fälle
sche Beziehung, die wir hier einfach als Be- finden, in denen diese Unterscheidung Pro-
gründung bezeichnen (vgl. 10). bleme bereitet. Linke/Nussbaumer/Portmann
Eine dementsprechende Paraphrasierung (1991, 185f.) diskutieren in diesem Zusam-
ist in (10) nur schwer möglich, vgl. (14): menhang das Beispiel
(14) Da ich Ihnen hiermit mitteile, daß ich (15) Sie sind ein alter Nazi!
morgen verreise, bitte ich Sie hiermit,
mich zu vertreten. Diese Äußerung können wir einmal als Ver-
leumdung auffassen (Handlungsaspekt), zum
Dies würde bedeuten, dass die Begründung andern können wir nachprüfen, ob sie wahr
für meine BITTE um Vertretung die MIT- oder falsch ist (Wahrheitsaspekt). Diese
TEILUNG des Verreisens ist, nicht der Sach- Unterscheidung ist natürlich nicht nur „rein
verhalt des Verreisens ⫺ was offensichtlich akademisch“, denn wenn der Angesprochene
eine befremdliche Interpretation wäre. Um Klage wegen Verleumdung erhebt, wird das
Aussagen dieses Typs analysieren zu können, Gericht den Wahrheitsgehalt der Äußerung
benötigen wir den Begriff der Informations- prüfen müssen. Wer den Satz z. B. gegen-
238 IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch

über einem ehemaligen SS-Sturmbannführer rungen, in denen die Proposition behauptet


äußert, hat damit nur eine Tatsache konsta- (assertiert) wird. Wir können diese Frage hier
tiert (womit jedoch noch nichts über den nicht weiter vertiefen, wollen aber ausdrück-
kommunikativen Zweck dieser Äußerung ge- lich empfehlen, sich beim Antreffen des Be-
sagt ist). griffs Proposition in der sprechhandlungs-
Wie in 1. erwähnt, entwickelte Searle Aus- theoretischen Literatur die Frage zu stellen,
tins Modell weiter und gab ihm eine sprach- ob es sich um eine behauptete Proposition
wissenschaftlich exaktere Form (leicht zu- handelt oder „nur“ um eine in einer SH ent-
gängliche Kritik an Austin findet sich bei haltene virtuelle Situationsreferenz im Sinne
Linke/Nussbaumer/Portmann 1991, 184ff.). der Semantik.
Nach Searle unterscheidet man bei der Ana- Leider ist nicht nur der Begriff Proposition
lyse einer Äußerung vier Aspekte (oder „Teil- zweideutig, sondern es gibt noch eine weitere
akte“): terminologische Unklarheit. Die Begriffe
Sprechhandlung, Sprachhandlung, Sprechakt
(a) Äußerungsakt und Illokution werden häufig als Synonyme
(b) propositionaler Akt verwendet. Hierbei ergibt sich das Problem,
(c) illokutionärer Akt dass der gleiche Begriff (Illokution) einmal
(d) perlokutionärer Akt die Gesamthandlung bezeichnet, also die Ge-
Der Äußerungsakt bezeichnet sowohl die samtheit aus allen vier Teilakten Äußerung ⫹
physische Seite der Sprache (Laute, Schrift- Proposition ⫹ Illokution ⫹ Perlokution, ein-
zeichen) als auch die grammatischen Aspekte mal nur die Illokution im engeren Sinne (als
(handelt es sich z. B. um einen korrekten Satz 3. Teilakt). Oft geht aus dem Kontext hervor,
der deutschen Sprache?). was gemeint ist; hin und wieder können aber
Der propositionale Akt repräsentiert sozu- Unklarheiten auftreten.
sagen den inhaltlichen Gehalt der Äußerung.
Der illokutionäre Akt bezeichnet den
Sprechhandlungsaspekt (was tut man mit der 4. Sprechhandlungstaxonomien
Äußerung?). Eine SH kann glücken oder Es gibt keine allgemein anerkannte Taxono-
nicht glücken (s.10.2.). mie von SH. Am bekanntesten dürfte die in
Der perlokutionäre Akt beschreibt die Wir- 4.1. vorgestellte Taxonomie von Searle sein.
kung der SH auf den Hörer. Die Mitteilung In 4.2. diskutieren wir eine Alternative
„Vati kommt gleich!“ kann z. B. ein Kind in hierzu, die sich in der empirischen Textana-
freudige Erregung versetzen oder ihm Angst lyse bewährt hat.
einflößen.
Ein Problem bei dieser Aufteilung ist, dass 4.1. Searle
man sich mit dem Begriff Proposition einer- Searle unterscheidet fünf verschiedene Typen
seits auf den Teil der SH bezieht, der „wahr- von SH.
heitsfähig“ ist, andererseits auf die mögliche
Referenz (welche Situation bezeichnet die repräsentative
Proposition?). Wenn wir (16) bis (18) verglei- Bezeichnen den Typ, den Austin konstativ
chen nannte, also SH, mit denen ein Wahrheits-
anspruch erhoben wird. Beispiele: MIT-
(16) Peter häkelt. TEILEN, FESTSTELLEN, BEHAUP-
(17) Häkelt Peter? TEN. Da der Unterschied zwischen dem
(18) Wenn Peter doch häkeln würde!, MITTEILEN (einer Neuigkeit) und dem
so ist die semantische Proposition (⫽ Prädi- FESTSTELLEN (eines dem Hörer in der
kat-Argument-Struktur) HÄKELN [peter] in Regel bereits bekannten Sachverhalts)
allen drei Äußerungen enthalten, aber die nicht immer eindeutig erkannt werden
Frage nach der Wahrheit der Äußerung ist kann, spricht man oft zusammenfassend
nur bei (16) sinnvoll (der Sprecher geht aller- von ASSERTION.
dings in (18) davon aus, daß Peter nicht hä- direktive
kelt; vgl. 8. zum Begriff der Präsupposition). Hiermit werden Forderungen an den Hö-
Offensichtlich haben also nicht Propositionen rer gerichtet. Beispiele: BITTEN, AUF-
an sich (als sprachliche Enkodierungen von FORDERN. Zu beachten ist, dass hierzu
möglichen Weltzuständen) die Eigenschaft, im Allgemeinen auch die Frage (als BITTE
wahr oder falsch zu sein, sondern nur Äuße- um ANTWORT) gezählt wird.
20. Sprachsystem und Sprechhandlungen 239

kommissive wir folgenden Vergleich von Rosengren und


Der Sprecher geht eine Verpflichtung ein. Searle:
Beispiele: VERSPRECHEN, ERLAUBEN.
expressive Tab. 20.1
Hier werden Gefühle oder Einstellungen Rosengren Searle
zu Sachverhalten ausgedrückt. Auch die
Etablierung sozialer Kontakte fällt unter konstitutiv deklarativ
diese Kategorie. Beispiel: DANKEN,
GRÜSSEN, BEDAUERN. deklarativ expressiv
deklarative
kognitiv repräsentativ
SH, mit denen kraft sozialer Stellung des
Sprechers „die Welt verändert“ wird. Bei- interaktional direktiv, kommissiv
spiele: TAUFEN, ERNENNEN, KÜN-
DIGEN.
Von besonderer Bedeutung für die Kommu-
Diese Kategorien sind im Prinzip universell,
nikation sind die interaktionalen SH. Diese
übereinzelsprachlich gültig, auch wenn, wie
wir in 9. noch sehen werden, ihre Realisie- können je nach Sprecher-Hörer-Konstella-
rung sprachspezifisch gelernt werden muss. tion feiner unterteilt werden. Die entschei-
Zu beachten sind ferner kulturelle oder histo- dende Frage in diesem Zusammenhang ist:
rische Unterschiede. In einer Gesellschaft, in wer wünscht die in der SH thematisierte
der es keine Ritter mehr gibt, kann man nie- Handlung, wer entscheidet über sie und wer
manden ZUM RITTER SCHLAGEN. Und, führt sie aus. Mathematisch ergibt dies acht
wie Linke/Nussbaumer/Portmann (1991, 194) mögliche Kommunikationen, von denen je-
feststellen, auch die SH des BANNENS oder doch zwei kommunikativ nicht zum Tragen
ÄCHTENS dürften in unserer heutigen west- kommen, nämlich die Fälle, bei denen sowohl
lichen Gesellschaft aus der Mode gekommen der Wunsch, die Entscheidung und die Hand-
sein. lungsausführung entweder völlig auf Seiten
des Sprechers oder des Hörers liegen. Sprech-
4.2. Rosengren handlungstheoretisch zu behandeln sind die
Rosengren (1979) stellt eine Taxonomie vor, sechs „gemischten“ Fälle nach Tab. 20.2 (wo-
die für Zwecke der empirischen Analyse, bei H ⫽ Hörer, S ⫽ Sprecher, r ⫽ die vom
insb. von interaktionalen Texten, geeigneter Hörer zu vollziehende Handlung).
erscheint, weil sie die Semantik zentraler SH
detaillierter beschreibt als Searle. Diese Taxo- Tab. 20.2:
nomie lag auch dem empirisch umfassen- Wer Wer ent- Wer SH-Typ
den, pragmatisch orientierten Projekt Fach- wünscht scheidet führt (Beispiel)
sprachliche Kommunikation (FAK) zugrunde r? über r? r aus?
(s. hierzu Koch/Rosengren/Schonebohm 1981;
Brandt/Koch/Motsch u. a. 1983). Rosengren S S H AUFFORDERUNG
geht bei ihrer Einteilung von vier semanti-
S H S BITTE um ER-
schen Merkmalen (⫹/⫺ informativ, ⫹/⫺ LAUBNIS
weltverändernd, ⫹/⫺ kognitiv aktivierend,
⫹/⫺ interaktional) aus, die hierarchisch ge- H S S BEREIT-
ordnet sind. Eine SH ist entweder informativ ERKLÄRUNG
oder weltverändernd. Den letzteren Typ
nennt Rosengren konstitutiv. Informative SH S H H BITTE
sind entweder kognitiv aktivierend oder sie
H S H ERLAUBNIS
drücken eine Einstellung aus (DANK,
GLÜCKWUNSCH), d. h., sie sind deklara- H H S VERSPRECHEN
tiv. Kognitiv aktivierende SH sind entweder
nur kognitiv, d. h. in erster Linie eine Verän-
derung des Hörerwissens bewirkend oder an- Die Unterscheidung dieser Typen ist u. a.
sprechend (MITTEILUNG, FESTSTEL- hilfreich für das Verständnis des Handlungs-
LUNG), oder sind interaktional, d. h. auf ein aspekts von Texten (vgl. 10.2.) sowie für die
Verhalten des Hörers zielend. Damit erhalten Analyse sog. modalisierter SH (vgl. 6.).
240 IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch

5. Explizite Performativität Vereinfachend kann man hier feststellen,


dass können, dürfen und möchten von der
Während man in der Alltagssprache Sprech- Sprecherposition ausgehen, während müssen
handlungen oft indirekt vollzieht (Weißt du, den für den Hörer negativen Gehalt aner-
wieviel Uhr es ist? als Bitte um Mitteilung der kennt und „bedauert“.
Uhrzeit oder Es zieht! als Aufforderung zum Um die Verwendung und Bedeutung der
Fensterschließen, vgl. 7.), findet man in Modalverben in Verbindung mit expliziten
formelleren Textsorten wie z. B. dem Ge- Sprechhandlungsverben besser zu verstehen,
schäftsbrief oft explizite Ausbuchstabierun- können wir von Rosengrens Einteilung der
gen der SH: interaktionalen SH (Tab. 20.2) ausgehen (in
Anlehnung an die Darstellung in Koch
(19) Wir gewähren Ihnen einen Rabatt von
1986b):
15%.
statt Gruppe A: Sprecher wünscht, Sprecher ent-
(20) Sie erhalten einen Rabatt von 15%. scheidet, Hörer führt aus
oder In dieser Gruppe steht vor allem müssen zur
Verfügung, da die SH in der Regel unange-
(21) Wir bestätigen den Erhalt Ihres Schrei-
nehm für den Hörer ist:
bens
statt (24) Wir müssen Sie auffordern …
(22) Wir haben Ihr Schreiben erhalten. Eine Konstruktion wie

Ein wichtiger Grund für diese Explizitheit ist (25) Wir möchten Sie auffordern, die Rech-
sicher die juristische Eindeutigkeit. Es ist nung umgehend zu begleichen
eben ein Unterschied, ob ich etwas versi- wirkt in der Tat kommunikativ abweichend.
chere, verspreche, in Aussicht stelle, mitteile Dürfen thematisiert die Entscheidungsgewalt
oder feststelle. Ein zweiter, kommunikativ des Sprechers und wirkt deshalb in dieser
bedeutender Grund wird in 6. behandelt. Gruppe redundant, tatsächlich finden wir
aber die Kombination mit bestehen:
6. Modalisierte Sprechhandlungen (26) Wir dürfen darauf bestehen, dass Sie die
Zeichnungen fristgerecht weiterleiten,
Außer der in 5. erwähnten Eindeutigkeit ist
was dadurch zu erklären ist, dass BESTE-
ein weiterer Grund für die explizite Nennung
HEN eine wiederholte FORDERUNG dar-
der SH-Verben darin zu suchen, dass sich
stellt (vgl. Rosengren 1979).
hierdurch Möglichkeiten der kommunikati-
ven Feinabstufung durch ein Modalverb er-
Gruppe B: Sprecher wünscht, Hörer entschei-
öffnen, mit dem dem Hörer ein kommunika-
det, Sprecher führt aus
tives Signal vermittelt wird, wie der Sprecher
die vollzogene SH auf dem Hintergrund der In dieser Gruppe kann nur eine SH angesetzt
sozialen Beziehung zum Hörer und der Wich- werden: die BITTE UM ERLAUBNIS.
tigkeit der diskutierten Angelegenheit ein- (27) Wir möchten Sie um Erlaubnis für X bit-
stuft. ten.
Typisch sind Wendungen wie: (28) Wir dürfen/müssen Sie um Erlaubnis für
(23) Die drucktechnischen Probleme auf X bitten.
Grund des Arbeitskampfes bedauern (28) halte ich für möglich in Kontexten, in
wir außerordentlich. Wir können/dürfen/ denen z. B. die Bitte um Erlaubnis notwendig
möchten/müssen jedoch in diesem Zu- ist, um eine Handlung auszuführen, die indi-
sammenhang auf die Höhere-Gewalt- rekt zu vom Hörer gewünschten Resultaten
Klausel in unserem Vertrag hinweisen. führt.
Hierbei steht nicht zur Diskussion, dass mit
dem zweiten Satz die SH des HINWEISENS Gruppe C: Hörer wünscht, Sprecher entschei-
vollzogen wird. Die Bedeutungsmodifikatio- det, Sprecher führt aus
nen, die durch die Modalverben erzielt wer- Hier liegt eine für den Hörer positive
den, sind dagegen unterschiedlich zu inter- (BEREITERKLÄREN) und eine negative
pretieren. (ABLEHNEN) Variante vor.
20. Sprachsystem und Sprechhandlungen 241

(29) Wir möchten/(evtl.) können uns bereiter- deutungslos ist und dass man diese wichtigen
klären … Ausdrucksmöglichkeiten nicht etwa als über-
(30) Wir müssen Ihren Vorschlag ablehnen. holte Floskeln abqualifizieren darf.
Die Verwendung von dürfen erscheint hier
wiederum abweichend, weil die Entschei- 7. Indirekte Sprechhandlungen
dungsgewalt beim Hörer liegt.
Wie bereits aus den bisher diskutierten Bei-
Gruppe D: Sprecher wünscht, Hörer entschei- spielen deutlich geworden sein dürfte, ist die
det, Hörer führt aus Frage, um welche SH es sich bei einer gegebe-
nen Äußerung handelt, nicht immer eindeutig
In dieser Gruppe hat der Sprecher eine zu beantworten und in der Regel abhängig
schwache Position. Die Verwendung von von der aktuellen Kommunikationssituation.
müssen, dürfen oder können würde signalisie- Die Beziehung ist mit anderen Worten mehr-
ren, dass er sich eigentlich in Gruppe A mehrdeutig. Das besagt, dass ein Äußerungs-
wähnt. Deshalb findet man in dieser Gruppe typ mehrere SH realisieren kann und dass um-
praktisch nur möchten: gekehrt eine SH durch mehrere Äußerungs-
typen realisiert werden kann.
(31) Wir möchten Sie (darum) ersuchen/bit- Völlig verfehlt wäre es z. B., allein von den
ten, … Satzmodi ausgehend etwa folgende direkte
Äquivalenzen anzunehmen:
Gruppe E: Hörer wünscht, Sprecher entschei-
det, Hörer führt aus Aussagesatz ⫽ ASSERTION
Fragesatz ⫽ BITTE um ANTWORT
Hier kann der Sprecher die vom Hörer ge- Imperativsatz ⫽ AUFFORDERUNG
wünschte (und auszuführende) Handlung er-
lauben/genehmigen oder verbieten. Diese Gleichsetzungen kann man eventuell
als prototypisch oder unmarkiert auffassen,
(32) Wir möchten/können Ihnen hiermit die allgemeingültig sind sie es ganz entschieden
Erlaubnis erteilen nicht (vgl. 9.).
(33) Wir müssen Ihnen hiermit untersagen … Beispiele für indirekte SH sind:
Können ist mit für den Hörer positiven Hand- (36) Es zieht.
lungen kombinierbar. Für dürfen gilt das un- (37) Können Sie mir bitte sagen, wie spät es
ter Gruppe C Gesagte. ist?
In vielen Situationen wird (36) als Bitte (oder
Gruppe F: Hörer wünscht, Hörer entscheidet, Aufforderung) verstanden, z. B. ein Fenster
Sprecher führt aus zu schließen. Die Antwort
Da ein Versprechen inhärent hörerpositiv (38) Ja, das stimmt.
und eine Weigerung hörernegativ markiert
ist, ergeben sich Unterschiede in den Modali- ohne folgende Handlung oder Handlungsdis-
sierungsmöglichkeiten: kussion wäre dann nicht adäquat, ebenso-
wendig, wie sich der Sprecher von (37) mit
(34) Wir möchten/können Ihnen verspre- einem einfachen „Ja.“ als Antwort begnügen
chen … würde.
(35) Wir müssen uns weigern … Gleichzeitig sieht man jedoch, dass diese
beiden Reaktionen theoretisch möglich sind.
Die Verwendung von dürfen wäre hier kaum
Man nimmt allgemein an, dass ein wichtiger
interpretierbar.
Grund für die Verwendung indirekter SH
Das komplexe Zusammenspiel von SH-
darin zu suchen ist, dass dem Hörer eine
Typ, sprachlicher Realisierung, Modalverbse-
Möglichkeit geboten wird, den Sprecher-
mantik und Situation konnte hier nur bei-
wunsch ohne direkte Konfrontation zurück-
spielhaft angedeutet werden (z. B. wurde die
zuweisen. So könnte der Hörer auf (36)
Frageform nicht berücksichtigt, die die Mo-
dalisierungsmöglichkeiten wesentlich beein- (39) Findest du? Ich spüre nichts.
flusst). Für eine ausführlichere Diskussion
erwidern, und auf (37)
vgl. Koch (1986b). Zu betonen ist, dass das
Verständnis für diese (oft subtilen) kommuni- (40) Tut mir leid, aber ich habe auch keine
kativen Abstufungen natürlich keinesfalls be- Uhr.
242 IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch

Diese Möglichkeit der Ablehnung ohne da- deres bezwecken. Da ich ihr Gatte bin und
mit verbundenen Prestigeverlust für Sprecher man von einem aufmerksamen Gatten im
und Hörer ist ein wichtiges Element der Höf- traditionellen Sinn erwarten kann, dass er
lichkeit. nach Möglichkeit Unbilden von seiner Ange-
Ferner ist darauf hinzuweisen, dass es Un- trauten fernhält, will sie wahrscheinlich, dass
terschiede zwischen indirekten SH bezüglich ich mich erhebe und das Fenster schließe.“
ihrer Konventionalisierung gibt. Während Dieses Schlussverfahren hat nun sicherge-
man bei (36) als Hörer schon etwas gedankli- stellt, dass ich verstanden habe, dass es sich
che Arbeit verrichten muss, um den kommu- um eine Aufforderungshandlung handelt
nikativen Sinn der Äußerung zu erkennen (d. h., dass die ersten drei Stufen im Kommu-
(vgl. hierzu 8.), zeigt das Vorkommen des Ad- nikationsversuch nach Abb. 20.1 gelungen
verbs bitte in (37), das ja pragmatisch eigent- bzw. geglückt sind). Ob die SH dann auch
lich nur mit einer Aufforderungshandlung erfolgreich sein wird, d. h., ob ich mich tat-
kompatibel ist, dass (37) lediglich eine kon- sächlich erhebe und das Fenster schließe, ist
ventionalisierte Alternative zum Imperativ- damit natürlich noch nicht entschieden.
satz darstellt (zu diesen „illokutiven Signa- Zu beachten ist, dass dieses Schlussverfah-
len“ vgl. 9., zum Thema „indirekte Sprech- ren nicht nur konversationelle Implikaturen
handlungen“ siehe ferner Sökeland 1980). enthält, sondern auch konventionelle. Ein Bei-
spiel hierfür ist mein Weltwissen, dass Zug
von einem Fenster etwas Unangenehmes dar-
8. Konversationelle Implikaturen stellt. Ein anderes Beispiel hatten wir bereits
in (18) angetroffen, wo wir aus der Wunsch-
Im Zusammenhang mit indirekten SH ist die form herauslesen (schließen) konnten, dass
entscheidende Frage, wie der Hörer die indi- der Sprecher voraussetzte (präsupponierte),
rekten SH uminterpretieren kann. Woher dass Peter nicht häkelt.
weiß er, wann eine Entscheidungsfrage z. B. In der Praxis läuft dieses Schlussverfahren
nicht beantwortet werden soll, sondern dass automatisch und unbewusst ab, außer in Si-
es sich um eine indirekte BITTE handelt? tuationen, wo die Absicht des Sprechers nicht
Eine Erklärungsmöglichkeit finden wir in auf der Hand liegt.
der Theorie der konversationellen Implikatur Die grundlegenden Prinzipien der konver-
von Grice (1975). Sein Ausgangspunkt ist, sationellen Implikaturen sind nach Grice vier
dass Kommunikation nicht nur als Handeln sog. Konversationsmaximen:
verstanden werden muss, sondern als koope-
ratives Handeln. Ohne wenigstens minimale Maxime der Quantität
Kooperation (z. B. dass der Hörer zuhört) Sag so viel wie nötig, aber so wenig wie
kommt keine Kommunikation zustande. möglich!
Ein Beispiel: Der bereits in 7. diskutierte Maxime der Qualität
Satz Sage nichts Unwahres. Wenn du dir über
(36) Es zieht. den Wahrheitsgehalt deiner Aussagen im
unklaren bist, signalisiere dies!
kann als BITTE bzw. AUFFORDERUNG
verstanden werden, ein Fenster zu schließen. Maxime der Relevanz
Dies erfordert ein relativ kompliziertes Sei relevant!
Schlussverfahren beim Hörer, das ⫺ verein- Maxime der Modalität
facht dargestellt ⫺ etwa folgendermaßen ab- Dein Redebeitrag sollte in angemessener
laufen könnte: Weise und klar gestaltet werden!
„Warum teilt meine Frau mir mit, dass es
zieht. Offensichtlich (Weltkenntnis) ist dies Vom Hörer empfundene Verstöße gegen diese
ein unangenehmer Zustand für die meisten Maximen lösen wie gesagt den Prozess der
Menschen. Unangenehme Zustände pflegt konversationellen Implikatur aus.
man abzustellen. Sie könnte also selbst auf-
stehen und das Fenster zumachen, um die 9. Verbalisierungsmuster für
Ursache der Unannehmlichkeit zu beseitigen. Sprechhandlungen
Stattdessen kommuniziert sie den Sachver-
halt. Da es nicht wahrscheinlich ist, dass sie Nachdem wir jetzt das nötige theoretische
nur Kontakt schaffen oder mir eine wichtige Rüstzeug vorgestellt haben, können wir uns
Neuigkeit berichten will, muss sie etwas an- der konkreten Frage zuwenden: wie werden
20. Sprachsystem und Sprechhandlungen 243

die SH im Deutschen sprachlich realisiert? (a) Satzmodus


Exemplarisch wollen wir dies am Typ der Wie in 2. ausgeführt, besteht keine eindeutige
BITTE bzw. AUFFORDERUNG illustrie- Beziehung zwischen Satzmodus und SH-Typ.
ren, die eine der wichtigsten und kommuni- Wir sehen, dass die BITTE/AUFFORDE-
kativ „interessantesten“ SH darstellt. Die fol- RUNG in unseren Beispielen sowohl als Aus-
genden Verbalisierungsvarianten (es handelt sagesatz (46, 47, 51 usw.), Fragesatz (41⫺45)
sich selbstverständlich nur um eine Auswahl) und Imperativsatz (50, 60, 61) realisiert wer-
sollen die wichtigsten im Deutschen zur An- den kann. Hiervon erscheint die Frage (bei
wendung gelangenden illokutiven Signale il- im Übrigen konstanten Faktoren) als die höf-
lustrieren: lichste und der Imperativsatz als die unhöf-
(41) Schatzilein, könntest du so nett sein und lichste Form.
für deinen Schnuckiputzi das Fenster (b) Modus
zumachen?
(42) Könnten Sie so freundlich sein, das Fen- Es ist nicht möglich, im Deutschen höflich zu
ster zu schließen. sein, ohne die Anwendung des Konjunktivs
(43) Würden Sie bitte das Fenster schließen? zu beherrschen. Gleichzeitig dient der Kon-
(44) Schließen Sie bitte das Fenster? junktiv aber auch als illokutives Signal (z. B.
(45) Könnten Sie das Fenster schließen? in (45) ), da er dem Hörer deutlich macht,
(46) Ich würde mich freuen, wenn Sie das dass es sich nicht um eine „echte“ Frage han-
Fenster schließen könnten. delt. Der wichtigste Auslöser für das Erken-
(47) Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie nen der BITTE im Aussage- oder Fragesatz
das Fenster schließen könnten. dürfte jedoch der propositionale Gehalt sein,
(48) Dürfte ich Sie bitten, das Fenster zu dann nämlich, wenn er sich auf eine mögliche
schließen? Hörerhandlung bezieht oder einen Sachver-
(49) Stellen Sie sich vor, wie gemütlich es halt thematisiert, der ev. vom Hörer verän-
hier sein könnte, wenn das Fenster zu dert werden kann.
wäre! (c) Höflichkeitsausdrücke (bitte, höflich(st))
(50) Schließen Sie das Fenster!
Das wichtigste Wort in diesem Zusammen-
(51) Ich möchte, dass Sie das Fenster schlie-
hang ist sicher bitte, aber wie wir in (41, 42,
ßen.
46, 47) sehen, stehen dem Sprecher auch an-
(52) Ich bitte Sie, das Fenster zu schließen.
dere Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung.
(53) Ich möchte Sie bitten, das Fenster zu
Zu beachten sind hier besonders (46) und
schließen.
(54) Darf ich Sie bitten, das Fenster zu (47), bei denen die Aussagen Ich würde mich
schließen? freuen bzw. Ich wäre Ihnen sehr dankbar nicht
(55) Ich muß Sie leider bitten, das Fenster nur Höflichkeit signalisieren, sondern gleich-
zu schließen! zeitig auch als Stützungsstrategie im Sinne
(56) Ich darf Sie bitten, das Fenster zu schlie- von 10. verstanden werden können, indem
ßen! der Sprecher eine für ihn selbst positive (emo-
(57) Nach Besichtigung der sonnenbadenden tionale) Folgewirkung hervorhebt. Eine wei-
jungen Damen wollen Sie bitte das Fen- tere Möglichkeit ist die Verwendung von Ko-
ster wieder schließen. senamen (41).
(58) Ich hasse es, bei offenem Fenster zu (d) Performative Verben
schlafen.
(52) erscheint etwas „weicher“ als (50). Zu
(59) Es zieht! (⫽ 36)
den in 5. und 6. besprochenen Gründen für
(60) Fenster schließen!
die explizite Performativität kann also auch
(61) Fenster zu!
die Höflichkeit hinzugefügt werden.
(62) Wenn du nicht sofort das Fenster zu-
machst, haue ich dir ein paar hinter die (e) Modalisierung
Löffel! Die in 6. besprochenen verschiedenen Moda-
(63) Sie sollen das Fenster zumachen! lisierungsmöglichkeiten werden hier vor
(64) Herr Direktor, Ihre Frau hat angerufen, allem an den Beispielen (53) und (56) ver-
Sie möchten bitte so schnell wie möglich deutlicht. Dabei fällt auf, dass möchte allein
das Fenster schließen! entgegen der landläufigen Meinung noch
An diesem kleinen Korpus können wir eine nicht besonders „höflich“ ist, da der Sprecher
Reihe von sprechhandlungsrelevanten Merk- von seinen eigenen Interessen ausgeht. Zu be-
malen isolieren. achten ist auch der für den Ausländer schwer
244 IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch

zu erlernende Unterschied zwischen dürfen Texte sind nämlich mehrdimensionale


im Indikativ, im Konjunktiv und in der Fra- Strukturen. Sie können aus lexikalischer, syn-
geform. taktischer, semantischer und pragmatischer
Sicht studiert werden. Zu den pragmatischen
(f) Sonstiges
Aspekten zählen vor allem die Informations-
Die indirekte Form (58) oder (59) (vgl. 7.) hat struktur (vgl. 2.) und die Handlungsstruktur.
keinen hohen Stellenwert auf der Höflich- Der Handlungsaspekt ist besonders wichtig
keitsskala. Zu beachten ist auch (57), in dem bei interaktionalen Texten, z. B. Geschäfts-
das sonst im Deutschen tabuisierte wollen briefen, Werbetexten oder politischen Appel-
(„Kinder, die was wollen, kriegen was auf die len.
Bollen!“) verwendet wird, allerdings nicht, Ein Text kann demnach auch als eine
und das ist hier der entscheidende Punkt, Struktur von SH betrachtet werden. Brandt/
vom Sprecher sondern vom Hörer ausge- Rosengren (1991) unterteilen die Handlungs-
hend. Stilistisch gesehen kommt dies fast nur struktur in drei Teilaspekte: Illokutionsstruk-
in der Kaufmannssprache vor. tur (vgl. die Anmerkung zur Terminologie in
Schließlich können wir mit (64) einen Pro- 3.; ich werde im folgenden von Sprechhand-
blembereich nur berühren, der eine ausführ- lungsstruktur, abgekürzt SH-Struktur, spre-
lichere Behandlung verdient hätte: die Wie- chen), Sequenzierung und Formulierung. Wir
dergabe von SH in der indirekten Rede. Da- betrachten hier (in 10.1. bis 10.3.) vor allem
durch, dass hier drei Personen beteiligt sind: die SH-Struktur. Dem wollen wir jedoch zu-
ursprünglicher Sprecher, referierender Spre- nächst einige kurze Bemerkungen zu den
cher und Hörer, werden besondere Anforde- Aspekten der Sequenzierung und Formulie-
rungen an die Formulierungskunst des Refe- rung vorausschicken.
rierenden gestellt. Stellen wir uns eine (zuge- Wenn ein Text aus mehreren SH besteht,
spitzte) Situation vor, in der die Frau des Di- die in bestimmten hierarchischen Relationen
rektors dessen Sekretärin anruft und wört- zueinander stehen (vgl. hierzu 10.1. bis 10.3.),
lich sagt: eröffnen sich in der Regel mehrere Möglich-
(65) Sagen Sie dem alten Esel, er soll sofort keiten der sequenziellen Anordnung. Brandt/
das Fenster schließen, sonst hustet er Rosengren (1991) unterscheiden drei Sequen-
wieder die ganze Nacht! zierungsprinzipien: erstens das Hierarchie-
prinzip, das besagt, dass man z. B. SH auf der
Die kompetente Sekretärin wird wohl diesen gleichen hierarchischen Ebene nicht unkon-
„Befehl“ nicht in der Form (66) wiedergeben: trolliert auseinanderreißen kann (die Hierar-
(66) Herr Direktor, Ihre Frau hat angerufen. chie restringiert somit die textuell möglichen
Sie alter Esel sollen sofort das Fenster Abfolgen), zweitens das Ikonizitätsprinzip,
schließen!, nach dem zeitliche und kausale Abfolgen in
den durch die SH abgebildeten Sachverhalten
sondern trotz der Formulierung der ur- ebenfalls nicht willkürlich verändert werden
sprünglichen Sprecherin (64) vorziehen. können (ein Kochrezept, das das Ikonizitäts-
Sollen in der Verwendung von (63) wird im prinzip verletzt, würde z. B. den Hobbykoch
Deutschen verwendet, um eine wiederholte in ernsthafte Schwierigkeiten bringen kön-
Forderung (BESTEHEN) verschärft auszu- nen), und drittens das Situationsprinzip, das
drücken, kann aber auch als Wiedergabe ei- von außersprachlichen Faktoren determiniert
ner Forderung (ohne jedes Höflichkeitssi- ist (z. B. bestehen für Gerichtsurteile oder
gnal) verwendet werden. Kaufverträge bestimmte Sequenzierungsnor-
Eine didaktische Aufbereitung dieser men).
Verbalisierungsmuster für skandinavische Für die Formulierungsseite ist die Gram-
Deutschlernende findet sich in Koch (1986a). matik zuständig. Wir wollen hier nur festhal-
ten, dass auf dieser Ebene metasprachliche
Aussagen hinzutreten können, deren Aufgabe
10. Sprechhandlung und Text es ist, den Text sprachlich hörerfreundlich zu
Wir haben bisher die SH hauptsächlich aus machen (vgl. Brandt/Rosengren 1991, 16):
der Perspektive des einzelnen Satzes behan- (67) Geh sofort nach Hause! Das ist ein Be-
delt, auch wenn wir bereits kurze Satzfolgen fehl.
angetroffen haben (z. B. (9) ). Die SH spielt (68) Peter braucht einen Assistenten, d. h.,
jedoch auch eine wichtige Rolle bei der Ana- eine Person, die ihn bei der Routinear-
lyse von Texten. beit entlastet.
20. Sprachsystem und Sprechhandlungen 245

(67) vereindeutigt die vollzogene SH, wäh- versuch zwar gelungen, aber nicht die SH, da
rend in (68) ein sprachlicher Ausdruck ver- der Hörer die Umstände, unter denen ein Be-
deutlicht bzw. spezifiziert wird. fehl erteilt werden kann, offensichtlich anders
beurteilt als der Sprecher).
10.1. Interillokutionäre Beziehungen Aber auch wenn der Hörer den KV ver-
Eine SH-Struktur entsteht, wenn logische Re- steht und die SH als angemessen beurteilt, ist
lationen zwischen mindestens zwei SH vorlie- es noch nicht sicher, dass er die gewünschte
gen. Im Beispiel (9), hier als (69) wiederholt, Handlung auch ausführen will. Erst dann
(69a) Ich verreise morgen. liegt eine gelungene SH vor. Erfolgreich ist die
(69b) Deshalb bitte ich Sie, mich zu vertre- SH ferner erst dann, wenn der Sprecher die
ten. gewünschte Handlung auch ausführen kann.
Nach diesem (hier vereinfacht dargestellten)
besteht eine Beziehung der Begründung; der „Treppenmodell“ (Rosengren 1983) gibt es
Sprecher motiviert seine BITTE (69b) mit demnach vier Stufen, auf denen eine SH miss-
dem Inhalt der MITTEILUNG (69a). Diese glücken bzw. erfolglos sein kann. Schema-
Art der Beziehung nennt man interillokutio- tisch:
näre Beziehung (vgl. Motsch/Viehweger 1981;
Koch/Rosengren/Schonebohm 1981; Brandt
u. a. 1983). Auch hier ist die Terminologie Kommunikations-
wieder etwas inexakt, denn im Normalfall versuch KV
(wie in 69), besteht eine Beziehung zwischen wird verstanden →
dem propositionalen Gehalt (vgl. den 2. Teil-
akt bei Searle, 3.) einer SH und der Illokution gelungener KV⫽SH
(dem 3. Teilakt) einer anderen SH.
In (69) ist die Bitte (69b) die zentrale SH. wird als angemessen
Wenn wir (69a) ⫹ (69b) als kleinen Text be- akzeptiert →
trachten, ist ohne Zweifel (69b) der kommu-
nikative Kern. (69b) ist demnach übergeord- gelungene SH
net (dominierend) und (69a) untergeordnet
(subsidiär). intendierte Handlung
Wichtig ist hier, dass der Sprecher wählen wird ausgeführt →
kann, eine SH isoliert auszuführen oder aber
erfolgreiche SH
sie durch weitere SH zu stützen. Diese Wahl
wird von mehreren Faktoren beeinflusst, Abb. 20.1
wozu in erster Linie die soziale Beziehung
zwischen Sprecher und Hörer gehört. Je Eine komplexe SH-Struktur kann nun dahin-
schwächer die Position des Sprechers ist, de- gehend analysiert werden, welche Anstren-
sto mehr wird er sich bemühen, seine domi- gungen der Sprecher unternimmt, um diese
nierende SH argumentativ zu untermauern. vier Stufen zu nehmen ohne zu stolpern.
10.2. Handlungsvoraussetzungen und Das steuernde Prinzip bei der Erstellung
Erfolgsbedingungen einer SH-Struktur ist es, die Handlungsvor-
aussetzungen der dominierenden SH zu stüt-
Die Frage, wie man eine dominierende SH
zen. In Brandt/Koch/Motsch u. a. (1983) wur-
stützt, ist eng verbunden mit der Frage nach
den Handlungsvoraussetzungen bzw. Glük- de von folgendem Modell ausgegangen (vgl.
kens- oder Erfolgsbedingungen der dominie- auch z. B. Koch/Rosengren/Schonebohm 1981;
renden SH. Deshalb benötigen wir einen kur- Motsch/Viehweger 1981; Koch 1983; Brandt/
zen Exkurs in den Bereich der Erfolgsbedin- Rosengren 1991; Viehweger 1991; Heine-
gungen. mann/Viehweger 1991):
Eine Voraussetzung für einen gelungenen (70) Handlungsvoraussetzung ⫽ <OBJ SOZ
Kommunikationsversuch KV ist, dass der HV MOT=
Hörer diesen versteht und er auch weiß, wor-
auf sich der propositionale Gehalt des KV Hierbei sind
bezieht. Dieser KV wird nun erst in dem Mo- OBJ die realen Verhältnisse in der Welt,
ment zu einem gelungenen KV, in dem der einschließlich der Kenntnissysteme
Hörer diesen als angemessen empfindet (falls von Sprecher und Hörer;
der Hörer z. B. denkt oder sagt: „Du hast mir SOZ die sozialen Bedingungen, unter de-
nichts zu befehlen“, ist der Kommunikations- nen Sprecher und Hörer handeln.
246 IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch

Dies bezieht sich sowohl auf institu- wird. Vgl. 10.2.). Auf folgende pauschale
tionelle als auch auf persönliche Be- Aussagen könnte man sich sicher einigen:
ziehungen; (zu 71) Gesellschaft mit weitgehender Eman-
HV die engeren Handlungsvoraussetzun- zipation (etwa Skandinavier der jün-
gen, z. B. die physische und intellek- geren Generation). Kommunikation
tuelle Kapazität von Sprecher und ist nicht erforderlich.
Hörer; (zu 72) Ebenfalls ein „Nulltext“. Der Kon-
MOT die Motivations- und Zielstruktur ventionsdruck oder das Interesse des
von Sprecher und Hörer; welche Herrn an der Dame ist so stark, dass
Weltzustände werden als positiv, ne- keine Kommunikation zu erfolgen
gativ oder neutral bewertet? braucht.
10.3. Sprechhandlungsstrukturelle (zu 73) Hier hält der Sprecher es nicht für
Strategien nötig, seine Aufforderung textuell zu
stützen. Denkbare Voraussetzung:
Inwieweit nun diese Handlungsvoraussetzun- verheiratetes Paar mit weitgehender
gen die argumentative Strategie eines Textes Unterwerfung des Gatten. Worauf
bzw. dessen Handlungsstruktur beeinflussen, diese Motivation beruht (Masochis-
sei an dem folgenden, Koch (1983, 144ff.) mus, Angst vor Züchtigung o. ä.), ist
entnommenen, alltäglichen Beispiel demon- natürlich nicht Gegenstand der lin-
striert. guistischen Analyse.
Eine Dame und ein Herr stehen an einer (zu 74) Hier handelt es sich um eine BITTE,
Bushaltestelle. Der Dame fällt ein Taschen- die definitionsmäßig dem Hörer die
tuch aus der Hand. Folgende Konsequenzen Entscheidung freistellt, ihr zu folgen
sind möglich (wenn auch vielleicht mehr oder oder nicht. Bemerkenswert ist, dass
weniger wahrscheinlich): es sich um eine „nackte“, d. h. tex-
(71) Die Dame hebt das Taschentuch selbst tuell nicht unterstützte Bitte handelt.
auf. Dies kann (in Anbetracht der Grice-
(72) Der Herr bückt sich blitzschnell und schen Maximen (Abschn. 8) ) nur so
hebt das Taschentuch auf. gedeutet werden, dass der Sprecher
(73) Dame: „Aufheben!“ der Ansicht ist, dass alle Handlungs-
(74) Dame: „Würden Sie bitte das Taschen- voraussetzungen gemäß 10.2. erfüllt
tuch aufheben?“ sind.
(75) Dame: „Würden Sie bitte das Taschen- (zu 75) Hier wird Bezug auf den Vorausset-
tuch aufheben? Es wird schmutzig.“ zungskomplex OBJ in (70) genom-
(76) Dame: „Würden Sie bitte das Taschen- men. Die Dame kommuniziert einen
tuch aufheben? Ich habe schreckliche Folgezustand der Nichtausführung
Rückenschmerzen.“ der gewünschten Handlung. Diese
(77) Dame: „Würden Sie bitte das Taschen- Strategie wird dann Erfolg haben,
tuch aufheben? Die Leute halten Sie wenn der Zustand auch vom Hörer
sonst für einen Stoffel!“ als unerwünscht empfunden wird
(78) Dame: „Würden Sie bitte das Taschen- (etwa wenn er für die Textilpflege der
tuch aufheben? Ich lade Sie auch zu ei- Dame verantwortlich ist). Die Text-
ner Tasse Kaffee ein!“ struktur gibt weiterhin Auskunft dar-
(79) (Das Taschentuch ist in eine große über (Maximen der Quantität und
Pfütze gefallen und treibt mit dem Wind der Relevanz, 8.), dass die Dame
davon.) Dame: „Würden Sie bitte versu- nicht glaubt, dass der Herr allein
chen, das Taschentuch aufzufischen? Sie durch Konvention motiviert ist.
können meinen Regenschirm benutzen.“ (zu 76) Hier wird die Nicht-Fähigkeit des
Sprechers, die gewünschte Handlung
Es dürfte klar sein, dass diese Texte nicht be- selbst auszuführen, thematisiert. Er-
liebig verwendbar oder austauschbar sind, folgsbedingung: allgemeine Hilfsbe-
sondern nur auf dem Hintergrund ganz be- reitschaft des Herrn.
stimmter Handlungsvoraussetzungen als ad- (zu 77) Enthält einen Hinweis auf das impli-
äquat in dem Sinne bezeichnet werden kön- zite Normensystem (und verbunden
nen, dass sie Aussicht auf Erfolg bieten (d. h., damit einen Hinweis auf uner-
dass die dominierende SH, die BITTE um wünschte Folgen für den Hörer, falls
Aufheben des Taschentuchs, erfolgreich sein dieser die Handlung nicht ausführt).
20. Sprachsystem und Sprechhandlungen 247

(zu 78) Weder Konvention noch Konsequen- mentation (also wie viele der Handlungsvor-
zen für das Taschentuch werden be- aussetzungen mit eigenen SH gestützt wer-
müht, sondern die Dame versucht, ei- den) ein wichtiges Element der Textstrategie
nen für den Herrn positiven Folgezu- ist.
stand zu aktualisieren. Erfolgsvor- Eine Frage, auf die wir in diesem Rahmen
aussetzung: der Herr ist Kaffeelieb- nicht näher eingehen können, ist das Verhält-
haber. nis von außersprachlicher Zielstruktur zur
(zu 79) In diesem Text wird vom Sprecher Handlungsstruktur des Textes. In Koch
vorausgesetzt, dass der Hörer nicht (1983) wurde gezeigt, dass man die außer-
zur Ausführung der Handlung moti- sprachliche Zielhierarchie nicht iso- oder ho-
viert zu werden braucht. Dagegen momorph auf die Handlungsstruktur des
sieht sie ein physisches Problem und Textes abbilden kann (siehe 4.). In der Regel
bietet dem Herrn ein Hilfsmittel an wird ein in der außersprachlichen Hand-
(„HV“ in (70) ). lungshierarchie übergeordnetes Ziel (hier: die
Dame will nicht, dass das Taschentuch
Dieses alltägliche Beispiel ist bewusst gewählt
schmutzig wird ⫽ A) im Text argumenta-
worden, um deutlich zu machen, dass die
tionsstrategisch in einer untergeordneten
grundlegenden kommunikativen Strategien
(subsidiären, vgl. 10.1.) SH verwendet (⫽ D).
nicht an bestimmte Textsorten (etwa Ge-
Abb. 20.2.
schäftsbriefe) gebunden, sondern generell
gültig sind. Da wir hier außerdem nur mini-
male „Texte“ betrachtet haben, sollte man 11. Literatur in Auswahl
notieren, dass auch der Umfang der Argu-
Austin, John L. (1965): How to Do Things with
Words. New York.
Brandt, Margareta (1990): Weiterführende Neben-
A
sätze. Zu ihrer Syntax, Semantik und Pragmantik.
dominierendes außersprachliches Malmö (⫽ Lunder germanistische Forschungen
Handlungsziel: 57).
Das Taschentuch darf nicht schmut-
⫺; Inger Rosengren (1991): Zur Handlungsstruk-
zig werden. tur des Textes. In: Sprache und Pragmatik. Arbeits-
↓ berichte 24, 3⫺46.
B ⫺; Inger Rosengren; Ilse Zimmermann (1990):
aus (A) abgeleitetes subsidiäres Satzmodus, Modalität und Performativität. In:
Handlungsziel: ZPSK 43, 120⫺149.
Jemand muss das Taschentuch aufhe- ⫺; Wolfgang Koch; Wolfgang Motsch u. a. (1983):
ben. Der Einfluß der kommunikativen Strategie auf die
Textstruktur ⫺ dargestellt am Beispiel des Ge-
↓ schäftsbriefs. In: Sprache und Pragmatik. Lunder
C Symposium 1982. 105⫺136 (⫽ Lunder germanisti-
sche Forschungen 52).
aus (B) abgeleitetes subsidiäres
Handlungsziel: Grice, P. (1975): Logic and Conversation. In:
Ich bitte H um Aufheben Speech Acts. New York, 41⫺58 (⫽ Syntax and Se-
(statt die Handlung selbst auszufüh- mantics vol. 3).
ren) Heinemann, Wolfgang; Dieter Viehweger (1991):
⫽ dominierende Sprechhandlung Textlinguistik. Eine Einführung. Tübingen (⫽ Ger-
manistische Linguistik 115).
↑ Hindelang, Götz (1983): Einführung in die Sprech-
D akttheorie. Tübingen (⫽ Germanistische Arbeits-
aus C abgeleitete Stützung: hefte 27).
Ich motiviere C mit der Mitteilung Koch, Wolfgang (1983): Problemlösung, Topdown-
eines negativen Folgezustands bei strategie und interillokutionäre Beziehungen. In:
Nichtausführung der Handlung: Sprache und Pragmatik. Lunder Symposium 1982.
Mitteilung des dominierenden Stockholm, 137⫺156 (⫽ Lunder germanistische
Forschungen 52).
Handlungsziels ⫽ A
⫽ subsidiäre Sprechhandlung ⫺ (1986a): Tyska affärsbrev. Lund.
⫺ (1986b): Das Modalverb als Handlungsevalua-
Abb. 20.2 tor. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII.
248 IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch

Kongresses der Internationalen Vereinigung für ger- ⫺ (1983): Die Textstruktur als Ergebnis strategi-
manische Sprach- und Literaturwissenschaft. Bd. 3. scher Überlegungen des Senders: In: Sprache und
381⫺392. Pragmatik. Lunder Symposium 1982, 157⫺191.
⫺; Inger Rosengren; Manfred Schonebohm (1981): (⫽ Lunder germanistische Forschungen 52).
Ein pragmatisch orientiertes Textanalysepro- ⫺ (1984): Die Einstellungsbekundung im Sprach-
gramm. In: Sprache und Pragmatik. Lunder Sym- system und in der Grammatik. In: Pragmatik in der
posium 1980. Stockholm, 155⫺203 (⫽ Lunder ger- Grammatik. Düsseldorf, 179⫺198.
manistische Forschungen 50). Searle, John R. (1969): Speech Acts: An Essay in
Linke, Angelika; Markus Nussbaumer; Paul R. the Philosophy of Language. Cambridge.
Portmann (1991): Studienbuch Linguistik. Tübin- ⫺ (1976): A Classification of Illocutionary Acts.
gen (⫽ Reihe Germanistische Linguistik 121). In: Language in Society 5, 1⫺23.
Molnár, Valéria (1991): Das TOPIK im Deutschen
Sökeland, W. (1980): Indirektheit von Sprachhand-
und Ungarischen. Stockholm (⫽ Lunder germani-
lungen. Tübingen.
stische Forschungen 58).
Techtmeier, Bärbel (1991): Metakommunikative
Motsch, Wolfgang; Dieter Viehweger (1981):
Äußerungen und die Handlungsstruktur des Tex-
Sprachhandlung, Satz und Text. In: Sprache und
tes. In: Sprache und Pragmatik. Arbeitsberichte 24,
Pragmatik. Lunder Symposium 1980, 125⫺153
88⫺100.
(⫽ Lunder germanistische Forschungen 50).
⫺; Renate Pasch (1987): Illokutive Handlungen. Viehweger, Dieter (1984): Sprachhandlungsziele
In: Satz, Text, sprachliche Handlung. Berlin, 11⫺ von Aufforderungstexten. In: Ebenen der Text-
80. struktur. Berlin, 152⫺192 (⫽ Linguistische Studien,
Reihe A, 112).
Rosengren, Inger (1979): Die Sprachhandlung als
Mittel zum Zweck. Typen und Funktionen: In: ⫺ (1991): Illokutionsstrukturen und Subsidiaritäts-
Sprache und Pragmatik. Lunder Symposium 1978, relationen. In: Sprache und Pragmatik 24, 62⫺76.
188⫺213 (⫽ Lunder germanistische Forschungen
48). Wolfgang Koch, Aarhus (Dänemark)

21. Sprechhandlungen und unterrichtsspezifische Sprachtätigkeiten

1. Einleitung nisse lassen sich zunächst rein pragmatisch


2. Sprechhandlungen beschreiben; sie zeigen gleichzeitig eine fach-
3. Sprachtätigkeiten spezifische Tiefendimension. Die Art und
4. Konstitutive Elemente der Weise, wie sprachliche Gegebenheiten im Un-
Sprachlernsituation ,Unterricht‘
5. Sprechhandeln und Sprachtätigkeit als
terricht behandelt werden, ist, anders als dies
Gegenstände des Unterrichts im Zielfeld der Fall ist, durch die situativen
6. Literatur in Auswahl Bedingungen nicht determiniert, sondern ist
Gegenstand von Entscheidungen und (theo-
retisch untermauerter) Konstruktion. Die
1. Einleitung Frage nach der Qualität und der Lerneffi-
zienz unterrichtlichen Sprachgebrauchs wie
Moderner Fremdsprachenunterricht orien- auch die Frage nach dessen Verhältnis zu den
tiert sich am situierten, intentionsgeleiteten Bedingungen und Formen der Kommunika-
Sprachgebrauch. Er nimmt Maß an erwart- tion im Zielfeld bilden deshalb eines der zen-
baren zielsprachlichen Situationen und setzt tralen Themen des modernen Diskurses um
sich die Vermittlung der für ihre Bewältigung den Fremdsprachenunterricht.
notwendigen Kenntnisse zum Ziel. Die Akti- Es geht im Folgenden um eine Bestands-
vitäten im Fremdsprachenunterricht lassen aufnahme der hier einschlägigen Fragestellun-
sich aber nach Gesichtspunkten der im Ziel- gen unter pragmatischer wie unterrichtsbezo-
feld anzutreffenden Verhältnisse allein nicht gener Perspektive. Der im Titelwort „Sprech-
befriedigend erfassen. Vielmehr entwickeln handeln“ gemachte Bezug auf den Bereich der
sich im Unterricht eigenständige Formen der Mündlichkeit entspricht den Schwerpunkten
Interaktion und der Thematisierung von im Fachdiskurs, dieser Aspekt wird auch hier
Sprache und Sprechhandeln. Diese Verhält- im Vordergrund stehen.
21. Sprechhandlungen und unterrichtsspezifische Sprachtätigkeiten 249

2. Sprechhandlungen kation erst in seiner Komplexität fassbar.


Sprachtheoretisch und auch für die ange-
Die Entwicklung der linguistischen Pragma- wandte Linguistik von Belang ist, ob eine sol-
tik, v. a. der Sprechakttheorie und der Dis- cherart an Begriffen der Handlung und der
kursanalyse, ermöglicht seit den sechziger Interaktion ausgerichtete Pragmatik als alle
Jahren eine für die Sprachwissenschaft neue traditionellen linguistischen Domänen inte-
Thematisierung des Sprachgebrauchs. Dieser grierende Gesamtwissenschaft angesehen
wird nicht mehr als bloße Realisierung wird oder als den linguistischen Teildiszipli-
sprachlicher Elemente und Strukturen auf- nen nebengeordnete Betrachtungsweise.
gefasst, vielmehr beschreiben die pragmalin- Im Zusammenhang mit dem Fremdspra-
guistischen Ansätze auf erklärungskräftige chenunterricht bildet seit der Reformbewe-
Weise die kommunikativen Aspekte am gung der Bezug auf den ,praktischen Sprach-
Sprachgebrauch, die Bedeutung intentiona- gebrauch‘ den Kern der Vorstellung eines
ler, situationaler, sozialer und strategischer modernen Sprachunterrichts gegen ältere
Faktoren für das adressatenorientierte Spre- sprachdidaktische Konzepte, v. a. gegen die
chen. Dieses wird, in Analogie zu anderen Grammatik-Übersetzungmethode. Die An-
Formen intentionalen und zielorientierten eignung der sprechakt- und diskurstheoreti-
Tuns, als Handeln begriffen, in dessen Rah- schen Perspektive ist die große Leistung der
men sprachliche Elemente und Strukturen kommunikativen Bewegung seit den sechzi-
primär durch ihre Funktion zu charakterisie- ger Jahren.
ren sind. Entscheidend ist in diesem Zusam- Diese Aneignung erfolgt in einer breiten
menhang die Einsicht der Sprechakttheorie, und von Anfang an sehr vielschichtigen Dis-
dass der kommunikative Sinn von Mitteilun- kussion, die bis heute andauert. Sie setzt bei
gen (ihre illokutionäre Rolle) durch verschie- der pragmalinguistischen Erkenntnis an, dass
dene Indikatoren zwar mehr oder weniger Sprache sich im intentionsgeleiteten sprachli-
deutlich signalisiert wird, letztlich aber an der chen Handeln manifestiert und dass die volle
Oberfläche sprachlicher Äußerungen nicht Bedeutung, d. h. die kommunikative Leistung
zuverlässig ablesbar ist, sondern auf Grund sprachlicher Äußerungen nur unter Bezug
der aktuellen Situation, der (sprachlichen von Kontext, Intention und Hörerreaktion
und sozialen) Kontexte und der dem Spre- bestimmt werden kann.
cher zugeschriebenen Intentionen erschlossen Thema der Auseinandersetzung mit diesen
werden muss. Auf diese Weise lassen sich Grundlagen ist die Frage, was aus dieser ge-
sprachliche Form und kommunikative Funk- genüber der Tradition neuen und umfassen-
tion, formale Korrektheit und funktionale deren Bestimmung von Sprache für den Un-
Angemessenheit von Äußerungen voneinan- terricht folgt. Generell hat sie eine radikale
der absetzen. Kritik und Abwertung sprachmittel- und
Mit Begriffen der Sprechakttheorie allein sprachstrukturbezogener Zugänge und den
ist kommunikatives Sprechhandeln allerdings Aufbau eines alternativen Paradigmas zur
nicht ausreichend beschreibbar. Dialogisches Folge. Dabei geht es zum einen um den Kom-
Sprechen besteht nicht aus einer Reihe von petenzbegriff, genauer um den der kommuni-
Sprechakten, in denen gegenseitig Mitteilun- kativen Kompetenz. Canale/Swain (1980)
gen gemacht werden. Vielmehr werden in Ge- bringen hier eine für den Unterricht potenti-
sprächen reziprok Verpflichtungen eingegan- ell wichtige Differenzierung ins Spiel: Sie un-
gen und Ansprüche aufgebaut, deren sozialer terscheiden grammatische, soziolinguistische,
und sachlicher Gehalt und deren Geltung im Diskurs- und strategische Kompetenz und
Gespräch ausgehandelt und bestätigt werden benennen mit dieser Differenzierung Dimen-
müssen, wie dies unter symmetrischen Kom- sionen des Wissens, die im fremdsprachlichen
munikationsbedingungen bzw. in günstigen Sprechhandeln unterschiedlich leicht zur Gel-
Rollenkonstellationen besonders deutlich tung gebracht werden können und denen im
wird. Verständigung und übereinstimmende Unterricht demnach auch unterschiedliches
Sach- und Handlungsinterpretationen sind Gewicht zukommen könnte. Vielleicht be-
das Resultat von Interaktionen, sie können dauerlicherweise steht aber nicht dieser Kom-
nicht einfach vorausgesetzt oder einseitig ins petenz-, sondern der Kommunikationsbegriff
Gespräch eingebracht werden. In Ergänzung im Zentrum der Diskussion (für einen Über-
und Erweiterung des Sprechakt-Konzepts blick s. Wagner 1983). Grob lassen sich darin
macht der Gesichtspunkt der Interaktion und vier Orientierungen unterscheiden, die sich
ihrer Dynamik das Phänomen der Kommuni- theoretisch nur teilweise vermitteln lassen
250 IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch

und sich zu deutlich unterschiedenen prakti- ordnet oder als offenes Angebot (wie etwa in
schen Ansätzen verfestigen können. der ,Kontaktschwelle Deutsch‘); grundlegend
für sie ist eine an die Bestimmung relevanter
(1) Eine Orientierung an den Begriffen des
Zielsituationen geknüpfte Bedürfnisanalyse
Sprechakts und der Situation, die vor
(vgl. Wilkins 1976). Prozessorientierte Kata-
allem authentisches Material, eine klare
loge analysieren die unterrichtliche Lernsi-
Analyse kommunikativer Funktionen
tuation selber und umschreiben die Aufgaben
und zugeordneter sprachlicher Mittel so-
und Aktivitäten, mit denen die Lernenden
wie die deutliche Markierung situativer
konfrontiert werden sollen; je nachdem, wie
Parameter einfordert und
genau diese definiert werden, lassen sie die
(2) meist eng damit verbunden eine Orientie-
Herausbildung eines Stoffkanons in unter-
rung an Zielsituationen, die als Modelle
schiedlichem Maße von den Lernenden und
im Unterricht möglichst integral abgebil-
ihrer Arbeit, also von der Unterrichtsinterak-
det und für sprachliches Probehandeln
tion selbst abhängen. Natürlich sind auch
zur Verfügung gehalten werden sollen
Mischformen dieser Grundtypen zu beobach-
(Piepho 1979).
ten (vgl. Nunan 1988, 27f., 42ff.).
(3) Eine Orientierung am Diskurs resp. am
Interaktionsbegriff, der vor allem die
Aktivitäten des Aushandelns und die un- 3. Sprachtätigkeiten
verkürzten Intentionen und Handlungs-
ziele der Beteiligten in den Vordergrund Sprechhandlungen zu vollziehen oder zu ver-
stellt (Butzkamm 1980, 156ff., Widdow- stehen involviert Prozesse der Sprachverar-
son 1978). beitung, d. h. Sprachtätigkeiten der unter-
(4) Eine Orientierung an der Identität und schiedlichsten Art, die in der Beschreibung
der Verantwortlichkeit der Lernenden, der Bedingungen und Effekte von Kommuni-
ihren persönlichen bzw. kulturellen Ein- kation vielleicht mitgemeint, aber nicht be-
stellungen und Interessen. (Schiffler 1980; schrieben sind. Diese notwendig immer indi-
Legutke/Howard 1991; Kramsch 1993). viduelle Prozessierung sprachlichen Wissens
ist Voraussetzung für jeden Sprachgebrauch.
In der Auseinandersetzung um diese Orientie-
,Sprachtätigkeit‘ wird hier also nicht tätig-
rungen sind ,Natürlichkeit‘ bzw. ,Authentizi-
keitstheoretisch aufgefasst als Folge von ver-
tät‘ entscheidende Konzepte. Dabei geht es
balen Handlungen, die in ihrer Gesamtheit
auf der einen Seite um die adäquate Beschrei-
der Verwirklichung eines übergeordneten
bung des Sprechhandelns per se, auf der an-
Ziels dienen, sondern fertigkeitsbezogen:
deren aber auch um umsetzbare Bilder von
Sprachtätigkeit ist die aktuelle Ausübung ei-
Sprechhandeln, um eine genügend reiche und
ner (mehr oder weniger gefestigten) sprachli-
relevante Beschreibungssprache für Lernziele
chen Fertigkeit.
und Unterrichtsverfahren. Entsprechend ver-
Die Untersuchung von Fertigkeiten ist die
ändert sich je nach Standpunkt der Ausblick
Domäne der Psychologie, die in diesem Be-
auf die Zielsituationen und die Definition der
reich schon relativ früh zu kognitivistisch
Gegenstände der unterrichtlichen Lernpro-
fundierten Modellbildungen kam (s. dazu
zesse, damit ergeben sich ganz unterschiedli-
Anderson 1983), in Bezug auf die Sprache
che Forderungen an die Lernsituation, die
aus der Psycholinguistik bzw. der kognitiven
der Unterricht zur Verfügung stellen soll. Der
Linguistik. Mit Bezug auf die kognitive Ver-
allen gemeinsame Bezug auf ,Kommunika-
arbeitung von Sprache müssen verschiedene
tion‘ benennt eher lose eine Grundausrich-
Gesichtspunkte berücksichtigt werden:
tung, steht aber nicht für ein einheitliches
Konzept. Diese unterschiedlichen Orientie- (1) Auf allgemeinster Ebene sind die vier
rungen haben vor jeder weiteren Detaillie- Grundfertigkeiten Hören, Sprechen, Lesen
rung didaktischer Art Konsequenzen für die und Schreiben zu nennen, unterschieden nach
Bestimmung von Lernziel- und Sprachmittel- Sprachmedium (mündlich/schriftlich) und
katalogen, die als Leitplanken der Unter- Verarbeitungsrichtung (rezeptiv/produktiv).
richtsplanung dienen. Produktorientierte Ka- Die unterschiedlichen Eigenschaften der zwei
taloge gehen aus von den erwarteten Resulta- medialen Realisationsformen der Sprache
ten des Lernprozesses und geben von daher und die differierenden Ansprüche an Tiefe
Lernstoff vor (kommunikative Funktionen und Vollständigkeit der Sprachverarbeitung
und zugeordnete sprachliche Mittel), entwe- in Produktion bzw. Rezeption lassen schon
der nach vorausgesetzter Lernprogression ge- auf dieser Ebene eine starke individuelle Pro-
21. Sprechhandlungen und unterrichtsspezifische Sprachtätigkeiten 251

filierung der vier Fertigkeiten erkennen ristische) Konzept der Fertigkeit legitimiert
(Herrmann 1995). (vgl. Lado 1967, Kap. 4 und 5). ⫺ Die kom-
(2) Die situationsspezifischen Leistungsan- munikative Bewegung hat sich lange vorab
forderungen können im Rahmen der einzel- am Kommunikationsbegriff, nicht an dem
nen Grundfertigkeiten stark variieren, je hier näherstehenden der Kompetenz, orien-
nach inhaltlicher und sprachlicher Komplexi- tiert, und sie hat die Auseinandersetzung mit
tät der Mitteilung sowie verfügbarer Zeit. In den Sprachtätigkeiten wohl in Reaktion auf
diesem Sinne sind in Bezug auf das Lesen audiolinguale Einseitigkeiten eher kurz ge-
unterschiedliche Leseweisen und Strategien halten, auf theoretischer Ebene (nicht in der
der Informationssuche in Texten beschrieben Praxis) jede Art von ,Isolierung‘ von Teilfer-
worden, in Bezug auf das Sprechen die unter- tigkeiten gescheut und die (komplette, au-
schiedlichen Ansprüche in formellen und in- thentische) Kommunikationssituation als
formellen Situationen, im dialogischen und notwendige und hinreichende Bedingung des
im monologischen Sprechen usw. Spracherwerbs als Gegenbild dazu hochge-
(3) In Bezug auf einzelne sprachliche Wis- halten. Sie stellt sich hierin auf nicht uninter-
sensbestände ist zu fragen, wie sie im Ge- essante Weise parallel zur universalgramma-
dächtnis repräsentiert sind, wie sie aktiviert, tisch ausgerichteten Spracherwerbstheorie,
verarbeitet bzw. gelernt und in Verbindung die nur global auf Kommunikation als Bedin-
mit bereits bestehendem Wissen gebracht gung des Spracherwerbs verweist und auf die
werden (Elemente eines allgemeinpsycholo- Analyse der differierenden pragmatischen
gischen Modells liefert Anderson 1983, vgl. bzw. prozessualen Bedingungen der Aneig-
die zusätzlichen Gesichtspunkte in Karpf nung verzichtet (vgl. Abschnitt 5.). Auf die
1990, 235ff.). Eine Frage ist, ob im rezeptiven Dauer ist aber eine strukturierte und explizite
und produktiven bzw. im mündlichen und Auseinandersetzung mit den Sprachtätig-
schriftlichen Gebrauch auf dasselbe sprachli- keiten im Hinblick auf Unterricht nicht zu
che Wissen zurückgegriffen wird oder ob die- umgehen. Unterschiedliche Sprachtätigkeiten
ses verwendungsspezifisch adaptiert und ge- involvieren verschieden geartete Verarbei-
speichert wird (dazu Flynn 1986). tungsprozesse und schaffen unterschiedliche
(4) Was den gesteuerten Aufbau routinier- Formen und Bedingungen des Sprachkon-
ter, d. h. keiner bewussten Überwachung takts, sie sind damit aller Wahrscheinlichkeit
mehr bedürftiger Verwendungsprozeduren nach auch relevant für die lernpsychologische
betrifft, so scheinen sich einige Bedingungen Wirksamkeit sprachlicher Aktivitäten. Falls
des Lernkontextes besonders günstig auszu- sich Lernen überhaupt planvoll beeinflussen
wirken: Möglichst umfassende Orientierung lässt ⫺ und nichts anderes ist das Ziel des
der Lernenden im Arbeitsfeld, Selbststeue- Unterrichts ⫺ dann sind solche Fragen von
rung und metakognitive Kontrolle der Ab- höchstem Interesse.
läufe und Resultate, ,tiefe‘, d. h. voll kontex- Impulse für eine neue Beschäftigung mit
tualisierte Verarbeitung, implizite Wieder- den Sprachtätigkeiten kommen aus unter-
holungen und Transkodierungen (vgl. Nick schiedlicher Richtung. Die kognitive Psycho-
Ellis 1994, 40f.). logie hat Fertigkeitenkonzepte entwickelt,
die, gegen die behavioristischen Versuche,
Im Diskurs über den Sprachunterricht hat einzelne Teilfertigkeiten quasi im Fließband-
der Begriff der Sprachfertigkeit und mit ihm verfahren zu automatisieren, die innenge-
der der Sprachtätigkeit höchst unterschiedli- steuerte Dynamik von Lernprozessen beto-
che Aufnahme gefunden. Der Audiolingualis- nen und vor allem den Systemcharakter von
mus machte am natürlichen Sprachgebrauch Fertigkeiten herausstellen: Neue Wissensele-
nicht so sehr das kommunikative Moment mente werden nicht je für sich automatisiert,
zum Leitbild seiner Unterrichtskonzeption sondern müssen in bereits bestehende Ab-
(dafür fehlte in der Linguistik noch eine diffe- läufe eingebaut und in die einschlägigen Wis-
renzierte Begrifflichkeit), sondern die Quali- sensstrukturen integriert werden; sie werden
tät der jedem Sprechhandeln innewohnenden in z. T. langwierigen Prozessen prozedurali-
Sprachtätigkeit, die im spontanen Sprechen siert. Spontane und sichere Beherrschung
und Hören weitgehend automatische und un- wird hier als Resultat langfristiger Übung
bewusste Verarbeitung. Damit ist für den au- und Kommunikation gesehen, nicht als Vor-
diolingualen Unterricht die eigentliche Lehr- aussetzung für Sprechen und Sprachge-
aufgabe umschrieben; das methodische Vor- brauch. Im Rahmen der Lernersprachfor-
gehen wird unter Berufung auf das (behavio- schung hat Bialystok (1988) ein einflussrei-
252 IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch

ches Modell der Lernersprachkompetenz ent- delns. Es geht hier um die Herstellung bzw.
wickelt, das lernersprachliches Wissen nach Sicherung von Aufmerksamkeit und Koope-
den Dimensionen automatisiert/nicht auto- ration, um die Organisation des Umgangs
matisiert und analytisch/nicht analytisch be- mit Arbeitsmitteln und Diskursformen. In
schreibt. Das Modell lässt sich sehr direkt mit der Diskussion um den Fremdsprachenunter-
Kategorien des Fertigkeiten-Konzepts ver- richt wird seit langem die Wichtigkeit dieser
binden und erlaubt es, recht genau die Mu- Handlungsdimension für das Fremdspra-
ster variabler Sprachbeherrschung von Ler- chenlernen herausgestrichen; hier kann die
nern unter verschiedenen Bedingungen der Fremdsprache als Instrument für unmittelbar
Sprachverarbeitung vorauszusagen. Von di- relevante Kommunikation eingesetzt werden.
daktischer Seite ist in den letzten Jahren eine (2) Die Sekundärordnung betrifft jene Ele-
ganze Reihe von Beiträgen erschienen, die ⫺ mente von Unterricht, die den besonderen
meist unter Berufung auf kognitiv-psycholo- Bedingungen des Fremdsprachenlernens an-
gische oder lernersprachliche Untersuchun- gepasst sind. Es geht hier um jene mehr oder
gen ⫺ die sprachlichen Grundfertigkeiten weniger generell anwendbaren Strategien, die
thematisieren und ein neues Interesse auch an den Sprachbezug (und eine Ausrichtung auf
den kognitiven Dimensionen der Sprachver- das Ziel des Sprachenlernens) in den diverse-
arbeitung dokumentieren (Portmann 1991). sten Aktivitäten sichern. Relevante Diskus-
Fazit daraus ist, dass wir mit der Realisie- sionen in diesem Bereich betreffen z. B. die
rung von (nicht weiter qualifizierten) Kommu- Rolle von Wörterbüchern oder den Stellen-
nikationssituationen im Unterricht zwar not- wert der Forderung nach Einsprachigkeit
wendige und wohl auch hinreichende Bedin- (vgl. Butzkamm 1980). Hierher gehören auch
gungen für das Sprachlernen schaffen, dass die vielfältigen Strategien, die im Unterricht
diese Strategie aber nicht auf klarer Einsicht in verwendet werden, um sprachliche Elemente
die wirksamen Momente des Spracherwerbs und Strukturen (während und in der themati-
beruht und dass wir auf Grund immer deut- schen Arbeit) verständlicher zu machen (vgl.
licherer Hinweise aus Kognitionspsychologie Wode 1993, 285 für Anpassungen in der Leh-
und Lernersprachforschung damit rechnen rersprache) bzw. sie als fremdsprachliche her-
können, dass solches Kommunizieren nicht auszuheben, bewusst zu machen und über den
per se der effizienteste Weg zum Sprachlernen unmittelbaren Gebrauchskontext hinaus ver-
ist (Larsen-Freeman/Long 1991, 300ff.). fügbar zu halten (vgl. Portmann 1991, 134ff.).
Diese unterschiedlichen Formen der ,Darstel-
lung von Sprache‘ lassen sich interpretieren als
4. Konstitutive Elemente der Versuche, die Lernenden mit relevanter
Sprachlernsituation ,Unterricht‘ sprachbezogener Information zu versehen
und ihnen die mit dem Sprachlernen verbun-
Unterricht ist ,organisierte Tätigkeit‘ im Rah-
denen Aufgaben der Analyse, der Synthese,
men von Institutionen, geleitet meist von
der Einbettung und des Vergleichs von
Lehrenden mit professioneller Ausbildung
Sprachmitteln (Klein 1984, Kap. 4) zu erleich-
(vgl. Hüllen/Jung 1979, 16ff.). Die mit dieser
tern.
Situierung verbundenen konstitutiven und
(3) Die Musterordnung schließlich bezeich-
normativen Handlungsbedingungen prägen
net die Ebene der thematischen Unterrichts-
durchgehend die Struktur und die Interpreta-
arbeit. Eine sprechhandlungstheoretisch wich-
tion der ablaufenden Aktivitäten.
tige Frage ist, wie in diesem Rahmen die In-
Minimal lassen sich in einer Globalanalyse
teraktion zwischen Lehrenden und Lernen-
des Unterrichts zwei Diskurstypen mit ihren
den Schritt für Schritt organisiert und struk-
je eigenen Zielsetzungen und reziproken Wis-
turiert wird. Muster dafür scheinen alltäg-
sensunterstellungen und Handlungserwar-
liche kommunikative Verfahren bsw. des Pro-
tungen von Lehrenden und Lernenden unter-
blemlösens, des Ratens usw. zu sein. Ehlich/
scheiden, nämlich Unterrichtsorganisation
Rehbein (1986) untersuchen vier solcher Mu-
und themenbezogene Unterrichtsaktivitäten
ster und zeigen, wie sie im Unterricht aufge-
(vgl. Ehlich/Rehbein 1986, 7). Lauerbach
nommen, aber auch transformiert werden.
(1989, 255f.) unterscheidet in Bezug auf den
Charakteristisch für diese Transformation ist,
Fremdsprachenunterricht sogar drei solcher
dass ein Muster nun arbeitsteilig verarbeitet
„Ordnungen“:
wird (der Lehrer, nicht aber die Lernenden,
(1) Die Primärordnung betrifft die grundle- verfügt über alle einschlägigen Informationen
gende Organisation des unterrichtlichen Han- und Zielvorstellungen). Damit verbunden ist
21. Sprechhandlungen und unterrichtsspezifische Sprachtätigkeiten 253

die Verkürzung des Musters (im Dienste der allem Eigenwert, den man ihnen zuschreiben
„Akzelerierung des Wissenserwerbs“ wird kann, überlagert von dem allen Einzelthemen
z. B. nicht der ganze Prozess der Problemlö- übergeordneten Ziel der Förderung der
sung abgearbeitet) und die Versprachlichung Sprachhandlungskompetenz.
der Prozedur (Ehlich/Rehbein 1986, 190). 2. Die Musterordnung des Unterrichts be-
Konsequenz daraus ist eine gegenüber von zieht sich, wie oben gesagt, auf Kommunika-
prototypischen Alltagsgesprächen empfind- tions- und Handlungsmodelle des Alltags
lich veränderte Strukturierung und Dynamik und verändert sie. Die Lernsituation kann
unterrichtlicher Kommunikation (für einige nur im Grenzfall ein getreues Abbild der Ziel-
Resultate diskursanalytischer Untersuchun- situation sein. Unterrichtsinteraktion wird
gen s. 5.). darum im Vergleich zu außerschulischen Si-
tuationen oft als künstlich, unernst und ent-
Die Sprachlernsituation Unterricht lässt sich
fremdet empfunden; dies gilt für tradionelle
vor dem Hintergrund solcher Analysen in
Vermittlungsverfahren, oft auch für kommu-
verschiedener Hinsicht charakterisieren. Auf
nikative (vgl. Legutke/Thomas 1991, 36f.).
zwei wichtige Punkte sei hier besonders hin-
Die institutionellen Vorgaben legen die Unter-
gewiesen:
richtsinteraktion in ihrer Gestalt aber nicht
1. Die durchlaufende Sekundärordnung des fest. Vielmehr schafft die Unmöglichkeit, All-
Unterrichts ergibt sich aus der Orientierung tags- und Zielsituationen im Unterricht
am Ziel des Sprachlernens, die von allen am bruchlos zu ,haben‘, die Chance (und die
Unterricht Beteiligten getragen und in den Pflicht), Unterricht als Lernsituation konkret
genannten Strategien und Techniken auch zu definieren und zu gestalten. Der Wirkungs-
immer wieder zum Ausdruck gebracht wird bereich gestaltender Eingriffe sind die grund-
(vgl. Breen 1985, 143ff.). Daraus ergibt sich legenden sprachlichen Gegebenheiten: die
auf der Ebene der Musterordnung eine spezi- Formen der Kommunikation (Sprechhand-
fische Doppelheit der Intention. Auch in den lungen) und die Weisen des Sprachkontakts
auf nicht-sprachliche Themen ausgerichteten (Sprachtätigkeiten). Letztlich sind dies die Be-
Sequenzen bleiben die Sprachmittel, deren zugspunkte aller didaktischen Überlegungen.
die ablaufende Kommunikation bedarf, im- Entsprechende Entscheidungen (wie bewusst
mer präsent als potentieller Fokus der Auf- auch immer sie gefällt werden) konstituieren
merksamkeit. Hüllen/Jung (1979, 169) sehen den Unterricht als eigenständigen Ort der
Unterricht in diesem Sinne einer aufs Sprach- Auseinandersetzung mit Sprache und eröffnen
lernen bezogenen fundamentalen „didakti- ein unabsehbares Feld von spezifisch unter-
schen Illokution“ untergeordnet. Die zweifa- richtlichen Verfahrensweisen (vgl. die Überle-
che Ausrichtung im Unterrichtsgespräch ⫺ gungen zur „Organisation des Inputs“ in
die auf das Thema wie die auf die Sprache Knapp-Potthoff/Knapp 1982, 153ff. und Ab-
⫺ nimmt eine Eigenschaft der Lernersprache schnitt 5.4.).
zumindest von Erwachsenen auf und unter-
stützt sie konsequenter, als dies in natürli-
chen Situationen der Fall ist (vgl. 5.3.). Diese 5. Sprechhandeln und
doppelte Aufmerksamkeit mag auch erklä- Sprachtätigkeiten als Gegenstände
ren, warum die z. T. hochkomplexen Wechsel des Unterrichts
zwischen Themen- und Sprachbezug in der
unterrichtlichen Interaktion für die Lernen- Der Versuch, Unterricht zielgerecht zu gestal-
den im allgemeinen kein Verständnisproblem ten, setzt Hypothesen über beeinflussbare
(wohl aber vielleicht ein Motivationspro- Regularitäten des Spracherwerbs und die
blem) und warum der Fremdsprachenunter- Wirksamkeit unterschiedlicher Formen des
richt bei aller Diskontinuität seiner Themen Sprachkontakts voraus. Auch wenn Aussa-
und Aktivitäten doch als zielgerichtet und gen in diesem Bereich erst mit Vorsicht zu
kohärent wahrgenommen werden kann. machen sind, lassen sie sich doch zunehmend
Zwar sind diese Themen und die mit ihnen besser auf empirische und theoretische Er-
angezielten Erfahrungen und Kenntnisse in kenntnisse in verschiedenen Bezugswissen-
einem modernen Fremdsprachenunterricht schaften bzw. Teildisziplinen des Faches
keineswegs nur beliebige Mittel, um die Spra- Deutsch als Fremdsprache abstützen. Dies
che zu lernen, wie hie und da zu lesen ist hat in den letzten Jahren zu einer wachsenden
(z. B. Lauterbach 1989, 250), aber diese in- Interdependenz von didaktischer Modellbil-
haltlich eingebundenen Ziele werden, bei dung und emprischer Forschung geführt, es
254 IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch

hat aber auch die immense Komplexität des (1) Krashen stellt nicht mehr Kommunika-
Handlungs- und Lernraums Unterricht deut- tion per se als Movens der Sprachentwick-
lich hervortreten lassen. Im Folgenden wer- lung dar. Mit dem Begriff des ,comprehensi-
den zuerst relevante Beiträge aus drei solchen ble input‘ versucht er, die entscheidende er-
Bereichen dargestellt und die daraus sich er- werbsrelevante Variable an Kommunikations-
gebenden Perspektiven für die Konzeptuali- situationen zu identifizieren. Dies hat ent-
sierung des Zusammenhangs von Sprechhan- scheidende Folgen für das Denken über Un-
deln und Sprachtätigkeiten im Unterricht dis- terricht: Was in Lernkontexten erfolgverspre-
kutiert. Zum Abschluss werden einige neuere chende Sprachtätigkeiten sind, entscheidet
didaktische Zugänge skizziert. sich nicht am Modell authentischer Zielsitua-
tionen, sondern primär daran, wie dicht sie
5.1. Spracherwerbsforschung lernrelevante Merkmale verwirklichen.
Der wohl wichtigste linguistische Beitrag der (2) Mit dem Begriff des Monitors wird,
jüngeren Zeit für den Fremdsprachenbereich noch in embryonaler Form, der Aspekt der
stammt aus der Spracherwerbsforschung (vgl. Sprachverarbeitung in ein kommunikatives
66⫺79). Unternommen meist auf der Basis und erwerbsbezogenes Grundlagenkonzept
von Chomskys Theorie der Universalgram- aufgenommen und damit zumindest ein
matik, hat sie unsere Vorstellungen bezüglich Schritt in Hinblick auf eine adäquate Lern-
Bedingungen und Verlauf des Spracherwerbs theorie für den Sprachunterricht gemacht.
fundamental verändert (einen ausführlichen
Überblick gibt Wode 1993). 5.2. Interaktionsanalyse
In der Diskussion um den Unterricht ist Fast parallel zur Spracherwerbsforschung
die Spracherwerbsforschung verschiedentlich wurde die Interaktions-Forschung (vgl. Art. 76,
in Anspruch genommen worden, um im Hin- 77) für den Fremdsprachenunterricht relevant
blick auf eine natürliche Entwicklung der (vgl. Allwright/Bailey 1991, 6ff.). Die ein-
Sprachkompetenz natürliche kommunikative flussreichsten ihrer Erkenntnisse sind nicht
Verfahren zu legitimieren. Dabei wurde die gerade überraschend; sie bezeugen den Ein-
im Unterricht leicht beobachtbare Anders- fluss der Primär- und Sekundärordnung auf
artigkeit von kommunikativen gegenüber die Musterordnung des Unterrichts: Lehrer-
sprachbezogenen Sequenzen oft zu einem gesteuerter Unterricht läuft (auf den verschie-
kaum mehr vermittelbaren Gegensatz zwi- denen Ebenen der Sprechakte, der Sequenzen
schen Mitteilungsbezug und Formbezug, und der Lektion insgesamt) in einem drei-
Sprechhandeln und ,bloßer Sprachfertigkeit, schrittigen Takt von Initiative/Impuls, Reak-
Flüssigkeit und Korrektheit aufgebaut (vgl. tion und Evaluation ab, wobei die initiativen
Widdowson 1978; Brumfit 1984, 51) ⫺ eine und evaluativen Rahmensetzungen fast aus-
Entgegensetzung, die so von der Theorie schließlich von der Lehrkraft, die reaktiven
kaum gestützt wird. Diese beschäftigt sich Akte von den Lernenden stammen. In der In-
vorab mit der Logik der Sprachentwicklung teraktion werden so die institutionell vorge-
im grammatischen Bereich. Pragmatische gebenen asymmetrischen Beziehungen zwi-
Fragen des Sprachzugangs spielen in ihren schen den Teilnehmern ständig erneuert und
Konstrukten, wie schon angemerkt, keine bestätigt. Entsprechend verteilt sich die
Rolle (Felix 1987, 24ff.). Sprechzeit: Im Durchschnitt teilen die Ler-
Der vielleicht wichtigste unterrichtsbezo- nenden etwa ein Drittel davon unter sich auf
gene Beitrag, der sich auf die Spracherwerbs- (vgl. Chaudron 1988, 50ff.). Es ist leicht zu
theorie stützt, ihre Grenzen aber auch sehen, dass hier, gemessen an Vorbildern, wie
sprengt, ist die Monitortheorie von S. Kras- sie v. a. die informelle Alltagskommunikation
hen (1985). Ihre Prominenz in den achtziger liefert, äußerst abweichende Kommunika-
Jahren schuldet sie dem Umstand, dass sie tionsbedingungen vorliegen. Falls restrin-
die seit dem Audiolingualismus wohl erste gierte Teilhabe an Kommunikation potentiell
handliche und umfassende Theorie des lernerschwerend ist, sind offenere Kommuni-
Spracherwerbs zuhanden des Sprachunter- kationsangebote gefordert. Unter interak-
richts ist. Obwohl ihre sämtlichen Grundla- tionsanalytischem Gesichtspunkt muss jede
gen in einer ausgreifenden Diskussion ent- Lösung allerdings davon ausgehen, dass man
schieden in Frage gestellt worden sind (vgl. das interaktionelle Grundschema Impuls-Re-
White 1987), macht sie zumindest zwei be- aktion-Evaluation „als dominierende Dis-
merkenswerte Beiträge, die bis heute prägend kursstruktur in der Schule nicht abschaffen
geblieben sind: kann. Stattdessen kann man versuchen, es
21. Sprechhandlungen und unterrichtsspezifische Sprachtätigkeiten 255

aufzuweichen, indem man den Lösungs- (vgl. Pica 1987). Offenbar steuern und
schritt ausdehnt und ihn zumindest teilweise kontrollieren Sprechende dann, wenn sie
der interaktiven Dominanz des Lehrers ent- über relevante Information verfügen, den
zieht“ (Wagner 1983, 212). Die Forderung Verlauf und die Resultate des kommunikati-
nach Partizipation, Verantwortung und ven Austausches bes. aktiv. Ein solches kom-
Selbststeuerung der Lernenden, wie sie seit munikatives Management fördert anschei-
dem Beginn der kommunikativen Didaktik nend auch metasprachliche Aktivitäten (Hen-
in ihren radikaleren Konzepten vertreten rici 1995, 150ff.). Es sind hier Kriterien ab-
worden ist, lässt sich vor diesem Hintergrund sehbar, die kommunikative Qualitäten zu
als Forderung interpretieren, durch geeignete beschreiben und Aufgabenstellungen bzw.
Vorgaben (etwa durch einen ,taskbased ap- Kommunikationsformen auf ihre potentielle
proach‘ im weitesten Sinne) strukturierte Ar- Lernrelevanz hin zu entwerfen und zu beur-
beitskontexte zu schaffen, „die als selbststeu- teilen erlauben.
ernde Diskurswelten den Lehrer bei der Die Rolle von Sprachbewusstheit, wie sie
Durchführung von sprachlichen Aufgaben in metakommunikativen und metasprach-
(…) ersetzen können“ (Wagner 1983, 212): lichen Äußerungen zum Ausdruck kommt,
z. B. durch Schreibaufgaben, Spiele, Gruppen- wird im Rahmen der Lernersprachforschung
arbeiten, Projektarbeiten usw. (vgl. Piepho seit einiger Zeit intensiv erforscht. Aufmerk-
1979, 91ff.; für eher pädagogisch und psycho- samkeit auf Sprache und explizites sprachbe-
logisch motivierte Begründungen s. Schiffler zogenes Lernen sind typische Merkmale des
1980, 16ff.; Legutke/Thomas 1991, 13ff.). Unterrichts. Ob dies ein derart artifizielles
5.3. Lernersprachforschung und für den Spracherwerb marginales Phäno-
men ist, wie dies manchmal behauptet wurde,
Die Lernersprachforschung (vgl. Art. 69), die darf heute bezweifelt werden (vgl. Ellis 1994).
sich seit den achtziger Jahren entwickelt hat, Sprachbewusstheit erlaubt autonome Steue-
nimmt Anstöße beider eben angesprochenen rungs-, Überwachungs- und Beurteilungspro-
Richtungen auf. Sie untersucht aber lerner- zeduren im Vollzug sprachlicher Aktivitäten,
sprachliche Kommunikation unter erwerbs- sie beeinflusst damit die Bedingungen für die
bezogener Perspektive, und sie interessiert gesamte Sprachtätigkeit. Zumindest Aktivi-
sich im Gegensatz zur Erwerbsforschung pri-
täten, die unter zentraler kognitiver Kon-
mär für die pragmatischen Bedingungen, un-
trolle stehen, wie etwa der Einsatz von Lern-
ter denen der sprachliche Entwicklungspro-
und Kommunikationsstrategien, von form-
zess vonstatten geht (für einen Überblick s.
und inhaltsbezogenen Selbstkorrekturen usw.
Larsen-Freeman/Long 1991, in Bezug auf
scheinen durch bewusste Aufmerksamkeit ge-
Unterricht Chaudron 1988; Allwright/Bailey
1991). Hier sind v. a. die Untersuchungen zu fördert, in manchen Fällen erst ermöglicht zu
lernfördernden Faktoren im kommunikativen werden (vgl. Swain 1995; Chaudron 1988,
Austausch relevant. Gegen Krashens Input- 114ff.); für autonomes Lernen ist sie Voraus-
Hypothese ist seit einigen Jahren immer wahr- setzung. In den letzten Jahren wurde zuneh-
scheinlicher geworden, dass Interaktion, und mend wahrscheinlicher, dass solche metakog-
zwar das ,Aushandeln‘ von Verständigungsre- nitive Überformung aktueller Sprachverar-
sultaten, eine wichtige Rolle im Spracherwerb beitungsprozesse erwerbsfördernd ist; heftig
spielen könnte (Allwright/Bailey 1991, 119ff.; umstritten bleiben die Erklärungen der Me-
Larsen-Freeman/Long 1991, 266ff.). Gewisse chanismen, die hierbei eine Rolle spielen (vgl.
interaktive Züge wie verständnisklärende Ellis 1990, 130ff.). Es ergeben sich hier starke
oder -sichernde Nachfragen sind einigerma- Impulse für ein Überdenken von Unterrichts-
ßen verlässliche Indizien für stattfindende strategien, die eine Beschäftigung mit Form-
Aushandlungsprozesse. Im plenaren Spre- aspekten eher vermeiden, aber auch für eine
chen im Unterricht fehlen sie, keineswegs neue Beschäftigung mit Problemen des Um-
überraschend, weitgehend. Die Kommunika- gangs mit Grammatik und ,präkommunikati-
tion in Lernergruppen weist häufig solche ven‘ Aktivitäten, die bisher praktisch in kaum
Merkmale auf, bes. ausgeprägt ist dies der einem Unterricht gefehlt haben, zu denen
Fall, wenn Aufgaben zu lösen sind, bei denen auch zahlreiche Typologisierungsversuche er-
die Beteiligten über notwendige, den anderen stellt wurden (vgl. Segermann 1992), deren
aber unbekannte Information verfügen und Analyse und Erforschung aber sowohl in der
genaues Formulieren bzw. Verstehen gefor- Didaktik wie in der Unterrichts- und Lerner-
dert ist, um das gemeinsame Ziel zu erreichen sprachforschung arg vernachlässigt wurde.
256 IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch

5.4. Didaktische Ansätze Aktivitäten miteinander in Verbindung ge-


Didaktische Entscheidungen werden nicht in bracht werden. Noch recht einfache Beispiele
einfacher Abhängigkeit von bezugswissen- sind etwa Zwei-Weg-Übungen, komplexer
schaftlichen Erkenntnissen getroffen, viel- angelegt sind Formen wie das Dicto-Comp
mehr sind der Unterricht und unterrichtsbe- oder die teilweise höchst kunstvollen Formen
zogenes Handeln selbst wesentliche Faktoren interaktiver Textrekonstruktion, wie sie Gern-
in der Entwicklung neuer Lehrverfahren und gross/Puchta (1992) vorschlagen. Diese Bei-
-techniken. Deutlich wird dies an alternativen spiele stehen für den Versuch, anspruchs-
Methoden (vgl. Art. 86) wie etwa der Sugge- volle, verschiedenste Sprachtätigkeiten inte-
stopädie, der Methode des Total Physical Re- grierende Arbeitsformen nicht einfach lebens-
sponse, dem Community Language Learning weltlichen Modellen nachzubilden, sondern
usw., die z. T. ganz unabhängig von der fach- im Hinblick auf die Bedingungen und Ziele
internen Diskussion entwickelt worden sind. des Unterrichts explizit schulische und gleich-
Ihnen gemeinsam ist, dass sie ein teilweise zeitig attraktive „selbststeuernde Diskurswel-
hohes Maß an Interaktion und Kommunika- ten“ zu entwerfen, in denen lerntheoretische
tion fördern, dabei aber sehr viel „Künstlich- Forderungen wie die nach selbständiger Ori-
keit“ sowie sprachgerichtete Aktivitäten zu- entierung der Lernenden, tiefer Verarbeitung,
lassen. Ihr Reiz besteht darin, dass sie Unter- Transkodierung, inhärenter Repetition und
richt radikal als Lernsituation definieren. Die kontextbezogener Bearbeitung sprachlicher
von ihnen propagierten Verfahrensweisen Elemente mit erfüllt werden.
bieten in ihrem Ensemble eine genuin didak- Abschließend kann festgehalten werden: Zu
tische, d. h. an die Bedingungen bewusst un- Beginn der kommunikativen Wende stand die
ternommenen Lernens angepasste Form von Forderung im Zentrum, eine natürliche Kop-
Kommunikation und Sprachkontakt. pelung von Sprechhandeln und Sprachtätig-
Der didaktische Mainstream scheint der keiten nach dem Modell alltagweltlicher Ziel-
Entwicklung, die in diesen Alternativen vor- situationen auch im Unterricht zu erreichen.
gezeichnet und die mittlerweile wissenschaft- Diese Tendenz wird immer deutlicher überla-
lich diskutierbar ist, in verschiedener Hin- gert und abgelöst durch einen Zugang, der
sicht zu folgen. Indizien, die darauf hinwei- von einer neuen, gegenüber den audiolingua-
sen, sind etwa die folgenden: len Versuchen aber völlig anders begründeten
(1) Lesen und Schreiben, als Zieltätigkeiten Zuversicht in den Sinn und die Notwendig-
für die meisten Lernenden lange Zeit als eher keit spezifisch unterrichtlicher Verfahren ge-
unwichtig beurteilt, werden immer deutlicher prägt ist. In dieser Verschiebung von Schwer-
als potente Lernmedien wahrgenommen. Die punkten bleibt das grundsätzliche Lernver-
Langsamkeit und Komplexität der Sprach- fahren unbestritten: Sprachen werden vorab
verarbeitung im Schriftlichen lässt diese For- kommunizierend gelernt. Eine wichtige Präzi-
men des Sprachkontakts den Bedingungen sierung erfährt jedoch die Zielbestimmung: Es
lernersprachlicher Performanz in mancher ist nicht das Ziel des Fremdsprachenunter-
Beziehung besser angepasst erscheinen als richts, kommunizieren zu lernen. Grundsätz-
mündliche Aktivitäten, gleichzeitig ermög- lich wird die Fähigkeit zu kommunizieren,
licht die Arbeit an Texten lehrerunabhängi- d. h. mit sprachlichen Mitteln Beziehungen
gen, gleichwohl hochstrukturierten Sprach- und Situationen zu gestalten, in und mit der
kontakt. Muttersprache erworben. Im Vordergrund
(2) Fragen der Grammatik, der Gramma- fremdsprachlichen Lernens stehen die Mittel
tikdarstellung und des Übens stoßen auf des sprachlichen Ausdrucks. Wenn heute der
neues Interesse, ebenso (in Zusammenhang Sprachbewusstheit und dem Wissen über
mit dem in Pkt. 1 Gesagten) solche der Text- Sprache eine neue und wichtige Rolle zuer-
grammatik, der Textstrukturierung und der kannt wird, so kommt darin dieser zentrale
Lexis im Text. Traditionelle Themen werden (allerdings nicht ausschließliche) Mittelbezug
hier ganz neu aufgenommen und interpretiert des Fremdsprachenlernens zu seinem nicht
(McCarthy/Carter 1994). nur praktisch zugestandenen, sondern auch
(3) Eine höchst folgenreiche Tendenz geht theoretisch verbrieften Recht. Lernersprache
dahin, Formen der Interaktion und der Be- und lernersprachliche Kontexte bilden auch
schäftigung mit Sprache zu schaffen, in de- in dieser Beziehung gegenüber sowohl mut-
nen kommunikative und sprach- bzw. gram- tersprachlicher wie zielsprachlicher Umwelt
matikbezogene, mündliche und schriftliche „a third culture in its own right“ (Kramsch
21. Sprechhandlungen und unterrichtsspezifische Sprachtätigkeiten 257

1993, 9). Entsprechend verändert sich der Karpf, Annemarie (1990): Selbstorganisationspro-
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258 IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch

22. Übersetzen und Deutschunterricht

1. Kurzer historischer Überblick über die Rolle position gegen die Verwendung von Überset-
der Übersetzung im Fremdsprachenunterricht zungen zum Zwecke der Vermittlung fremd-
2. Theoretische Grundlagen für einen sprachlicher Kompetenz. In ihrer extremsten
verbesserten Einsatz des Übersetzens im
Form machte diese Opposition Front gegen
Fremdsprachenunterricht
3. Kontrastiv-pragmatische Analysen als jedwede Verwendung von Übersetzungen. Zu
Grundlagenforschung für den Einsatz eines Beginn des 20. Jhs. setzte sich dann als eine
„kulturellen Filters“ Art „Synthese“ eine balanciertere Einschät-
4. Zum Einsatz von Übersetzungen im zung der Rolle der Übersetzung und, mit ihr,
Deutschunterricht der Natur des Fremdsprachenlernens und
5. Literatur in Auswahl -lehrens durch. So wandte sich z. B. Henry
Sweet gegen die überzogene Agumentation
1. Kurzer historischer Überblick über verschiedener Anhänger der direkten Me-
thode, dass es hauptsächlich dem Einsatz
die Rolle der Übersetzung im von Übersetzungen im Fremdsprachenunter-
Fremdsprachenunterricht richt zuzuschreiben sei, wenn im Fremdspra-
chenunterricht die direkte Assoziation von
Die Übersetzung als klassisches kognitives, in-
fremdsprachlichen lexikalischen Einheiten
terlinguales und kontrastives Verfahren ist seit
mit ihren außersprachlichen Referenten ver-
langem Bestandteil fremdsprachenunterricht-
hindert wird. Sweet (1964, 197ff.) empfahl
licher Übungs-, Test- und Lernzielkataloge.
dagegen einen reflektierten Gebrauch von
Übersetzungen aus einer Fremdsprache wur-
den wahrscheinlich zuerst im 3. Jh. von La- Übersetzungen aus der Fremdsprache vom
teinlehrern in griechischsprachigen Teilen des Anfangsunterricht an mit dem Ziel, fremd-
Römischen Reiches verwendet. Jahrhunderte sprachliches und fremdkulturelles Wissen
lang war dann die Übersetzung aus dem Latei- präziser und effizienter zu vermitteln. Über-
nischen und in das Lateinische wesentlicher setzungen in die Fremdsprache sollten dage-
Bestandteil des Unterrichts in den klassischen gen ⫺ wenn überhaupt ⫺ nur dann eingesetzt
Sprachen Griechisch und Latein. Über die werden, wenn eine voll entwickelte Kompe-
Verwendung von Übersetzungen beim Lehren tenz in der Fremdsprache gegeben sei, denn,
und Lernen moderner Fremdsprachen gibt es so Sweets Argumentation, in eine nur unvoll-
bis zum Ende des 18. Jhs. aber keinen systema- ständig beherrschte Sprache zu übersetzen,
tischen Überblick, da diese Sprachen haupt- sei eine Übung, die entweder zu Abweichun-
sächlich mündlich und informell im privaten gen oder völligem Fehlschlag verdammt ist.
Kontakt mit Muttersprachlern erworben wur- In jedem Falle sollte die Übersetzung isolier-
den. Ab dem ausgehenden 18. Jh. wurde die ter, kontextloser Sätze vermieden werden.
Übersetzung in die modernen Fremdsprachen Der Einfluss gemäßigter Theoretiker wie
dann zum wichtigsten Mittel des Unterrichts Sweet, aber auch Jespersen, Palmer u. a. so-
innerhalb der sog. „Grammatik-Überset- wie der „radikaleren“ Verfechter der Direk-
zungsmethode“ (vgl. Art. 86). Hier wurden ten Methode und anderer Reformmethodiker
grammatische Regeln in Übersetzungen ge- ⫺ herausragend Viëtor ⫺ reichte jedoch nicht
übt und durch Übersetzungen abgefragt ⫺ aus, die Beliebtheit der Übersetzung im
eine Praktik, die der Fremdsprache als einem Fremdsprachenunterricht zu untergraben, so
lebendigen ,Organon‘ deshalb in keiner Weise dass z. B. im Tertiärbereich bis heute ⫺ vor-
gerecht wurde, weil größtenteils isolierte, bei an allen seit hundert Jahren vorgebrach-
künstlich konstruierte Sätze übersetzt wur- ten stichhaltigen Argumenten ⫺ Übersetzun-
den. Erst zum Ende des 19. Jhs. formierte gen in die Fremdsprache zu Übungs- und
sich jedoch in der Fremdsprachenlehrmetho- Testzwecken in großem Stil angewendet wer-
dik ⫺ unterstützt durch das Aufkommen der den, d. h. obwohl die Übersetzung in den sich
jungen Disziplinen Linguistik und Psycholo- in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts in
gie ⫺ in verschiedenen Teilen Europas (ver- großen Pendelbewegungen (vgl. hierzu Stern
bunden mit der Reformbewegung und der 1983) abwechselnden Lehrmethoden theore-
sog. „Direkten Methode“ und gefördert tisch nicht gerechtfertigt schien, hat sie sich
durch Theoretiker und Praktiker wie Marcel, in der Praxis des Fremdsprachenunterrichts
Sauveur, Gouin und Viëtor) eine starke Op- eindeutig behauptet. In Deutschland hat be-
22. Übersetzen und Deutschunterricht 259

sonders Wolfgang Butzkamm (1980) ⫺ im steht heute nicht mehr im Zentrum fremdspra-
Gefolge von Dodson ⫺ für die sog. „Aufge- chenunterrichtsmethodischer Überlegungen,
klärte Einsprachigkeit“ und für eine „Bilin- ja man kann sogar sagen, dass sie heute nur
guale Methode“ plädiert, die ganz explizit noch wenig Beachtung findet. Dies gilt in be-
mit Übersetzungen operiert. Darüber hinaus sonderem Maße für Überlegungen zur Rolle
haben in den sechziger und siebziger Jahren der Übersetzung im Deutschunterricht, in
viele Sprachlehrforscher und Fremdspra- dem durch die oft stark heterogenen Lerner-
chendidaktiker eine Debatte über die „Pros gruppen die Übersetzung kaum je ins Zen-
und Kontras“ des Einsatzes von Übersetzun- trum des Interesses gerückt wurde. Dies be-
gen in Schule und Hochschule geführt. Hier- deutet aber nicht, dass die unterrichtliche
bei wurde oft auf kontrastive linguistische Verwendung von Übersetzungen, wenn sie
Arbeiten Bezug genommen, die zur Legitima- denn vorkommt, sich wesentlich verbessert
tion der Übersetzung den theoretischen Rah- hätte, d. h. reflektierter, professionalisierter,
men liefern sollten, d. h. man versuchte, (be- besser legitimierbar geworden wäre. Noch
scheidene) kontrastive Analysen im Fremd- immer werden Übersetzungen im Fremdspra-
sprachenunterricht mittels Übersetzungen chenunterricht als eines der Mittel zur Erzie-
durchzuführen, in dem man in kleinen inten- lung sprachlicher Kompetenz verwendet oder
siven Dosen die Aufmerksamkeit insbeson- empfohlen, d. h. Übersetzungen werden im
dere fortgeschrittener Lernender auf struktu- Wesentlichen als eine Übungsform zu folgen-
relle (lexikalische und morphosyntaktische) den Zwecken benutzt:
Unterschiede zwischen Mutter- und Fremd-
sprache richtete und deren Bewusstheit bzgl. 1. zur Veranschaulichung und Erklärung
sprachtypologischer Kontraste erweiterte grammatischer Phänomene und Regeln und
(Wilss 1973). Doch darf nicht vergessen wer- um bestimmte Regeln und Konstruktionen
den, dass sich besonders für den Bereich der mittels konstruierter Sätze einzuüben,
Hochschulsprachpraxis seit den sechziger 2. um bei Erklärungen im Unterricht zu
Jahren auch eine starke Opposition bildete, kontrollieren, ob die Lernenden bestimmte
die sich ⫺ aus heutiger Sicht durchaus fol- Strukturen, Wörter und Kollokationen rich-
genlos ⫺ gegen die Praxis der Übersetzung tig verstanden haben (meist ohne Angabe ei-
insbes. literarischer Texte in den fremd- nes reicheren Kotextes und Kontextes),
sprachlichen Abteilungen der Universitäten 3. um der Lehrerin ein problemlos einzuset-
stark machte (überzeugend bereits Söll 1966). zendes Mittel zum Testen größerer Gruppen
Das Hauptargument gegen die Übersetzung von Lernenden bzgl. einer Vielzahl größten-
war und ist sicher die Tatsache, dass Überset- teils unspezifizierter Kenntnisse und Fertig-
zen eine eigene „fünfte“ Fähigkeit/Fertigkeit keiten an die Hand zu geben, wobei zumeist
ist, deren Relation zu den „klassischen“ vier beim Auswerten dieser „Tests“ ausschließlich
Fähigkeiten/Fertigkeiten des Hörverständnis- auf sprachliche Korrektheit oder aber undefi-
ses, der Lesefähigkeit, der Sprechfähigkeit nierte „stilistische Angemessenheit“ geachtet
und der Schreibfähigkeit absolut unklar bzw. wird. Diese Art der Verwendung von Über-
vermutlich nur sehr indirekt ist. Ferner gilt, setzungen im Fremdsprachenunterricht geht
dass durch Übersetzungen zwar zweifellos jedoch völlig vorbei an dem tatsächlichen
eine Art (Meta-)Wissen über und eine Sensi- pädagogisch-didaktischen Potential der Über-
bilisierung für sprachliche Besonderheiten setzung. Zunächst gilt, dass beim Einsatz von
der Fremdsprache im Kontrast zur Mutter- Übersetzungen als Übungen im Fremdspra-
sprache ausgebildet werden kann, nicht aber chenunterricht in keinem Fall die Aufmerk-
die aktive Beherrschung der Fremdsprache in samkeit der Lernenden ausschließlich auf
der Kommunikation. Nicht einmal die formale sprachliche Eigenschaften von Wör-
Schreibfähigkeit kann zuverlässig durch tern, Kollokationen und Sätzen in Original
Übersetzungen entwickelt werden, denn und Übersetzung gelenkt werden darf, viel-
durch das „Korsett“ vorgegebener und beim mehr muss die Wichtigkeit situativer, kon-
Übersetzen äquivalent zu haltender lexikali- textueller und pragmatischer Bedeutungen
scher und syntaktischer Strukturen ergibt von Worten, Wortverbindungen, Sätzen und
sich eine nicht wegzuleugnende Differenz Texten deutlich gemacht werden, so dass der
zwischen fremdsprachlichem Schreiben und Handlungszusammenhang, in dem sprachli-
Übersetzen in die Fremdsprache. che Einheiten stehen, systematisch mit dem
Die Kontroverse über die Verwendung von Aufbau sprachlicher Formen in einem Text
Übersetzungen im Fremdsprachenunterricht verknüpft werden kann.
260 IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch

Ein weiterer, vielleicht noch wichtigerer lichen Verwendung des Begriffs deutlich her-
Grund für die auch heute noch unangemes- vorgeht ⫺ nicht mit „Identität“ zu verwech-
sene Verwendung von Übersetzungen im seln. Äquivalenz ist zugleich das Hauptkrite-
Fremdsprachenunterricht ist die Tatsache, rium für die Evaluation von Übersetzungen
dass das Wesen der Übersetzung weder von und somit besonders für unterrichtliche Ver-
den Gegnern ihrer Verwendung im Fremd- wendungen der Übersetzung unverzichtbar.
sprachenunterricht noch von ihren Fürspre- Eine Übersetzung und ihr Original sind
chern richtig erfasst wird. Für eine fundierte dann äquivalent, wenn die Übersetzung eine
Diskussion der Rolle der Übersetzung im Funktion hat, die der Funktion des Originals
Fremdsprachenunterricht bedarf es zunächst äquivalent ist. Der Begriff Funktion ist hier
eines theoretischen Fundaments zum Ver- nicht gleichzusetzen mit „Funktion von Spra-
ständnis dieser komplexen interlingualen che“, wie er in der Sprachphilosophie und der
Prozedur. Exemplarisch soll daher im folgen- Linguistik behandelt worden ist (z. B. von
den ein kurzer Abriss einer Theorie der Über- Bühler 1965; Jakobson 1960; Popper 1972),
setzung gegeben werden. Diese Ausführun- sondern ist im engeren Sinne als Funktion ei-
gen folgen der in House (1977, 1981, 1997) nes Textes pragmatisch zu definieren, näm-
dargelegten Übersetzungstheorie, die auf der lich als Verwendung des Textes in einem be-
Grundlage von pragmatischen Theorien des stimmten situativen Kontext. Die Textfunk-
Sprachgebrauchs, der Sprechakttheorie, der tion setzt sich zusammen aus zwei Funktions-
Diskursanalyse und Prager und Londoner komponenten, einer inhaltsbezogenen, kogni-
funktionaler und kontextueller Sprachtheo- tiv-referentiellen, und einer interaktions-
rien zu einem Modell für die Erstellung und oder personenbezogenen Komponente. Diese
die Kritik von Übersetzungen ausgearbeitet beiden Komponenten, die in Anlehnung an
worden ist. Halliday (1994) als ideationale und interper-
sonelle Komponente bezeichnet werden, sind
in jedem sprachlichen Produkt stets gleichzei-
2. Theoretische Grundlagen für einen
tig vorhanden, denn sie entsprechen den bei-
verbesserten Einsatz des den wichtigsten Sprachfunktionen, wie sie in
Übersetzens im allen philosophisch-linguistischen Klassifika-
Fremdsprachenunterricht tionen erkennbar sind.
Wenn die aus den beiden genannten Kom-
2.1. Eine funktional-pragmatische ponenten bestehende Funktion eines Textes
Übersetzungstheorie definiert wird als die Verwendung des Textes
Das Wesen der Übersetzung liegt in dem Ver- in einem bestimmten situativen Kontext, ei-
such, die „Bedeutung“ einer sprachlichen ner bestimmten Situation, so folgt daraus für
Einheit beim Überwechseln von einem die nähere Bestimmung dieser Funktion, dass
sprachlichen Kode in einen anderen äquiva- jeder Text mit der Situation, in der er einge-
lent zu halten. Wenn man davon ausgeht, bettet ist, in Beziehung gesetzt werden muss,
dass diese „Bedeutung“ aus drei verschiede- und dass hierfür die Begriffe „Situation“ oder
nen Komponenten besteht, einer semanti- „Kontext“ schärfer gefasst, d. h. analysierbar,
schen, einer pragmatischen und einer textuel- beschreibbar und erklärbar gemacht werden
len, dann kann man Übersetzen als das Er- müssen. Dies kann geschehen mit Hilfe des
setzen eines Textes in der Ausgangssprache konzeptuellen Instrumentariums der Regi-
durch einen semantisch, pragmatisch und sterlinguistik (z. B. Halliday 1989), in der die
textuell äquivalenten Text in der Zielsprache Verwendung von Sprache in verschiedenen
definieren. In dieser Konzeption des Überset- Kontexten mittels bestimmter situativer Pa-
zens ist der Begriff „Äquivalenz“ der Schlüs- rameter oder Dimensionen charakterisiert
selbegriff ⫺ ein Begriff, der heute in der wird. Mit Hilfe dieser Dimensionen wird das
Übersetzungstheorie nicht unumstritten ist sprachliche „Material“ aufgeschlüsselt, in-
(Koller 1995), der jedoch zur Charakterisie- dem versucht wird, im Text für jede dieser
rung für jeden Text, der als Übersetzung an- Situationsdimensionen sprachlich-textuelle
zusehen ist, unabdingbar ist, weil mit ihm die Korrelationen zu etablieren. Die sprachlichen
übersetzungskonstitutive „Übersetzungsrela- Korrelate der Dimensionen sind dann die
tion“ gekennzeichnet werden muss. Äquiva- Mittel, durch die die Textfunktion realisiert
lenz ist kein absoluter, sondern ein relativer wird, und die Textfunktion ergibt sich als Re-
Begriff. Insbesondere ist Äquivalenz natür- sultat einer detaillierten linguistisch-pragma-
lich ⫺ wie ja schon aus der alltagssprach- tischen Analyse entlang der Dimensionen,
22. Übersetzen und Deutschunterricht 261

wobei jede Dimension in charakteristischer die Textanalyse ist ferner die persönliche (af-
Weise die beiden Funktionskomponenten de- fektive) Einstellung der Textproduzenten
terminiert, die zusammen die Textfunktion („Stance“) gegenüber dem im Text wiederge-
ausmachen. Durch die Aufschlüsselung des gebenen Inhalt. Ferner wird mit der Dimen-
Textes gemäß bestimmter Dimensionen wird sion „Tenor“ auch die Stilebene des Textes er-
dann ein bestimmtes Textprofil erstellt, das fasst, ob also ein Text formell, informell oder
die Funktion eines Textes charakterisiert und umgangssprachlich verfasst ist. Mit der Di-
die individuelle Textnorm darstellt, nach der mension „Mode“ werden die Grade der je-
ein Text, der den Anspruch erhebt, eine weiligen Mündlichkeit und Schriftlichkeit er-
Übersetzung „im eigentlichen Sinne“ (Koller fasst sowie die Art und Weise, wie die Adres-
1992) zu sein, auszurichten ist. In House saten des Textes in die Vertextung miteinbe-
(1981) wurde das Postulat der Funktions- zogen werden, z. B. durch rhetorische Fragen,
äquivalenz für die Angemessenheit einer Verwendung von Pronomina, Wechsel der
Übersetzung dann wie folgt spezifiziert: da- grammatischen Modi oder Kontaktparenthe-
mit eine Übersetzung eine ihrem Original sen. Zur differenzierten Betrachtung von
äquivalente Funktion hat, müssen beide Mündlichkeit und Schriftlichkeit sind die von
Texte äquivalente Textprofile haben, d. h. Biber (1988, s. auch Biber und Finegan 1994)
eine Übersetzung wird genau wie das Origi- auf der Grundlage extensiver Korpusstudien
nal gemäß der gleichen Dimensionen analy- aufgestellten Parameter nützlich, mit denen
siert und der Grad und die Art und Weise, unterschiedliche Arten der Informationsdar-
wie die beiden Textprofile und Funktionen bietung erfasst werden können: (1) Involved
übereinstimmen oder voneinander abwei- vs. Informational (2) Explicit vs. Situation-
chen, entspricht dann dem „Gütegrad“ der Dependent (3) Abstract vs. Non-Abstract.
Übersetzung. Der Satz von Situationsdimen- Mit Hilfe eines solchen Instrumentariums
sionen ist also mit einer Art „Tertium Com- ist es möglich, die vielfältigen Schattierungen
parationis“ zu vergleichen, und mit diesem und Übergänge von „mündlichen“ und
Übersetzungsmodell kann eine detaillierte „schriftlichen“ Texten genauer zu bestimmen.
sprachlich-textuelle Analyse von Übersetzun- Dies wird insbesondere für die Charakterisie-
gen geleistet werden, indem für jede einzelne rung bestimmter „Gruppierungen“ von Tex-
Dimension lexikalische, syntaktische und ten oder „Genres“ wichtig. Der Begriff
textuelle Mittel der sprachlichen Realisierung „Genre“ ist für die Erstellung und Bewertung
bestimmter situativer Merkmale unterschie- von Übersetzungen insofern relevant, als
den werden können. hierdurch Klassen von Texten erfasst werden
Während sich das ursprüngliche Überset- können, deren Gemeinsamkeit in ihrem
zungsmodell von House (1977, 1981) an die Zweck, ihrer Funktion besteht. Mit der kon-
das Hallidaysche Registerkonzept ausdiffe- textuellen Kategorie „Register“ kann zwar
renzierende Konzeption Crystal’s und Davy’s die für das Übersetzen so wichtige Beziehung
(1969) anlehnte und für die Übersetzungs- von Text und Kontext beschrieben werden
analyse adaptierte, stellt das für die ausge- und es können funktionale Varietäten des
henden neunziger Jahre neu überarbeitete Sprachgebrauchs bestimmt werden, indem
Modell eine direkt auf der Hallidayschen sprachspezifische Merkmale mit rekurrieren-
Trias „Field ⫺ Tenor ⫺ Mode“ aufbauende den Merkmalen der Situation, in denen ein
Konzeption dar, die sich darüber hinaus mit Text konventionell verwendet wird, korreliert
dem Begriff „Genre“ auseinandersetzt und werden, doch bleibt eine Registerbeschrei-
systematische Differenzierungen von Münd- bung primär auf einzelne Merkmale an der
lichkeit und Schriftlichkeit vornimmt. Die sprachlichen Oberfläche beschränkt. Zur
Dimension „Field“ bezieht sich auf den „In- Charakterisierung „tieferer“ textueller Mu-
halt“ eines Textes, das in ihm angesprochene ster und Strukturen bedarf es einer anderen
Thema, wobei auch die „Granularität“ der Konzeptualisierung, die mit dem Begriff
Beschreibung, der Grad der Generalität oder „Genre“ versucht wird. Genre ist eine dem
Spezifizität zu beachten ist. „Tenor“ bezieht Register übergeordnete Kategorie. Während
sich auf den Textproduzenten (seine tempo- Register Texte mit dem unmittelbaren situati-
rale, soziale und geographische Herkunft) ven „Mikrokontext“ verbinden, verbinden
und die Textadressaten sowie die Beziehung Genres sie mit dem „Makrokontext“ der
zwischen Textproduzenten und Adressaten Sprach- und Kulturgemeinschaft. Register
im Sinne von Autorität, Distanz und affekti- und Genre sind beides semiotische Systeme,
ver Beziehung. Von besonderem Interesse für die mit Sprache realisiert werden, so dass das
262 IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch

Verhältnis zwischen Genre, Register und den. Solche Texte wenden sich direkt an aus-
Sprache/Text als eines zwischen semiotischen gangssprachliche Adressaten, obwohl sie na-
Ebenen, die sich nach Art der Hjelmslevschen türlich auch für Adressaten der Zielkultur re-
Inhalts- und Ausdrucksebenen zueinander in levant sein können, denn sie sind ⫺ als litera-
Beziehung setzen lassen (vgl. Martin 1993), rische Texte ⫺ von allgemeinem menschli-
d. h. die Wahl eines bestimmten Genres wird chen Interesse. Neben solchen „zeitlosen“
durch die Wahl bestimmter Register reali- Texten gehören auch historisch verankerte
siert, die ihrerseits durch die Wahl bestimm- Ausgangstexte zu der Gruppe von Texten, die
ter sprachlicher Merkmale realisiert werden. für offene Übersetzung prädestiniert sind.
Bezüglich des Modells von House (1997) Wenn z. B. eine Rede Churchills, die er wäh-
bedeutet diese Charakterisierung von Regi- rend des 2. Weltkriegs vor dem Rathaus einer
ster, Genre und Textfunktion nun ⫺ zusam- nordenglischen Kleinstadt hielt, oder eine
menfassend gesagt ⫺, dass hier auf den syste- Predigt Karl Barths in einem Baseler Gefäng-
matisch aufeinander aufbauenden Ebenen nis ins Deutsche übersetzt wird, so ist das
Sprache/Text, Register und Genre ein indivi- Original in beiden Fällen gewissermaßen sa-
duelles Textprofil erstellt wird, welches die krosankt. Auf die drei Analyseebenen bezo-
Textfunktion charakterisiert. Diese Textfunk- gen, bedeutet dies: ein Original und seine of-
tion kann nun aber, wie sich auf der Grund- fene Übersetzung müssen auf den Ebenen
lage der Ergebnisse vergleichender Analysen Sprache/Text, Register und Genre äquivalent
von Originaltexten und Übersetzungen erge- sein. Die individuelle Textfunktion dagegen
ben hat, lediglich bei einem bestimmten Ty- ist nur „versetzt“ äquivalent, denn der über-
pus von Übersetzungen äquivalent gehalten setzte Text dient gewissermaßen nur dazu,
werden, nämlich im Falle sog. verdeckter (co- Zugang zu der Funktion zu ermöglichen, die
vert) Übersetzung, nicht aber bei offener der Originaltext in seinem Bezugsrahmen und
(overt) Übersetzung. Die Unterscheidung seiner Diskurswelt gehabt hat. Da dieser
dieser beiden grundlegenden Übersetzungsty- „Zugang“ aber in der Zielkultur und durch
pen geht zurück auf Schleiermachers „ein- die in einer anderen Sprache verfasste Über-
deutschende“ und „verfremdende Überset- setzung geleistet werden muss, wird ein
zung“, wird aber in House (1981, 1997) in Wechsel der Diskurswelt und des Bezugsrah-
eine kohärente Theorie eingebunden, in der mens unumgänglich, d. h. die Übersetzung
sie in ihrer Genese und Funktion konsistent „lebt“ in einer anderen Diskurswelt, ist an-
beschrieben und erklärt werden. Im Folgen- ders vernetzt und „eingerahmt“ als das Origi-
den wird diese Begrifflichkeit kurz erläutert. nal. Wegen der notwendigen Äquivalenz auf
Übersetzungen sind immer zugleich Orte den Ebenen Sprache/Text und Register wird
des Sprach- und Kulturkontakts und Medien aber die Diskurswelt und der Bezugsrahmen
des Transfers. Doch werden hier nicht nur im des Originals ko-aktiviert, so dass die Ange-
materiellen Sinne Texte durch Zeit und Raum hörigen der Zielkultur in das Original „hin-
„bewegt”, es wandeln sich beim Übersetzen einlauschen“ und die Funktion des Originals
zugleich die Bezugsrahmen (Frames) der be- wahrnehmen können ⫺ wiewohl aus einer ge-
troffenen Texte sowie die Diskurswelten, in wissen Distanz.
denen die Texte eingebettet sind. Bezogen auf Die Arbeit des Übersetzers in offenen
die beiden Begriffe „offene“ und „verdeckte“ Übersetzungen ist bedeutsam, denn die Re-
Übersetzung bedeutet die Veränderung von sultate sind deutlich sichtbar und der Über-
Bezugsrahmen und Diskurswelt nun Folgen- setzer ist hier ganz explizit derjenige, der „das
des: bei offener Übersetzung kann die Funk- Fremde“ dem „Eigenen“ zuführt und der es
tion des Originals nicht erhalten bleiben, nur den Übersetzungsadressaten ermöglicht, den
eine Art „versetzte Funktion“ (Second Level Originaltext in einem anderen Code kennen-
Function) kann erzielt werden, denn eine of- zulernen und ihn zu verstehen, was aber ⫺
fene Übersetzung bettet den Text in ein neues wegen der Kopräsenz zweier „Welten“ ⫺ nur
soziales Ereignis ein, gibt ihm einen neuen mit einem Bemühen um das, was Words-
Rahmen und lässt ihn in einer neuen Diskurs- worth „willing suspension of dislief“ genannt
welt operieren. Eine offene Übersetzung äh- hat, gelingen kann.
nelt einem Zitat. Beispiele für Ausgangstexte, In verdeckter Übersetzung dagegen be-
die sich für offene Übersetzungen anbieten, müht sich der Übersetzer, mit seiner Überset-
sind literarische Texte, die durch den Status zung ein äquivalentes kulturelles Ereignis zu
ihres Autors an die Sprach- und Kulturge- konstruieren, d. h. beim verdeckten Überset-
meinschaft gebunden sind, in der sie entstan- zen ist es möglich und nötig, die Funktion,
22. Übersetzen und Deutschunterricht 263

die das Original in seinem kulturellen Rah- ist, durch Aufoktroyieren fremder Normen
men und in seiner Diskurswelt hatte, im zu kultureller Homogenität, zur Nivellierung
Übersetzungstext zu re-kreieren oder repro- sprachlich-kultureller Vielfalt in Register und
duzieren. Eine verdeckte Übersetzung ope- Genreentfaltung beitragen. In der poststruk-
riert ganz „offen“ in dem neuen Rahmen und turalistischen und postmodernen Überset-
der neuen Diskurswelt der Zielkultur, ohne zungstheorie wird dieser Aspekt kritisch her-
dass die Diskurswelt, in der das Original „ge- vorgehoben, es wird empfohlen, dass Über-
lebt“ hat, ko-aktiviert wird. Verdeckte Über- setzungen offen die Andersheit der Zielkultur
setzung ist deshalb psycholinguistisch gese- zelebrieren und den Übersetzer aus seiner
hen weniger komplex als offene Übersetzung. „Unsichtbarkeit“ („Invisibility“) befreien sol-
Doch wird hier gewissermaßen „mit verdeck- len (vgl. z. B. Venuti 1995).
ten Karten gespielt“. Der Übersetzer hat die Bezogen auf das im Übersetzungsmodell
Aufgabe, zu täuschen und sich selbst hinter von House (1997) vorgeschlagene Beschrei-
der Verwandlung des Originals zu verbergen. bungsinstrumentarium, bedeutet verdeckte
Beispiele für Texte, die verdeckte Überset- Übersetzung Folgendes: Auf den Ebenen
zungen erforderlich machen, sind journalisti- Sprache/Text und Register brauchen Original
sche Texte, die in multinationalen Zeitschrif- und Übersetzung nicht äquivalent zu sein,
ten erscheinen, Werbeschriften für Produkte, das Original kann mit Hilfe eines „kulturellen
die in verschiedenen Sprachgemeinschaften Filters“ manipuliert werden. Wichtig ist je-
verbreitet sind, Informationsbroschüren für doch, dass diesem kulturellen Filter Substanz
Touristen verschiedener Nationalitäten und durch die Ergebnisse empirischer Forschung
Texte, die in globalisierten Firmen verwendet gegeben wird. Dies wird in Abschnitt 3. unten
werden. Die Übersetzung solcher Texte ist ausgeführt. Auf der Ebene Genre und bzgl.
verdeckt, weil sie pragmatisch nicht mehr als der individuellen Textfunktion müssen Über-
Zieltext eines Ausgangstextes markiert ist setzung und Original jedoch äquivalent sein.
und es durchaus denkbar ist, dass sie das Dies bedeutet, dass eine theoretische Unter-
„Original“ ist. Original und verdeckte Über- scheidung gemacht wird zwischen einer „ver-
setzung haben äquivalente Zielsetzungen. deckten Übersetzung“ und einer „verdeckten
Ausgangs- und Zieltextadressaten sind glei- Version“, wobei eine Version dann per defini-
chermaßen „direkt angesprochen“. Doch tionem keine Übersetzung mehr ist. Sie resul-
müssen bei diesem Übersetzungstyp, gerade tiert aus der nicht nachvollziehbaren Anwen-
weil hier die Originalfunktion erhalten blei- dung eines kulturellen Filters, d. h. es fließen
ben soll, eventuell unterschiedliche kulturelle unverifizierte subjektive Einschätzungen des
Präsuppositionen und Erwartungsnormen Übersetzers ein, auf Grund derer das Origi-
der beiden Adressatengruppen berücksichtigt nal verfälscht wird. Theoretisch abgegrenzt
werden. In solchen Fällen muss ein „kulturel- werden Übersetzungen auch von sog. „offe-
ler Filter“ zwischen Ausgangs- und Zieltext nen Versionen“, bei denen eine besondere se-
geschoben werden. Die Entscheidung, ob ein kundäre Funktion ganz „offen“ für die Über-
solcher Filter notwendig und legitim und wie setzung eingeführt wird, wenn beispielsweise
er beschaffen ist, kann nur auf Grund der Shakespeares Dramen für Kinder übersetzt
Ergebnisse empirischer Forschung, d. h. oder deutsche Zusammenfassungen von eng-
sprachpaarspezifischer kontrastiv-pragmati- lischen Artikeln erstellt werden (vgl. hierzu
scher Analysen getroffen werden, wie sie in auch Reiß 1971, die auf diese wichtige Unter-
Abschnitt 3. behandelt werden. scheidung sehr früh hingewiesen hat).
Da das Erreichen funktionaler Äquivalenz Zusammengefasst: Die für Übersetzungen
das Ziel jeder verdeckten Übersetzung ist, ist kritische Unterscheidung zwischen offener
es möglich und oft sogar notwendig, Ände- und verdeckter Übersetzung und zwischen
rungen am Original entlang der Ebenen offenen und verdeckten Versionen lässt sich
Sprache/Text und Register vorzunehmen. beschreiben und erklären durch systemati-
Das Ergebnis kann dann eine große Distanz sche Unterschiede auf den sprachlich reali-
zwischen Übersetzung und Original sein, was sierten Registerdimensionen Field, Mode, Te-
zugleich der Grund dafür ist, dass verdeckte nor. Offene und verdeckte Übersetzung un-
Übersetzungen oft als Originale rezipiert wer- terscheiden sich drastisch bezüglich der Mög-
den. Verdeckt zu übersetzen, also die „Urhe- lichkeit, eine äquivalente individuelle Text-
berschaft“ seines Textes zu verschleiern, funktion zu erreichen. Nur bei verdeckter
schafft natürlich ethische Probleme und Übersetzung ist die Möglichkeit echter Funk-
kann, wenn die Ausgangssprache dominant tionsäquivalenz gegeben, und zwar durch den
264 IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch

Einsatz eines kulturellen Filters, der auf kon- d. h. in deutschen Diskursen wird häufig ein
trastiven pragmatischen Analysen basieren inhaltsfokussierter „transaktionaler“ Stil prä-
muss. Im Folgenden sollen exemplarisch feriert, in anglophonen dagegen ein „interak-
einige solche Forschungsarbeiten dargestellt tionaler“, adressatenfokussierter Stil. Dies
werden. hat auch Auswirkungen auf die größere
„Nähe“ angelsächsischer Fachtexte zu all-
tagsprachlichen Texten, als dies traditionell
3. Kontrastiv-pragmatische Analysen im Deutschen der Fall ist (oder war? s. hierzu
als Grundlagenforschung für den Abschnitt 4.). Bezüglich der beiden Halliday-
Einsatz eines „kulturellen Filters“ schen Funktionen von Sprache wird im Deut-
schen vielfach der ideationalen, im Engli-
Für das Sprachenpaar Deutsch-Englisch sind schen der interpersonalen Funktion der Vor-
im Rahmen größerer Projekte (Edmondson zug gegeben. In Bezug auf die Griceschen
et al. 1982; Blum-Kulka/House/Kasper 1989) Konversationsmaximen kann die Hypothese
eine Reihe kontrastiv-pragmatischer Analy- aufgestellt werden, dass deutsche Sprecher
sen über einen Zeitraum von mehreren Jahr- die Maxime „Quantity“ („Make your contri-
zehnten durchgeführt worden (Zusammen- bution as informative as required“) und die
fassung in House 1998), welche mit unter- Maxime „Manner“ („Be brief“) in anderer
schiedlichen Probanden (deutsche und anglo- Weise zu interpretieren scheinen als anglo-
phone Studierende, Lerner des Englischen, phone Sprecher.
Experten in verschiedenen wissenschaftlichen Die vorgeschlagenen Dimensionen inter-
und wirtschaftlichen Bereichen) und Metho- kultureller deutsch-englischer Unterschiede
dologien (Diskursanalysen von quasi-authen- werden durch die Ergebnisse anderer For-
tischen Interaktionen, Fragebögen, verglei- scher unterstützt (insbes. durch Clyne 1994).
chende Analysen von Paralleltext- und Über- In House (1997) findet sich eine Vielzahl
setzungskorpora, Feldnotizen, Interviews, von Beispielen publizierter Übersetzungen
Tagebucheinträge, Hintergrundsdokumente) verschiedener Genres, die die Vitalität dieser
zu einer Vielzahl von Einzelergebnissen ge- Dimensionen nahelegen. Fälle konkreter kul-
führt haben, welche in konvergierender Evi- tureller Filterung in Richtung größerer Expli-
denz bestimmte allgemeinere Hypothesen zitheit, verstärktem Inhaltsfokus und redu-
über deutsch-englische interkulturelle Unter- ziertem Adressateneinbezug liegen, um hier
schiede nahelegen. Folgende pragmatisch- nur einige wenige Beispiele aufzulisten, z. B.
diskursive Phänomene wurden untersucht: dann vor, wenn in einem populärwissen-
Sprechhandlungen, Diskursstrategien, Reali- schaftlichen anthropologischen Text aus dem
sierung bestimmter Phasen in Diskursen, UNESCO Courier die lockere englische
Gambits und Modalitätsmarkierungen. Die Phrase „anything on the human side“ im
Ergebnisse weisen auf ein ganz bestimmtes deutschen übersetzten Text im UNESCO
Muster von Unterschieden in Vertextungs- KURIER als „Arten mit Ansätzen von men-
normen und Stilkonventionen hin, welche schenartigen Merkmalen“ wiedergegeben ist.
sich als ein Satz von Dimensionen darstellen Oder wenn, im gleichen Artikel, der joviale,
lassen, entlang derer deutsche und anglo- den Leser umwerbende Satz „So palaeonto-
phone Sprecher differieren: logy is not all looking for fossils in old river
Direktheit J Indirektheit banks!“ im Deutschen einfach weggelassen
Orientiertheit auf den Sprecher J Orientiert- wird. Ein weiteres Beispiel für die Anwen-
heit auf die Adressaten dung eines kulturellen Filters Englisch-
Inhaltsorientiertheit J Adressatenorientiert- Deutsch ist die größere Direktheit im Deut-
heit schen in einem gleichermaßen an englische
Explizitheit der Darstellung J Implizitheit und deutsche Aktionäre gerichteten Schrei-
der Darstellung ben, in dem die diplomatisch-indirekte engli-
Ad-hoc-Formulierung J Verwendung sprach- sche Wendung „your bank should indicate“
licher Routinen zu „Sie müssen die Bank bitten“ wird. Man
vergleiche auch die im Englischen durch un-
Diese Dimensionen stellen Tendenzen dar persönliche Konstruktionen erwirkte Indi-
und sind nicht als feste Dichotomien zu wer- rektheit beim Auffordern in: „In order to
ten. Deutsche Muttersprachler tendieren zu avoid the possibility of accidental misdirec-
Werten am linken Ende dieser Skalen, anglo- tion of your certificate … your assistance is
phone Sprecher zu Werten am rechten Ende, required. We have enclosed a „Dividend In-
22. Übersetzen und Deutschunterricht 265

struction Form“ for your completion; this cher verstärkt unidirektional in Richtung
should be returned“ mit den zwar höflichen, Englisch-Deutsch verändert, wodurch dann
aber doch entschieden direkteren deutschen zunehmend „kulturneutrale“ ⫺ d. h. aber im
Aufforderungen in „Um zu vermeiden, dass Wesentlichen angelsächsisch westeuropäisch-
Ihre Zertifikate versehentlich fehlgeleitet wer- nordatlantisch geprägte ⫺ deutsche Texte aus
den, bitten wir Sie, das beigefügte Dividen- englisch-deutschen Übersetzungen entstehen
denzustellungsformular auszufüllen und … werden. Im Bereich „Software Handbücher“
zurückzuschicken“. ist bereits eine Tendenz zu angelsächsischen
Diese Unterschiede zwischen deutschen Normen unübersehbar. Während man z. B.
und englischen Stilnormen und Textkonven- noch vor zehn Jahren in Einführungen in
tionen werden heute durch den Einfluss des z. B. WordPerfect sachlich-informative genre-
Englischen als globaler Sprache einer Verän- getreue deutsche Texte zu lesen bekam, liest
derung unterzogen. Diese neue Entwicklung man heute z. B. in Microsoft Windows 98
soll im Folgenden skizziert werden. Übersetzung: Erste Schritte: „Willkommen!
Willkommen beim Betriebsystem Microsoft
3.1. Zum Einfluss des Englischen als Lingua Windows! Jetzt macht das Arbeiten in Win-
Franca auf das Deutsche durch dows noch mehr Spaß …“ und so weiter.
Übersetzungen Hier schlägt sich die „neue Mündlichkeit“ (in
Im Zuge fortschreitender Globalisierung und Biber’s 1988 Sinne) nieder. Die Auswirkun-
Internationalisierung in vielen Bereichen des gen auf Register und Genreformationen im
wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und kul- Deutschen sind noch nicht abschätzbar, si-
turellen Lebens ergibt sich ein zunehmender cher ist dies aber ein wichtiges Forschungs-
Bedarf an Texten, die gleichzeitig für Adres- feld (vgl. House 1999).
saten verschiedener Sprach- und Kulturge-
meinschaften gedacht sind, die also entweder
sofort als „parallele Texte“ in mehreren Spra- 4. Zum Einsatz von Übersetzungen im
chen erstellt werden oder aber verdeckt zu Deutschunterricht
übersetzen sind. Während bis vor kurzem in
diesen Fällen noch stets kulturelle Filter ein- Wenn Übersetzungen im Deutschunterricht
gesetzt wurden, mit Hilfe derer die Kultur- ⫺ wie allgemein im Fremdsprachenunterricht
spezifik der Zieltexte berücksichtigt wurde, ⫺ verwendet werden, so ist es unabdingbar,
ist neuerdings durch die immer deutlicher sie nicht als didaktisches Mittel für andere
werdende politische, wirtschaftliche und kul- Zwecke, sondern genuin als Übersetzungen,
turelle Dominanz der englischen Sprache ⫺ d. h. aber als kommunikative Handlungen zu
insbesondere in ihrer Funktion als Lingua verwenden, die eine reale kommunikative
Franca ⫺ ein Prozess der „Kulturneutralisie- Funktion erfüllen (vgl. auch Art. 98). Über-
rung“ in Gang gesetzt worden, der durch die setzungen ermöglichen es in der Regel einem
Revolution im Bereich der Kommunikations- Adressaten, einen ursprünglich unverständli-
und Informationstechnologien immer weiter chen ⫺ weil in einer fremden Sprache verfass-
verstärkt wird. In den kommenden Jahrzehn- ten ⫺ Ausgangstext zu verstehen. So trivial
ten wird, so eine plausible Hypothese, der dies klingen mag, es ist tatsächlich notwen-
Konflikt zwischen Kulturspezifik und Kul- dig, dies zu betonen, denn wenn Übersetzun-
turneutralität in der Darstellung von Sach- gen im Fremdsprachenunterricht eingesetzt
verhalten bei verdeckten Übersetzungen und werden, erfüllen sie kaum je reale kommuni-
die Spannung zwischen den Anforderungen kative Funktionen, da sie in der sui generis
an Vertextungen durch globale Informations- Situation des Fremdsprachenunterrichts häu-
und Marketingstrategien auf der einen Seite fig dazu dienen, der Lehrperson als dem
und lokalen kulturspezifischen Textualisie- „Übersetzungsauftraggeber“ nachzuweisen,
rungskonventionen auf der anderen Seite im- dass Lerner bestimmte in der Ausgangs-
mer ausgeprägter werden. Und während vor sprache verfasste Texte oder sogar kleinere
kurzem noch kulturelle Filterungen in beiden sprachliche Einheiten in „didaktisch äquiva-
Richtungen wirksam waren, wie z. B. die ver- lente“ Texte überführen können, wobei „di-
gleichenden Analysen eines Korpus deutscher daktisch äquivalent“ sich auf eine Äquivalenz
Übersetzungen englischer Kinderbuchtexte bezieht, die vom Lehrer selbst determiniert
und englischer Übersetzungen deutscher Kin- wird. Mit Übersetzung in der „außerunter-
derbuchtexte deutlich gezeigt haben (vgl. richtlichen Welt“ hat dies kaum etwas zu tun.
House, erscheint), so wird in der Zukunft si- Diese Sachlage erklärt auch, warum der
266 IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch

Zweck solcher didaktischer Übersetzungen Rahmen zur Beschreibung und Erklärung des
Lernern häufig nicht einsichtig ist, denn wie Übersetzens auszustatten, denn unterricht-
schon vor über zwanzig Jahren Eugene Nida liche Übersetzungsaktivitäten sollten stets
betont hat: „There is no point in making a mit Textanalysen und begründeten Bewertun-
translation apart from a situation involving gen der Übersetzungsprodukte einhergehen.
real interlingual communication“ (1977, 215). Aus der Unterscheidung in offene und ver-
Eine Lösung, die sich ganz offensichtlich an- deckte Übersetzung und didaktische versus
bietet, wenn es darum geht, auch innerhalb kommunikative Übersetzungsübungen im
eines vorgegebenen didaktischen Kontextes Deutschunterricht ergibt sich eine klare Prio-
kommunikativ sinnvolle Übersetzungen an- rität verdeckter Übersetzungen im Kontext
zufertigen, wäre es, die den Lernern zu stel- der sprachpraktischen Ausbildung ⫺ und
lende Übersetzungsaufgabe organisch in eine zwar auf verschiedenen Niveaus der Sprach-
„reale“ Kommunikationssituation einzubet- kompetenz der Lerner. Ausgangstexte, die
ten und für die Erstellung der Übersetzung noch „lebendige“ Texte und nachvollziehbare
dann ein von den Lernern nachvollziehbares „sprachlich-soziale Ereignisse“ sind, weil sie
Kommunikationsbedürfnis zu simulieren. sich direkt an zwei sich gemäß soziolinguisti-
Hierzu ein einfaches Beispiel: „Nehmen Sie scher Charakteristika entsprechender zeitge-
an, Sie sind Muttersprachlerin des Spani- nössischer Adressaten(gruppen) wenden, las-
schen und haben gerade eine Stelle als Aus- sen sich für die Deutschlerner ohne Schwie-
hilfssekretärin bei Siemens in Braunschweig rigkeiten ⫺ mit ein bisschen Kreativität und
erhalten. Eine Ihrer ersten Aufgaben ist die Einfühlungsvermögen ⫺ als Teil einer nach-
folgende: Ihr Chef hat eben einen auf Spa- vollziehbaren Kommunikationssituation auf-
nisch verfassten Bericht von einem argentini- bereiten. Verdeckte Übersetzungsübungen
schen Geschäftspartner erhalten, in dem es sind von größerem unmittelbarem Interesse
um die Möglichkeiten und Bedingungen einer für die Lerner als die ausgangssprachgebun-
Erweiterung eines Kraftwerkes in San Nicho- denen, oft aus fernen Epochen stammenden,
las, Argentinien, geht. Er bittet sie jetzt, zu- häufig literarischen Dokumente, wie sie auch
nächst mündlich auf Deutsch einen kurzen heute noch mit Vorliebe in der sprachprakti-
zusammenfassenden Überblick über den In- schen Ausbildung in vielen insbesondere uni-
halt des Berichts zu geben und anschließend versitären unterrichtlichen Kontexten ver-
für die Akten und als Vorbereitung der dann wendet werden. Gegenüber der besonders
von ihrem Chef und ihnen gemeinsam zu ver- von muttersprachlichen Lehrenden stets mit
fassenden Antwort eine schriftliche deutsche Überzeugung vorgebrachten Präferenz „au-
Übersetzung anzufertigen.“ thentischer“ Texte ist besonders im Bereich
Nach diesem einfachen Muster können der Übersetzung mit beginnenden Lernern
viele Texte und Situationen, in denen „natür- Skepsis angebracht. Wenn es, wie ausgeführt,
liche“ zweisprachige Kommunikation vor- um die Einbettung didaktischer Prozeduren
kommt, konstruiert und durchgeführt wer- in kommunikative Situationen geht, dann ist
den (vgl. auch House 1977, wo viele weitere didaktische Aufbereitung und Simulation
Beispiele gegeben werden). Wie aus dem obi- verbunden mit einer „Willing Suspension of
gen Musterbeispiel ersichtlich wird, werden Disbelief“ unvermeidbar. Auch ist ⫺ wie
hier verschiedene Typen von Übersetzung ⫺ Edmondson und House (2000) und Widdow-
eine offene Version (die mündliche Zusam- son (1998) betont haben, in jedem Fremd-
menfassung) und eine verdeckte Übersetzung sprachenunterricht didaktische Authentizität
erforderlich. Aber auch andere in der oben grundsätzlich vorrangig vor außerunterricht-
dargestellten Theorie erfasste Übersetzungs- lich hergeleiteter Allerweltsauthentizität.
typen und Verfahren können unterrichtlich Mit Hilfe von verdeckten Übersetzungen
sinnvoll verwendet werden, wie im Folgenden ist es möglich, in der Tat notwendig, sprachli-
erläutert wird. ches und interkulturelles Wissen zu mobilisie-
ren, denn die in diesem Übersetzungstyp zu
4.1. Offene und verdeckte Übersetzung leistende kulturelle Filterung basiert auf die-
Bei jedem Einsatz von Übersetzungen im sem Wissen beziehungsweise kann zur Anre-
Deutschunterricht sollte die grundsätzliche gung einer von den Lernern zu leistenden
Unterscheidung in offene und verdeckte empirischen kontrastiv-pragmatischen For-
Übersetzungen sowie offene und verdeckte schung führen. Forschendes Lernen und Leh-
Versionen erläutert werden. Es wird dann nö- ren ist für diese Art kulturell gefilterter Text-
tig sein, die Lerner mit einem theoretischen (re)produktion somit ein wichtiger Bestand-
22. Übersetzen und Deutschunterricht 267

teil. Insgesamt kann angeregt werden, für 5. Diese Aufnahmen werden dann „verdeckt
unterrichtliche Übersetzungen eine flexible übersetzt“ in äquivalente Rollenspiele in
Ausweitung der „eigentlichen Übersetzung“ der Zielsprache.
vorzunehmen, also neben der Erstellung 6. Über die Rollenspiele in der Ausgangs-
mündlicher und schriftlicher Versionen (im sprache werden in schriftlichen Versionen
oben definierten Sinne) auch vor dem Über- Berichte verfasst.
setzen die Anfertigung des Ausgangstextes
selbst ⫺ an Hand bestimmter Vorgaben bei In solchen Übersetzungsaktivitäten wird die
den pragmatischen Dimensionen ⫺ als Be- Übersetzung nicht mehr als Methode zur
standteil von Übersetzungsübungen in Be- Vermittlung von Lexis oder Grammatik ein-
tracht zu ziehen. Ebenso ist die Produktion, gesetzt, sondern als Mittel zur Vorbereitung
Analyse und Evaluation von Übersetzungen auf interlinguale und interkulturelle Kommu-
mitnichten am besten in Einzelarbeit zu lei- nikation.
sten (vgl. hierzu House 1988, wo die Überle- Eine weitere interaktive Übersetzungs-
genheit von Teamarbeit beim Übersetzen de- übung liegt in der Methode des interaktiven
monstriert wird). Vor dem Hintergrund einer lauten Denkens. Hierbei übersetzen Paare
pragmatisch-funktionalen Übersetzungstheo- von Lernern Texte, wobei sie ihre Schwierig-
rie kann auch die kontrollierte und reflek- keiten beim Übersetzen in gemeinsam erar-
beiteten Lösungsstrategien und Entschei-
tierte Vernetzung der „fünften Fertigkeit“ des
dungsprozessen „laut denkend“ lösen. Diese
Übersetzens mit den anderen sprachlichen
Methode des gemeinschaftlichen Herange-
Fertigkeiten Lesen, Schreiben, Sprechen und
hens an eine Übersetzungsaufgabe hat sich in
Hören ein fester Bestandteil von Überset-
der Praxis als der Einzelübersetzung überle-
zungsaktivitäten sein. Dies ist nicht zu ver-
gen erwiesen, was Motivation, Effizienz und
wechseln mit dem traditionellen, oben be-
die Übersetzungsresultate betrifft (House
schriebenen „Missbrauch“ der Übersetzung
1988). Auch für die Korrektur von Überset-
zum Zwecke des Spracherwerbs. Möglichkei-
zungen, die sich immer noch viel zu oft in
ten solcher Fähigkeitsvernetzungen werden
langweiligem Satz-für-Satz-Besprechen, un-
im Folgenden dargestellt.
terbrochen von Monologen seitens der Lehr-
4.2. Übersetzen und Interaktion person, erschöpft, ist eine interaktive Me-
thode vorzuziehen, in der die Lerner ihre
Im Gefolge einer pragmatischen Diskursper-
Übersetzungen zunächst untereinander zu
spektive auf das Übersetzen als interlinguale
korrigieren versuchen und die Lehrperson
und interkulturelle Tätigkeit kann die Fähig-
erst in einem zweiten Schritt im Rahmen ei-
keit des Übersetzens durch von den Lernern
ner Plenumsdiskussion erläuternd eingreift.
praktizierte Analysen muttersprachlicher und
Dies ist aber nur dann möglich, wenn nach
fremdsprachlicher Diskurse und deren Über-
einem theoretisch fundierten, transparenten
setzungen und Versionen erfolgen (vgl.
und in sich schlüssigen Kategorienschema
House 1986). In diesen Übungen wird ein
vorgegangen wird, das den Lernern beschrie-
mündlicher Diskurs in der Ausgangssprache
ben, erklärt und begründet werden kann
analysiert und dann in einer Reihe aufeinan-
und muss.
derfolgender Teilschritte in einen schriftli-
chen Text in der Zielsprache übertragen. Hier 4.3. Übersetzen als Katalysator für
ein einfaches Beispiel: metasprachliche Reflexionen
1. Die Lerner hören einen Dialog in der Übersetzen kann im Unterricht als eine Art
Muttersprache und analysieren ihn auf der Katalysator dienen für Reflexionen über Spra-
Grundlage eines Diskursanalysemodells che allgemein, für Diskussionen über Sprach-
(z. B. Edmondson und House 1981). kontraste und Gemeinsamkeiten, nicht nur
2. Die Lerner hören und analysieren „äqui- auf den Ebenen des Lexikons, der Morpho-
valente“ Dialoge in der Fremdsprache. syntax, sondern auch auf den Ebenen der
3. Auf der Grundlage der Schritte 1 und 2 Pragmatik und des Diskurses. Auch bieten
werden Unterschiede und Gemeinsamkei- Übersetzungen Anlass für vielfältige meta-
ten der Interaktionsnormen und Konven- sprachliche Reflexionen über Sprachspezifik
tionen in den beiden Sprachen diskutiert. und Sprachuniversalität, über die Funktion
4. Rollenspiele zu den Dialogen werden von von Höflichkeit, Indirektheit und Redundanz
den Lernern in der Ausgangssprache ent- in verschiedenen Sprachen und über die Pro-
wickelt, aufgeführt und aufgenommen. blematik der Diskrepanz zwischen Form und
268 IV. Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch

Funktion beim Überwechseln von einem ods in Translation. In: Fremdsprachen Lehren und
sprachlichen Kode in einen anderen. Auf der Lernen 17, 84⫺98.
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V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer
Sicht

23. Text, Texttypen, Textsorten

1. Was ist ein Text? tionsformen von Wissen“ und will damit eine
2. Texttypen und Textsorten „evolutionstheoretische“ Begründung der
3. Ausblick: Anforderungen an eine Textlinguistik liefern.
Textsortenforschung für Deutsch als
Fremdsprache 1.1. Textdefinition
4. Literatur in Auswahl
Der Begriff ,Text‘ liegt zunächst in einem all-
tagssprachlichen Verständnis vor, das es wis-
1. Was ist ein Text? senschaftlich genauer zu fassen gilt. Alltags-
sprachlich wird unter ,Text‘ eine komplexere
Der Text als Untersuchungsgegenstand hat
(d. h. mehr als einen Satz umfassende),
eine lange Tradition in einer Reihe von Diszi-
(schriftlich) fixierte sprachliche Einheit ver-
plinen (wie etwa Literaturwissenschaft, Theo-
logie, Geschichtswissenschaft oder Jurispru- standen (vgl. Brinker 1997, 12). Wissenschaft-
denz), die aber einen je eigenen Zugang zum liche Versuche, das alltagssprachliche Kon-
Text und eigene Fragestellungen haben. Die zept ,Text‘ genauer zu fassen, hat es viele gege-
Textlinguistik, die Bedingungen und Regeln ben. Dabei lässt sich ⫺ parallel zur Entwick-
der Textkonstitution und zunehmend auch der lung der textlinguistischen Herangehenswei-
Textrezeption und -produktion systematisch sen ⫺ eine Linie von zunächst nur textinterne
zu beschreiben sucht, ist eine relativ junge Dis- Faktoren betreffenden Definitionen hin zu
ziplin; Textgestaltungs- und -produktionsre- auch stärker textexterne Faktoren berücksich-
geln, Fragen der (Textsorten-)Adäquatheit tigenden, kommunikationsbezogenen Defini-
u. ä. gehörten bis zur Begründung der Textlin- tionen feststellen (zu textintern/textextern vgl.
guistik als eigenständiger (Teil-)Disziplin in Gülich/Raible 1975, 151ff.). Allerdings darf
die Domäne der Rhetorik bzw. Stilistik. die textinterne, formalsprachliche Ebene über
In der Textlinguistik wurden zunächst der Berücksichtigung kommunikativer Fakto-
transphrastische Einheiten behandelt, die ren nicht vernachlässigt werden: Die konkrete
textanalytischen Untersuchungen waren dem- sprachliche Form eines Textes ist als zentraler
zufolge v. a. an satzübergreifenden formalen Untersuchungsgegenstand der Textlinguistik
Phänomenen interessiert; eine qualitative anzusehen (vgl. Weinrich 1993).
Wende der Textlinguistik kam mit einer stär- Eine erste frühe, auf einem rein textinter-
keren Berücksichtigung pragmatischer Fak- nen, grammatischen Kriterium beruhende
toren; neuere Ansätze wiederum gehen aus Definition liefert Harweg (1979), der Text als
von einem eher dynamischen und prozedura- ein durch ununterbrochene pronominale Ver-
len Textbegriff. Sowohl die verschiedenen kettung konstituiertes Nacheinander sprach-
Vorschläge, Texte zu definieren und in ihrer licher Einheiten beschreibt. Dass dieses Kri-
Konstitution zu beschreiben (vgl. 1.1. und terium der Kohäsion (in anderer Begrifflich-
1.2.), als auch die Ansätze zur Textsortenbe- keit: formalen Kohärenz) zur Definition
schreibung und zur Textsortentypologie (vgl. nicht ausreicht, wurde vielfach nachgewiesen
2.) spiegeln diese Entwicklung wider. (vgl. zuletzt Vater 1992, 18), auch (inhalt-
Eine ganz andere Herangehensweise an liche) Kohärenz ist notwendig, ja entschei-
den Begriff ,Text‘ fordert Ehlich (1984; 1994), dend.
der den Text als ein spezifisches Mittel für die Kommunikationsbezogene Definitionen
Ermöglichung von kommunikativ-sprachli- beschreiben den Text etwa als „die Gesamt-
cher Überlieferung sieht; Antos (1997) menge der in einer kommunikativen Interak-
schließlich bezeichnet Texte als „Konstitu- tion auftretenden kommunikativen Signale“
270 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

(Kallmeyer u. a. 1986, 45) oder wie folgt: Was schließlich das Kriterium der Abge-
„Text ist jeder geäußerte sprachliche Bestand- schlossenheit bzw. Autonomie von Texten be-
teil eines Kommunikationsaktes in einem trifft, so lässt sich dieses ebenfalls nicht sinn-
kommunikativen Handlungsspiel, der the- voll aufrechterhalten (vgl. dazu Püschels
matisch orientiert ist und eine erkennbare „Puzzle-Texte“, 1997). ,Text‘ ist (wie viele an-
kommunikative Funktion erfüllt, d. h. ein er- dere sprachwissenschaftliche Begriffe auch)
kennbares Illokutionspotential realisiert“ ein Begriff, der einen Kern und unscharfe
(Schmidt 1976, 150). Ränder hat; es gibt also prototypische Text-
Während die meisten Textlinguisten heute exemplare (diese sind schriftlich, relativ kom-
von einem kommunikationsbezogenen Text- plex, abgeschlossen, kohäsiv und kohärent)
begriff ausgehen, bleiben in der gegenwärti- und andere (marginalere) Textexemplare, die
gen Diskussion folgende Fragen strittig: die in einem oder mehreren Kriterien davon ab-
Frage der (ausschließlichen) Schriftlichkeit weichen.
oder auch Mündlichkeit von Texten, oft da-
mit verbunden die Frage der Monologizität 1.2. Kriterien der Textualität
bzw. Dialogizität; die Frage der Komplexität; Unter dem Begriff der Textualität wird die
die Frage der nonverbalen Zeichen und die Frage thematisiert, was einen Text konstitu-
Frage der Abgeschlossenheit. iert. Grundlegend sind auch hier wieder ⫺
Was die erste Frage betrifft, so umfassen abhängig vom Textverständnis ⫺ die Versu-
weite Textbegriffe auch mündliche Vorkom- che, sich auf rein textinterne Kriterien wie
men, also Diskurse (bzw. Gespräche). Gerade Kohäsion und Kohärenz zu beschränken
hinsichtlich einer Textsortenanalyse und un- oder auch textexterne Kriterien anzunehmen.
ter anwendungsbezogenen Fragestellungen Am weitesten ausgearbeitet und immer noch
scheint dies vernünftig, da gesprochene Vor- gut handhabbar sind die sieben Textualitäts-
kommen so nicht a priori ausgeschlossen kriterien von Beaugrande/Dressler (1981; vgl.
werden. Eine plausible Differenzierung in dazu etwa Heinemann/Viehweger 1991, 76f.
diesem Punkt, die nicht einfach zwischen oder Vater 1992, 31ff.). Text ist danach
Mündlichkeit und Schriftlichkeit unterschei- eine „KOMMUNIKATIVE OKKURRENZ
det, sondern systematisch von der Hand- (engl. „occurrence“), die sieben Kriterien
lungsqualität ausgeht, schlägt Ehlich (1984) der TEXTUALITÄT erfüllt.“ (Beaugrande/
vor: Demnach ist Text das Mittel der Überlie- Dressler 1981, 3).
ferung in einer „zerdehnten Sprechsituation“ (1) Kohäsion: Sie „betrifft die Art, wie
(d. h. bei nicht kopräsentischen Interaktan- die Komponenten des OBERFLÄCHEN-
ten), andernfalls handelt es sich um einen TEXTES, d. h. die Worte, wie wir sie tatsäch-
Diskurs. lich hören oder sehen, miteinander verbun-
Was die Frage der Komplexität von Texten den sind“ (1981, 3f.); Kohäsion beruht auf
betrifft, so ist eine Beschränkung auf Ein- grammatischen Abhängigkeiten und wird
heiten, die größer als ein Satz sind, unplausi- durch Mittel der Verweisung/Textphorik, wie
bel: kommunikationsorientierte Textbeschrei- etwa Proformen/Verweisformen, sowie Ellip-
bungsansätze gehen qualitativ und nicht sen, Konnektoren, Thema/Rhema, themati-
quantitativ vor. sche Progression oder Tempus gestiftet (vgl.
Nur eine Textdefinition, die auch textex- Art. 26).
terne Kriterien berücksichtigt, lässt grund- (2) Kohärenz: Sie „betrifft die Funktionen,
sätzlich auch die Einbeziehung nonverbaler durch die die Komponenten der TEXT-
Elemente zu; aber dies ist nicht notwendiger- WELT, d. h. die Konstellation von KON-
weise der Fall (vgl. oben Kallmeyer 1986, 45 ZEPTEN (Begriffen) und RELATIONEN
vs. Schmidt 1976, 150); nonverbale Elemente (Beziehungen), welche dem Oberflächentext
sollten aus einer Textdefinition nicht ausge- zu Grunde liegen, für einander gegenseitig zu-
schlossen werden: gerade fachliche oder di- gänglich und relevant sind“ (1981, 5). Kohä-
daktische Texte zeichnen sich oft durch eine renz meint also die semantisch-kognitiven
enge funktionalisierte Verzahnung von Text Aspekte eines Textes, sie „baut auf der Sinn-
und Bild aus, die adäquat nur unter Einbezie- kontinuität der zugrundeliegenden Textwelt
hung der nonverbalen Seite analysiert werden auf“ (Vater 1992, 43). Zu den kohärenzstif-
kann. Die Berücksichtigung des Nonverbalen tenden Mitteln zählen Isotopien, Makro-
ist im Übrigen auch für mündliche Kommu- strukturen (van Dijk 1980) oder Netze/Sche-
nikation zu fordern. mata (vgl. Art. 26). Dabei ist Kohärenz nicht
23. Text, Texttypen, Textsorten 271

notwendigerweise etwas, was dem Text eig- ditio sine qua non ist, aus der sich die ande-
net, sondern etwas, was vom Textproduzen- ren Kriterien ableiten lassen, scheint plausibel
ten und -rezipienten hergestellt wird (vgl. und der oben schon erwähnten Randun-
Beaugrande/Dressler 1981, 7; Heinemann/ schärfe des Begriffs ,Text‘ angemessen.
Viehweger 1991, 126; Vater 1992, 42). Diese
beiden Kriterien sind textintern und textzen-
triert, sie stehen in einer denkbaren Hierar- 2. Texttypen und Textsorten
chie von Textualitätskriterien ganz oben. Da
2.1. Allgemeine Überlegungen zum
Kohärenz etwas ist, was der Textbenutzer in
Gegenstandsbereich
einen Text hineinlegt, kann dieses als domi-
nantes Kriterium gelten; auch vermeintlich Textsorten haben sich in der Sprachgemein-
oder eigens konstruierte ,kohärenzlose‘ Texte schaft historisch entwickelt zur Bewältigung
können durch den Benutzer kohärent und gesellschaftlich kommunikativer Aufgaben;
damit zu Texten gemacht werden. ihre Kenntnis gehört zum Alltagswissen.
Text- genauso wie Handlungsmuster (als
Die folgenden Kriterien von Beaugrande/ komplexe psychische Konzepte oder Sche-
Dressler sind textextern und benutzer- bzw. mata) fungieren als Orientierungsrahmen für
kommunikationsbezogen: Prozesse der Textkonstitution und des Text-
(3) Intentionalität: Sie „bezieht sich auf die verstehens (vgl. Heinemann 1990). Dabei las-
Einstellung (engl. „attitude“) des Textprodu- sen die einzelnen Textmuster je nach Standar-
zenten, der einen kohäsiven und kohärenten disierung, d. h. struktureller Geschlossenheit,
Text bilden will, um […] Wissen zu verbreiten mehr oder weniger Varianz in der konkreten
oder ein in einem PLAN angegebenes ZIEL Ausgestaltung der Textexemplare einer Text-
zu erreichen“ (1981, 8f.). sorte zu.
(4) Akzeptabilität: Sie „betrifft die Einstel- Dass Sprecher ⫺ wenn auch unterschied-
lung des Text-Rezipienten, einen kohäsiven lich umfangreiche ⫺ produktive wie rezep-
und kohärenten Text zu erwarten, der für ihn tive Textsortenkompetenz („Textsortenper-
nützlich oder relevant ist, z. B. um Wissen zu formanz“ vs. „Textsortenkompetenz“ bei
erwerben oder für die Zusammenarbeit in ei- Gläser 1990, 27) haben, wird allgemein aner-
nem Plan vorzusorgen“ (1981, 9). kannt und ist belegt etwa bei Dimter (1981,
(5) Informativität: Das ist „das Ausmaß der bes. 123ff.) oder Gülich (1986).
Erwartetheit bzw. Unerwartetheit oder Be- Unter Textsorten wird heute meist eine
kanntheit bzw. Unbekanntheit/Ungewißheit Klasse von (virtuellen) Texten verstanden, die
der dargebotenen Textelemente“ (1981, 10f.). als konventionell geltende Muster bestimm-
(6) Situationalität: Sie „betrifft die Fak- ten (komplexen) sprachlichen Handlungen
toren, die einen Text für eine Kommunika- zuzuordnen sind. Bei der Beschreibung von
tions-SITUATION RELEVANT machen“ Textsorten wird eine Menge von Text(exem-
(1981, 12). plar)en auf Grund gemeinsamer textexterner
(7) Intertextualität: Sie „betrifft die Fakto- und -interner Merkmale gebündelt; dabei
ren, welche die Verwendung eines Textes von sind einige dieser Merkmale textsortenkonsti-
der Kenntnis eines oder mehrerer vorher auf- tutiv, andere (nur) textsortenspezifisch, d. h.,
genommener Texte abhängig macht“ (1981, das Auftreten der Ersteren ist obligatorisch,
12f.). Intertextualität als Bezug eines Textes indem ihr Vorhandensein eine Textsorte kon-
auf andere Texte ist ausschlaggebend für die stituiert, Letztere sind typisch für eine Text-
Entwicklung von Textsorten als Klassen von sorte. Jede Textsorte lässt sich also als Kom-
Texten mit charakteristisch wiederkehrenden bination von Merkmalen verschiedener Art
Merkmalen (vgl. Abschnitt 2.). beschreiben und von anderen Textsorten ab-
grenzen; Textexemplare können auf Grund
Nach Beaugrande/Dressler ist ein Gebilde, ihrer Merkmale einer Textsorte (idealerweise
das einem der sieben Kriterien nicht genügt, nur einer) zugeordnet werden. Da Textsorten
als nicht kommunikativ und infolgedessen als und die ihnen zu Grunde liegenden Textmu-
Nicht-Text einzustufen. Zur Kritik an einigen ster prototypischen Charakter haben, können
der Textualitätskriterien, etwa Akzeptabilität Textexemplare erhebliche Unterschiede auf-
oder Intentionalität, das nicht textspezifisch, weisen, nicht nur, was die konkrete sprachli-
sondern für jede Art von Kommunikation che Ausgestaltung, sondern auch, was ihre
gilt, vgl. Vater (1992, 31ff.). Eine Gewichtung Textstruktur betrifft (Anordnung und Vor-
der Kriterien, derzufolge Kohärenz eine con- kommen von Teiltexten etwa). In der Mög-
272 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

lichkeit zur Varianz differieren die einzelnen sind (Kalverkämper 1983, 97). Eine strikte
Textsorten erheblich (man vergleiche etwa Dichotomisierung zwischen literarischen Gat-
stark standardisierte Textsorten wie ,Haftbe- tungen und nicht-literarischen/nicht-fiktiona-
fehl‘ mit offeneren wie ,Hirtenbrief‘ oder len Textsorten ist allerdings nicht aufrechtzu-
,Dankschreiben‘). Im Falle von Textsorten halten; Ansätze zur Textsortenklassifikatio-
mit breiten Variationsmöglichkeiten gibt es nen müssten deshalb in jedem Fall eine Er-
also prototypische und weniger typische Ex- weiterung auf literarische Gattungen zulassen
emplare; gerade für die Anwendungsperspek- (dies geschieht etwa bei Heinemann/Viehwe-
tive ist natürlich eine Analyse der typischen ger 1991; vgl. auch van Dijk 1980, Gülich;
Charakteristika vorrangig. Da zu jeder Text- Raible 1975 oder Raible 1996).
sorte auch weniger typische Exemplare gehö- Von der Vorgehensweise her lassen sich
ren und insofern die einzelnen Textsorten un- empirisch-induktive von theoretisch-dedukti-
scharfe Ränder aufweisen, können konkrete ven Ansätzen unterscheiden: Erstere gehen
Texte bisweilen auch mehreren Textsorten zu- von konkreten Textvorkommen oder von all-
geordnet werden ⫺ dies stellt aber den Wert tagssprachlich vorliegenden Textsortenna-
einer Textsortenklassifikation nicht in Frage men bzw. vom Textsortenwissen aus (z. B.
(vgl. dagegen Isenbergs Forderung der Mo- Sandig 1975, Dimter 1981, Gülich 1986) und
notypie (1983, 322) und wiederum kritisch versuchen, in der Analyse zu relevanten Para-
dazu Heinemann/Viehweger 1991, 142). metern für ein Textsortenklassifikationsmo-
Klassifikationen von Textsorten differieren dell zu kommen (solche Parameter lassen sich
grundsätzlich hinsichtlich des in die Unter- auch aus vielen der Untersuchungen zu einer
suchung mit einbezogenen Gegenstandsbe- bestimmten Textsorte ableiten; weiterfüh-
reichs ⫺ abhängig vom Verständnis des Be- rende Angaben bei Adamzik 1995b), Letztere
griffs ,Text‘ (vgl. Abschnitt 1.1.). Ansätze, die leiten Textsorten aus einem umfassend ange-
zwischen Text und Diskurs (im Sinne Ehlichs legten Kommunikationsmodell ab, das z. T.
1984 oder in einer Differenzierung ,schrift- an ausgewählten Textsorten exemplarisch
lich/mündlich‘ bzw. ,monologisch/dialogisch‘) überprüft wird (etwa Franke 1987, Heine-
unterscheiden, beziehen in eine Textsorten- mann; Viehweger 1991, Rolf 1993, Diewald
typologie nur schriftliche Textvorkommen ein 1991). Während sich die ersten Ansätze
(vgl. etwa Franke 1987, Rolf 1993); münd- zwangsläufig auf Ausschnitte aus dem Text-
liche Vorkommen werden dann eher als Dia- sortenspektrum beschränken müssen, fehlt
logtypen, Diskurstypen oder Kommunika- den zweiten Ansätzen oft die (empirisch abge-
tionstypen bezeichnet und in entsprechenden sicherte) Konkretisierung. Nicht nur aus er-
gesprächs-, konversations- oder diskursana- kenntnistheoretischen Gründen, sondern
lytischen Ansätzen untersucht (zu Textsorten auch aus anwendungsbezogener und kultur-
der gesprochenen Sprache vgl. Art. 24). Das vergleichender Perspektive wäre eine stärker
Gros der Textsortenklassifikationen schließt empirisch orientierte Ausgangsbasis wün-
gesprochene Vorkommen nicht explizit aus, schenswert, auf der dann die Theoriebildung
konzentriert sich aber auf geschriebene Texte erfolgen kann (vgl. dazu Ehlich 1986, Kall-
(vgl. Art. 25). meyer 1986). Adamzik sieht hier tiefer ge-
Weiterhin behandeln die meisten der im hende Unterschiede und differenziert zwei
Rahmen der linguistischen Forschung vorge- Forschungsrichtungen: eine „Texttypologie,
legten Textsortenklassifikationen ,Gebrauchs- der es um systematische Klassifizierung von
textsorten‘ bzw. nicht-fiktionale Textsorten Texten mittels universell anwendbarer wis-
und klammern den literarischen Bereich und senschaftlicher Kategorien geht“, und eine
die Gattungsdiskussionen der Literaturwis- „Textsortenforschung, die sich auf die Be-
senschaft aus. Gemeinsam ist (nicht-fiktiona- schreibung einzelsprachspezifischer Routinen
len) Textsorten und (literarischen) Gattungen richtet“ (1995a, 30), die also einzelne Textsor-
⫺ sehr allgemein gesprochen ⫺, dass sie je- ten beschreibt, ohne notwendigerweise zu
weils „eine Gruppe ähnlich konstituierter einer Texttypologie beitragen zu wollen
Texte“ (Hempfer 1973, 17) bezeichnen; sie (vgl. dagegen die Forderung Isenbergs 1983,
unterscheiden sich aber (tendenziell) da- 304f.); Klassifikationssysteme wie etwa das
durch, dass Gattungen Formen der Textklas- von Heinemann/Viehweger (vgl. 2.2.6.) lassen
sifikation sind, die eine historische Dimen- aber eine Integration der beiden Ansätze zu.
sion haben, auf literarische Texte bezogen Eine weitere (nicht unumstrittene; vgl.
sind, mehr oder weniger präskriptiv orientiert Isenberg 1978, Franke 1991) methodische
sind und in ein Gattungssystem eingebunden Forderung an eine Textsortenlinguistik ist,
23. Text, Texttypen, Textsorten 273

dass sie auf vorhandene Alltagskonzepte von genheit zentrierten Unterscheidung vgl.
Textsorten und das dementsprechende All- Adamzik 1995a, 18ff.); häufig (etwa bei Wer-
tagswissen der Sprachbenutzer Bezug neh- lich 1979 oder bei Göpferich 1995 im An-
men und dies zum Ausgangspunkt einer wis- schluss an Reiß/Vermeer 1984) werden unter
senschaftlichen Analyse machen sollte (vgl. Texttypen auch globalere Kategorien ver-
etwa Ehlich 1986, Kallmeyer 1986, Antos standen, die auf einer ersten Ebene nach ei-
1987, Adamzik 1995a; ausgeführt ist dies nem einzigen Kriterium, etwa der Textfunk-
etwa bei Dimter 1981 oder Rolf 1993). tion, differenziert sind (sozusagen ,Grundty-
Eine Textsortenklassifikation und -analyse pen‘), die dann in der Subkategorisierung zu
setzt einen Textbegriff voraus, der allerdings den Textsorten führen; bei Franke etwa sind
oft nur annähernd gefasst ist und sein kann Textsorten „propositional spezifizierte Unter-
(vgl. Vater 1992, 159f.). Die im Laufe der For- muster von Texttypen“ (1987, 269).
schungsgeschichte vorgelegten Textsorten- Für Textsorten, die erst auf einer ganz glo-
klassifikationen spiegeln die Entwicklung des balen, allgemeinen Ebene differenziert sind,
Textbegriffs (vgl. 1.1.) wider und gehen von wird ⫺ Gülich/Raible (1975) folgend ⫺ oft
vorwiegend textinterne Merkmale berücksich- von Kommunikationsart bzw. „Kommuni-
tigenden Ansätzen zu stark kommunikations- kationsform“ (Ermert 1979 für den Brief)
und handlungsbezogenen (vgl. 2.2.). Allge- gesprochen (Diewald 1991 dagegen wählt
mein scheint man sich beim derzeitigen Stand „Grundtextsorten“).
der Forschung darüber einig zu sein, dass zur Unter Textmuster (analog „Handlungsmu-
Analyse von Textsorten kommunikations- ster“) werden meist die komplexen psychi-
situative, kommunikationsfunktionale, text- schen Konzepte bzw. Schemata (als Teilklasse
strukturelle und sprachliche Charakteristika der Wissensmuster) gefasst (vgl. Heinemann
zu berücksichtigen sind, wobei sich die beiden 1990); von Sandig (1986; 1987) wurde der Be-
letzteren (die textinternen) von den ersteren griff zunächst allerdings als Äquivalent zu
(den textexternen) her bestimmen lassen Textsorte eingeführt.
sollten. Eine Unterscheidung nach Texttypen be-
Terminologische Vielfalt lässt sich auch im zogen auf elementare Grundfunktionen
Bereich der Textsortenforschung feststellen; sprachlichen Handelns (etwa deskriptiver, ar-
Textsorte ist der am weitesten verbreitete Be- gumentativer, instruktiver Texttyp) und Text-
griff, der auch das alltagssprachliche Wissen sorten als weiter spezifizierte unterschiedliche
mit einbezieht (kritisch zum Begriff „Text- Ausdifferenzierungen dieser Texttypen scheint
sorte“ auch in seiner historischen Dimension ein gangbarer Weg für die Fremd- und Ver-
vgl. Ehlich 1990); nach Adamzik (1995a, mittlungsperspektive (vgl. Abschnitt 3.) zu
14ff.) muss allerdings zwischen einer unspezi- sein.
fischen Lesart (Textsorte als irgendeine Sorte,
Menge von Texten, die nach irgendeinem be- 2.2. Klassifikationsansätze
liebigen Differenzierungskriterium unter- Im Folgenden werden einige umfassende An-
schieden werden) und einer spezifischen Les- sätze zur Textsortenklassifikation vorgestellt,
art (das sind Klassen von Texten, die nach geordnet nach ihrem Haupt- oder hierarchie-
inhärenten, textkonstitutiven Merkmalen dif- höchsten Klassifikationskriterium.
ferenziert sind) unterschieden werden. Rela-
tiv gleichbedeutend wird statt von Textsorte 2.2.1. Textinterne sprachsystematische
auch von Textklasse (Große 1974; 1976; Merkmale
Dimter 1981) oder Textart gesprochen. Häu- Erste ⫺ meist strukturalistisch orientierte ⫺
fig ist eine funktionale Differenzierung in Klassifikationsvorschläge konzentrierten sich
Textsorte vs. Texttypen anzutreffen: Heine- v. a. auf textinterne Merkmale. Zu nennen
mann/Viehweger (1991, 144) fassen den Un- sind hier etwa Harweg (1979) und die Text-
terschied dergestalt, dass Textsorte für eine (übergangs)partitur von Weinrich (1972;
„empirisch vorfindliche Klassifizierung von 1975). Am weitreichendsten unter den frühen
Texten und Gesprächen“ verwendet wird, die Klassifikationsvorschlägen ist der induktiv-
somit auf Alltagsklassifikationen referieren, empirische von Sandig (1975), die mit Hilfe
Texttyp dagegen wird eher als „eine theorie- von binären Merkmalen 18 eher intuitiv ge-
bezogene Kategorie zur wissenschaftlichen fundene Textsorten aus dem Bereich der ,Ge-
Klassifikation von Texten verstanden“ (ähn- brauchstexte‘ analysiert; die verwendeten
lich schon bei Isenberg 1978, 566; 1983, 308; 20 Merkmale bezeichnen einige textexterne,
kritisch zu der auf die Frage der Theoriebezo- vor allem aber textinterne Charakteristika
274 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

(wie etwa [⫾ gesprochen], [⫾ spontan], taillierte Analyse der Textstruktur findet sich
[⫾ monologisch], [⫾ anfa], [⫾ ende] (⫽ be- auch bei Gülich/Raible (1975, 160ff., 175ff.).
sondere sprachliche Form des Textanfangs Das Mehrebenenmodell von Heinemann/
bzw. -endes), [⫾ ökon) (⫽ besondere ökono- Viehweger (1991, 145ff.) greift diesen Aspekt
mische Sprachformeln), [⫾ imperativ] u. a.). wieder auf (vgl. 2.2.6.). Die Analyse von
Verschiedene Textsorten lassen sich dann als Textsorten hinsichtlich ihrer globalen Text-
Bündelung von Merkmalen beschreiben, eine struktur scheint ein auch für fremdsprachli-
Traueranzeige etwa mit [⫺ gesp], [⫺ spon], che Textrezeption und -produktion vielver-
[⫹ mono], [⫹ anfa], [⫹ ende] etc. Die Anord- sprechender Ansatz zu sein, der auch die zu-
nung der Merkmale lässt zwar nicht auf ein lässige Varianz konkreter Textexemplare ein-
hierarchisches Modell schließen, allerdings zelner Textsorten methodisch gut fassen
bewertet Sandig die (oben angeführten ersten kann.
drei) situativen bzw. kommunikationsbezoge- Werlich (1979) geht in seiner „Typologie
nen Merkmale als hierarchiehöchste, die dazu der Texte“ davon aus, dass jedem Text eine
dienen, Texte grob in große Klassen bzw. „thematische Textbasis“ zu Grunde liegt, die
Texttypen zu ordnen. Problematisch ist das dann im Text durch Sequenzen entfaltet wird;
Auffinden der Merkmale, die mit Berücksich- den fünf möglichen Textbasen ordnet er fünf
tigung zusätzlicher Textsorten stark zuneh- Texttypen zu (nämlich Deskription, Narra-
men müssen; auf der anderen Seite sind (we- tion, Exposition, Argumentation und In-
gen des binären Charakters) viele Merkmale struktion); die Texttypen werden durch
für bestimmte Textsorten indifferent bzw. ir- unterschiedliche Sprecherperspektiven und
relevant. Problematisch ist weiterhin, dass die Sprachvarianten in Textformen (⬇ Textsor-
Interdependenz der textinternen und der tex- ten) subjektiver und objektiver Art (etwa Im-
texternen Phänomene, d. h. die Beziehung pressionistische Beschreibung vs. Technische
zwischen sprachlichen Eigenschaften von Beschreibung; Essay vs. Zusammenfassung)
Textsorten und den Kommunikationsbedin- und weiter in Textformvarianten (das sind in
gungen, bei einer Matrixanordnung nicht etwa subspezifizierte Textsorten wie Anek-
deutlich wird. dote, Märchen) unterteilt, was schließlich zu
Textexemplaren führt. Auch wenn der Status
2.2.2. Textinterne Merkmale: Textstruktur der thematischen Textbasen und der Gel-
Ebenfalls textinterne und zwar genauer: text- tungsbereich ihrer sprachlichen Ausdiffe-
strukturelle Kriterien zur Textsortendifferen- renzierung problematisch ist (vgl. Dimter
zierung liegen den Ansätzen von van Dijk 1981, 11ff.), so stellt dieser Ansatz eine sehr
(1980) und Werlich (1979) zu Grunde, bei de- weit ausgearbeitete Typologie dar, und die
nen Textexemplare auf Grund ihrer proposi- angenommenen fünf Textfunktionen bieten
tionalen oder thematischen Eigenschaften ei- eine gute Ausgangsbasis für eine Textsorten-
ner Textsorte (bzw. einem Texttyp) zugeord- beschreibung für Deutsch als Fremdsprache
net werden. (vgl. 3.).
Van Dijk beschreibt Texte mittels globaler
Strukturen, der Makrostruktur und der 2.2.3. Textexterne Merkmale:
Superstruktur: Die Makrostruktur wird aus Kommunikationssituation
(Makro-)Propositionen des Textes gewonnen Gehen situative Kriterien als dominant in die
und stellt die semantische (Tiefen-)Struktur Klassifikation ein, so bestimmen die verschie-
eines Textes, den „Textinhalt“ dar; Super- denen Parameter der Sprechsituation die
strukturen kennzeichnen den „Typ eines Tex- sprachliche Ausgestaltung eines Textes ent-
tes“ und liefern eine Art „Textform“. Die scheidend und sind auch für eine gewisse
Superstrukturen als (Interpretations- oder Konstanz, eben die Sprachhandlungsmuster,
Produktions-)Schema bestimmen die globale verantwortlich; eine Texttypologie setzt da-
Struktureigenschaft eines Textes, seine Text- mit eine Situationstypologie voraus (vgl.
teile und deren Anordnung (van Dijk Sitta 1973). Am weitesten ausgearbeitet wird
1980, 128ff.) und sind damit ein wichtiges dieser Ansatz bei Steger u. a. (1974) für die
Charakterisierungsmerkmal von Textsorten; gesprochene Sprache im sog. „Freiburger
exemplarisch beschreibt van Dijk die Text- Modell“: Ausgegangen wird von verschiede-
strukturen globaler Texttypen wie argumen- nen Redekonstellationen, das sind „die in ei-
tativer Texte (1980, 144ff.) und narrativer nem bestimmten Kommunikationsakt auftre-
Texte (1980, 140ff.; vgl. dazu auch Quasthoff tende[n] Kombination[en] außersprachlicher
1980 oder Gülich/Quasthoff 1986); eine de- Verhaltenselemente“ (1974, 46), denen ein
23. Text, Texttypen, Textsorten 275

Textexemplar zugeordnet wird. Redekonstel- textelemente kodierende Sprachzeichen müss-


lationen mit (annähernd) gleichen Merkma- ten demnach das Vorliegen einer bestimmten
len werden zu „Redekonstellationstypen“ zu- Textsorte anzeigen. Situation wird bei Die-
sammengefasst, und die ihnen entsprechen- wald auf den Achsen [⫾ DIALOGISCH],
den Textexemplare werden analog einer Text- [⫾ FACE TO FACE] und [⫾ MÜNDLICH]
sorte zugeordnet. Relevante Merkmale der definiert, und es ergeben sich fünf Grundtext-
Redekonstellationen, teils aus einem Sprach- sorten (das sind Textsorten, die nur durch Si-
verhaltensmodell abgeleitet, teils empirisch- tuationsmerkmale bestimmt sind): (mündl.
induktiv gewonnen, sind Sprecherzahl, Zeit- Face-to-Face-)Dialog, Telefondialog, Brief,
referenz, Verschränkung von Text und sozia- mündlicher Monolog und schriftlicher Mo-
ler Situation, Rang der Kommunikations- nolog. Diese Grundtextsorten bleiben aller-
partner, Grad der Vorbereitetheit, Zahl der dings zu allgemein und müssen durch weitere
Sprecherwechsel, Themafixierung, Modalität Subklassifikationen ergänzt werden.
der Themenbehandlung und Öffentlichkeits-
grad; diese führen zu sechs Redekonstella- 2.2.4. Textexterne Merkmale:
tionstypen, denen hypothetisch und beispiel- Verwendungsbereich
haft Textsorten wie Vortrag, Bericht, Repor- Eine Klassifikation, die weniger von univer-
tage, Small Talk etc. zugeordnet werden. salen Gegebenheiten ausgeht, sondern als
Auch Henne/Rehbock (1982) wählen z. T. Ausgangspunkt die kommunikative Praxis,
ähnliche kommunikativ-pragmatisch bedeut- den Kommunikationsbereich, wählt, liegt vor
same Kategorien für ihre Klassifikation von mit der Gesprächstypologie von Techtmeier
Gesprächen, etwa Gesprächsgattungen (na- (1984), die folgende Gesprächstypen anführt:
türlich, fiktiv, inszeniert), Raum-Zeitverhält- Gespräche im ökonomischen Bereich (Indu-
nis (Nah-/Fernkommunikation), Konstella- strie und Landwirtschaft), im Bildungswesen,
tion der Gesprächspartner, Grad der Öffent- im Justizwesen, in der Wissenschaft, in den
lichkeit, soziales Verhältnis der Gesprächs- Massenmedien, im Rahmen gesellschaftlicher
partner, Handlungsdimensionen des Ge- Organisationen, in der Familie usw. (1984,
sprächs, Bekanntheitsgrad der Gesprächs- 60). Damit wird der sprachformbestimmende
partner, Grad der Vorbereitetheit, Themafi- Einfluss, den spezifische Aspekte der Kom-
xiertheit, Verhältnis von Kommunikation munikationssituation (nämlich der institutio-
und nichtsprachlichen Handlungen. nelle Rahmen) haben, hinreichend berück-
Einer genaueren Bestimmung bedarf bei sichtigt; allerdings müssen weitere Subklassi-
derartigen Typologisierungen der unter- fikationen erfolgen ⫺ dies zeigt Techtmeier
schiedliche Status der Kategorien und damit exemplarisch an Wissenschaftlergesprächen
verbunden die Frage ihrer hierarchischen Ge- (1984, Kap. 3).
wichtung, schließlich weiterführend auch die
Frage, wie sich die einer Textsorte je eigenen 2.2.5. Textexterne Merkmale: Situation und
Merkmale in ihrer Struktur oder sprachlichen Textfunktion
Gestaltung ausdrücken. Ausgehend vom alltagssprachlichen Textsor-
Auch Lux (1981) sieht die Situation als do- tenwissen und der Textsortenklassifikation
minant bei der Textsortenbestimmung; der arbeitet Dimter (1981) an „nicht-dialogischen
Situationstyp als eine „typische soziale Rol- Gebrauchstexten“ die für eine Textsortenty-
lenkonstellation“ bildet die Tiefenstruktur pologie relevanten Merkmale heraus. Dabei
für die Textsorte als semantische Größe, und sieht er Aspekte der Kommunikationssitua-
diese ihrerseits stellt die Tiefenstruktur für tion (etwa: Textproduzent und -rezipient, Ka-
die oberflächenstrukturellen Eigenschaften nal, Situation, Zeit- und Ortsrelation) und
dar (1981, 159). Aspekte der Textfunktion (WISSEN, WER-
Einen ebenfalls situative Kriterien heran- TEN, WOLLEN) als gleichrangig, Aspekte
ziehenden Vorschlag liefert Diewald (1991): des Textinhalts (d. i. des Themas) als nach-
Ausgangspunkt ist die These, dass das Sy- geordnet und hauptsächlich für Subklassifi-
stem der Deixis als Instrument für die Klassi- kationen relevant (vgl. Bericht ⫺ Wetterbe-
fikation von Textsorten produktiv gemacht richt ⫺ Segelflugwetterbericht).
werden kann, da Textsorten Grundmuster Funktion und Handlungsbereich als
von Texten sind, die in Abhängigkeit vom gleichrangige (höchste) Kriterien zur Klassifi-
Grundmuster einer Situation entstehen; d. h., kation von Textsorten werden auch bei Er-
ein bestimmter Situationstyp führt zu einer mert (1979) angesetzt. Die Arbeit stellt eine
bestimmten Textsorte, und Deiktika als Kon- relativ detaillierte Studie in einem nicht zu
276 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

klein gewählten Teilbereich ⫺ den Briefsor- koordinativ und subordinativ zu komplexen


ten ⫺ dar (wobei Brief selbst keine Textsorte, Sprachhandlungen verknüpft werden kön-
sondern eine Kommunikationsform ist). Er- nen, die in sich hierarchisch strukturiert sind.
stes Kriterium der Differenzierung ist die Die Analyse von Textsorten muss demnach
Handlungsdimension (mit den Ausdifferen- die hierarchische Struktur der Illokutionen in
zierungen Intention (⬇ Funktion; nämlich Texten aufzeigen (vgl. Brandt u. a. 1983).
Kontakt, Darstellung, Wertung und Auffor- Ebenfalls sehr stark an der Sprechakttheo-
derung), Handlungsbereich (privat ⫺ offi- rie orientiert sich der strikt deduktive Ansatz
ziell), Partnerbezug (symmetrisch/asymme- von Franke (1987), der die Menge der Textty-
trisch) und Handlungszusammenhang (mo- pen hinsichtlich ihres Komplexitätsgrades in
nologisch/dialogisch); zweites Kriterium ist sprechakttyp-korrelierende und dialogtyp-
die thematische Dimension (lokale Orientie- korrelierende untergliedert ⫺ Unterschei-
rung, temporale Orientierung); dazu kommt dungskriterium zwischen Texttypen einerseits
drittens die Situationsdimension, viertens die und Sprechakt-/Dialogtypen andererseits ist
sprachlich-strukturelle Dimension und fünf- die Monologizität. In Übertragung von Kon-
tens die formale Dimension. Ermert liefert zepten der Sprechakttheorie sind für Textty-
nicht nur einen hinreichend differenzierten pen weiter der Illokutionszweck und die Se-
und gut ausgearbeiteten Klassifikationsvor- quenzposition (initial vs. sequenzgebunden)
schlag dieses Teilbereichs der Textsorten, son- von Interesse. Für die Textsorten als proposi-
dern auch eine bis ins sprachliche Detail aus- tional spezifizierte Untermuster von Textty-
gearbeitete Studie. pen sind vor allem die institutionsspezi-
fischen Bedingungen relevant.
2.2.6. Textexterne Merkmale: Textfunktion Mit Rolf (1993) liegt eine weitere Anwen-
Die meisten der vorliegenden aktuellen An- dung des sprechakttheoretischen Paradigmas
sätze zur Textsortenklassifikation gehen ⫺ auf Textklassifikationen vor; die Menge der
wenn auch mit unterschiedlichem theoreti- Gebrauchstextsorten wird auf die fünf schon
schem Hintergrund ⫺ von der Textfunktion bei Searle postulierten Klassen von Sprech-
als oberster Hierarchie- und damit Klassifi- akten verteilt: die assertiven (oder informa-
kationsebene aus. Dabei lassen sich Ansätze tionalen), direktiven, kommissiven, expressi-
unterscheiden, die Textfunktion eher im An- ven und deklarativen Textsorten; eine ge-
schluss an Bühler sehen, und solche, die sich nauere Spezifizierung erfolgt nach den Krite-
stärker auf die Sprechakttheorie Searle’scher rien ,illocutionary point‘ (⫽ Handlungs-
Provenienz stützen. zweck), ,mode of achievement‘ (⫽ Durchset-
Mit Große (1974; 1976) liegt ein früher zungsmodus, etwa: darstellend, bindend, sta-
Ansatz vor, bei dem von der dominanten bilisierend) und ,preparatory conditions‘
kommunikativen Funktion eines Textes als (⫽ bestimmte Handlungsbedingungen, etwa:
Klassifikationskriterium ausgegangen wird, Kontrollgewalt auf Seiten des Textproduzen-
was zu folgenden Texttypen (bei Große: ten). Die Untergliederung benennt also Be-
„Textklassen“) führt: normative Texte, Kon- dingungen, die erfüllt sein müssen, damit der
takttexte, poetische Texte, dominant selbst- Einsatz eines Textsortenexemplars erfolg-
darstellende Texte, aufforderungszentrierte reich ist.
Texte u. a. Allerdings scheinen sich die bei Ausgehend von den bühlerschen Zeichen-
Große angenommenen Typen vielfach zu funktionen entwerfen Gülich/Raible (1975)
überschneiden. ihr Textsortenmodell, das als erstes Kriterium
Ein Ansatz zur Differenzierung von Text- dementsprechend die Funktionen Ausdruck,
sorten mit den Kategorien der Sprechaktana- Darstellung, Appell umfasst, als zweites den
lyse liegt vor in den Arbeiten um Motsch und Typ des Kommunikationsprozesses (alltäg-
Viehweger (vgl. Motsch/Viehweger 1991; lich, öffentlich/rechtlich, wissenschaftlich, li-
Motsch 1987; 1996): Ausgangspunkt ist die terarisch), dann den Bereich der Gegenstände
Annahme, dass sich in jeder Sprachhand- und Sachverhalte, schließlich die Frage der
lungssequenz und auch in jedem Text eine do- gemeinsamen Kommunikationssituation und
minierende Illokution bestimmen lässt, die der Kommunikationsrichtung. Für die Diffe-
von anderen, subsidiären Illokutionen ge- renzierung von Textsorten ist weiterhin die
stützt wird. Textsorten sollen systematisch Makrostruktur (verstanden als Erscheinung
aus den Grundklassen illokutiver Handlun- der Textoberfläche) relevant, was an einer
gen abgeleitet werden können, wobei ange- Novelle und an einer Gerichtsentscheidung
nommen wird, dass die Sprachhandlungen exemplarisch vorgeführt wird.
23. Text, Texttypen, Textsorten 277

Göpferich (1995) erstellt eine Typologie Thema (lokale Orientierung) ⫺ als Differen-
von Fachtexten, deren oberstes Kriterium zierungskriterien. Was die Form der themati-
ebenfalls die Funktion des Textes ist; alle von schen Entfaltung betrifft, so unterscheidet
ihr untersuchten Texte haben informations- Brinker zwischen deskriptiver, narrativer, ex-
vermittelnde Funktion, in einer weiteren Un- plikativer und argumentativer Themenentfal-
terscheidung lassen sich juristisch-normative, tung, deren globale Strukturen weiter diffe-
fortschrittsorientiert-aktualisierende, didak- renziert und vielfältig kombiniert werden
tisch-instruktive und wissenszusammenstel- können.
lende Texte fassen; weitere Klassifikationskri- Kritisch bemerken lässt sich hierzu ⫺ wie
terien sind Theorie vs. Praxis oder die Art der zu anderen Ansätzen, die von der Textfunk-
Informationspräsentation (1995, 123ff.), die tion ausgehen ⫺, dass die Zahl der möglichen
Sender-Empfänger-Beziehung, der Vorkom- Textfunktionen nicht genau festgelegt ist, was
mensbereich und anderes (1995, 201ff.). Der zu Abgrenzungsproblemen führt (die ange-
Ansatz von Göpferich zeigt, dass auch Texte nommene Zahl ist aber im Allgemeinen recht
mit hohem Fachlichkeitsgrad durchaus nach klein, sie liegt meist zwischen drei (so schon
den gleichen Kriterien klassifiziert werden bei Bühler) und unter zehn). Weiter ist pro-
können wie ,Gebrauchstexte‘ mit niedrigem blematisch, dass nicht jeder Text oder jede
Fachlichkeitsgrad (etwa nach der Textfunk- Textsorte eine dominierende Funktion hat
tion; vgl. auch Gläser 1990, 47ff.), dass aber und nicht unbedingt eine eindeutige Korrela-
zusätzliche Kriterien hinzukommen müssen, tion zwischen der Textfunktion und bestimm-
vor allem der Unterschied zwischen fachex- ten anderen Textmerkmalen festgestellt wer-
terner und fachinterner Kommunikation (vgl. den kann.
Gläser 1990, 47ff.). Im umfassenden Mehrebenenklassifika-
Brinker (1997), neben Heinemann/Viehwe- tionsmodell von Heinemann/Viehweger (1991,
ger (1991) wohl der einflussreichste Ansatz, 145ff.) wird ebenfalls die elementare Text-
nimmt ebenfalls an, dass jede Textsorte an funktion als oberstes Klassifikationskrite-
eine bestimmte (dominierende) Funktion ge- rium eines der prozeduralen Sichtweise ver-
knüpft ist (1997, 128) und diese damit als pflichteten Ansatzes angenommen: SICH
Basiskriterium für die Differenzierung von AUSDRÜCKEN, KONTAKTIEREN, IN-
Textsorten gelten kann (ähnlich auch Engel FORMIEREN, STEUERN; zusätzlich wird
1991, 118ff.); Brinker (1997, 133ff.) unter- ⫺ bezogen auf die fiktionale Welt literari-
scheidet fünf textuelle Grundfunktionen und scher Texte ⫺ eine Funktion ,ÄSTHETISCH
ihnen zugeordnet fünf Text(sorten)klassen, WIRKEN‘ angesetzt; auf der zweiten Ebene
nämlich: 1. Informationstexte (z. B. Nach- erfolgt eine Unterscheidung nach Situations-
richt, Bericht, Beschreibung), 2. Appelltexte typen: darunter verstehen die Autoren die
(z. B. Werbeanzeige, Propagandatext), 3. Obli- Ausdifferenzierung der interaktionalen Rah-
gationstexte (z. B. Vertrag, Vereinbarung, mentypen, die Differenzierung nach der so-
Garantieschein), 4. Kontakt- und „Partizipa- zialen Organisation der Tätigkeiten, die Klas-
tionstexte“ (wie Gratulations- und Kondo- sifizierung nach Anzahl der Partner, sozialen
lenzbrief) sowie 5. Deklarationstexte (z. B. Rollen der Interagierenden und die Grundty-
Ernennungsurkunde, Testament, Schuld- pen der Umgebungssituation (Medien). Die
spruch). Diese ,Großklassen‘ (man könnte dritte Ebene nennt verschiedene Verfahrens-
hier auch von globalen Texttypen sprechen) typen ⫺ das sind strategische Konzepte bei
werden durch kontextuelle (situative) Merk- Textproduktion und -rezeption; hier geht es
male weiter differenziert. Unter den kontex- etwa um Textentfaltungsprozesse (was soll
tuellen Kriterien berücksichtigt Brinker die wie entfaltet werden), um strategische Ver-
Kommunikationsform (face-to-face, Telefon, fahrensschritte (z. B. narrative oder deskrip-
Schrift etc.) und den Handlungsbereich (pri- tive Verfahren) und um taktisch-spezifizie-
vat, offiziell, öffentlich). Die strukturellen rende Einzelverfahren (z. B. Aufwertung des
Kriterien sind v. a. die thematischen Katego- Partners, emotionale Verstärkung). Die vierte
rien „Textthema“ und „Form der Themenent- Ebene der Text-Strukturierungstypen bezieht
faltung“. Hinsichtlich des Textthemas geht es sich auf die vorkommenden Teiltexte, ihre
nicht um eine Auflistung aller möglichen Art (Textkern und Initialteil etwa) und ihre
Textthemen, sondern um allgemeinere As- Abfolge; die letzte Ebene der Klassifikation
pekte ⫺ etwa die zeitliche Fixierung des The- betrifft die Formulierungsmuster, wobei u. a.
mas relativ zum Sprechzeitpunkt oder die Re- hier textklassenspezifische Kommunikations-
lation von Textproduzent/-rezipient und maximen (z. B. Kürze), prototypische Formu-
278 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

lierungsmuster (etwa textklassenspezifische strukturierung (von Makrostrukturen bis


Einzellexeme) und „stereotype Textkonstitu- evtl. hin zu Mikrostrukturen) und sprach-
tive“ (z. B. formelhafte Einheiten in Anfangs- liche Charakteristika. Texttypen, wie etwa die
oder Schlussposition) genannt werden. Die- von Werlich (1979) angenommenen (vgl.
ses Modell wird exemplarisch an einigen Bei- 2.2.2.), können eine globale Textsortendiffe-
spielen vorgeführt. Im Unterschied zu ande- renzierung einleiten; und auch, wenn es keine
ren Ansätzen bietet das Modell von Heine- direkte Zuordnung von Texttypen und
mann/Viehweger (1991) nicht nur eine umfas- sprachlichen Mitteln gibt, lässt sich doch ten-
sende Charakterisierung der textexternen denziell den einzelnen Textvorkommen eine
Merkmale, sondern ermöglicht auch eine sehr unterschiedliche Erwartbarkeit bestimmter
differenzierte Erfassung der sprachlichen sprachlicher Strukturen zuordnen; z. B. wei-
Strukturen und Mittel und ihrer textsorten- sen narrative Texttypen (die sich in Textsor-
spezifischen Funktion. Gerade für die fremd- ten wie Anekdote, Märchen, Krimi, Tage-
sprachliche Textsortenrezeption und -pro- buchaufzeichnung konkretisieren können)
duktion ist ja auch die konkrete sprachliche gehäuft bestimmte Tempusvorkommen, tem-
Ausgestaltung in ihrer Funktionalität von be- porale Konjunktionen oder auch Redewie-
sonderem Interesse. dergabe auf, deskriptive Texte (wie Steck-
brief, Bildbeschreibung, Reisebericht) ten-
denziell gehäuft Attributsstrukturen oder
3. Ausblick: Anforderungen an eine Komparation (im Modell von Heinemann/
Textsortenforschung für Deutsch Viehweger 1991 entspricht dies einem In-Be-
als Fremdsprache ziehung-Setzen der ersten mit der fünften
Ebene). Die Beschäftigung mit konkreten
Eine für die Fremd- und Vermittlungsper- Textsorten dagegen muss sich ⫺ sowohl für
spektive adäquate Textsortentypologie kann die kontrastive Herangehensweise als auch
⫺ wie aus den vorangestellten Erörterungen für die fremdsprachliche Rezeption und (ge-
der verschiedenen Ansätze deutlich wurde ⫺ gebenenfalls) Produktion ⫺ zunächst sinn-
nicht auf einem homogenen Klassifizierungs- vollerweise um eine genaue Beschreibung der
kriterium beruhen, sondern muss Merkmale Textstrukturierung (vgl. Heinemann/Viehwe-
aus verschiedensten Bereichen, textexterne ger 1991, 161ff.) bemühen, auf deren Basis ei-
wie textinterne, berücksichtigen ⫺ wie dies nerseits die prototypischen von weniger typi-
etwa Brinker (1997) oder Heinemann/Vieh- schen Exemplaren einer Textsorte geschieden
weger (1991) tun. Beide bieten brauchbare und damit die zulässigen Varianzen erklärt
Modelle und benennen relevante Differenzie- werden können sowie andererseits kontra-
rungsparameter, auf denen konkrete, empiri- stive Untersuchungen angestellt werden kön-
sche Analysen der einzelnen Textsorten auf- nen. Eine Detailanalyse führt dann zu den
bauen können. Aus der Anwendungsperspek- konkreten sprachlichen Ausgestaltungen.
tive ist zwar ein umfassendes Klassifikations- Wie immer man Text und davon abhängig
modell weniger wichtig, da ja doch nur ein Textsorten definiert, die gesprochenen Mu-
Ausschnitt an Textsorten relevant ist; ein ster dürfen nicht vernachlässigt werden; so
adäquates Klassifikationsmodell kann aber liefern Ansätze wie die Dialogforschung oder
die für eine stärker einzeltextsortenbezogene, die Diskursanalyse wichtige Erkenntnisse
empirische Analyse notwendigen Untersu- auch für die Anwendungsperspektive, indem
chungskriterien bereitstellen. z. B. Handlungsmuster empirisch erforscht
Die meisten hierarchiehöchsten Differen- werden (Literaturangaben bei Becker-Mrot-
zierungen auf der Ebene der Situationstypen zek 1992), weiterführende Analysen können
sind für die Anwendungsperspektive (Text- dann wichtige interkulturelle Unterschiede
produktion und kontrastive Textsortenunter- aufzeigen ⫺ im institutionellen Diskurs etwa
suchungen) weniger relevant, da sie allge- in der Kommunikation vor Gericht oder zwi-
meine Kategorien menschlichen Verhaltens schen Arzt und Patient (vgl. Art. 57).
zur Unterscheidung heranziehen und inso-
fern universal orientiert sind. Interkulturelle
Unterschiede lassen sich sinnvoll eher zwi- 4. Literatur in Auswahl
schen einzelnen Textsorten (z. B. Lebenslauf, Adamzik, Kirsten (1995a): Einleitung: Aspekte und
Kontaktanzeige) oder Textsortenklassen fest- Perspektiven der Textsortenlinguistik. In: Kirsten
stellen. Relevant sind dabei vor allem Cha- Adamzik: Textsorten ⫺ Texttypologie: eine kom-
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23. Text, Texttypen, Textsorten 279

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24. Textsorten der gesprochenen Sprache

1. Gegenstand und ob es davon überdies allerlei Arten gebe,


2. Text die sich sauber sortieren ließen nach klaren
3. Textsorten Kriterien. Reden wir, wenn wir (miteinan-
4. Gesprochene Sprache
5. Gesprächssorten
der?) sprechen, in Textsorten, von einander
6. Angewandte Gesprächsforschung wohl geschieden, dem Anlass gemäß oder
7. Dialogtypologie dem Thema? Oder den Umständen? Oder
8. Literatur in Auswahl dem Partner des Gesprächs? Denkt man
beim Text nicht doch eher an das geschrie-
bene Wort, an überlieferte Traktate, reputa-
1. Gegenstand ble (heilige?) Schriften, gedruckte Bücher,
Gibt es „Textsorten gesprochener Sprache“? Gedächtnisspeicher gegebenenfalls überkom-
Der Titel des Artikels unterstellt dies als Fak- menen, gesammelten Wissens?
tum. Dabei ist keineswegs unstrittig, ob ein Im alltäglichen Sprachgebrauch und in
so flüchtiges Gebilde wie die luftigem Me- dem der Literaturwissenschaft wird ,Text‘
dium anvertrauten Lautfolgen gesprochener eng mit Schriftlichkeit assoziiert. Es gibt gute
Rede überhaupt als Text aufzufassen seien, Gründe, es auch in der Sprachwissenschaft
24. Textsorten der gesprochenen Sprache 281

dabei zu belassen, zumal wenn man, wie Eh- rung, Verhör, Interview, Diskussion, Debatte,
lich (1983, 32), als „Kriterium für die Kate- Disput, Streit, Klatsch, Diskurs, Verhand-
gorie ,Text‘ […] die Überlieferungsqualität lung, Unterweisung von einander unterscheid-
seiner sprachlichen Handlung“ ansieht, also bare Arten des Sprechens. Überhaupt sind Ge-
jene materiale Eigenschaft, die überliefe- spräche bestimmten Konventionen unterwor-
rungsfähige und tradierenswerte Rede zu be- fen, ihr Ablauf folgt bestimmten Regeln, sie
wahren erlaubt. Gleichzeitig räumt Ehlich je- haben definierbare soziale Zwecke, beschreib-
doch ein, dass dem Sprechen gegenüber dem bare Funktionen: Fachgespräche, Verkaufsge-
Text als Aufgeschriebenem systematisch und spräche, Unterrichtsgespräche, Prüfungsge-
historisch durchaus Priorität zukomme, inso- spräche, Beratungsgespräche, Schlichtungsge-
fern es auch in schriftlosen Kulturen Überlie- spräche, Fernsehgespräche, Behördengesprä-
ferung gegeben habe und immer noch gebe: che, Partygespräche. Fast all diese mit sol-
„Mündliche Kulturen verfügen demnach chen klassifikatorischen Ausdrücken bezeich-
über Texte“ (Ehlich 1983, 33). Und um diese neten Formen des Miteinandersprechens sind
besser zu behalten für die Weitergabe an die denn auch mittlerweile linguistisch beschrie-
Späteren seien früh schon spezifische Arten ben worden. Bei einem entsprechend groß-
und Formen von Texten entwickelt worden, zügig zugeschnittenen Begriff von ,Text‘ ließe
Muster sprachlichen Gebrauchs für beson- sich die Rolfsche Liste von Namen für Text-
dere Anlässe, für eingeschliffene Rituale, für sorten mühelos verlängern: Dimter (1981)
fest definierte Situationen, für all die Ge- sammelte 1650 deutsche alltagssprachliche
wohnheiten menschlichen Verkehrs und be- Textsortenbezeichnungen und rechnete sie
währten Lösungen wiederkehrender Aufga- hoch auf ca. 5000 im Deutschen. Franke
ben. Die herangezogenen Beispiele für Text- (1990) setzte die Sammlung fort, und Adam-
arten gesprochener Sprache entstammen dem zik (1995) kompilierte daraus eine Liste von
Alten Testament (Verheißungsgeschichten, ca. 4000 Textsortenbezeichnungen, die jeder-
Erscheinungsgeschichten etc.) und sollen „be- zeit für Erweiterungen offen sei. Jeder, der
stimmte Erscheinungsformen von mündli- die Liste überfliegt, wird weitere Bezeichnun-
chen Überlieferungen und Überlieferungsver- gen hinzuzufügen wissen. Textsorten gespro-
fahren […] verdeutlichen“ (ebd., 43). chener Sprache sind darin reichlich enthalten,
Die verbreitete Skepsis gegenüber der Be- an denen sich linguistischer Klassifikations-
zeichnung von Formen gesprochener Sprache ehrgeiz noch würde messen können. Voraus-
als Arten von ,Texten‘ richtet sich zuweilen gesetzt, man lässt sich probehalber ein auf ei-
auch gegen den Aspekt des miteinander Ver- nen ,weiten‘ Textbegriff. Dieser, freilich, ist
fertigens der Rede, also das dialogische Kon- nicht minder strittig und daher zu begründen.
stituens des Sprechens. ,Texte‘ zeichneten sich
durch die Gleichgerichtetheit ihrer primären
Funktionen aus, von der bei einer Dualität 2. Text
oder gar Pluralität der Text-Produzenten kei-
neswegs zwingend auszugehen ist. Deshalb In der Sprach- und Literaturtheorie, aber
argumentiert etwa Rolf (1993, 27ff.) entschie- auch in der Medien-, Kultur- und Zeichen-
den dagegen, Gespräche als Texte zu verste- theorie, hat die Reflexion des Textbegriffs
hen, weil mehrere Sprecherquellen niemals eine lange Tradition und gewinnt derzeit,
mit Notwendigkeit ein (und nur ein) Textziel nicht zuletzt auf Grund neuer technischer
zu garantieren vermöchten, wodurch ,Texte‘ Entwicklungen in der Übermittlung von In-
nach seinem Verständnis sich aber gerade formationen, neue Aktualität (Hess-Lüttich
auszeichneten. Deshalb bemüht sich der 1997; Antos/Tietz (Hg. 1997). Freilich gehört
Autor auch, in seine eindrucksvolle Samm- er, ähnlich wie die Begriffe ,Satz‘ oder ,Wort‘
lung von immerhin über 2000 Textsortenbe- oder ,Zeichen‘ zu den offenen Grundbegrif-
zeichnungen nur solche aufzunehmen, die als fen der Sprach- und Literaturwissenschaft,
schriftliche sich etabliert haben (oder sich we- die als heuristische kaum abschließend zu de-
nigstens, wie ,Klagegeschrei‘ oder ,Schmäh- finieren, dafür aber je fachsystematisch zu
rede‘ oder ,Kurzreferat‘ oder ,Lichtbildervor- axiomatisieren sind (Knobloch 1989, 113⫺
trag‘ oder ,Stegreifrede‘, als solche denken 126). Zudem konkurrieren sie mit dem all-
ließen). tagspraktischen Vorverständnis ihres Ge-
Andererseits verbinden wir im alltäglichen brauchs. Die historische Entwicklung des
Sprachgebrauch mit Ausdrücken wie Plaude- Textbegriffs kann hier nicht nachgezeichnet
rei, Talk-Show, Beratung, Befragung, Anhö- werden; es muss in diesem Zusammenhang
282 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

genügen, ihn als potentiellen master term zu text, Struktur und System definiert (vgl. Plett
verstehen: „ein gebietskonstitutiver Grund- 1975). Als konstitutive Merkmale wurden ge-
begriff einer Kulturwissenschaft, die sich als nannt Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität,
allgemeine Kultursemiotik versteht. Sein Akzeptabilität, Informativität, Situationali-
Thema ist die (Un-)Wiederholbarkeit von tät, Intertextualität (de Beaugrande/Dressler
Sinn“ (Knobloch 1999, 6). Er ist das Objekt 1981) oder auch gesellschaftliche Legitimität,
der sich ausdifferenzierenden Textwissen- kommunikative Funktionalität, Semantizität,
schaft (van Dijk 1980). Situationsbezogenheit, Intentionalität, Wohl-
Innerhalb des damit gezogenen Rah- geformtheit, Wohlkomponiertheit, Gramma-
mens kann es sich als sinnvoll erweisen, zwi- tikalität (Isenberg 1976, 48ff.). Von textlin-
schen linguistischen, literarästhetischen/-hi- guistischem Interesse waren dabei vor allem
storischen, semiotischen Textbegriffen (neben die Texten inhärenten referentiellen, tempo-
anderen) zu unterscheiden. Schon innerhalb ralen, modalen, colligativen und, schließlich,
der Linguistik ist die Bandbreite zwischen en- typologischen Relationen (van Dijk 1977,
gen und weiten, alten und neuen Textbegrif- Halliday 1978, Tannen (Hg.) 1982).
fen enorm (Coseriu 1981). Man kann ihn ver- Der linguistische Textbegriff wurde jedoch
stehen als „die grundsätzliche Möglichkeit schon früh zeichentheoretisch elaboriert und
des Vorkommens von Sprache in manifestier- längst auch auf andere als verbale Codes be-
ter Erscheinungsform“, als „das originäre zogen, Codes nahezu beliebiger semiotischer
sprachliche Zeichen“ schlechthin (Hartmann Struktur und Modalität. Das wiederum kam
1971, 10), oder als transphrastische Einheit der schon in der Prager Schule geläufigen
einer Textgrammatik (vgl. Schecker/Wunderli und in der Tartuer Schule systematisch aus-
(Hg.) 1975), reserviert für schriftliche Zeug- gebauten Unterscheidung zwischen prakti-
nisse überlieferten Wissens (Ehlich 1983) schen und poetischen Texten entgegen. Der
oder für die bei verschiedenen Übermitt- poetische Text wurde dabei im Sinne der kul-
lungsformen gleichbleibenden lokutiven und tursemiotisch orientierten Studien von Lot-
illokutiven Konstanten (Ehlich 1984). Im er- man (1972, 1973) in der neueren Literatur-
sten Falle könnten wir für unsere Zwecke da- theorie als „semiotisch gesättigtes“ „System
von ausgehen, dass, „wenn überhaupt ge- von Systemen“ aufgefasst, dessen Bedeutung
sprochen wird, nur in Texten gesprochen einerseits aus der Spannung zwischen seinen
wird“ (Hartmann 1968, 212). Im anderen Subsystemen, durch Serien von Ähnlichkei-
Falle würden wir in der Tradition von Harris ten, Oppositionen, Wiederholungen, Paral-
(1952) unser Augenmerk auf die satzübergrei- lelismen etc. erwachse, andererseits durch Re-
fenden Einheiten des Diskurses richten und lationen zu anderen Texten, Codes, ästheti-
die typologischen Kriterien der Klassifika- schen Normen, literarischen Konventionen,
tion seiner Erscheinungsformen. sozialen Prämissen im ,Dialog‘ mit dem Leser
Unter angelsächsischem und romanopho- (Bachtin 1981, 1986) entstehe (Eagleton 1988,
nem Einfluss werden heute die Begriffe ,Text‘ 79⫺109).
und ,Diskurs‘ weitgehend synonym ge- Beide Komplexe werden heute im litera-
braucht: das semiotische Lexikon von Se- turtheoretischen Programm „semiotischer
beok sieht für beide nur einen gemeinsamen Diskursanalyse“ anspruchsvoll integriert, in-
Eintrag vor (Sebeok (Hg.) 1986); in der Reihe dem die Frage nach der semiotisch spezifi-
der Handbücher für Sprach- und Kommuni- schen Struktur des literarischen Textes mit
kationswissenschaft ist ein gemeinsamer der nach der Hierarchie seiner kulturellen
Band den Textwissenschaften und Discourse Einbettungskontexte und intertextuellen Ver-
Studies gewidmet (Antos u. a. (Hg.) in Vorb.). weisungsbezüge verbunden und Literarizität
Die Frage, ob damit eine sinnvolle Möglich- aus der Spannung zwischen immanenten
keit terminologischer Differenzierung nicht (graphemischen, phonemischen, morphemi-
unnötig verschenkt wird, muss hier nicht ent- schen, lexemischen, syntaktischen, supraseg-
schieden werden (van Dijk 1977, 3). mentalen) (Sub-)Systemen und externen (dis-
Im Bezirk zwischen den damit markier- kursiven, sozialen, funktionalen, kulturellen,
ten (linguistischen) Traditionslinien wurden institutionellen) Faktoren abgeleitet wird
sprachliche Texte meist als materiale Sub- (vgl. Link/Parr 1990).
strate dialogischen Handelns in Form relatio- Dem trägt ⫺ noch jenseits literatur-,
naler Strukturgefüge sprachlicher Elemente sprach- oder medientheoretischer Relevanz-
beschrieben und durch Kategorien wie Ex- nahmen ⫺ eine texttheoretische Modellierung
tension und Delimitation, Kotext und Kon- Rechnung, die den Text als ,konstruktive Ge-
24. Textsorten der gesprochenen Sprache 283

stalt‘ bzw. als Zeichengefüge (oder Superzei- interne oder externe, formale oder funktio-
chen) bestimmt, nicht also mehr wie in der nale, strukturelle oder pragmatische Krite-
Textlinguistik als lineare Kette von Zeichen rien der Unterscheidung von Textsorten, so
(vgl. Hess-Lüttich 1981, 324). Eine solcher- rückten später (text-)theoretische Aspekte in
maßen im Prinzip bereits ,holistische‘ Model- den Vordergrund (vg. Ehlich 1986). Dabei
lierung des Textes ist kategorial hinlänglich konkurrierten die Alltagsklassifikationen
komplex für die Integration auch nicht-linea- (mit den daraus abgeleiteten heterogenen Li-
rer, mehrfach-codierter, multi-medialer Texte sten) zunehmend mit Ansätzen der Typologi-
in den Gegenstandsbereich der Texttheorie. sierung von empirisch erhobenen Corpora
Sie kann die Zeichendimensionen des Textes einerseits und der aus Funktionsbestimmun-
auf der Ebene des Superzeichens analytisch gen deduzierten Klassifikationen von Textty-
entfalten und sie etwa (primär) als syntagma- pen andererseits (vgl. Schlieben-Lange 1988,
tisch-colligatives Objekt der Textsyntaktik 1210; Diewald 1991).
oder als referentiell-signifikatives Objekt der Im weiteren Verlauf differenzierte sich die
Textsemantik oder als dialogisch-funktiona- Debatte soweit, dass ihr Gegenstand dabei
les Objekt der Textpragmatik thematisieren, seine Konturen verlor und schon bald die
solange bewusst bleibt, dass Textualität ⫺ als Annahme als ganz und gar unbegründet zu-
Manifestationsmodus (als ontisches Struk- rückgewiesen wurde, „das Textsorten selbst
turmerkmal) kommunikativer Prozesse zwi- ein einheitliches Phänomen abgeben und dass
schen (hypothetisch) handelnden sozialen eine totale Beschreibung überhaupt durch-
Subjekten ⫺ sich erst im Zusammenwirken führbar wäre“ (de Beaugrande 1991, 174f.;
der semiotischen Dimensionen verwirklicht vgl. ders. 1997).
als kommunikative Sachverhalte vermit- In dieser etwas unübersichtlichen Situation
telnde Semiose, die im Falle poetischer Texte hat Adamzik (1995) verdienstvollerweise
noch überlagert wird durch in der Literatur- nicht nur die einschlägige Literatur in einer
theorie genauer beschriebene „sekundär kommentierten Bibliographie zum Thema zu-
modellbildende Systeme“ (Autofunktionali- sammengestellt und ihr die oben erwähnte
tät, Aktualisierung, Desautomatisation, Kon- Liste von Textsortenbezeichnungen im Deut-
notativität, Polyisotopien, Ikonozität etc.: schen beigefügt, sondern auch in einer aus-
vgl. Lotman 1973; Nöth 1985, 455⫺498; führlichen Einleitung ein wenig Übersicht ge-
Link/Parr 1990). schaffen im Gewirr der Ansätze und Begriffe
Im Rahmen eines solchermaßen skizzier- bei der Betrachtung der Arten, Muster, Sor-
ten texttheoretischen Programms lassen sich ten, Typen, Klassen, Mengen von Texten. Sie
empirisch Alltagsklassifikationen (im Sinne unterscheidet zunächst eine unspezifische
von 1.), Systeme ästhetischer (literarischer) Lesart des Terminus ,Textsorte‘ von einer
Gattungen und Textmusterbeschreibungen, spezifischen:
Textsorten, Texttypologien miteinander ver- „In der unspezifischen Lesart wird mit Textsorte
gleichen im Hinblick auf ihre jeweiligen Lei- irgendeine Sorte, Menge oder Klasse von Texten
stungen, um zu ermitteln, wie wir im Alltag bezeichnet, die entsprechend irgendeinem Differen-
Gespräche werten und Gesprächstypen zu- zierungskriterium (oder auch mehreren zugleich)
ordnen (vgl. Gülich 1986), welchen rhetori- von anderen Mengen bzw. Klassen von Texten un-
terschieden werden kann. Textsorten in diesem
schen Traditionen unsere Unterscheidung äs- Sinne stellen das Ergebnis eines beliebigen Ver-
thetischer (literarischer) Textgattungen dabei suchs dar, Arten von Texten gegeneinander abzu-
Tribut zollt (vgl. Raible 1980), nach welchen grenzen, bzw. Texte nach irgendwelchen Kriterien
Bewertungskriterien und Zweckbestimmun- zu sortieren.“ (Adamzik 1995, 14)
gen (gesprochene) Texttypen unterschieden
werden (vgl. Isenberg 1984). Die spezifische Lesart des Begriffs dagegen
zielt auf nach expliziten und stereotypen
Merkmalen bzw. Kriterien klassifizierte Text-
3. Textsorten mengen, die oft als Subklassen von ,Textty-
pen‘ aufgefasst werden (vgl. Franke 1987).
Textsorten werden unter diesem Begriff erst Dabei arbeitet Adamzik am Beispiel einer
seit Anfang der 70er Jahre thematisiert (Gü- kritischen Diskussion des Ansatzes von Isen-
lich/Raible (Hg.) 1972). Das Institut für berg (1978, 1983, 1984) den eben nur ange-
Deutsche Sprache in Mannheim widmete deuteten Gegensatz von Textsortenforschung
dem Thema 1985 eine seiner Tagungen (Kall- und Texttypologie genauer heraus. Gehe es
meyer (Hg.) 1986). Ging es zunächst eher um dieser eher um die theoriegeleitet systemati-
284 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

sche Klassifikation textueller Konstrukte mit Textsorten unterscheidet (wie Werlich 1975
universell geltenden Kategorien als Typen mit seinen Hierarchieebenen Text, Texttyp,
von Texten unbeschadet ihres empirischen Textform, Textformvariante, Textexemplar);
Vorkommens, ziele jene stärker auf die Be- 3. das Modell der Mehrebenenklassifikation,
schreibung (einzelsprachlich möglicherweise die mehrere Typologiestränge nach relevan-
spezifischer) ,Textmuster‘ im Sinne von kom- ten Kriterien auf ein und derselben Abstrak-
munikativen Routinen zur Lösung von Auf- tionsebene koordiniert (wie Heinemann/Vieh-
gaben auf Grund der Analyse von empiri- weger 1991 mit ihren durch Funktionstyp,
schen Daten. Das Interesse richtet sich dabei Teiltextsequenzierung, Strukturierungsmuster,
primär auf die dem kommunikativen Zweck Themencharakteristik, Formulierungsspezi-
gemäßen Konventionen, Formen (auch For- fika, Lexemspezifika charakterisierten Text-
meln), Schemata, Muster eben, oder auf die sortenmatrizen).
Merkmale einzelner Sorten von Texten in Ab- Diese Modelle schließen einander nicht
grenzung von anderen Sorten, nicht in erster aus, sondern ergänzen sich nach Maßgabe
Linie auf den Aspekt der Typologisierung des primären Erkenntnisinteresses bzw. der
von Texten und ihrer Position in Textmodel- spezifischen Fragestellung, d. h., ob es eher
len. Dieses empirische Interesse macht sich um die Deduktion von Analysekategorien
dabei durchaus eine (eingangs informell ein- geht, die sich als theoretische Konstrukte auf
geführte) Lesart von ,Textsorte‘ zunutze, Texteigenschaften (nicht Texte) beziehen
nämlich ihr Verständnis als Sammelbezeich- (Modell 1), oder um die Systematisierung von
nung von Textklassen, die durch alltags- Beschreibungsdimensionen zur Charakteri-
sprachliche Ausdrücke definiert und klassifi- sierung offener Listen von standardisierten
katorisch abgegrenzt werden. Solche Alltags- Textsorten auf der Grundlage empirischer
konzepte werden von Texttypologen gern in Korpusanalysen (Modell 3). Das zweite Mo-
denunziatorischer Absicht genutzt als „prä- dell sei demgegenüber „das einzige, bei dem
theoretische Textsortenbegriffe“ zur Kompi- es sich tatsächlich um Typologisierung im
lation heterogener Listen („Brief, Antrag, Sinne von Sortierung gegebener Mengen von
Bahnhofsdurchsage, literarischer Text, juri- Texten“ handele (Adamzik 1995, 38), das
stischer Text, Rezept, Interview, Partyge- freilich keine (homogene, exhaustive, mono-
spräch, Wetterbericht“: Isenberg 1983, 330), typische) Gesamtklassifikation anstrebe und
deren intuitiv assoziierte Einträge die Text- daher gegen jene ,typologischen Dilemmata‘
sortenforschung allenfalls zu reproduzieren gefeit sei, denen rein deduktiv orientierte An-
vermöchte. Diese Kritik verfehlt freilich ge- sätze sich konfrontiert sähen. Keines der Mo-
rade das ausgewiesen empirisch-systemati- delle indes sieht gesonderte Sektoren vor für
sche Erkenntnisinteresse der Textsortenfor- Textsorten geschriebener oder gesprochener
schung, die zwischen alltagspraktischer Sor- Sprache.
tierung und wissenschaftlicher Klassifikation
wohl zu unterscheiden weiß, indem sie „zu-
4. Gesprochene Sprache
nächst die Kriterien alltagssprachlicher Text-
klassifikation explizit zu machen und sie Textsortenforschung bezog sich in den knapp
dann in einen systematischen Zusammen- 30 Jahren ihrer jungen Geschichte überwie-
hang zu bringen“ sucht (Dimter 1981, 31). gend auf schriftliche Texte (s. Art. 25). Hier
Eine Brücke zwischen den alternativen An- gilt es, sich der „Traditionen des Sprechens“
sätzen sucht Adamzik (1995, 32ff.) mit ihrer zu vergewissern (Schlieben-Lange 1983) und
Unterscheidung dreier Modelle zu schlagen: die Textsortenforschung mit dem kaum
1. das Modell der Typologie, die idealtypisch älteren Zweig der Erforschung gesprochener
die Gesamtheit aller Texte auf Grund eines Sprache zu verknüpfen, der etwa zur gleichen
Kriteriums und auf einer Abstraktionsebene Zeit zu knospen begann. Freilich hatte Be-
differenziert in wenige (daher nicht distink- haghel schon vor 100 Jahren in seinem be-
tive) Klassen (wie Isenberg 1984 mit seinen rühmten Zittauer Vortrag vom 1. Oktober
gnosogenen, kopersonalen, ergotropen, kalo- 1899 auf Unterschiede zwischen geschriebe-
genen, religiotropen, ludophilen Texttypen); nem und gesprochenem Deutsch aufmerksam
2. das Modell einer Typologie, die hierar- gemacht (Behaghel 1927), aber es sollte wei-
chisch auf mehreren Abstraktionsebenen tere 60 oder 70 Jahre dauern, bis sich die Auf-
operiert und nach komplementären Kriterien zeichnung und systematische Analyse gespro-
bzw. durch Untergliederungen innerhalb ei- chener Sprache zu einem anerkannten Seg-
ner Dimension terminologisch differenzierte ment der Sprachwissenschaft zu entwickeln
24. Textsorten der gesprochenen Sprache 285

vermochte. Mittlerweile liegen so zahlreiche terschiede und Aspekte der jeweiligen Text-
Untersuchungen zu Eigenschaften gesproche- herstellungsverfahren im Zentrum des Inter-
ner Sprache vor, dass es mit einem Verweis esses. Erst mit der Entwicklung der Soziolin-
auf exemplarische Überblicke und Zusam- guistik (Ammon/Dittmar/Mattheier (Hg.)
menfassungen hier sein Bewenden haben 1987), der Ethnomethodologie und Konver-
kann (Weiss 1975; Schank/Schönthal 1976; sationsanalyse (Bergmann 1981) sowie der
Rath 1979; Schank/Schwitalla 1980; Tannen Text- und Diskurswissenschaften (Antos u. a.
(Hg.) 1982; Löffler 1985; Klein 1985; Hess- (Hg.) in Vorb.) rückten Fragen der Dialogizi-
Lüttich 1987; Nerius 1987; Koch/Oesterrei- tät, Variation, Prosodie, Phasenstruktur, For-
cher 1990; Schwitalla 1997a). mulierungsverfahren, Problemlösungsstruk-
Allerdings standen dabei seit der Defi- turen etc. in den Blick. Schwitalla (1994, 18f.)
nition des Gegenstandes als „frei formulier- fasst die wichtigsten Bedingungen und Aus-
tes, spontanes Sprechen aus nicht gestell- wirkungen für die Unterschiede zwischen ge-
ten, natürlichen Kommunikationssituatio- sprochener und geschriebener Sprache in der
nen“ (Schank/Schönthal 1976, 7) vor allem folgenden Gegenüberstellung zusammen
phonetische Eigenschaften, syntaktische Un- (Abb. 24.1):

gesprochene Sprache geschriebene Sprache

(a) gesellschaftliche, kommunikative Bedingungen:


Komm. facte-to-face, d. h. raum-zeitl. Koprä- zeitl. und räuml. Trennung von Produzent und
senz; weitere Komm.-kanäle: Prosodie, Mimik, Rezipient; andere parallele Komm.-ebenen:
Gestik, Proxemik Handschrift, Drucktypen etc.
der Adressat ist meistens bekannt der Adressat ist oft unbekannt
normalerweise dialogisch; Intervention anderer normalerweise monologisch; Rezipientenver-
Sprecher halten wird vorweggenommen
größere Variabilität der sprachl. Formen auf stärker kodifiziert und gesamtgesellschaftlich
allen Ebenen der Sprache gültig
(b) Produktion und Rezeption:
Zeitdruck beim Sprechen, große Schnelligkeit größere Planbarkeit über weitere Textstrecken
der Produktion
Korrekturvorgänge bleiben nicht verborgen; Korrekturen können mehrmals wiederholt und
die Genese der Produktion hinterläßt Spuren ihre Spuren gelöscht werden; der Text ist dann
„fertig“
Übertragung durch Schallwellen, deshalb ist sichtbare Materialisierung auf einer dauerhaf-
das Gesprochene flüchtig ten Unterlage
einmaliges Hören, kürzere Gedächtnisspanne Lesen; potentiell wiederholtes Lesen, größere
Gedächtnisspanne
größere Kontexteinbindung, deshalb größerer größerer Zwang zur Explizitheit
Bereich der impliziten, situationsverweisenden
Mitteilung

(c) Ergebnisse für die Äußerungsproduktion:


Die Diskursbedeutung baut sich langsam, im Die Textbedeutung ist in gewisser Weise „fer-
Hin und Her von Sprecherbeiträgen mehrerer tig“; sie muß vom Leser reproduziert, entdeckt
Sprecher auf. Der „Hörer“ wirkt an Textge- werden. Der Schreiber kann dem Text stili-
staltung und Textbedeutung mit, er kann voll- stisch und ästhetisch eine einheitliche Form ge-
zogenen Äußerungen eine neue Bedeutung ge- ben.
ben, beabsichtigte Sprechhandlungen des ande-
ren verhindern etc. (Aushandlungskonzept).

Abb. 24.1
286 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

Der Vergleich zwischen Textsorten geschrie- nen Überblick über die gebräuchlichen Text-
bener und gesprochener Sprache wurde bis- sorten des Erzählens und Berichtens, weder in
lang freilich meist nur als Desiderat benannt, der gesprochenen noch in der geschriebenen
aber nicht betrieben in empirisch repräsenta- Sprache“ (Schwitalla 1997b, 41). Immerhin
tiver, systematisch kontrastiver Weise. Das wissen wir durch die weitgehend unkoordi-
liegt vermutlich nicht zuletzt daran, dass es nierten Anstrengungen in Volkskunde und
kaum Textsorten gibt, die in genuin schriftli- Kulturwissenschaft, in Literatur-, Sprach-
cher und genuin mündlicher Variante ver- und Textwissenschaften relativ viel über die
gleichbar vorliegen, also solche, die nicht ein- spezifischen Formen des Erzählens, ihren
fach nur von einem Medium in das andere kulturellen Wandel, ihre sozialen Funktions-
übertragen werden (wie Gesprächsproto- domänen, ihre subtypologischen Ausprägun-
kolle, Presse-Interviews, Erzählungen, Witze- gen in festen Mustern und Textsorten (wie
und Sprichwörtersammlungen), oder solche, Witz, Anekdote, Sage, Märchen, Legende,
die zum Zwecke mündlichen Vortrags in Klatsch, Gerücht etc.), ihre Phasenstrukturen
sprechsprachlichem Rhythmus schriftlich mit den (schon von Labov 1978, 58⫺99) be-
konzipiert wurden (Reden, Predigten, Vorle- schriebenen Stadien der Ankündigung, der si-
sungen, News-Shows). Für das informelle tuativen Orientierung (Circumstantien der
Alltagsgespräch, das Party-Gespräch, den Zeit, des Ortes, der beteiligten Personen), der
Klatsch und den Small Talk gibt es kaum ge- Ereignisdarstellung mit typischer Gesche-
schriebene Pendants, es sei denn in der Lite- henskomplexion, Problemkomplikation und
ratur (vgl. Hess-Lüttich 1984; ders. 2000; Pointe, der Schlussfigur oder Coda mit Be-
Betten 1985). Das gilt selbst für vergleichs- wertung und Rückkehr in die Erzählgegen-
weise gut erforschte Textsorten im Sinne von wart. Je mehr wir jedoch wissen und je breiter
die Materialgrundlage wird, desto schneller
Gesprächssorten wie Beratungs-, Schlich-
scheinen sich die gefundenen textsortenkon-
tungs-, Streitgesprächen (Nothdurft 1984;
stitutiven Ordnungsschemata wieder zu ver-
ders. u. a. 1994; ders. (Hg.) 1995; ders. 1996;
flüchtigen. Die Subtypen vermehren sich mit
Schröder (Hg.) 1985; ders. (Hg.) 1997; Gru-
der Differenzierung der Analyse, die mono-
ber 1996): Texte der Ratgeberliteratur, juristi- szenische Ereignisstrukturierung wird kom-
sche Schriftsätze in Schlichtungsverfahren, pliziert durch episodische Insertionen, Vor-
schriftliche Dispute (disputationes) über Strit- und Rückverweise, Unterbrechungen, Kom-
tiges folgen anderen Konventionen des Text- mentare, Bewertungen, Wiederholungen, Aus-
aufbaus, der Argumentations- und Phasen- lassungen, Parallelerzählungen, Hierarchisie-
struktur). rung von Sequenzen, polyszenische Assozia-
Meistens konzentrieren sich explizit ver- tionsketten, Verteilung der Erzählschritte auf
gleichsmotivierte Analysen auf Erzählungen, mehrere Sprecher im polylogischen Erzählen
sei es in der (primär literaturwissenschaftlich etc. Beim näheren Hinschauen auf ein Bei-
geprägten) Narrativik bzw. Narratologie spiel narrativer Textsorten wie Illustrieren
(neueste Positionen versammeln Grünzweig/ stößt Schwitalla (1997b) auf ein ganzes „Text-
Solbach (Hg. 1999), sei es in der (linguistisch sortenfeld narrativer mündlicher Text“, Teil-
instrumentierten) Analyse von Erzählungen texte oder Textteile mit abgrenzbaren Funk-
im Alltag (Ehlich (Hg.) 1980; Quasthoff tionen wie Exempel, Rekonstruktion, Ré-
1980). Es scheint kein Zufall, dass es sich da- sumé, Zitat, Beleg, Imitation, Anekdote,
bei um tendenziell monologische Textformen Apophthegma, Formeln und Schematismen,
handelt, bei deren mündlicher Variante die individuelle oder soziale Charakterisierung,
Adressaten des Textproduzenten typischer- bis einem der Begriff der ,Textsorte‘ als Sam-
weise an zwei Punkten der Ablaufstruktur an melausdruck für alle diese Erscheinungsfor-
der Textkonstitution mitwirken, nach der men zunehmend auszufransen droht. Derlei
Annoncierung und nach der Pointe; dazwi- Unübersichtlichkeiten können freilich nur
schen bleiben ihnen allenfalls Hörersignale, den irritieren, der zwischen idealisierender
Kommentarparenthesen, Bewertungssignale, Texttypologie und empirischer Textsortenbe-
narrative Parallelinsertionen (vgl. Schwitalla schreibung zu differenzieren sich nicht die
1994, 34). In seinen knappen Hinweisen zu Mühe macht.
„Textformen“ gesprochener Sprache hebt
Schwitalla (1997a, 137⫺140) denn auch diese 5. Gesprächssorten
narrative Sorte besonders hervor. Dennoch
wagt er die Behauptung, wir hätten trotz der „Der normale Ort der GS [also der Erfor-
reichhaltigen Literatur zum Thema „noch kei- schung gesprochener Sprache bzw. Sprach-
24. Textsorten der gesprochenen Sprache 287

verwendung] sind Gespräche zwischen zwei kombinierbar: eine Abschweifung im Verlauf


oder mehreren Beteiligten von Angesicht zu der Seminardiskussion, eine episodische Aus-
Angesicht in allen Bereichen der alltäglichen weitung zu Rand- und Seitenthemen, mag in-
Lebenswelt“ (Schwitalla 1994, 18). Die un- formell sein, aber auch öffentlich; die Plaude-
übersehbare Vielfalt dieser Lebensbereiche rei der Nachbarn über den Gartenzaun ist in-
als der Einbettungskontexte von Gesprächen formell und privat, die mit dem Busfahrer ist
hat man zur besseren Übersicht schon früh informell im institutionellen Rahmen des öf-
in systematischer Absicht zu sortieren ge- fentlichen Nahverkehrs, das förmliche ,An-
sucht. Die in zahlreichen Disziplinen thema- halten um die Hand der Tochter‘ gilt als (hi-
tisierte soziale Praxis sprachlich handelnder storisches) Ritual in privatem Rahmen usf.
Menschen in den verschiedensten Kommuni- Kneipengespräche, Partygespräche, die
kationssektoren der Gesellschaft begründet sprichwörtlichen Kurzgespräche bei der Be-
Gesprächsbereiche in thematischen, funktio- gegnung mit Bekannten beim Einkaufen:
nalen und redekonstellativen Hinsichten: „In konversationelle Routinen mit der Funktion,
der Handlungsgrammatik einer Gesellschaft sich des fortbestehenden sozialen Kontaktes
sind Gesprächsbereiche als Typisierungen der zu versichern, sind als phatische Kommunika-
sprachlichen Interaktion festgelegt“ (Henne/ tion kategorial zu trennen von Gesprächssor-
Rehbock 1982, 29). ten, die sich wie Werkstattgespräche, Labor-
Mit Hilfe solcher im Anschluss an Schütz gespräche, Kolloquien, Konferenzen, Bera-
(domains of relevance) oder Fishman (socio- tungen, Anhörungen etc. auf die Arbeit der
linguistic domains) definierten Gesprächsdo- daran Beteiligten beziehen: Gespräche sind
mänen lassen sich soziale Rahmen und demnach entweder arbeitsentlastet oder ar-
sprachliche Konventionen, Konstellationen beitsorientiert. Sie können den Arbeitsvor-
des Redens und ihnen gemäße Formen des gang z. T. erst ermöglichen, sind Teil der Tä-
Sprechens aufeinander beziehen. Teun van tigkeit oder auf sie bezogen oder begleiten sie
Dijk (1980, 236f.) hat in seiner Einführung in nur ohne direkten Bezug wie das ,Montags-
die Textwissenschaft solche Typen sozialer gespräch‘ über Wochenenderlebnisse zwi-
Rahmen zusammengestellt und ihnen stereo- schen Bauarbeitern: Das Gespräch ist also
type Interaktionsformen zugeordnet (Abb. empraktisch in (non-verbale) instrumentelle
24.2). Tätigkeiten eingebettet oder apraktisch davon
Solche offenen Listen ⫺ jeder kann sie unabhängig. Der Dialog zwischen Patient,
nach seiner Erfahrung ergänzen ⫺ sind nun Zahnärztin und Assistent während einer Be-
mit Hilfe von Kriterien, wie sie teilweise handlung ist prototypisch empraktisch (und
schon in der Text- und Stilforschung der Pra- als bloßes Notat der sprachlichen Handlun-
ger Schule formuliert wurden (vgl. Fried gen kaum verständlich ohne die Kenntnis der
(Hg.) 1972), systematisch zu ordnen. Zudem begleitenden nichtsprachlichen Handlungen),
lassen sich die sozialen Rahmen oder Domä- ein akademischer Disput zwischen Anhän-
nen in hierarchisch geordnete Einbettungs- gern konkurrierender Paradigmen gilt als
kontexte sortieren, z. B. das Anamnese-Ge- (weitgehend) situationsabstrakt, aber nur im
spräch im Rahmen ärztlicher Praxis im Rah- Rahmen wissenschaftlicher Diskursräume
men des Krankenhauses im Rahmen des Ge- nachvollziehbar (zu Fachtextsorten vgl. Kal-
sundheitswesens; das Verhör im Rahmen po- verkämper 1983).
lizeilicher Ermittlung im Rahmen der Straf- Die Gesprächsformen und die damit je-
verfolgung im Rahmen des Justizwesens. Die weils verknüpften rhetorischen Strategien
Justiz regelt die Bestrafung Schuldiger „im und Handlungsmuster variieren oft erheb-
Namen des Volkes“ in öffentlicher Verhand- lich, je nachdem, ob man mit Gleichrangigen
lung nach ihren Verfahrensregeln; Eltern be- spricht, mit Geschwistern, Freunden, Kolle-
strafen unfolgsame Kinder nach familiären gen, Nachbarn; oder mit Ranghöheren, mit
Gepflogenheiten. Das Handlungsmuster ,Be- dem Chef und Vorgesetzten, mit dem Profes-
strafen‘ sieht also ganz anders aus, wenn es sor, mit dem Richter oder Arzt; oder mit
sich in öffentlichem oder privatem Rahmen Rangniedrigeren, mit Kindern, mit Hilfskräf-
vollzieht. Die Plauderei mit einem auf dem ten, Angeklagten, Patienten, Heiminsassen.
Flur getroffenen Studenten ist informell, seine Die Konstellation hängt davon ab, welche
Beratung in der Sprechstunde des Professors, Rollen die Teilnehmer im Verhältnis zu ein-
die Diskussion mit den Kommilitonen im Se- ander einnehmen: institutionelle Rollen (Leh-
minar geschieht im institutionellen Rahmen rer/Schüler, Richter/Angeklagter) oder so-
der Universität. Die Kriterien sind vielfältig ziale Geschlechtsrollen (Mann/Frau), Geber-/
288 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

(1) 1. im Haus, zu Hause ⫺ Eltern, Kinder, Freund(in), Mann, Frau


2. außerhalb des Hauses, der Wohnung ⫺ Nachbar(n), Freund(in)
3. Schule ⫺ Schüler, Lehrer(in), Freund(in), Kollege, Direktor, Inspektor, Hausmeister,
Sekretär(in) usw.
4. Universität ⫺ Student(in), Dozent(in), Assistent(in), Kollege, Kollegin, Mitarbeiter(in),
Sekretär(in) usw.
5. Büro ⫺ Direktor, Chef, Schreibkraft, Stenotypistin, Sekretär(in), Kollege, Kollegin,
Kantinenpersonal usw.
6. Fabrik ⫺ Arbeiter, Vorarbeiter, Abteilungsleiter, Betriebsleiter, Direktor, Personalchef,
Verwaltungspersonal usw.
7. Straße ⫺ Fußgänger, Radfahrer, Autofahrer, Passanten, Straßenkehrer, Hausierer, Poli-
zisten, Taschendiebe usw.
8. öffentliche Verkehrsmittel ⫺ Chauffeur, Fahrer, Schaffner, Fahrgast, Kartenverkäufer,
Kontrolleur usw.
9. öffentliche Gebäude (vgl. 5):
a. Gemeindebehörden ⫺ Angestellter, Beamter, Chef usw.
b. Ministerien ⫺ Minister, Staatssekretär, Beamter usw.
10. Gesundheitspflege und ihre Institutionen:
a. Krankenhaus, Klinik ⫺ Patient, Schwester, Pfleger, Arzt
b. Altenpflegeheim ⫺ alte Menschen, Betreuer(in) usw.
c. Kinderheim ⫺ Kind, Schwester, Betreuer(in), Arzt usw.
d. Sanatorium ⫺ Patient, Kurgast, Schwester, Pfleger, Arzt usw.
e. Beratungsstelle (z. B. Säuglingspflege) ⫺ Eltern, Kinder, Patienten, Schwester, Pfle-
ger, Fachkraft, Arzt usw.
f. Arztpraxis ⫺ Patient, Arzt, Helferin usw.
11. Gericht ⫺ Beschuldigter, Richter, Staatsanwalt, Verteidiger usw.
12. Gefängnis ⫺ Strafgefangener, Vollzugsbeamter usw.
14. Bank ⫺ Kunde, Angestellter, Bankbeamter usw.
15. Café, Restaurant, Club ⫺ Gast, Kunde, Kellner, Serviererin, Ober, Garderobenfrau usw.
16. Museum, Ausstellung ⫺ Museumswärter, Besucher, Führer usw.
17. Hotel ⫺ Gast, Portier, Zimmermädchen usw.
18. Radio, Fernsehen ⫺ Ansager(in), Schaupsieler(in), Moderator, Redakteur(in), Journa-
list(in) usw.
(2) 1. aufstehen, erwachen (1, 10, 12, 17)
2. Gruß, Plauderei (2⫺17)
3. Schulstunde (3)
4. Seminar (4)
5. Klassenarbeit, Reifeprüfung (3)
6. Examen, Erste Staatsprüfung, Magisterprüfung (4)
7. bewerben; entlassen werden (3, 4, 5, 6 usw.)
8. Frühstückspause, Mittagspause (5, 6, 9, 10 usw.)
9. nach dem Weg fragen, den Weg zeigen (7)
10. Karte kaufen; Straßenbahn/Bus/Zug nehmen (8)
11. Strafzettel, Strafmandat erhalten, austeilen (7)
12. untersuchen, befragen (10)
13. Antrag stellen, Verlautbarung ausgeben (9)
14. sich beraten lassen (10)
15. anklagen, verteidigen, urteilen (11)
16. kaufen/verkaufen (13)
17. abheben, überweisen, Kredit aufnehmen (14)
18. Essen, Trinken bestellen, servieren (15)
19. Eintrittskarte kaufen, Katalog erstehen (17)
20. ansagen, ankündigen (18)

Abb. 24.2
24. Textsorten der gesprochenen Sprache 289

Nehmer-Rollen (Kellner/Gäste, Anwälte/Kli- rate formulierten Textsorten gesprochener


enten) oder soziale Altersrollen (alt/erfahren/ Sprache. Dazu gehören nach der nicht wei-
weise gegenüber jung/unerfahren/naiv oder ter ausgeführten Übersicht von Schwitalla
alt/engstirnig/unflexibel gegenüber jung/auf- (1997a, 135) insbesondere Gerichtsverhand-
geschlossen/spontan); oder davon, wie sich lungen, Unterrichtsgespräche, Beratungsge-
die Teilnehmer gegenseitig einschätzen (Ex- spräche, Schlichtungsgespräche, Behördenge-
perte/Laie, gebildet/ungebildet, einflussreich/ spräche, Mediengespräche, Arzt-/Patienten-
ohnmächtig), ihr soziales Verhältnis definie- Gespräche, Therapiegespräche, Familienge-
ren (arm/reich, Unternehmer/Arbeiter) oder spräche, Freizeitgespräche, Betriebskommu-
ihre Beziehung (intim, befreundet, bekannt, nikation und interkulturelle Kommunika-
förmlich, kühl). tion. Einige knapp resumierte Ergebnisse aus
Die Form des Gespräches hängt darüber diesem rasch expandierenden Sektor Ange-
hinaus vom Medium ab, mittels dessen es ge- wandte Gesprächsforschung (vgl. Becker-
führt wird: Gespräch von Angesicht zu Ange- Mrotzek/Brünner 1992) sollen hier nur exem-
sicht oder in Briefen (auch Kassetten), Tel- plarisch der Veranschaulichung der damit
fongespräche oder Fernsehgespräche haben verbundenen Forschungsaufgaben dienen
jeweils eine eigene Struktur. Durch die Kom- (vgl. Hess-Lüttich 1996, 941ff.).
bination von verschiedenen Zeichensystemen
(Schrift, Mimik, Gestik, Akustik) und techni-
schen Bedingungen (Zeitversetztheit, Öffent- 6. Angewandte Gesprächsforschung
lichkeitsgrad; Kamerablick, Konferenzschal-
tung) werden unterschiedliche Sinne ange- In der Gesprächstheorie wurde aus wohlmei-
sprochen. Mit dem Grad der Öffentlichkeit nend-emanzipatorischer Parteinahme lange
(private Gespräche am Kamin, halböffent- Zeit die Fiktion einer Diskursrepublik auf-
liche Gespräche in Expertengremien mit qua- rechterhalten, „in der man mit Hilfe von
lifiziertem Publikum, öffentliche Gespräche idealisierenden Annahmen in ausschließlich
in den Massenmedien) hängt auch die Adres- vernünftigen Prozessen zu ausschließlich ver-
saten-Orientierung zusammen: Meine ich nur nünftigem Konsens gelangt, weil die in jeder
mein unmittelbares Gegenüber oder ein Pu- Hinsicht kompetenten Mitglieder dieser eher
blikum von Zeitungslesern oder Fernsehzu- transzendentalen Kommunikationsgemein-
schauern; will ich jemanden über etwas infor- schaft kaum noch irdische Ziele zu verfol-
mieren, was dieser nicht weiß; oder drängt es gen scheinen“ (Geißner 1981b, 75; vgl. ders.
mich, meine Erlebnisse zu erzählen; will ich 1996). Demgegenüber konnte der Angewand-
jemandem etwas befehlen oder eine Zuhörer- ten Gesprächsforschung nicht verborgen blei-
schaft überzeugen, überreden, manipulieren. ben, dass Gespräche in der Praxis des gesell-
Die Gesprächsstrategien werden jeweils an- schaftlichen Alltags nicht selten systematisch
dere sein; sie sind jedoch ziemlich sicher vor- verzerrt sind und alles andere als herrschafts-
hersagbar ⫺ bei spontanen Gesprächen weni- frei und symmetrisch ablaufen. Dies kommt
ger, bei routinierten mehr, festgelegt sind sie besonders deutlich in der sogenannten Insti-
bei Gesprächsritualen. tutionellen Kommunikation (Giesecke 1988;
Solche Kriterienkataloge standen am Be- Koerfer 1994; Nothdurft 1996) zum Aus-
ginn der empirisch-systematischen Gesprächs- druck, deren Beobachtung die Gesprächsfor-
forschung in den frühen 80er Jahren (Henne/ schung der letzten Jahre wesentliche Impulse
Rehbock 1982) und boten eine Fülle von An- verdankt. Zur Illustration seien deshalb
haltspunkten zur Beschreibung faktisch vor- im Folgenden aus diesem Forschungssektor
kommender Gesprächssorten. In den darauf einige Beispiele genannt, ohne deshalb die
folgenden beiden Dekaden gewann die Ge- Ergebnisse in anderen Bereichen angewand-
sprächsforschung eine enorme Ausweitung ter Gesprächsforschung unterzubewerten. Im
ihres Gegenstandsfeldes durch die Anwen- Gegenteil: Eine (hier nicht zu leistende) For-
dung auf immer weitere Gesprächsbereiche, schungsübersicht (Schröder/Steger (Hg.)
Gesprächssorten, Gesprächstypen und verfei- 1981; v. Dijk (Hg.) 1985; Becker-Mrotzek
nerte dabei ihr methodisches Instrumenta- 1990, 1991; Hundsnurscher/Weigand (Hg.)
rium erheblich (vgl. Diewald 1991). Heute 1991ff.; Fritz/Hundsnurscher (Hg.) 1994;
liegen empirische Untersuchungen vor zu Brünner/Graefen (Hg.) 1994; Kallmeyer (Hg.)
nahezu allen der vor wenigen Jahren noch 1996; Brünner/Fiehler/Kindt (Hg.) 1999)
aus systematisch-klassifikatorischem Inter- würde auf die wichtigen Untersuchungen ein-
esse programmatisch als Forschungsdeside- zugehen haben, die international vor allem
290 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

im Laufe der 80er und 90er Jahre etwa zur Antwort beeinflussen. Ist sie negativ, kann sie
Rolle des Gespräches in der Literatur (Hess- den kooperativen Gesprächsmodus gefähr-
Lüttich 1981; ders. 1984; ders. 1985; Betten den. Ist sie positiv, stehen verschiedene Stra-
1985), in der Philosophie (Heinrichs 1981; tegien zur Wahl, den Tatsachverhalt darzu-
Theunissen 1981; Kögler 1992), in Medizin stellen (bestätigen, leugnen, umdeuten, recht-
und Psychotherapie (Flader/Wodak-Leodol- fertigen, entschuldigen, ausweichen usw.).
ter (Hg.) 1979; Lorenzer 1981; Ehlich u. a. Von der Wahl der Strategie hängt für den An-
(Hg.) 1990); Redder/Wiese (Hg.) 1994), in der geklagten viel ab: Wechselt er zwischen zwei
Familie (Martens 1974), in Sozialisation und Strategien oder koppelt zwei mit einander
Adoleszenz (Henne 1986; Schlobinski/Kohl/ nicht zu vereinbarende Strategien, gerät er
Ludewigt 1993; Androutsopoulos 1998), in unter neuen Rechtfertigungsdruck; weicht er
der Beratung (Fiehler/Sucharowski (Hg.) aus, wird auch das entsprechend bewertet;
1992), in der rituellen (Werlen 1984; Paul schweigt er, leitet der Richter zur Ausgangs-
1990), maschinellen (Weingarten/Fiehler (Hg.) sequenz zurück; wechselt er das Thema, gilt
1988; Höflich (Hg.) 1997; Weingarten (Hg.) das als Ausweichmanöver usw. Seine einzige
1997), betrieblichen (Brünner 1987) und Möglichkeit, auf den ,Vorhalt‘ eines Sachver-
interkulturellen Kommunikation (Scollon/ haltes nicht einzugehen, ist die Verweigerung
Scollon 1995; Clyne 1996) entstanden sind. der Aussage, was freilich seine Bereitschaft
Unabhängig von dem rhetorischen Inter- zur Zusammenarbeit in Frage stellt. Lässt er
esse an der Gerichtsrede oder Aspekten der sich zur Sache ein, wird die ,Befragung‘ die
forensischen Argumentation widmet sich ein Plausibilität, Folgerichtigkeit, Widerspruchs-
fruchtbarer Zweig der Angewandten Ge- freiheit der Darstellung zu erweisen haben,
sprächsanalyse Formen des Gesprächs in der sofern sie glaubwürdig sein soll.
Institution Gericht, an Hand deren die pro- Das Beispiel illustriert einige typische
blematischen Verständigungsbedingungen in Merkmale dieser Textsorte: das Ungleichge-
der strikt reglementierten Situation der ,Ver- wicht der Redekonstellation, in der der Vor-
handlung‘ zwischen den Vertretern der Insti- sitzende die Gesprächsführung innehat, das
tution und dem Angeklagten als ihrem Klien- Rederecht vergibt, die Dauer der Redebei-
ten exemplarisch zu beschreiben sind. In ei- träge bestimmt, Themen einführt und wech-
nem Strafverfahren etwa wird das Gespräch selt, die Sprachebene wählt und Bewertungen
zwischen Richter und Angeklagtem durch vornimmt. Umgekehrt muss der Angeklagte
das detaillierte Reglement der Strafprozess- den thematischen Vorgaben folgen, seine Bei-
ordnung bestimmt, die allein für die Haupt- träge müssen logisch stringent sein und den
verhandlung 25 Einzelsegmente verbindlich Sachverhalt treffen, den der Vorsitzende
vorschreibt. Das Gespräch ist hochgradig ri- meint; die Argumentationsschritte müssen
tualisiert und rhetorisch strukturiert (Hoff- folgerichtig aufbauen und dürfen keine Wi-
mann 1983). Seine einzelnen Phasen (wie die dersprüche enthalten, sie müssen vom Gegen-
der Vernehmung zur Person und der zur Sa- über als zur Erhellung der Sache geeignet
che) werden in der Regel durch tradierte For- empfunden werden; man darf nicht erzählen,
meln explizit voneinander abgegrenzt. Die was einem selber wichtig erscheint. Verstöße
Form des Gespräches ist geregelt durch Vor- gegen solche Maximen haben Sanktionen zur
schriften, die das Frage-/Antwort-Schema be- Folge, sofern nicht sogleich Motive, Erklä-
stimmen. Der Angeklagte darf die Antwort in rungen oder Korrekturen geboten werden.
dieser Phase nicht verweigern, allenfalls ver- Ähnlich wie die Ursprünge der Rechtsfin-
zögern, was jedoch in der Regel vergeblich dung liegen auch die der Heilung im vor-
ist. Sein Dilemma besteht darin, dass das historischen Dunkel der (Sprach-)Magie.
asymmetrische Gespräch zugleich auf einen Schon in den Ritualen der Medizinmänner
Modus der Kooperation festgelegt ist, von kam der Sprache besondere Bedeutung zu.
dem er praktisch nur unter der Bedingung Während das psychotherapeutische Gespräch
abweichen kann, dass er dem Richter einen Mittel zum Zweck der Heilung ist, ist das
Verfahrensfehler nachweist. Aber das setzt zwischen Arzt und Patient Voraussetzung
wiederum verfahrensrechtliche Kenntnisse zum Zweck der Heilung. Dennoch verläuft es
voraus, über die er in der Regel nicht verfügt. unter den Bedingungen institutioneller Kom-
Die ,Vernehmung zur Sache‘ wird durch munikation nicht immer ohne Konflikte. Die
den Hinweis des Richters eingeleitet, dass ärztliche ,Visite‘ ist dafür ein zweites an-
der Angeklagte aussagen könne, aber nicht schauliches Beispiel für Textsorten gespro-
müsse. Die Form dieses Hinweises kann die chener Sprache in Institutionen (Bliesener
24. Textsorten der gesprochenen Sprache 291

1982). Auch hier ist die Asymmetrie des Man kann dies für den Unterricht über-
Kommunikationsverhältnisses Quelle poten- haupt verallgemeinern, denn genauere
tieller Konflikte, die den Beteiligten nicht im- Kenntnisse darüber, wie das Unterrichten als
mer bewusst sind, aber dennoch Wirkung zei- institutionelles Gespräch abläuft, bringen uns
tigen in dem Unbehagen, das viele Patienten vielleicht auch den Ursachen seines oft be-
in dieser hochspezifischen Gesprächssitua- klagten Misslingens oder Scheiterns näher.
tion empfinden, in der fast alle Regeln miss- Zahlreiche Untersuchungen sind in den letz-
achtet werden, die für Alltagsgespräche gel- ten Jahren nach der Rezeption entsprechen-
ten (vgl. Nothdurft 1992). Der Patient ist we- der Forschungsreihen in den USA auch im
niger Gesprächspartner, mit dem gesprochen deutschsprachigen Raum zum ,schulischen
wird, als ein Gegenstand, über den gespro- Diskurs‘ zwischen Lehrer und Schüler durch-
chen wird. Er sieht, dass über ihn gesprochen geführt worden (Ehlich/Rehbein (Hg.) 1983).
wird, hört aber oder versteht nicht, was über Die institutionellen Bedingungen des Ge-
ihn gesagt wird. Der Jargon der klinischen sprächs schlagen sich in den Maximenkon-
Laborsprache erschwert ihm, dem Gespräch flikten und der Widersprüchlichkeit der
zu folgen. Dieser Jargon enthält Ellipsen, An- Handlungsmuster nieder (Ehlich/Rehbein
deutungen, Verkürzungen und andere rheto- 1986).
rische Mittel der Gesprächsökonomie, die es Die in Schulen und Hochschulen durchge-
ihm neben der verschachtelten und ineinan- führten Beratungsgespräche sind ein anderer
der verfugten Struktur ihm unverständlicher Gesprächstyp, dem am Beginn der empiri-
Themen praktisch verwehren, sich als Ge- schen Gesprächsforschung das Interesse von
sprächspartner in einer Weise zu beteiligen, in diesen Institutionen arbeitenden Ge-
die nicht als störende Intervention empfun- sprächsanalytikern galt und das sich sehr
den würde. Entsprechende Versuche werden rasch ausdehnte auf Beratungen in den Me-
oft mit einer Batterie von ,Abweisungsstrate- dien (Ratgebersendungen im Rundfunk), in
gien‘ beantwortet, mittels derer der Arzt oder Behörden, Kirchen und anderen öffentlichen
das Krankenhauspersonal das Gespräch zu und halböffentlichen Institutionen. Am Bei-
spiel von Gesprächen auf dem Sozialamt
steuern und im Sinne der Institution zu effek-
konnten die Besonderheiten der Textsorten
tivieren strebt. Wenn solche Strategien nicht
gesprochener Sprache in Verwaltungsbehör-
als konfliktträchtig bewusst werden, dann
den besonders deutlich dargestellt werden
liegt das vielleicht daran, dass ihre rhetori-
(Wenzel 1984). Der Beamte sucht aus den Re-
sche Form den im Alltagsgespräch genutzten
debeiträgen des Klienten zu seinem individu-
Mittel entspricht. Die Rückfragen, Erläute-
ellen Anliegen jene objektiven Merkmale her-
rungen, Wiederholungen, Paraphrasen, Er- auszufiltern, die im Sinne der rechtlichen Be-
gänzungen, Richtigstellungen und Begrün- stimmungen für die Prämissen seines Han-
dungen, die normalerweise der Verständnissi- delns als Agent der Institution relevant sind.
cherung dienen, bewirken hier durch ihren Zum Zwecke der ,Prüfung‘ bedient er sich ei-
verstärkten Einsatz eine massive Steuerung: ner Reihe rhetorischer Strategien, die mehr
Eine etwas zu ausführliche Begründung er- oder weniger kooperativ sein können. Zu den
schlägt den Patienten mit Informationen, eher kooperativen Strategien zählen solche
eine fachsprachlich zu präzise Erläuterung des ,aktiven Zuhörens‘ (Hörersignale!), der
lässt ihn verstummen, eine etwas zu beharrli- Verstehenssicherung, der zielführenden Ge-
che Paraphrase ihn resignieren. Die Steue- sprächssteuerung durch Paraphrasen, Resü-
rung ist ebenso wirksam wie unauffällig, weil mees, Rechtfertigungen und Normenver-
von dem einen Gesprächspartner als Mittel weise. Solche Strategien können jedoch auch,
der Verständnissicherung geltend gemacht wie schon die Beispiele der Gespräche zwi-
werden kann, was von dem anderen eher als schen Richter und Angeklagtem, Arzt und
Mittel der Verständnisbehinderung erfahren Patienten, Lehrer und Schüler gezeigt haben,
wird. Die genaue Analyse des tatsächlichen eher unkooperativ gebraucht werden. Eine
Ablaufs solcher Gespräche ist jedoch die Vor- Verstärkung der Hörersignale kann auch ein
aussetzung für die Entwicklung von Ge- Zeichen für Ungeduld oder Desinteresse sein.
sprächsleitfäden, die für die gesprächsrhetori- Unterbrechungen können auf straffere Dar-
sche Schulung und Fortbildung im Rahmen stellung und genauere Argumentation zielen,
der ärztlichen Ausbildung allmählich an Be- aber auch der Abwehr unerwünschter oder
deutung gewinnen (vgl. Ehlich u. a. (Hg.) für unerheblich gehaltener Informationen
1990). dienen. Zusammenfassungen, Wiederholun-
292 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

gen, Paraphrasen können auf Verstehenskon- den Gesprächsbeiträgen entfalteten Informa-


trolle zielen, aber auch auf Uminterpretation tionsspektrums. Der rituelle Charakter dieses
des vorgebrachten Themas. In ihrer Kumula- Gesprächstyps zeigt sich besonders deutlich
tion häufen sie sich zuweilen im Verein mit an den Gesprächsrändern mit den rituellen
Unterstellungen, Fragen, Aufforderungen, Schritten der An- und Abmoderation, aber
Rechtfertigungen, Hinweisen auf das Gesetz auch in der Inszenierung der Kontroverse
und die eigene Weisungsgebundenheit, Selbst- zum Zwecke politischer Werbung (Holly/
inszenierung (image) durch Allaussagen, topi- Kühn/Püschel 1986; dies. (Hg.) 1989).
sche Sentenzen und stereotype Schematismen Die Talkshow als (meist im Fernsehen,
zu einer verhörähnlichen Strategie, der sich aber auch auf der Bühne) zur Schau gestelltes
der Klient als Laie hilflos ausgesetzt sieht. Gespräch dient demgegenüber weniger der
Der Konflikt in solchen Gesprächen erklärt argumentativen Themenbehandlung als der
sich aus der unterschiedlichen Wahrnehmung Selbstdarstellung der Protagonisten. Der gen-
der Wirklichkeit: Der Bürger erklärt seine respezifische Zwang zur Zwanglosigkeit erin-
Lage aus äußeren Umständen, die Bürokratie nert an die Konversationsmaximen Mlle de
aus zu verantwortendem Verhalten. Die Er- Scudérys. Er wird balanciert durch die ver-
klärung des Bürgers wird vorsorglich als meintliche Authentizität der inszenierten
Schutzbehauptung gewertet, der ein eigenes ,Show‘ des Gesprächs, in der der Gesprächs-
taktisches Programm entgegengesetzt wird, leiter und seine Gäste einander durch Protek-
das dem Zweck der Institution dient und die tionsstrategien in gutem Lichte erscheinen zu
routinemäßige Bearbeitung des Vorgangs ga- lassen, durch Provokationsstrategien aus der
rantiert. Reserve zu locken oder gar durch Disqualifi-
Der Mangel an Authentizität wurde kationsstrategien zu entlarven versuchen. Zu-
schließlich bei einem in sich außerordentlich weilen wird das Gespräch der Gäste im inne-
vielfältigen Gesprächsbereich beschrieben, ren Zirkel ergänzt durch die Einbeziehung
bei dem Alltäglichkeit und institutionelle Re- weiterer in sich gestaffelter Öffentlichkeitsfo-
striktionen, Spontaneität und Inszenierung in ren des Publikums im Studio oder der Zu-
einer eigentümlichen Wechselbeziehung ste- schauer an den Geräten zu Hause, die sich
hen: den ,Mediengesprächen‘ (Burger 1991; mittels Telefon (vgl. auch die phone ins im
Linke 1985). Sie werden zugleich zwischen Radio) in das Gespräch einschalten können.
den Partnern und für ein Publikum geführt, Die Untersuchung dieses Bereiches führt zu-
sie sind auf Öffentlichkeit hin angelegt und rück zu dem weiten Feld der Telefonkommu-
für sie arrangiert. Dies erklärt ihre spezifische nikation, mit deren Analyse die Angewandte
trialogische Gesprächsform, die gekennzeich- Gesprächsforschung ihren Anfang nahm
net ist durch eine Diskrepanz zwischen for- (Forschungsgruppe Telefonkommunikation
mal partnerzentriertem Gesprächsverhalten (Hg.) 1989f.; Hess-Lüttich 1990) und damit
(z. B. bei den Anredeformen) und faktisch eine der wesentlichen Voraussetzungen schuf
öffentlichkeitsorientierten Handlungszielen für die Entwicklung von Ansätzen nicht nur
und Wirkungsabsichten. Die gängigsten Text- taxonomisch deduzierter, sondern empirisch
sorten gesprochener Sprache in den Massen- fundierter Dialogtypologie.
medien sind Interview, Diskussion und, fern-
sehtypisch, Talkshow. Sie dienen entweder
primär der journalistischen Informationsver- 7. Dialogtypologie
mittlung (Interview) oder der Unterhaltung
(Talkshow) oder beidem (Diskussion). Das Obwohl eine sachadäquate Typologie eher
Interview wurde bislang gesprächsanalytisch am Ende als am Anfang der Erforschung ei-
am gründlichsten untersucht im Hinblick auf nes Gesprächsbereichs zu erwarten stehe (Eh-
dessen besondere Redekonstellation, die lich 1986, 59) und obwohl man nach allge-
Techniken der Gesprächssteuerung, der Redi- meiner Auffassung „von der Aufstellung ei-
gierung der mündlichen Form zum schriftli- ner in sich stimmigen Gesprächstypologie
chen Text im Presse-Interview, der Varianten […] noch weit entfernt“ sei (Brinker/Sager
von Radio- und Fernsehinterviews (Berens 1989, 113), wurden entsprechende Versuche
1975; Schwitalla 1979; Hoffmann 1982). Die immer wieder unternommen, weil sie nach
Diskussion in Radio und Fernsehen soll dem der Auffassung z. B. von Hundsnurscher
Hörer oder Zuschauer die Möglichkeit ge- (1986, 35) umgekehrt erst die „allgemeine
ben, sich zu dem diskutierten Thema eine Voraussetzung einer Dialoganalyse“ seien,
Meinung zu bilden auf der Grundlage des in um „alle möglichen Dialoge in einer systema-
24. Textsorten der gesprochenen Sprache 293

tischen Taxonomie […] von einheitlichem Zu- Zu begrüßen ist der Hinweis auf die Tradi-
schnitt“ unterzubringen. Die empirische Viel- tion literaturwissenschaftlicher Ansätze der
falt im Alltag vorkommender Gesprächssor- Dialogtypologie. Leider beschränkt sich
ten oder Dialogtypen verlangt ganz gewiss Hundsnurscher hier auf die knappe Vorstel-
nach sortierender Übersicht, vielleicht sogar lung von nur zwei der bekanntesten Positio-
nach Klassifikation, Taxonomie und Tabelle. nen: die von Bauer (1969) einerseits ⫺ mit
Die Heterogenität der dabei zu berücksichti- seiner literarhistorisch illustrierten Basis-Ty-
genden Aspekte erschwert freilich dem Dia- pologie gebundener (konventionstreuer) und
log-Systematiker seine Aufgabe nicht uner- offener (konventionssprengender), geselliger
heblich, sie steht sogar, meint Franke (konversationeller) und dialektischer (diskur-
(1986, 87), im Grundsatz „einem Klassifika- siver) Gesprächsformen (Beispiele: Dialog
tionsvorhaben entgegen“, aber das hat noch Wallenstein/Max in Schillers Wallensteins Tod
selten jemanden von entsprechenden An- II, 2; Kramer/Arnold in Hauptmanns Mi-
strengungen abgehalten. Eine Auswahl der chael Kramer II; Hans Castorp/Clawdia
Ansätze zur Lösung des Problems referiert Chauchat in Thomas Manns Zauberberg,
Hundsnurscher in einer kritischen Übersicht, Kap. 5; Nathan/Tempelherr in Lessings Na-
deren wichtigste Befunde hier knapp resü- than der Weise II, 5) ⫺, und die von Berg-
miert und an einigen Stellen ergänzt seien hahn (1970) andererseits ⫺ mit seiner an
(Hundsnurscher 1994). Werken von Friedrich Schiller exemplifizier-
Seine Skizze geht aus von sprachphiloso- ten Unterscheidung von sechs Formen der
phischen Vorschlägen zur Unterscheidung Dialogführung: Bericht, Meldung, Verhör,
verschiedener „Formen des Gesprächs“ bei Erörterung, Überredung, Streit.
Bollnow (1966) ⫺ mit seiner Gradation vom Neben diesen beiden klassischen Studien
,zufälligen Gespräch‘ über ,Gesprächsformen (zur kritischen Kommentierung vgl. Hess-
im Zusammenhang der Arbeit‘ (mit Subtypen Lüttich (1981, 104ff.)) wäre hier die seit Hir-
wie Besprechung, Verhandlung, Diskussion, zels groß angelegtem Versuch zur Literarhi-
Ansprache, Prüfung, Verhör) bis zum „ei- storie des Dialogs (1895) über 100jährige Ge-
schichte literaturwissenschaftlicher Bemü-
gentlichen Gespräch“ über letzte Fragen un-
hungen um den literarischen Dialog mit einer
ter Freunden ⫺ oder globaltypologisch re-
großen Bandbreite auch typologischer Vor-
flektierter Dialog-Genres bei Bonfantini
schläge, die von fünf Typen bei Spillner
(1989) ⫺ mit seinen drei Grundtypen des 1.
(1980) über 36 bei Polti (1895) bis zu zwei-
„dialogue considéré et vécu comme fin en
hunderttausend bei Souriau (1950) reichen
soi“; 2. „dialogue fonctionnalisé à l’obtention
(vgl. Hess-Lüttich 1994), auf die wichtigsten
ou dialogue opératif“; 3. „dialogue de réfle- gattungstheoretischen und genretypologi-
xion pour la définition de problèmes, d’ob- schen Beiträge hin zu durchforsten (vgl. ex-
jets, de buts“ (Bonfantini 1989, 137), verein- emplarisch Hempfer 1973; Raible 1980) und
facht gesagt also der interesselosen Konver- im hier gegebenen Zusammenhang insbeson-
sation, dem instrumentellen Austausch nach dere auf die Reflexion des Verhältnisses von
Maßgabe von Interessen, dem erkenntnis- literarisierter und alltäglich-praktisch gespro-
orientierten (argumentativen, expositorischen, chener Sprache hin zu prüfen (zum Naturalis-
explorativen, kritischen) Diskurs als Mittel mus vgl. Hess-Lüttich 1985; zum Neo-Realis-
wissenschaftlicher Problemlösung. mus vgl. Betten 1985; über neuere Arbeiten
Zu ergänzen wäre hier ein Blick auf die rei- zur Moderne: Hess-Lüttich 1989a).
che Tradition der theologischen, philosophi- Etwas mehr Aufmerksamkeit widmet
schen und semiotischen Überlegungen zur sy- Hundsnurscher den sprachwissenschaftlichen
stematischen Dialogik, seien sie hermeneuti- Konzepten, vor allem dem frühen Entwurf
scher oder analytischer Herkunft (Theunissen von Brinkmann (1971) (Kontaktgespräche,
1981; Lorenzen/Lorenz 1978; Kögler 1992; gerichtete Gespräche, pluralistische Gesprä-
vgl. Hess-Lüttich 1999). Zwischen beiden che), dem sprechwissenschaftlichen Ansatz
Richtungen zu vermitteln sucht ein theore- von Kuhlmann (1966), wobei die eigentlich
tisch anspruchsvoller Ansatz auf semiotischer folgenreichsten Vorschläge wie die von Geiß-
Grundlage von Heinrichs (1981), der auf das ner (z. B. 1981a; vgl. ders. 1996) unerwähnt
Verhältnis von Subjekt, Objekt, Situation bleiben, sowie der bekannten Kommuni-
und Medien und den daraus ableitbaren kationstypologie im Rahmen der Freiburger
Sinnfunktionen im Rahmen einer Reflexions- Projekte zur Erforschung gesprochener Spra-
logik interpersonalen Handelns abzielt. che (vgl. Berens u. a. (Hg.) 1976; vgl. Betten
294 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

1977, 1978). Die darin entwickelte und sukzes- Holdcroft (1979) in seiner Globalskizze von
sive differenzierte Redekonstellationstypolo- discourse types traditionell taxonomisch vor
gie hat die weitere (linguistische) Diskussion und gelangt unter Berücksichtigung binär ge-
dialogtypologischer Ansätze zumindest im ordneter Kriterien zur Übersicht folgender
deutschsprachigen Raum ebenso nachhaltig Gesprächstypen (nach Hundsnurscher 1994,
beeinflusst wie die phänomenologische Glie- 214): Abb. 24.3.
derung relevanter Gesprächsbereiche (s. o. Gegenüber solchen philosophischen, lite-
van Dijk 1980) und deren systematische Sor- rarischen und linguistischen Gliederungsvor-
tierung nach einer Merkmalsmatrix von zehn schlägen (vgl. die Übersicht in Hess-Lüttich
Kriterien bei Henne/Rehbock (1982, 32f.), die 1999), die als bloße „Wesensbestimmungen“
sich in erweiterer und neu geordneter Form oder „empiriefixierte“ Sammlungen beliebi-
auch noch für den sprach- und literaturwissen- gen authentischen Gesprächsmaterials be-
schaftliche Erkenntnisinteressen integrieren- wertet werden, favorisiert Hundsnurscher
den textwissenschaftlichen Ansatz von Hess- (1994, 215ff.) eine „analytische Dialog-Typo-
Lüttich (1981, 82ff.; ders. 1989b) fruchtbar logie“ im Rahmen des Sprechhandlungsan-
machen ließen. Seine Vorschläge stehen zum satzes, die ohne „strenge methodologische
einen in der Tradition neuerer Ansätze ,rea- Restriktionen“ nicht zu haben sei. Deshalb
listischer‘ Sprachwissenschaft (Hartmann konzentriert er sich ausschließlich auf den
1980), die durch Detailbeschreibungen von dyadischen Dialog zweier Sprecher, die ab-
authentischem Material relevante typologi- wechselnd auf einander bezogene, thematisch
sche Kriterien zu gewinnen sucht und „in ei- kohärente, zweckrational gerichtete und mini-
nem phänomenbezogenen Theoriebildungs- male Sequenzen von Sprechakten produzieren
prozeß […] durch Abstraktion über dieser und dabei unter Berücksichtigung von Wohl-
Empirie theoretische Konzepte zu gewin- geformtheitsbedingungen individuelle Ziele
nen“ hofft (Kallmeyer 1986, 330), zum an- verfolgen. Die daraus entwickelte Basistypo-
deren in der von kommunikationstheoreti- logie minimaler dialogischer Sequenzen, die
schen Positionen, für die eine genaue Ana- vier geschlossene und ein offenes Muster um-
lyse alltäglicher und literarischer Dialoge fasst, wird sodann zu einer neungliedrigen
zum Zwecke kommunikationswissenschaft- Typologie „auf der Grundlage der Interessen-
licher Begriffsbildung von Interesse sind lage beider Sprecher“ (Hundsnurscher 1994,
(Ungeheuer 1980; Hess-Lüttich (Hg.) 1980, 221) erweitert.
ders. in Vorb.). Diese Vorschläge zielen, grob Wenn authentische Gespräche als an sol-
gesagt, darauf ab, ein Netzwerk von Dialog- chen Idealtypen orientierte Handlungsrouti-
sorten zu knüpfen, in dem jeder Knoten für nen mustergemäß abliefen, wären sie ,wohlge-
ein Differenzierungskriterium steht, unter das formt‘, andernfalls ,abweichend‘. „Wohlge-
eine dadurch jeweils bestimmte Klasse von formte Dialoge“ zeichnen sich aus durch eine
Dialogsorten zu subsumieren wäre. Die „regelmäßige Abfolge von Zug und Gegen-
Menge der Knoten wäre dabei, und das ist zug mit entsprechenden einfachen Äuße-
der Vorteil gegenüber geschlossenen Syste- rungsformen“ (Hundsnurscher 1986, 42).
men oder Modellen des in Abs. 3 diskutierten Demgegenüber sei leider „bei der überwie-
Typs (Isenberg, Franke u. a.), im Prinzip of- genden Mehrzahl authentischer Gespräche
fen. Je nach Kriterienkategorie würde das Sy- ein asymmetrischer Wechsel mit Redebeiträ-
stem von Dialogsorten anders aussehen und gen unterschiedlichen Umfangs anzutreffen“
je nach Erkenntnisinteresse und gegebenem (ebd.), häufig erschienen sie „als gänzlich
Korpus variiert werden können. Dergestalt chaotisch und individualisiert“ (Hundsnur-
dynamische Kategoriennetze mit Bündeln scher 1986, 46). Dialogtypologie in diesem
oder listenförmig gefüllten Klassen von Dia- Sinne sei „von der Gesprächswirklichkeit,
logsorten sind auf unterschiedliche Korpora vom authentischen Text also, noch weit ent-
anwendbar (und angewandt worden) und sie fernt“, dazwischen klaffe eine „unüberbrück-
legen den Analyseprozess selbst offen zur bare Kluft“ (ebd.).
ständigen Überprüfung und Revision nach Zwischen den Polen dialoggrammatischer
Maßgabe des Wissenszuwachses über For- Reduktion und entgrenzter „Pan-Dialogizi-
men dialogischer Kommunikation und de- tät“ (Tschauder 1986, 103 u. 111), in der jeder
ren Wandel. mit jedem und alles mit allem im Gespräch
Gegenüber einem solchen systemischen ist (Dialog der Kirchen, Blumen, Maschinen
Netzwerk- oder Mehrknotenmodell geht usw.), bleibt angesichts der nach wie vor ak-
24. Textsorten der gesprochenen Sprache 295

Abb. 24.3

tuellen Diagnose von Kallmeyer (1986, 326), 8. Literatur in Auswahl


derzufolge die Forschung in diesem Felde
„wohl noch mehr am Anfang [stehe] als man Adamzik, Kirsten (1995): Textsorten ⫺ Texttypolo-
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300 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

25. Textsorten der geschriebenen Sprache

1. Eingrenzung des Gegenstands realen medialen Vermittlung zur Grundlage


2. Ansätze zur Kennzeichnung von Texttypen für die Konstituierung der Text-Teilklasse
und Textsorten der Schriftkommunikation „Schrifttexte“ zu machen.
3. Exemplarische Beschreibung von Textsorten Gesprochene ,Vor-Texte‘ mögen zwar we-
und Textsortenkomplexen der
Schriftkommunikation
sentlichen Einfluss auf Struktur und sprachli-
4. Aspekte einer Klassifikation von che Gestaltung des konkret realisierten Tex-
Schrifttexten in unterschiedlichen tes haben, dessen Zuordnung zur Klasse der
Kommunikationsbereichen graphisch realisierten Texte bleibt davon je-
5. Schrifttextsorten im doch unberührt.
Fremdsprachenunterricht Der Begriff ,geschriebene Sprache‘ als
6. Literatur in Auswahl „Schriftform einer Sprache“ wird hier glosse-
matisch verstanden (und daher abgehoben
1. Eingrenzung des Gegenstands von funktionalistischen oder stilistisch orien-
Gesprochene und geschriebene Texte können tierten Schriftkonzepten), als spezifische Aus-
im Hinblick auf die deutsche Sprache der Ge- drucksform einer Sprache (Günther 1994,
genwart „als zwei nebeneinander stehende, IX). Bei Texten der geschriebenen Sprache
funktional und strukturell spezifische Exi- handelt es sich daher immer um Formen
stenzweisen von Sprache angesehen werden“ von „Aufzeichnungskommunikation“ (Hei-
(Nerius 1987, 22). Die historische Heraus- nemann/Viehweger (1991, 210), wobei be-
bildung des heutigen Nebeneinanders von stimmte ⫺ vom Schreiber (zumindest für
Sprechen und Schreiben hat u. a. Ehlich eine bestimmte Zeit) für aufhebenswert ge-
(1983, 32f.) rekonstruiert und dargelegt, dass haltene ⫺ Äußerungsinhalte aufbewahrt wer-
schriftliche Äußerungen essenziell auf Über- den. Dieses über den Tag hinaus Wirken-
lieferung bezogen sind und daher sprechsi- Können stellt bestimmte Minimalanforde-
tuationsüberdauernde Stabilität aufweisen. rungen an die Qualität dieser Texte, da
Schriftlich fixierte Äußerungskomplexe Schrifttexte bestimmter Textsorten die Basis
werden daher auch systematisch von den auf für Wissenschaft und Technik, aber auch für
das akustische Medium beschränkten flüchti- die Regelung des Zusammenlebens der Men-
gen Sprechhandlungen terminologisch als schen bilden.
,Texte‘ abgehoben. Heute gibt es vielfältige Da die Sprechsituation bei dieser Form des
Vernetzungen der beiden Existenzweisen: Kommunizierens in der Regel „zerdehnt“
Manche Textsorten werden zwar schriftlich (Ehlich 1983, 32), also durch das Fehlen der
konzipiert, aber mündlich realisiert (Vor- Ko-Präsenz der Partner und des gemeinsa-
träge, Nachrichten …; vgl. Art. 55). Hinzu men Wahrnehmungsraums gekennzeichnet
kommt, dass tradierte Formen schriftlichen ist, vollziehen sich die Prozesse der Textpro-
Sich-Äußerns mehr und mehr von neueren duktion und des Textverstehens nicht mehr
Formen der Sprechkommunikation zurück- unmittelbar interaktionsbezogen, sondern
gedrängt werden: Telefongespräche treten sukzessiv, als Prozesse mit lokaler (meist
vielfach an die Stelle von Privatbriefen; das auch chronologischer) Distanz. Eine Verbin-
Lesen von Büchern wird häufig durch die Re- dung zwischen den unterschiedlichen Teilsi-
zeption von Sprechtexten in Rundfunk und tuationen ⫺ und damit eine Gesamtsituation
Fernsehen ersetzt. Andererseits gilt seit Jahr- ⫺ wird bei dieser „Kommunikation der Di-
hunderten, dass Gespräche erst durch ihre stanz“ (Heinemann/Viehweger 1991, 210) nur
Aufzeichnung sakrale, juristische und kom- über den Text selbst hergestellt.
munikative Relevanz erhalten. Und die Diese „Entörtlichung, Entzeitlichung …
(Schrift-)Kommunikationsform des Hyper- und Entpersonalisierung“ (Schlieben-Lange
texts dringt heute in traditionelle Bereiche 1987, 182) hat Konsequenzen für die Gestal-
der Alltagskommunikation ein (Chat; vgl. tung von Schrifttexten: eine eher sachbetonte
Schmitz 1997, 39). Orientierung des Schreibers, die Ersetzung
Um den terminologischen Schwierigkeiten des unmittelbaren Zeigens und Verweisens
zu entgehen, die sich aus dieser Vernetztheit auf Gegenstände und Sachverhalte (Osten-
ergeben („mündlich realisierte schriftkonsti- sion und Deixis) durch die genaue und diffe-
tuierte Textsorten“; vgl. Art. 55), erscheint es renzierte Kennzeichnung von Sachverhalten
zweckmäßig, ausschließlich die Form der und Situationen, da Partnerwissen über die
25. Textsorten der geschriebenen Sprache 301

empirische Welt des Schreibenden nicht vor- von Textproduktionsprozessen; in gleicher


ausgesetzt werden kann, sondern erst im Text Weise sind sie von Bedeutung für Identifika-
aktiviert werden muss. Damit verbunden ist tions- und Inferenzprozesse und die Konsti-
⫺ zumindest tendenziell ⫺ eine bewusstere tuierung des Textsinns beim Rezipieren und
Form der Textgestaltung, das Suchen nach Verarbeiten von Texten (vgl. auch Art. 23).
Strategien, Textstrukturen und Formulierun- Anzahl und Inhalte der von den Indivi-
gen (vgl. auch Scherner 1984, 205; eine an- duen gespeicherten und reproduzierbaren
dere Auflistung von Merkmalen der Schrift- Textmuster bilden daher eine wesentliche
kommunikation findet sich u. a. bei Koch/ Voraussetzung für erfolgreiches kommunika-
Oesterreicher 1994, 588). tives Handeln. Aus diesem Grunde sollten
Schrifttexte sind heute ⫺ vor allem im Be- Textmuster und die ihnen entsprechenden
reich des institutionellen Verkehrs ⫺ vielfach Textsorten auch im Zentrum didaktischer Be-
zur Grundlage von Normierungsprozessen mühungen im Muttersprach- und Fremd-
unterschiedlicher Art geworden (selbst für be- sprachenunterricht stehen. Wichtig für das
stimmte Bereiche des Sprechens!). Nicht zu Textmusterwissen der Individuen ist aber
Unrecht werden daher „Texte in Schriftform“ nicht nur die (passive und aktive) Beherr-
(Hartung 1983, 369) mit der verwalteten Ge- schung einzelner häufig frequentierter und
sellschaft und „verwalteter Kommunikation“ usueller Textmuster, sondern auch ein Wissen
(Antos/Heinemann, in Vorbereitung) in Ver- um die Abgrenzung des einzelnen Textmu-
bindung gebracht. Ihnen kommt daher auch sters von anderen und damit um die Einbet-
ein höherer Grad an Verbindlichkeit zu. Im tung des einzelnen Textmusters in komplexe
Zusammenhang damit werden auch feste, Textsortenklassen und -zusammenhänge. Auch
konventionalisierte Formen als Wesensmerk- das Transparentmachen des Beziehungsgefü-
mal von Schrifttexten genannt: „Es geht ges zwischen bestimmten Textsorten muss
nicht mehr darum, das Gleiche in vielfältiger daher als wesentliches Anliegen von didakti-
Variation zu sagen, sondern etwas anderes schen Prozessen (nicht nur in der Schule)
in einer festen Form.“ (Schlieben-Lange angesehen werden.
1987, 184). Die Gültigkeit dieser These muss Das gilt in besonderem Maße für die Texte
heute relativiert werden: Sie kann ohnehin der Schriftkommunikation. Immer mehr
nur für einen kleinen Teil der Schriftkommu- Menschen haben ⫺ nicht zuletzt wohl, weil
nikation in Anspruch genommen werden; zu- sie um die Relevanz von Schreibprozessen
dem zeigt die Herausbildung und Weiterent- und die damit verbundenen höheren Anfor-
wicklung elektronischer Textsorten einen derungen wissen ⫺ Angst vor dem Schreiben,
ausgeprägten Trend zur Variierung überkom- weniger vor dem allgemeinen graphischen Fi-
mener Textgestaltungsmuster. Der textuelle xieren von Buchstabenketten, sondern vor
Großbereich von Schrifttexten (und das We- dem spezifischen Schreiben in bestimmten Si-
sen von Schrift schlechthin) stand immer wie- tuationen: der Abfassung eines Bewerbungs-
der im Zentrum linguistischen Interesses (vor schreibens, der Darstellung des eigenen Le-
allem Günther/Ludwig 1994). In der Regel benslaufs, ja selbst vor der Formulierung ei-
aber ging es dabei immer um das Allgemeine nes Entschuldigungsschreibens. Von daher
der Großklasse, um Schrift und Schriftlich- ergibt sich die Notwendigkeit, wichtige Text-
keit. Im Folgenden soll dagegen insbesondere sorten der Schriftkommunikation aufzulisten
das Spezifische von Texten dieses Bereichs und im Einzelnen zu beschreiben und sie in
akzentuiert werden. Zu fragen ist daher, wel- ein komplexes Beziehungsgefüge von Text-
che spezifischen Formulierungs- und Struktu- mustern zu stellen, nicht zuletzt im Interesse
rierungsmuster ⫺ und im Zusammenhang der Effektivierung von Schriftkommunika-
damit: welche übergreifenden globalen Text- tionsprozessen.
muster und Textsorten ⫺ sich als erfolgver-
sprechend zur Durchsetzung spezifischer
Schreiberintentionen erwiesen haben. Die Re- 2. Ansätze zur Kennzeichnung von
levanz einer solchen bottom up-Betrachtung Texttypen und Textsorten der
dieses textuellen Großbereichs steht außer Schriftkommunikation
Frage: Kognitive Textmuster bilden den Aus-
gangspunkt für alle Textproduktions- und Versucht man, das außerordentlich weite
Verstehensprozesse. Die Aktivierung solcher Feld schriftlich materialisierter Texte zu über-
Muster führt nicht nur zur Erleichterung und schauen, so stößt man nicht nur auf ein
Beschleunigung und damit zur Effektivierung quantitativ bemerkenswert heterogenes Spek-
302 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

trum von Texten (vom Stichwortzettel bis Konstituierung von Klassen von Textmustern
zum umfangreichen Roman reichend), son- auf niederer Abstraktionsstufe (Adamzik
dern auch auf gravierende Unterschiede im 1995, 30), von „einzelspezifischen Routinen“,
Hinblick auf die qualitas, bezogen auf grund- bezogen auf Textsorten.
legende kommunikative Funktionen (Liebes- Am deutlichsten wird diese Grundorientie-
gedicht, Wahlaufruf, Anekdote), situative In- rung bei empirisch fundierten Textsortenbe-
teraktionszusammenhänge (Kontaktanzeige, schreibungsmodellen. Die Analyse konkreter
Stellungsbefehl, Seminararbeit), Textthema Textexemplare (oder alltagssprachlicher Text-
und -inhalte (Pressefußballreportage, Börsen- sortennamen) bildet dabei den Ausgangs-
bericht, Verlustanzeige) und nicht zuletzt na- punkt für Textsortenzuordnungsprozesse,
türlich auch bezogen auf Textstrukturen und
-formulierungen. Die praktisch unendliche ⫺ teils beschränkt auf ausschließlich textin-
Menge realer und virtueller Texte erscheint da- terne Merkmale vor allem formaler Art
her auch manchen Linguisten als prinzipiell (Satzlänge, Proformen, Nomen-Verb-
kaum fass- und klassifizierbar, da es ja auch Quotient …: Mistrik 1973; Harweg 1979;
keine „überzeugende illokutive Typologie“ Weinrich 1975);
gebe, die die Basis für eine „systematische Ty- ⫺ teils unter Einschluss von Textexterna
pologie der Funktionen von schriftlicher Kom- (räumlicher und zeitlicher Kontakt, so-
munikation“ (Ehlich 1994, 28) abgeben könne. ziale Beziehung zwischen den Partnern;
Dennoch darf festgestellt werden, dass es Sandig 1975; Dimter 1981; Gülich 1986);
schon seit alters zahlreiche Bemühungen gab, ⫺ teils auch unter Berücksichtigung spezifi-
die unendliche Vielfalt von Texten auf eine scher komplexer Textstrukturen und dar-
überschaubare Menge von Grundtypen zu re- aus abgeleiteter Sequenzierungsmuster
duzieren. Das gilt insbesondere für die Bel- (Narration, Deskription; Werlich 1975;
letristik (Genres und ihre Untergliederungen) van Dijk 1980).
und für Rechtstexte. In neuerer Zeit sind Allerdings erweist sich die Auswahl der je-
auch andere Bereiche von Nichtlinguisten an- weils zu Grunde gelegten Kriterien als auch
satzweise hierarchisch strukturiert, aber im der Menge der untersuchten Textsorten als
Grunde nur aufgelistet worden: Texte der
eher zufällig, so dass auch die ermittelten
Massenmedien (journalistische „Genres“),
Merkmalbündel nur bedingt aufeinander be-
der Wissenschaft, der Politik und der Didak-
ziehbar sind. Daher handelt es sich bei diesen
tik.
⫺ nach oben offenen ⫺ Ansätzen primär um
Gemeinsam ist diesen tradierten Ansätzen,
methodologische Grundmodelle.
dass über ad hoc-Klassifizierungen bestimmte
Großklassen konstituiert wurden (vor allem Auch die theoretisch-deduktiv angelegten
unter inhaltlich-thematischem Aspekt). Sol- Textsortenbeschreibungsansätze zielen letzt-
che allgemeinen „Texttypen“ (vgl. Art. 23) er- lich auf die Ausdifferenzierung von Mustern
lauben zwar Zuordnungen einzelner Text- kommunikativen Handelns, also von Text-
exemplare zu den genannten Großklassen, sorten, auch wenn sie von übergreifenden
aber nur auf der Basis allgemeiner Kriterien. Kategorien auf hoher Abstraktionsstufe aus-
Auf ein hierarchisches In-Beziehung-Setzen gehen.
dieser Texte untereinander ⫺ und damit auf Teils knüpfen solche Klassifikationsmo-
eine Subklassifikation der Großklassen ⫺ delle an die (primär inhaltlich geprägten)
wird aber in der Regel verzichtet. Ein regel- überkommenen Großklassen von Texten (po-
hafter Zusammenhang zwischen solchen litische Texte, medizinische Texte …) an.
„Texttypen“ bzw. einzelnen Textexemplaren Texttypen dieser Art erweisen sich aber als
auf der einen Seite und bestimmten Formen wenig aussagekräftig im Hinblick auf Text-
der sprachlichen Gestaltung andererseits sortendifferenzierungen, da hier ganz unter-
konnte ⫺ trotz entsprechender Postulate von schiedliche Textsorten unter thematisch-in-
Repräsentanten der Funktionalstilistik (Rie- haltlichen Aspekten zusammengefasst wer-
sel 1963; Fleischer/Michel 1975) ⫺ nicht aus- den (Politik: Nachricht, Kommentar, Wahl-
gewiesen werden. aufruf, Parteiprogramm …). Dagegen spielt
Mit der Herausbildung und Entwicklung dieses Kriterium eine wesentliche Rolle bei
der Textlinguistik richtete sich das Interesse der Ausdifferenzierung von Einheiten unter-
vor allem von Linguisten in zunehmendem halb der Textsortenebene, den Textsortenva-
Maße auf die Eruierung von Mustern für das rianten (Reise-, Wetter-, Unfall-, Forschungs-
praktische Handeln der Individuen, auf die bericht …; vgl. Dimter 1981).
25. Textsorten der geschriebenen Sprache 303

Andere theoriebezogene Modelle setzen sifikationsversuche zu konstatieren. Daraus


die kommunikative Situation als Grundkrite- leitete er vier Postulate ab, die zum Maßstab
rium für die Ausdifferenzierung von Textsor- einer jeden wissenschaftlichen Texttypologi-
ten an, da „die Faktoren der kommunika- sierung gemacht werden sollten: Homogeni-
tiven Situation die Textsorte bestimmen“ tät (eine einheitliche Typologisierungsbasis),
(Diewald 1991, 263; Lux 1981; Luckmann Monotypie (die Zuordenbarkeit eines Texte-
1992, 94). Im Einzelnen werden unterschied- xemplars nur zu einem Texttyp), Striktheit
liche situative Teilaspekte fokussiert und als (Ausschluss von typologischer Ambiguität)
jeweils dominant für die Konstituierung von und Exhaustivität (Vollständigkeit der Erfas-
Textsorten eingestuft: Verwendungs-/Kom- sung aller Textexemplare eines Texttyps).
munikationsbereich: Wissenschaft, Publizi- Für die Praxis der Textsortenbeschreibung
stik, Rechtswesen … (Riesel 1963; Fleischer/ aber erwiesen sich diese ⫺ an logisch-mathe-
Michel 1996; Techtmeier 1984). Umgebungs- matischen Modellen orientierten ⫺ Forde-
situation: Partner (Anzahl, soziale Rollen, rungen als wenig hilfreich, da diese Postulate
Bekanntheitsgrad, Einstellungen); soziale Si- nicht gleichzeitig erfüllbar sind, vor allem
tuation i. e. S.; Medium/Kanal (vgl. Diewald aber, weil Textsorten nicht in einer 1:1-Bezie-
1991, 274; Werlich 1975). hung zueinander stehen und sich auch nicht
Mit Hilfe dieser Konzepte lässt sich zwar hierarchisch eineindeutig im Sinne der Logik
die generelle Determiniertheit der Textsorten in einem einheitlichen System darstellen las-
durch situative Faktoren ausweisen, nicht sen. Auch das Postulat der Exhaustivität er-
aber eine regelhafte Beziehung zwischen si- weist sich als inkongruent in Bezug auf die
tuativen und sprachlich geprägten Grundmu- gesellschaftliche Praxis.
stern. Mehrebenenmodelle (in Ansätzen schon
Eine dritte Gruppe von Linguisten (und Lux 1981; vor allem Heinemann/Viehweger
Soziologen) setzt als Basiskriterium für die 1991) wollen Praxisanforderungen unter-
Kennzeichnung der Textsorten die kommuni- schiedlicher Art besser gerecht werden. Sie
kative Funktion der Texte (bzw. die Intention knüpfen an alltagssprachliches Textsorten-
der Textproduzenten) an. Den ersten Anstoß verständnis an, stützen sich bei der Textsor-
zu diesem Grundmodell gab Große 1976 mit tenkonstitution auf mehrere Ebenen gleich-
einer formelhaften Bestimmung von Text- zeitig und wollen vor allem offen sein für Op-
funktionen und der Kennzeichnung von acht tionen der Einordnung von Textexemplaren
Textfunktionen. Dieser Ansatz wurde durch in unterschiedliche Bezugssysteme (in Abhän-
die direkte oder mittelbare Bezugnahme auf gigkeit vom jeweiligen Zweck einer Klassi-
die Sprechakttheorie theoretisch fundiert fikation). Bei Heinemann/Viehweger (1991,
und weiterentwickelt: Franke 1991 (Textsorten 135; zusammenfassend dazu auch Art. 23)
als spezifische Kombinationen von Hand- wird versucht, Merkmalbündel auf mehreren
lungsmustern); Rolf 1993 (Textsorten als Sub- Ebenen (Textfunktion, Situation, Textstruk-
klassen der Searlschen Illokutionstypen); Brin- tur, Textformulierung) ⫺ teils mit unter-
ker 1997 (Textsorten als Ausprägungen von schiedlicher Gewichtung ⫺ für einzelne Text-
fünf textuellen Grundfunktionen). Trotz der sorten auszuweisen und das Komponential-
gemeinsamen theoretischen Basis dieser An- prinzip mit dem Hierarchieprinzip der Abstu-
sätze zeigen sich bei der Textsortenzuordnung fung von Textklassen unterschiedlichen Ab-
von Textexemplaren und der Konstituierung straktionsgrads zu verknüpfen ⫺ von Textty-
von übergeordneten Textsortenklassen neben pen über Textsortenklassen zu Textsorten
bestimmten Übereinstimmungen auch Diver- und Textsortenvarianten reichend. Wichtig
genzen. Nicht einmal im Hinblick auf die An- erscheint in diesem Zusammenhang noch ein
zahl der grundlegenden Textfunktionen und Verweis auf die Unterscheidung von ⫺ auf
deren Abgrenzung voneinander gibt es Kon- Textexemplare bezogenen ⫺ Textsorten und
sens. Darüber hinaus lässt die kommunikative mit ihnen korrespondierenden kognitiven
Praxis erkennen, dass den konkreten Texte- Verhaltens- und Textmustern.
xemplaren in vielen Fällen keine dominierende Als zweckmäßig für den praktischen Um-
Funktion zugeordnet werden kann. gang mit Schrifttextsorten kann sich auch die
Die Vielfalt der heterogenen Textbeschrei- Ausgliederung von ,Kommunikationsformen‘
bungsansätze und das Fehlen von einheitlichen als medialen Rahmentypen (ohne spezifische
Kriterien veranlassten Isenberg (1978, 578), ein kommunikative Funktionen) aus der primär
„typologisches Dilemma“ bisheriger Textklas- funktional bestimmten Gesamtheit von Text-
304 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

sorten/Textmustern erweisen (Gülich/Raible schen Befunde) nicht zum Tragen kommt.


1975, 160; Ermert 1979; Hundsnurscher Vor allem aber kann dasselbe Ziel mit Hilfe
1984, 89, Brinker 1997, 134). von Texten unterschiedlicher Textsorten ver-
folgt werden (Heinemann/Viehweger 1991,
146) und dieselbe Situation den Rahmen ab-
3. Exemplarische Kennzeichnung von geben für Vertextungen nach unterschiedlich-
Textsorten und sten Textmustern. Daraus folgt mit Notwen-
Textsortenkomplexen der digkeit, dass bei jeder Textsortenkennzeich-
Schriftkommunikation nung mehrere Basisebenen berücksichtigt
werden sollten.
Ausgehend von den oben dargestellten Text- Dazu gehören (und darüber besteht in der
sortenbeschreibungsmodellen soll im Folgen- neueren Fachliteratur trotz gelegentlicher ter-
den versucht werden, allgemeine Aspekte für minologischer Differenzen auch weitgehend
die praktische Beschreibung von Einzeltext- Konsens):
sorten und von Textsortenkomplexen aufzu-
⫺ die funktionale Ebene (Intention des Text-
greifen. Dazu sind einige Vorbemerkungen
produzenten, potenzielle Texterwartung
notwendig:
des Rezipienten);
Von besonderer Relevanz für die kommu-
⫺ die situative Ebene (Kommunikationsbe-
nikative Praxis ist ohne Frage eine zurei-
reich/Institution, Partner, Umgebungssi-
chende Kennzeichnung von einzelnen Text-
tuation);
mustern der Schriftkommunikation. Der
⫺ die Textstrukturebene (spezifische Struk-
Grad einer solchen Kennzeichnung aber ist turtypen von Texten);
abhängig vom jeweiligen Zweck einer Text- ⫺ die Formulierungsebene (textsortenspezi-
sortenbeschreibung und von Umfang und fische Formulierungsmuster und -alterna-
Qualität des Textmusterwissens der konkre- tiven).
ten oder potenziellen Schreiber/Leser. Gene-
relle Muster für solche Textsortenbeschrei- Hervorhebung verdient, dass die sprachli-
bungen lassen sich daher nicht aufstellen. chen Aspekte ⫺ bei aller Gewichtung des
Deshalb kann es hier nur darum gehen, Peri- Pragmatischen ⫺ nicht vernachlässigt werden
pheres von Wesentlichem zu scheiden und dürfen (textsortenspezifische Lexeme: Fremd-
einen allgemeinen Rahmen für Textsorten- wörter, Fachwörter, Kurzwörter, Mehrfach-
beschreibungsvorhaben abzustecken, indem komposita, Vergleiche, Kollokationen; Satz-
primäre (und großenteils obligatorische) länge, dominierende Satztypen; Komplexi-
Aspekte von Textsorten schlechthin zusam- tätsgrad; dominierende Vertextungsmuster:
mengestellt, durch textsortenspezifische Merk- narrative, argumentative …: vgl. Werlich
male einzelner Textsorten ergänzt und dann 1975).
an Einzelbeispielen (mit Verweis auf entspre- Offen ist dagegen, ob über die genannten
chende Darstellungen in der Fachliteratur) Basisebenen hinaus auch noch eine eigen-
verifiziert werden. Modifikationen dieses all- ständige thematisch-inhaltliche Ebene ange-
gemeinen Rahmens sind natürlich ange- nommen werden soll (Dimter 1981, 138f.;
bracht und notwendig in Abhängigkeit von Brinker 1997, 54ff.), oder ob sie sich nicht
der konkreten Interaktionssituation, in der unmittelbar aus der funktionalen Ebene ab-
eine solche Textsortenbeschreibung für not- leiten lässt. Gelegentlich (Heinemann/Vieh-
wendig oder sinnvoll gehalten wird. Keine weger 1991, 158) wird auch noch eine beson-
Textsorte lässt sich ausschließlich mit Hilfe dere Verfahrensebene angenommen, die aber
textinterner Merkmale zureichend kennzeich- analog auch als aus der funktionalen Ebene
nen, da die meisten Formulierungs- und abgeleitet interpretiert werden kann.
Strukturierungsmuster einer größeren Anzahl Für das hier zur Diskussion stehende
von Textsorten zugeordnet werden können. Grundmodell einer Textsortenbeschreibung
Außerdem sind bei weitem nicht alle Ziele konzentrieren wir uns daher auf die genann-
und Strategien der Textproduzenten sowie si- ten vier Basisebenen (die auch handlungs-
tuative Besonderheiten allein aus sprachli- theoretisch begründbar sind). Weitaus schwie-
chen Merkmalen ableitbar. Umgekehrt kön- riger ist es, verallgemeinerbare Aspekte der
nen Textsorten auch nicht allein auf der Basis ⫺ diese Basisebenen differenzierenden ⫺ Sub-
textexterner Faktoren zureichend erfasst wer- klassen/Knoten/Komponenten für ein allge-
den, da dann das ,Textuelle‘ (die linguisti- meines Textsortenbeschreibungsmodell aus
25. Textsorten der geschriebenen Sprache 305

Abb. 25.1.: Komponenten der situativen Ebene.

der Fülle von Beschreibungsrastern in der Art ⫺ die Fixierung eines Rahmens, eines
Spezialliteratur herauszufiltern, denn hier idealtypischen kognitiven Musters für die
kommt der Grad der Theoriebezogenheit der Produktion und das Verstehen von Textex-
einzelnen Autoren stärker zum Tragen, der emplaren einer bestimmten Textsorte. Solche
sich dann auch in terminologischen Inkon- Rahmenschemata begrenzen zugleich auch
gruenzen niederschlägt. Dennoch zeigt sich, den Gestaltungsspielraum des kommunikativ
dass die einzelnen Subklassen von pragmalin- Handelnden in konkreten Interaktionspro-
guistischen Modellen (im Gegensatz etwa zu zessen.
psychologisch geprägten Ansätzen) im We- In der Fachliteratur begegnen zahlreiche
sentlichen doch miteinander kompatibel sind, Beschreibungen einzelner Textmuster/Text-
so dass sie ⫺ ohne Substanzverlust ⫺ neben- sorten. Im Vergleich zu der hier vorgestellten
einander (als Alternativen) in ein allgemeines allgemeinen Skizze eines globalen Grundmu-
Beschreibungsmodell Eingang finden kön- sters für Textsortenbeschreibungen weisen sie
nen. vielfältige Ergänzungen und Modifikationen,
Diese These soll am Beispiel einiger Kom- aber auch unterschiedliche Gewichtungen
ponenten der situativen Ebene ⫺ zunächst und Reduktionen auf. Trotz partieller Defi-
noch ohne deren weitere Subkategorisierung zite gegenüber dem Postulat der ,Vollständig-
durch Merkmale ⫺ an wenigen Beschrei- keit‘ im oben genannten Sinne haben sich
bungsansätzen illustriert werden. aber viele dieser Darstellungen als wesent-
Auch wenn diese Komponenten (vor allem lich ⫺ nicht zuletzt auch für didaktische
der anderen Basisebenen) nur als pragma- Zwecke ⫺ erwiesen.
tisch gesetzt und noch nicht als theoretisch Teils konzentrieren sich diese Beschreibun-
abgesichert gelten dürfen, so können doch gen nur auf Grundaspekte des jeweiligen
linguistische Textsortenbeschreibungen den Textmusters, teils sind sie sehr detailliert an-
in pragmatisch orientierten Modellen vorge- gelegt (mit empirischen Analysen und Ana-
stellten Differenzierungen folgen. lyseergebnissen).
Analoges gilt auch für die ⫺ diese Kompo- Exemplarisch wird hier die Kurzfassung
nenten spezifizierenden und in der Form von einer Textsortenbeschreibung (im Rahmen
Skalen darstellbaren ⫺ Einzelmerkmale und der Kennzeichnung eines Textsortenbeschrei-
Merkmalskomplexe, z. B. dyadische Kommu- bungsmodells) vorgestellt:
nikation, Gruppenkommunikation, Massen-
kommunikation zur Spezifizierung der Kom- Textsorte Telegramm
ponente ,Anzahl der Partner‘ (Heinemann/ ⫺ Funktion: Notwendigkeit und Dringlich-
Viehweger 1991, 156). Die Identifikation sol- keit der Übermittlung von Informationen
cher Einzelmerkmale, ihre Bündelung und an Partner;
Einbindung in typische Interaktionszusam- ⫺ Situation: Partner ist durch Direktkon-
menhänge erlaubt schließlich ⫺ ergänzt takt zum Zeitpunkt ti nicht erreichbar;
durch Schema-Aktivierungen prozessualer Notwendigkeit von Aktionshandlungen,
306 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

bezogen auf die Institution Post: Aktivitä- kommen und die Verabschiedung eines Bun-
ten am Schalter/Nutzung des Telefons (bei desgesetzes als Prämissen angesetzt werden
telefonischer Übermittlung); müssen, zusammenstellte (diese treten in ge-
⫺ Textstruktur: vorgegeben durch Formular: regelter Abfolge jeweils mehrfach auf):
obligatorischer Initialteil (Adressatenspe- Gesetzentwurf, Stellungnahme, Beratung,
zifizierung); obligatorischer Terminalteil Brief, Beschluss, Debatte (im Bundestag),
(Autorisierung des Textes durch die Text- Hearing/Anhörung, Bericht, Antrag, Mittei-
produzentenspezifizierung); lung, Unterzeichnung. In ähnlicher Weise er-
⫺ Textformulierung: Kürze der Darstellung fasst das ,Praxeogramm behördlicher Institu-
(darf Eindeutigkeit nicht gefährden); Prä- tionen‘ (Rehbein (1998, 661) die ⫺ gleichfalls
ferenz elliptischer Konstruktionen (nach geregelte ⫺ Textsortenabfolge vom Antrag ei-
Heinemann/Viehweger 1991). nes Klienten bis zum Bewilligungs-/Ableh-
Auf einige der detaillierten Darstellungen ein- nungsbescheid reichend: Formular (ausge-
zelner Textsorten sei hier ⫺ in Kurzform ⫺ fülltes), Antrag (mit Begründung), Beratung,
verwiesen: Protokoll/Akte(neintrag), Brief, Gutachten,
Beschlussfassung, Bescheid.
Abkommen: Rothkegel 1984;
Abhandlung, wissenschaftliche: van Dijk
1980; Graefen 1997; 4. Aspekte einer Klassifikation von
Anordnung: Viehweger 1984; Schrifttexten in unterschiedlichen
Bedienungsanleitung: Hoffmann, Lothar Kommunikationsbereichen
1998a;
Beipackzettel: Schuldt 1998; Das größte Problem bei der Kennzeichnung
Erlass: Selle 1998; von Textsorten/Textmustern ist offenkundig
Gesetz: Hoffmann, Ludger 1998; das In-Beziehung-Setzen der einzelnen Text-
Gutachten, wissenschaftliches: Hoffmann, sorten zueinander, die Aufstellung systemhaf-
Lothar 1998b; ter Zusammenhänge zwischen den Basisein-
Hypertext: (zusammenfassend) Weingarten heiten. Allein die kaum eingrenzbare Zahl
1994; angenommener Textsorten, die Mehrfachbe-
Katalog: Hoffmann, Lothar 1998a; nennungen derselben Textsortenphänomene,
Kochrezept: Heinemann/Viehweger 1991; der unterschiedliche Grad der Ausfüllung in-
Lehrbuch: Schellenberg 1994; dividueller Textmuster, mehr noch die hierar-
Lexikonartikel: Wolski 1998; chische Abstufung von Basisklassen und ab-
Nachricht: Sandig 1973; Hennig/Huth 1975; geleiteten Klassen, nicht zuletzt das nahe
Patentschrift: Gläser 1998b; oder fernere Nebeneinander einzelner Text-
Rezension: Ripfel 1998; sorten in einer möglichst einheitlichen und
Telegramm: Dimter 1981; umfassenden exhaustiven (und widerspruchs-
Testament: Dimter 1981; freien) Typologie ⫺ das alles zusammen führt
Urkunde (Geburtsurkunde): Mohl 1998; zu immer neuen Verunsicherungen bei der
Verkaufsanzeige: van Dijk 1980; Aufstellung von Textsortentypologien (Hei-
Verordnung: Selle 1998; nemann 1990, 6).
Vertrag: Hoffmann, Lothar 1998c; Hauptursache für dieses „Dilemma“ ist die
Wetterbericht: Brinker 1997; Nordman 1998; immer wieder erhobene Forderung nach der
wissenschaftlicher Zeitschriftenartikel: Gläser „systematischen Erfassung aller Textklassen,
1998a; da ein einzelner Text nur mit Bezug auf seine
Witz: Ulrich 1990. Zugehörigkeit zu einer Textklasse richtig ana-
In vielen Fällen wird es zweckmäßig sein, lysiert werden kann“ (Dimter 1981, 6).
Einzeltextsorten nicht isoliert zu kennzeich- Doch zeigt die kommunikative Praxis (und
nen, sondern komplex in interaktionsbeding- das Alltagswissen der Kommunizierenden),
ten Zusammenhängen von Textsorten, ge- dass solche Postulate letztlich und prinzipiell
nauer: von Ablauffolgen prototypischer Text- als illusionär einzustufen sind. Texte (und
sorten. Textsorten) stehen eben nicht in ⫺ wie immer
Für die Textsorte ,Gesetz‘ hat das bei- gearteten ⫺ idealtypischen systemhaften Be-
spielsweise Josef Klein (1991, 251ff.) darge- ziehungen zueinander, vielmehr sind sie im-
stellt, indem er alle (schriftlich und mündlich mer Mittel und Ergebnisse kommunikativen
realisierten) Textsorten, die für das Zustande- Handelns. Daher können ⫺ in Abhängigkeit
25. Textsorten der geschriebenen Sprache 307

von unterschiedlichen Zwecken dieses kom- ⫺ mit leichter Modifikation ⫺ eine Deutung
munikativen Sprachhandelns ⫺ auch unter- als ,Gedicht‘ zu (Bienek 1969, 25). Je größer
schiedliche Fokussierungen und Gewichtun- der Umfang einer Klassifikation ist (je höher
gen vorgenommen werden, auch unterschied- die jeweilige Einordnungsinstanz gesetzt
liche Zuordnungen von Textexemplaren zu wird), um so geringer ist die Anzahl der Kri-
verschiedenen übergeordneten Bezugsklassen terien, auf Grund derer die dabei zusammen-
und -systemen. So wie man Einzelbegriffe des gefassten Texte miteinander korrelieren. Die
Alltags multidimensional in unterschiedliche jeweilige Einordnungsinstanz als hierarchie-
Bezugssysteme einordnen kann (,Apfel‘ zu höchste Stufe soll im Folgenden ,Texttyp‘ ge-
den Klassen ,Obst‘, ,Nahrungsmittel‘, ,Ge- nannt werden. Zwischen ihr und den Basis-
tränke‘ ⫺ bei Apfelsaft, Apfelwein … ⫺, textsorten sind dann ⫺ je nach Hierarchie-
,Wilhelm Tell‘ …), so können auch einzelne stufe ⫺ eine oder mehrere Zwischeninstanzen
Textexemplare in Beziehung zu unterschiedli- anzusetzen, die provisorisch ,Textsortenklas-
chen Instanzen gebracht werden (vgl. dazu sen‘ genannt werden sollen.
den Grundansatz der Mehrebenenmodelle). Grundlegend für jede Art der Textsorten-
Die Aufstellung eines universellen und unver- zuordnung ist die Bezugsrichtung der Ein-
rückbaren Systems von Textsorten/Textsor- ordnung und damit die qualitas des jeweiligen
tenkonzepten erscheint daher weder sinnvoll Texttyps. Auch wenn hypothetisch zahllose
noch erreichbar. Das allgemeinste Ziel von Zuordnungen von Textsorten zu nahezu be-
Textklassifikationen kann daher nicht in der liebigen (auch unsinnigen) Einordnungsin-
Aufstellung eines stringenten und abgeschlos- stanzen vorgenommen werden können, so
senen Systems bestehen, sondern darin, eine lassen sich für die Zwecke einer sinnvollen
bestimmte Menge von Textexemplaren ⫺ im- und praxisrelevanten Klassifikation von
mer im Hinblick auf einen bestimmten Zweck Schrifttexten die folgenden Hauptklassen
und die Bezogenheit auf andere Textmengen voneinander abheben:
⫺ überschaubarer zu machen, weil dann spe- ⫺ Klassifikationen auf der Basis ausschließ-
zielle nichtsprachliche und sprachliche Routi- lich formaler Merkmale (alle Textsorten
nen zum Tragen kommen, die die Handeln- mit dominant elliptischen Strukturen oder
den bei ihren kommunikativen Aktivitäten mit Initialteil oder mit formelhafter Prä-
entlasten (Adamzik 1995, 28). gung …: Gülich 1990);
Spezielle Zwecke können unterschiedlicher ⫺ Zuordnungen auf der Grundlage typi-
Art sein. Dabei dominieren didaktische Ziel- scher Textstrukturierungen/Sequenzierun-
setzungen (Mustervermittlung und Muster- gen komplexer Texte (Narration, Deskrip-
einbettung zur Erweiterung der Sprachkom- tion …: Werlich 1975; van Dijk 1980);
petenz). Sekundär sind auch systematisch- ⫺ Textinhalte als Basiskriterium: Texte der
praktische Aspekte gefragt. Ad hoc-Zusam- Politik (mit unterschiedlichen Textsorten:
menstellungen weniger Textsorten sind in der Nachricht, Kommentar, Wahlaufruf …:
kommunikativen Praxis gang und gäbe (Sage Klein 1991); Texte der Wirtschaft, des
und Märchen, Bewerbung mit Lebens- Sports, der Wissenschaft (wissenschaftli-
lauf …). Auch umfangreichere Textsorten- cher Zeitschriftenartikel, Monographie,
gruppierungen folgen in der Regel aus prakti- Dissertation …; Ehlich 1998; Gläser
schen Anlässen. Entscheidend für konkrete 1998a; Hoffmann, Lothar 1998b).
Zuordnungs- und Einordnungsprozesse von
Textsorten ist ⫺ neben dem Zweck ⫺ die je- Als besonderer, übergreifender Aspekt einer
weilige gemeinsame Einordnungsinstanz. inhaltlich geprägten Textklassifikation darf
Die Textsorte ,Wetterbericht‘ gehört ⫺ die die Fachlichkeit angesehen werden. Wie bei
schriftliche Materialisierung vorausgesetzt ⫺ allen inhaltlich geprägten Modellen erweist
(zusammen mit dem ,Hinweisschild‘ oder sich Fachlichkeit als nur schwer abgrenzbar:
dem ,Roman‘) zur Großklasse der ,Schrift- Wie weit reicht der Bereich des Politi-
texte‘. Man kann aber den Einordnungstyp schen? Welche Abstufungen müssen zwischen
auch niedriger ansetzen und gelangt (ohne dem Fachwissen der Experten und dem
,Hinweisschild‘ und ,Roman‘) z. B. zur Fach-/Laien-Wissen der Partner angenom-
Klasse der ,Pressetexte‘. Ebenso möglich aber men werden? (Antos 1996). Auch wenn man
ist eine Einordnung desselben Textexemplars Grundanforderungen an prototypische Fach-
als ,Informationstext‘, für einen Meteorolo- texte zusammenstellen kann (Exaktheit, Ex-
gen u. U. sogar als ,Fachtext‘; er lässt sogar plizitheit, Ökonomie, Anonymität, Verständ-
308 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

lichkeit; Hoffmann, Lothar 1998a), so sind schrift, Richtlinie, amtliche Mitteilung, Ver-
doch die konkreten Zuordnungsbeziehungen ordnung, Bewilligungsschreiben.
keineswegs eindeutig. Im Allgemeinen wird Zahlreiche Ansätze zur Textsortenklassifi-
dieser Texttyp untergliedert in Wissenschaft, kation gibt es im Bereich der Medien (hier
Technik und Wirtschaft (bei Kalverkämper nur auf Schriftmedien beschränkt). Lüger
1983, ergänzt durch Verwaltung und Kon- (1995, 77ff.) unterscheidet bei journalisti-
sumtion). schen Textsorten zwischen kontaktorientie-
Es begegnen aber auch als Hauptklassen renden Texten, informationsbetonten Text-
Wissenschaft, Institution und Technik (Bek- sorten (Meldung, harte Nachricht, weiche
ker/Hundt 1998); und selbst im grundlegen- Nachricht, Bericht, Reportage, Problemdar-
den HSK-Band ,Fachsprachen‘ (Hoffmann, stellung, zeitgeschichtliche Darstellung, Wet-
Lothar u. a. 1998a) erscheint die Gesamt- terbericht, Sachinterview), meinungsbetonten
untergliederung in Wissenschaftsprache, In- Textsorten (Kommentar, Glosse, Kritik, Mei-
stitutionensprache, Sprache der Naturwissen- nungsinterview), auffordernden Textsorten,
schaft und Technik, fachbezogene Vermitt- instruierend-anweisenden Texten; anders Ro-
lungstexte und Gebrauchstexte nur bedingt loff (1982) und Hundsnurscher (1984, 96) mit
stringent und widerspruchsfrei. der zusätzlichen Aufnahme auch ästhetisch
Für den Teilbereich Naturwissenschaft und geprägter Texte und mit dem Ausweis mehre-
Technik stellte Göpferich (1998, 549) ein de- rer Kriterien für die Bildung von Textsorten-
tailliertes Schema der Subklassifikation zu- klassen unterschiedlichen Grades.
sammen, das mit dem hier vorgestellten An- Ausgehend von der ,Kommunikations-
satz kongruent ist (und sich nur terminolo- form‘ ,Brief‘ als Einordnungsinstanz erfasst
gisch unterscheidet). Ermert (1979) vor allem auf der Basis situati-
ver Kriterien (Partnerbezug, Bekanntheits-
⫺ Zuordnungen auf der Basis situativer Kri- grad der Partner, lokale und temporale Ori-
terien: Für Grobklassifizierungen (face to entierung, Beförderungsmodalitäten) eine
face-Kommunikation, Schriftkommunika- größere Anzahl von „Briefsorten“ in der
tion, Telekommunikation) werden viel- Form von Merkmalmatrizen. Ein systemati-
fach die Faktoren der Umgebungssitua- sierendes In-Beziehung-Setzen in der Form
tion und der mediale Rahmen herangezo- hierarchischer Zuordnungen ⫺ einer Klassifi-
gen (Gülich/Raible 1975, 153). kation i. e. S. ⫺ hingegen erfolgt nicht.
Funktionsorientierte Zuordnungen: Aus-
Eine relativ große Zahl von Klassifikationen
gangspunkt für die Klassifizierung sind hier
setzt einen Kommunikationsbereich als Ein-
nicht situative Faktoren, sondern das, was
ordnungsinstanz an. Der situative Rahmen- die Handelnden unter bestimmten Bedingun-
typ Kommunikationsbereich wird hier als gen zur Erreichung bestimmter kommunika-
Großklasse aus Alltags- und institioneller tiver Ziele typischerweise tun. Darstellungen
Kommunikation verstanden. Institutionen dieser Art greifen daher mittelbar oder direkt
wiederum werden als relativ autonome gesell- auf handlungstheoretische Ansätze zurück.
schaftliche Teilbereiche gefasst, die aus der Umstritten ist dabei, ob man das ⫺ am Bei-
gesellschaftlichen Arbeitsteilung hervorge- spiel von Einzelsätzen entwickelte ⫺ Sprech-
gangen und heute nach eigenen Prinzipien aktmodell ohne Modifizierungen auf Texte
strukturiert sind (Weingarten 1994, 575). übertragen kann oder nicht (vor allem in die-
Es fällt auf, dass einige Kommunikations- ser Hinsicht unterscheiden sich unterschiedli-
bereiche nicht oder nur peripher zum Gegen- che Funktionstypologien).
stand klassifikatorischer Bemühungen wur- Da die kommunikative Funktion letztlich
den (Wirtschaft und Handel, Verkehrswesen, die Konstituierung von Texten bedingt, ver-
militärische Einrichtungen, Religion und Kir- suchen viele dieser Ansätze, den Rahmen sol-
chen, Dienstleistungen, Bildung und Wissen- cher Klassifikationen möglichst weit zu fas-
schaft, Medizin), während andere teils sehr sen, d. h. faktisch alle ,Gebrauchstexte‘ (alle
detailliert erfasst wurden. Das gilt in Ansät- schriftlich fixierten Texte außer den ästhe-
zen für das Rechtswesen (Rechtsfestlegung, tisch geprägten) in solche Typologien einzu-
Rechtspraxis: Busse 1992, 95; Hoffmann, beziehen, obwohl aus literaturwissenschaft-
Ludger 1998), ebenso wie für den mit dem licher Sicht auch von ,literarischen Ge-
Rechtswesen vernetzten Bereich der Verwal- brauchstexten‘ gesprochen werden kann
tungskommunikation (Rehbein 1998; Knoop (Wasmeier 1975). Vielfach beschränken sich
1998), u. a. mit den Textsorten Dienstvor- die Autoren auf die Kennzeichnung eines
25. Textsorten der geschriebenen Sprache 309

Abb. 25.2.
TEXTSORTEN IN ZEITUNGEN
V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

Publizistische TEXTSORTEN Annektierte TEXTSORTEN


informationsbetont meinungsbetont literarisch instruierend
vorrangig beiläufig stellvertretend direkt handlungs- lektüre-
orientierend orientierend
gewichtet chronologisch redak- amt- kom- argu- pole- kri- analy- praktisch lebens-
tionell lich mer- men- misch tisch tisch praktisch
ziell tativ
rein primär- zusam- gesche- erleb-
fakten- infor- men- hens- nis-
orien- mie- hangs- orien- orien-
tiert rend orien- tiert tiert
tiert

(Gebrauchs-, Montage-, Pflege-...)


(Film-, Buch-, Musik-, Theater-)

INHALTSVERZEICHNIS
BEKANNTMACHUNG

BEILAGENHINWEIS
KURZGESCHICHTE
KURZNACHRICHT

BESPRECHUNG
BEKANNTGABE

KOCHREZEPT
KOMMENTAR

IMPRESSUM
LESERBRIEF

RATSCHLAG
NACHRICHT

REPORTAGE

ANLEITUNG
INTERVIEW

HOROSKOP
ANEKDOTE
ANZEIGEN

DIAGNOSE
MELDUNG
BERICHT

HINWEIS

SPRUCH
GLOSSE

ROMAN
ZITAT

WITZ
310
Abb. 25.3.
25. Textsorten der geschriebenen Sprache 311

allgemeinen Beschreibungsmodells und des- in der Fremdsprache) eine wesentliche Rolle


sen Illustration (Heinemann/Viehweger 1991; spielt.
Brinker 1997 …). Eine sehr detaillierte ⫺ auf 2. Als spezifische Forderung für den
die Sprechakttheorie direkt bezogene ⫺ Ty- Fremdsprachenunterricht ergibt sich die
pologisierung bietet Rolf (1993). Bezogen auf Konzentration auf die für didaktische Pro-
die Einordnungsinstanz der ,Gebrauchstexte‘ zesse jeweils relevanten Textsorten. Es muss
werden assertive (informationale), direktive daher klar unterschieden werden zwischen
(steuernde), kommissive (auf künftige Hand- Textmustern, die die Lernenden aktiv und
lungen gerichtete), expressive (auf die Her- kreativ beherrschen müssen und solchen, die
stellung und Erhaltung sozialer Verbindungen nur für Steuerungsprozesse beim Lese- und
gerichtete) und deklarative (auf institutio- Hörverstehen wichtig sind (Krause 1996, 58).
nelle Wirksamkeit gerichtete) Textsortenklas- Spezifische Textsorten der Fachkommunika-
sen unterschieden und systematisch weiter tion sollten daher auch nur in besonderen
untergliedert. Bei der assertiven Textsorten- Kursen (z. B. Wirtschaftsdeutsch) trainiert
klasse unterscheidet Rolf z. B. transmittie- werden.
rende, darstellende und indizierende Subklas- 3. Textsorten sind ⫺ zumindest partiell ⫺
sen, denen ⫺ bei weiterer Subklassenbil- kulturspezifisch geprägt. Solche unterschied-
dung ⫺ jeweils Listen von Einzeltextsorten lichen kulturellen Muster (z. B. in der Be-
zugeordnet werden. Auch wenn manche Ter- schriftung des Briefumschlags im Deutschen
mini nicht immer glücklich gewählt sein mö- und Russischen, die bei Nichtbeachtung der
gen, wenn vielleicht für praktische Zwecke usuellen Form im Zielsprachenland eine
,überdifferenziert‘ wird ⫺ aus der Sicht einer Rücksendung des Briefes an den Absender
Typologie von Gebrauchstexten darf dieser zur Folge haben kann) sollten im Unterricht
Klassifikation ein besonders hoher Grad an in der Fremdsprache unbedingt herausgear-
Beschreibungsadäquatheit zuerkannt wer- beitet werden.
den. 4. Da die funktionale und die situative
Aus der Gesamtheit der Schrifttexte ausge- Ebene von Textmustern in vielen Sprachen
gliedert und vor allem in der Literaturwissen- kongruent oder annähernd kongruent sind,
schaft differenziert wird ⫺ einer langen Tra- kommt der Behandlung von Spezifika der
dition folgend ⫺ der Bereich der literarischen Textstrukturen und Textformulierungen eine
Texte. Die Grunddifferenzierung in Gattun- besondere Bedeutung zu. Bestimmte Textmu-
gen (Epik, Lyrik, Dramatik) und deren sternamen in der Zielsprache bedürfen der
Untergliederung in Genres (Roman, Erzäh- Erläuterung, da sie für Nicht-native speaker
lung, Novelle, Anekdote … für die Epik) gilt nicht ohne weiteres erschließ- und ableitbar
mehr oder minder als literaturwissenschaft- sind (z. B. Bußgeldbescheid).
licher Kanon (auch Lerchner 1983, 267). Dis- 5. Textmuster kommen nur selten in ,reiner‘
kutiert wird heute vielfach das Problem der Form vor. Textmustermischungen sollten da-
Fiktionalität und die ⫺ hier interessierende her im Unterricht identifiziert und Gegen-
⫺ Frage, ob die Termini der linguistischen stand von Analyseprozessen werden.
Textsortenklassifikation auch auf literarische
Texte übertragen werden können (Hinck 6. Literatur in Auswahl
1977, X; Kalverkämper 1983, 98).
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Fremdsprachenunterricht verwiesen: Bienek, Horst (1969): Vorgefundene Gedichte.
München.
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Textmustern/Textsorten sollte als Prinzip für Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden.
jede Form der Arbeit mit Texten im Unter- 4. Aufl. Berlin.
richt gelten, da die Fähigkeit zur adäquaten Busse, Dietrich (1992): Recht als Text. Tübingen.
Aktivierung von Textmustern bei allen Text- Diewald, Gabriele Maria (1991): Deixis und Text-
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312 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

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In: Elisabeth Gülich; Wolfgang Raible (Hg.)
(1975): Textsorten. Differenzierungskriterien aus Wolfgang Heinemann, Leipzig (Deutschland)
314 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

26. Linguistische Analyseverfahren von Texten

1. Einführung hang auf der Textoberfläche, die über eine


2. Analyse des formalen Textzusammenhangs Textsyntax hinaus neben Phänomenen wie
(Kohäsion) Proformen, Tempora oder syntaktischen Pa-
3. Analyse des Textinhalts (Kohärenz) rallelstrukturen auch lexikalische Mittel wie
4. Analyse der Textstrukturierung
5. Ausblick
Rekurrenz und Paraphrasen umfasst (vgl. de
6. Literatur in Auswahl Beaugrande/Dressler 1981).
2.1. Textphorik
1. Einführung Eines der wichtigsten Vertextungsmittel ist die
Verweisung oder Textphorik, die auf einem
Im Folgenden werden die wichtigsten textlin- Zusammenspiel syntaktischer und semanti-
guistischen Analyseverfahren vorgestellt. An- scher Kriterien basiert. Mit Harweg (1968) be-
dere Zugänge (etwa aus Gesprächsanalyse gann die Erforschung der Pronominalisie-
oder Literaturwissenschaft) bleiben unbe- rung, doch sein Substitutionsansatz erwies
rücksichtigt. Es wird jedoch ein weiter Text- sich schnell als Beschränkung, insbesondere
begriff zugrunde gelegt, der sowohl schrift- für Nominalphrasen (NPn) mit semantischer
liche als auch mündliche Texte (Diskurse) Anreicherung. Heute dominieren weniger re-
umfasst. Erste textanalytische Ansätze bezo- striktive Konzepte wie Stellvertretung, Wie-
gen sich vornehmlich auf satzübergreifende deraufnahme oder Weiterführung (vgl. z. B.
Phänomene wie die Pronominalisierung. Bellmann 1990; Braunmüller 1977; Weinrich
Dann rückten semantische und pragmatische 1993).
Aspekte stärker in den Blick und die heutige Entsprechend der Verweisrichtung unter-
Textlinguistik hat ihr Untersuchungsfeld auf scheidet man Rückverweis (Anaphorik) und
der Grundlage eines dynamischen oder „pro- Vorverweis (Kataphorik). Anaphern verwei-
zeduralen“ Textbegriffs erweitert: Nicht mehr sen auf ein zuvor erwähntes oder durch Si-
der Text als Objekt, sondern die Prozesse der tuation bzw. Weltwissen als bekannt gesetztes
Textproduktion und -rezeption stehen im (Kon-)Textelement; Kataphern kündigen ten-
Vordergrund (vgl. z. B. Heinemann/Viehwe- denziell eine textuelle Nachinformation an
ger 1991; Antos 1997). Textinhalt und Text- (vgl. Weinrich 1993, 410).
funktion sind keine stabilen, objektiven Grö-
ßen, sondern sie konstituieren sich auf der 2.1.1. Art und Funktion von Pro- oder
Basis individueller Vorwissensbestände, Ein- Verweisformen
stellungen oder Interessen (vgl. Art. 93). Den-
Anaphorische Pro-Formen dienen nicht nur
noch existieren neben Sprach-, Welt- und Er-
der Variation, sondern sie signalisieren, dass
fahrungswissen ein interindividuell vergleich-
die mit ihr syntaktisch verbundene neue In-
bares Textwissen über Textmuster, aber auch
formation (der NP, der Äußerung etc.) das
Prozesse etwa der Selektion oder Linearisie-
bisherige Wissen zu ihrem Bezugselement er-
rung (vgl. Heinemann/Viehweger 1991). Um
gänzen oder modifizieren soll. Alte und neue
alle ursprünglich isolierten Analyseverfahren
Referenzpotentiale sollen in der semantischen
in einer integrativen Textbetrachtung zusam-
Verarbeitung integriert werden (vgl. Kall-
menzuführen, legten Heinemann und Vieh-
meyer et al. 1986, 227).
weger (1991) ein umfassendes dynamisches
Anaphorische Verweisketten sind in ho-
Textmodell vor; es ist der erste Versuch seit
hem Maße textbildend. Nach den (Personal-
de Beaugrande und Dressler (1981), deren
und Demonstrativ-)Pronomina haben v. a.
sieben Textualitätskriterien bis heute einen
NPn mit Definit-, Demonstrativ- und Posses-
guten Ausgangspunkt für textanalytische Un-
sivartikel große Bedeutung. Auch Adverbien,
tersuchungen bieten (vgl. Art. 23).
v. a. Pronominaladverbien (darüber), Kon-
junktionaladverbien (deshalb, trotzdem) und
2. Analyse des formalen generalisierende Pro-Adverbien (da, so) fun-
Textzusammenhangs (Kohäsion) gieren als Pro-Formen. Mit allen genannten
Formen können auch größere Textpassagen
Das Untersuchungsinteresse der eher trans- wieder aufgegriffen werden (… Dies alles/
phrastisch ausgerichteten Textgrammatik galt diese Geschichte hatte er vergessen gehabt.).
vornehmlich der Kohäsion, dem Zusammen- Seltener finden sich Pro-Adjektive wie solch
26. Linguistische Analyseverfahren von Texten 315

und derartig mit Klassenreferenz und Pro- Kohäsion in erster Linie über den Artikel
Verben wie das tun. Pro-Formen erfassen alle hergestellt wird (ein Auto ⫺ das langsame,
Kategorien (vgl. Braunmüller 1977). völlig verrostete Ungetüm), hängt die An-
Kataphorisch i. w. S. sind neutrale Ver- nahme der Referenzidentität davon ab, ob
weisformen wie z. B. der indefinite bzw. Null- von außersprachlicher, innertextueller oder
artikel und Indefinitpronomina wie jemand. konzeptueller Referenz ausgegangen wird
Da sie jedoch lediglich anzeigen, dass sich (vgl. z. B. Brinker 1988; Kallmeyer et al.
eine Suche nach kontextueller Information 1986; Valentin 1996).
erübrigt, wecken sie keine Erwartungshal- Anaphorisch, aber nicht koreferent sind
tung beim Rezipienten im Unterschied zu ge- definite NPn, die durch implizite Referenz
nuinen Kataphern wie derjenige, folgend oder oder Kontiguität in wortsemantischen Bezie-
den Interrogativa. Häufig wird eine anapho- hungen mit dem Bezugselement verbunden
rische Form kataphorisch eingesetzt, z. B. sind (eine Einladung ⫺ der Gastgeber). Wird
Pronominaladverbien als Korrelate oder text- die Relation erst durch den Kontext assozia-
initiale definite NPn: Anaphorische Titel z. B. tiv hergestellt (eine Reise ⫺ die Skier), wird
suggerieren dem Rezipienten „eine im kollek- über die „Regel des Rahmens“ (Weinrich
tiven Gedächtnis bestehende Vorinforma- 1993, 412) ein gemeinsames Schemawissen
tion“, die er sich durch die Lektüre nachträg- evoziert.
lich erwirbt (Weinrich 1993, 412; vgl. Harweg Gibt es kein mögliches Bezugselement im
1968, 152ff.). Text, aktiviert die definte NP „internalisierte
Vorstellungen“; das betrifft systematisch Uni-
2.1.2. Verweisungsprinzipien kate (die Sonne) oder Eigennamen; aber auch
Textuelle Verweisketten gehorchen bestimm- bei „ungenauen“ Anaphern muss ein Vorwis-
ten Prinzipien. Bei gleicher Referenz werden sen herangezogen werden (du, die/diese Freun-
außer bei Mehrdeutigkeit Kontaktanaphern din von der Beate da hat gesagt …) (vgl. Va-
im Normalfall mit Pronomina realisiert, wäh- lentin 1996, 185ff.).
rend zur Erleichterung der Referenzanwei-
sung bei Distanzstellung eher Renominalisie- 2.1.4. Textdeixis
rungen vorkommen, d. h. definite NPn mit le- Auch wenn heute meist global von „Kontext“
xikalischer Rekurrenz (vgl. Schecker 1996, gesprochen wird, ist im Prinzip zu unterschei-
165ff.). Sonst jedoch hat die Renominalisie- den zwischen verbalem Ko-Text, situationel-
rung in Abfolgen wie ein Mann ⫺ der Arbeiter lem Kon-Text und den geteilten Wissensbe-
⫺ er ⫺ er ⫺ der/dieser Arbeiter die Funktion, ständen. Umstritten ist, ob die Situation ein
einen Übergang zu einem neuen Textteil (Ab- Teil des Textes und damit die Deixis ein Son-
satz oder Thema) zu kennzeichnen. Die Nor- derfall der Phorik ist (vgl. z. B. Weinrich
malabfolge vom Spezifischen zum Allge- 1993) oder Textphorik Teil der Deixis (vgl.
meinen hingegen wird durch nicht-rekurrente, Braunmüller 1977): Auch Anaphern können
aber lexikalisch verwandte NPn (z. B. Hyper- Situationsbezug haben (beim Hausputz: Das
onyme) ausgedrückt (vgl. Brinker 1988, 33). kriegst du nie da hoch!), und Demonstrativa
Steht eine NP statt eines Pronomens, so ist referieren in textdeiktischer Funktion auf
die Abweichung von den Verweisprinzipien Textsegmente, zusammen mit lexikalischen
signifikant, sie „stoppt die fortlaufende inte- Verweisen wie im zweiten Kapitel (vgl. Lan-
grative Weiterverarbeitung [und; E. W.] be- ger 1995).
sagt in etwa: Beziehe das, was hier berichtet Demonstrativa fassen zusammen und „re-
wird, nicht einfach wie gewohnt auf schon kodieren“: Sie signalisieren den Abschluss ei-
Berichtetes, sondern beginne eine neue Inte- nes Textteils und den Anfang eines neuen
gration“ (Schecker 1996, 175). (Weinrich 1993, 440ff.). Während z. B. das
anaphorische Pronomen das ohne Fokusän-
2.1.3. Arten anaphorischer Verweisung derung nur „re-rhematisiert“, erlaubt dies
Pronomina, rekurrente NPn und Adverbien keine Weitergeltung, sondern fokussiert neu.
werden häufig als koreferente oder referenzi- Dass das Bezugselement bei den Deiktika ex-
dentische Anaphern beschrieben. Nur par- plizit erwähnt sein muss, zeigt sich auch bei
tielle Identität besteht bei Variation der syn- den Artikeln: Bei Rahmenverweis ist der De-
taktischen Kategorie (Morgen war das Fest. monstrativartikel ausgeschlossen (ein Auto ⫺
Darauf freute sie sich sehr.) oder Numerusdif- die/*diese Räder). Deixis muss also auch im
ferenz. Bei „inkrementellen“ Anaphern (Va- Text als expliziter Akt der Neuorientierung
lentin 1996, 185) mit neuer Information, wo betrachtet werden (vgl. Ehlich 1982).
316 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

Der Textproduzent stellt immer Vermu- lich Klein 1993; Stegner 1985). Der Wegfall
tungen über Vorwissen und Ziele des Rezi- von pronominalem Subjekt ist im Deutschen
pienten auf und antizipiert dessen Erwar- (anders als in anderen Sprachen) z. B. stan-
tung. Dementsprechend trifft er seine Aus- dardsprachlich nicht möglich; ähnliches gilt
wahl der zu präsentierenden Elemente (vgl. für den Topik-Wegfall (Weiß ich nicht, kann
Antos 1997, 61). Eine definite NP setzt dann ich dir auch nicht helfen.).
etwas Unerwähntes einfach als bekannt; mit Auch wenn die Kenntnis der wichtigsten
der Wahl des Demonstrativartikels hingegen Ellipsenregeln für eine authentizitätsnahe
wird erst ein gemeinsamer Kontext „produ- Textproduktion unerlässlich ist, können El-
ziert“ (vgl. Auer 1981, 309), wenn der Verweis lipsen im Fremdsprachenunterricht sicher
nicht abgesichert ist (ich war neulich in diesem keinen hohen Stellenwert beanspruchen.
[vs dem/einem] neuen Café im Zentrum …).
Textverweisung und Textdeixis spielen eine 2.3. Konnexion
herausragende Rolle bei der Vertextung. Da Gemeinhin werden Konnektoren semantisch
sie Voraussetzung für andere textbildende zusammengefasst, z. B. in kausale, adversa-
Verfahren sind, haben sie in einer anwen- tive, konzessive oder disjunktive Elemente.
dungsorientierten Textlinguistik einen her- Weiterreichende textuelle Bedeutung für die
ausragenden Platz. Orientierung in Texten hat jedoch nur ein
kleiner Teil, erfasst in Kategorien wie expli-
2.2. Ellipse kativ, summativ, linearisierend, konklusiv,
Ellipsen werden als ergänzbare oder redu- ordinativ oder digressiv (vgl. Engel 1988;
zierte Äußerungen klassifiziert. Sie sind stark Götze/Hess-Lüttich 1989; Weinrich 1993).
kohärenzstiftend, da die Aussparung durch Textkonnektoren veranschaulichen die Text-
den (unmittelbaren) Kontext ergänzt werden struktur, indem sie z. B. Paraphrasen ankün-
muss, und realisieren die Maxime, nichts Be- digen (anders ausgedrückt, d. h.) oder die Ab-
kanntes oder Triviales zu sagen (Kriterium folge der Textteile markieren (erstens ⫺ zwei-
der Informativität). Wenn eine erwartbare tens ⫺ drittens; erst ⫺ dann ⫺ weiterhin ⫺
Aussparung nicht erfolgt, ist die Redundanz zum Schluss), Einschübe oder thematische
signifikant (Wo hast du die Schlüssel hinge- Brüche kennzeichnen (übrigens, jedenfalls)
legt? ⫺ Ich habe die Schlüssel auf das Tisch- oder die Funktion eines Textteils kennzeich-
chen gelegt, wie immer!). nen, wie z. B. im Folgenden, das auf eine
„Ellipsis occurs when something that is erwartbare Kurzzusammenfassung vorver-
structurally necessary is left unsaid“ (Halli- weist. Damit leisten Textkonnektoren einen
day/Hassan 1976, 144). Aber nicht immer wesentlichen Beitrag zur Entlastung von
sind eindeutige Ergänzungen durchführbar, Textverarbeitungsanforderungen (vgl. Lan-
zumal Ellipsen auch auf die Situation oder ger 1995).
eine Illokution Bezug nehmen (Oh ja, der da!;
Das Kinozentrum ist eröffnet. ⫺ Keine Zeit!) 2.4. Thema/Rhema bzw. Fokus/
Es sind mit Klein (1993) verschiedene Arten Hintergrund
der Ellipse zu differenzieren: Von textuellem 2.4.1. Funktionale Satzperspektive
Interesse sind zum einen situativ erklärbare Die Funktionale Satzperspektive (FSP) der
Ellipsen wie Textsortenellipsen (Telegramm, Prager Schule um Mathesius, Daneš und Fir-
Rezept), feste Ausdrücke (Feuer!, Alles Gute!) bas geht davon aus, dass die Satzstellung
oder standardisierte lexikalische Ellipsen aller Sprachen mehr oder weniger stark auch
(Wer gibt?). Eher syntaktisch zu interpretie- von pragmatischen Aspekten beeinflusst wird.
ren sind die monologischen Koordinations- Das Begriffspaar Thema/Rhema bezeichnet
reduktionen (mit Vorwärts- und Rückwärts- dabei verschiedene Phänomene, zum einen
ellipse) sowie die dialogischen Adjazenzellip- Gesprächsgegenstand und Aussage. Bei Di-
sen. Letztere können weiter unterteilt wer- chotomien wie bekannt/unbekannt oder vor-
den in Frage-Antwort-Folgen, Teilkorrektu- erwähnt/nicht vorerwähnt hingegen steht die
ren (Du schuldest mir noch 100 Mark! ⫺ Nein, Anaphorizität im Vordergrund; dabei gilt das
80!), Teilbestätigungen und parallele Fortfüh- Thema als zumindest partiell vorerwähnt (vgl.
rungen (ja, und wie!). Was weggelassen wer- Daneš 1989). Und bei der Dichotomie kom-
den kann, ist bei allen syntaktischen Ellipsen munikativ unwichtiger/kommunikativ wichti-
durch sprachspezifische Regeln vorgegeben ger ist der Mitteilungswert angesprochen, er-
und von Faktoren wie Wortstellung, Finitheit fassbar als „kommunikativer Dynamismus“
oder Satzgliedstatus abhängig (vgl. ausführ- (vgl. Firbas 1974).
26. Linguistische Analyseverfahren von Texten 317

Die Ermittlung von Thema und Rhema ist menen gegeben; solche textuellen Übergangs-
nicht einfach (vgl. Lötscher 1987). In mündli- wahrscheinlichkeiten lassen sich anhand einer
cher Sprache trägt das Rhema ⫺ auch als Textpartitur veranschaulichen (vgl. Weinrich
Subjekt in Erststellung ⫺ den Satzakzent, 1972). Je nach Art des semantischen Infor-
aber in schriftlichen Texten sind Stellungskri- mationsübergangs z. B. ist eine textuelle Fort-
terien wie „Verbferne“ und „Frühplazierung“ führung (mit thematischem Erhalt oder Wech-
(vgl. Eroms 1991, 60) ebenso schwer festzule- sel) oder eine Einführung von etwas ganz
gen wie das kommunikative Kriterium „Er- Neuem erwartbar (vgl. Klein/von Stutterheim
wartbarkeit“. 1987). Stark erwartungsinkonforme Verwen-
Als Regel der Informationsverteilung gilt, dungsweisen der Pro-Formen, der Tempus-
dass informativere Elemente an den Schluss formen oder auch semantischer Merkmale
gerückt werden; am Satzanfang steht neben etc. deuten auf Schlüsselstellen hin. Bei einem
konnektierenden Elementen v. a. das eigentli- dynamischen Textbegriff sind daher mögliche
che Thema. Wenn nun aber oft die Abfolge Fortsetzungsalternativen auf allen Ebenen
Thema/Rhema als die normal-objektive, eine der linguistischen Analyse mitzubedenken.
Umkehrung hingegen als auffällig und sub-
jektiv betrachtet wird, so betrifft das nicht die 2.4.3. Thematische Progression
Vorerwähntheit, sondern die kommunikative Hauptkritikpunkt an der FSP ist, dass sie mit
Gewichtung. Das Gleiche gilt für Intona- kontextisolierten Satzbeispielen arbeitet (vgl.
tionsphänomene und Stellungsvarianten wie Palková/Palek 1977). Ein Versuch, globalere
z. B. Herausstellungen, wo ein thematisches Kohärenzstrukturen zu beschreiben, stammt
Element als Diskurstopic gesetzt wird (Ich von Daneš, der verschiedene Typen einer satz-
habe gestern Peter getroffen. Der Peter, der übergreifenden thematischen Progression ent-
[vs: Er] ist wirklich ein interessanter Mensch.). Wickelte. Er vernachlässigt dabei transitori-
Es bietet sich daher an, mindestens zwei nur sche Übergänge und Feinabstufungen im
teilidentische Ebenen anzunehmen: eine Satzkontext und schlägt fünf grundlegende
Ebene der Anaphorizität, mit z. B. Thema/ Progressionstypen vor:
Rhema, und eine der kommunikativen Ge- I. Die einfache lineare Progression kommt
wichtung mit z. B. Fokus/Hintergrund (vgl. häufig in Erzähltexten vor bzw. ist typisch für
Daneš 1989; Molnár 1991). Weinrich (1993) Textanfänge, an denen schnell viele Informa-
etwa klassifiziert die Personalpronomina als tionen eingeführt werden müssen:
thematisch, die anaphorischen Pronomina
T1 J R1 Ein König hatte eine Tochter,
der/die/das hingegen als rhematisch; er asso- (R1 ⫽) T2 J R2 die begab sich eines Tages in den
ziiert Thema/Rhema nicht mit Anaphorizität, Wald.
sondern mit Fokus und Horizont. (R2 ⫽) T3 J R3 Dort begegnete ihr eine Hexe …
2.4.2. Fokus-Hintergrund-Gliederung II. Die Progression mit durchlaufendem (kon-
Wenn die Textanalyse stärker auf die kom- stantem) Thema findet sich z. B. häufig in Bio-
munikative Gewichtung ausgerichtet ist, sind graphien oder Lexikonartikeln. Sie wirkt
Hinweise auf die Fokus-Hintergrund-Gliede- schnell monoton, da es keine Weiterentwick-
rung zu eruieren. Im Satz kann u. a. durch lung in der Zeit gibt, ermöglicht aber eine öko-
Subordination ein Textelement reliefartig in nomische, themenzentrierte Wissensakkumu-
lierung (vgl. Eroms 1991, 63):
den Hintergrund gestellt werden (vgl. Hart-
mann 1984; Weinrich 1993), sofern in einem T1 J R1 Heinrich Heine wurde 1797 geboren.
Satz die Wahl zwischen Hypo- und Parataxe T1 J R2 Er war erst Kaufmann;
besteht (vgl. Brandt 1996, 226). Parenthesen T1 J R3 dann absolvierte er ein Jurastudium.
hingegen liefern keine Hintergrund-, sondern III. Die Progression mit abgeleitetem Thema
Nebeninformationen (wie Kommentare). Das charakterisiert Beschreibungen, Lebensläufe
wird insbesondere bei parataxenähnlichen oder auch Instruktionstexte, die ein Hyper-
Parenthesen (Ich denke ⫺ und du wirst mir thema (oft ein Objektkonzept) haben, das
Recht geben ⫺, wir sollten das Ganze abbre- über verschiedene Unterthemen hinweg ent-
chen.) unterstrichen durch die deutliche in- faltet und spezifiziert wird (vgl. Eroms
tonatorische bzw. orthographische Abgren- 1991, 64):
zung (vgl. Brandt 1996, 232). (T) J Deutschland liegt in der Mitte Europas.
Ein zentraler Aspekt der Fokus-Hinter- T⬘1 J R1 Offizielle Amtssprache ist Deutsch.
grund-Gliederung ist mit der generellen Er- T⬘2 J R2 Die Hauptstadt ist Berlin.
wartbarkeit von textkonstituierenden Phäno- T⬘3 J R3 Als wichtigster Nachbar gilt Frankreich.
318 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

IV. Die Progression mit gespaltenem Rhema den Rezipienten dar, dem Text gegenüber
findet sich häufig in Aufzählungen. (Neben eine gespannte Haltung einzunehmen. Be-
dem ursprünglichen Terminus findet sich sprechende Tempusformen in einem narrati-
auch die Bezeichnung „Gespaltenes Thema“, ven Kontext bewirken daher eine Distanzauf-
da alle Rhemateile Themata neuer Sätze wer- hebung (z. B. Perfekt in gesprochenen Erzäh-
den.) lungen). Das Präsens als Leittempus der be-
sprochenen Welt signalisiert bei Zukunftsbe-
T1 J R1 (⫽ R1⬘ ⫹ R1⬙ …) Die Valenztheorie kennt
zug oder als historisches bzw. dramatisches
mind. 8 Ergänzungs-
klassen:
Präsens (Gestern bin ich so dagesessen und
(R1⬘ ⫽) T2⬘ J R2⬘ Subjekt-, Akkusativ-, plötzlich kracht es!), dass ein real vergangenes
Dativ- und Genitiver- oder mögliches zukünftiges Ereignis zum In-
gänzungen bilden die teraktionszeitpunkt Relevanz erhalten, kog-
Kasusergänzungen. nitiv „präsent“ bzw. „präsentiert“ werden
(R1⬙ ⫽) T2⬙ J R2⬙ Situativ- und Direktio- soll.
nalerg. sind eher seman- Durch die Tempora des erzählenden Regi-
tisch definiert; sters, nämlich Präteritum, Plusquamperfekt
(R1⵮ ⫽) T2⵮ J R2⵮ Die Präpositionalerg. und Konditional, wird dem Rezipienten eine
hingegen ist rein syn- entspannte Haltung nahegelegt. Das Präteri-
taktischer Natur. tum ist narratives Leittempus und innerhalb
V. Unter einer Progression mit thematischem der erzählten Welt kein Rückschautempus,
Sprung, die Daneš nicht näher erläutert, ver- sondern perspektivisch ebenso neutral wie
steht man heute meist die Wiederaufnahme das Präsens. So kennzeichnet ein Präteritum
eines entfernteren Themas gerade in längeren in besprechenden Texten auch keine Vergan-
Texten, wobei genau diese Themenverklam- genheit, sondern eine auf Gegenwärtiges (Wie
merung „auf die Gesamtthemenkonstitution“ war gleich Ihr Name?) oder gar Zukünftiges
(Eroms 1991, 69), also auf das Textthema be- (Die Sitzung war am Donnerstag?) gerichtete
zogen werden kann. höfliche Distanz.
Im Fremdsprachenunterricht kann die Auch die systematische Abweichung von
FSP für das Deutsche zur Erklärung der Mit- der für eine Textsorte dominanten Tempus-
telfeldstellung herangezogen werden. Die the- form hat Signalcharakter. In Zeitungsnach-
matische Progression ist nicht nur für ab- richten, wo die erste Tempusform am häufig-
strakte Textklassen, sondern auch für gezielte sten Perfekt ist und nicht das sonst domi-
nante Präteritum (Gestern hat sich auf der
Textsortenanalysen ein geeigneter Analysean-
A 60 ein schwerer Auffahrunfall ereignet. Die
satzpunkt (vgl. Langer 1995), ebenso für die
Fahrbahn war spiegelglatt, als …) unterstützt
Herausarbeitung kultureller Unterschiede
das Berichtstempus die aufmerksamkeitsfo-
und fremdsprachlicher Probleme (vgl. Mau-
kussierende Funktion des „Aufhängers“ (vgl.
ranen 1996). Didaktisierungsvorschläge ver-
Marschall 1995) und fasst zudem ein Ereignis
nachlässigen i. d. R. Typ V und fassen die Ty- (oder dessen Konsequenzen) zusammen, das
pen III und IV zusammen, so Esa/Graffmann nachfolgend im Rückblick „entfaltet“ wird
(1993) mit ihren Treppen-, Kamm- und Ga- (vgl. Vater 1996, 249). Das Perfekt markiert
bel-Modellen. also das für den Rezipienten Wichtigste oder
2.5. Tempus das Textthema.
Textuell gesehen, gibt es keine Variation
Eine der Aufgaben der Tempusformen (und zwischen Präteritum und Perfekt: Anschei-
Temporaladverbien) ist es, zwischen Ereignis- nend sind Sätze wie Hans ist spät eingeschla-
sen oder Handlungen einen zeitlichen Bezug fen und Hans schlief spät ein frei austausch-
herzustellen, daher kann man sie als kohäsive bar (vgl. Vater 1996, 242f.) ⫺ bei kontextiso-
Mittel der „Zeitreferenz“ ansehen (vgl. z. B. lierter Betrachtung. Es gibt aber keinen mög-
Vater 1996, 239). Tempora werden jedoch lichen realen Text, in dem der eine eher dialo-
auch als textuelle Signale interpretiert, so gisch-unmittelbare Satz den anderen eher
z. B. in Weinrichs Tempustheorie (1977), wo schriftsprachlich-narrativen bedeutungsgleich
neben einer Tempusperspektive (mit Voraus- ersetzen könnte.
schau, Rückschau und Neutralperspektive)
die Kategorie Tempusregister eingeführt wird. 3. Analyse des Textinhalts (Kohärenz)
Das besprechende Register mit den Tem-
pora Präsens (mit Neutralperspektive), Per- Kohärenz ist das wichtigste Textualitätskrite-
fekt und Futur stellt eine Aufforderung an rium. Dabei ist nicht ein Text an sich kohä-
26. Linguistische Analyseverfahren von Texten 319

rent, sondern wird als kohärent angesehen, vorschlägt, die auf Hyperonymie- und Mero-
wenn Textproduzent und -rezipient Textwelt nymie-Relationen basieren.
und Weltwissen sinnvoll verknüpfen können Nicht nur bei metaphorischen oder kon-
(Heinemann/Viehweger 1991, 126). notativen Einzeltexten eignet sich ein isotopi-
scher Analyseansatz: In bestimmten Textsor-
3.1. Isotopie ten sind z. B. Isotopien der wichtigste Kohä-
Das Isotopiemodell ist ein sehr früher, struk- renzfaktor (vgl. Langer 1995). Im Fremd-
turalistischer Analyseansatz von Greimas sprachenunterricht kann dieses Analysever-
(1971). Im Unterschied zu Wortrekurrenz fahren fruchtbar genutzt werden, wenn es um
z. B. sind mit Isotopie keine lexikalischen Re- Literatur, Übersetzung oder kulturkundliche
lationen wie Wortfamilien gemeint, sondern Wortschatzerschließung geht.
im Text neu etablierte semantische Verbin-
3.2. Makrostrukturen
dungen, die über ein gemeinsames syntakti-
sches Vorkommen und Anaphern angezeigt Der Makrostrukturansatz von van Dijk
werden. Ohne textsemantische Netze lassen (1977; 1980) begreift Texte als Komplexe von
sich aber umgekehrt Verweisungen oft nicht Propositionen: Jeder Textsatz enthält eine
erklären. oder mehrere Mikropropositionen, aus denen
Lexeme werden kontextuell durch Semre- Makropositionen abstrahiert und zu einer
kurrenz, d. h. Wiederholung semantischer Makrostruktur zusammengefügt werden. Von
Merkmale, zu Isotopieebenen verknüpft. jeder Makrostruktur kann eine noch abstrak-
Hohe Rekurrenz bewirkt eine Merkmaldomi- tere gebildet werden, so dass im Extremfall
nanz bestimmter Seme bei gleichzeitiger De- der Texttitel die oberste makrostrukturelle
aktivierung anderer. Dominant gesetzte Verallgemeinerung, das Textthema, darstellt.
Merkmale können dabei abstrakt (Klasseme) Makrostrukturen können je nach Defini-
oder spezifisch, denotativ oder konnotativ tion dem Text inhärente stabile Strukturen
sein. Zwischen den Elementen einer Isoto- oder Ergebnisse eines Textverarbeitungs- und
pieebene bestehen Beziehungen wie partielle Abstraktionsprozesses sein, der je nach Rezi-
pient zu unterschiedlichen Ergebnissen füh-
oder totale Identität, Kontiguität oder Asso-
ren kann (vgl. Ballstaedt et al. 1981), abhän-
ziation durch textexternes Schemawissen.
gig auch davon, mit welchen transformatio-
Isotopieebenen haben unterschiedliche
nellen Makroregeln oder -operatoren die
Reichweite (vgl. Kallmeyer et al. 1986, 150ff.):
Mikropropositionen in eine Makrostruktur
Monosemierungsebenen, bei denen vage
überführt werden.
Wortbedeutungen präzisiert oder polyseme
Es gibt Tilgungsregeln, bei denen eine der
Lexeme monosemiert werden, können schon Mikropropositionen zur Makroproposition
durch zwei Lexeme konstituiert werden erhöht wird. Wenn dabei Details definitiv
(Schlange ⫺ Kino). Durch hohe Lexemdichte, wegfallen, liegt eine Auslassung vor (Ein
aber auch durch bestimmte syntaktische Di- Mädchen in einem gelben Kleid lief schnell
stribution z. B. auf die Subjekte werden hin- vorbei. J Ein Mädchen lief vorbei.). Sind die
gegen textdominante Isotopien ⫺ die soge- Details durch Welt- oder Schemawissen ten-
nannten Spezifizierungsebenen ⫺ ausgewie- denziell rekonstruierbar, ist das eine Selek-
sen, die einen Hinweis auf das Textthema ge- tion (Peter ging aus dem Haus und lief zu sei-
ben (wie z. B. eine „Drogen“-Isotopie in ei- nem Auto. Er stieg ein und fuhr nach Frank-
nem Polizeibericht). Bei komplexen Isotopien furt. J Peter fuhr nach Frankfurt.).
werden Lexeme auf sich eigentlich ausschlie- Bei den Substitutionsregeln wird ein Text-
ßenden Ebenen verflochten, ohne monose- teil durch eine neue, allgemeinere Makropro-
miert zu werden. Der oft metaphorische Text position ersetzt. Dabei entspricht die Kon-
bleibt offen für mehrere Lesarten. struktion der Auslassung, insofern Details
Der Isotopieansatz ist v. a. hinsichtlich der definitiv verloren sind (Marion lief Rollschuh,
mangelnden Eindeutigkeit der Konzepte wie Martin baute eine Sandburg und die Zwillinge
„Sem“ oder „Isotopie“ und der Subjektivität waren mit ihrem Kaufladen beschäftigt. J Die
der Verfahren kritisiert worden (vgl. z. B. Kinder spielten.). Bei der Generalisierung hin-
Brinker 1988, 26ff.). Neuere Ansätze reduzie- gegen bleiben, der Selektion entsprechend,
ren jedoch die Textsemantik wieder weitge- die Details rekonstruierbar (Sie stopfte ihre
hend auf Lexikonbedeutungen, so z. B. Stati Pfeife. Dann nahm sie die Streichhölzer, zün-
(1989), der zur Sem-Gewinnung Verfahren dete das gute Stück gelassen an und tat ein
wie Extraktion bzw. umgekehrt Insertion paar tiefe Züge. J Sie rauchte eine Pfeife.).
320 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

Da nun insbesondere in längeren Texten 3.3. Netze und Schemata


Abweichungen und Nebenthemen die Regel Neben den semantischen gibt es eher kogniti-
sind, kann mit der Makroregel „Bündelung“ vistische Kohärenzmodelle wie z. B. das Netz-
eine Zusammenfassung von verteilten, aber werk- und das Schemamodell. Netzwerkmo-
inhaltlich zusammengehörigen Propositionen delle sind in der Notation ausgesprochen auf-
geleistet werden (vgl. den thematischen wendig (vgl. de Beaugrande/Dressler 1981).
Sprung in 2.4.3.). Und als Gegenstück zu den Zudem lassen insbesondere die neueren kon-
reduktiven können für die (Re-)Produktion nektionistischen Ansätze keine stabileren Ge-
inverse Makrooperatoren wie z. B. Konkre- dächtnisstrukturen mehr zu. Aus diesen
tion und Verteilen angenommen werden (vgl. Gründen haben sich Netzwerkmodelle für die
Ballstaedt et al. 1981, 101ff.). anwendungsorientierte Textanalyse nicht
Reduktive und inverse textgeleitete Verar- durchgesetzt ⫺ im Unterschied zu diversen
beitungsprozesse verbinden sich mit konzept- Schemamodellen, die davon ausgehen, dass
geleiteten Inferenzen und Elaborationen (vgl. komplexe Wissensbestände nicht nur aus
Kintsch/van Dijk 1978). Die meist intendier- Gründen der Ökonomie ⫺ als Erfahrungs-
ten Inferenzziehungen sind ein wichtiges Mit-
kondensate ⫺ in irgendeiner Form struktu-
tel, Textkohärenz zu schaffen, d. h. Textlü-
riert sein müssen (vgl. Schank/Abelson 1977):
cken durch eigenes Wissen zu ergänzen.
Schemata ermöglichen als Einordnungsin-
Durch die expansiven Elaborationen hinge-
stanzen die Verknüpfung eigener Erlebnisse
gen wird der Text mit individuellem Schema-
wissen „angereichert“ bzw. verändert. Elabo- und textuell vermittelter Erfahrungen, wes-
rationen entziehen sich zwar der Steuerung halb ihre Existenz, Ausbildung und Ausdiffe-
durch den Textproduzenten, fördern aber renzierung interindividuell und interkulturell
vermutlich die Verarbeitungstiefe (vgl. Ball- variiert. Spezifischere Unterstrukturen wie
staedt et al. 1981, 99; de Beaugrande/Dressler Schema i. e. S., Rahmen (Frame), Script und
1981, 204⫺214). Plan (vgl. Ballstaedt et al. 1981; de Beau-
Auch direkt mit der Makrostruktur ver- grande/Dressler 1981) unterscheiden sich
bundene Textsätze werden tiefer verarbeitet. durch mehr oder minder stereotype Hand-
Solche Sätze befinden sich normalerweise am lungsabläufe und determinierte Objektkon-
Anfang oder am Ende des entsprechenden zepte (z. B. Prüfungssituation vs Urlaubs-
Textteils (van Dijk 1977) und werden manch- reise).
mal explizit gekennzeichnet durch Wendun- Das Schemawissen ist u. a. Voraussetzung
gen wie Zusammenfassend gesagt, im Wesent- für alle konstruktiven Prozesse der Kohä-
lichen oder hauptsächlich. Rezipientenorien- renzbildung bei Textproduktion und -rezep-
tierte Texte bieten gerne vielfältige Zugänge tion. Dem wird im Fremdsprachenunterricht
zu verschiedenen makrostrukturellen Ebenen etwa durch Aktivitäten zur Aktivierung des
an, z. B. Lehrbücher neben Inhaltsverzeichnis Vorwissens Rechnung getragen.
und (Unter-)Titel zusätzlich Kapitelzusam-
menfassungen und Makroelemente in Seiten-
spalten oder Graphiken. Da das Erfassen des 4. Analyse der Textstrukturierung
Hauptinhalts die Voraussetzung für kursori- 4.1. Formale Superstrukturen und
sches (bzw. globales) Lesen und Hören, für Textstrukturierungsmuster
Zusammenfassungen oder Notiztechniken
ist, sollten entsprechende Aufgabenstellungen Modelle, welche die formale (nicht die inhalt-
zu zentralen Bausteinen einer textorientierten liche) Organisation von Texten zu fassen ver-
Sprachvermittlung gehören. suchen, sind z. B. das Konzept der Superstruk-
Der Makrostrukturansatz bezieht systema- turen (van Dijk 1980; vgl. auch Ballstaedt et al.
tisch textexternes Wissen mit ein, denn zur 1981) oder der Textstrukturierungsmuster
„expliziten Textbasis“ (van Dijk 1980), dar- (vgl. Heinemann/Viehweger 1991). Textinhalt
stellbar über schematische Kohärenzgraphen und Textform fallen nicht zusammen: Der
(vgl. Kintsch/van Dijk 1978), gehören neben Vorgang „Unfall“ (Inhalt) ist realisierbar in
den mikrostrukturellen Propositionen (mit Strukturen wie Zeitungsartikel, Polizeibe-
lokaler Bedeutung) auch Präsuppositionen richt, Strafantrag oder Erzählung.
und Inferenzen. Einige Kritiker wollen die Die Analyse von Superstrukturen oder
Analyse auf die Textpropositionen be- Textstrukturierungsmustern hat das Ziel, für
schränkt sehen (vgl. z. B. Jürgens 1995); da- bestimmte Textklassen wie z. B. Argumenta-
mit wird jedoch die konstruktive Leistung tion oder Narration notwendige und erwart-
des Rezipienten deutlich geschmälert. bare strukturelle Bausteine sowie deren Funk-
26. Linguistische Analyseverfahren von Texten 321

tion und Abfolge zu ermitteln (vgl. van Dijk die kommunikative Gewichtung in die Ab-
1980). Daher orientiert sich das Vorgehen folge vom Wichtigen zum Unwichtigen ver-
i. d. R. zunächst an einfachen Grundschemata kehrt werden.
und Gattungsbeschreibungen aus anderen
Wissenschaften wie z. B. bei einer argumenta- 4.3. Textfunktion und Illokutionsstruktur
tiven Themenentfaltung dem Modell von Schon früh gab es eher pragmatische Auffas-
Toulmin aus dem Jahre 1958 (vgl. z. B. Brin- sungen, die Texte als „kommunikatives
ker/Sager 1989, 77f.). Für den Anwendungs- Handlungsspiel“ o. ä. begriffen (vgl. z. B.
bereich weitreichender ist die weniger grob- Schmidt 1976). Heute sind v. a. zwei pragma-
körnige Untersuchung konventionalisierter tische Ansätze erkennbar, der eher textfunk-
Textstrukturierungsmuster (vgl. Art. 23), auf tionale von Brinker und der eher handlungs-
welchen z. B. die Beurteilung von Texten nach theoretische von Motsch und Viehweger.
dem Intertextualitätskriterium basiert und die Der textfunktionale Ansatz geht von do-
Anhaltspunkte für die fremdsprachliche Text- minanten Textfunktionen wie z. B. der infor-
produktion liefern. mativen und der instruktiven aus, wie sie
auch bei der Textsortenklassifikation ge-
4.2. Textthema und thematische Entfaltung
bräuchlich sind (vgl. Engel 1988; Heinemann/
Ein wichtiger Schritt in der Textanalyse ist Viehweger 1991). Dominante Textfunktionen
die Bestimmung des Textthemas, des „Kerns erlauben die globale Anwendung von Textua-
des Textinhalts“ (Brinker 1988, 51). Bei litätskriterien wie Akzeptabilität/Intentionali-
mündlichen Texten kann oft nur von einer tät und Situationalität.
„thematischen Orientierung“ ausgegangen Da nun Textziele nicht mit einzelnen illo-
werden (vgl. Brinker/Sager 1989, 77); thema- kutiven Handlungen realisierbar sind, wendet
tische Zusammenhänge sind aber oft schwer sich der handlungstheoretische Ansatz dage-
zu ermitteln (vgl. Kindt 1995). gen, nur ganzen Texten eine Funktion zuzu-
Die Präsentation der verschiedenen thema- ordnen: „Eine befriedigende Beschreibung
tischen Ebenen nennt Brinker thematische von ,Textfunktionen‘ muß auf einer Beschrei-
Entfaltung (1988). Als Grundformen, die je- bung der illokutiven Binnenstruktur von Tex-
doch weiter ausdifferenziert bzw. kombiniert
ten aufbauen“ (Motsch 1996, 21), wobei hier
werden können, unterscheidet Brinker (1988)
ein sehr komplexes Geflecht von Illokutions-
deskriptive, narrative, explikative und argu-
hierarchien herauszuarbeiten ist.
mentative Entfaltung. Die Art der Themen-
Illokutionsstrukturen sind ⫺ ähnlich wie
entfaltung ist textsortenspezifisch oder -kon-
Makrostrukturen ⫺ hierarchisch gegliedert:
stitutiv (vgl. Art. 23).
Schon die Konzeption der thematischen Eine Sprachhandlung wird durch mindestens
Progression (2.4.3.) hat gezeigt, dass die the- eine Illokution intentional festgelegt: die do-
matische Entfaltung tendenziell dem Gegen- minierende Illokution (z. B. „Bitte“), welche
stand entspricht: eine linear-reihende Textor- das Ziel hat, eine bestimmte Reaktion her-
ganisation findet sich v. a. in beschreibenden vorzurufen. Mit anderen Handlungen oder
Texten (Prototyp: und); eine zeitlich-sequen- Handlungskomplexen hingegen, den subsi-
zielle Chronologisierung dominiert in erzäh- diären Illokutionen, werden verstehens-, ak-
lenden Texten (Prototyp: und dann), und kau- zeptanz- oder ausführungsstützende Hand-
sale Vernetzungsmuster i. w. S. kennzeichnen lungen vollzogen (wie „Begründung“; vgl.
argumentative oder erklärende Sequenzen. Motsch 1996, 21f.). Die verstehensstützenden
Hinweise auf die Entfaltung liefern neben Illokutionen z. B. umfassen unter anderem
den Konnektoren auch textteilspezifische In- metasprachliche, textgliedernde oder text-
tonationsmuster, z. B. mit paralleler Anord- konstituierende Verfahren wie Korrigieren,
nung (vgl. Selting 1995). Exemplifizieren oder Generalisieren (vgl.
Den Entfaltungstypen sind allgemeinere Heinemann/Viehweger 1991, 108f.). Sie ha-
gestalttheoretische Prinzipien der themati- ben zwar eine Äußerungsillokution ⫺ meist
schen Linearisierung vorgeschaltet (vgl. Löt- „Informieren“ ⫺, diese ist aber im Unter-
scher 1991). Bestimmend ist dabei das Prin- schied zu ihrer relationalen Bedeutung tex-
zip, Zusammengehöriges oder Benachbartes tuell nicht relevant (vgl. Motsch 1996, 23).
zusammen darzustellen; Normalabfolgen ge- Die Herausarbeitung der illokutiven
hen vom Ganzen zu den Teilen, vom Allge- Handlungsstruktur ergänzt die inhaltlichen
meinen zum Spezifischen oder von der Regel und formalen Analysen, da sie sich stärker
zur Ausnahme etc., können allerdings durch auf die pragmatische Gerichtetheit eines Tex-
322 V. Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht

tes konzentriert. Erst die Kombination aller Brinker, Klaus; Sven F. Sager (1989): Linguistische
Analyseverfahren wird jedoch der Textkom- Gesprächsanalyse. Berlin.
plexität gerecht. Clyne, Michael (1987): Cultural Differences in the
Organization of Academic Texts. In: Journal of
Pragmatics 11, 211⫺247.
5. Ausblick Conte, M.-E.; J. S. Petöfi; E. Sözer (Hg.) (1989):
Für eine fremdsprachliche Arbeit mit Texten Text and Discourse Connectedness. Amsterdam.
in jeder Form sind Textwissen und Know- Daneš, František (1974): Papers on Functional Sen-
how erforderlich. Linguistische Textanalyse- tence Perspective. Prag.
verfahren sind bei Didaktisierungen zu Lese- ⫺ (1989): ,Functional Sentence Perspective‘ and
und Hörverstehen oder bei Textauswahl und text connectedness. In: M.-E. Conte; J. S. Petöfi;
-beurteilung notwendig (vgl. Nussbaumer E. Sözer (Hg.): Text and Discourse Connectedness.
1991); sie fundamentieren kontrastive Ver- Amsterdam, 23⫺32.
gleiche (vgl. Clyne 1987). Es ist daher er- Dijk, Teun A. van (1977): Text and context. Lon-
staunlich, dass die Erkenntnisse der Textlin- don.
guistik, v. a. zu Textverweisung und Makro- ⫺ (1980): Textwissenschaft. Tübingen.
strukturen, noch keine systematischere Be- Ehlich, Konrad (1982): Anaphora and Deixis:
rücksichtigung in Aufgabentypologien und Same, Similar, or Different. In: R. Jarvella; W.
Strategiekonzeptionen gefunden haben. Klein (Hg.): Speech, Place, and Action. Wiley,
Neue Ansätze der Textlinguistik untersu- 315⫺338.
chen die Tatsache, dass während der Textver- ⫺ (1994): Funktion und Struktur schriftlicher
arbeitung nicht nur Wissensspeicher akti- Kommunikation. In: H. Günther; O. Ludwig
viert, sondern auch neue Wissensstrukturen (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Bd. 1. Berlin,
aufgebaut werden (vgl. Lötscher 1991; Antos 18⫺41.
1997). Insbesondere schriftliche Texte sind Engel, Ulrich (1988): Deutsche Grammatik. Heidel-
„zentrale Mittel auch der individuellen wie so- berg.
zialen Wissenskonstitution (in historisch-kul-
Eroms, Hans-Werner (1991): Die funktionale Satz-
tureller wie in aktualgenetischer Sicht)“ (An- perspektive bei der Textanalyse. In: Klaus Brinker
tos 1997, 45; vgl. Ehlich 1994). Durch einen (Hg.): Aspekte der Textlinguistik. Hildesheim, 55⫺
stärker konstruktivistischen Ansatz könnte 72.
auch die fremdsprachliche Textarbeit eine Esa, Mohamed; Heinrich Graffmann (1993):
neue Qualität erhalten. Grammatikarbeit am Text. In: FD 9, 25⫺34.
Firbas, Jan (1974): Some aspects of the Czechoslo-
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26. Linguistische Analyseverfahren von Texten 323

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VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen
Einzelsprachen

27. Kontrastive Analysen Deutsch-Englisch: eine Übersicht

1. Einleitung infolge von Sprachkontakt viele Eigenschaf-


2. Das Deutsche als typischer Vertreter der ten seiner kontinentaleuropäischen Nachbarn
germanischen Sprachen nicht teilt und insofern deutlich macht, dass
3. Das Deutsche als typischer Vertreter des das Deutsche zu einem Kernbereich von eu-
Standard Average European
4. Implikationen, Korrelationen,
ropäischen Sprachen zu rechnen ist, den man
Verallgemeinerungen mit B. L. Whorf als Standard Average Euro-
5. Literatur in Auswahl pean bezeichnen kann.
Es entspricht den Zielsetzungen des vorlie-
1. Einleitung genden Bandes, dass der folgende Vergleich
zwischen dem Englischen und dem Deut-
Von einem Sprachvergleich erwartet man, schen auf eine Richtung festgelegt ist. Nur
dass er Eigenschaften der jeweiligen Spra- diejenigen Eigenschaften des Englischen sind
chen sowie Muster und Regelhaftigkeit der von Interesse, die spezifische Eigenschaften
Variation zwischen den verglichenen Spra- des Deutschen erhellen. Ein weiterer wesent-
chen sichtbar macht, die einer Analyse der licher Punkt für die Konzeption des folgen-
beiden Sprachen jeweils für sich allein weitge- den Artikels muss darin bestehen, mehr als
hend verschlossen bleiben. Insbesondere eine eine bloße Liste von Kontrasten zu bieten.
kontrastive Analyse des Englischen und des Ziel muss es also sein, Verallgemeinerungen
Deutschen ist aus verschiedenen Gründen be- über verschiedene Kontraste zu formulieren,
sonders geeignet, wesentliche Eigenschaften eine typologische Einordnung des Deutschen
des Deutschen zu erhellen: zu versuchen und den Zusammenhang zwi-
schen verschiedenen variierenden Eigenschaf-
(i) Von weitgehend ähnlichen Anfängen ten zu erklären.
(Althochdeutsch, Altenglisch) aus haben sich
die beiden genetisch eng verwandten Spra-
chen infolge von räumlicher Trennung, 2. Das Deutsche als typischer
Sprachkontakt und anderen Faktoren im Vertreter der germanischen
Laufe ihrer Geschichte stark auseinander Sprachen
entwickelt. Trotz ihrer genetischen Verwandt-
schaft sind das heutige Deutsch und das heu- Die enge genetische Verwandtschaft zwischen
tige Englisch, typologisch betrachtet, weit dem Deutschen und Englischen ist natürlich
voneinander entfernt. noch an einigen gemeinsamen Eigenschaften
(ii) Sowohl das Englische als auch das deutlich sichtbar. In beiden Sprachen ist die
Deutsche gehören zu den Sprachen, für die Unterscheidung zwischen starken und schwa-
die umfassendsten und detailliertesten Analy- chen Verben zu finden, beide Sprachen unter-
sen vorliegen. Auf dieser Grundlage ist ein scheiden zwei Tempora (Past ⫺ Non-Past;
besonders feinkörniger und umfassender Ver- Präteritum ⫺ Präsens) durch eine morpholo-
gleich möglich, der viele Parameter der Varia- gische Opposition sowie verschiedene Satz-
tion einbezieht und Verallgemeinerungen modi (Deklarativ, Interrogativ, Imperativ)
über verschiedene Parameter der Variation durch die Wortstellung. Ein Beispiel im lexi-
möglich macht. kalischen Inventar wäre schließlich die Exi-
(iii) Ein Vergleich mit dem Englischen ist stenz von Verben mit trennbaren, diskonti-
auch insofern interessant, als das Englische nuierlichen Komponenten (trennbare Präfixe
infolge seiner geographischen Randlage und bzw. Partikeln) wie umleiten, aufhören, ankle-
27. Kontrastive Analysen Deutsch-Englisch: eine Übersicht 325

ben vs. look up, sing along, reel in (Olsen noch, dass von Adverbialpartizipien (Kon-
1996). Die überwiegende Mehrzahl der Ei- verben) sehr wenig Gebrauch gemacht wird.
genschaften, die wir nach unserem heutigen Auch hier folgt das Englische eher dem Mu-
Wissensstand als typisch für die germani- ster der romanischen oder slawischen Spra-
schen Sprachen ansehen, sind jedoch nur chen. Die entsprechenden Adverbialpartizi-
noch im Deutschen zu finden. pien müssen bei einer Übersetzung ins Deut-
Charakteristisch für das Phoneminventar sche in den meisten Fällen durch finite Ad-
von germanischen Sprachen ist z. B. die Op- verbialsätze expliziert werden:
position zwischen ungerundeten und gerun-
deten Vorderzungenvokalen (Kiel ⫺ kühl; le- (2) a. Avoiding them, Mordred felt, more
sen ⫺ lösen), die im Englischen fehlt. In der than ever before, isolated from them.
Morphologie sind es z. B. die Unterscheidun- b. Dadurch, dass er sie mied, fühlte sich
gen zwischen drei grammatischen Genera M. mehr denn je von ihnen isoliert.
oder die zwischen starker und schwacher Fle- c. He nodded merely, not trusting his
xion von attributiven Adjektiven (ein kalter voice.
Wind, der kalte Wind), die für germanische d. Da er seiner Stimme nicht traute,
Sprachen als typisch angesehen werden kann. nickte er nur.
Die stark grammatikalisierte Opposition im Ein bemerkenswerter Kontrast zwischen dem
Englischen zwischen verschiedenen Aspekt- Englischen einerseits und dem Deutschen so-
formen (he runs ⫺ he is running) hat dagegen wie den übrigen germanischen Sprachen an-
keine Parallele im Deutschen oder anderen dererseits besteht schließlich noch darin, dass
germanischen Sprachen. Im Deutschen gibt im Gegensatz zu allen übrigen germanischen
es bestenfalls bescheidene Anfänge für die Sprachen das Englische über keinerlei Mo-
Ausbildung einer Progressivform (er ist beim/ dalpartikeln verfügt. Ob die Modalpartikeln
am Arbeiten). Die für germanische Sprachen des Deutschen (aber, bloß, doch, eben, etwa,
so charakteristische Verbzweitstellung im ja, mal, nur, ruhig, schon, vielleicht, wohl) als
Hauptsatz sowie die Endstellung des finiten Mittel der Abtönung einer Proposition, als il-
Verbs im Nebensatz oder zumindest die Dif- lokutive Indikatoren, als Ausdrucksmittel für
ferenzierbarkeit von topologischen Feldern epistemische Einstellungen oder als Indikato-
(Vorfeld, Mittelfeld, Nachfeld) ist nur im ren für emotionale Einstellungen (Ungeduld,
Deutschen, jedoch nicht im Englischen zu Resignation, Überraschung, etc.) zu analysie-
finden. Die Kodierung von grammatischen ren sind, kann hier nicht näher diskutiert
Relationen (Subjekt, Objekt) durch Kasus ist werden. Nach der in König (1997) detailliert
eine Eigenschaft, die das Deutsche mit keiner entwickelten Auffassung sind Modalpartikeln
anderen modernen germanischen Sprache, als metapragmatische Instruktionen zu ana-
wohl aber mit deren historischen Vorstufen lysieren, die (i) den Grad der Sicherheit an-
teilt. Auch im Altisländischen und Altengli-
zeigen, mit dem eine Äußerung gemacht
schen ist der im Nominativ kodierte Aktant
wird, (ii) auf Inkonsistenzen und Widersprü-
jeweils das Subjekt, während im heutigen
che im Hintergrundwissen von Dialogpart-
Englisch und den modernen skandinavischen
nern hinweisen sowie (iii) anzeigen können,
Sprachen das Subjekt durch die Wortstel-
lung, d. h. durch die Position vor dem finiten in welchem Kontext eine Äußerung zu verar-
Verb identifiziert wird. Objekte werden in beiten ist und welche Rolle sie bei konversa-
den zuletzt genannten Sprachen nur syntag- tionellen Schlüssen spielt. Sie haben also we-
matisch differenziert, d. h. nur bei dreiwerti- sentlich mit unserem Inferenzsystem zu tun,
gen Verben erfolgt eine Differenzierung von durch das wir ⫺ auf der Grundlage der An-
Objekten nach Wortstellung oder durch Prä- nahme von maximaler Relevanz für jede Äu-
positionen. Eine Differenzierung von Objek- ßerung (cf. Sperber/Wilson 1986) ⫺ dadurch
ten bei zweistelligen Verben gibt es also nicht, neue konversationelle Schlüsse ziehen, dass
während im Deutschen die entsprechenden wir eine Äußerung mit einem geeigneten
Objekte durch verschiedenen Kasus differen- Kontext zusammenbringen. So sind z. B.
ziert werden: eben, nun mal und ja typische Stärkeindikato-
ren und zeigen an, dass die entsprechende
(1) a. Ich kenne sie. Äußerung mit großer Sicherheit gemacht
b. Ich schreibe ihr. werden kann. Im Gegensatz dazu weisen
c. Ich gedenke ihrer. doch und etwa auf Widersprüche im Verhal-
Zu den charakteristischen Eigenschaften von ten, der Argumentation etc. der Adressaten
germanischen Sprachen gehört schließlich hin. Nun mal, im Gegensatz zu eben, schließ-
326 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

lich kennzeichnet ein Argument stets als Prä- spiele des Typs (4d) zeigen, dass nicht nur
misse, während eben sowohl eine Prämisse als Körperteilbezeichnungen, sondern auch alle
auch eine Folgerung anzeigen kann: Erweiterungen der Körpersphäre, also Klei-
dungsstücke, Wohnraum, Auto in solchen
(3) a. Du bist nun mal/eben kein Krösus.
Konstruktionen möglich sind, vorausgesetzt
b. Dann bleibe ich eben/*nun mal hier.
der Besitzer befindet sich in dem jeweiligen
Die Frage, warum das Englische über keine Kleidungsstück, Raum etc. So impliziert (4d)
Modalpartikeln verfügt oder mit welchen an- im Gegensatz zum entsprechenden Satz mit
deren Eigenschaften eine solche Klasse von einem internen Possessor (Du bis auf mein
Ausdrucksmitteln vorkommt oder nicht vor- Kleid getreten), dass die Sprecherin das Kleid
kommt, ist oft diskutiert, aber nie überzeu- zum relevanten Zeitpunkt trägt. Nicht in al-
gend beantwortet worden. len europäischen Sprachen werden solche ex-
ternen Possessoren durch den Dativ kodiert.
Auch der Adessiv und der Superessiv sind
3. Das Deutsche als typischer mögliche Optionen (cf. König/Haspelmath
Vertreter des Standard Average 1997). Im Englischen werden jedoch, ebenso
European wie in den keltischen Sprachen, die Possesso-
ren als Teil der gleichen Konstituente wie das
Dem von B. L. Whorf (1962) geprägten Be- Possessum, also als interne Possessoren ko-
griff Standard Average European liegt die In- diert:
tuition zugrunde, dass durch den Vergleich
von europäischen Sprachen mit dem völlig (5) a. My knees were shaking.
Fremden, z. B. mit Sprachen wie dem Hopi, b. He blew his nose.
wesentliche Gemeinsamkeiten unter den Mit- c. He put his hand on his friend’s shoul-
gliedern eines Kernbereichs der europäischen der.
Sprachen sichtbar werden, die bei einem auf d. You stepped on my dress.
Europa beschränkten Vergleich kaum zu er- Eine Eigenschaft, die mit der erwähnten Un-
kennen sind. Als für den europäischen terscheidung zwischen internen und externen
Sprachraum charakteristisch könnte man Possessoren korreliert, ist die Möglichkeit,
etwa die Opposition zwischen bestimmten
das Possessum bei mehreren Possessoren im
und unbestimmten Artikeln, die weitgehende
generischen Singular zu kodieren. Nur Spra-
Akkusativität in der Kodierung grammati-
chen mit externen Possessoren, wie das Deut-
scher Relationen, die subjektlosen Infinitive
sche, erlauben diese Möglichkeit.
als häufige Strategie der Komplementierung
und die Möglichkeit der koordinativen Ver- (6) a. Die Kinder hoben die Hand.
knüpfung von Phrasen aller Art (erst und nur b. Die Studierenden schüttelten den Kopf.
wenn, davor und danach) ansehen. (7) a. The children raised their hands.
Zu den typischen Eigenschaften eines b. The students were shaking their heads.
Kernbereichs der europäischen Sprachen ge-
hört auch die Kodierung des belebten Posses- Eine weitere Eigenschaft, die das Deutsche
sors eines typisch unveräußerlichen Besitz- mit der überwiegenden Mehrzahl der euro-
verhältnisses als Pseudoargument im Dativ; päischen Sprachen teilt, aber deutlich vom
der Possessor steht also nicht zusammen mit Englischen unterscheidet, ist die formale Un-
dem Possessum in einer Phrase: terscheidung von Reflexivpronomina (sich)
und Intensifikatoren (selbst). Im Englischen
(4) a. Mir zitterten die Knie.
unterscheiden sich diese beiden Typen von
b. Er putzte sich die Nase.
Ausdrücken nicht in ihrer Form, sondern le-
c. Er legte dem Freund die Hand auf
diglich durch ihre syntaktische Position:
die Schulter.
d. Du bist mir aufs Kleid getreten. (8) a. Paul betrachtete sich im Spiegel.
Wie diese Beispiele zeigen, erfolgt durch diese b. Der Präsident selbst wird die Eröff-
externen Possessoren gleichsam eine Valenz- nungsrede halten.
erhöhung; d. h., die im Dativ kodierten (9) a. Paul was looking at himself in the
Pseudo-Aktanten sind nicht im Valenzrah- mirror.
men der jeweiligen Verben vorgesehen, son- b. The President himself will give the
dern werden durch das Possessum, typisch opening speech.
eine Körperteilbezeichnung, lizenziert. Bei- c. Hilary Clinton herself will be present.
27. Kontrastive Analysen Deutsch-Englisch: eine Übersicht 327

Wie diese Beispiele zeigen, wird himself im germanischen Sprachen, auch eine reziproke
Englischen sowohl als Reflexivpronomen als Verwendung, sowie eine Reihe anderer Ver-
auch als Intensifikator verwendet. Zudem wendungen, in denen sie im wesentlichen als
flektieren sowohl Reflexivpronomina als Indikatoren von abgeleiteter Intransitivität
auch Intensifikatoren nach Person, Numerus fungieren:
und Genus. Reflexivpronomina kongruieren
(12) a. Paul sah sich im Spiegel.
mit ihrem Antezedens und Intensifikatoren b. Die Professoren bewundern/kritisie-
weisen Kongruenz mit einer vorausgehenden ren sich.
Nominalphrase, ihrem Fokus, auf. Eine Un- c. Die Professoren bewundern/kritisier-
terscheidung zwischen den beiden Ausdrucks- ten sich selbst.
typen ist im Englischen nur aufgrund der syn- d. Die Tür öffnete sich.
taktischen Position möglich: Reflexivprono- e. Diese Hemden waschen sich sehr gut.
mina stehen in Argumentpositionen, wäh- f. Er hat sich schlecht benommen.
rend Intensifikatoren Adjunkte und somit
weglassbar sind. Mit dieser formalen Identi- Im ersten Beispiel liegt die referentielle Ver-
tät von Reflexivpronomina und Intensifika- wendung des Reflexivpronomens vor, für die
toren hängt sicherlich zusammen, dass eine in jüngster Zeit die Bezeichnung ,reflexive
Kombination dieser Ausdruckstypen im Eng- Anapher‘ üblich geworden ist. Das Reflexi-
lischen nicht möglich ist (*himself himself), vum drückt Ko-referenz mit dem Subjekt
ebenso wenig wie eine Kombinierbarkeit von Paul aus. Sätze des Typs (12b) haben sowohl
Intensifikatoren mit Personalpronomina in eine referentiell reflexive als auch eine rezi-
Objektposition (*him himself ). Alle diese proke Lesart. Es kann sich also um Selbstbe-
Kombinationen sind im Deutschen ohne wei- wunderer oder Selbstkritik handeln oder aber
teres möglich: um eine Gruppe, die man im Englischen als
,mutual admiration society‘ bezeichnet.
(10) a. Er zögerte, auch nur sich selbst ein- Durch den Zusatz des Intensifikators selbst
zugestehen, dass er nicht mehr wei- (12c) wird die reziproke Lesart ausgeschlos-
ter wusste. sen. In Sätzen des Typs (12d) finden wir die
b. Ihm wurde plötzlich klar, dass alle sog. ergativen, inchoativen oder anti-kausati-
verreist waren, außer ihm selbst. ven Verben, durch die von zugrunde liegen-
(11) a. He was reluctant to admit even to den transitiven Verben intransitive Verben
himself that he had no more moves abgeleitet werden. Diese Sätze implizieren
left. kein Agens und sind mit dem Adjunkt von
b. He suddenly realized that everybody selbst kompatibel. Sätze des Typs (12e) dage-
had gone away, except for himself. gen implizieren ein Agens und haben eine
modale, stative Bedeutung. Auch in diesen
Alle Differenzierungen, die im Deutschen Konstruktionen (middle voice, Mediopassiva)
durch Ausdrücke wie sich, sich selbst, ihn werden Verben durch die Kombination mit
selbst, ihm selbst getroffen werden, werden im einem Reflexivpronomen intransitiv ver-
Englischen weitgehend neutralisiert. Ande- wendbar und wählen als Subjekte den Typ
rerseits wird im Englischen, im Gegensatz von Nominalphrase, der bei der transitiven
zum Deutschen, die Unterscheidung zwi- Verwendung als Objekt auftaucht. In (12f)
schen Personalpronomina und Reflexivpro- schließlich handelt es sich um sog. inhärent
nomina für alle Personen getroffen. reflexive Verben, die nur mit dem Reflexiv-
Mit der formalen Identität zwischen Inten- pronomen vorkommen.
sifikatoren und Reflexivpronomina im Engli- Im Englischen kann im Gegensatz zum
schen hängt ein weiterer Unterschied zwi- Deutschen ein reziprokes Verhältnis nicht
schen dem Deutschen und Englischen zusam- durch Reflexivpronomina ausgedrückt wer-
men, der das Englische, ebenso wie die bei- den. Ebensowenig werden Mediopassiva oder
den diskutierten Kontraste, von den meisten anti-kausative Verben reflexiv konstruiert:
europäischen Sprachen trennt. Neben der re-
(13) a. The professors criticized one another.
ferentiellen Verwendung, in der sie Ko-refe-
b. The door opened.
renz mit einem Antezedens in einer lokalen
c. These shirts wash well.
Domäne, in den meisten Fällen mit dem
nächstliegenden Subjekt anzeigen, haben Re- Zudem stehen einer großen Zahl von inhä-
flexivpronomina im Deutschen, wie in den rent reflexiven Verben im Deutschen eine
romanischen, slawischen und den meisten sehr kleine Zahl solcher Verben im Engli-
328 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

schen gegenüber. Für diesen deutlichen Kon- b. Sie drängte, die Gefangenen zu be-
trast in der Form und Verwendung von Refle- freien.
xivpronomina bietet sich eine historische Er- c. Niemand hat verboten, auch am
klärung an. Im Gegensatz zum Deutschen Sonntag zu arbeiten.
haben sich im Englischen die Reflexivpro-
nomina erst sehr spät durch Komposition Im Englischen sind solche Infinitivkonstruk-
von Personalpronomina und Intensifikatoren tionen weitgehend ausgeschlossen, ebenso
(him ⫹ self ) gebildet, sind also schwach wie Infinitivkonstruktionen mit Subjektkon-
grammatikalisiert, und somit entspricht ihre trolle nach Verben des Sagens und den Den-
mögliche Bedeutung noch weitgehend der kens:
Bedeutung der Komponenten, aus denen sie (15) Er glaubt/meint, die Antwort zu kennen.
gebildet sind.
Schließlich, um ein Beispiel aus dem Lexikon
zu nennen, verfügt das Deutsche über ein we-
4. Implikationen, Korrelationen, sentlich größeres Inventar an Fokuspartikeln
Verallgemeinerungen als das Englische (cf. König 1982; 1991). So
gibt es im Englischen z. B. keine parallele
Nicht alle Kontraste zwischen dem Engli- Differenzierung für deutsch nur vs. erst, keine
schen und Deutschen lassen sich durch eine lexikalische Entsprechung für ausgerechnet,
genetische oder areale Einordnung beleuch- und die englische Fokuspartikel even kann
ten. Neben den erwähnten Unterschieden mindestens sechs verschiedene Entsprechun-
gibt es auf den traditionell unterschiedenen gen im Deutschen haben (sogar, selbst, auch
Ebenen der Analyse eine Fülle weiterer Un- nur, überhaupt, (nicht) einmal, schon etc.).
terschiede, die in der einschlägigen Literatur Diese Liste von Kontrasten ließe sich mü-
mehr oder weniger detailliert diskutiert wer- helos verlängern. Wesentlich interessanter ist
den. Im phonologischen Bereich ist z. B. die es jedoch, die Frage nach Zusammenhängen,
Auslautverhärtung am Silbenrand im Deut- Implikationen und Korrelation zwischen ver-
schen, aber nicht im Englischen zu beobach- schiedenen Kontrasten zu stellen. So hängt
ten. In der Flexionsmorphologie sind im Eng- z. B. die Möglichkeit im Deutschen, auch von
lischen stärker als im Deutschen Flexionsfor- Sätzen mit intransitiven Verben das Passiv zu
men früherer Sprachstufen verloren gegangen bilden, mit der Zulässigkeit von subjektlosen
(Kasus, Person, Konjunktiv etc.), so dass in Sätzen in dieser Sprache zusammen:
etwa die Verallgemeinerung von Hawkins
(1986) stimmt, dass die Flexionskategorien (16) a. Heute feiern wir.
des Englischen eine echte Untermenge der b. Heute wird gefeiert.
des Deutschen sind. Nicht ganz vereinbar mit Im Englischen fehlen beide Möglichkeiten.
diesem Generalisierungsversuch ist nur die Die unterschiedlichen Möglichkeiten, ellipti-
Flexion des deadjektivischen Adverbs (quick sche Konstruktionen in den beiden Sprachen
vs. quickly), die Aspektunterscheidung zwi- zu bilden, ist eine Konsequenz der unter-
schen Progressivform und einfacher Form so- schiedlichen Position des Verbs (SOV vs.
wie die Flexion des Reflexivpronomens im SVO). Weitere Beispiele von einschlägigen
Englischen. Zusammenhängen wurden bereits oben er-
In der Syntax sind besonders häufig und wähnt. Nur Sprachen mit externen Possesso-
detailliert Unterschiede in der Frage nach der ren scheinen die Möglichkeit zu haben, den
Kontrolle des mitverstandenen Subjekts von Singular in der Typenlesart zu verwenden (cf.
Infinitivkonstruktionen diskutiert worden. (6)), und Sprachen, in denen Intensifikatoren
So erlauben z. B. im Deutschen eine große (selbst) und Reflexivpronomina (sich) formal
Zahl von Verben (z. B. anordnen, befehlen, identisch sind (engl. himself, herself), verwen-
bitten, drängen, empfehlen, erlauben, raten, den Reflexiva ausschließlich referentiell, als
veranlassen, vorschlagen, untersagen etc.) Infi- Indikatoren für Ko-referenz in einer lokalen
nitive in Objektposition, in denen das mitver- Domäne.
standene Subjekt von einem unspezifizierten Über solche Beobachtungen zu Implika-
Objekt des Hauptsatzes kontrolliert wird,
tionen und Korrelationen hinaus gibt es ver-
d. h. als der unspezifizierte Adressat von
schiedene Ansätze, Verallgemeinerungen zu
Sprechhandlungen interpretiert wird:
formulieren, die eine Vielzahl von Kontrasten
(14) a. Wer hat erlaubt, den Firmenwagen subsumieren. Zu den bekanntesten und inter-
zu benutzen? essantesten dieser Art, eine große Zahl von
27. Kontrastive Analysen Deutsch-Englisch: eine Übersicht 329

Kontrasten unter wenige generelle Prinzipien (II) SOV-Sprachen wie das Deutsche weisen
zu subsumieren, gehören die Vorschläge, die eine deutlichere Differenzierung von Argu-
sich in verschiedenen Arbeiten von J. Haw- menten auf als SVO-Sprachen wie das Engli-
kins (1986; 1992; 1995) finden. Nach einem sche. Eine solche Differenzierung erfolgt
detaillierten und umfassenden Vergleich des durch Kasus, durch eine konsistentere Abbil-
Deutschen mit dem Englischen sieht Haw- dung von thematischen Rollen auf grammati-
kins (1986) die beobachteten Kontraste als sche Relationen, durch striktere Restriktio-
Manifestationen eines allgemeinen Unter- nen für Passivierung von Sätzen mit transiti-
schiedes in der Korrespondenz zwischen ven Verben etc.
Oberflächenstruktur und Bedeutung. Seiner (iii) Ein weiterer Komplex von deutsch-eng-
Auffassung nach manifestieren die Oberflä- lischen Kontrasten ist durch die Voraussage
chenstrukturen des Englischen mehr Ambi- erfasst, dass SOV-Sprachen weniger Grenz-
guität und Vagheit als die entsprechenden überschreitungen von Argumenten durch Be-
Strukturen im Deutschen, so dass weniger wegung und Extraktionen zulassen. Zur Illu-
Übereinstimmung zwischen syntaktisch defi- stration dieses generellen Unterschiedes zwi-
nierten Teilsätzen und semantischen Proposi- schen dem Deutschen und Englischen lassen
tionen besteht. Aufgrund von verschiedenen sich eine Fülle von Phänomenen anführen:
kritischen Reaktionen auf sein Buch (cf. die eingeschränktere Zulässigkeit von a. c. i.-
Rohdenburg 1990; 1991; Kortmann/Meyer Konstruktionen im Deutschen, die größeren
1992) hat Hawkins seine Globalcharakterisie- Restriktionen bei allen Extraktionen, das
rung deutsch-englischer Kontraste modifi- Fehlen von Preposition Stranding usw. Die
ziert. Ausgangspunkt für Verallgemeinerun- folgenden Beispiele illustrieren einige der ge-
gen und Erklärungen von deutsch-englischen nannten Kontraste:
Kontrasten in Hawkins (1992; 1995) ist der (17) a. My guitar broke a string.
Kontrast in der zugrunde liegenden Position b. An meiner Gitarre ist eine Saite zer-
des Verbs im Deutschen (SOV) und Engli- rissen.
schen (SVO) und die damit verbundenen
Konsequenzen für eine optimale Verarbei- (18) a. I believe the farmer to have sold the
tung von Prädikat-Argument-Strukturen. In cow.
SVO-Sprachen, wie dem Englischen, wird der b. Ich glaube, dass der Bauer die Kuh
verkauft hat.
Valenzrahmen (die Argumentstruktur) des
Verbs früh aktiviert. Der Hörer kann auf- (19) a. Literature is fascinating to study.
grund der vom Verb gelieferten Information b. Es ist faszinierend, sich mit Literatur
über Zahl und Art der Argumente die im rest- zu beschäftigen.
lichen Satz enthaltenen Argumente in diesem (20) a. The book which I assume that you
Rahmen einsetzen und somit die Verarbei- read …
tung des Satzes abschließen. Im deutschen b. Das Buch, von dem ich annehme,
Nebensatz dagegen wird der Valenzrahmen dass du es gelesen hast.
erst am Satzende aktiviert. Eine unproblema- (21) a. This cup has definitely been drunk
tische Verarbeitung und ein klares Verständ- out of.
nis des Satzes ist für den Hörer an diesem b. Aus diesem Becher ist ganz bestimmt
Punkt nur dann möglich, wenn bereits vorher getrunken worden.
klare Informationen über Zahl und Art der
Argumente (grammatische Funktionen, the- Müller-Gotama (1994) hat diese generellen
matische Rollen) gegeben werden. Kontraste in weiteren SOV-Sprachen und
Diese Performanztheorie von J. Hawkins SVO-Sprachen untersucht und die Voraussa-
(1995, 136ff.) macht generelle Voraussagen gen von Hawkins für eine große Zahl von
für Grammatik und Lexikon von SVO- und Sprachen bestätigt.
SOV-Sprachen und erklärt somit eine Reihe In einem weiteren Versuch, eine Reihe von
von deutsch-englischen Kontrasten: deutsch-englischen Kontrasten als Manifesta-
tionen eines generellen Unterschiedes zu ana-
(i) SOV-Sprachen wie das Deutsche diffe- lysieren, macht F. Plank (1983) die Abbil-
renzieren mehr Argumentstrukturen (Valenz- dung von thematischen Rollen auf grammati-
rahmen) durch Kasus und durch striktere Se- sche Relationen zum zentralen Parameter für
lektionsbeschränkungen. Grammatische Re- die Zusammenfassung und Erklärung deutsch-
lationen lassen weniger semantische Interpre- englischer Kontraste. Plank unterscheidet zwi-
tationen zu. schen transparenter Kodierung (unterschied-
330 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

liche thematische Rollen werden unterschied- Kortmann, Bernd; Paul G. Meyer (1992): Is Eng-
lichen grammatischen Relationen zugeord- lish grammar more explicit than German grammar,
net) und funktionaler Kodierung von gram- after all? In: Christian Mair; Manfred Markus
matischen Relationen (nur wenn mehrere Ar- (Hg.), Band I, 155⫺166.
gumente mit unterschiedlichen thematischen Kufner, Herbert L. (Hg.) (1962): The grammatical
Rollen vorkommen, werden sie verschiede- structures of English and German. Chicago.
nen grammatischen Relationen zugewiesen) Lang, Ewald; Gisela Zifonun (Hg.) (1996):
und zeigt, dass das Englische und Deutsche Deutsch-typologisch. Berlin.
extrem unterschiedliche Positionen auf die- Lohnes, Walter F.; Edwin A. Hopkins (Hg.) (1982):
sem Parameter einnehmen. Ein weiterer in- The contrastive grammar of English and German.
teressanter Versuch, eine Reihe von deutsch- Ann Arbor.
englischen Kontrasten auf einen generellen Mair, Christian; Manfred Markus (Hg.) (1992):
Unterschied zurückzuführen, ist schließlich New departures in contrastive linguistics/Neue An-
die These von M. Doherty (1993), viele Kon- sätze in der kontrastiven Linguistik. Band I/II. Inns-
traste seien letztlich ein Reflex der weitgehen- bruck.
den Rechtsverzweigung in der Struktur des Markus, Manfred; Josef Wallmannsberger (Hg.)
Prädikats im Englischen gegenüber der weit- (1987): English-German contrastive linguistics: A
gehenden Linksverzweigung in der Struktur bibliography. Frankfurt a. M.
deutscher Sätze. Moulton, William G. (Hg.) (1983): The sounds of
English and German. Chicago.
5. Literatur in Auswahl Müller-Gotama, Franz (Hg.) (1994): Grammatical
relations. A cross-linguistic perspective on their syn-
Bublitz, Wolfram (Hg.) (1978): Ausdrucksweisen tax and semantics. Berlin.
der Sprechereinstellung im Deutschen und Engli-
schen. Tübingen. Olsen, Susan (1996): Partikelverben im deutsch-
englischen Vergleich. In: Ewald Lang; Gisela Zifo-
Clyne, Michael (1987): Cultural differences in the nun (Hg.), 261⫺288.
organization of academic texts: English and Ger-
man. In: Journal of Pragmatics 11, 211⫺247. Plank, Frans (1983): Transparent versus functional
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tive. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 12, 3⫺38.
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28. Kontrastive Analysen Deutsch-Niederländisch: eine Übersicht 331

28. Kontrastive Analysen Deutsch-Niederländisch: eine Übersicht

1. Voraussetzungen kontrastiver Deutsch. Van Haeringen prüft im Einzelnen


Beschreibungen Deutsch-Niederländisch sorgfältig, ob und wieweit das Niederländi-
2. Kontrastivität im Bereich der Didaktik sche mehr in Richtung des Deutschen bzw.
3. Einzeluntersuchungen und des Englischen neigt. Sprachhistorische As-
Forschungsergebnisse ⫺ Schlussbemerkung
4. Literatur in Auswahl
pekte sind für den Verfasser von geringerer
Bedeutung als die synchronische Betrachtung
und Beschreibung von Spracherscheinungen.
1. Voraussetzungen kontrastiver Inhaltlich werden behandelt: Aussprache und
Beschreibungen Deutsch- Schreibung, das Lexikon und die Wortarten.
Niederländisch Darüber hinaus werden auch Wortbildung
und Syntax ins Auge gefasst. Es handelt sich
Wenn Niederländisch und Deutsch keine selb- hier um einen z. T. populärwissenschaftlichen
ständigen, d. h. verschiedenen Sprachen wä- Aufsatz (ursprünglich Teil einer Vortrags-
ren, hätte eine kontrastive Beschreibung we- reihe), in dem der Verfasser des Öfteren per-
nig Sinn. Noch Anfang der siebziger Jahre sönliche sprachpolitische Standpunkte ein-
stellt Goossens (1970) fest, dass die ⫺ im deut- nimmt und recht subjektive Werturteile aus-
schen Sprachgebiet ⫺ gängigen Vorstellungen spricht.
über das Verhältnis zwischen beiden Sprachen
nicht haltbar sind. Daher gibt er zunächst eine
Definition des Begriffes ,deutsch‘, eine Auf- 2. Kontrastivität im Bereich der
gabe, die die deutsche Sprachwissenschaft Didaktik
selbst vernachlässigt habe. Dieser Teil besteht
aus den Abschnitten Deutsch als Diasystem, Ansätze zur kontrastiven Beschreibung bei-
Räumliche Definition, Zeitliche Definition, der Sprachen sind anscheinend seit eh und je
Näheres zur Definition. Ein zweiter Teil setzt Teil von Lehrwerken für den Unterricht und
sich mit der germanistischen Fachliteratur das Selbststudium. Eine beschränkte Aus-
auseinander. Hier geht es um die deutsche wahl soll kurz schildern, wie Didaktiker Un-
Sprachwissenschaft und das Niederländische terschiede auf dem Gebiet der Aussprache,
sowie um die Bezeichnung ,deutsch‘. In ei- der Grammatik und der Lexik sowohl Nie-
nem Anhang ,Flämisch‘ wird auf die sprach- derländisch- als auch Deutschlernenden frü-
liche Situation im nördlichen Teil Belgiens herer Generationen nahezubringen versuch-
eingegangen. Die von Goossens an der deut- ten.
schen Sprachwissenschaft geübte Kritik ist
2.1. Ältere sprachliche Lehrwerke
keineswegs neu. „Wäre nicht mit einer Festle-
gung des Deutschen im Germanischen zu- Valette (1907) betont in seinem Vorwort, dass
gleich die Stellung des Niederländischen be- die niederländische Sprache trotz ihrer gro-
stimmt?“, hatte Frings (1944, 7) schon ge- ßen Übereinstimmung mit der deutschen
fragt, dabei auf eine in Deutschland weit dennoch in jedem Satz ⫺ manchmal sehr
verbreitete Meinung hinweisend, das Nieder- feine ⫺ Unterschiede biete und eben deshalb
ländische sei eine deutsche Mundart. Frings für einen Deutschen schwieriger sei als etwa
entkräftet diese Auffassung jedoch mit die englische oder französische Sprache. Von
sprachhistorischen Argumenten sowie unter einem ähnlichen Standpunkt gehen auch W.
Hinweis auf eine jahrhundertealte selbstän- und J. Uittenbogaard (1920) aus. Sie wollen
dige Literatur. Mit Teilen seines Aufsatzes deutschsprachige Schüler zunächst auf All-
will Frings zudem die deutsche Forschung zu tägliches, auf Wörter, Sätze und Redensarten
einem Gebiet führen, dem sie sich zu ihrem aufmerksam machen. Ein zweites Bändchen
Schaden verschlossen habe. Erst aus der nie- (1953) befasst sich mit dem unüberschauba-
derländischen Schlüsselstellung werde der ren Feld des deutschen Idioms, in dem ein
Aufbau des Germanischen verständlich. Van Holländer sich so leicht verstricke oder ver-
Haeringen (1956) geht von einer Mittelstel- liere. Dort geht es u. a. um Gegensätze inner-
lung des Niederländischen zwischen dem halb der verschiedenen Wortklassen. Das
Englischen und dem Deutschen aus ⫺ vgl. Ganze ist mehr oder weniger nach Wortfel-
auch Frings (1944, 16), der sagt, die Nieder- dern ⫺ der Begriff ist wohl jünger ⫺ geord-
lande seien die Brücke zwischen Englisch und net. Die Autoren räumen jedoch ein, dass die
332 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

Gruppierungen keiner Systematik folgen. dass die deutsche Sprache viele reflexive Ver-
Das zusammengetragene Material wird zu- ben aufweist, denen jeweils ein niederländi-
meist in Beispielsätzen präsentiert. Die Lehr- sches nicht-reflexives Verb entspricht. Des
bücher von Brouwer (1960; 1964; 1968) Weiteren erwähnt Spruyt Unterschiede im
Duitse grammatica, Deutsch ⫺ Niederlän- Bereich der Infinitivstrukturen, der indirek-
disch, Die wichtigsten Wörter gehen in die ten Rede, der unpersönlichen Verben, der
gleiche Richtung. Dort wird das gesammelte trennbaren und untrennbaren Verben und
Sprachgut nach Grundwörtern alphabetisch der Wortstellung. Postma (1970), der sich sei-
aufgelistet und z. T. mit Ableitungen und nem Vorwort nach auf Spruyt stützt, geht
Zusammensetzungen versehen. D. h., das u. a. auf den abweichenden Gebrauch von be-
Hauptaugenmerk kontrastiver Beschreibung stimmtem und unbestimmtem Artikel im
richtete sich anfänglich hauptsächlich auf Le- Deutschen und Niederländischen ein. Es wird
xik und Idiomatik, wiewohl auch auf dem zudem eine Anzahl von Wörtern, deren Ge-
Gebiet der Schulgrammatik, so auch bei schlecht besondere Beachtung verdiene, auf-
Brouwer und Ras (1960), kontrastive Geh- gelistet. Auch bei den Modal- und Hilfsver-
versuche unternommen werden. So hatte sich ben erwähnt Postma Unterschiede, auf die
u. a. schon Vandoorsselaer (1911) grammati- der Niederländer zu achten habe. In ähn-
schen Phänomenen zugewandt. Er geht auf licher Weise wie Spruyt und Postma, deren
Substantive ein, deren Geschlecht für nieder- Grammatikpräsentationen traditionell blei-
ländischsprachige Schüler schwierig zu be- ben, geht auch Kieft (1978) vor. Er schreibt
stimmen ist, beschreibt bei der Bildung von zwar eine ,deutsche‘ Sprachlehre, hat diese
Stoffadjektiven Übereinstimmungen (golden aber mit einer ungeheuren Fülle an deutsch-
⫺ gouden) und Unterschiede (hölzern ⫺ hou- niederländischen Beispielsätzen angereichert,
ten), weist beim Partizip auf den Gegensatz so dass sich die Kontraste am jeweiligen Phä-
studiert und gestudeerd hin, vergleicht den nomen unmittelbar zeigen. Die Gegenüber-
Gebrauch der Präpositionen (gegen ⫺ tegen; stellung der beiden Sprachen erfolgt in allen
um ⫺ om/rond/rondom) und behandelt aus- Bereichen der herkömmlichen Formen- und
führlich die unterschiedliche Artikelverwen- Satzlehre (die Lautlehre bleibt ausgeklam-
dung. mert); ein besonderes Augenmerk gilt dem
Artikelgebrauch, präpositionalen Wendun-
2.2. Gesamtdarstellungen in Grammatik- gen, Konjunktionen, Modalverben sowie der
Handbüchern Rektion der Verben. Die Fülle des ⫺ teils ver-
Die früheste, wohl auch umfassendste Ge- alteten ⫺ Beispielmaterials erstreckt sich auch
auf den idiomatischen Bereich. Die für den
samtdarstellung der deutschen Sprache mit
Bereich Deutsch als Fremdsprache wohl
explizit kontrastivem Charakter hat van
brauchbarste kontrastive Gesamtdarstellung
Dam (1937⫺1968) mit seinem dreibändigen
der deutschen Grammatik haben Cate, Kootte
Handbuch vorgelegt. Sein Ziel ist es, die Stu-
und Lodder (1994) vorgelegt. Die Art der Prä-
denten auf der Grundlage des Niederländi- sentation orientiert sich, durchaus zum Nut-
schen zu einer wissenschaftlichen Betrach- zen des Lerners, auch hier an traditionellen
tung des Deutschen anzuleiten. Dabei wird Mustern. Z. T. werden bisher kaum beachtete
ein besonderes Gewicht auf die Sprachge- Kontraste herausgestellt wie z. B. die Reihen-
schichte (bis hin zum Althochdeutschen) ge- folge der Ersatzinfinitive in beiden Sprachen,
legt, ohne die der Sprachenvergleich ein die unterschiedliche haben/sein-Verwendung
Torso bleiben müsse. Van Dams Anspruch, im Perfekt, die wortakzentbedingte unter-
eine normative Grammatik schreiben zu wol- schiedliche Bildung des zweiten Partizips, die
len, wird auf den heutigen Leser befremdend Imperfekt-Perfekt-Verwendung, das Fehlen
wirken. Einen auf die Syntax beschränkten des Vorgangspassivs im niederländischen Per-
Extrakt aus dem Handbuch stellt van Dam fekt, die niederländischen Entsprechungen für
(1972) dar. Spruyt (1951) beschränkt sich auf Dativ- und Genitivobjekt. Darüber hinaus ist
eine synchronische Darstellung der deutschen das Werk in nahezu allen Kapiteln mit reichen
Grammatik und ihrer Unterschiede zum Nie- Listen von deutsch-niederländischem Bei-
derländischen. So wird der unterschiedliche spielmaterial ausgestattet, das weite Felder der
Gebrauch von bestimmtem und unbestimm- Idiomatik abdeckt.
tem Artikel in beiden Sprachen erörtert. Der
deutsche Superlativ und die mit -ig abgeleite- 2.3. Lexik und Idiomatik kontrastiv
ten Adjektive finden Beachtung. Bei den re- Ausgehend von der Beobachtung, dass das
flexiven Verben wird darauf hingewiesen, Synonym ein ausgezeichneter Ansatzpunkt
28. Kontrastive Analysen Deutsch-Niederländisch: eine Übersicht 333

für den Wortschatzerwerb ist, haben van Dijk Deutschlernende zu tun und auf kleine Un-
und Dijksma (1981) eine zweibändige Sy- terschiede aufmerksam zu machen. So stellen
nonymik zusammengestellt mit dem Ziel, den sie z. B. fest, dass im Gegensatz zu dikbuik
Studenten eine praktische Idiomatik an die oder zakdoek in deutschen Wörtern wie
Hand zu geben. Die deutschen Synonyme Hackbrett oder Handbuch das k und das im
sind dort in Gruppen geordnet (wie z. B. Ge- Auslaut verhärtete d (t) nicht stimmhaft wird.
nick; Gurgel; Hals; Kehle; Nacken; Rachen; Im Niederländischen werde aardappel mit in-
Schlund), in Sätze eingebettet und mit den lautendem d gesprochen, in Erdapfel jedoch
niederländischen Übersetzungen versehen. Es nicht. In dem ausführlichen Kapitel Die Beto-
ist eine ⫺ wie die Verfasser einräumen ⫺ nung, das sich vor allem mit der Wortbildung
nicht sehr systematische, aber gründliche Ar- beschäftigt, behandeln die Autoren, teils an-
beit, die im Bereich von Wortschatz und Idio- hand umfangreicher Listen, die vielen,
matik die Ähnlichkeiten und Unterschiede manchmal feinen Unterschiede im Wortak-
zwischen den beiden Sprachen in vielfältiger zent von Ableitungen, Zusammensetzungen
Weise sichtbar macht. Weit weniger auf- und geographischen Namen. Auch Koen-
schlussreich und z. T. rundheraus unbrauch- raads (1967) gibt Ratschläge zur richtigen
bar ist das Idiomaticum, das Vantilborgh, Aussprache des Deutschen. So schreibt er
Schoups und Vanderheyden (o. J.) zusam- u. a.:
mengestellt haben. Die meisten Redewendun- „Der quantitative Unterschied zwischen langen
gen werden hier kontextlos deutsch-nieder- und kurzen Vokalen ist im Deutschen viel größer
ländisch gegenübergestellt, das verwendete als im Niederländischen. Daher sollte der Hollän-
Material ist häufig veraltet, teils gar nicht der vor allem darauf achten, daß er die deutschen
einmal Element des jeweiligen Sprachschatzes langen Vokale auch wirklich lang spricht, ja nach
und stark von Fehlern behaftet. seinem eigenen Gefühl übertrieben lang; die kurzen
Vokale dagegen etwas kürzer als im Niederländi-
2.4. Kontrastive Lautlehre schen“. (Koenraads 1967, 57)
Deelman (1902) hebt zunächst den Artikula- Im Kapitel über die Konsonanten fehlt eine
tionsunterschied zwischen Niederländisch Bemerkung zu Achlaut und Ichlaut nicht: Im
und Deutsch hervor. Das Niederländische Niederländischen werde im Allgemeinen nur
unterscheide sich vom Deutschen durch eine der Achlaut gesprochen, sowohl nach vela-
träge, schlaffe unbestimmte Artikulation. Die rem wie nach palatalem Vokal oder Diph-
Zunge bewege sich langsamer und die An- thong. Einen systematischen Vergleich der
spannung der Zungenmuskulatur sei gerin- niederländischen und deutschen Phonologie
ger. Sodann geht er im Einzelnen auf die un- im Bereich der phonemischen, allophoni-
terschiedliche Aussprache von Vokalen und schen und lautkombinatorischen Kontraste
Konsonanten ein, jeweils unter der Über- liefert Morciniec (1994). In jedem der Berei-
schrift Vergleichende Übersicht der reinen Vo- che werden ausführliche sprachdidaktische
kale bzw. Erläuternde und vergleichende Be- Hinweise gegeben. Dazu gehören Abschnitte
merkungen zu den Konsonanten. Beim Wort- wie Lernschwierigkeiten für Niederländisch
akzent führt er aus, im Allgemeinen hätten lernende Deutsche bzw. Lernschwierigkeiten
im Deutschen Endungen ⫺ gemeint sind Suf- für Deutsch lernende Niederländer. Obwohl
fixe ⫺ seltener Einfluss auf die Betonung als die einzelnen Phänomene besonders sorgfäl-
im Niederländischen, eine Verschiebung des tig und im Detail beschrieben werden, sind
Akzents komme viel weniger vor. Diese Fest- zwei Stellungnahmen zumindest strittig: Zum
stellung wird anhand von Wortlisten illu- einen ist der Vergleich der ungespannten a-
striert, die nach den entsprechenden Suffixen Laute etwas zu pauschal dargestellt; im nie-
aufgebaut sind (absehbar; anfänglich; abhän- derländischen ban (kurz) beispielsweise hat
gig), wobei jeweils nur die deutschen Wörter das a nicht ohne weiteres die gleiche Qualität
aufgeführt werden. Beim Partizip Präsens zu- wie im deutschen Bahn (lang). Der niederlän-
sammengesetzter Verben werden zwei nieder- dische Laut ist hier etwas velarer. Zum ande-
ländische Beispiele (opvallend; doortastend) ren werden nicht alle Niederländischsprachi-
einer Reihe von deutschen (anhaltend; wohl- gen das n von inpakken vor dem p zu m wer-
wollend) gegenübergestellt. Boorsma und den lassen, wie bei der Besprechung der Kon-
Heemstra (1959) beschäftigen sich nicht nur sonantenassimilation als Regel angegeben
mit der phonetischen Beschreibung der deut- wird. Eine sorgfältige Beschreibung von Aus-
schen Sprache an sich. Sie haben auch die spracheunterschieden mit Hinweisen zur Ver-
Absicht, dies für niederländischsprachige meidung von Artikulationsfehlern sowie mit
334 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

praktischen Übungen geben Cate und Jor- schen Infinitivkonstruktionen nicht ohne den
dens (1990). Das Werk ist auf dem letzten Vergleich beider Sprachen deuten kann.
Stand der wissenschaftlichen Phonetik; zu- Lösungen für Deklinationsschwierigkeiten
dem enthält es eine umfangreiche Bibliogra- niederländischsprachiger Deutschlernender
phie in Bezug auf allgemeine Phonetik und sucht Wilmots (1992b) in der vergleichenden
Phonologie, deutsche Phonetik und Phonolo- Valenzgrammatik. Auch die Gleichstellung
gie, Sprecherziehung, Übungstexte zur deut- des Ersatzinfinitivs mit dem Partizip Perfekt
schen Aussprache, Schallträger der deutschen wird hier kontrastiv diskutiert. Eine psycho-
Aussprache, Aussprachewörterbücher, Into- linguistische und fehleranalytische Untersu-
nation, niederländische Phonetik und Phono- chung zum intersprachlichen Kasusmarkie-
logie, Sprachgeschichte und historische Laut- rungssystem niederländischsprachiger und
lehre, Dialektologie. Van Dommelen (1980) englischsprachiger Deutschstudierender hat
stellt in seiner Dissertation Fragen nach der Jordens (1983) vorgelegt. Die systematische
Richtigkeit der Beschreibung von deutschen Untersuchung der Verbalenz ist im Deut-
und niederländischen kurzen, halblangen und schen weiter vorangeschritten als im Nieder-
langen Vokalen in verschiedenen Lehrwerken ländischen. Dass sie aber auch im Niederlän-
und Handbüchern. Eine Erklärung für das dischen der Einsicht in die syntaktische
Phänomen ,ausländischer Akzent‘ sucht er in Struktur der Sprache zugute kommen würde,
der temporalen Organisation des Deutschen zeigt Novakovic-Lopusina (1992). Auf Va-
bzw. Niederländischen, wobei dem Begriff lenz- und Distributionsunterschiede bei Ver-
Segmentdauer große Bedeutung zugemessen ben des geistigen Handelns weist Wilmots
wird. Die Aussprache von deutschen Mutter- (1979) hin.
sprachlern wird in phonetischen Experimen- In seiner Untersuchung zu den Hilfsverben
ten mit der von deutschsprechenden Nieder- werden und zullen kommt Janssen (1989) zu
ländern verglichen. dem Schluss, dass sich die beiden Verben
kaum voneinander unterscheiden. Ziel dieser
3. Einzeluntersuchungen und Arbeit ist es allerdings nicht in erster Linie,
Forschungsergebnisse ⫺ einen Beitrag zur Kontrastivität zu leisten,
Schlussbemerkung sondern zu zeigen, dass diese Verben nur eine
Diachronische und synchronische Aspekte Bedeutung haben, und zwar eine modale und
der Dehnung von kurzen Vokalen und der keine temporale. Leclercq (1990) verbindet
Beseitigung von Alternanzen in Richtung des den größeren Reichtum an ,Dienstverben‘
Lang- bzw. Kurzvokals in beiden Sprachen und aktionalen Ausdruckskonstruktionen im
beschreibt ausführlich Leys (1975). Niederländischen (gaan te; zitten te usw.) mit
An mehreren Stellen seiner umfassenden der Schlussfolgerung, dass die Kategorie Ak-
Beschreibung der deutschen Syntax ver- tionsart einen durchaus eigenen Platz in der
gleicht Abraham (1995) das Deutsche ⫺ niederländischen Grammatik verdient.
nebst vielen anderen Sprachen ⫺ mit dem Das Deutsche ist im Gegensatz zum Nie-
Niederländischen. Diese Vergleiche betreffen derländischen durch den sog. Präteritum-
u. a. das Pseudopassiv (Kapitel 2: semanti- schwund gekennzeichnet. Hieraus folgert ten
sche Transitivitätskorrelate), wo das Nieder- Cate (1989), dass sich die Temporalsysteme
ländische in Ausdrücken wie de nog te gebeu- der beiden Sprachen auf dem Gebiet von Per-
ren ongelukken vom Deutschen abweicht, die fekt und Präteritum unterscheiden. Die Per-
Infinitivergänzungen om te/um zu (Kapitel 8), fekt-Verwendung unterliegt im Niederländi-
die Unakkusativität (Kapitel 9), den Ersatz- schen strengeren Bedingungen. Den Ge-
infinitiv (Kapitel 10), das Modalverb und den brauch von Imperfekt und Perfekt hat auch
engeren Verbkomplex sowie die Distanzstel- Bosker (1961) untersucht. Von der niederlän-
lung der Fokuspartikel unter Thema-Rhema- dischen Sprachform ausgehend, vergleicht er
Bedingungen (Kapitel 14). Einzelne Aspekte die entsprechenden Formen im Deutschen
der deutschen und niederländischen Syntax (Französischen und Englischen), wobei zwi-
beschreibt Stegeman (1979) mit modernen schen beiden Tempora auch funktional un-
sprachwissenschaftlichen Methoden wie u. a. terschieden wird. Die Beispielsätze beruhen
der Transformationsgrammatik, der generati- auf Zitaten.
ven Semantik und der Tiefenkasusgramma- Z. T. mit Hilfe von neugeprägten Termini
tik. Für den Bereich der synchronen Syntax wie ,Doppelpartikelverb‘ (z. B. hinaufsteigen)
stellt Leys (1985) u. a. fest, dass man das heu- und ,Trajektiv‘ (⫽ ,spatialer Akkusativ‘) be-
tige System der deutschen bzw. niederländi- schreibt Draye (1992) für beide Sprachen pa-
28. Kontrastive Analysen Deutsch-Niederländisch: eine Übersicht 335

rallele und unterschiedliche Möglichkeiten Hessmann beschreibt die Unterschiede zwi-


zur Bildung von Sätzen mit Prä- und Postpo- schen dem niederländischen und dem deut-
sitionen. Van Baelen (1987) vergleicht die schen Possessivpronomen, und zwar auf acht
Präpositionalkomplexe im Deutschen und verschiedenen Ebenen: lexikalisch, orthogra-
Niederländischen. Ausgangspunkt dabei ist phisch, phonologisch, morphologisch, syn-
die Feststellung, dass die Menge präpositio- taktisch, stilistisch, pragmatisch und idioma-
naler Infinitivkonstruktionen mit anstatt zu; tisch. Die vielen Unterschiede sollen aber
ohne zu; um zu im Deutschen weit geringer nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass
ist als im Niederländischen (in plaats van te; die Gemeinsamkeiten die Unterschiede weit
zonder te; om te, aber auch alvorens te; door übertreffen. Im Bereich der Pronominalad-
te; met te; na te; van te) und dass der nieder- verbien und unpersönlichen Konstruktionen
ländische om te-Komplex vielseitigere syntak- verdient die Studie von Leys (1978) über nie-
tische und semantische Verwendungsweisen derländisch er und deutsch es besondere Er-
hat als das deutsche um zu. Mehr als drei Fünf- wähnung. Als Beispiel dafür, wie kontrastive
tel des Aufsatzes haben denn auch mit letzterer Partikelforschung aussehen könnte, stellt Pri-
Opposition zu tun. Obwohl regelmäßig mit matarova-Miltscheva (1992) das niederländi-
den in herkömmlichen Grammatiken for- sche maar den deutschen Partikeln einfach
mulierten Gebrauchsregeln verglichen wird, und bloß gegenüber. Die Autorin versucht die
stützt sich die Untersuchung der syntakti- Metasprache für die Beschreibung der Parti-
schen und semantischen Gebrauchsmög- keln möglichst zu präzisieren, aber nur im
lichkeiten auf ein literarisches Korpus von Dienst einer allgemeinen Semantiktheorie.
drei deutschen und drei niederländischen In seiner Dissertation vergleicht Cate
(allerdings aus Flandern stammenden) Ro- (1985) die deutsche mit der niederländischen
manen und deren jeweilige Übersetzungen in Nominalisierung, wobei er zuvor die Aspek-
die andere Sprache. Die Ergebnisse werden tualität dieses Phänomens in beiden Spra-
statistisch verarbeitet und interpretiert. Hin- chen erörtert. Ein verhältnismäßig umfang-
derdael (1987) vergleicht in einem reichlich reiches Werk über die Wortbildung hat Mor-
mit bibliographischen Verweisen dokumen- ciniec (1964) erstellt. Es beschränkt sich auf
tierten Aufsatz den Artikelgebrauch in deut- die nominalen Zusammensetzungen in vier
schen und niederländischen Funktionsverb- Sprachen: Deutsch, Niederdeutsch, Nieder-
gefügen. Er will die von anderen Linguisten ländisch und Englisch. Das Deutsche bildet
gemachten Feststellungen anhand eines eige- den Ausgangspunkt; eine Bestätigung der zu-
nen Korpus überprüfen und gegebenenfalls nächst erarbeiteten Ergebnisse findet sich in
mit Wörterbuchbelegen ergänzen. Zunächst den anderen drei Sprachen. In weiteren Ab-
werden nacheinander die deutschen und nie- schnitten wie Morphemvarianten in der nie-
derländischen Funktionsverbgefüge ohne At- derländischen Zusammensetzung werden
tribut (am Leben bleiben/in leven blijven) be- Wahrnehmungen für das Niederländische
sprochen. In einem zweiten Abschnitt be- auch einzeln beschrieben.
spricht der Verfasser in der gleichen Reihen- Klimaszewska (1983a) beschreibt für die
folge und in ähnlicher Vorgehensweise die drei Sprachen Niederländisch, Deutsch und
Funktionsverbgefüge mit fakultativem (in Polnisch nacheinander die Form der Diminu-
(guter) Erinnerung bleiben) bzw. obligatori- tiva, die Möglichkeiten und Grenzen der Di-
schem Attribut (im Besitz der Familie sein). minutivderivation sowie die semantischen
Hinderdael geht ⫺ gestützt auf die einschlä- Funktionen der Diminutiva. Der konfronta-
gige Literatur ⫺ in kritisch-wissenschaftli- tive Teil umfasst einerseits eine soziolinguisti-
cher Weise mit den verschiedenen Richtun- sche Untersuchung des Gebrauchs der Dimi-
gen der modernen Linguistik um. Zur glei- nutiva, andererseits die Ergebnisse der Kon-
chen Thematik siehe auch Klimaszewska frontation in den Teilabschnitten Funktions-
(1983b). netz, Bereich der Konvergenz und Bereich
Über Pronomina schreiben Balk-Smit der Divergenz. Besonders erwähnenswert in
Duyzentkunst (1992) und Hessmann (1992). diesem konfrontativen Teil ist die Feststel-
Balk-Smit Duyzentkunst konzentriert sich lung, dass sich im Niederländischen ⫺ der di-
auf das Genus, das im Pronomen viel deutli- minutivreichsten Sprache ⫺ den Diminutiven
cher zutage trete als im Artikel, und stellt nicht immer eine besondere Funktion zu-
fest, dass in Bezug auf erwachsene Personen schreiben lasse, da sie in starkem Maße so-
nicht das Genus, sondern das natürliche Ge- wohl in der Umgangssprache als auch in der
schlecht die Wahl des Pronomens bestimmt. Schriftsprache allgemein geworden sind.
336 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

Charakteristisch für das Niederländische sei, Cate, Abraham P. ten; Peter Jordens (1990): Phone-
dass sowohl neutralisierende als auch leben- tik des Deutschen: eine kontrastiv deutsch-niederlän-
dige Diminutiva als erstes Kompositionsglied dische Beschreibung für den Zweitspracherwerb.
auftreten könnten: sprookjesprins; prinsjesdag; Dordrecht.
kapoentjesuitgave; praatjesmaker. Auf die für ⫺; A. Kootte; H. G. Lodder (1994): Kompendium
das Niederländische wirklich typischen, von der deutschen Grammatik: eine kontrastiv deutsch-
der Verfasserin so genannten diminutiven Ad- niederländische Beschreibung für den Zweitsprach-
erwerb. 6. überarb. Aufl.; Groningen.
jektivadverbien wie stilletjes, fijntjes wird
allerdings nicht weiter eingegangen. Mit den Dam, Jan van (1937⫺1968): Handbuch der deut-
Präpositionen aus-/uit- zusammengesetzte schen Sprache. 1. Einleitung und Lautlehre; 2. Wort-
lehre; 3. Syntax. Groningen.
Verben bespricht Wilmots (1992a).
Die hier aufgeführten wissenschaftlichen ⫺ (1972): Syntax der deutschen Sprache. Gronin-
Untersuchungen haben für den Bereich gen.
Deutsch als Fremdsprache kaum direkte Re- Deelman, G. R. (1902): Kleine Lautlehre des Neu-
levanz. Wohl könnte eine Bündelung der Er- hochdeutschen. Breda.
gebnisse im Verein mit einer didaktisierten Dijk, W. van; H. C. Dijksma (1981): Synonymik
systematischen kontrastiven Beschreibung der deutschen Gegenwartssprache. Band I und II.
beider Sprachen zu einer lernerorientierten Groningen.
Gesamtdarstellung führen. Dommelen, Willem Arie van (1980): Temporale
Faktoren bei ausländischem Akzent. (Diss.). Leiden.
Für die Mitarbeit an diesem Artikel gilt B. De Soo-
mer und Dr. E. Moonen besonderer Dank. Draye, Luk (1992): Zum Trajektiv. In: Leuvense
bijdragen 81/1⫺3, 163⫺203.
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29. Kontrastive Analysen Deutsch-Schwedisch: eine Übersicht 337

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29. Kontrastive Analysen Deutsch-Schwedisch: eine Übersicht

1. Einleitung 300 000 Schwedischsprachige. Weiter gibt es


2. Aussprache beachtliche Minderheiten vor allem in den
3. Morphologie USA und in Kanada, und schließlich gibt es
4. Lexikon immer noch Reste einer schwedischsprachi-
5. Syntax
6. Pragmatik und Kulturbarrieren
gen Minderheit in Estland. Als normprägend
7. Literatur in Auswahl fungiert die mittelschwedische Norm (Upp-
sala, Stockholm), an der sich die Massenme-
dien, die Lehrbücher und die Angaben zur
1. Einleitung Aussprache orientieren. Heute scheint aber
die Toleranz gegenüber Varianten des Schwe-
Schwedisch wird heute von etwa 8,5 Millio- dischen größer geworden zu sein als früher.
nen Menschen als Muttersprache gesprochen, In den schwedischen Massenmedien findet
von denen der größte Teil in Schweden man somit heute Mitarbeiter, deren Sprache
wohnt. In Finnland, wo Schwedisch die deutlich nord-, süd- oder auch finnland-
zweite Nationalsprache ist, gibt es ungefähr schwedisch geprägt ist. Ganz allgemein gese-
338 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

hen existieren aber zwei große Regionalspra- Es gibt eine Anzahl von Wörtern, wo der
chen, das Südschwedische und das Finnland- musikalische Akzent als Bedeutungsunter-
schwedische (vgl. Braunmüller 1991, 14⫺20). scheidend betrachtet werden kann. Wenn
Das Deutsche und das Schwedische sind ja z. B. anden mit dem Akzent 1 (akut) betont
verwandte Sprachen, die sehr viele struktu- wird, geht es um die bestimmte Form von and
relle Ähnlichkeiten aufweisen, was vor allem ,Ente‘, wenn das Wort aber mit dem Akzent
die Rezeption deutscher Texte erleichtert. Die 2 (gravis) ausgesprochen wird, geht es um die
Ähnlichkeit bedeutet aber auch, dass die Ge- bestimmte Form von ande ,Geist‘. Ein ähn-
fahr der sprachlichen Interferenz, sowohl bei liches Beispiel wäre tomten, das mit dem Ak-
der Produktion als auch bei der Rezeption, zent 1 ,das Grundstück‘ bedeutet, mit dem
immer vorliegt. Das Problem der falschen Akzent 2 aber ,der Weihnachtsmann‘. U. a.
Freunde taucht deshalb immer wieder in der von Deutschsprachigen wird der Gravis leicht
Literatur mehr oder weniger explizit auf, vor als Hervorhebung der zweiten Gipfelsilbe ge-
allem in Arbeiten über Probleme des Überset- deutet, was, wie Hammarberg (1972, 87; 97)
zens zwischen dem Schwedischen und dem betont, häufig nicht nur zur fälschlichen Ulti-
Deutschen. mabetonung von Platznahmen führen kann,
Die Zahl der kontrastiven Arbeiten sondern sogar dazu, dass diese fälschliche
Deutsch-Schwedisch oder Schwedisch- Aussprache in Wörterbüchern notiert wird;
Deutsch ist relativ groß, vor allem, wenn man so wird z. B. immer noch in Duden 1. Die
die ungedruckten Examensarbeiten verschie- deutsche Rechtschreibung (1996) die alterna-
dener Art an den Universitäten beachtet. In tive Ultimabetonung [⫺’⫺] von Stockholm
der vorliegenden Darstellung können nur ei- angegeben (vgl. auch Hammarberg 1972, 97).
nige Aspekte behandelt werden, und das Lite- Der musikalische Akzent bietet natürlich
raturverzeichnis stellt nur eine äußerst gewisse Probleme für Schwedischsprachige
knappe Auswahlbibliographie dar. Wichtige beim Erlernen von Fremdsprachen, aber we-
bibliographische Quellen sind Braunmüller nige kontrastive Untersuchungen liegen vor
(1996) und Eliasson (1978). (vgl. Braunmüller 1991, 36ff.; Hammarberg
1972; Önnerfors 1993, 82⫺104).
2. Aussprache 2.2. Phonologie
Auch wenn eine beinahe unüberschaubare 2.2.1. Vokalismus
Menge von Untersuchungen zur schwedi- Wenige kontrastive Untersuchungen liegen in
schen und deutschen Aussprache vorliegt, ist diesem Bereich vor. Das schwedische Kurz-
die Zahl der wissenschaftlichen kontrastiven wie Langvokalsystem lässt sich mit Hilfe von
Untersuchungen auf diesem Gebiet relativ 9 Phonemen beschreiben, wobei der schwedi-
klein. sche Vokalismus in phonologischer Hinsicht
dem Deutschen ähnelt; eine Ausnahme bildet
2.1. Prosodie
das Phonem /⁄/:
Das auffallendste unterscheidende Merkmal
zwischen dem Schwedischen und dem Deut- /i/ /y/ /⁄/ /u/
schen bildet der sogenannte Gravis-Akzent /e/ /ø/ /o/
oder Akzent 2 des Schwedischen, der „musi- /e/ /a/
kalische“ Akzent. Der musikalische Akzent, (nach Braunmüller 1991, 27).
der auch das Norwegische charakterisiert, der Im Gegensatz zum Deutschen können
aber im Finnlandschwedischen nur mundart- diese Phoneme auch in unbetonten Silben
lich vorkommt und der auch in Schweden auftreten (vgl. Braunmüller 1991, 27).
phonetisch regional verschieden realisiert Das Schwedische ist die einzige germani-
wird, ist in der schwedischen Sprachwissen- sche Sprache, die keine echten phonologi-
schaft intensiv untersucht worden, und die schen Diphthonge kennt (dies betrifft die
Literatur zum Thema ist recht umfangreich Standardsprache). Bestimmte lange Vokal-
(vgl. Hammarberg 1972, 87). Für Lerner des phoneme werden aber häufig phonetisch
Schwedischen als Fremdsprache bietet der deutlich schwach diphthongiert realisiert, vor
musikalische Akzent sehr große Schwierig- allem /i:/, /y:/, /⁄:/ und /u:/, was für Schwe-
keiten, aber auch wenn die kommunikative dischsprachige eine Schwierigkeit bei der
Bedeutung gering ist, stellt er ein wichtiges Aussprache langer Vokale im Deutschen ver-
Lernproblem für diejenigen dar, die sich um ursachen kann (vgl. auch Braunmüller
eine korrekte Aussprache bemühen. 1991, 29).
29. Kontrastive Analysen Deutsch-Schwedisch: eine Übersicht 339

2.2.2. Konsonantismus bei normalerweise unter belebt nur Menschen


Ein auffallendes Merkmal im Konsonantis- und eventuell höhere Tiere fallen können;
mus des Schwedischen im Unterschied zum diese werden entsprechend ihrem Sexus wei-
Deutschen ist die kombinatorische Längever- ter in weiblich (hon) und männlich (han) dif-
teilung zwischen Vokalen und Konsonanten in ferenziert (vgl. Braunmüller 1991, 42ff.; vgl.
Silben, d. h. die sog. „Silbenbalance“, was u. a. auch Blume 1982).
dazu führt, dass schwedische Muttersprachler 3.1.2. Artikelsystem
das [t] in z. B. bitte oder das [m] im kommen
lang aussprechen. In jeder schwedischen Das schwedische Artikelsystem unterscheidet
Haupttonsilbe müssen ein kurzes und ein lan- sich von dem deutschen vor allem durch seine
ges Phonem vorhanden sein, vgl. komma „Doppelbestimmheit“. Wenn das Substantiv
/1kom:a/ ,kommen‘ und koma /1ko:ma/ allein steht, wird der bestimmte Artikel direkt
,Koma‘, oder ritt /rit:/ ,Ritt‘ bzw. rit /ri:t/ ,Ri- an das Substantiv angehängt: häst-en ,das
tus‘ (vgl. auch Braunmüller 1991, 34f.). Pferd‘, bord-et ,der Tisch‘, bilar-na ,die
Eine charakteristische Erscheinung vor Autos‘. Wenn aber z. B. ein Adjektiv vor ei-
allem in der Phonologie des Zentralschwedi- nem definit verwendeten Substantiv steht,
schen stellt die „Retroflektierung“ dar, d. h. tritt zusätzlich noch ein ,freier‘ Artikel (den,
die Verschmelzung der Dentallaute mit einem det, Pl. de) auf; den vackra häst-en ,das
vorangehenden /r/. Dies hat zur Folge, dass schöne Pferd‘, det stora bord-et ,der große
retroflexive Gegenstücke zu den Dentallau- Tisch‘, de nya bilar-na ,die neuen Autos‘ (vgl.
ten entstehen. Den dentalen Segmenten [t], auch Braunmüller 1991, 39⫺41). Auch wenn
[d], [s], [n] und [1] entsprechen somit die re- sich die Regeln im Schwedischen und Deut-
troreflexiven [t], [K], [S], [n] und [l] (vgl. Ham- schen im Großen und Ganzen entsprechen,
marberg 1988, 111), was eine Schwierigkeit wenn es um den Ausdruck von Bestimmtheit
für deutschlernende Schweden darstellt. vs. Unbestimmtheit geht, gibt es Unter-
schiede, die Schwierigkeiten bereiten. Eine
solche wichtige Funktion des Artikels, die es
3. Morphologie nicht im Schwedischen gibt, ist die Angabe
von morphologischen Kasusformen. Auch
3.1. Das Substantiv dürfte die Funktion der Genusformen als
Die Flexionsmorphologie im Schwedischen kohäsionstiftende Mittel im Deutschen wich-
ist im Verhältnis zum Deutschen deutlich ein- tiger als im Schwedischen sein. Auch die
facher, denn es gibt nur die Kasusformen No- Verwendung des bestimmten Artikels bei den
minativ und Genitiv; in der Pronominalfle- Eigennamen im Deutschen bietet Probleme
xion gibt es noch eine Akkusativform. für die Schwedischsprachigen. Diese Unter-
(Alternativ könnte gesagt werden, dass es die schiede werden in Lernergrammatiken relativ
morphologischen Kasus Nominativ, Genitiv ausführlich dargestellt, aber wissenschaftliche
und Akkusativ im Schwedischen gibt, dass Untersuchungen liegen nicht vor.
aber der Akkusativ sich beim Substantiv
nicht vom Nominativ unterscheidet). Diese 3.2. Das Verb
Unterschiede sind an sich trivial als For- Im Gegensatz zum Deutschen gibt es im
schungsgegenstand einer kontrastiven Ana- Schwedischen nur eine Flexionsendung in je-
lyse, aber sie haben als Konsequenz zum Teil der Tempusstufe, d. h. die Verbformen än-
bedeutende Schwierigkeiten für deutschler- dern sich nicht in Bezug auf Person oder Nu-
nende Schweden. merus der Subjekte, was eine Fehlerquelle für
deutschlernende Schweden darstellt. Weiter
3.1.1. Genus wird im Schwedischen zwischen einer Supi-
Im Schwedischen gibt es nur mundartlich ein nums- und einer Partizip-Perfekt-Form un-
dem deutschen System entsprechendes Drei- terschieden. Die Partizip-Perfekt-Form wird
Genera-System mit Feminina, Maskulina nur nach dem Verb vara ,sein‘ verwendet und
und Neutra. Im Standardschwedischen sind wird genau wie ein prädikatives Adjektiv in
die Feminina und die Maskulina zu einem ge- Kongruenz zum Subjekt flektiert: Trappan är
nus commune oder Utrum verschmolzen, so städad/Rummet är städat ,die Treppe/das
dass alle Substantive auf der Genusebene ent- Zimmer ist sauber, aufgeräumt‘. Das unflek-
weder Utrum oder Neutrum sind. Auf der tierbare Supinum wird dagegen zur Bildung
Ebene der Pronominalisierung wird aber zwi- der Tempusstufen in Verbindung mit dem
schen belebt und unbelebt unterschieden, wo- Verb ha ,haben‘ verwendet: Han har städat
340 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

trappan/rummet ,Er hat das Zimmer sauber rekten Rede Dieling 1985; Braunmüller
gemacht, aufgeräumt‘ (vgl. auch Braunmüller 1991, 47).
1991, 45). Dieser Unterschied bereitet aber Die einzige explizit kontrastive Arbeit zu
eher den schwedischlernenden Deutschen als den Modalverben im engeren Sinne scheint
den deutschlernenden Schweden Schwierig- Wagner (1976) zu sein. Die Arbeit von Wer-
keiten. ner (1986) kann als eine interessante und
wichtige Erweiterung von Wagner (1976) ge-
3.2.1. Passiv sehen werden. Werner (1986) geht von der
Das Schwedische kennt wie das Deutsche ein Beobachtung aus, dass sich im Schwedischen
Zustandspassiv, aber außerdem zwei Formen viele Vollverben semantisch-syntaktisch zu
eines Vorgangspassivs. Die eine Form wird den Modalverben hin verschoben haben und
mit Hilfe der Endung -s gebildet, wobei der dort einen defektiv gewordenen Bestand
Vorgang oder die Tätigkeit betont wird. Die nachfüllen. Dabei entspricht im Deutschen
andere, die formal eher dem deutschen wer- diesen Hilfsverben zumeist kein Verb, son-
den-Passiv entspricht, wird mit Hilfe des dern ein Adverb (vgl. Werner 1986, 89; vgl.
Verbs bli gebildet, wobei eher das Ergebnis weiter Gohlisch 1981 über werden als Modal-
einer Handlung oder einer Tätigkeit betont verb und entsprechende Konstruktionen im
wird. Das s-Passiv ist im Verhältnis zu den Schwedischen).
deutschen und den übrigen schwedischen
Passivformen syntaktisch einfach und stellt 3.2.4. Weitere Aspekte der Modalität
ein äußerst flexibles Mittel der Sprache dar. Die umfassendste kontrastive Untersuchung
So kann z. B. der Subjektsakkusativ einer der schwedischen und deutschen Modalparti-
Akkusativ-mit-Infinitiv-Konstruktion mittels keln stellt Heinrichs (1981) dar. Es wird in
des s-Passivs zum Subjekt transformiert wer- dieser Arbeit u. a. festgestellt, dass die Zahl
den, was mit Hilfe des bli-Passivs oder der deutschen Modalpartikeln größer als die
des entsprechenden deutschen werden-Passivs der schwedischen ist, dass aber umgekehrt die
nicht möglich ist, vgl. Man sah ihn kommen; Zahl der Modalausdrücke im Schwedischen
*Er wurde kommen gesehen; Man såg honom größer ist als im Deutschen. Daraus kann ge-
komma; *Han blev sedd komma; aber Han folgert werden, dass das Schwedische viel
sågs komma (vgl. Nikula 1976, 25; vgl. weiter häufiger auf Modalausdrücke zurückgreift,
Brandt 1982; Braunmüller 1991, 47⫺48; Ok- die nicht Modalpartikeln sind (Heinrichs
saar 1970). 1981, 193f.). Die Modalpartikeln im Deut-
Zur Valenz des Verbs liegen wenige kon- schen haben eine weit größere Bedeutung bei
trastive Untersuchungen vor (vgl. Nikula der kommunikativen Gliederung als die Mo-
1976; Schmidt 1986). Die Modalverben wer- dalpartikeln im Schwedischen, was wiederum
den von Wagner (1976) und die Funktions- mit der festeren Wortstellung des Schwedi-
verbgefüge von Walder (1987) behandelt. schen zusammenhängt (Heinrichs 1981, 225).
Erwähnenswert sind weiter Önnerfors (1993),
3.2.2. Tempus Stolt (1979) und Zybatow (1995). Eine in vie-
Die deutschen und die schwedischen Tem- len Fällen den Modalpartikeln entsprechende
pora sind in vielem sehr ähnlich, sowohl for- Funktion dürften die von Werner (1996) be-
mal als auch was die Bedeutungen betrifft. Es schriebenen kopulativen Konstruktionen ha-
gibt aber deutliche Unterschiede, vor allem ben, vgl. etwa Ja, hänt och hänt ⫺ Tja, was
im Gebrauch von Perfekt und Präteritum. soll schon passiert sein? (Werner 1996, 238).
Die Unterschiede und die damit zusammen-
hängenden Lernerprobleme sind in den Ler- 3.3. Das Adjektiv
nergrammatiken relativ unsystematisch be- Das Adjektiv wird im Schwedischen wie im
rücksichtigt worden; wenige wissenschaftli- Deutschen nach Genus und Numerus flek-
che kontrastive Arbeiten liegen vor (vgl. An- tiert, auch wenn das System wegen des einfa-
dersson 1989; Dieling 1979; 1982; 1985; cheren Genussystems im Schwedischen deut-
Schubert 1979). lich einfacher ist. Im Unterschied zum Deut-
schen kongruiert aber auch das prädikative
3.2.3. Modus Adjektiv mit seinem Bezugswort, vgl. Bilen är
Im Schwedischen spielt der Konjunktiv eine dyr ,das Auto ist teuer‘, Huset är dyrt ,das
äußerst untergeordnete Rolle. Unmittelbar Haus ist teuer‘, Bilarna/Husen är dyra ,die
diesem Bereich geltende kontrastive Untersu- Autos/Häuser sind teuer‘. Außerdem wird ein
chungen liegen nicht vor (vgl. aber zur indi- t-Suffix bei der Ableitung von Adverbien aus
29. Kontrastive Analysen Deutsch-Schwedisch: eine Übersicht 341

Adjektiven verwendet, vgl. Studenten åt för- Darstellung des Deutschen von Bierwisch
nöjd sitt bröd ,der Student aß sein Brot und (vgl. Bierwisch 1966, 34) die Nebensatzstel-
war dabei vergnügt‘ und Studenten åt förnöjt lung als die primäre wählen. Bei genauerer
sitt bröd ,der Student aß in einer vergnügten Betrachtung kann man dabei u. a. beobach-
Art und Weise sein Brot’, was u. U. zu Inter- ten, dass die Stellung bestimmter Adverbiale
ferenzerscheinungen und Übersetzungsprob- im Schwedischen und Deutschen genau die
lemen führen kann, aber offenbar vor allem umgekehrte ist:
eine Schwierigkeit für schwedischlernende Han reser till Rom i morgon.
Deutsche darstellt. …, att han reser till Rom i morgon.
Er reist morgen nach Rom.
4. Lexikon …, dass er morgen nach Rom reist.
Wenn man von der Nebensatzstellung aus-
Wegen der sprachlichen und kulturellen Ver- geht, wo ja das Deutsche im Gegensatz zum
wandtschaft zwischen dem Schwedischen und Schwedischen Endstellung des finiten Verbs
dem Deutschen gibt es natürlich eine sehr verlangt, könnten die Unterschiede bezüglich
große Anzahl von falschen Freunden. Kon- der sog. „neutralen“ Wortstellung wenigstens
trastive Untersuchungen zur Erweiterung des zum Teil dadurch erklärt werden, dass das
Lexembestandes durch Wortbildung und Verb als Valenzträger tendiert, die valenzge-
Entlehnung stellen folgende Arbeiten dar: bundenen Ergänzungen um sich zu sammeln
Inghult (1990; 1991; 1994), Schmidt (1996). (vgl. auch Nikula 1986, 30). ⫺ Weitere Un-
Kontrastive Untersuchungen im Bereich der tersuchungen zur Syntax: Brandt/Rosengren
Phraseologismen sind: Krohn (1994), Lundh (1983), Sundqvist (1990).
(1992), Stedje (1988), Werner (1996). Weitere
kontrastive Studien im Bereich des Lexikons
sind: Oksaar (1971), Stolt (1979). 6. Pragmatik und Kulturbarrieren
Vor allem zwei Bereiche scheinen hier das In-
5. Syntax teresse der Forscher geweckt zu haben: a) das
Anredeverhalten, b) das kommunikative
Im Verhältnis zum Schwedischen ist die Schweigen. Auffallende Unterschiede zwi-
Wortstellung im Deutschen im Allgemeinen schen dem Schwedischen und dem Deutschen
flexibler, was mit der ärmeren Flexionsmor- bezüglich des Anredeverhaltens bestehen vor
phologie im Schwedischen zusammenhängt. allem im Bereich des Duzens-Siezens und in
Wie im Deutschen gilt die Regel der obligato- der Verwendung von Anredeformen wie
rischen Zweitstellung des finiten Verbs im „Herr“ und „Frau“, wie auch von Titeln, des
Hauptsatz auch im Schwedischen. Der Vornamens usw. (vgl. Kohz 1982; Önnerfors
Hauptsatz im Schwedischen wird somit wie 1993).
im Deutschen normalerweise mit einem Sub- Kommunikative Konflikte können deshalb
jekt oder mit einem Adverbial eingeleitet, sel- entstehen, weil das Schweigen im Schwedi-
ten aber mit einem reinen Objekt, da die Erst- schen einen anderen kommunikativen Status
stellung einer Nominalphrase ohne Präposi- als im Deutschen hat und vor allem positiver
tion wegen fehlender Kasusflexion ein Sub- bewertet wird (vgl. Stedje 1983; 1988).
jekt signalisiert. Dies kann für Schwedisch-
sprachige Schwierigkeiten bei der Interpreta- 7. Literatur in Auswahl
tion komplizierterer deutschsprachiger Texte
bedeuten. Andersson, Sven-Gunnar (1984): Satzverschrän-
Im Bereich der Satzverschränkung (Her- kung im Deutschen und Schwedischen. In: Der
ausstellung, Linksversetzung) ist aber das GinkgoBaum. Germanistisches Jahrbuch für Nord-
europa 3, 67⫺72.
Schwedische flexibler als das Deutsche, was
möglicherweise sprachtypologisch zu erklä- ⫺ (1989): Zur Interaktion von Temporalität, Mo-
dalität, Aspektualität und Aktionsart bei nichtfutu-
ren ist, vgl. z. B. Den här boken, som jag vet
rischen Tempora im Deutschen, Englischen und
är bra, ,*Dies Buch, das ist weiß gut ist‘ (An- Schwedischen. In: Tempus ⫺ Aspekt ⫺ Modus. Die
dersson 1984, 69; vgl. weiter Andersson lexikalischen und grammatischen Formen in den ger-
1993). Interessant zu beobachten ist, dass manischen Sprachen. Tübingen (Linguistische Ar-
Motsch/Schädlich (1965, 268) bei der Be- beiten 237), 27⫺49.
schreibung der Wortstellung des Schwedi- ⫺ (1992): Kontrastiv stilistik svenska ⫺ tyska. In:
schen mit Hinweis auf die entsprechende ASLA-Information 18/2, 11⫺15.
342 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

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Bierwisch, Manfred (1966): Grammatik des deut- ⫺ (1994): Lexikalische Anglizismen im Deutschen
schen Verbs. 2. Aufl. Berlin (Studia Grammatica II). und Schwedischen nach 1945. Transferenztypen
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seine Entsprechungen im Deutschen. In: Skandina- Skandinavien II. Osloer Beiträge zur Germanistik.
vistik 12, 137⫺151. Oslo, 16, 236⫺246.
Brandt, Margareta (1982): Das Zustandspassiv aus Kohz, Arnim (1982): Linguistische Aspekte des An-
kontrastiver Sicht. In: DaF 19, 28⫺39. redeverhaltens: Untersuchungen am Deutschen und
Schwedischen mit einer selektiven Bibliographie zur
⫺; Inger Rosengren (1983): Das deutsche Final- Linguistik der Anrede und des Grußes. Tübingen.
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⫺ (1996): Deutsch-Skandinavisch im Vergleich. Eine 36) Göteborg.
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30. Kontrastive Analysen Deutsch-Dänisch: eine Übersicht 343

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Stolt, Birgit (1979): Ein Diskussionsbeitrag zu mal, tiges ,Idiom‘ der nordischen Sprachen. In: Folia
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Sundqvist, Birger (1990): Adnominale Determina- akte und unglücklichen Differenzen im Modal-
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30. Kontrastive Analysen Deutsch-Dänisch: eine Übersicht

1. Vorbemerkung von Examensarbeiten (specialer). Diese wer-


2. Dreißig Jahre in Forschung und Lehre den in der Regel zwar nicht veröffentlicht,
3. Status und Perspektiven sind aber über die Bibliotheken der Hoch-
4. Literatur in Auswahl schulen leicht zugänglich.

1. Vorbemerkung 2. Dreißig Jahre in Forschung und


Der folgende kurze Überblick über die theo- Lehre
retische Einbindung, behandelte Gegen- Die Beschäftigung mit der deutschen Spra-
stände und mögliche beziehungsweise er- che, Literatur und Kultur hat in Dänemark
wünschte Zukunftsperspektiven der kontra- eine lange Tradition ⫺ seit den Zeiten der
stiven Analysen zum Sprachenpaar Deutsch- Hanse, wo Deutsch als Handels- und Ver-
Dänisch deckt einen Zeitraum von etwa drei- kehrssprache eine wichtige Rolle spielte, über
ßig Jahren ab und versteht sich als struktu- die Periode im 17. und 18. Jh. mit Deutsch
rierte erste Orientierungshilfe. Berührungs- als Sprache des Hofes, der Wissenschaft und
punkte mit anderen Disziplinen wie Deutsch der Verwaltung, bis ins 19. Jh., wo System
als Zweitsprache, Kontaktlinguistik und und Struktur des Deutschen zu den wichtigen
Übersetzungswissenschaft sind vorhanden, Forschungsgegenständen der vergleichenden
werden hier aber nicht eigens behandelt. Die Sprachwissenschaft gehörten und diesbezüg-
Erwähnung von Namen, Projekten und Ein- liche Analysen eine wichtige Facette im Be-
zelveröffentlichungen beschränkt sich auf reich der Sprachtypologie darstellten.
Beispiele für das Gesamtbild. Als Quelle für Kontrastive Analysen im Sinne des hier
weitere Informationen in Form von Aufsät- vorgelegten Überblicks sind neueren Datums,
zen und Rezensionen werden die Publika- und sie verdanken ihre Existenz den unter-
tionsorgane der einschlägigen wissenschaftli- schiedlichsten Einflüssen von Seiten der Wis-
chen Institutionen in Dänemark empfohlen senschaft, der Lehrpraxis und der Wissen-
(vgl. 3.). Nicht uninteressant wegen der Breite schaftspolitik. Auf der einen Seite hat die
des behandelten Sprachmaterials sind eine Entwicklung der modernen Linguistik mit
Reihe von Einzeluntersuchungen in Form Paradigmenwechsel und zuweilen überbeton-
344 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

ter Polarisierung zwischen Theorie und An- Methodischer Dreh- und Angelpunkt da-
wendung bei den dänischen Sprachgermani- bei ist ein geeignetes Tertium comparationis.
sten früh zu verstärkter Auseinandersetzung Die Diskussionen zur Beschaffenheit eines
mit der Kontrastiven Linguistik geführt. Auf solchen Tertiums und die Entscheidung über
der anderen Seite gab die parallel zu den ge- ein für beide Sprachen geeignetes einheitli-
sellschaftlichen Umorientierungen der späten ches ⫺ vielleicht vorhandenes oder noch zu
sechziger Jahre auch in Dänemark bildungs- entwickelndes ⫺ Beschreibungsmodell prä-
politisch favorisierte Disziplin der Fremd- gen alle wesentlichen Arbeiten bis heute (vgl.
sprachenpädagogik den Anstoß zu einer in- u. a. Dyhr 1975; Fabricius-Hansen 1986; Fal-
terdisziplinären Diskussion über die kontras- ster-Jakobsen 1993). Die implizit oder expli-
tive Linguistik und die Möglichkeiten ihrer zit vorhandenen Theorieansätze folgen mehr
Anwendung im Unterricht. Die Folge waren oder weniger der Entwicklung der Linguistik
eine Reihe von Projekten zu kontrastiven überhaupt. Generell haben fast alle theore-
Analysen zwischen Dänisch und anderen tisch begründeten Beschreibungsmodelle der
Sprachen (vgl. Forskningsråd 1977). neueren Linguistik und die hier verwendeten
Heute wird Deutsch in Dänemark auf al- Methoden ihre Spuren hinterlassen. Im Ein-
len Ebenen der Schul- und Hochschulausbil- zelnen aber ist die Wahl eines bestimmten Ge-
dung gelehrt, in der Regel als zweite Fremd- genstandsbereichs oder eines Theorierahmens
sprache nach Englisch. Beruflich werden er- durch die vermutete Relevanz der Resultate
worbene Deutschkenntnisse hauptsächlich in motiviert. Das Relevanzkriterium gilt sowohl
den tradionellen Tätigkeitsbereichen als Leh- für die Befriedigung des Erkenntnisinteresses
rer, Übersetzer und Dolmetscher genutzt, seit als auch für die beabsichtigte ⫺ wenn schon
den letzten zwanzig Jahren aber auch immer nicht unmittelbare, so doch weitgehend un-
mehr ⫺ teilweise noch mit recht unscharfen komplizierte ⫺ Umsetzungsmöglichkeit für
Berufsprofilen ⫺ im Zusammenhang mit in- die Fremdsprachendidaktik. In diesem Span-
terkultureller Kommunikation im weitesten nungsfeld von unterschiedlichstem Praxisbe-
Sinne. Die Verknüpfung von Forschung und darf, Interesse, Methoden- und Theoriebe-
Lehre an den Hochschulen ist der Grund da- wusstsein bietet sich ein ziemlich heterogenes
für, dass die meisten Projekte zu kontrastiven Bild, in dem sich aber doch einige zentrale
Analysen hier angesiedelt sind ⫺ und zwar Punkte sowie durchgängige Tendenzen er-
vornehmlich an Instituten, wo Deutsch auch kennen lassen.
Es gibt vor allem drei umfassende ,Pro-
als Lehrfach existiert ⫺ und dass die Infor-
grammerklärungen‘, die einen zentralen Platz
mationen dafür hauptsächlich in den Hoch-
einnehmen, teils weil sie selber zu einer Reihe
schulpublikationen zu finden sind. For-
kontrastiver Analysen geführt haben, teils
schung und Lehre werden vertreten von Ger-
weil sie die Diskussion um Theoriebildung
manisten mit Dänisch als Muttersprache und
tonangebend beeinflusst haben oder aber Er-
einigen wenigen, die Deutsch als Mutterspra- gebnisse versprechen, die für weiterführende
che und Dänisch als Zweit- oder Fremdspra- Untersuchungen wegweisend sein könnten.
che haben. Ein erster detaillierter Entwurf für eine
2.1. Theorie und Methode umfassende kontrastive dänisch-deutsche
Grammatik als Grundlage für den Hoch-
Kontrastive Analysen im hier verstandenen schulunterricht findet sich im Projekt KON-
Sinn werden per definitionem ermöglicht TRA (Dänisch-deutsche Kontrastive Gram-
durch nicht-gerichteten (adirektionalen) Ver- matik). Der Plan sieht vor, auf der Basis des
gleich zweier Sprachen, genauer gesagt durch nicht-gerichteten Sprachvergleichs eine syste-
den Vergleich der Ergebnisse von Beschrei- matische morphosyntaktische Darstellung
bungen zweier Sprachen, die zunächst unab- der beiden Sprachen zu liefern und speziell
hängig voneinander und nach einem einheitli- für diesen Zweck einen geeigneten Beschrei-
chen Modell beschrieben worden sind. Sie bungsrahmen zu entwickeln. Semantisch-
unterscheiden sich also wesentlich von den pragmatische Kategorien sind ⫺ außer als
immer schon zu Unterrichtszwecken vorge- Tertium ⫺ vorerst ausgeklammert; die zu-
nommenen Gegenüberstellungen von Einzel- grunde gelegte Syntaxtheorie ist primär die
phänomenen, die ihre Identifikation gerichte- der Dependenz und Valenz. Der Grund dafür
ten (unidirektionalen) Vergleichen verdan- ist nicht zuletzt ein pragmatischer. Sie ist
ken, bei denen entweder die eine oder die an- oberflächennah und gerade deshalb für die
dere Sprache Vergleichsgrundlage ist. Beschreibung von Dänisch und Deutsch ge-
30. Kontrastive Analysen Deutsch-Dänisch: eine Übersicht 345

eignet, weil hier wegen der genetischen Ver- Der Beschreibung des Deutschen wird das
wandtschaft von vornherein große Oberflä- Modell der Funktionalen Grammatik zu-
chenähnlichkeit und damit leicht zugängliche grunde gelegt, was einerseits ermöglicht,
Vergleichbarkeit vorliegt. Außerdem mangelt sprachliche Strukturen über die systemorien-
es an Beschreibungen größerer Bereiche auf tierte Situierung hinaus in kommunikativen
der Grundlage anderer bedeutender Theo- Zusammenhängen zu erfassen und satzin-
rien. Die Konzeption für die Wahl der zu be- terne Strukturen aufzubrechen zugunsten der
handelnden Einzelthemen sowie die Begrün- Identifizierung von textorientiertem Zusam-
dung für den umrissenen eklektischen Theo- menspiel sprachlicher Realisierungen (vgl.
rierahmen sind ausführlich beschrieben in Colliander/Falster-Jakobsen 1993).
KONTRA 1 (vgl. Fabricius-Hansen 1980). Parallel zu den oben skizzierten Verhält-
Im Rahmen dieses Projekts sind eine Reihe nissen lässt sich eine immer stärker werdende
von Einzelproblemen bearbeitet und veröf- Tendenz beobachten, nämlich die der Aus-
fentlich worden (vgl. 2.2.). weitung des gesamten Untersuchungsfeldes
Ein weiterer Schwerpunkt zeichnet sich ab der ,eigentlichen‘ kontrastiven Linguistik.
im Bereich der Lexikographie. Die oft kon- Man sucht Konsequenzen aus der Erkenntnis
statierten Unzulänglichkeiten bei dänisch- zu ziehen, dass zu einem abgerundeten
deutschen und deutsch-dänischen Wörterbü- Fremdsprachenunterricht auch die kulturelle
chern sowie die konstatierten Forschungsde- Dimension gehört, d. h. die Vermittlung von
fizite in Bezug auf ein-, zwei- und mehrspra- Kenntnissen der Welt, in der man sich in der
chige Lexikographie gaben den Anstoß zu Er- Fremdsprache angemessen bewegen will. Das
örterungen der theoretischen Voraussetzun- setzt voraus, dass kontrastive Untersuchun-
gen bei der Erstellung von zweisprachigen gen im Hinblick auf Systemvergleiche ergänzt
Wörterbüchern (vgl. Kromann/Riiber/Ros- werden müssen durch Vergleiche des Sprach-
bach 1984). Diskutiert wird hier die Leistung gebrauchs und der Aufdeckung von Kultur-
einer kontrastiven Semantik. Um der unter- unterschieden, die einen eventuell unter-
schiedlichen Benutzerkompetenz sowie den schiedlichen Gebrauch ansonsten gleicher
unterschiedlichen Benutzerbedürfnissen ge- sprachlicher Strukturen bedingen können.
recht zu werden, wird eine Typologie mit Beispiele hierfür sind die Anrede- oder Höf-
strenger Trennung von aktiven (für die Pro-
lichkeitskategorien im Dänischen und Deut-
duktion aus der Muttersprache in die Fremd-
schen, für die es zwar morphosyntaktische
sprache) und passiven (für die Rezeption aus
Entsprechungen gibt, die aber wegen der un-
der Fremdsprache in die Muttersprache)
terschiedlichen gesellschaftlichen Wirklich-
zweisprachigen Wörterbüchern vorgeschla-
keit und damit wegen des anderen soziokul-
gen. Als Konsequenz davon ergeben sich
Richtlinien für die Makro- und Mikrostruk- turellen Rahmens für die Verwendung durch-
tur der einzelnen Wortartikel in Wörterbü- aus divergent sind (vgl. Dyhr 1974); oder aber
chern. Alle Überlegungen beziehen ausdrück- die sogenannten Falschen Freunde, wo es be-
lich Fachsprachen mit ein. Ein Vorschlag zur sonders deutlich wird, dass die Berücksichti-
Anwendung anhand von Beispielen ausge- gung einer Reihe anderer als sprachsystembe-
wählter Wortklassen findet sich in Baune- zogener Parameter die Ursache für Verstän-
bjerg-Hansen (1990). digung, Missverständnis oder komplettes Un-
Fachimmanenten und -externen Ursachen verständnis sein können (Zint 1987). Ein in
ist es zuzuschreiben, dass der ursprünglich diesem Zusammenhang gern zitiertes Beispiel
abgesteckte Gegenstandsrahmen nicht er- ist der Hinweis auf die wirklichkeitsbezogene
schöpfend bearbeitet und theoretische An- Distribution der Bezeichnungen für Mahlzei-
sätze nicht in allen Fällen weiter verfolgt ten wie frokost/Frühstück und middag/Mittag
wurden und es deshalb bisher noch keine ab- im Tagesablauf der beiden Sprachgemein-
schließenden Ergebnisse gibt, die allen schaften.
Aspekten gerecht würden. Ein neuer Grund- Materialgrundlage für die meisten Unter-
stein zur Rahmenlegung einer möglichen Ge- suchungen sind Corpora unterschiedlicher
samtkontrastierung von Deutsch und Dä- Art und unterschiedlichen Umfangs, Ergeb-
nisch auf wissenschaftlicher Grundlage wird nisse von Fehleranalysen auf verschiedenen
gegenwärtig in einem seit 1993 laufenden Niveaus des Fremdsprachenunterrichts so-
Projekt gelegt, wo Einzelsprachengrammati- wie Übersetzungen kleinerer und größerer
ken auf der Grundlage teils erprobter, teils Sprachsegmente und Introspektion. Inspira-
neuerer Grammatiktheorien erstellt werden. tionsquelle für die Definitionen der Gegen-
346 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

standsbereiche und Modelladaptionen sind Unterrichtspraxis auf der einen Seite und
fast alle neueren deutschen Grammatiken mehr oder weniger deutlicher Anspruch auf
des Deutschen. Adirektionalität auf der anderen Seite. Zu-
sätzliches Profil erhalten sie, wenn man die
2.2. Gegenstandsbereiche verwendeten Tertium-Typen in die Charakte-
Auch die konkret behandelten Gegenstände risierung mit einbezieht. Diese Kette mit glei-
bieten ein sehr heterogenes Bild. Im Hinblick tenden Übergängen läßt sich zusammenfas-
auf Form, Inhalt und unmittelbaren oder ab- sen in: je oberflächennäher das Tertium
leitbaren Anwendungsbezug unterscheiden selbst, desto klarer morphosyntaktisch ho-
sie sich teilweise erheblich voneinander. Der mogene sprachliche Einheiten (Wörter, Syn-
im Folgenden trotzdem unternommene Ver- tagmen usw.), je näher das Tertium einer Ka-
such einer Konturierung beruht auf Überle- tegorie, die mit mehr als nur einer sprachli-
gungen zum Verhältnis zwischen gerichteten chen Realisierung (oder deren Alloformen)
und nicht-gerichteten Vergleichen: Der nicht- korrespondiert, desto inhomogener der Be-
gerichtete Vergleich ist zwar erklärte Voraus- reich der sprachlichen Realisierungen.
setzung moderner kontrastiver Analysen, Welche Schwierigkeiten unter diesem
aber Beobachtungen aufgrund gerichteter Aspekt bei der Erfassung schon kleinster
Vergleiche und die daraus gezogenen Konse- morphosyntaktischer Einheiten auftreten,
quenzen für den Fremdsprachenunterricht wird demonstriert an dem Versuch, Partikeln
sind eine unentbehrliche Hilfe, wenn es in beiden Sprachen gegenüberzustellen, was
darum geht, relevant und effektiv zugleich am Beispiel ellers demonstriert wird, dem im
auf eine Kontrastierung hinzuarbeiten. Es Deutschen nur in beschränktem Maße Lexi-
geht hier vor allem um die Divergenzen, die koneinheiten wie sonst/eigentlich gegenüber-
bei adirektionalen Vergleichen selten als Ers- stehen. Ein großer Teil der außerdem mögli-
tes die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, de- chen Entsprechungen wird mit anderen
ren Klärung wegen ihrer Vorkommenshäu- sprachlichen Mitteln oder nonverbalen Mit-
figkeit aber durchaus wünschenswert ist. Der teln realisiert (vgl. Wesemann 1980).
direktionale Vergleich Deutsch-Dänisch und Ähnliche Probleme sieht man beim Ver-
vice versa liefert z. B. Hinweise auf sprachli- such der Gegenüberstellung der Modalver-
che Phänomene, die im jeweiligen Mutter- ben, was eine Untersuchung zu den däni-
sprachenunterricht, weil selbstverständlich, schen Modalverben behøve/måtte und ihren
leicht unreflektiert bleiben, deren Bewusst- deutschen Entsprechungen brauchen/dürfen/
machung aber eine Voraussetzung für den müssen belegt (Jensen 1987).
kontrastiven Vergleich ist. Ein geeignetes De- Hierher gehört z. B. die Gegenüberstellung
monstrationsobjekt ist das syntaktische Phä- von Attributsyntagmen in Form von Genitiv-
nomen der Satzverschränkung ⫺ auch Satz- und Präpositionsverbindungen. Alternierun-
knoten genannt ⫺, die ein im Dänischen gen zwischen diesen beiden Formen sind in
äußerst normales und statistisch häufiges beiden Sprachen möglich, es bestehen aber
Element der Topologie ist und deren Ent- Unterschiede in der Füllung der Paradigmen-
flechtung fast allen Deutsch lernenden Dänen muster ⫺ ausgenommen ganz spezielle Kon-
Schwierigkeiten bereitet. Es handelt sich hier- texte, z. B. et helvedes hus ⫺ so, wenn Unbe-
bei um Typen wie denne bog anbefaler jeg at i stimmtheit oder Demonstrativmarkierung
køber/*dieses Buch empfehle ich dass ihr kauft des Kerns der Attributfügung vorliegt, vgl.
oder denne bog håber jeg i kan få glœde af/ die/eine/diese Tochter des Mannes/die eine,
*diesem Buch hoffe ich ihr könnt haben Freude diese Tochter von dem Mann gegenüber man-
an. Weitere mit Lernschwierigkeiten belastete dens datter, *en mandens datter, *denne man-
Phänomene vergleichbarer Art aus dem Be- dens datter/datteren, en datter, denne datter
reich der Syntax sind in einem Überblick bei af manden.
Dittmer (1995) zu finden. Fast alle der dort Sogar beim Vergleich nur einer der mögli-
genannten Phänomene sind schon Gegen- chen Alternantengruppen werden Asymme-
stand kontrastiver Untersuchungen gewesen. trien aufgedeckt, vgl. mandens datter/die
Aus diesen Überlegungen lässt sich ein Tochter des Mannes, livets skole/die Schule des
Ordnungsprinzip ableiten, nach dessen Krite- Lebens, sangens gave/die Gabe des Gesangs,
rien die vorhandenen Arbeiten auf einer aber *formuens halvdel/die Hälfte des Vermö-
Skala fixiert werden können: vorwiegende gens (Frimann-Olesen 1988).
Oberflächennähe, deutlich ausgegrenzter Ma- Je komplexer die sprachlichen Zeichen,
terialbereich, oft konkreter Anstoß aus der desto problematischer ihre isolierte Behand-
30. Kontrastive Analysen Deutsch-Dänisch: eine Übersicht 347

lung. Die morphosyntaktische Füllung und funktion für das Thema im Satz haben und
Permutierbarkeit von Satzgliedern ist z. B. bieten im dänischen Sprachsystem eine der
ein Gebiet, wo besonders deutlich wird, in Topikalisierungsmöglichkeiten, die z. B. im
wie hohem Grad die Kontrastierungsmög- Deutschen durch das reich ausgebaute mor-
lichkeiten abhängig sind von der voraufge- phologische System wahrgenommen werden
gangenen einzelsprachlichen Identifizierung können (vgl. Colliander/Hansen, D. 1993/
der Vergleichsgrößen. Je nachdem, auf wel- 1994; Dyhr 1976; Falster-Jakobsen 1978,
cher Modellgrundlage diese Identifizierung 1995; Pors 1988).
vorgenommen wird, ergeben sich einleuch- Solche und ähnliche Untersuchungen und
tende oder weniger einleuchtende Kontrastie- deren Ergebnisse erklären die breite Palette
rungsmöglichkeiten. Untersucht man die der Arbeiten zu Satzbauplänen und Ergän-
Entsprechungen vom deutschen Pronomen es zungsklassen. Hier wird sowohl Bezug ge-
und den dänischen Äquivalenten det (Pron.)/ nommen auf die vorliegende Dependenz- und
der (Adverb), vgl. es regnet/det regner, aber es Valenzliteratur der deutschen Germanistik
wurde den ganzen Abend getanzt/der blev dan- als auch Neues vorgeschlagen. Dabei geht es
set hele aftenen, so gibt es viele Lösungen. sowohl um Klassifikationsprobleme als auch
Rubriziert man die Verwendungen des deut- um Notationskonzepte. Für je unterschiedli-
schen es nach den Kriterien ,normale Ver- che Blickwinkel liegen Arbeiten mit reich-
wendung‘ und ,spezielle Verwendung‘, so haltigem deutsch-dänischen Beispielmaterial
kann man zu einer sechsfachen Unterteilung vor (vgl. Fabricius-Hansen/Falster-Jakobsen/
der Spezialverwendung kommen, innerhalb Olsen 1986; Falster-Jakobsen/Olsen, 1979;
derer sich zwei klare Äquivalenzbeziehungen Dyhr 1983).
zu den dänischen det und der herausfiltern Arbeiten mit dem Anspruch auf umfas-
lassen. Entscheidend für die Wahl von der sende kontrastive Darstellungen auf der Ba-
sind die Kriterien Weglassbarkeit und Ver- sis angemessener Einzelsprachbeschreibun-
schiebemöglichkeit von es in vergleichbaren gen gibt es zu Phonologie und Wortschatz:
Fällen (vgl. Bærentzen 1987). Geht man aber Eine Kontrastierung der segmentalen Wort-
von einer nach strukturalistischer Merkmals- phonologie ist das Ergebnis der Untersu-
analyse identifizierten Einteilung in ,Satz- chung isolierter Wörter in distinkter Aus-
glied‘, ,Korrelat‘ und ,Platzhalter‘ aus, so sprache im Dänischen und Deutschen
zeigt sich, dass entsprechende Ausdrucksgrö- (Basbøll/Wagner 1985).
ßen der beiden Sprachen ohne Einbeziehung Die Erfassung von Regelmäßigkeiten, die
der inhaltlichen Seite nicht parallelisert wer- den Prozess der Umgestaltung der distinkti-
den können (Falster-Jakobsen/Olsen 1980). ven Merkmale sowohl in phonologisch wie
Und schließlich lässt sich zeigen, dass die auch morphologisch definierbaren Kontexten
Kontrastierung von es als Korrelat eine Ty- beherrschen, führt zum Vergleich von Allo-
pologie der Nebensätze voraussetzt (vgl. Fa- morphosierungsprozessen in beiden Sprachen
bricius-Hansen 1981). (Janikowski 1982). Zum Bereich des Wort-
Immer wieder im Zentrum der Diskussion schatzes liegt die Kontrastierung von Movie-
um das bestgeeignete Beschreibungsmodell, rungen vor. Mit dem Ziel, produktive Regeln
ein geeignetes Tertium und die Didaktisie- aufzudecken, wurden Wortschatzbereiche
rung für die verschiedenen Niveaus des weiblicher Personenbezeichnungen unter-
Fremdsprachenunterrichts ist die schon er- sucht und kontrastiert. Es wird nachgewie-
wähnte Satzverschränkung. Aus der Sicht des sen, dass das Suffix -in im Deutschen pro-
Deutschen gesehen handelt es sich hier um duktiver ist als die entsprechenden Suffixe
manchmal recht komplizierte Konstruktio- -inde/-ske im Dänischen. Hier wird der
nen, bei denen Satzglieder aus untergeordne- Sprachgebrauch gestützt durch das System,
ten Sätzen herausgelöst und in den unmittel- wo es unterschiedliche Verhältnisse in Bezug
bar oder mittelbar übergeordneten transfe- auf Genus und Sexus im Pronominalge-
riert werden können, vgl. det tror jeg ikke i brauch gibt, vgl. der Rektor, er/*sie hat gesagt
kan lide, wo det/das das Objekt zu lide/leiden gegenüber rektor, han/hun har sagt (vgl. Han-
ist und nicht zu tror/glaube oder den bog, som sen, E./Reinik 1982).
vi håber, i kan lide/*das Buch, das wir glauben, Deutlich auf dem Weg zu Vergleichskate-
ihr könnt leiden. Sie ist zwar im Rahmen des gorien, die es erlauben, möglichst viele Ober-
Satzes beschreibbar, aber inhaltlich nicht flächenrealisierungen zu kontrastieren, ist
ohne Übergriff auf den Text zu fassen. Die eine umfassende Klarlegung des Artikelge-
verschiedenen Typen können Markierungs- brauchs: Für beide Sprachen wird nach sema-
348 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

siologischen Kriterien der Distribution, Per- grob drei Phasen unterscheiden. Anfang der
mutation und Relation sowie nach onoma- siebziger Jahre gibt es die Anstöße zu größe-
siologischen Merkmalen wie Referenz ein Ar- ren Konzepten sowie die Auseinandersetzung
tikelinventar abgegrenzt, das anschließend mit theoretischen Modellen unter dem
miteinander kontrastiert wird (Hansen, G. Aspekt der Anwendbarkeit für kontrastive
1986). Analysen. In den Achtzigern folgen dann eine
Einen auf der Basis umfassender Doku- Reihe Publikationen, die zum Teil richtungs-
mentation anhand von Korpusuntersuchun- weisend sind für die weitere Diskussion um
gen und Informantenbefragung gewonnenen die angemessene Beschreibung von Aus-
Nachweis für die Relevanz der Berücksichti- drucks- und Inhaltsstrukturen hauptsächlich
gung des Sprachgebrauchs bei der Kontra- im Bereich der Syntax ⫺ Satzbaupläne, Er-
stierung liefert eine Untersuchung zum Phä- gänzungsklassen u. a. ⫺ sowie die Adäquat-
nomen Satzspaltung, vgl. det var krisens fo- heit der Beschreibung der beiden Sprachen.
rudsœtninger, (som) han studerede med sœrlig Die Diskussion um die angemessenste Be-
interesse/es waren die Voraussetzungen der schreibung ist bisher nicht abgeschlossen.
Krise, die er mit besonderem Interesse stu- Nach einer Übergangsphase neuer Orientie-
dierte. Außer einer Wertung der Beschrei- rung ist wieder Bewegung in die Forschungs-
bungsangemessenheit strukturalistischer oder szene geraten. Die Einbeziehung der Dimen-
generativer Modelle wird hier eine Klassifika- sion der interkulturellen Kommunikation ⫺
tion von Satzspaltungen vorgenommen, die nicht zuletzt als Reaktion auf Forderungen
es erlaubt, zwischen häufigen und weniger von Seiten neuer Ausbildungsgänge an Han-
häufigen oder zwischen akzeptablen und we- delsgymnasien und Wirtschaftsuniversitäten
niger akzeptablen Formen zu unterscheiden, und damit auch im öffentlich politischen In-
eine gute Grundlage für die Erstellung von teresse ⫺ ist deutlich abzulesen an den erwei-
Lehrmaterialien. Kriterien für die Klassifika- terten Gegenstandsbereichen der Untersu-
tion sind die syntaktischen Funktionen, die chungen, die sowohl in der Forschung als
die als Fokus auftretenden Konstituenten im auch in der Lehre in den Vordergrund rük-
nicht-gespaltenen Satz haben können (vgl. ken. Alles in allem bietet sich heute ein Bild,
Dyhr 1978). in dem Ergebnisse, Desiderate und sich ab-
Die bisher genannten Beispiele können nur zeichnende Perspektiven in einem for-
punktuell einen Eindruck von der Spann- schungslogischen Zusammenhang stehen. Es
weite der kontrastiven Analysen geben. Allen gibt zwar noch nicht die allumfassende, im
bisher genannten Arbeiten ist gemeinsam, Rahmen eines einheitlichen Theorieansatzes
dass sie ihren Ausgangspunkt in oberflächen- kohärente dänisch-deutsche kontrastive Ana-
nahen Beschreibungseinheiten nehmen oder lyse, die die verbindliche Grundlage für ein
in Tertiumkatagorien, die mehr oder weniger Baukastensystem von Grammatiken, den ein-
unmittelbar auf Oberflächenstrukturen ab- zelnen Unterrichtsbedürfnissen angepassten
bildbar sind. Lehrwerken und Einzeldarstellungen für
In den letzten Jahren ist die Kontrastie- Deutsch als Fremdsprache in Dänemark sein
rung isolierter sprachlicher Phänomene, be- könnte. Viele punktuelle Einzeluntersuchun-
sonders der syntaktischen, etwas in den Hin- gen aber ⫺ vor allem im Bereich des Sprach-
tergrund getreten, was sich auch an der in systems, zunehmend immer mehr zugeschnit-
den späten Achtzigern abnehmenden Publi- ten auf den Aspekt der Kommunikation ⫺
kationsdichte ablesen läßt. Statt dessen gilt können dem erfahrenen Lehrer und dem auf-
das zunehmende Interesse der Etablierung ei- geschlossenen Lernenden eine große Hilfe bei
nes integrierten Beschreibungsrahmens für der Sprachvermittlung und dem Spracher-
die Einheit ,Sprache und Kultur‘. Stellvertre- werb sein.
tend für eine Reihe Arbeiten diesen Typs sei Im Bereich der Theoriebildung besteht
hier aufmerksam gemacht auf ein seit 1993 noch Klärungsbedarf u. a. in Bezug auf An-
laufendes Projekt, in dessen Rahmen wesent- gemessenheit von Modell und Tertium. Ein
liche Aspekte interkultureller Interaktion un- qualitativer Wertzuwachs ergibt sich durch
tersucht werden (Bohnen/Lorentsen 1993). die sich im Berichtzeitraum abzeichnende
Horizonterweiterung durch die verstärkte
3. Status und Perspektive Einbeziehung von Sprachgebrauchsaspekten.
Empirisch gestützte Thesen wie die, dass Dä-
Betrachtet man die Entwicklung, die die jet- nisch und Deutsch sich mehr in der Ausnut-
zige Lage herbeigeführt hat, so lassen sich zung der Möglichkeiten unterscheiden als im
30. Kontrastive Analysen Deutsch-Dänisch: eine Übersicht 349

System, können, solange sie keinen Totali- tung könnten sich auf gut ausgebaute Be-
tätsanspruch erheben, als relativ gesicherte schreibungen der Topologie des Dänischen
Vorannahmen die Untersuchungen in Bezug stützen.
auf Schriftlichkeit und Mündlichkeit voran- Eine solche Ausrichtung würde jedoch
treiben, was im Zusammenhang mit interkul- auch gleichzeitig eine Ausweitung der Metho-
tureller Kommunikation nicht unwichtig ist. den erfordern, z. B. fehlen bisher weitgehend
Die Ausweitung kontrastiver Untersu- Gesprächsanalysen, deren Ergebnisse für eine
chungen unter Einbeziehung anderer als rein Beschreibung der sprachlichen Komponente
linguistischer Parameter bedeutet eine Berei- von Interaktionsmustern unerlässlich sind.
cherung, erschließt aber auch neue Problem- Eine wichtige Hilfe bei solchen Untersuchun-
zonen. Denn es ist zwar richtig, dass Sprache gen kann man sich versprechen von einer im
nur ein Teil der zu erfassenden Wirklichkeit Druck befindlichen umfassenden kontrasti-
ist, es bleibt aber wichtig, dass es sich dabei ven Phonetik des Deutschen, die auch proso-
um einen entscheidenden Teil handelt ⫺ ein dische Phänomene mit einschließt. Es handelt
Instrument, das diese Wirklichkeit interpre- sich um eine wissenschaftliche fundierte Dar-
tiert, was eine Voraussetzung für geglückte stellung von Colliander, Peter/Jørgensen,
Interaktion und damit auch für interkultu- Hans Peter/Wied, Mogens).
relle Kommunikation ist. Hieraus ergeben Die direkte Umsetzung aller bisher gewon-
sich als Konsequenz die folgenden Deside- nenen Kenntnisse in publizierten Lehrmate-
rate: Vonnöten ist die Klarlegung des Bedin- rialien ist nicht immer klar zu erkennen, aber
gungsgefüges von Ausdrucksform, Inhalts- man kann davon ausgehen, dass mindestens
formen mitsamt ihren Funktionen in der Dis- in forschungsnahen Lehrmilieus viele unpub-
kurswelt der Texte und in Kombination mit lizierte Lehrmittel benutzt werden, die sich
außerlinguistischen Parametern. die Erkenntnisse kontrastiver Untersuchun-
Ein Fall, der augenblicklich auf allge- gen zunutze machen.
meines Interesse stoßen würde, ist der Be- Das gesamte Panorama des Forschungs-
reich der sprachlichen Interaktion im interna- standes unter den Aspekten Theorie, Metho-
tionalen Geschäftsverkehr, wo Erfolg oder den, Gegenstandsbereiche, Desiderate und
Misserfolg oft direkt von geglückter oder Perspektiven verleitet zu der abschließenden
missglückter Kommunikation abhängen. Den Bemerkung: kontrastive Analysen zum Spra-
nonverbalen Parametern in diesem Bereich chenpaar Dänisch-Deutsch sind nicht nur ein
wird seit längerem große Aufmerksamkeit weites, sondern durchaus in mehrdeutigem
gewidmet. Die Kenntnisse über die für diese Sinne auch ein offenes Feld.
Situation erforderlichen Sprachspezifika er-
schöpfen sich aber weitgehend in der Auf-
4. Literatur in Auswahl
listung von Floskeln, Redemitteln für spezifi-
sche Umgangsformen wie Begrüßung, Einla- Basbøll, Hans; Johannes Wagner (1985): Kontras-
dung usw. Ihr Wert für die Praxis soll nicht tive Phonologie des Deutschen und Dänischen. Seg-
bestritten werden; zur Regelbildung im Hin- mentale Wortphonologie und -phonetik. Tübingen
blick auf Sprachproduktion sind sie nicht (Linguistische Arbeiten 160).
ausreichend. Hier könnte eine Revision der Baunebjerg-Hansen, Gitte (1990): Artikelstruktur
bisherigen Ergebnisse kontrastiver Analysen im zweisprachigen Wörterbuch. Überlegungen zur
von Teilbereichen des Sprachsystems und des Darbietung von Übersetzungsäquivalenten im Wör-
terbuchartikel. Tübingen (Lexikographica Series
Sprachgebrauchs, verbunden mit einer neuen
major 35).
Kombinatorik verschiedener Tertium-Kate-
gorien, neue Wege aufzeigen. Unter dem Ter- Bohnen, Klaus; Annette Lorentsen (1993): Kultur-
interaktion og sproglig handlen. In: Sprog og Kul-
tium ,Höflichkeit‘ könnten z. B. sprachliche turmøde 1.
Realisierungen wie Wortstellung, Konjunktiv,
Bærentzen, Per (1987): Die Spezialverwendungen
Satzspaltung und Satzverschränkung als eine des deutschen ,es‘ und der dänischen Äquivalente
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Unterstreichung von Ansprüchen oder auch tryks- og indholdsvalens spille i en grammatik? In:
Zurückhaltung zwecks Herunterspielens von Ny Forskning i Grammatik. Odense Universitetsfor-
Problemen z. B. in einer Verhandlungssitua- lag, 130⫺152.
tion sind oft erkennbar an topologisch be- ⫺; Lisbeth Falster-Jakobsen (1993): Tysk Gram-
schreibbaren Signalen der verwendeten matik. Projektbeskrivelse. In: Ny Forskning i Gram-
sprachlichen Mittel. Arbeiten in diese Rich- matik. Odense Universitetsforlag, 96⫺109.
350 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

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31. Kontrastive Analysen Deutsch-Norwegisch: eine Übersicht 351

31. Kontrastive Analysen Deutsch-Norwegisch: eine Übersicht

1. Einleitung 2.2. Die Abfolge innerhalb von Verbketten


2. Verbstellung und Stellungsfelder (Askedal 1995a) ist im Norw. durchgehend
3. Nominal- und Präpositionalglieder rechtsläufig und im Dt. im Normalfall links-
4. Syntaktische Funktionen und Satzmuster läufig: das Buch, das er zu stehlen4 versucht3
5. Verbkategorien und Verbkonstruktionen
haben2 soll1 vs. boken som han skal1 ha2
6. Satzförmige Komplemente bzw. Attribute
und Nominalisierungen
forsøkt3 å stjele4. Hinzu kommt im Dt. u. U.
7. Literatur in Auswahl gemischte Rechts-/Linksläufigkeit: weil er das
Buch nicht wird1 haben2 lesen4 wollen3.
Die dt. Schlussfeldstruktur erlaubt eine im
1. Einleitung Verhältnis zum Norw. klare morphosyntakti-
sche Abgrenzung der Extraposition (Askedal
Den didaktischen Ausgangspunkt der kon-
1984b), die sich bei verbdependenten (zu-)In-
trastiven Grammatik reflektiert noch Fabri- finitiven als eine im Norw. nicht vorhandene
cius-Hansen (1981). Spätere Beiträge sind topologische Opposition zwischen in den
vorrangig der strukturellen Systemanalyse Obersatz integrierten, sog. „kohärenten“ Infi-
verpflichtet und behandeln schwerpunktmä- nitiven einerseits und aus dem Obersatz ausge-
ßig die Syntax. Eine wichtige Ergänzung dazu sonderten, „inkohärenten“ Infinitivkonstruk-
bieten Arbeiten zur vergleichenden Sprachsti- tionen andererseits auswirkt (Bech 1955,
listik (Fabricius-Hansen/Solfjeld 1994). Auf Kap. 7): obwohl er kein einziges Buch zu steh-
kontrastive Fragestellungen im Bereich der len4 versucht3 haben2 soll1 vs. obwohl er nicht
Phonetik und Phonologie gehen Høyem/ versucht3 haben2 soll1, ein einziges Buch zu steh-
Zickfeldt (1990) ein. len4.

2. Verbstellung und Stellungsfelder 3. Nominal- und Präpositionalglieder


2.1. Die unterschiedliche Verbstellung des 3.1. Das Genussystem neunorw. Substantive
Dt. und Norw. kann im Rahmen einer Stel- umfasst die drei Genera Maskulinum, Femini-
lungsfelderanalyse beschrieben werden. Kon- num und Neutrum, die die Kongruenz der Per-
stitutiv für das Dt. ist ein rahmenbildendes sonalpronomina im Sg. wie im Dt. bestimmen:
verbales Schlussfeld (Bech 1955) bzw. mannen ,der Mann‘/stolen ,der Stuhl‘ > han
2. Klammerfeld (2. KLF), dem ein Vorfeld ,er‘, kjerringa ,die Frau‘/lampa ,die Lampe‘ >
(VF), ein 1. Klammerfeld (1. KLF) und ein ho ,sie‘, barnet ,das Kind‘/nettet ,das Netz‘ >
Mittelfeld (MF) vorangehen. Darauf basiert det ,es‘). Im Riksmål/Bokmål sind die Perso-
die übliche Einteilung in Satztypen (ST): nalpronomina han, hun auf den Bezug auf
(1) ST 1: VF 1. KLF MF 2. KLF
In diesem Jahr hat er ihr schon etwas gekauft.
ST 2: Hat er ihr schon etwas gekauft?
ST 3: weil er ihr schon etwas gekauft hat.

In den entsprechenden norw. Satztypen stehen menschliche Substantive beschränkt. Mit Be-
sowohl das finite Verb als auch infinite Verben zug auf nichtmenschliche Substantive im Mas-
nichtfinal und die syntaktischen Funktions- kulinum oder Femininum wird das ursprüng-
kategorien haben weitgehend feste Positionen liche Demonstrativpronomen den verwendet:
(n, N ⫽ NP vor bzw. nach dem verbalen Prä- mannen > han, aber stolen > den.
dikat; a, A ⫽ Adverbialglied vor bzw. nach
dem verbalen Prädikat; v, V ⫽ finites bzw. in- 3.2. Dt. verfügt über die vier Kasus Nomina-
finites Verb; Subj ⫽ Subjunktion): tiv, Akkusativ, Dativ, Genitiv sowohl bei pro-

(2) VF Nexusfeld Inhaltsfeld


ST 1: X v n a V N A
I år har han alt kjøpt noe til henne.
ST 2: Har han alt kjøpt noe til henne?
ST 3: Subj n a v V N A
fordi han alt har kjøpt noe til henne.
352 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

nominalen als auch bei nichtpronominalen folg gekrönt werden). Zur Markierung von
Nominalgliedern. Im Norw. fehlt die Opposi- Definitheit bzw. Indefinitheit hat Norw. ein
tion zwischen Akkusativ und Dativ. Eine Op- gespaltenes System: Definitheit wird zu-
position zwischen Subjektform und Nicht- nächst durch ein Flexionssuffix ausgedrückt:
subjektform ist nur bei fünf Personalprono- mannen ,der Mann‘, kona ,die Frau‘, barnet
mina vorhanden: 1. P. Sg. jeg ⫺ meg, 2. P. Sg. ,das Kind‘, menneskene ,die Menschen‘. Beim
du ⫺ deg, 3. P. Sg. M. han ⫺ ham, 3. P. Sg. F. Vorhandensein eines Adjektivattributs tritt
hun ⫺ henne, 1. P. Pl. vi ⫺ oss, 3. P. Pl. de ⫺ ein pränominales Artikelwort („Adjektivarti-
dem. Der norw. sog. Genitiv erscheint nur in kel“) hinzu: den gamle mannen ,der alte
der Form -s und schließt sich nicht nur Sub- Mann‘. Für Indefinitheit steht wie im Dt. ein
stantiven, sondern auch der letzten Konsti- Artikelwort ohne Pluralform: et norsk flagg
tuente einer komplexen NP an: dronningen av ,eine norwegische Fahne‘, norske flagg ,nor-
Englands rikdommer vs. die Reichtümer der wegische Fahnen‘.
Königin von England. Dt. Genitivattribute stehen normalerweise
postnominal und nur unter besonderen Be-
3.3. Dt. NP weisen zahlreiche Kasussynkre- dingungen pränominal: der Vorschlag Vaters
tismen auf, und es besteht eine Tendenz zur bzw. Vaters Vorschlag. Der norw. Genitiv
„Monoflexion“ im Sinne ein- oder höchstens steht nur pränominal: fars forslag. Er bildet
zweimaliger distinktiver morphematischer am häufigsten mit den Determinativen zu-
Markierung der Flexionskategorien einer sammen ein Paradigma, kann aber auch u. U.
NP: die Wünsche des neuen Kunden ⫽ der nach einem Determinativ stehen: en forferde-
neuen Kunden bzw. die Wünsche des jungen lig/denne forferdelige tingenes tilstand ,ein
Mannes. Die auf der Kasusmarkierung gan- furchtbarer/dieser furchtbare Zustand der
zer NP basierende Subklassifizierung umfasst Dinge‘).
fünf Gruppen: Anders als die einheitlich adjektivischen
Possessivpronomina des Dt. stellen norw.
(3) I, N ⫽ A ⫽ D ⫽ G (Sg. ich ⫺ mich ⫺ pronominale Possessivausdrücke ein gespal-
mir ⫺ meiner, der Mann ⫺ den Mann ⫺ tenes System aus flektierenden Possessivpro-
dem Mann(e) ⫺ des Mannes usw.); II: N/ nomina (1. P. Sg. min, 2. P. Sg. din, 1. P. Pl.
A ⫽ D ⫽ G (Sg. sie ⫺ ihr ⫺ ihrer, das vår, 3. P. Sg./Pl. refl. sin) einerseits und pro-
Kind ⫺ dem Kind ⫺ des Kindes; Pl. die nominalen Genitiven (3. P. Sg. M. hans,
Männer ⫺ den Männern ⫺ der Männer); 3. P. Sg. F. hennes, 2. P. Pl. und 3. P. Pl. deres)
III: N ⫽ A/D ⫽ G (Pl. wir ⫺ uns ⫺ un- andererseits dar. Beide morphologischen Ty-
ser); IV: N/A ⫽ D/G (Sg. die Frau ⫺ der pen können anders als nichtpronominale Ge-
Frau); V: N/A/D ⫽ G (Sg. jemand ⫺ je- nitive auch postnominal stehen: forslaget
mandes). vårt/hans ,unser/sein Vorschlag‘.
Die entsprechende Subklassifizierung norw.
NP umfaßt lediglich drei Gruppen: 4. Syntaktische Funktionen und
(4) I, Subjekt ⫽ Nichtsubjekt, flektierendes Satzmuster
Possessivpronomen (statt Genitiv) (Per- 4.1. Die syntaktischen Funktionen Subjekt,
sonalpronomen der 1., 2. P. Sg., 1. P. Pl.: DO und IO werden im Norw. durch die Posi-
jeg ⫺ meg ⫺ min usw.); II: Subjekt ⫽ tion im Satz enkodiert und erscheinen (wenn
Nichtsubjekt, Genitiv (Personalprono- vom kategoriell frei besetzbaren Vorfeld ab-
men der 3. P. Sg./Pl.: han ⫺ ham ⫺ hans gesehen wird) immer in der Reihenfolge Sub-
usw.); III: Subjekt/Nichtsubjekt, Genitiv jekt ⫺ IO ⫺ DO. Das Subjekt steht im Ne-
(alle anderen Nominalglieder: dere ⫺ de- xusfeld, und IO und DO sowie Subjekts- und
res, den gamle mannen ⫺ den gamle man- Objektsprädikative stehen normalerweise in
nens usw.). der N-Position im Inhaltsfeld (vgl. (2)). Im
Dt. werden die entsprechenden Funktionska-
3.4. Dt. nichtpronominale NP haben fol- tegorien im Rahmen einer Präferenzhierar-
gende interne Struktur: chie durch Kasus enkodiert: Subjekt ⫽ No-
(5) pränominale Attribute: nominaler Kern postnominale Attribute:
Det-Adj/Part Genitiv-PP-Satz

(z. B.: Die ständigen Bemühungen der Politi- minativ; IO ⫽ Dativ > Akkusativ; DO ⫽
ker um eine bessere Umwelt, die jetzt mit Er- Akkusativ > Dativ > Genitiv.
31. Kontrastive Analysen Deutsch-Norwegisch: eine Übersicht 353

Die Kategorie IO ist im Dt. um einiges nitiv, Pr ⫽ Präpositionalergänzung, Präd ⫽


verbreiteter als im Norw. Bei gewissen norw. Prädikativ, Adv ⫽ Adverbialergänzung; auf
Entsprechungen dt. dreiwertiger Verben mit die explizite Angabe des Nominativsubjekts
IO im Dativ und DO im Akkusativ steht statt wird hier verzichtet):
dt. IO ein Präpositionalglied: jmdm. etw. ver-
(6) Dt.: 1. ⫺ (schreien), 2. A (essen), 3. D
raten vs. røpe noe for noen; oder das norw.
(dienen), 4. G (gedenken), 5. Pr (denken
Verb ist zweiwertig mit DO: jmdm. etw. glau-
an), 6. Adv (wohnen), 7. A ⫹ D (schen-
ben vs. tro noe/noen; oder dt. IO ist durch ein
ken), 8. A ⫹ G (beschuldigen), 9. A ⫹ A
Attribut wiederzugeben: jmdm. die Zeit steh-
(lehren), 10. A ⫹ Pr (erinnern an), 11.
len vs. stjele noens tid.
D ⫹ Pr (gratulieren zu), 12. A ⫹ Adv (le-
gen), 13. D ⫹ Adv (ins Bett helfen), 14.
4.2. Die funktionale Verwandtschaft zwi-
Pr ⫹ Adv (an jmdm. niederträchtig han-
schen Subjekten und Objekten im Dt. und
deln), 15. Präd (sein), 16. A ⫹ Präd (nen-
Norw. basiert grundsätzlich auf Ähnlichkei-
nen).
ten in Bezug auf syntaktische Regelzugäng-
(7) Norw.: I. ⫺ (skrike ,schreien‘), II. DO
lichkeit (und Valenz, vgl. 4.4.): Tilgung in Im-
(spise ,essen‘, tjene ,dienen‘, minnes ,ge-
perativsätzen und bei der Infinitivbildung,
denken‘), III. Pr (tenke på ,denken an‘),
Funktion als Bezugsgröße bei Reflexivierung,
IV. Adv (bo ,wohnen‘), V. DO ⫹ IO
als Ausgangsgröße für die Agenskonversion
(forære ,schenken‘, lære ,lehren‘), VI.
und als Zielgröße für die Ergänzungskonver-
DO ⫹ Pr (beskylde for ,beschuldigen‘,
sion im Passiv (s. 4.5.), Teilnahme an sog.
minne om ,erinnern an‘, gratulere med ,gra-
„Anhebungs“-Konstruktionen.
tulieren zu‘), VII. DO ⫹ Adv (legge ,le-
gen‘, hjelpe i seng ,ins Bett helfen‘), VIII.
4.3. Dt. PP sind untrennbar, während im
Pr ⫹ Adv (handle nederdrektig mot noen
Norw. die NP bei Topikalisierung und in Fra-
,an jmdm. niederträchtig handeln‘), IX.
ge- und Relativsätzen aus PP extrahiert wer-
Präd (være ,sein‘), X. DO ⫹ Präd (kalle
den kann: in dieser Stadt hatten sie lange ge-
,nennen‘).
wohnt vs. denne byen hadde de bodd i – lenge;
sie fragte, in welcher Stadt sie früher gewohnt Norw. prädikative Adjektive werden anders
hätten vs. hun spurte hvilken by de hadde bodd als dt. flektiert: das Buch ist/die Bücher sind
i – tidligere; die Stadt, in der sie lange gewohnt gut vs. boken er god bzw. bøkene er gode.
hatten vs. byen som de hadde bodd i – lenge.
In vielen objektähnlichen PP ist im Dt. se- 4.5. Passivkonstruktionen werden durch
mantische Abschwächung der Präposition, Agens- und Ergänzungskonversion gebildet
im Norw. darüber hinausgehende syntakti- (Askedal 1989). Beide Sprachen haben so-
sche Reanalyse zu beobachten. Im Norw. wohl sog. „persönliche“, Agens- und Ergän-
können objektähnliche PP im Unterschied zu zungskonversion zugleich voraussetzende als
Adverbialen häufig nicht insgesamt permu- auch nur die Agenskonversion vorausset-
tiert werden: denne avgjørelsen hadde han ven- zende, sog. „unpersönliche“ Passivkonstruk-
tet på lenge/*på denne avgjørelsen hadde han tionen.
ventet lenge ,auf diese Entscheidung hatte er Die Ergänzungskonversion ist beim dt.
lange gewartet‘, aber anders als Verbpartikeln werden-Passiv auf Akkusativobjekte be-
werden Präpositionen pronominalen Objek- schränkt: die Regierung verlieh ihr einen ho-
ten vorangestellt: hun tok med sønnen/hun tok hen Orden > ihr wurde (von der Regierung)
ham med ,sie nahm den Sohn/ihn mit‘ vs. hun ein hoher Orden verliehen, beim entsprechen-
ventet på sønnen/på ham/*ham på ,sie wartete den norw. bli-Passiv bewirkt sie aber nicht in
auf den Sohn/ihn‘. erster Linie einen morphologischen, sondern
vielmehr einen positionellen Kategorienwech-
4.4. Wegen des weitgehenden Fehlens von sel und umfasst außer DO auch IO und NP
Kasusoppositionen im Norw. gegenüber ih- aus PP: regjeringen tildelte henne en høy or-
rem Vorhandensein im Dt. liegt in den beiden den > hun ble tildelt en høy orden (av regjerin-
Sprachen ein unterschiedlicher Bestand an gen); man passet godt på barna > barna ble
Satzmustern vor. Insgesamt 16 einschlägigen passet godt på – vs. man passte auf die Kinder
dt. Satzmustern im Aktiv (in (6) arabisch gut auf > auf die Kinder wurde gut aufgepasst.
durchnummeriert) stehen nur 10 norw. Pen- Das norw. unpersönliche Passiv enthält ein
dants (in (7) römisch durchnummeriert) ge- nichtweglassbares formales Subjekt det (As-
genüber (A ⫽ Akkusativ, D ⫽ Dativ, G ⫽ Ge- kedal 1985): denne gangen ble barna passet
354 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

godt på – vs. denne gangen ble *(det) passet weist das indefinite Präsentierungsglied so-
godt på barna. Das dt. unpersönliche Passiv wohl in passivischen als auch in aktivischen
ist nicht subjekthaltig, sondern weist u. U. ein Präsentierungskonstruktionen gewisse syn-
nur vorfeldfähiges es als satztypaufrechter- taktische DO-Eigenschaften auf, z. B. bei der
haltenden Platzhalter ohne syntaktischen Infinitivbildung, vgl.: (transitive Objektkon-
Funktionswert auf: es wurde spät gearbeitet struktion) Dei begynte [Inf å (dei > Ø) samle
vs. wurde (*es) spät gearbeitet? bzw. weil inn klær til loppemarkedet] ,sie begannen
(*es) spät gearbeitet wurde, auf die gleiche Kleider für den Flohmarkt einzusammeln‘;
Weise wie in persönlichen Passivsätzen und (Präsentierungskonstruktion im Passiv) Deti
in Aktivsätzen. begynte [Inf å (deti > Ø) bli samlet inn klær til
Im dt. unpersönlichen Passiv erscheint bis loppemarkedet] ,(wörtl.) es begann zu werden
auf Einzelfälle (dann wurde (Sg.) Karten (Pl.) gesammelt ein Kleider für den Flohmarkt‘;
gespielt) kein Akkusativobjekt. Im Norw. (Präsentierungskonstruktion im Aktiv) Deti
sind unpersönliche Passivsätze mit beibehal- begynte [Inf å (deti > Ø) komme inn klær til
tenem DO sehr üblich, das freilich einer Inde- loppemarkedet] ,(wörtl.) es begann zu kom-
finitheitsforderung unterliegt: det ble solgt men ein Kleider für den Flohmarkt‘.
mange bøker/*de beste bøkene den dagen ,es Das Präsentierungsglied in Aktivsätzen
wurden an dem Tag viele Bücher/die besten mit intransitivem Verb weist überwiegend,
Bücher verkauft‘. Auch in diesen Fällen ist aber nicht durchgehend Objekteigenschaften
im Norw. das formale Subjekt det im Unter- auf. Bei Koordination zweier Sätze ermög-
schied zum dt. Vorfeldplatzhalter obligato- licht es wie gewöhnliche Subjekte die Tilgung
risch. des Subjekts des darauffolgenden Satzes: det
satt en manni på stolen og (hani > Ø) leste
4.6. Das dt. bekommen-Passiv ist ein „Dativ- en bok ,auf dem Stuhl saß ein Mann und las
passiv“, das im allgemeinen auf IO operiert: ein Buch‘.
man schickte ihm die Unterlagen per Post
zu > er bekam die Unterlagen per Post zuge- 4.8. Die nominalen und adverbialen Positio-
schickt. Das norw. få-Passiv unterliegt etwas nen (n, a, N, A) des Nexus- und Inhaltsfeldes
komplexeren Struktur- und Verwendungsbe- in (2) entsprechen kategorial dem dt. Mittel-
dingungen und scheint insgesamt weniger feld in (1). Ihre Reihenfolge ist weitgehend
grammatikalisiert zu sein (Askedal 1984a). fest. Es sind nur solche Gliedstellungsvaria-
Das Partizip der få-Fügung steht nicht nur in tionen möglich, die die topologisch-konfigu-
der V-Position vor dem DO: han fikk utbetalt rationelle Enkodierung der syntaktischen
pengene, sondern auch in der N-Position Funktionskategorien Subjekt, IO und DO
nach dem DO: han fikk pengene utbetalt. Die nicht betreffen. In der A-Position stehen ent-
letztere Position reflektiert noch deutlich den sprechend dem norw. Rechtsverzweigungs-
Ursprung des Partizips als Objektsprädikativ. prinzip mit dem Verb enger verbundene,
valenzbedingte Adverbialbestimmungen vor
4.7. Eine andere Art syntaktischen Katego- freien adverbialen Angaben: han hadde sendt
rienwechsels vertreten norw. rhematisierende kofferten hjem før avreisen; während im eher
Präsentierungskonstruktionen im Aktiv: Das linksverzweigenden Dt. freie Angaben Adver-
formale Subjekt det ist weitgehend obligato- bialergänzungen vorangehen: er hatte vor der
risch, während dt. es in den funktional ver- Abreise den Koffer nach Hause geschickt. In
wandten Fällen nur ein topologisch bedingter der a-Position stehen Adverbien mit proposi-
Vorfeldplatzhalter ist: den dagen var det kom- tionalem Skopus und/oder Partikelfunktion
met mange mennesker til byen vs. an diesem einschließlich der Satznegation ikke ,nicht‘.
Tag waren (*es) viele Leute in die Stadt ge- Adverbialergänzungen sind auf die A-Posi-
kommen. Im Norw. unterliegt das Präsentie- tion beschränkt: han hadde ikke bodd i byen
rungsglied der Indefinitheitsforderung: det før ,er hatte nie zuvor in der Stadt gewohnt‘;
spilte noen filharmonikere/*filharmonikerne aber Adverbialangaben können ⫺ zum
vs. es spielten die Wiener Philharmoniker. Zweck der ausdrücklichen Thematisierung ⫺
Die syntaktischen Eigenschaften des norw. in die a-Position hinüberwechseln: hun hadde
Präsentierungsgliedes erklären sich weitge- allerede for lenge siden lest boken ,sie hatte
hend aus seiner VP-Zugehörigkeit, die wie- schon vor langer Zeit das Buch gelesen‘. Die
derum durch die topologische Basis der norw. Abfolge der Glieder im dt. Mittelfeld ist freier.
syntaktischen Funktionskategorien Subjekt, Zwar kann man von einer morphosyntakti-
DO und IO bedingt ist. Dementsprechend schen Normalabfolge wie etwa nom/NOM ⫺
31. Kontrastive Analysen Deutsch-Norwegisch: eine Übersicht 355

akk ⫺ dat ⫺ AdvA ⫺ NOM ⫺ AdvA ⫺ DAT ⫺ In Verbketten ist das Part. Perf. im Dt.
AdvA ⫺ AKK ⫺ AdvA ⫺ Satznegation nicht ⫺ und im norw. Riksmål/Bokmål durchgehend
AdvE/Pr/Präd (Engel 1988, 321ff.) ausgehen, unflektiert (supinisch), im Neunorw. finden
aber auch diese Formel enthält schon einige im sich auch kongruierende Partizipien (s. u.).
Norw. nicht vorhandene Variationsmöglich-
keiten, z. B. bei freien adverbialen Angaben 5.2. Wegen des Fehlens eines Konjunktiv-
und bei der Subjekt/Objekt- oder DO/IO-Ab- Modus verfügt Norw. im Unterschied zum
folge: weil den Zuschauern die Geduld abging; Dt. über keine morphologische Referatkenn-
weil dem Mann die Reisekasse gestohlen worden zeichnung (Pütz 1989). Im Dt. kann durch
war; weil er das Buch einer Bekannten ge- den Konjunktiv auch in syntaktisch selbst-
schenkt hatte. ständigen Sätzen zwischen Referattext (sog.
„berichtete Rede“) und Verfassertext unter-
4.9. Die dt. Satznegation steht im allgemeinen schieden werden: er sagte, er habe genug
an der Nahtstelle zwischen Thema- und Rhe- Geld. Seine Eltern hätten ihr Vermögen in Ak-
mabereich, weswegen ihr indefinite Glieder tien angelegt (Referat als berichtete Rede) vs.
regelmäßig nachgestellt werden (was zu Ne- … Seine Eltern hatten ihr Vermögen in Aktien
gationsinkorporierungen wie kein u. ä. Anlass angelegt (Verfasserkommentar). Im Norw.
gibt: er hatte die Zeitung nicht gelesen vs. er kann lexikalische Aufschlüsselung erfolgen:
hatte keine Zeitung gelesen). Die norw. Satz- … Han tilføyde at hans foreldre hadde satt
negation ikke neigt dazu, einem nichtprono- pengene i aksjer (Referat) ,er fügte hinzu,
minalen Subjekt vorangestellt zu werden: det dass …‘. Bei der Redewiedergabe liegt im
hadde ikke den gamle mannen sett ,das hatte Norw. die im Dt. aufgegebene Consecutio
der alte Mann nicht gesehen‘. temporum noch vor: han sier (Präsens) at han
Vor der Satznegation können in beiden har (Präsens) nok penger vs. han sa (Präteri-
Sprachen (Sequenzen von) Satzadverbien tum) at han hadde (Präteritum) nok penger ,er
und Modalpartikeln stehen: das wird er wohl sagt/sagte, er habe genug Geld‘.
doch nicht getan haben bzw. det har han vel Irrealität kann im Norw. durch Präteritum
likevel ikke gjort. Der Partikelbestand des Dt. oder Plusquamperfekt ausgedrückt werden.
dürfte den des Norw. um einiges übersteigen; Das norw. periphrastische Plusquamperfekt
die Partikelsequenz eines dt. Satzes wie geh kann sich sowohl auf die Gegenwart als auch
doch eben schon mal nach Hause! ist ins Norw. auf die Vergangenheit beziehen: hadde jeg
nicht direkt übertragbar. Norw. Partikel- hatt penger, hadde jeg kjøpt ny bil ,wenn ich
strukturen sind dafür topologisch vielfältiger. Geld gehabt hätte, hätte ich mir ein neues
Im gesprochenen Norw. finden sich nachge- Auto gekauft‘, oder: ,wenn ich Geld hätte,
stellte Partikeln: gå hjem, da! ,geh doch mal kaufte ich mir ein neues Auto‘. Das Präteri-
nach Hause‘. Satzmediale Partikeln können tum ist auf Nichtvergangenheitsbezug be-
am Satzende kopiert werden: han har vel ikke schränkt: hadde jeg penger, kjøpte jeg meg ny
gjort det, vel ,das wird er doch wohl nicht ge- bil ,wenn ich Geld hätte, kaufte ich mir ein
tan haben‘. Solches Kopieren ist vor allem bei neues Auto‘ (Leirbukt 1986). Zur Bezeich-
Adverbien und Pronomina im Vorfeld üblich: nung der Irrealität sind vor allem Modalverb-
det var hyggelig, det ,das ist aber nett‘. konstruktionen üblich (s. 5.4.).

5. Verbkategorien und 5.3. Im Perfekt zeigt Norw. neben der älteren


Verteilung von ,haben‘ und ,sein‘ auch noch
Verbkonstruktionen
die Verallgemeinerung von ,haben‘: han er/
5.1. Gegenüber den dt. verbalen Flexionska- har gått hjem ,er ist nach Hause gegangen‘.
tegorien Tempus (Präsens, Präteritum), Mo- Im Neunorw. wird das ,sein‘-Perfekt mit kon-
dus (Indikativ, Konjunktiv, Imperativ), Nu- gruierendem Partizip gebildet, wo dies mor-
merus (Singular, Plural) und Person (1., 2., phologisch möglich ist: han er komen vs. dei
3.) besitzt Norw. nur einen tempusmarkierten er komne ,er ist/sie sind gekommen‘.
Modus mit Präsens/Präteritum-Opposition Dem einen dt. Futurauxiliar werden ent-
und den nichttempusmarkierten Imperativ. sprechen im Norw. desemantiertes skulle ,sol-
Keine dieser Formen weisen Numerus- und len‘ oder ville ,wollen‘: han vil like den boken
Personenunterscheidungen auf: norw. er ,bin, ,ihm wird das Buch gefallen‘; jeg skal gjøre
bist, ist, sind, seid; sei, seiest, seien, seiet‘, var det i morgen ,ich werde es morgen erledigen‘
,war, warst, waren, wart; wäre, wärest, und komme til å: han kommer til å klare det
wären, wäret‘; vær! ,sei!, seid!, seien Sie!‘ ,er wird es schaffen‘.
356 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

5.4. Dt. Modalverben mit dem Infinitiv Per- han antas å komme i morgen ,(wörtl.: er wird
fekt drücken am häufigsten epistemische angenommen zu kommen morgen) es wird
Wertung eines vergangenen Geschehens aus: angenommen, dass er morgen kommt‘, und
er muss es getan haben ,er hat es allem An- über ein sog. „doppeltes Passiv“ mit zwei
schein nach getan‘. Gleiches gilt für norw. Part. Perf.: huset ble forsøkt solgt ,(wörtl.: das
Modalverben im Präsens: han må ha gjort det Haus wurde versucht verkauft) es wurde ver-
,er muss es getan haben‘. Im Prät. drücken sucht, das Haus zu verkaufen‘.
derartige norw. Fügungen deontische Irreali-
tät aus: han kunne/skulle (ha) gjort det ,er 5.7. In der verbalen Wortbildung hat Norw.
hätte es tun können/sollen‘, wobei der Infini- zum einen nichttrennbare Präfixe und zum
tiv des Perfektauxiliars (ha) häufig weggelas- anderen ⫺ der SVO-Struktur entsprechend ⫺
sen wird. Verbfügungen mit postverbaler Partikel: han
oversatte boken ,er übersetzte das Buch‘ bzw.
5.5. In beiden Sprachen ist Aktionalität han gikk over til fienden ,er ging zum Feind
überwiegend eine lexikalische Angelegenheit. über‘. Ursprünglich nach dt. Muster gebil-
Norw. verfügt über koordinative Fügungen dete Präfixverben mit an-, av- (,ab‘), bi-
markiert durativen oder iterativen Charak- (,bei‘), fore- (,vor‘), inn- (,ein‘) usw. bilden im
ters mit teilweise desemantisiertem stå ,ste- Norw. vielfach nichttrennbare Zusammenset-
hen‘, ligge ,liegen‘, drive ,treiben‘, gå ,gehen‘: zungen: han anstrenger seg vs. er strengt sich
han ligger og leser ,(etwa) er liegt da und an; han bistår henne vs. er steht ihr bei. Dem
liest‘. Norw. fehlen Entsprechungen zu den pro-
duktiven dt. Zusammensetzungen mit spre-
5.6. Die Passivmorphologie des Verbs be- cherorientierten Vorsilben auf her-, hin- (her-
schränkt sich im Dt. auf Auxiliarkonstruktio- ab-/hinabfallen) (Askedal 1995b).
nen, während Norw. auch morphematische
Passivmarkierung durch das Suffix -s (im
Präsens und Infinitiv; Neunorw. -st, nur im 6. Satzförmige Komplemente bzw.
Infinitiv) hat. Passivauxiliare sind im Dt. et- Attribute und Nominalisierungen
was zahlreicher vorhanden als im Norw. Dt.
hat aktional neutrales werden, statisches oder 6.1. In mit dass bzw. at eingeleiteten Kom-
resultatives sein: die Tür wird jetzt/ist schon plementsätzen kann die Subjunktion wegge-
geschlossen; und noch dazu kontinuatives lassen werden. Im Norw. bleibt dann die
bleiben mit Part. Perf.: das Haus bleibt den- Nebensatzstruktur mit Finitum nach der Ne-
noch bewohnt. Norw. hat bli (Neunorw. auch gation erhalten, im Dt. aber erfolgt Übergang
verta) ,werden‘ und være ,sein‘. Das Präsens zum Satztyp I mit Zweitstellung des Fini-
des norw. være-Passivs entspricht vielfach tums: han sa (at) han ikke kunne komme vs.
dem Perfekt des dt. sein-Passivs: huset er solgt er sagte, dass er nicht kommen könne bzw. er
,das Haus ist verkauft worden‘. sagte, er könne nicht kommen. In eingebette-
Das neunorw. verta/bli/vera-Passiv wird ten Wortfragen mit Fragewort als Subjekt
mit kongruierendem Partizip gebildet, wo wird im Norw. die Partikel som hinzugefügt:
dies morphologisch möglich ist: han vart sle- er fragte, wer käme vs. han spurte hvem
gen vs. dei vart slegne ,er wurde/sie wurden *(som) kom.
geschlagen‘. Mit Ausnahme von (an)statt, ohne, um
Wohl keine grammatikalisierten norw. können dt. Präpositionen nur Nominalglie-
Pendants haben die entsprechende dt. blei- der regieren, während die Rektion norw. Prä-
ben-Fügung und das sog. gehören-Passiv. positionen auch satzförmige Komplemente
Während im Dt. die sein ⫹ zu-Infinitiv-Fü- umfasst: han avfant seg med at hun hadde for-
gung als weitgehend grammatikalisierte Pas- latt ham. Im Dt. kann statt dessen ein Prono-
sivkonstruktion anzusehen ist, sind die etwai- minaladverb verwendet werden: er fand sich
gen norw. Entsprechungen noch bei der Aus- damit ab, dass sie ihn verlassen hatte.
gangskonstruktion mit adjektivabhängigem
„Ergänzungsinfinitiv“ geblieben: foredraget 6.2. Die prototypischen dt. Relativsatzeinlei-
war lett å forstå bzw. der Vortrag war leicht ter sind flektierende Pronomina, die in unter-
zu verstehen; aber: der Vortrag war nicht zu schiedlichem Ausmaß Genus-, Numerus- und
verstehen vs. *foredraget var ikke å forstå. Kasusflexion aufweisen: der M., F., N. Sg.,
Norw. verfügt auch über passivische („An- Pl. (N, A, D, G); welcher M., F., N. Sg., Pl.
hebungs“-)Konstruktionen mit å-Infinitiv: (N, A, D); was N. Sg. (N/A). Der allgemein
31. Kontrastive Analysen Deutsch-Norwegisch: eine Übersicht 357

übliche norw. Relativsatzeinleiter ist die sub- ziemlich frei herauspermutiert werden (Kvam
junktionale Partikel som (Askedal 1993). Im 1983): vgl. z. B. mit Erstglied aus nachgestell-
Dt. können Relativsatzeinleiter nicht wegge- ter Infinitivkonstruktion: disse dokumentene
lassen werden. Im Norw. wird die Relativpar- mistenker man ham for å ha underslått – vs.
tikel som häufig weggelassen: hvor er boken *diese Unterlagen verdächtigt man ihn, – un-
(som) han gav deg? ,wo ist das Buch, das er terschlagen zu haben; mit Fragewort aus
dir schenkte?‘. Keine Weglassung erfolgt, nachgestellter Infinitivkonstruktion: hva er
wenn som einem Subjekt entspricht, der Rela- han kommet for å hente – ? vs. *was ist er ge-
tivsatz ein nichtrestriktiver ist oder Bezugs- kommen, – um zu holen?; oder mit Relativ-
glied und Relativsatz getrennt stehen. Als Re- satzeinleiter aus einem folgenden Nebensatz:
lativsatzeinleiter fungierende Adverbien und mannen som du tror at du har sett – , er hennes
Subjunktionen können unter entsprechenden venn vs. *der Mann, den du glaubst, dass du –
Bedingungen weggelassen werden: på den ti- gesehen hast, ist ihr Freund.
den (da) han fremdeles bodde på Alderney
,zur Zeit, als er noch in Alderney wohnte‘.
Die norw. Relativpartikel som kann im 6.4. Vor allem schriftsprachliche Varietäten
Unterschied zum dt. Relativpronomen nicht des Dt. neigen in beträchtlich höherem Aus-
Konstituente einer PP sein und wird von ei- maß als Norw. zur Verwendung syntaktisch
ner „hinterlassenen“ Präposition obligato- komprimierender Konstruktionen (Nomina-
risch getrennt: boken som han hadde arbeidet lisierungen, erweiterte Adjektiv- und Partizi-
med – vs. das Buch, an dem er gearbeitet pialattribute) statt entsprechender satzförmi-
hatte. Unmöglich sind im Norw. demnach ger Konstruktionen (Fabricius-Hansen/Ahl-
auch relativsatzeinleitende „Rattenfänger“- gren 1986, Solfjeld 1988): man forderte meine
Konstruktionen: kollegaen som han i mellom- Bestrafung vs. man forlangte at jeg skulle
tiden hadde oppgitt å hjelpe – vs. der Kollege, straffes; sie hatte beim Lesen Maulbeeren ge-
[Inf dem zu helfen] er inzwischen aufgegeben gessen vs. hun hadde spist morbær mens hun
hatte. leste.
Relativsätze sind auch Bestandteile von Bei den Partizipien verfügt Dt. über eine
Satzspaltungen, deren Gebrauch im Norw. dem Norw. fehlende Form, nämlich das mo-
weiter geht als im Dt. Im Dt. werden Spalt- dal-passivische zu … -end-Partizip, dessen In-
sätze ausgehend von den drei grundlegenden halt im Norw. durch Relativsatz wiederzuge-
syntaktischen Funktionen Subjekt, DO und ben ist: von allen Angestellten zu befolgende
IO gebildet: es war Peter, der dem Vater dieses Vorschriften vs. forskrifter som må følges av
Buch geschenkt hatte; es war dieses Buch, das alle ansatte. Bei Part. Präs. und Part. Perf.
Peter dem Vater geschenkt hatte, usw., nor- mit jeweils aktivischem oder passivischem
malerweise aber nicht von Prädikativen und Bezug sowie bei gewöhnlichen Adjektiven be-
Adverbialbestimmungen. In norw. Spaltsät- schränkt sich die norw. Erweiterungsfähig-
zen mit Hervorhebung von Subjekt, DO oder keit im Allgemeinen auf Adverbien und Ad-
IO wird som verwendet: det var Per *(som) verbialbestimmungen: et etter min mening
hadde gitt faren denne boken; det var denne meget godt forslag ,ein nach meiner Meinung
boken (som) Per hadde gitt faren; usw. Im sehr guter Vorschlag‘, während im Dt. alle
Norw. werden Spaltsätze auch aufgrund von (nichtsatzförmigen) Ergänzungen und Anga-
Prädikativen und Adverbialbestimmungen
ben außer dem Subjekt im Prinzip als Erwei-
gebildet. Das Einleitewort (at) wird dann am
terungen möglich sind, so z. B. DO und IO:
häufigsten weggelassen: det var heldig (at)
han var ,er hatte eben Glück‘; det var i Paris die selbst ungeübten Fahrern guten Straßen-
(at) hun hadde kjøpt den kjolen ,das Kleid kontakt vermittelnde Servolenkung vs. servo-
hatte sie eben in Paris gekauft‘. styringen som til og med gir uøvde førere god
veikontakt; und Prädikativ: eine berühmt ge-
6.3. Im Dt. sind Permutationen über Satz- wordene Formel vs. en formel som er/var blitt
grenzen hinweg am ehesten als Extraktionen berømt. Als Entsprechungen solcher komple-
aus extraponierten Infinitivkonstruktionen xer Adjektiv- und Partizipialattribute erschei-
möglich: dieses Problem hatten sie schon ver- nen im Norw. im Allgemeinen Relativsätze
sucht zu lösen, aber auch in solchen Fällen oder gelegentlich auch nachgestellte Partizi-
keineswegs überall möglich. Im Norw. kann pialattribute, z. B.: die von einer Minderheit
dafür sowohl aus infiniten als auch aus fini- erhobene Forderung vs. et krav fremmet av et
ten nichtattributiven Satzkonstruktionen mindretall.
358 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

7. Literatur in Auswahl Fabricius-Hansen, Cathrine (1981): Kontraster og


fejl. Indføring i kontrastiv beskrivelse og elevsprog-
Askedal, John Ole (1984a): Zum kontrastiven Ver- analyse på norsk-tysk grundlag. Oslo (Osloer Bei-
gleich des sogenannten „bekommen/erhalten/krie- träge zur Germanistik 7).
gen-Passivs“ im Deutschen und entsprechender nor- ⫺; Bengt Ahlgren (1986): Å lese tysk sakprosa. Inn-
wegischer Fügungen aus få und dem Partizip Per- føring i grammatisk leseteknikk. Oslo etc.
fekt. In: Norsk Lingvistisk Tidsskrift 2, 133⫺166.
⫺ (1984b): On extraposition in German and Nor- ⫺; Kåre Solfjeld (1994): Deutsche und norwegische
wegian. Towards a contrastive analysis. In: Nordic Sachprosa im Vergleich. Ein Arbeitsbericht. Oslo
Journal of Linguistics 7, 83⫺113. (Arbeitsberichte des Germanistischen Instituts der
Universität Oslo 6).
⫺ (1985): Zur kontrastiven Analyse der deutschen
Pronominalform es und ihrer Entsprechung det im Høyem, Sturla; A. Wilhelm Zickfeldt (1990): Deut-
Norwegischen. In: Deutsche Sprache 13, 107⫺136. sche Lautlehre. Trondheim.
⫺ (1989): Nominalglieder und Passiv im Deutschen Kvam, Sigmund (1983): Linksverschachtelung im
und Norwegischen. In: Linguistische und didakti- Deutschen und Norwegischen. Eine kontrastive Un-
sche Grammatik. Beiträge zu Deutsch als Fremd- tersuchung zur Satzverschränkung und Infinitivver-
sprache. Hg. v. Joachim Buscha; Jochen Schröder, schränkung in der deutschen und norwegischen Ge-
Leipzig, 100⫺111. genwartssprache. Tübingen (LA 130).
⫺ (1993): Relativsatzeinleiter im Deutschen und Leirbukt, Oddleif (1986): Wider die Rede vom „Er-
Norwegischen. In: DaF 30, 246⫺252. satzinfinitiv“. Kontrastiv-didaktische Überlegun-
⫺ (1995a): Geographical and typological descrip- gen zu Modalverbkonstruktionen als Problem des
tion of verbal constructions in the modern Germa- fremdsprachlichen Deutschunterrichts am Beispiel
nic languages. In: Drei Studien zum Germanischen Norwegen. In: JbDaF 12, 1⫺22.
in alter und neuer Zeit. Hg. v. John Ole Askedal;
Pütz, Herbert (1989): Referat ⫺ vor allem Berich-
Harald Bjorvand. Odense (NOWELE Supplement
Vol. 13), 95⫺146. tete Rede ⫺ im Deutschen und Norwegischen. In:
Tempus ⫺ Aspekt ⫺ Modus. Die lexikalischen und
⫺ (1995b): Lexikalisierung und Grammatikalisie- grammatischen Formen in den germanischen Spra-
rung im Bereich der Kontext- und Sprecherbezo- chen. Hg. v. Werner Abraham; Theo Janssen. Tü-
genheit. Kontrastive Überlegungen zur Deixis im bingen (LA 127), 183⫺223.
Deutschen, Englischen und Norwegischen. In:
Deutsch als Fremdsprache. An den Quellen eines Solfjeld, Kåre (1988): Sprachwechsel und Stilwech-
Faches. Festschrift für Gerhard Helbig zum 65. Ge- sel. Übersetzung deutscher Sachprosa ins Norwegi-
burtstag. Hg. v. Heidrun Popp. München, 575⫺ sche. In: Teaching translation. Papers read at a sym-
596. posium at Stockholm University, 6⫺7 March 1987.
Bech, Gunnar (1955/57): Studien über das deutsche Stockholms universitet (PU-Rapport 1988, 1),
verbum infinitum. Bd. 1⫺2. Kopenhagen. 50⫺66.
Engel, Ulrich (1988): Deutsche Grammatik. Heidel-
berg. John Ole Askedal, Oslo (Norwegen)

32. Kontrastive Analysen Deutsch-Französisch: eine Übersicht

1. Einleitung munikation scheinbar nicht geändert (Bau-


2. Laut, Schall und Ton mann/Kalverkämper 1992, 13 und 100). Es
3. Grammatik gibt bislang keine Fachzeitschrift, keine Pub-
4. Lexikon
likationsreihe, keine Arbeitstagung exklusiv
5. Literatur in Auswahl
zu dieser Thematik. In deutsch-französischen
(d-f) linguistischen Kolloquien werden ein-
1. Einleitung zelne Phänomene wohl in beiden Sprachen
behandelt, aber fast ausschließlich parallel
Wenn die Abwesenheit der Romania von der und auf Distanz, so dass Blumenthal (1987)
kontrastiven Pionierbewegung der 70er Jahre und Rovere/Wotjak (1993) ziemlich einsam
ausdrücklich bedauert wurde, so hat sich für bleiben auf weiter Flur. Das fehlende öffentli-
das Französische die Lage nach einer Gene- che Bekenntnis zur d-f kontrastiven Lingui-
ration im Zeitalter der interkulturellen Kom- stik darf jedoch über wesentliche interlin-
32. Kontrastive Analysen Deutsch-Französisch: eine Übersicht 359

guale Erkenntnisse bei Germanisten und Ro- meinplatz des arbiträren F vs. motivierten D.
manisten nicht hinwegtäuschen. Dieser Sach- In beiden Sprachen übertrifft die Arbitrarität
verhalt ist eine natürliche Folge der unter- die Motiviertheit und die Ableitung die Kom-
schiedlichen Bildungssysteme, dem Zwei- position. Der Kontrast reduziert sich auf die
und Mehrfachstudium in d Ländern, dem etymologische Transparenz im D, auf jene
Einfachstudium in Frankreich. Für das Spra- Aspekte der Konkretheit und Details, über
chenpaar Deutsch-Französisch (D-F) schei- die sich das F spontan hinwegsetzt.
nen linguistische Persönlichkeiten, ihre Intui-
tion und Initiativen mehr denn linguistische
Schulen die kontrastive Forschung geprägt 2. Laut, Schall und Ton
zu haben. Der f Individualismus bleibt ein
Bollwerk gegen doktrinäre Muster, hinter Angesichts des Stellenwerts von Mündlich-
dem sich heute auch gerne d Romanisten ver- keit für die Kommunikation haben die ent-
schanzen. Die europäische Wissenschafts- sprechenden Phänomene noch nicht die ange-
kooperation (PROCOPE) ist ihrerseits nicht messene kontrastive Beachtung gefunden.
unbeteiligt an der Verwirklichung von kon- Diese Tatsache spiegelt den oft beschworenen
trastiven Programmen. Primat des Geschriebenen wider, aber auch
Die für diesen Band gewünschte Aufstel- die Schwierigkeiten der Übertragung von Ka-
lung von Divergenzen darf über das Vorhan- tegorien des Schriftlichen auf das Mündliche.
densein von Konvergenzen gerade bei zwei Die d-f Interferenzen im Bereich der Ok-
genetisch relativ nahen Sprachen nicht hin- klusive /p, t, k/ und /b, d, g/ werden von Kün-
wegtäuschen. Angesichts der hier geltenden zel (1977) untersucht und der Sprachschall
Umfangsbegrenzungen werden Arbeiten aus anhand eines Oszilloskops visuell und auditiv
Morphosyntax und Semantik vorwiegend kontrolliert. Feuillet (1972) vermittelt dem
der jüngsten Generation gewürdigt; was die Frankophonen die Varianten dieser d Pho-
sehr aktuelle kontrastive Forschung zu Text, neme anhand von deren distinktiven Merk-
Übersetzung und Didaktik betrifft, muss auf malen und widmet sich (1982) der Spezifität
erste Überlegungen wie Gréciano (1997), Be- der d Vokale. Über Transferenz und Integra-
sançon (1997) und Gautier (1998) verwiesen tion f Laute im D zeigt Volland (1986) die Di-
werden. Auch Sprachbelege bleiben exempla- vergenzen der Systeme; diese bestehen vor-
risch. wiegend bei den Vokalen: offene Artikulation
Als programmatisch kontrastive Grundla- ⫹D, Artikulationsspannung ⫹F. Das Inter-
genforschung können die Arbeiten von Kop- esse gilt den Anpassungsprozeduren und
penburg (1976) und Scheidegger (1981) ange- -gründen: Dehnung betonter Vokale, oft mit
sehen werden, die zeichentheoretische Über- Qualitätsänderung (Parole, Porträt), Integra-
legungen und konkrete Vergleiche von Wör- tion über Gebrauchsfrequenz, Transferenz
tern, Wortfeldern und Wortbildungen anstel- für Typizitäten. Bei den Konsonanten unter-
len. Koppenburg (1976) widmet seinen kon- scheiden sich die initialen Plosivlaute, aspiriert
trastiven Blick in der Tradition von Wan- ⫹D/⫺F; stimmhaft präpalatale Frikative /z/
druszka (1969) der Konvergenz als dem werden doppelt so oft transferiert, besonders
Ausdruck der sachlichen, fachlichen und kul- bei Fremd- und Lehnwörtern, als stimmlos /s/
turellen Affinität Europas. Divergenzen sind integriert oder erscheinen in Leseaussprache
die natürlich gegebenen instrumentalen Gren- (General); das palatale /n/ ist meistens inte-
zen und bleiben die Herausforderung zu griert (Kognak) oder in Leseaussprache (sig-
Konvergenzstiftung. Der Linguist macht auf- niert). Nasalvokale transferieren im Süden,
merksam auch auf das Prinzip des divergie- integrieren im Norden.
renden Gebrauchs von Konvergenzen. Scheid- Türks (1994) kontrastive Untersuchung
eggers (1981) kritische Auseinandersetzung zum Prosodem verwirklicht eine Einbindung
mit dem bekannten Grundkontrast zwischen in Kontext und Situation; sie geht von einem
dem rationellen F und dem emotionalen D Korpus d und f Werbespots aus und zielt auf
ist eine zweite Einführung in die kontrastive textsortenspezifische Extrapolationen. Las-
Thematik. Nach säuberlichster Trennung der sen sich Laute (Diphthonge, Affrikaten, Spi-
Meinungen der Pioniere verlagert er (1981, ranten usw.) isoliert und kontextfrei üben, so
37) diesen schematischen Gegensatz auf den stellt sich der Wechsel von einer endbetonen-
Zusammenhang zwischen Motiviertheit und den zu einer frei akzentuierenden Sprache
Syntagmatik. Die empirische Untersuchung weniger einfach dar. Eine Brücke könnte die
des d-f Grundwortschatzes widerlegt den Ge- sich zunehmend bemerkbar machende, häu-
360 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

fig noch sozio-professionell geprägte An- tenlogik erklärt. Der Autor entwickelt eine
fangsbetonung des modernen F bilden, die differenzierte Äquivalenzerwartung, die die
zu Doppelaktzentuierung von Lexemen oder notwendigen Mehrfachentsprechungen zwi-
semantisch eng gebundenen Lexemgruppen schen Lexematik, Morphematik, Taxematik
führt. Die illokutionäre Funktion dieses f Er- und Graphematik sicherstellt. Die auffällig-
satzakzents findet sich im D insofern wieder, sten Kontraste kreisen um das Nominal-
als der Sprecher je nach Kommunikationsbe- kasus- und das Verbalrektionssystem. Die
dürfnis jede akzentogene Silbe, in der Wer- Relationsbedeutung z. B. äußert sich im D
bung sogar manchmal jede Silbe, betonen morphematisch, im F lexematisch und taxe-
kann. Die Situation als Kriterium und Regu- matisch. Auf eine morphematische Subjekt-
lativ macht Verwirrung stiftende Akzent- indizierung im D antwortet die taxematische
typen (Haupt-, Nebenakzent; emphatischer, Regelmäßigkeit im F: Nominativ vs. Erststel-
neutraler Akzent usw.) überflüssig und er- lung. Im Satzbau bestehen augenfällige Unter-
leichtert dem Frankophonen den Zugang zu schiede: klar und deutlich gleich Schachfigu-
ungewohnten prosodischen Strukturen. Und ren im D, verschüttete, verschlüsselte, ver-
anstatt der Einschränkung auf den Satz oder streute Strukturen im F, was Blumenthals
einer umstrittenen Anzahl von Tonmustern (1987) Beobachtung bestätigt: spezifizieren-
⫺ sie schwanken zwischen 3 und 11 ⫺ ent- der Ausdruck im D, relationaler im F.
scheidet die jeweilige Situation, ob eine melo-
3.1. Kategorien
dische Öffnung (progredientes Muster) oder
ein melodisches Schließen (fallendes Muster) Im Nominalbereich hat sich die Determina-
angebracht ist. tion als heikler und daher beliebter kontrasti-
ver Untersuchungsgegenstand behauptet (Blu-
menthal 1987, 85f.). In Rovere/Wotjak (1993,
3. Grammatik 191f.) erörtert Lavric noch einmal empirisch
und theoretisch die Teil- und Quasiäquivalen-
In den Bereich des Sprachsystems gehören zen: jeder vs. chaque (distributive Gesamtheit
vorwiegend aktuelle Standardgrammatiken, ⫹D/⫺F); einige vs. quelques (weitere Exten-
die europäische Bildungssprachen miteinan- sion ⫹D/⫺F); dieser, jeder vs. ce, ce … ci, ce
der vergleichen. In Glinz (1994) kommt der … là (Restriktivität ⫹D/⫺F); Determination
Morphosyntax des D und F der ihnen gebüh- ⫹D/⫺F. Kamm belegt an gleichem Ort
rende Stellenwert zu. Glinz thematisiert die (311f.) die zwischensprachliche Textsortenab-
Unterschiede nach traditionellen Klassen: hängigkeit des Gebrauchs von Determinan-
den Wortarten (Pronomen im D, détermi- ten anhand von Belletristik und Rechtstex-
nants und pronoms im F), den Satzgliedspe- ten. Definitartikel zeigen sich textsortenindif-
zifika (Prädikat im D, attributs und complé- ferent, aber einzelsprachspezifisch, weil sich
ments circonstanciels im F), nach Genus im F die Generalisierung von den Artikeln
(drei im D, zwei im F), Kasus (Restbestand/ auf definitorische Kontexte verlagert; die d
Morphemschwund im F), Tempus (Mehrzahl und f Divergenz von Indefinit- und Demon-
der Vergangenheitstempora im F) und der strativformen jedoch ist textsortensensibel:
syntaktischen Verknüpfung (Unauffälligkeit les Etats/diejenigen Mitgliedstaaten, la santé/
der Nebensatzstruktur und Frequenz der In- Gesundheit, à ces comités régionaux/in den
finitiv- sowie Partizipsätze im F). Dadurch, Regionalkomitees.
dass der Vergleich in der Fremdsprache (FSp) Den Verbalmorphemen werden durch
zum Tragen kommt, entlastet er auf willkom- Confais (1990) neue Zeichen gesetzt. Die Per-
mene Weise den FSperwerb. spektive ist wie angekündigt nicht verglei-
Deutsch als Fremdsprache (DaF) gewinnt chend. Universelle Grammatikkategorien wer-
von Zembs (1978) Korpusverteilung, D im f den einzelsprachlich auf ihre erklärende Adä-
und F im d Teil. Es handelt sich um die Vor- quatheit hin geprüft, was sich wie erwartet
stellung und Diskussion der jeweiligen Typi- zum wahren Nährboden für weitere kontra-
zitäten, um einen Sprachvergleich, der nicht stive Schlüsse entfaltet. So kommt es, dass
an parallele Kategorien und Strukturen ge- die Überprüfung von übereinzelsprachlichen
bunden ist, der sich vielmehr ein breites Thesen Kontraste in beiden Sprachen zu Tage
Äquivalenzpotential zum Ausgang macht fördert, vor allem in den Gebrauchsbedin-
und dieses anhand einer universellen logi- gungen und -implikationen. Unter den f Ger-
schen (Tiefen)Struktur nach Thema, Rhema manisten festigte sich seit einer Generation
und Phema über Prädikaten- und Argumen- die prinzipielle Differenzierung von Tempus,
32. Kontrastive Analysen Deutsch-Französisch: eine Übersicht 361

Modus und Aspekt, die auch intrakategorial doppelung der Verbformen bei kategorialer
und interlingual belegt werden kann. Zemb Division in grammatische Information für das
(1978, 283) z. B. gibt folgenden Überblick für Auxiliar und semantische Information für das
die d-f Modusasymmetrien: Auxiliat: verstehe/comprends J werde verstan-
den/suis compris;
Discours indirect Indicatif Subjonctif (iii) einen Wechsel des Auxiliars zum Auxiliat mit
Hypothèse einzelsprachspezifischer linearer Reihung, End-
stellung nur im D: bin verstanden worden/ai
O/sei est/ist soit/O O/wäre
été compris.
fut/war fût/O
Blumenthal (1987, 66) macht seinen d-f Tem- Auch bei François (1989) steht der Vergleich
pusvergleich auf den Ebenen der Syntax, Se- nicht im Zentrum. Dennoch gewinnt das
mantik und Pragmatik und schließt auf die Sprachenpaar D-F typologisch und kon-
zentrale Rolle von aspektuellen Unterschie- trastiv von der praktischen Beweisführung
den in f Vergangenheitstempora sowie vom der theoretischen Positionen zu aspektuellen
pragmatischen Gegensatz zwischen subjekti- Verbkategorien. Diese postgenerative mor-
ver und objektiver Vergangenheitssicht im D. phosemantische übereinzelsprachliche Studie
Confais (1990) inkriminiert für die Modus- kreist um den Begriff Überführungsfunktion:
kontraste SUBJ vs. KONJ I die im D domi- Zustand; Handlung; Vorgang. Sie konzen-
nierende berüchtigte Wahrheit, für die Tem- triert sich auf den Vorgangsverlauf und die
puskontraste PRÄS vs. FUT die im F ausge- Beteiligungsmodalitäten: Veränderung, Be-
prägtere temporale Markiertheit. Die erklä- wirkung, Handlung: in Aufregung sein/kom-
rende Beobachtung geht hier bis zu universel- men/bleiben/jdn. … halten: resultativ/ingres-
len Thesen, wie siv/kontinuativ/kausativ. Die Anwendung die-
ser semantischen Forschungsbilanz auf das D
(i) der Komplementarität von Tempus, Modus und F zeigt die Beschränktheit von getrennt
und Aspekt, weil sie deren Differenz voraus- aspektuellen und partizipativen Klassifika-
setzt; tionskriterien. D und f Verben der Verände-
(ii) der Einschränkung ihrer referentiellen Dimen-
sion zugunsten ihrer textuellen und illokutiven.
rung widerlegen die propositionale Lesart des
Bewirkers als Subjekt: Die Kartoffeln verfaul-
Zemb, Blumenthal und Confais stimmen ten vor Nässe. La peinture déteint au soleil.
darin überein, dass Temporalität verb- und Kontraste zeigen sich in den Präferenzen: In-
satzübergreifend eine kognitive und illokutive transitivkonstruktion mit Passiv-Subjekt und
Diskurskategorie ist in morphologischer, le- Hilfsformen im D (Durch die Überschwem-
xikalischer und syntaktischer Vernetzung, für mung ertrank die Familie. Die Überschwem-
die die Wissens- und Verstehenskontrolle mung ließ die Familie ertrinken.); Transitiv-
durch den Hörer⫺Leser bedeutungskonstitu- konstruktionen mit Bewirker-Subjekt und
tiv ist. Pseudoreflexiva im F (L’inondation a noyé la
Neben oberflächlicheren Unterschieden in famille. La famille a été noyée par l’inonda-
der Zahl der temporalen und modalen tion.). Kontraste fordern Erklärungen: Ein
Grundformen (7 im F, 4 im D), sowie der der weiteres Haus wird gebaut/On construit une
personalen (6 im F, 5 im D), wird immer wie- nouvelle maison ⫺ Vorgang durch Agens kon-
der der Hauptkontrast im Auxilsystem the- trolliert. Die Ziegel werden vom Dach fortge-
matisiert. Augenfällig, besonders in den hori- rissen/Les tuiles s’envolent du toit ⫺ Kausativ-
zontalen Baumgraphiken (Janitza 1971) und verlust. Ein differenzierter Katalog (368)
Schmetterlingsfiguren (Zemb 1978) bleibt der übersetzt die d reflexive Resultativform ins F:
Unterschied in der zentripetalen vs. zentrifu- Das Paar hat sich nach vorne getanzt/Le cou-
galen Entfaltung, nach dem Prinzip determi- ple a si bien dansé qu’il occupe une des premiè-
nans J determinatum im D, determinatum J res places.
determinans im F: bin verstanden worden vs. Von Trubetzkoy hat Faucher (1985; 1988)
j’ai été compris. Confais erkennt darin den den in der Syntax unbeachtet gebliebenen
Fortschritt einer entgrammatikalisierenden kontrastiven Parameter der Abgrenzung
Lesart. Die in den Arbeiten von Janitza übernommen, der sich für das D als wesent-
(1971), Zemb (1978) und Gréciano (1994) lich, für das F als unwesentlich gestaltet. Als
einstimmige Erklärung geschieht über syntaktische und semantische Kategorie in
(i) eine Aufwertung der Auxilformen zur Basis; ihrer logischen, pragmatischen und kogniti-
(ii) eine strukturelle Teilungsregel in Auxiliar und ven Potenz erhellt diese kulturabhängige und
Auxiliat: formale Multiplikation durch Ver- -schaffende Abgrenzung den d-f Kontrast
362 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

nicht nur im Umgang mit dem Komma (⫹D/ wohl als rhematische Elemente zu einem prä-
⫺F), sondern auch in Bezug auf Verbstel- dikativen V als auch als thematische Ele-
lung, Verbzusätze, Verbalisierung des Satzen- mente ein N spezifizieren: est charmante, gen-
des, Infinitivsyntagmen als abgrenzende Sub- tille enfant. Den Hauptbestand der d A-Le-
strukturen, Komposita (⫹D/⫺F). Die Ab- xeme bilden jene A zu prädikativen und vol-
kapselung wird wettgemacht durch Partikel- len V, zu N und A: ist schlau, schlauer Kopf,
gebrauch (⫹D/⫺F), Vorgreifern des Neben- schlau ausdenken.
satzes (⫹D/⫺F), Ko- (⫹D/⫺F) und Subordi- Die Verbvalenz ist auch kontrastiv am er-
nationen (⫺D/⫹F). Zu dem Gewinn von giebigsten erforscht. So werden Verbumge-
Konvergenz zwischen Phonologie und Syntax bungen, -komplexe, -gruppen und Sätze zu
gesellt sich eine dynamischere Füllung der Einträgen von Distributions- und Kontext-
Humboldtschen Begriffe innere Form, ener- wörterbüchern, die sich der Datenverarbei-
geia als zur Zeit des statischen Strukturalis- tung erfreuen. Zeigt die Valenz zwischen-
mus. sprachlich syntaktische und semantische Di-
Aufschlussreich für Fachübersetzungen vergenzen ⫺ z. B. Umstände als Subjekt ⫹F/
sind die von Conez/Kriepel (1998) erhobenen ⫺D, Passiv ⫹D/⫺F ⫺, so deckt sie logische
Konkordanzen zwischen Reflexiva und den Konvergenzen auf. Interlinguale Kontraste
Passiv- sowie Reflexivkonstruktionen. fordern zur Explizierung der Mikrostruktu-
ren heraus, zu Valenzangaben, Satzbauplä-
3.2. Kombinatorik nen, lexikalischer Kombinatorik. Brauße
Kontrastiv hat sich das Valenzmodell als er- (1980) führt den gesamten Kollokationsum-
giebig erwiesen, was in Grammatiken und be- fang auf die Verbvalenz zurück. In der ak-
sonders Wörterbüchern deutlich wird und tuellen integrierten Fassung (Gréciano 1991)
nicht ohne positive Rückwirkung bleibt auf vermag Valenz, die nicht-isomorphen Ebenen
die FSpdidaktik (Zöfgen 1982; Schumacher Logik, Semantik und Syntax zu verbinden,
1995). So wurden auch Nominalien bereits den Unterschied zwischen Kette und Struk-
durch Zemb (1978) als thematische Funktion tur aufzuheben und eine treffende Erklärung
über Valenz definiert: ein N bezeichnet be- für intra- und interlinguale formale Differen-
deutend. Außer Eigennamen verlangen die zen bei logisch-semantischen Konvergenzen
meisten N eine Bezeichnungshilfe (D⬘) oder zu finden: jdm. helfen/jdn. unterstützen/aider
Bezeichnungszusätze (A). Während die Le- qqn.; auf jdn. warten/attendre qqn. Zöfgen/
xemklasse D⬘ an die Lexemklasse N gebun- Bockslaff (1982) bleibt eine wertvolle Basis
den ist, können sich die A-Lexeme auf noch für die noch ausstehende Kontrastierbarkeit
andere Bedeutungsträger beziehen: A zu V, als Überprüfung der These von der relativen
A zu N, A zu A. A-Lexeme sind notwendig, Selbständigkeit der f Verballexeme, die der
wahrscheinlich oder unnotwendig und modi- Ergänzungen/Aktanten/Argumente weniger
fizieren den jeweiligen Kern durch Ein- bedürfen als die d. Vergleichend erkennt Blu-
schränkung oder Hinzufügung von Bedeu- menthal (1987) die größere Valenzgebunden-
tungen; sie stehen in der Valenz von N, V und heit des f Satzes und widmet sich der entspre-
A. Die Fähigkeit eines A, andere Lexeme zu chenden semantischen Rollenverteilung von
bestimmen, nennt Zemb (1978) die Potenz. Raum und Zeit. Wotjaks (1989) untersuchen
Belin (1976) widmet sich den sehr differen- einzel- und zwischensprachlich die Aktantifi-
zierten Potenzverhältnissen im D und F. Eine zierungen, Inkorporierungen und Transfers.
kontrastive Potenztabelle zeigt zu jedem Typ, Die europäische Wissenschaftskooperation
welche Determinationsfunktionen erfüllbar (PROCOPE) hat ein kontrastives Projekt zu
sind. Von den A mit 4 Potenzen (wie fort in d-f Funktionsverbgefügen gefördert. Es geht
rester fort, forte femme, aboyer fort, fort gen- um die zweisprachige lexikographische Erfas-
til oder hoch in hochnehmen, (auf) hoher See, sung der Prädikatsnomen in ihren mehr oder
hoch stimmen, hochmodern) zu den A mit ei- weniger festen Umgebungen, wobei auch die
ner einzigen Potenz nur zu prädikativen V Kombinierbarkeit der Elemente Beachtung
(être quitte, schuld sein), nur zu N (in affaires findet. Das bearbeitete Korpusmaterial be-
culturelles (*les affaires sont culturelles), heu- trifft die Abstrakta Bericht/Folge/Differenzie-
tiger Tag), nur zu V (mener rondement, ungern rung/Grund/Frage und conséquence/suite/sé-
arbeiten) und nur zu anderen A (wie très in- quelle. Kubczak/Costantino (1996), ähnlich
telligent, höchst selten) gibt es die verschie- Heuschelmann in Rovere/Wotjak (1997, 19f.)
densten Kombinationen. Den Hauptbestand zeigen, wie der Valenzbegriff über Situations-
des f A-Lexemsystems bilden jene A, die so- semantik und Gebrauchsbedingungen an-
32. Kontrastive Analysen Deutsch-Französisch: eine Übersicht 363

hand von Satzeinbettungen und anschließen- gelingen idiomatische Entsprechungen für die
den Löschungen der Ergänzungen/Aktanten/ 150 gewählten Wendungen.
Argumente und des Stützverbs die entspre- PROCOPE unterstützte das d-f Projekt
chenden Prädikatsnomen und deren interlin- zur kontrastiven Phraseologie CONPHRAS
guale Divergenzen beschreibt: einen Bericht (Gréciano/Rothkegel 1997). Die Ergebnisse
erstellen/eine Darstellung/Mitteilung machen; laufen auf strukturale und diskursive Kon-
faire un compte rendu/un rapport/un repor- vergenzen hinaus. So das Begriffsfeld ER-
tage; Bericht über/von/zu/wonach/rapport sur/ FOLG, das phraseographisch für das D und
de/concernant/selon. Die Umgebung prädika- F von Drillon belegt wird in seinen Vorzugs-
tiver Nomina wird somit nicht über die Ver- bereichen, seinen Wegen, Merkmalen und
erbung der Umgebung des entsprechenden Folgen. Die Produktivität dieses Begriffes
Vollverbs erklärt, sondern über die Einbet- wird in Texten beider Sprachen aus dem Be-
tung in einfache Sätze sowie, besonders im D, reich Sport besonders deutlich, und man fin-
gewisse Idiosynkrasien, was die Wichtigkeit det wenig Kontraste auch zwischen den ver-
dieses Projekts für Frankophone und Über- anschaulichenden Bildern: Bewegung durch
setzer besonders deutlich macht. Man beob- Vögel, Schiffe und Mechanik vor einem Hin-
achtet hier den Übergang von der Gramma- tergrund des Wunderbaren. Geringe Diver-
tik zur Lexikologie und Lexikographie, die genzen treten bei Nahon in phraseologischen
für die kontrastive Linguistik mitbestim- Vergleichen zutage, in ihrer strukturalen Ein-
mend sind. gliederung: PräpG im F, Adv im D; freie hy-
Neben Einzelanalysen zur Grammatik perbolische Wortbildungen im D, konno-
(Tempora) geht Zimmers (1990) Kontextwör- tierte Komparanda: gras comme un moine.
terbuch entschieden in Richtung Lexik und Kontraste ergeben sich vor allem in der
Korpus. Kontext bedeutet sowohl Distribu- Struktur, die, laut Stumpf, zeichengemäß
tion als auch Domäne. Die 10 000 Korpusbe- auch eine Bedeutungsindizierung ist. So rich-
lege sind mehr oder weniger abhängig davon. tet sich die formale und inhaltliche Teilbar-
Der Autor bedient sich einer weit gefassten keit und mit ihr die (An)Spiel(ungs)potenz
und daher treffenden Äquivalenz, die über des Phrasemgebrauchs nach dem Analytizi-
eine Vielzahl von Übersetzungstechniken er- tätsgrad der jeweiligen Sprache: diskonti-
reicht wird. Er setzt an bei den bestehenden nuierliche Verteilung im F.
Lücken der d-f Lexikographie: einmal bei der Über Kollokations-, Konstruktions- und
Aktualität des Wortschatzes, der die heute Kontextwörterbücher ist eine bilinguale
geläufigen Fachtermini aus Politik, Wirt- elektronisch machbare Lexikographie im
schaft, Sport, Technik und Kultur miteinbe- Entstehen, die die Wörterbucharbeit über
zieht; zum anderen bei der kollokativen Dar- Kopisten und Sammler fortan in Frage stellt
stellung dieses Wortschatzes, nach Haus- und übergeht von der Struktur in die Kultur.
manns Prinzip des Wortschatzlernens über Verlangt werden pro Sprachenpaar vier Wör-
die Kollokation. Der abschließende d-f Index terbücher, für den aktiven und passiven Ge-
ist eine effiziente Gebrauchshilfe. Die theore- brauch mit morphosyntaktischen und prag-
tischen Überlegungen und das Äquivalenz- masemantischen Mikro- und konzeptuellen
korpus bestätigen Ko- und Kontext als Sitz Makrostrukturen. Dieser differenzierte An-
des Kontrasts, der einen weiten Synonymen- satz bewährt sich auffallend gut für Sprach-
spielraum hat, dessen Ausgleich einer diffe- phänomene ohne interlinguale 1 : 1-Entspre-
renzierten Sprachkultur bedarf; daher Adap- chungen. Kromann (1989) illustriert sein Mo-
tationen und Entlehnungen bei Institutio- dell für das Sprachenpaar D-F: ,Kaffee zu
nen: Conseil d’Etat/Staatsgerichtshof/Staats- sich nehmen‘: Kaffee nehmen/trinken/genie-
rat; Académie française, la Coupole/die Fran- ßen/schlürfen/machen. Gréciano (1992) prüft
zösische Akademie; CAPES et agrégation/CA- kontrastiv die Begriffsstreuung und den Kul-
PES und agrégation; un vrai Trafalgar/ein turwert über den Kollokator Herz mit seinen
echtes Waterloo; ein wahres Waterloo/une Bé- diversen Kollokaten: ,Glück‘: s’en donner à
rézina. Den Kern dieses Kontextwörterbuchs cœur joie, da lacht das Herz im Leibe; ,Un-
bildet natürlicherweise die Phraseologie, da glück‘: avoir le cœur lourd, schweren Herzens;
laut Praseologieforschung ⫺ Zimmer bleibt ,Güte‘: avoir bon cœur, sein Herz auf dem rech-
die Erklärung schuldig ⫺ idiosynkratisch ten Fleck haben; ,Bosheit‘: avoir un cœur de
festgeprägte Mehrgliedrigkeit und Figuriert- pierre, ein schweres Herz haben; ,Liebe‘: por-
heit Äquivalenzen intra- und interlingual er- ter qqn. dans son cœur, jdm. ans Herz gewach-
schweren. Der Sprachkompetenz des Autors sen sein. Aktuelle Ansätze in der d-f Lexiko-
364 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

graphie bestätigen Reichmanns (1987) Vor- Unterschiede über Perspektivierung, d. h. ein-


stellung eines Kulturwörterbuchs, in dem die zelsprachliche Fokussierung über Präsuppo-
syntagmatische, oft metaphorische Einbet- sition und Aspekt. Die Frequenz von kommen
tung der Schlüsselwörter die Kulturspezifik gegenüber venir gründet in der Neutralisie-
erfasst und begründet. rung der deiktischen Komponente zugunsten
anderer Bedeutungselemente im D.
Bereits Schepping (1982) untersucht auf
4. Lexikon logisch-semantischer Basis und nach syntak-
tischer Distribution die d und f Verben des
Wortschatzarbeit entwickelt sich entlang
Visuellen, wobei der Übergang von der
strukturalistischer Wortfeldtheorien bis zur
Wahrnehmung zur Handlung mit der Intensi-
kognitivistischen Prototypensemantik. Der
tät, den Modalitäten und der Zahl der betei-
Sprachvergleich verläuft über Wörterbuch
und Übersetzung. Im Anschluss an frühe und ligten Größen zusammenhängt (192). Der
wichtige Stellungnahmen zur kontrastiven Autorin gelingt es, d-f Divergenzen und Kon-
Grammatik gilt Schwarze (1985) als feder- vergenzen zu erklären: sehen inf. für Sachver-
führend für eine Arbeitsgruppe zur d-f kon- halt als Experient; voir inf. für Sachverhalt
trastiven Lexikologie. Im Mittelpunkt steht als Ereignis und Verlauf, kompatibel mit Ak-
auch hier das Verblexikon, in seiner Wort- als tionsart (Pierre voit Paul commencer à travail-
auch Wörterbuchdimension, wegen seiner se- ler/?Peter sieht Paul anfangen zu arbeiten); se-
mantisch zentralen Funktion in der Festle- hen, wie/voir, relative perceptive für Sachver-
gung von Sachverhalten und der daran betei- halt als gleichzeitiger Verlauf (Anna sieht, wie
ligten Rollen. Originell ist Schwarzes Hypo- Klaus ein Buch kauft/Pierre voit Anna, qui
these (1985, 36), nach der Wörter ⫺ interlin- achète un livre), perfekte Konvergenz bei se-
gual im System oder Gebrauch in Beziehung hen, daß/voir que in der Referenz auf dedu-
gebracht ⫺ syntaktische und semantische zierte Erkenntnis (74).
Komplikationen und Kontraste aufdecken François (1989) nimmt die Fallstudien in
(mettre, je nach Kontext: setzen/stellen/legen; Schwarze (1985) noch einmal auf und gibt
Hilfe: aide/secours/assistance). Diesem Kern- dem Lexikonvergleich ein ganz besonderes
problem soll mit der Annahme einer Grund- Relief. Das Wortfeld heilen/guérir und repa-
bedeutung begegnet werden, die aufgrund rieren/dépanner drückt positiv bewertete Zu-
von Übertragung, Bedeutungszerlegung und standsveränderungen in Bezug auf Krankheit
Sinnrelationen in einer übereinzelsprach- und Schaden aus, die nach den Beteiligten
lichen Repräsentationssprache erfasst wird. (Gegenstand, Schaden, Ursache und Art der
Schwarze (1985) zielt auf die Formalisie- Veränderung) strukturiert werden. Das Wort-
rung von Äquivalenzen (Ä) und Kontrasten feld um apprendre/erlernen, erfahren wird
(K) und die Explizitmachung der Kontextin- nach dem Kasusrahmen Nutznießer, affizier-
formation, die für die Herstellung der Ä und tes Objekt, fakultativer Bewirker gegliedert,
die Aufhebung des K verantwortlich ist. wodurch die zwischensprachlichen Kontraste
Nach entsprechend differenziertem Protokoll eine Erklärung finden, z. B. die vorrangige
werden in diesem Sammelband und in zusätz- Subjektfunktion für den bewirkenden Sach-
lichen Monographien mehrere Wortfelder verhalt im F (Son séjour chez les moines ti-
untersucht: Verben des Ortswechsels (Schly- bétains a appris à Paul à être plus modeste),
ter), der visuellen Wahrnehmung und Hand- für den Nutznießer im D (Durch den Aufent-
lung (Schepping), heilen und reparieren, ler- halt bei den tibetanischen Mönchen hat Paul
nen und erfahren (François/Schwarze). Auf- gelernt, bescheidener zu sein). Die Begriffsfel-
schlussreich an diesen Analysen sind die Prin- der ATMUNG und WISSENSERWERB,
zipien der Ä-Herstellung. Konvergieren d- -TRANSFER werden in der Vielfalt ihrer
f Bewegungsverben marcher/gehen, so gibt es Versprachlichung untersucht (436⫺610), und
Divergenzen in der Rollenverteilung um die d-f Kontraste finden aufgrund von lexiko-
Verben des Ortswechsels: D Verben ohne graphischen Analysen und Informantenbe-
Herkunfts- und Zielangaben werden im F fragung eine semantische Merkmal- und syn-
durch Bewegungsverben wiedergegeben (Er taktische Distributionserklärung. Tabellen,
geht auf der Straße/Il marche dans la rue.). Äquivalenz- und Transferdateien registrieren
Auch in Rovere/Wotjak (1997, 215f.) geht die Unterschiede in der obligaten Natur der
Rösner noch einmal auf kommen vs. gehen/ Aktantennennung sowie in den Merkmalsub-
venir vs. aller ein und erklärt die wesentlichen kategorierungen und erklären so die interlin-
32. Kontrastive Analysen Deutsch-Französisch: eine Übersicht 365

gualen Divergenzen in der Versprachlichung eine entsprechende mikrostrukturelle Anpas-


durch Mono- und Polylexeme. sung erfährt. Der Kotext erlaubt es, auf die
Dupuy-Engelhardt (1997) ist Schallereig- distinktiven Stellungen und Kookkurrenten
nissen im d und f Wortschatz gewidmet. einzugehen. Der Kontext gibt die differen-
Diese Analyse ist die kontrastive Umsetzung zierten Äußerungstypen zu erkennen. Die
der gewonnenen Erkenntnisse zum D auf- Übersetzung ist eine Hervorhebung der kom-
grund von Merkmalsemantik. So setzen Fre- munikativen Wirkung, auch optisch, wobei
quenzerklärungen zum D und F bei Semen besonders der Mehrfach- und Nullüberset-
an. Die allgemeine Asymmetrie von son/ zung Rechnung getragen wird. Äquivalenzen
Schall, Hall, Klang, Knall, Ton wird so er- werden über das Textfragment und seine
klärt, dass die Merkmalsindifferenziertheit im Übersetzung und nicht über andere Wörter-
F zur Frequenz von Lexemen heterogener bücher gewonnen. Die jeweiligen Artikel be-
Geräusche, die Merkmalsdifferenziertheit im stehen aus einer synoptischen Einleitung und
D zu der homogener Geräusche führt. Merk- einer ausführlichen Begründung. Dem Lerner
malsubkategorisierung führt dann zur Erhe- bringt die erste Zusammenfassung das We-
bung interlingualer Typizitäten: psychologi- sentliche: Funktion/fonction entspricht einer
sche Markiertheit, besonders Freude ⫹D/ feststellenden Definition, in der die Leistung
⫺F; Schallproduzenten, besonders Körper- zur distinktiven Bedeutung wird. Zahlreiche
teile, Naturgeschehen, Artefakte ⫹D/⫺F; zweisprachige Textbelege ermöglichen den
Vorgangsablauf, besonders Iterativ ⫹D/⫺F; verstehenden Nachvollzug und verleihen die-
Störungen ⫹F/⫺D; kollektive Kundgebun- sem bilingualen Lexikon Züge eines Überset-
gen ⫹F/⫺D. zungswörterbuchs.
Kontrastive Lexikologie, obgleich Haus- Wenn Konvergenzen die Motivierung für
mann (1995) an ihrer Machbarkeit zweifelt, den FSpunterricht und Divergenzen seinen
wird als Vorstufe der aktuellen bilingualen Inhalt bestimmen, so widerlegen die einzel-
Lexikographie angesehen, in der Konstruk- sprachlichen Typizitäten, die die geprüften
tions- und Kontextwörterbücher übergehen Arbeiten thematisieren, keineswegs die Uni-
in Übersetzungswörterbücher. Partikeln sind versalitätsthese zum D und F. Obgleich die
ein bezeichnendes Sprachphänomen des D, Überwindung von Kulturspezifik nicht das
das sich dem traditionellen Lexikon entzieht Ziel europäischer Bildungs- und Sprachenpo-
und das sich intensiver d und f Forschung er- litik sein kann und darf, bemüht sich eine
freut. Es gibt richtungsweisende Erkennt- kontrastiv abgesicherte Sprachlehre mehr
nisse: Partikeln als Ausdruck der Sprecher- denn je um die gezielte Vermittlung gerade
einstellung ⫹D, der Gedanken- und Textglie- des d und f Kulturguts.
derung ⫹F (Weydt 1969); (Null)übersetzung
zur Aufdeckung formaler Kon- und Diver-
genzen (Blumenthal 1987); Partikeln als 5. Literatur in Auswahl
Überwindung der strukturalen Abgrenzun-
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366 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

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33. Kontrastive Analysen Deutsch-Italienisch: eine Übersicht

1. Prosodie und prosodische Phonologie 1. Prosodie und prosodische


2. Segmentale Phonologie und Phonetik
3. Graphemik Phonologie
4. Wortbildung und Lexikon
5. Morphopragmatik Die Unterschiede zwischen den beiden Spra-
6. Morphosyntax chen im lautlichen Bereich werden durch ihre
7. Wortstellungssyntax verschiedene prosodische Grundstruktur ge-
8. Literatur in Auswahl prägt: Während das Dt. als wortbezogene
Sprache die Integrität des phonologischen
Obwohl das Italienische und das Deutsche si- Wortes weitgehend bewahrt, jedoch eine va-
cherlich zu den gut erforschten Sprachen der riable und schlecht artikulierte Silbenstruktur
Welt gehören, liegen nur wenige vergleichende besitzt, stellt das Ital. als silbenbezogene Spra-
Untersuchungen vor, die die beiden Sprachen che die Integrität der Silbe in den Vorder-
in ihrer Gesamtheit erfassen. Zur Orientierung grund, während die Wortgrenze von phono-
kann insbesondere Figge/de Matteis (1976) logischen Prozessen leicht übersprungen wer-
dienen; Holtus/Pfister (1985) stellen eine
den kann. Mit dieser phonologischen Unter-
Reihe von Einzelproblemen vor, Gislimberti
scheidung verwandt ist eine phonetische, der-
(1989) behandelt die Nominalphrase sowie
zufolge das Dt. zum akzentzählenden Rhyth-
den Ausdruck der Kausalität. Gelegentlich ist
auch ein Blick in die kontrastive Analyse Eng- mustyp gehört, das Ital. aber zum silbenzäh-
lisch/Italienisch von Agard/di Pietro (1965) lenden. Dies bedeutet, dass im Dt. die Dauer
hilfreich. Bemerkenswert ist, dass pragma- der Intervalle zwischen zwei rhythmischen
tische, textlinguistische und konversations- Hervorhebungen unabhängig von der Anzahl
analytische Vergleichsuntersuchungen weitge- der unbetonten (off-beat) Silben mehr oder
hend fehlen. weniger konstant bleibt, während im Italieni-
Als italienistische Nachschlagewerke emp- schen die Dauer der Silben ⫺ unabhängig
fehlen sich Schwarze (1988) sowie Renzi von deren Position innerhalb größerer Ein-
(1988ff.), Lepschy & Lepschy (1986) und die heiten ⫺ mehr oder weniger identisch ist
Kapitel 234⫺283 aus dem Lexikon der Ro- (Auer/Couper-Kuhlen/Müller 1999, Kap. 5;
manistischen Linguistik (1988). Ein neueres Auer/Uhmann 1988). Aus dem Kontrast zwi-
kontrastives Lehrwerk ist Ferraresi/Krom- schen wortbezogen/akzentzählend und sil-
berg (1994). benbezogen/silbenzählend erklären sich unter
368 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

anderem die folgenden phonologisch-phone- tiv lange Sequenzen aus nicht-akzentuierten


tischen Unterschiede: Silben toleriert, während das Ital. diese durch
Sekundärakzente auflöst (etwa: tèlefònica-
(a) Phonologische Prozesse können im Ital.
ménte ,telefonisch‘, intènzionàlitá ,Intentiona-
über Wortgrenzen hinweg stattfinden, im Dt.
lität‘). Dadurch steht dem dt. Rhythmus mit
werden sie durch solche Grenzen in der Regel
u. U. sehr unterschiedlicher Silbenanzahl zwi-
behindert oder blockiert (vgl. im Ital. Elisionen
schen den rhythmischen Hervorhebungen der
wie in quanti anni J quant’anni ,wie viele
ital. gegenüber, in dem der Wechsel zwischen
Jahre‘, buono giorno J buon’giorno; mit oblig.
betonten und unbetonten Silben in ähnlichen
oder fakultativer Assimilation: con gnocchi
Proportionen voranschreitet („isometrisch“).
[koMMck6i]) sowie das komplizierte und regio-
nal variable raddoppiamento sintattico, das ge- (c) Die Silbifizierung ist im Ital. meist an-
rade an der Wortgrenze in bestimmten Fällen lautmaximierend (systematische Ausnahmen
von Akzentzusammenstoß Geminaten ein- sind lediglich die Verbindungen aus Sibilant
fügt, più ⫹ breve J più[bb]reve ,kürzer‘, città und Obstruent). Sie ist in der Regel eindeutig
triste J citta[tt]riste ,traurige Stadt‘). und nie vage, während das Dt. systematisch
(b) In beiden Sprachen ist die Lage des ambisilbische Elemente kennt (insbesondere
Wortaktzents phonologisch nicht völlig vor- zwischen Akzentvokal und Schwa: bitte,
hersagbar, wenn auch die paroxytonale Beto- ackern etc.) und dadurch die eindeutige Glie-
nung am häufigsten ist. (Im ,nativen‘ Kern- derung des Wortes in Silben erschwert.
wortschatz des Dt. fällt diese meist mit der (d) Die Phonotaktik der beiden Sprachen
stamminitialen zusammen.) Im Dt. besteht unterscheidet sich grundlegend. Das Dt. lässt
die Tendenz, den ,gelehrten‘ proparoxytona- äußerst komplexe Silbenränder zu (im Anlaut
len Akzent auf die vorletzte Silbe zu verla- mit drei, im Auslaut mit vier Konsonanten);
gern: Charı́sma (statt Chárisma) oder Brindı́si vor allem unter Einschluss der Flexionsendun-
statt Brı́ndisi. Im Ital. scheint der Sprachwan- gen kommt es zu artikulatorisch aufwendigen
del nicht in diese Richtung zu gehen, vgl. Übergängen zwischen Frikativen (schleichst,
,neue‘ Akzentuierungen wie édile ,Bauarbei- impfst) und Plosiven (ebbt, Herbst). Hingegen
ter‘ statt edı́le, leccórnia statt leccornı́a ,Le- finden sich zwar auch im ital. Anlaut bis zu
ckerbissen‘. Neben zahlreichen lexikalisierten drei Konsonanten (stranieri ,Fremde‘), abge-
Formen gehen Abweichungen von der propa- sehen von /s/ in erster Position sind aber nur
roxytonalen Akzentuierung auch auf die linke Ränder aus Obstruent und Sonorant
grammatischen Funktionen zurück, die der oder Halbvokal möglich; im Silbenauslaut
Akzent übernimmt. Sie liegen im Ital. in ers- sind traditionell nur wortintern einfach be-
ter Linie in der Flexionsmorphologie; vgl. setzte Silbenränder (mit Sonorant oder dem
etwa den proparoxytonalen Akzent in der ersten Teil einer Geminate: can&to ,Gesang‘,
3. Ps. Pl. Präs. Indikativ oder congiuntivo (cán- gat&to ,Katze‘) möglich, wortauslautende
tano ,sie singen‘, cántino ,sie sängen‘), wo der Silben sind immer ungedeckt. Von dieser Re-
Akzent paradigmatisch konstant bleibt, so- gel abweichende wortauslautende Konsonan-
lange ihn nicht eine schwere Silbe weiter nach ten halten erst durch v. a. engl. Lehnwörter in
rechts zieht (cantiámo), oder den markierten die Sprache Einzug (film, sport etc.).
oxytonalen im Sg. des passato remoto bzw. (e) Das Ital. unterscheidet bei den Konso-
futuro (finı́ ,sie beendete‘, finiró ,ich werde nanten (außer /s, M, Y, ts, dz/, die als Doppel-
beenden‘ etc.). konsonanzen empfunden werden) im Inlaut
Die Struktur der nicht den (primären) Wort- nach Quantität (vgl. pena ,Strafe‘ vs. penna
akzent tragenden Silben in den beiden Spra- ,Feder‘, sonno ,Schlaf‘ vs. sono ,ich bin‘). Die
chen ist sehr unterschiedlich. Während sie sich Dauer der Vokale kompensiert lediglich die
im Ital. phonologisch gar nicht und phone- des nachfolgenden Konsonanten (Geminate
tisch nur wenig von den akzentuierten unter- vs. Einfachkonsonanz), so dass sich zumin-
scheiden, werden im Dt. die nicht-akzentuier- dest in diesem Fall eine Tendenz zur Silben-
ten Silben in Abhängigkeit von ihrer Anzahl isochronie ergibt. Umgekehrt ist im Dt. die
komprimiert. Sie können auch völlig ausfal- Konsonantendauer rein phonetisch. Über
len (vgl. haben J ham, wasser ⫹ ig J wässrig, den phonologischen Status der dt. Vokal-
besser ⫹ e J bessre etc.). Das System phono- quantität gibt es unterschiedliche Meinungen;
logischer Oppositionen ist in dieser Position während ihr ältere Ansätze in der Regel pho-
reduziert. Der unterschiedliche Rhythmustyp nemischen Status zubilligen, wird sie jüngst
zeigt sich schließlich darin, dass das Dt. rela- auch als Epiphänomen des Silbenanschlusses
33. Kontrastive Analysen Deutsch-Italienisch: eine Übersicht 369

(fest vs. lose) beschrieben, der sowohl die genübersteht. In der ital. Graphie werden
Dauer als auch die Gespanntheit der Vokale hingegen die affrizierten Pendants zu /k/, /g/
(außer bei /a ⬃ a6/ und bei /i ⬃ i6/) regelt ⫹ deren Geminaten durch das folgende Gra-
(vgl. Vennemann 1991). Die Quantität ist hier phem markiert (/k/ ⫽ *cch, ch+ oder *c, cc+
also phonetischer Oberflächenindikator einer vor *a, o, u+, /ts/ ⫽ *ci+ bzw. *c+ vor *i, e+;
phonemischen Unterscheidung, die das Ital. ebenso bei /g/ : /D/); hier findet das *h+ eine
nicht kennt. völlig andere Verwendung als im Dt.
Anders als das Dt. kennt die ital. Ortho-
graphie Akzente (Gravis und Akut), die die
2. Segmentale Phonologie und ⫺ erwartungswidrige ⫺ Endbetonung (Oxy-
Phonetik tona) kennzeichnen.
Das ital. monophthongische Vokalsystem
(/i, e, a, o, u/ sowie peripher /i, c/) ist deutlich 4. Wortbildung und Lexikon
ärmer als das des Dt. Es fehlen die gerunde-
ten Vordervokale (/y, y, œ, ø/) und der Zen- Beide Sprachen verfügen über die Möglich-
tralvokal (/e/). Zusätzliche Komplexität ge- keit, Wörter durch Affigierung oder durch
winnt das dt. System durch die prosodische Komposition zu bilden; sie nutzen diese
Distinktion zwischen losem und festem An- Möglichkeiten aber unterschiedlich stark: Das
schluss (vgl. oben) sowie durch die Di- Ital. neigt zur derivativen Wortbildung, wo
phthonge /ai, au, oi/. Phonetisch unterschei- das Dt. oft auf Komposition zurückgreift.
den sich die ital. Vokale von den dt. durch Bei den derivativen Präfixen haben die sog.
gleichbleibende Qualität über den Artikula- trennbaren (akzentuierten) Verb-Präfixe, die
tionszeitraum hinweg sowie durch eine weiter im Hauptsatz die rechte Klammerposition
vorn liegende Artikulationsbasis. Die hohen besetzen, keine Entsprechung im Ital.: ital.
Vokale sind höher, die übrigen tiefer artiku- Präfixe sind nie abtrennbar (vgl. etwa dt. an-
liert als die dt. (vgl. Muljačić 1981). hängen ⫺ ital. aggiungere; dt. vorschreiben ⫺
Im Konsonantensystem sind aus Lernerper- ital. prescrivere etc.). Aber das Ital. drückt
spektive vor allem die folgenden Unter- räumliche und zeitliche konzeptuelle Kompo-
schiede hervorzuheben: (a) das Ital. unter- nenten überhaupt wenig durch Präfixe aus.
scheidet stabil und im Kernbereich des Wort- Sie werden vielmehr teils syntaktisch, teils
schatzes /ts ⬃ D/ (etwa: ciao vs. giorno), wäh- durch Verba simplicia, selten aber morpholo-
rend im Dt. dem [D] nur eine periphere Rolle gisch kodiert (vgl. vorangehen ⬃ andara
zukommt ([D]ungel, [D]ango). (b) Die ital. avanti; Unterseite ⬃ parte inferiore; Abmarsch
palatalen Sonorkonsonanten /Y, M/ fehlen im ⬃ partenza).
Dt. ganz. (c) Die dt. Phoneme /h/ (nur silben- Die Möglichkeiten des Ital., durch Suffixe
anlautend), /pf/ und /ç ⬃ x/ fehlen hingegen Wörter zu bilden, überschreiten hingegen die
im Ital. des Dt. bei weitem. Paradebeispiel für die
Phonetisch unterscheiden sich die ital. Ob- Differenzierungsmöglichkeiten sind die ital.
struenten durch eine klare Stimmhaftigkeits- Suffixe zum Ausdruck der Bewertung des be-
opposition von den dt., die bei den Plosiven nannten Gegenstands; so etwa stehen den dt.
in der Regel lediglich Gespanntheitsopposi- Diminutiva -chen bzw. -lein im Ital. min-
tion aufweisen. Es gibt keine Aspiration, wie destens -ino/a, -etto/a, -ello/a, -uccio/a und
sie in manchen Standardvarietäten des Dt. -otto/a gegenüber (vgl. Ettinger 1974, Pelle-
üblich ist. /r/ ist in der Regel alveolar und grini 1977, Dressler & Barbaresi 1987, Dress-
wird auch in der Silbencoda keinesfalls voka- ler 1990). In manchen Bereichen des Wort-
lisiert (vgl. Grasegger 1987). schatzes weicht man im Dt. systematisch auf
Komposita aus, so im Wortfeld der Berufsbe-
3. Graphemik zeichnungen: ital. aio/-aia: benzinaio ⬃ Tank-
wart, cappellaio ⬃ Hutmacher oder für ital.
Die wichtigsten Problembereiche sind die di- -ista: autista ⬃ Autofahrer, dentista ⬃ Zahn-
graphischen Konventionen für die Markie- ärztin (zur Movierung s. Doleschal 1990). In
rung des losen (sog. Dehnungs-h, Vokalver- vielen Fällen ist aber nur im Einzelfall eine
doppelung) und festen (Konsonantenverdop- passende lexikalische oder syntaktische Ent-
pelung) Anschlusses im Dt., denen im Ital. sprechung zu finden, so etwa bei der Überset-
die orthographisch ebenfalls durch Doppel- zung des ital. Augmentativsuffixes -one (pan-
schreibung markierte Konsonantenlänge ge- cione ⬃ dicker Bauch, portone ⬃ Tor, donnone
370 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

⬃ Mannweib) oder der Pejorativsuffixe -ac- pronominale Markierung stärker ausgebaut,


cio/a und -astro/a. das Ital. die (synthetische) durch Suffixe am
Der im Dt. so wichtigen nominalen Kom- Verb. Aus der Lernerperspektive sind die fol-
position entspricht im Italienischen in der genden Unterschiede besonders relevant: (a)
Regel eine präpositionale oder adjektivische Da die ital. Flexionsmorphologie die Perso-
Nominalphrase (also: Schulbuch ⬃ libro di te- nen (außer im Sg. Konjunktiv) gut unter-
sto; Schulunterricht ⬃ insegnamento scola- scheidet, ist das Personalpronomen in der
stico). Mehrfachkomposita wie dt. Rentenzu- Subjektposition nur selten nötig und über-
satzversicherungsbescheid gibt es im Ital. nimmt vor allem pragmatische Spezialfunk-
nicht. Trotz dieser unterschiedlichen Präfe- tionen wie Emphase oder Kontrast; im Dt.
renzen in der Wortbildung sind aber auch im ist es hingegen ⫺ abgesehen von einigen Son-
Ital. Komposita möglich; im Gegensatz zum derfällen der gesprochenen Sprache ⫺ obliga-
Dt. haben sie meist aber nicht Modifikator- torisch: sono andato ⬃ ich bin gegangen. (b)
Kopf-, sondern Kopf-Modifikator-Struktur In den obliquen Formen kennt das Std.-Ital.
(vgl. Holtus/Pfister 1975, 69ff.). D. h., dass im Gegensatz zum Dt., wo die klitischen Pro-
der (dem Dt. entsprechende) Typ autoscuola nomina umgangssprachlich und teils regio-
,Fahrschule‘, bassorilievo ,Halbrelief‘ oder nalsprachlich sind, schwache (klitische, nicht
capolavoro ,Meisterwerk‘ wesentlich weniger akzenttragende) und starke (akzentuierbare)
häufig ist als der (dem Dt. fremde) Typ nave Pronomina; nur die klitischen Pronomina
scuola ,Schulschiff‘, blocco cilindri ,Zylinder- werden noch teils nach Akkusativ und Dativ
block‘, buono benzina ,Benzingutschein‘ etc. unterschieden, während die starken ⫺ wie
Häufiger als im Dt. sind im Ital. auch syntag- das Ital. insgesamt ⫺ nur noch präpositio-
matische Zusammenbildungen mit verbalem nale Kasusformen aufweisen. Das Dt. unter-
Kopf wie portacenere (< portare) ,Aschenbe- scheidet hingegen in der 1./2. Sg. und in der
cher‘ oder lavapiatti (< lavare) ,Geschirrspü- 3. Sg. und Pl. die Kasus Dativ und Akkusa-
ler‘, denen im Dt. wiederum nominale Kom- tiv, in der 3. Ps. wird das System außerdem
posita entsprechen. durch das dritte Genus Neutrum kompliziert.
Zur Lexik sei außerdem auf Stegu 1987, (Der noch in Resten erhaltene Genitiv des
Marello 1987, Schwarze 1981 und Storni Dt. wird inzwischen meist durch präpositio-
1975 verwiesen. nale Fügungen ersetzt und stellt daher kaum
ein Lernerproblem dar.) Im einen Fall hat
also das Ital., im anderen das Dt. das diffe-
5. Morphopragmatik renziertere morphologische System. (c) Auch
im Dt. gibt es einen systematischen Kontrast
Beide Sprachen gehören zu einem Mischtyp zwischen „starken“ und „schwachen“ Prono-
zwischen synthetischem und analytischem mina, der jedoch sowohl prosodisch wie auch
Sprachbau, d. h., sie haben viele morphologi- pragmatisch wie auch morphosyntaktisch ei-
sche Kategorien aus dem Wort selbst in nen gänzlich anderen Status hat als der zwi-
grammatische Funktionswörter wie Artikel, schen klitischen und wortwertigen Prono-
Hilfsverben, Pronomina etc. verlagert. Ent- mina im Ital. Die Pronomina der 3. Person
sprechend ist ein Abbau der synthetischen (er, sie, es …) können nämlich in der Regel
Flexionsmorphologie erfolgt. Im Dt. setzt nicht deiktisch, sondern nur anaphorisch ver-
sich diese Tendenz in der Gegenwartsspra- wendet werden. Hier wird das System durch
che fort. eine Reihe sog. demonstrativer Personalpro-
In der Morphopragmatik oder deiktischen nomen, die formal mit den Relativpronomen
Flexionsmorphologie kodieren sowohl das identisch sind, ergänzt (der, die, das etc.), die
Dt. wie auch das Ital. nach den grammati- sowohl deiktisch als auch anadeiktisch einge-
schen Kategorien der Person, der Zeit, der setzt werden. (d) Grundsätzlich lehnen sich
sozialen Beziehung zwischen den Interak- die Pronomina obliqua des Ital. proklitisch
tionsteilnehmern und (bedingt) des Aspekts. an die Spitze des Verbs an, die nicht-kliti-
Weitere morphopragmatische Kategorien, die schen, starken Formen stehen hingegen (wie
allerdings in beiden Sprachen ganz oder weit- andere Satzglieder auch) nach dem Verb. Im
gehend analytisch ausgedrückt werden, sind Dt. stehen die Pronomina hingegen im Vor-
Definitheit und Modalität. feld oder im Mittelfeld des Satzes, also gege-
Die personale Deixis (Koller 1983) wird in benenfalls nach dem Finitum. So kommt es
beiden Sprachen am Verb und am Pronomen vor allem bei den Klitika zu deutlichen Stel-
kodiert. Jedoch hat das Dt. die (analytische) lungsdifferenzen. Vgl.: CI raccomandiamo a
33. Kontrastive Analysen Deutsch-Italienisch: eine Übersicht 371

lei ⬃ wir empfehlen UNS ihr (Ihnen); nen auch akzentuiert werden kann (vgl. die
GLIELO da ⬃ sie gibt ES IHM; L’aveva beschränkte Akzeptabilität der Kombination
scritto loro ⬃ er hatte ES ihnen geschrieben. von klitischer Artikelform und restriktivem
Allerdings werden dieselben schwachen ital. Relativsatz: zu der [*zur] Frau, die wir gesten
Pronomina enklitisch verwendet, wenn sie besucht haben). In beiden Sprachen scheinen
sich mit Imperativen (dimmi! ,sag mir!‘), Infi- die Verschmelzungen von Artikel und Präpo-
nitiven (senza scriverGLI ,ohne IHM zu sition eher im Abbau begriffen zu sein.
schreiben‘) bzw. Gerundien (scrivendoLE ⬃ Lernerprobleme in beiden Erwerbsrichtun-
,IHR schreibend‘) verbinden. In den letzten gen sind vor allem deshalb nicht vermeidbar,
beiden Fällen nicht-finiter Verbalmorpholo- weil die beiden Sprachen in jeweils unter-
gie stehen die Pronomina im Dt. vor dem schiedlicher, aber recht wenig vorhersagbarer
Verb. (e) Die für das Ital. typischen Prono- Weise auch artikellose Nominalgruppen er-
mina ci und ne, die anstelle von Adverbialien lauben. Z. B. werden im Ital. öfter als im Dt.
bzw. Modifikatoren von Nominalphrasen ste- generische Nominalphrasen mit Definitarti-
hen (CI credo ,ich glaub DRAN‘, me NE kel versehen (ich mag Fisch ⫺ mi piace il
hanno tolto molto ,sie haben mir viel DAVON pesce). Während im Dt. die Possessivprono-
genommen‘), in der gesprochenen Sprache mina Artikelformen sind, werden sie im Ital.
aber auch in fest lexikalisierten anderen ver- wie Adjektive mit dem Artikel verbunden
balen Kontexten auftreten (farCEla ,es schaf- (also: meine Freunde ⫺ i miei amici; einer mei-
fen‘, andarseNE ,weggehen‘), haben keine di- ner Freunde ⫺ un mio amico).
rekte formale Entsprechung im System der Die temporale und aspektuelle Flexions-
einfachen dt. Pronomina. morphologie des Ital. kommt außer im pas-
Die soziale Beziehung zwischen Sprecher sato prossimo, trapassato (vgl. Koch 1993;
und Hörer wird grammatisch im TU-VOS- Haider/Schjerve 1986) und in den neu ent-
System der in der Anrede verwendeten Perso- wickelten Aspektformen der Gegenwartsspra-
nalpronomina kodiert. Im Dt. sind dies Du che noch mit synthetischen Mitteln aus, wäh-
(Sg.)/Ihr (Pl.) und Sie (Sg. und Pl.), im Ital. rend im Dt. nur noch Präsens und Präteritum
tu (Sg.)/voi (Pl.) und Lei (Sg.)/Loro (Pl.), je synthetisch sind; im Konjunktiv II setzen sich
mit den entsprechenden Possessivformen. die analytischen Formen immer mehr gegen
Loro wird zunehmend durch voi ersetzt, so die synthetischen durch, die übrigen finiten
dass die Höflichkeitsdimension bei der An- Verbformen sind bereits analytisch.
rede einer Mehrzahl von Personen im Ital. Aus den komplexen Verwendungsbedin-
wie im Dt. neutralisiert ist. Die Gebrauchsbe- gungen der Tempus- und Aspektformen der
dingungen für die TU- und VOS-Formen beiden Sprachen sei vor allem auf die Unter-
sind in den beiden Sprachgemeinschaften schiede in der Verwendung der Vergangen-
verschieden. So ist die Tendenz, zur TU- heitsformen verwiesen: das dt. Präteritum hat
Form überzugehen, im Ital. ungleich größer; sowohl Eigenschaften des ital. imperfetto als
diese Form ist durchaus mit der Anrede mit auch des ital. passato remoto. Wie das passato
Nachnamen kompatibel. Im Dt. ist hingegen remoto ist es in erster Linie ein schriftliches
die umgekehrte Tendenz zu beobachten, den Erzähltempus, während in der mündlichen
Vornamen mit der VOS-Form kookkurrieren Rede meist im Perfekt (und im Ital. im pas-
zu lassen. sato prossimo) erzählt wird. Im Ital. wird das
Definitheit und Indefinitheit werden sowohl passato remoto jedoch in der gesprochenen
im Ital. wie auch im Dt. nicht am Nomen Sprache weit weniger benutzt als im Dt., wo
selbst, sondern am Artikel kodiert. Wiederum das Präteritum ⫺ trotz recht weitgehender
ergeben sich strukturelle Unterschiede aus arealer Variation ⫺ immer auch als mündli-
dem Fehlen einer Kasusmarkierung und des ches Tempus gebraucht wird. Die Bedingun-
Neutrums im Italienischen einerseits, aus der gen dieses mündl. Präteritumgebrauchs sind
Klitisierung und Verschmelzung der ital. Ar- nicht gut erforscht; sie scheinen aber manch-
tikelformen mit dem Folgewort andererseits. mal mit aspektuellen Gesichtspunkten zu tun
Beide Sprachen erlauben es, bestimmte Prä- zu haben, d. h., das Präteritum übernimmt
positionen mit dem definiten Artikel zu ver- auch Funktionen eines Imperfekts (vgl. die
schmelzen (nämlich im schriftsprachl. Dt. zu, häufige Verwendung bei Modalverben). Dies
bei, von; im Ital. a, da, di [del etc.], in [nel ist nun genau die Funktion des ital. imper-
etc.], su, teils noch con); im Detail ergeben fetto, das sich von den tempi passati durch
sich allerdings pragmatisch gesteuerte Unter- die Betonung des Verlaufsaspekts einer
schiede, weil der dt. Artikel nach Präpositio- Handlung unterscheidet.
372 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

Die neu grammatikalisierten analytischen Symbolisierung im Dt. weit seltener. Vgl. etwa
Verbformen zur Verlaufsform (mit stare bzw. in: ein tüchtiges Mädchen ⬃ unA bravA
Präposition am gebildet) entsprechen sich in ragazzA; das schöne Leben ⬃ lA bellA vitA; der
ihren Verwendungsbedingungen weitgehend, ital. Staat ⬃ lO statO italianO. Übergenerali-
der neue ital. Inchoativ (mit stare und Präpo- sierungen dieses ikonischen Prinzips kommen
sition per) hat hingegen kein deutsches Pen- auch bei nativen dt. Sprechern vor (vgl. etwa
dant in der Verbalmorphologie und muss ad- in inzwischen verbreiteten Syntagmen wie für
verbial umschrieben werden (gleich). alle Jugendliche [statt Jugendlichen]).
Beim Ausdruck von Modalität sind einige Beide Sprachen weisen dem Verbum fini-
Unterschiede bei den Modalverben erwäh- tum einen zentralen Platz in der Satzsyntax
nenswert (Lichem 1983), besonders der Zu- zu; am Verb werden Tempus, Aspekt sowie ⫺
sammenfall der Formen zum Ausdruck von im Ital. mehr als im Dt. ⫺ Person und Nume-
Fähigkeit und Möglichkeit im Dt. (können), rus markiert. Vor allem aber bestimmt das
denen im Ital. zwei verschiedene Verben ⫺ Verb die Struktur des Satzes durch die Rek-
sapere/potere ⫺ entsprechen (sa cantare vs. tion (Festlegung von Anzahl und Art der Er-
può cantare), das Fehlen einer eigenen modal- gänzungen). Hier stimmen die Sprachen na-
verbalen Ausdrucksmöglichkeit für Erlaubnis türlich nicht immer überein (etwa: aiutare mit
im Ital. (entsprechend dt. dürfen: du darfst ,Akkusativ‘/Ergänzung ohne Präposition ⬃
singen ⬃ puoi cantare) sowie das Fehlen der helfen mit Dativ; telefonare mit ,Dativ‘ ⫺ a
Unterscheidung zwischen müssen und sollen qualcuno ⬃ anrufen mit Akkusativ etc.; vgl.
beim Ausdruck von Verpflichtung und Evi- Koch 1994).
dentialität (ital. dovere). Im letzteren Fall gibt Im Dt. ist der Genitiv ⫺ trotz gewisser Ab-
es im Ital. zahlreiche andere Ausdrucksmög- bauerscheinungen bei der Rektion durch Ver-
lichkeiten, etwa congiuntivo (che mi risponda! ben und Präpositionen ⫺ nach wie vor als
⬃ Sie sollen mir antworten!) oder Vollverben nominales Attribut zum Ausdruck von Zuge-
wie sembra che ,es scheint, dass‘. hörigkeit wichtig. Ersatzformen mit Präposi-
Auf die recht komplexen Verwendungsbe- tion (das Auto von Georg statt Georgs Auto)
dingungen der Modalpartikeln/modalen Dis- sind umgangssprachlich. Das Ital. ist hier
kursmarker in den beiden Sprachen kann dem Dt. in der Entwicklung zum analytischen
hier nur hingewiesen werden (vgl. Held 1983; Sprachtyp voraus und verwendet ausschließ-
Helling 1983a; b; Albrecht 1977; Renzi (Hg.) lich die präpositionale ,Kasus‘-Form mit di
1988ff.: Bd. 3). (gegebenenfalls ⫹ Artikel: la macchina di Gior-
gio). Weitere Unterschiede ergeben sich aus
der partitiven Verwendung derselben Form bei
6. Morphosyntax Massenausdrücken (Rindler Schjerve 1983);
hier fehlt im Dt. jede formale Anbindung (vgl.
Die Flexionsmorphologie des Dt. und Ital. ein Glas Wein ⫺ un bicchiere di vino; aber bei
zum Ausdruck von Kongruenz und Rektion Konkreta: ein Stück von mir ⫺ una parte di
ist grundsätzlich ähnlich. Subjekt und Prädi- me).
kat kongruieren nach Person und Numerus, Beide Sprachen bilden das Passiv mit
im Ital. überdies in den zusammengesetzten Hilfsverben und können zwischen ,Zustand‘
Tempora mit essere nach Genus (vgl. Maria und ,Vorgang‘ unterscheiden, das Ital. mit es-
è venutA ⬃ Maria ist gekommen). Innerhalb sere (neutral) oder venire (nur ,Vorgang‘), das
von Nominalphrasen herrscht jeweils Kon- Dt. mit sein oder werden (questa casa è ven-
gruenz nach Numerus und Genus, nur im Dt. duta/questa casa viene venduta ⬃ dieses Haus
auch nach Kasus. Allerdings ist das ital. Kon- ist verkauft/wird verkauft). Die Passiv-Dia-
gruenzsystem im Gegensatz zum Dt. durch these scheint allerdings im Dt. häufiger zu
einen gewissen Ikonismus gekennzeichnet: sein als im Ital., das an seiner Stelle teils si-
Kongruierende Elemente werden in vielen Verbformen verwendet (Gottschalk 1962;
Fällen durch die formal identischen morpho- Holtus/Pfister 1985): non si vende ⬃ es wird
logischen Exponenten der jeweiligen Katego- nicht verkauft. Überhaupt neigt das Ital. zu
rie als zusammengehörig markiert. Als Folge den si-Formen des Verbs; sie stehen auch für
des weitgehenden Abbaus der nominalen dt. das dt. unpersönliche Pronomen man (non si
Flexionsmorphologie, aber auch als Folge des fa ⬃ das tut man nicht).
Wechsels zwischen starker und schwacher Fle- Bei der morphosyntaktischen Behandlung
xion und der nur in engen Grenzen vorhersag- abhängiger Syntagmen ist die relative Bevor-
baren Genera besteht eine solche ikonische zugung der Relativsatzkonstruktionen im Dt.
33. Kontrastive Analysen Deutsch-Italienisch: eine Übersicht 373

auffällig; ihnen entsprechen im Ital. oft attri- tiv in der Nominalphrase ist hingegen im Dt.
butive nicht-finite Syntagmen ⫺ also Gerund obligatorisch prämodifizierend, während im
oder Partizip ⫺ oder einfache Adjektive Ital. beide Stellungen möglich sind (wie auch
(Borgato 1975; Pusch 1980; Serra Borneto das Possessivpronomen), die postmodifizie-
1982; Holtus/Pfister 1985; Must 1972); vgl.: rende jedoch überwiegt. Die Negation steht
uno spesso strato di polvere, PORTATA dal im Ital. vor dem modifizierten Verbum fini-
vento, copriva ogni cosa (B. Levi). tum (non lo vedo), im Dt. danach (ich sehe
es nicht).
7. Wortstellungssyntax
8. Literatur in Auswahl
Die Stellung der nicht-pronominalen Satz-
glieder des Ital. folgt meist (d. h. im pragma- Agard, Frederick B.; Robert J. di Pietro (1965):
tisch unmarkierten Fall) dem Schema SVO, The grammatical structures of English and Italian.
Chicago.
und zwar sowohl im Matrix- (Haupt-) wie
auch in den abhängigen (Neben-)Sätzen (vgl. Albrecht, Jörn (1977): Wie übersetzt man eigentlich
Catalani 1993). Topikalisierende Abweichun- ,eigentlich‘? Aspekte der Modalpartikeln. In: H.
Weydt (Hg.): Studien zur deutschen Abtönung. Tü-
gen sind zwar möglich (l’ha detto lui, non Ma- bingen, 19⫺37.
ria, ,er hat’s gesagt, nicht Maria‘), oft wird
jedoch Topikalisierung auf anderem Weg er- Auer, Peter; Elizabeth Couper-Kuhlen; Frank Mül-
ler (1999): Language in time: The rhythm and tempo
reicht, etwa durch Spaltsätze wie è stato lui of verbal interaction. Oxford.
che l’ha detto, mica Maria, ,er ist es gewesen,
der es gesagt hat, nicht Maria‘, die im Dt. ⫺; Susanne Uhmann (1988): Silben- und akzent-
zählende Sprachen. Literaturüberblick und Dis-
relativ selten sind. Im Dt. ist hingegen die
kussion. In: Zeitschr. f. Sprachwiss. 7, 2.
Satzgliedstellung im Haupt- und Nebensatz
bekanntlich unterschiedlich. Im ersteren Fall Borgato, Gianluigi (1975): Le proposizioni relative
in una grammatica contrastiva dell’italiano e del
verlangt die XV …-Struktur des Dt. genau
tedesco. In: Studi italiani di linguistica teorica ed
eine Konstituente im Vorfeld (X); kann diese applicata 4, 507⫺540.
Position nicht anders besetzt werden, wird sie
Cardinaletti, Anna (1987): Die Landungsstelle des
vom expletiven es gefüllt. Die Vorfeldposi-
extraponierten Relativsatzes. In: Dressler et al.
tion dient der Thematisierung; stärkere Topi- (Hg.), 205⫺216.
kalisierung ist durch Prolepsen und freie The-
Catalani, Luigi (1993): Die Stellung der Satzele-
men möglich. Dt. Nebensätze sind hingegen
mente im Deutschen und im Italienischen. Frank-
durch Letztstellung des Finitums gekenn- furt.
zeichnet. (Vgl. zum Relativsatz Cardinaletti
Dardano, Maurizio; Wolfgang U. Dressler; Gru-
1987; Schwarze 1986).
drun Held (Hg.) (1983): Parallela. Tübingen.
Die Satzklammern, die im Dt. das Mittel-
feld zwischen linker Klammer (Finitum oder Doleschal, Ursula (1990): Probleme der Movierung
Subjunktion) und rechter Klammer (nicht-fi- im Deutschen und Italienischen. In: Monica Ber-
retta; Piera Molinelli; Ada Valentini (Hg.): Paral-
nite Teile des Verbalkomplexes) aufspannen, lela 4, Tübingen, 243⫺253.
sind dem Ital. fremd. Da das dt. Nachfeld in
der geschriebenen Standardsprache nur in Dressler, Wolfgang (1990): Morphopragmatics. In:
Bulletin of the Language Institute of Gakushuin Uni-
Ausnahmefällen besetzt werden darf, ergeben versity 13, 3⫺19.
sich weitreichende Stellungsunterschiede. So-
wohl die Eigenheit der Vorfeldposition als ⫺; Lavinia Merlini Barbaresi (1987): Elements of
morphopragmatics. LAUD A 194.
auch die Satzklammer stellen (wie für die
meisten Lerner) erhebliche Erwerbsprobleme ⫺; Corrado Grassi; Rosita Rindler Schjerve (Hg.)
dar. (1987): Parallela 3. Tübingen.
Weder das Dt. noch das Ital. ist eine rein Ettinger, Stefan (1974): Diminutiv- und Argumenta-
prämodifizierende oder rein postmodifizie- tivbildung: Regeln und Restriktionen. Tübingen.
rende Sprache, d. h., das modifizierende Wort Ferraresi, Brigitte G.; Luciana Romelleri Krom-
steht teils links und teils rechts von seiner berg (1994): Confronti ⫺ Vergleiche. Bologna.
Kopfkonstituente. So kennt das Ital. nur Prä- Figge, Udo; Mario de Matteis (1976): Sprachver-
positionen (postmodifizierend), das Dt. dane- gleich Italienisch-Deutsch. Düsseldorf.
ben auch Postpositionen (prämodifizierend: Gislimberti, Silvio (1989): Deutsch-italienisch: Syn-
den Wald entlang) und diskontinuierliche Ad- taktische und semantische Untersuchungen. Wil-
positionen (um den Wald herum). Das Adjek- helmsfeld.
374 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

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34. Kontrastive Analysen Deutsch-Spanisch: eine Übersicht 375

34. Kontrastive Analysen Deutsch-Spanisch: eine Übersicht

1. Vorbemerkungen darauf aufmerksam zu machen, dass die


2. Forschungsgrundlagen theoretischen Modelle, die den jeweiligen Be-
3. Ergebnisse und Aussichten schreibungen zugrunde liegen, keineswegs als
4. Literatur in Auswahl einheitlich bezeichnet werden können. Die
Darstellungsweise weicht beträchtlich je nach
1. Vorbemerkungen theoretischer Grundlage ab, was allerdings
für die Ergebnisse unbedeutend ist. Im Hin-
Wesen und Eigenart der kontrastiven Analy- blick auf das Beschreibungsverfahren erge-
sen Deutsch-Spanisch liegen darin, dass es ben sich deutlich zwei verschiedene Vorge-
sich um eine Forschungsrichtung handelt, de- hensweisen, nämlich die unilaterale Analyse,
ren Ablauf durch verschiedene, jedoch auf- die sich darauf beschränkt, von der Aus-
einander einwirkende Umstände deutlich ge- gangssprache aus Analogien bzw. Divergen-
prägt wird. Es ist zunächst einmal nicht zu zen in der Zielsprache festzustellen, und die
bestreiten, dass die Auseinandersetzung mit bilaterale Fragestellung, welche die einzel-
der auf das Fach Deutsch als Fremdsprache sprachliche Beschreibung als Voraussetzung
bezogenen Fragestellung relativ jung ist. Die für die kontrastive Analyse betrachtet. Die
Erforschung der strukturellen und funktio- Behandlung des sprachlichen Stoffes setzt
nellen Übereinstimmungen und Verschieden- eine genau bestimmte Zielsetzung voraus,
heiten, welche zwischen der deutschen und und in dieser Beziehung tritt immer deut-
der spanischen Sprache festzustellen sind, licher zutage, dass das Interesse für Proble-
setzt vor knapp 15 bis 20 Jahren ein und ist matik und Methodik des Fachs Deutsch als
trotz einiger mehr oder weniger gelungenen Fremdsprache ständig an Bedeutung ge-
Gesamtdarstellungen ⫺ wie z. B. Cartagena/ winnt. Den meisten Beiträgen ist auch noch
Gauger, Corcoll, Ruipérez u. a. ⫺ eigentlich gemeinsam, Korpora aus der Schriftsprache
kaum über Ansätze hinausgekommen. Die zu benutzen.
Erforschung der sprachlichen Beziehungen
zwischen dem deutschen und dem spanischen
Sprachsystem weist aber auffällige Divergen- 3. Ergebnisse und Aussichten
zen sowohl bezüglich des Aufbaus als auch In diesem Zusammenhang geht es vor allem
der Darstellungsweise und vor allem der Ziel- darum, die Schwerpunkte darzustellen, wel-
setzung auf. Das hängt offensichtlich damit che anhand der zur Verfügung stehenden An-
zusammen, dass die Beiträge überwiegend ⫺ gaben im Rahmen der kontrastiven Analyse
aber nicht nur ⫺ aus dem Bereich des Fremd- Deutsch-Spanisch den Vorrang zu haben
sprachenunterrichts, jedoch auch aus der scheinen. Es ist oft nicht leicht, die jeweiligen
Übersetzungspraxis und der allgemeinen (an- Beiträge in eine verhältnismäßig einwandfreie
gewandten) Sprachwissenschaft stammen. Klassifizierung einzuordnen, denn es handelt
sich meist um übergreifende Fragestellungen,
2. Forschungsgrundlagen die sich nicht ohne Schwierigkeiten in ein ein-
seitiges, fest umrissenes Bezugsfeld einfügen
Beim Versuch, allgemeingültige Merkmale, lassen. Als Einteilungsprinzip können aber
welche den Untersuchungen auf dem Gebiet doch die bei der üblichen Auffassung der
der kontrastiven Analysen Deutsch-Spanisch Sprache als strukturiertes Zeichensystem an-
zugeschrieben werden könnten, aufzustellen, gewandten Gliederungskriterien gelten. Im
stellt sich das Fehlen sachlicher gemeinsamer Folgenden werden die verschiedenen An-
Einstellungen sowohl zum Forschungsgegen- wendungsgebiete hierarchisierend ausgeführt,
stand selbst als auch zu dessen optimaler Ver- was in dem Sinne verstanden werden soll,
arbeitung sofort heraus. Allerdings lassen dass Auswahl und Einordnung nach quanti-
sich manche Anhalts- und Bezugspunkte nen- tativen Verhältnissen erfolgen. Von diesem
nen, die auf die einschlägigen Arbeiten an- Standpunkt aus stellt sich angesichts der Zahl
wendbar sind. Die Verfahrensweise lässt sich der Beiträge heraus, dass die erste Stelle den-
im Allgemeinen als mehr oder weniger syste- jenigen Arbeiten zukommt, die sich auf Ein-
matische Anwendung einer rein deskriptiven zelelemente, Teilaspekte oder vollständige
Methode kennzeichnen. Dabei ist aber doch Systeme der Grammatik beziehen, wobei
376 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

,Grammatik‘ als „Lehre von den morpholo- von der total verkehrten und irreführenden
gischen und syntaktischen Regularitäten ei- Darstellung deutscher Phonetik und Phono-
ner natürlichen Sprache“ (Helbig 1992, 136) logie ab, welcher die fragliche Ehre zukommt,
interpretiert wird. In diesen Zusammenhang als erster Annäherungsversuch auf Spanisch
gehören u. a. Darstellungen, die dazu beitra- gelten zu dürfen, so sind die Auseinander-
gen, Einblick in die unterschiedliche bzw. setzungen mit phonischen und graphischen
übereinstimmende Gestaltung des Sprachen- Problemstellungen insgesamt noch spärlich.
paars Deutsch-Spanisch zu bekommen, wie Erwähnenswert sind wohl auch einzelne Un-
z. B. in das Verhalten von Einzelkomponen- tersuchungen auf Gebieten wie den Sprach-
ten (Präpositionen, Ersatzmittel zum Kom- varietäten, den interkulturellen Beziehungen
parativ und Superlativ, Passiv, Konjunktiv), oder auch der Förderung einer adäquaten
in die Struktur und in die Funktion syntag- Metasprache bei der Beschreibung sprachli-
matischer Gefüge (sein ⫹ zu ⫹ Infinitiv, cher Angaben. Die steigende Nachfrage nach
Funktionsverben), in das Verhalten von Deutschunterricht sowie die ständige Zu-
funktionsäquivalenten Einheiten (hay und es nahme der Übersetzungstätigkeit werden be-
gibt bzw. es ist/es sind) oder in die Eigenart stimmt zur Förderung der Untersuchungen
syntaktischer Beziehungen (Negation, direkte im Bereich des Faches Deutsch als Fremd-
und indirekte Rede, attributive Partizipial- sprache entscheidend beitragen.
konstruktionen, Ausklammerung, Wortstel-
lung). Hinzuzusetzen ist wohl auch noch der
4. Literatur in Auswahl
Hinweis auf Gesamtdarstellungen von der
deutschen Grammatik, die für Lehrende bzw. Andreu Castell (1997): Gramática de la lengua ale-
Lernende mit spanischer Muttersprache be- mana. Madrid, Idiomas.
stimmt sind. Außer der zweibändigen Aus- Cartagena, Nelson; Hans Martin Gauger (1989):
gabe von Cartagena/Gauger, die im streng- Vergleichende Grammatik Spanisch-Deutsch. 2 Bde.
sten Sinne als die einzige ,vergleichende‘ Mannheim.
Grammatik bezeichnet werden kann, verfügt Consuelo Moreno, Ma Luisa Schilling (1998): Los
man über einige wenige Handbücher, die ent- adjetivos numerales en fraseologismos alemanes y
weder auf Spanisch verfasste deutsche Gram- españoles. Un análisis contrastivo. In: Filologı́a
matiken sind (z. B. Ruipérez) oder zweispra- Alemana 5, 239⫺257.
chiges Lehrmaterial darbieten (z. B. Corcoll) Corcoll, Roberto; Brigitte Corcoll (1994): PRO-
oder aber spanische Fassungen deutscher GRAMM. Alemán para Hispanohablantes. Barce-
Fachbücher sind (z. B. Deutsch 2000). Als be- lona.
liebtes Forschungsgebiet neben der Gramma- Helbig, Gerhard (1992): Grammatiken und ihre
tik erweist sich auch noch die lexikalische Se- Benutzer. In: Vilmas Ágel; Regina Hessky: Offene
mantik, wobei die Erforschung der phraseo- Fragen ⫺ offene Antworten in der Sprachgermani-
logischen Einheiten (im Sinne von Hessky stik. Tübingen (Reihe Germanistische Linguistik
1992, 82) seit einiger Zeit deutlich in den Vor- 128), 135⫺150.
dergrund rückt. Anzeichen für eine aktive Be- Hessky, Regina (1992): Grundfragen der Phraseo-
schäftigung in diesem Bereich bietet ⫺ abge- logie. In: Vilmas Ágel; Regina Hessky: Offene Fra-
sehen von mehr oder minder okkasionellen gen ⫺ offene Antworten in der Sprachgermanistik.
Initiativen ⫺ die im Institut für deutsche Tübingen, 77⫺93.
Sprache und Literatur der Madrider Univer- Piñel, Rosa Marı́a (1990): Insultos del mundo ani-
sität Complutense tätige Forschungsgruppe, mal. Primera parte: las aves. Segunda parte: los
deren Leistungen aus den vorhandenen Ver- cuadrúpedos. In: Fremdsprachen 4, 243⫺247.
öffentlichungen sowie aus der Teilnahme an ⫺ (1997): Ein Vergleich sprachlich modifizierter
in- und ausländischen Treffen, Symposien, Phraseologismen in deutschen und spanischen
Kongressen usw. zu entnehmen sind. Auf Werbeanzeigen. In: Studien zum romanisch-deut-
dem Gebiet der lexikalischen Semantik lassen schen und innerromanischen Sprachvergleich.
sich wohl auch andere Forschungsrichtungen Rossell, Anna Maria (1996): Manual de traducción.
nachweisen. Dazu gehört die Erörterung der Alemán/Castellano. Barcelona.
Schimpfwörter, der semantisch negativen Ruipérez, Germán (1992): Gramática alemana. Ma-
Ausdrücke, der Länderbezeichnungen und drid.
Länderadjektive, der lexikalischen Mittel Zurdo, Ma Teresa (1974): Estilı́stica comparada
zum Ausdruck nonverbaler Komponenten de las preposiciones en alemán y español. Diss.
der gesprochenen Sprache u. a. Sieht man (masch.) Madrid.
35. Kontrastive Analysen Deutsch-Rumänisch: eine Übersicht 377

⫺ (1993): Motivación situacional del léxico en los logismos. In: B. Eggelte et al. (eds.): La lengua
Refranes/Sprichwörter. Contribución a un análisis alemana y sus literaturas en el contexto europeo.
intercultural. In: Filologı́a Alemana 1, 197⫺215. Estudios dedicados a Feliciano Pérez Varas.
Salamanca, 353⫺366.
⫺ (1999): Sobre la adecuación del método con-
trastivo para el análisis interlingüı́stico de fraseo- Maria Teresa Zurdo, Madrid (Spanien)

35. Kontrastive Analysen Deutsch-Rumänisch: eine Übersicht

1. Abgrenzung des Gegenstandsbereiches Ministerium für Nationale Bildung entschei-


2. Die Kontrastive Grammatik Deutsch- det zentral über Curricula und Schulbücher.
Rumänisch (KGDR 1993) 1996 laufen die jahrzehntealten Lehrbücher
3. Individuelle Forschungsergebnisse im
aus, erst seit 1994 gibt es für einige Studien-
Umfeld der KGDR 1993
4. Weitere kontrastiv angelegte Arbeiten jahre inhaltlich und methodisch neue.
5. Literatur in Auswahl Lehrbuchautoren waren bis 1989 haupt-
sächlich Hochschullehrer. Sie prägten mit ih-
ren Seminaren und Vorlesungen die Bildung
1. Abgrenzung des der künftigen Lehrer und mit ihren Schulbü-
Gegenstandsbereiches chern den Fremdsprachenunterricht. Zu einer
Kontrastierung von Mutter- und Zielsprache
1.1. Terminologie kam es weder in den Vorlesungen noch in den
Die eigentliche, von der neueren Linguistik Lehrbüchern, es sei denn in Form von Über-
als „Kontrastive Linguistik/Grammatik/Ana- setzungsentsprechungen (vgl. Stănescu 1995).
lyse“ bezeichnete synchrone, eher typologi- Gute Deutschlehrer haben es allerdings schon
sche Unterschiede herausstellende, deskrip- immer verstanden, darüber hinausgehende
tive und vergleichende sprachwissenschaft- Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen
liche Methode wird in die zweite Hälfte des den beiden Sprachen zu beobachten und di-
20. Jhs. lokalisiert. Sie dient einerseits rein daktisch auszuwerten.
wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen, an- Eine ganzheitliche, in Rumänien als „Sa-
dererseits dem Bestreben, für Probleme, die vin-Grammatik“ bekannte rumänisch ge-
den eng sprachlichen Bereich überschreiten, schriebene Beschreibung des Deutschen hat
Theorien zur Lösung oder Verbesserung so- im Hintergrund aller Bücher zu Deutsch als
zial relevanter Faktoren aufzustellen und der Fremdsprache gestanden (Savin 1985; Savin/
Praxis Wege zu öffnen. Abager/Roman 1968). Sie richtete sich nach
dem parallel laufenden traditionellen Mutter-
1.2. Nicht kontrastiv-analytische Vergleiche sprachenunterricht und ging so weit, rumäni-
Den im Laufe der Jahre gegründeten Lehr- sche Beschreibungskategorien auf das Deut-
stühlen für Germanistik (Cluj 1872; Cernăuţi sche zu übertragen. Die Vergleiche zum Ru-
1875; Bucureşti 1905; Iaşi 1905; Timişoara mänischen bestanden in Übersetzungsäquiva-
1956; Sibiu 1970) obliegt die Erforschung und lenzen. Wie unvollständig ein solcher Sprach-
die Verbreitung der deutschen Sprache und vergleich ist, wird ersichtlich, wenn zufällige
Kultur. Entsprechend lokaler Spezifika und Entsprechungen von Lexemen ungeachtet ih-
geschichtlicher Gegebenheiten sind unter- res morphosyntaktischen Verhaltens als allge-
schiedliche Forschungsansätze und Schwer- mein gültige Korrespondenzen aufgelistet und
punktverlagerungen zu verzeichnen (vgl. Cor- danach Übersetzungsübungen nach grammati-
bea-Hoişie 1995). schen Problemen zusammengestellt werden
Die bis heute noch weitgehend traditionell (Savin/Roth/Tuşinschi 1976: 181⫺253). Trotz
philologisch ausgebildeten Absolventen wer- einer positiven kontrastiven Forschungser-
den Sprachforscher, Übersetzer oder Deutsch- fahrung (Engel/Savin 1983) gehen auch Sa-
lehrer in Schulen mit deutscher Unterrichts- vin/Lăzărescu (1982) über die Aufzählung
sprache oder in rumänischen Schulen, wo sie von Übersetzungsentsprechungen nicht hi-
Deutsch als Fremdsprache unterrichten. Das naus. Das Buch hat im Anhang Listen mit
378 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

deutschen und rumänischen Verben, Adjekti- 1.3. Kontrastive Sprachbeschreibung


ven und Substantiven mit ihrer Valenz, die 1.3.1. Sprachlehre und eine nationale
sich nach demselben Prinzip entsprechen. Bewegung
Häufige Titel wie Schwierigkeiten Deutsch
Die Beschäftigung der westeuropäischen Ro-
lernender Rumänen u. ä. in Fachzeitschriften
manisten, Indogermanisten und allgemeinen
wie Limbile moderne ı̂n şcoală, Deutsch ak-
Sprachwissenschaftler mit dem Rumänischen
tuell, Zeitschrift der Germanisten Rumäniens, ist im 19. Jh. kein Zufall. Informationsquel-
die Anale oder Tagungsbände der Universitä- len für Komparatisten sind auch lexiko-
ten täuschen darüber hinweg, dass nicht wis- graphische Werke und deutschsprachige Be-
senschaftlich begründete Fehleranalysen, Er- schreibungen des Rumänischen aus der sich
kenntnisse der Psycholinguistik und der Kon- Ende des 18. Jhs. herausbildenden rumäni-
trastiven Analyse, sondern pragmatisch-di- schen Philologie. Es werden auch erstmals an
daktische Eigenerfahrungen der Autoren im europäischen Universitäten (Paris, St. Peters-
Unterricht dargestellt werden. Gleiches gilt burg, Berlin, Halle, Prag, Leipzig, Wien)
auch für die meisten oberflächlich als kontra- Lehrstühle für Rumänisch mit kompetenten
stiv charakterisierten (unveröff.) Diplomar- Rumänisten gegründet (vgl. Frisch 1983).
beiten von Absolventen der Germanistik. Wichtig sind vor allem die Arbeiten der
Empirische, weniger theoretische, eher „Siebenbürgischen Schule“ (Şcoală Ardele-
deskriptive Beobachtungen an stilistischen ană), einer Generation gebildeter rumäni-
oder inhaltlichen Vergleichen von Überset- scher Theologen und Philologen vom Ende
zungen mit einem Originalwerk finden wir des 18. und Anfang des 19. Jhs. Diesen ging
auch im Schaffen der Übersetzer, der Über- es allerdings kaum um eine wissenschaftliche
setzungskritiker und in zahlreichen (unver- Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen
öff.) studentischen Diplomarbeiten. Verein- rationalistischen, romantischen oder histo-
zelte Lösungen zu Bedeutungsäquivalenzen risch-vergleichenden Theorien zur Sprache.
werden verallgemeinert, ohne den Anspruch Ihr Hauptanliegen war die Pflege ihrer Mut-
eines theoretisch reflektierten Systemver- tersprache und der Beweis der Latinität des
gleichs haben zu wollen oder zu können. Bei- Rumänischen und der Kontinuität des rumä-
träge dieser Art sind in mehr oder weniger nischen Volkes in Siebenbürgen. Als die ein-
fachlichen Publikationen in Rumänien sehr zige rechtlose Nation mussten die Rumänen
zahlreich. An der Universität Sibiu läuft bis in Siebenbürgen und in der Bukowina gegen
1998 ein Projekt zur Erstellung eines Lexi- die Entnationalisierungspolitik und gegen
kons, das die Übersetzungen aus dem Deut- ihre Katholizisierung, für soziale Freiheit und
schen ins Rumänische und übersetzungsver- politische Rechte kämpfen. In der Erhöhung
gleichende Beiträge registriert. des Bildungsniveaus der Unterdrückten und
Das jahrhundertealte Bestehen einer deut- Rechtlosen sahen diese emanzipatorischen
Gelehrten eine Möglichkeit der Veränderung
schen Bevölkerung auf dem Gebiet Rumäni-
gegebener Zustände. Sie gründeten Schulen
ens hat eine diachronische wie synchronische
für Rumänen, schrieben Bücher.
Sprachforschung gefördert, die im zwischen-
Darunter finden wir auch die Gramatica
sprachlichen Vergleich die gegenseitige Beein- 1838. Der anonyme Autor schreibt eine
flussung zwischen dem Deutschen und dem Grammatik des Rumänischen für Rumänen,
Rumänischen und dabei auch „Interferen- in der er gleichzeitig Gemeinsamkeiten mit
zen“ im Sprachgebrauch auf allen Sprachebe- dem Deutschen erhellt. Denn, so erklärt er
nen feststellen konnte. Gemessen an der im Vorwort, Rumänen können sich nur an lu-
hochsprachlichen Norm des Deutschen sind therischen oder katholischen Schulen mit ih-
es einerseits Fehler, andererseits gehören sie nen unverständlicher deutscher oder ungari-
zu den Eigentümlichkeiten des Rumänien- scher Unterrichtssprache weiterbilden und
deutschen. Ihre Beschreibung finden wir in diese Art von Sprachlehre ist ein Mittel, auch
zahlreichen größeren Facharbeiten, in kleine- die fremde Sprache gleichzeitig mit der eige-
ren Beiträgen in rumänischen und ausländi- nen zu lernen.
schen Zeitschriften, teils als einfache Feststel- Obwohl im Jahrhundert der historisch-
lungen von Kuriositäten des Rumäniendeut- komparatistischen Sprachwissenschaft ver-
schen, teils im Hinblick auf das Übersetzen fasst, ist diese von einem „Sohn der Nation“
und/oder den Unterricht und die Pflege des geschriebene Grammatik eine synchronische.
Hochdeutschen in Rumänien. Sie bietet übersichtliche Beschreibungen des
35. Kontrastive Analysen Deutsch-Rumänisch: eine Übersicht 379

Rumänischen und des Deutschen, die in ne- Feststellung von Unterschieden ausgerichtete
beneinander stehenden Spalten gesetzt und Nebeneinanderstellung der „Standardform“
gleich strukturiert sind. Die linguistischen der Objektsprachen vorgesehen, ein theoreti-
Kategorien, Begriffe und Termini werden scher Vergleich von zwei Sprachen, genau ge-
ausgehend von Rumänischen erklärt. Die nommen der Vergleich ihrer Grammatiken,
einzelsprachlichen Kategorien und Kriterien bei dem kein unmittelbarer Zusammenhang
werden berücksichtigt. Übersetzungen er- zwischen Lernerfehlern und Kontrasten zwi-
scheinen nur im deutschen Teil in extensiona- schen der Muttersprache und der Zweit-
len Definitionen, soweit die Klassenelemente sprache postuliert werden sollte. Deshalb
nicht übereinstimmen. Auf Gemeinsamkeiten wurden, mit wenigen Ausnahmen (Viorel
und Unterschiede wird im metasprachlichen 1978; Pitiş 1984), auch keine Fehleranalysen
Teil teils explizit, teils in den Beispielen impli- vorgenommen. Im Umfeld des DRKG-Pro-
zit hingewiesen. Hervorgehoben werden nur jektes lässt sich differenzieren zwischen allge-
die Unterschiede des Deutschen zum Rumä- mein theoretischen, jedoch nicht allzu ab-
nischen. In der Metasprache finden wir Be- strakten, deskriptiven und praxisnahen, aber
griffsbezeichnungen lateinischer Herkunft in nicht unmittelbar im Fremdsprachenunter-
sprechende rumänische Namen „übersetzt“, richt anwendbaren Beschreibungen. Die 1993
und auch der deutsche Name steht meist in erschienene Kontrastive Grammatik Deutsch-
Klammern. Die Stützung des Gedächtnisses Rumänisch kann als Projektabschluss und als
und eine Definition auch über den sprechen- erste ganzheitliche kontrastive Beschreibung
den Terminus liegt offensichtlich in der di- des Deutschen und des Rumänischen be-
daktischen Absicht des Autors. trachtet werden (Stănescu/Nicolae 1994).
Das Buch weiht den Leser auch in Pro- Das Dependenzmodell von Engel (1977),
bleme der Sprachbeschreibung generell ein in dem Vorkommensrelationen als Depen-
und ist aus heutiger Perspektive über- denzbeziehungen zwischen Formklassen be-
raschend modern, auch wenn die traditio- schrieben und Inhalte als Definitionskriterien
nelle Grammatik die Information organisiert. sowie „sprechende“ Termini ausgeschlossen
Durch die Trennung von Form und Inhalt, sind, wurde als Beschreibungsgrundlage ge-
durch Kategorien- und nicht Bedeutungsver- wählt. Für das Rumänische fehlte eine syste-
gleiche, durch die Verwendung von Verschie- matische dependentielle Beschreibung, die
be-, Ersatz-, Weglass- und Additionsproben von den Projektmitarbeitern erstellt werden
in einem induktiven didaktischen Verfahren musste. Deutsche wie rumänische Grammati-
nimmt der Autor den taxonomischen Struk- ken wurden begrifflich und terminologisch
turalismus, Methoden des kognitiven Sprach- überdacht. Die Metasprache sollte Deutsch
unterrichts und, ohne wissenschaftlich-me- sein, dennoch war auch eine rumänische Be-
thodische Reflexion, die viel spätere „kontra- schreibungssprache bereitzustellen.
stive Analyse“ vorweg. Die Erklärungskraft der Dependenzgram-
matik reicht bis hin zum Satz, der als der
1.3.2. Das Projekt Deutsch-Rumänische grundlegende Bezugsrahmen und als Analy-
Kontrastive Grammatik (DRKG) sebasis auch für Wortgruppen und Wortklas-
Durch eine Vereinbarung zwischen dem Insti- sen betrachtet wird. Die Beschreibung des
tut für deutsche Sprache Mannheim und der Textes unterliegt den zur Entstehungszeit des
Universität Bukarest wird 1976 der Grund- Projektes bestehenden eklektischeren Mit-
stein des Projektes Deutsch-Rumänische Kon- teln, Modellen und Begriffen.
trastive Grammatik mit dem expliziten Ziel ei- Das Projekt leiteten Prof. Ulrich Engel
ner systematischen vergleichenden Beschrei- und Prof. Mihai Isbăşescu. Prof. Ruprecht
bung der beiden Sprachen im Hinblick auf Rohr leistete die Projektbegleitung als Rumä-
den Fremdsprachenunterricht gelegt. Durch nist. Die ursprünglichen, längere oder kür-
das organisatorische Konzept, durch die im zere Zeit an den Vorarbeiten wirkenden Mit-
Wesentlichen gemeinsame, einheitliche Theo- arbeiter, die in den fachlichen Veröffentli-
rie, Methode und Terminologie prägt das sich chungen auch als die Hauptvertreter der
stark hinauszögernde Projekt über 20 Jahre deutsch-rumänischen kontrastiven Linguistik
lang das Schaffen der meisten Linguisten in betrachtet werden können, waren Katharina
der rumänischen Germanistik (vgl. Stănescu Barba aus Braşov, aus Bukureşti Gabriela
1997). Barba/Durghinescu, Mihai Isbăşescu, Erika
Für das DRKG-Projekt wurde eine syn- Neumann, Radu Obreja, Anca Mihăilescu/
chronische, vor allem, aber nicht nur auf die Pitiş, Marcel Popescu, Nathalie Roth, Doina
380 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

Sandu, Speranţa Stănescu, Daniela Ştefă- sprache an. Gegebenenfalls auftretende all-
nescu, Erwin Tiwig, Paul Tuşinschi, aus Cluj tagssprachliche oder dialektale, also abwei-
Petre Forna, Georgeta Vancea, Elena Viorel, chende Formen werden selten und dann gra-
aus Iaşi Octavian Nicolae, Gertrud Sauer, phisch markiert aufgezeichnet.
aus Sibiu Gerhard Konnerth, Mariana Pe-
trescu, aus Timişoara Silvia Cara/Miculescu/ 2.2. Vergleich auf Systemebene
Gruber, Yvonne Lucuţa, Valerie Horak. 2.2.1. Dependenzgrammatik
Es wurden vier Kolloquien veranstaltet Die KGDR 1993 kann verstanden werden als
und die Beiträge in vier Sammelbänden ver-
zwei (fast) vollständige Beschreibungen der
öffentlicht (BDRKG 1979; 1980; 1981;
deutschen und der rumänischen Sprache, die
1981a). Um das Projekt entstanden in den ru-
auf der Grundlage des Engelschen Depen-
mänischen Universitätszentren 11 Disserta-
denzmodells mit einer weitgehend einheitli-
tionen (Lucuţa 1975; Stanciu 1978; Viorel
chen Terminologie erstellt werden und einen
1978; Binder 1978; Forna 1979; Stănescu
Vergleich der beiden Sprachen auf einer ab-
1980; Rioşanu 1982; Sandu 1983; Konnerth
strakten Ebene ermöglichen, ohne dass die
1984; Pitiş 1984; Popescu 1984), ein Verblexi-
Struktureigentümlichkeiten eines der beiden
kon und drei Monographien (Engel/Savin
Sprachsysteme zerstört oder nicht berück-
1983; Stănescu 1986; Gregor-Chiriţă 1991;
sichtigt würden.
Sandu 1993). Dem Projekt verbunden ist
auch Thun (1983). Nicht zu übersehen sind Das in Engel 1977 entworfene Dependenz-
auch zahlreiche Diplomarbeiten und die Mit- modell, in dem größere wie kleinere Elemente
arbeit der Studenten während der Berufs- innerhalb von Vorkommensrelationen zwi-
praktika. schen Formklassen definiert und beschrieben
Die Arbeit am Projekt veranlasste nicht werden, ermöglicht eine konsistente Beschrei-
zuletzt eine theoretische und didaktische bung von der Satzebene bis hin zur Wort-
Neuorientierung der Vorlesungen zur deut- ebene. Es hält einige durchgehende Prinzipien
schen Sprache der Gegenwart und der Leh- ein, unter denen das wichtigste Prinzip die
rerfortbildungskurse an den Lehrstühlen für Kombinatorik ist. Grundsätzlich kann jedes
Germanistik, so dass die bis spät in die 70er Wort das Vorkommen anderer Elemente re-
Jahre vorgetragene traditionelle Grammatik geln, ihnen formale und semantische Charak-
von einer dependentiell fundierten Gramma- teristika auferlegen. Dadurch wird es zum Re-
tikvorlesung verdrängt wurde (Stănescu gens seiner Dependentien. Es gibt wortklas-
1995; Lucuţa 1998). senspezifische Vorkommensrelationen (Rek-
tion) und innerhalb der dadurch definierten
Wortklassen weitere spezifische Rektionsver-
2. Die Kontrastive Grammatik hältnisse, die zur Bildung von Subklassen füh-
Deutsch-Rumänisch (KGDR 1993) ren (Valenz). Ein Regens bildet mit seinen De-
pendentien eine Wortgruppe, hier Phrase ge-
2.1. Zielgruppe und Beschreibungsobjekt nannt. Es gibt prinzipiell so viele Phrasenklas-
Die KGDR 1993 ist bestimmt für Lehrkräfte, sen wie Wortklassen. Durch die gewählte Vor-
für Deutschsprechende mit Rumänisch als gehensweise wird methodisch sichergestellt,
Zielsprache, für Rumänischsprachige mit dass die formale, die semantische und die
Deutsch als Zielsprache, für alle, die an pragmatische Ebene nicht durcheinandergera-
Strukturvergleichen der beiden Sprachen in- ten.
teressiert sind, und für alle, die Lehrmateria- Die KGDR 1993 besteht aus fünf Haupt-
lien erstellen. Auf der einen Seite soll sie zur teilen: S (Satz), V (Verb), N (Nominaler Be-
Verbesserung der Lehrwerke für Deutsch reich), P (Partikeln) und T (Text). In zwei
bzw. Rumänisch als Fremdsprache beitragen, kleineren Teilen werden ebenenübergreifende
auf der anderen Seite eine Hilfe für die Vor- Fragen wie Negation, Kongruenz, Koordina-
bereitung und Durchführung des Unterrichts tion, Apposition und Interpunktion behandelt.
der beiden Sprachen bieten (KGDR 1993, 9). Die Vorgehensweise einer Dependenzgram-
Es wird eine synchronische Beschreibung matik gilt für die Beschreibung des Satzes,
und Kontrastierung der „Standardform“ der des Verbalkomplexes, des nominalen Be-
Objektsprachen ohne Rücksicht auf frühere reichs und der Partikeln. Die Beschreibung
Sprachzustände geboten. Die angeführten, des Textes berücksichtigt satzübergreifende
selbstgebildeten oder aus Grammatiken ent- Konnexionen, baut jedoch vor allem auf Er-
nommenen Beispiele gehören der Gemein- kenntnissen der Pragmalinguistik auf.
35. Kontrastive Analysen Deutsch-Rumänisch: eine Übersicht 381

2.2.2. Keine Wortartengrammatik. als reine Konnexionsaktualisierung sprachli-


Satz- und Textgrammatik cher Einheiten dargestellt, sondern im Sinne
Die KGDR 1993 beschreibt zwar Wortklas- des kommunikativen Konzeptes von Sprache
sen, ist aber anders als die meisten herkömm- als Konnexität von Sprechakten bzw. von
lichen Grammatiken des Rumänischen und Äußerungen.
des Deutschen, die sich an die lateinische Jedem Text wird durch Redeziel und Kom-
Grammatik anlehnen, keine Wortartengram- munikationspartner eine bestimmte Charak-
matik. Die Berücksichtigung (sub)klassen- teristik aufgeprägt, auf der dann auch die
spezifischer Vorkommen führt zur Verfeine- Textsorten beruhen. Diesen liegen Regeln zu-
rung und gegenseitigen Anreicherung der Be- grunde, die befolgt werden müssen, wenn die
schreibungen der zwei Sprachen, zu system- Kommunikation nicht gestört werden soll.
bezogenen Erkenntnissen, die von der tradi- Bei der Beschreibung der Sprechakte, der Text-
tionellen Grammatik nicht beschrieben wer- konnexion, der Textstruktur und der Text-
den konnten. Gleichzeitig musste aber auch sorten sind grammatische, semantische und
der durch gewohnte Terminologien erweckte pragmatische Faktoren im Spiel. Der Spra-
Eindruck umgangssprachlichen Vorverständ- chenvergleich enthüllt hier große Ähnlichkei-
nisses durch genaues modelladäquates Defi- ten, aber auch ebenso große Unterschiede.
nieren abgebaut werden. 2.2.3. Visualisierte Kontrastierung.
So werden z. B. deutsche Verben neu klas- Umkehrbarkeit
sifiziert, fürs Rumänische werden sogar neue
Klassen abgegrenzt (z. B. Infinitiv-, Gerun- Die KGDR 1993 ist so verfasst, dass Ge-
dial- und Supinverben). Die Kategorien des meinsamkeiten und Unterschiede bereits
Tempus und Modus erhalten neue struktu- durch das Layout erkenntlich werden. Die
relle Werte, so dass andersgeartete Formen- beiden Sprachen werden in parallelen Spalten
paradigmen trotz gleicher Benennungen in beschrieben: Deutsch links und Rumänisch
den beiden Sprachen getrennt beschrieben rechts. Allgemeines und Sprachübergreifen-
werden, z. B.: dt. Konjunktiv und rum. Con- des wird quer über die Seite geschrieben. Was
junctiv (umbenannt zu Subjunktiv), dt. Per- sich entspricht, als Übersetzungsäquivalent,
fekt ⫺ rum. Perfect simplu/compus u. a.). In als gleichartige oder als kontrastierende Ka-
einem zweiten Schritt werden sie ggf. wegen tegorie, steht dabei auf gleicher Höhe. Wo zu
ihres Inhaltes assoziiert. Erscheinungen oder Kategorien der einen
Die dependenzielle Beschreibung wirkt Sprache eine direkte Entsprechung in der an-
sich tiefgreifend aus auf die Beschreibung des deren Sprache fehlt, werden äquivalente Er-
Satzes als „Konstrukt mit mindestens einem scheinungen oder Kategorien in der jeweils
finiten Verb“ (KGDR 1993: 31). Das Verb anderen Spalte im Petitdruck signalisiert. Da-
ist der Nukleus, der aufgrund seiner Valenz mit wird gezeigt, dass die Erscheinung oder
den Satzbauplan/das Satzmuster festlegt. Die Kategorie in dieser Sprache einen andern sys-
Partnerstellen werden mit Hilfe der Anaphori- tematischen Ort hat. Deutsche Termini ste-
sierung bestimmt, eines rein morphosyntakti- hen auch für gleichartige rumänische Phäno-
schen Verfahrens, das sicherstellt, dass das mene. Die jeweils nur deutschen oder nur ru-
Kriterium der Klassenzugehörigkeit und die mänischen Begriffsbezeichnungen signalisie-
Bezeichnung für die jeweilige Valenzstelle kei- ren die allein einsprachige Existenz der be-
neswegs ein semantisches ist. treffenden Klasse oder Kategorie.
Man hat grundsätzlich davon auszugehen, Die KGDR 1993 ist keine Übersetzungs-
dass in beiden Sprachen etwa dieselben Satz- grammatik. Nur scheinbar organisiert der
muster erkennbar sind und dass einem Verb deutsche Teil die rechte, rumänische Spalte.
mehrere Satzmuster zugeordnet werden kön- Die Aktualisierungen von Klassen enthalten
nen. Aber nur in seltenen Fällen liegen über- nur zufällig Übersetzungsäquivalenzen, die
setzungsäquivalente Verben beim selben Mu- dann freilich als Beispiele vorgezogen wer-
ster vor. Abweichungen stellen eher den Re- den. Das ist aber nicht die Regel: wichtig ist
gelfall und aus der Perspektive der ange- die Potentialität identischer Vorkommensre-
wandten kontrastiven Linguistik die häufig- lationen von gleichartig definierten Elemen-
ste Fehlerquelle dar. tenklassen, und auf dieser Ebene der Ab-
Es ist zweifellos ein Vorzug der KGDR, straktion sind viele Ähnlichkeiten zu ver-
auch dem Text den ihm gebührenden Platz zeichnen.
eingeräumt zu haben. Die Einheit des Textes Als Handbuch, nicht als Lehrbuch ge-
wird nicht als Summe von Sätzen und damit dacht, liefert die KGDR 1993 brauchbare In-
382 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

formationen über beide Sprachen sowohl un- Viele der Vorarbeiten z. B. zur Wortbil-
abhängig voneinander als auch im Vergleich, dung, zu den semantischen Feldern der Kau-
wobei die Beschreibung prinzipiell auch da- salität, der Aktionsart, der Verstärkung sind
durch umkehrbar ist, dass keine lernpsycho- nicht zu fertigen Arbeiten abgerundet, nicht
logischen, durch eine bestimmte Erstsprache veröffentlicht und auch nur zum Teil für die
bedingten Beschreibungsschwerpunkte vor- KGDR ausgewertet worden. Thun 1983 ging
gegeben sind. eigene Wege. Andere parallele Forschungen
ergänzen das Projekt (vgl. 3.2., 3.3.).
2.3. Anwenderorientierte Nach dem Erscheinen der KGDR 1993
Ergebnisgrammatik wird der Sprachenvergleich zunehmend um
Das zweibändige Buch ist eine anwendungs- pragmatische Fragestellungen erweitert. In
orientierte Grammatik und daher auf nach- einem Pluralismus der Perspektiven werden
vollziehbare Verfahren und wirklichkeitsnahe bestehende Beschreibungen wieder aufge-
Erklärungen angewiesen. Es fehlen theoreti- nommen. Lexikologisch-semantische Themen
sche Debatten, die Entscheidung für eine wie z. B. die semantische Konstituentenana-
konsequent anzuwendende Beschreibungs- lyse und die Beschreibung von Feldstruktu-
basis und für eine einheitliche, weitgehend ren (Yvonne Lucuţa und Silvia Gruber, Timi-
dem traditionellen Gebrauch folgende Termi- şoara), falsche Freunde als didaktisches Pro-
nologie ist schon in den Vorarbeiten gefallen. blem (Ioan Lăzărescu, Bukarest), als Pro-
Es gibt nur wenige graphische und formali- blem des Übersetzers (Elena Viorel, Cluj)
sierte Beschreibungen. oder des Rumäniendeutschen (Peter Kottler,
Timişoara) werden vertieft. Neue, dem Ent-
wicklungsstand der Linguistik und Didaktik
3. Individuelle Forschungsergebnisse entsprechende Forschungswege werden ein-
im Umfeld der KGDR 1993 geschlagen. Die pragmatische Analyse des
Textes im interkulturellen Diskurs ist Thema
3.1. Thematische Schwerpunkte von wissenschaftlichen Tagungen und von
In den 70er und 80er Jahren entstanden unter Haupt- und Wahlvorlesungen an den Lehr-
Anleitung der projektverbundenen Professo- stühlen für Germanistik, von studentischen
ren Mihai Isbăşescu und Jean Livescu grund- Diplomarbeiten und auch einiger nach 1989
legende kontrastiv orientierte Dissertationen. begonnener Dissertationen zu Fachsprachen,
Aus der theoretischen Auseinandersetzung Wirtschaftswerbung, Medienforschung u. a.
mit der in den 70er Jahren weltweiten kontra- In (fast) allen deutsch-rumänischen kon-
stiven Beschäftigung mit Sprachen und mit trastiven Arbeiten ⫺ eine vollständige Biblio-
der Engelschen Dependenzgrammatik (vgl. graphie zur DRKG gibt es in Stănescu (1997)
1.3.2.) in Relation zur traditionellen deut- ⫺ bleibt jedoch die als Zielsetzung formu-
schen und rumänischen Grammatik sowie zu lierte Orientierung auf den Lernprozess auf
anderen zeitgenössischen Modellgrammati- der methodischen Ebene uneingelöst. Ihre
ken entstand Stănescu 1980. Auch Lucuţa Grenzen sind die der kontrastiven Analyse-
(1975), Forna (1979), Sandu (1983), Konnerth methode generell: vom Lerner unabhängige
(1984) und Popescu (1984) sind theoretische sprachliche Teilsysteme konstituieren das Da-
Auseinandersetzungen mit bestehenden Be- tenmaterial für die Vorhersage bzw. die Er-
schreibungen von konkreten inhalts- und/oder klärung sprachpsychologischer Prozesse im
morphosyntaktischen Einzelaspekten im Hin- Lerner.
blick auf die Kristallisierung von nützlichen
Begriffen und Arbeitstechniken für eine kon- 3.2. Phonetik und Phonologie
trastive Grammatik. Einer theoretisch unein- Die kontrastive Beschreibung der Phonetik
heitlichen Bestimmung von deutschen Satz- und Phonologie des Deutschen und Rumäni-
bauplänen folgen allgemeine Empfehlungen schen konnte theoretisch und methodisch un-
für den fremdsprachlichen Deutschunterricht abhängig von der KGDR 1993 erfolgen. Rio-
in Binder (1978), während Viorel (1978) und şanu (1982) und Gregor-Chiriţă (1991) geben
Pitiş (1984) nebst detaillierten, eher traditio- theoretische, auf Aussprachewörterbücher
nellen Beschreibungen didaktische Anleitun- fußende vollständige Beschreibungen und
gen zur Vorbeugung potentieller Fehler anfüh- Vergleiche der hochsprachlichen Lautsys-
ren, die in okkasionellen Fehleranalysen an- teme. Rioşanu (1982) macht zusätzlich theo-
hand von Schüler- und Studentenarbeiten er- retische, auf der eigenen Unterrichtserfah-
kannt wurden. rung gründende Fehlervoraussagen und gibt
35. Kontrastive Analysen Deutsch-Rumänisch: eine Übersicht 383

methodisch-didaktische Anleitungen zur Lö- 4. Weitere kontrastiv angelegte


sung systembedingter potentieller Ausspra- Arbeiten
cheschwierigkeiten der Deutsch lernenden
Rumänen. Snagoreanu (1998) ist eine labor- 4.1. Rumänisch-deutscher Vergleich
gestützte Dissertation über die Intonation im
Die deutschsprachige Grammatik der rumäni-
Deutschen und Rumänischen.
schen Sprache der Gegenwart ist ein systema-
3.3. Das Valenzlexikon Deutsch-Rumänisch tischen Prinzipien folgendes und ⫺ soweit für
Eine Kontrastierung von „Entsprechungen“ das Verständnis und die Aneignung des Ru-
zwischen Satzmustern bleibt ergebnislos, weil mänischen angebracht ⫺ „konfrontativ ange-
auf Klassenebene nur zufällige einzelsprach- legtes“ Handbuch für Benutzer mit deutscher
liche Strukturmerkmale semantisch bedingter Muttersprache (Beyrer/Bochmann/Bronsert
Äquivalente geboten werden können (Stă- 1987: 13). Aus vielfachen Gründen ist es aber
nescu 1986, 165⫺167). nicht, wie die Autoren meinen, ein systemati-
Engel/Savin (1983) überwindet die rein scher Vergleich. Mit der Begründung, dass
morphosyntaktische Beschreibung der Satz- die meisten rumänischen Grammatiken tradi-
baupläne. Es geht von Engel/Schumacher tionell seien, wird auch das Deutsche mit
(1978) aus, erweitert die dortige Verbbe- denselben ihm nicht adäquaten Kategorien
schreibung um die Angabe der kategoriellen beschrieben. Hinzu kommt die inkonse-
Bedeutung der Valenzstellen und gibt, in quente Direktionierung der Beschreibung, in
Spiegelbild gedruckt, die in gleicher Weise der mal vom Rumänischen aufs Deutsche,
strukturierte Beschreibung der rumänischen mal vom Deutschen aufs Rumänische ge-
Verbentsprechung mit einem Beispielsatz an. schlossen wird. Einige Beispiele sind die
Die semantischen Restriktionen der Leerstel- gleichgeschaltete Wortklassifikation und die
lenbesetzung werden immer nur am konkreten eklektisch-forcierte Behandlung der Modus-
Satz formuliert. Sie helfen, Synonympaare bei kategorie im Deutschen, die Entdeckung von
gleichem Satzbauplan, homonyme bzw. poly- Systemlücken im Rumänischen, wo der „con-
seme Verben zu unterscheiden sowie zwischen junctiv prezent“ mit dem deutschen Kon-
Übersetzungsmöglichkeiten zu wählen. Be- junktiv Präsens nicht nur gleichbenannt, son-
dingt durch das Übersetzungskonzept blei- dern auch inhaltlich und systemisch gleichge-
ben im rumänischen Teil die semantischen stellt wird. Danach gäbe es auch den im
Konkomitanzbedingungen der Verben auf Deutschen existierenden „Konjunktiv Imper-
die der eben geforderten Übersetzungsva- fekt“ im Rumänischen nicht, und es werden
riante beschränkt. Dadurch bleiben viele der dafür in anderen Verbformen Äquivalenzen
Hauptbedeutungen der rumänischen Verben gefunden.
unbeschrieben, und das Lexikon ist nicht um- Das Buch bietet keinen abgerundeten Be-
kehrbar. Es bringt aus kontrastiv-didakti- griffsapparat, signalisiert oft metatheoreti-
scher Perspektive nützliche Informationen sche und metasprachliche Debatten in der
zur Satzbildung, zur Flexion und zur Perfekt- Fachliteratur, ohne selbst eine Lösung zu bie-
bildung im Deutschen und zeigt die spra- ten. Der Bezug auf das Deutsche liegt mal im
chenübergreifende Erklärungskraft des Va- Formellen, mal im Inhaltlichen oder Funktio-
lenzbegriffes. nalem, ist meist akzidentell und nicht not-
3.4. Übersetzung und kontrastive Analyse wendig begründet, daher aus der Sicht einer
konfrontativen Analyse, die sich als erster re-
Unabhängig vom DRKG-Projekt stellt Stan-
ciu (1978) linguistische Kriterien zur Beurtei- lativ systematischer Vergleich ausgibt (Bey-
lung der Qualität von Übersetzungen auf. rer/Bochmann/Bronsert 1987: 13), im We-
Hierfür werden die Valenztheorie, die Feld- sentlichen unbefriedigend.
theorie und vor allem die strukturelle Seman- 4.2. Deutsch-rumänischer Vergleich
tik herangezogen. Die Verbvalenz verweist auf
semantisch-syntaktische Relationen im Satz- Bei der Übersetzung der Kleinen Deutschen
kontext, und die Analyse der semantischen Duden-Grammatik (Hoberg/Hoberg 1996)
Mikrostrukturen verhilft zur Beseitigung von und des Leitfadens zur Deutschen Grammatik
Defizienzen in der Äquivalenzerschließung (Helbig/Buscha 1999) waren metasprachliche
synonymer Wörter. Eine kontrastive Sem- und und damit verbunden auch intersystemische
Distributionsanalyse wird am Feld der Posi- Probleme zu lösen, die eine Bearbeitung so-
tionsverben und ihrer entsprechenden Fakti- wohl des deutschen als auch des neu hinzuge-
tiva erläutert (Stanciu 1978: 58⫺79). tretenen rumänischen Teils erforderten. Der
384 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

Übersetzer ist einer der Autoren der KGDR Forna, Petre (1979): Das System der Präpositionen
1993, und viele der dort gemachten Erfah- im Deutschen und im Rumänischen. Diss. (masch.).
rungen sind hier ausgewertet worden. Trotz Bukarest.
paralleler Beschreibung wird dem einzel- Frisch, Helmuth (1983): Beiträge zu den Beziehun-
sprachlichen Systemgleichgewicht große Auf- gen zwischen der europäischen und der rumänischen
merksamkeit geschenkt. So sind nicht die Linguistik. Eine Geschichte der rumänischen Lingui-
stik des 19. Jahrhunderts. Bochum/Bukarest.
Übersetzungsäquivalenzen von Beispielen für
die Nebeneinanderstellung von Sprachele- GRAMATICA 1838: Gramatica romı̂nească şi
nemţească pentru tinerimea naţională, ı̂ntr-acest
menten ausschlaggebend, sondern katego-
chip ı̂ntocmită de un prieten al naţii […] 1838 [Ru-
rielle und funktionale Argumente. Das Er- mänische und deutsche Grammatik für die natio-
gebnis sind zwei unidirektionale deutsch-ru- nale Jugend, in dieser Art zusammengestellt von ei-
mänische Grammatiken, die das Rumänische nem Freund der Nation […]. Braşov […] 1838.].
nur insoweit unter dem Aspekt der Unter- Gregor-Chiriţă, Gertrud (1991): Das Lautsystem
schiede oder Ähnlichkeiten beschreiben, als des Deutschen und des Rumänischen. Heidelberg
Impulse von der Ausgangssprache Deutsch (Deutsch in Kontrast 11).
gegeben werden. Auch bleibt die Beschrei- Helbig, Gerhard; Joachim Buscha (1999): Grama-
bung beider Sprachen verständlicherweise tica limbii germane [Leitfaden der deutschen Gram-
den deutschen Beschreibungsmodellen ver- matik, Gerhard Helbig, Joachim Buscha, Leipzig,
pflichtet, selbst wenn der Übersetzer an man- Berlin, München 1992], übers. von Nicolae Octa-
chen Stellen um einiges andere wissen dürfte. vian, Bucureşti.
Hoberg, Rudolf; Ursula Hoberg (1996): Gramatica
limbii germane, [Der kleine Duden „Deutsche
5. Literatur in Auswahl Grammatik“, bearb. von Rudolf und Ursula Ho-
berg, Mannheim, Wien, Zürich 1988], übers. u. be-
Beyrer, Arthur; Klaus Bochmann; Siegfried Bron- arb. von Octavian Nicolae. Iaşi.
sert (1987): Grammatik der rumänischen Sprache Kelp, Helmut (Hg.) (1990): Germanistische Lingui-
der Gegenwart. Leipzig. stik in Rumänien 1945⫺1985. Bibliographie. Mün-
BDRKG 1979: Beiträge zur Deutsch-rumänischen chen.
kontrastiven Grammatik. Erstes Kolloquium des KGDR 1993: Ulrich Engel; Mihai Isbăşescu; Spe-
Kollektivs zur DRKG, Sibiu, 17.⫺18. November ranţa Stănescu; Octavian Nicolae: Kontrastive
1978. Bukarest. Grammatik deutsch-rumänisch. Heidelberg.
⫺ 1980: Beiträge zur Deutsch-rumänischen kontra- Konnerth, Gerhard (1984): Das Adjektiv und die
stiven Grammatik. Zweites Kolloquium des Kollek- Adjektivphrase im Deutschen und im Rumänischen.
tivs zur DRKG, Iaşi, 2.⫺3. November 1979. Buka- Diss. (masch.). Bukarest.
rest. Lucuţa, Yvonne (1975): Die Aktionalität im Neu-
⫺ 1981: Beiträge zur Deutsch-rumänischen kontra- hochdeutschen. Diss. (masch.) Bukarest.
stiven Grammatik. Drittes Kolloquium des Kollek- ⫺ (1998): Kontrastive Grammatik am Temeswarer
tivs zur DRKG, Sibiu, 16.⫺17. Mai 1980. Bukarest. Lehrstuhl für Germanistik. In: Zeitschrift der Ger-
⫺ 1981a: Beiträge zur Deutsch-rumänischen kon- manisten Rumäniens 7/1⫺2 (13⫺14). 319⫺328.
trastiven Grammatik. Viertes Kolloquium des Kol- Pitiş, Anca (1984): Kontrastive Untersuchung der
lektivs zur DRKG, Bukarest, 14.⫺15. November Negation in der deutschen und in der rumänischen
1980. Bukarest. Sprache. Diss. (masch.). Bukarest.
Binder, Ursula (1978): Die Satzbaupläne im Deut- Popescu, Marcel (1984): Die Modalität im Deut-
schen und ihre Anwendung im Fremdsprachenunter- schen und Rumänischen. Diss. (masch.). Bukarest.
richt. Diss. (masch.). Bukarest. Rioşanu, Ecaterina (1982): Das phonologische Sy-
Corbea-Hoişie, Andrei (1995): Für eine richtige stem des Deutschen und seine phonetische Realisie-
rung aus der Perspektive des DaF-Unterrichts an
Auslandsgermanistik. Die Lage des Faches in Ru-
Rumänen. Eine kontrastive Studie. Diss. (masch.).
mänien. In: Christoph König (Hg.): Germanistik in
Bukarest.
Mittel- und Osteuropa 1945⫺1992. Berlin, 168⫺
182. Sandu, Doina (1983): Stellungsverhalten der Ergän-
zungen im Satz. Kontrastive Untersuchung deutsch-
Engel, Ulrich (1977): Syntax der deutschen Gegen- rumänisch. Diss. (masch.). Bukarest.
wartssprache. Berlin (Grundlagen der Germanistik
22). ⫺ (1993): Die Wortstellung im Deutschen und im
Rumänischen. Heidelberg (Deutsch im Kontrast
⫺; Emilia Savin (1983): Valenzlexikon deutsch-ru- 13).
mänisch. Heidelberg (Deutsch im Kontrast 3). Savin, Emilia (1985): Mică gramatică a limbii ger-
⫺; Helmut Schumacher (1978): Kleines Valenzlexi- mane/Kleine Grammatik der deutschen Sprache. Bu-
kon deutscher Verben. Tübingen. karest.
36. Kontrastive Analysen Deutsch-Russisch: eine Übersicht 385

⫺; Basilius Abager; Alexandru Roman (1968): ⫺ (1995): Standort, Möglichkeiten und Grenzen
Gramatică practică a limbii germane [Praktische einer kontrastiven Grammatik im Germanistikstu-
Grammatik der deutschen Sprache]. Bukarest. dium in Rumänien. In: Reformdiskussion und curri-
⫺; Ioan Lăzărescu (1982): Limba germana. Curs culare Entwicklung in der Germanistik. DAAD-
practic. [Deutsch. Praktischer Kurs]. Bukarest. Tagungsbeiträge zur Internationalen Germanisten-
tagung des DAAD vom 24.⫺28. Mai 1995 in Kassel.
⫺; Nathalia Roth; Tuşinschi Paul u. a. (1976):
Bonn (DAAD Dokumentationen & Materialien),
Texte şi exerciţii pentru seminarul de traducere din
291⫺299.
limba româna ı̂n limba germană. Pentru studenţii
Facultăţii de limbi germanice [Texte und Übungen ⫺ (1997): Zwanzig Jahre Deutsch-Rumänisch kon-
für das Übersetzungsseminar aus dem Rumäni- trastiv (mit einem umfassenden Literaturverzeich-
schen ins Deutsche. Für die Studenten der Fakultät nis). In: Beiträge zur Geschichte der Germanistik in
für Germanistik]. Bukarest. Rumänien. Bukarest, 199⫺223.
Snagoveanu-Spiegelberg Ileana (1998): Theoreti- ⫺; Octavian Nicolae (1994): Zum ersten Mal eine
sche und praktische Grundlagen einer vergleichenden ganzheitliche kontrastive Beschreibung Deutsch-
Untersuchung der Intonation im Deutschen und im Rumänisch. In: Zeitschrift der Germanisten Rumä-
Rumänischen. Diss. (masch.). Bucureşti. niens 3/1⫺2 (5⫺6), 29⫺34.
Stanciu, Cristina Margareta (1978): Die Anwen- Thun, Harald (1983): Dialogstrukturen im Deut-
dung der Übersetzungstheorie im Sprachvergleich schen und Rumänischen. Eine strukturell-kontrastive
Deutsch-Rumänisch. Diss. (masch.). Timişoara.
Studie zu den Existimatoren. Tübingen. (Tübinger
Stănescu, Speranţa (1980): Die Valenztheorie als Beiträge zur Linguistik 239).
Grundlage für eine deutsch-rumänische kontrastive
Untersuchung. Diss. (masch.). Bukarest. Viorel, Elena (1978): Das Genus Verbi im Deutschen
und im Rumänischen. Diss. (masch.). Bukarest.
⫺ (1986): Verbvalenz und Satzbaupläne. Eine
deutsch-rumänische kontrastive Studie. Heidelberg
(Deutsch im Kontrast 5). Speranţa Stănescu, Bukureşti (Rumänien)

36. Kontrastive Analysen Deutsch-Russisch: eine Übersicht

1. Zur Geschichte kontrastiver Forschungen gen vornehmen (Ščerba 1974, 341). Die erste
2. Wortschatz und Benennungsbildung zusammenfassende und systematisierende
3. Phraseologie kontrastive Monographie des Dt. von Kru-
4. Morphologie
šel’nickaja (1961) ist in verschiedener Hin-
5. Satzbau
6. Text sicht bemerkenswert, da sie sich nicht auf
7. Aussprache eine einfache Gegenüberstellung des Formen-
8. Resümee systems beschränkt, sondern die Ausdrucks-
9. Literatur in Auswahl mittel in Korrelation zu ihren Bedeutungen
vor dem Hintergrund ihres Funktionierens in
der Konsituation zeigt. Dabei werden äquiva-
1. Zur Geschichte kontrastiver
lente Erscheinungen in der Vergleichssprache
Forschungen auf unterschiedlichen Stratifikationsebenen
Der Gedanke, dass die Gegenüberstellung auch unter Einschluss suprasegmentaler
des Baus der Fremdsprache mit der Mutter- Kennzeichnungen wie Intonation und Wort-
sprache bei der praktischen Spracherlernung stellung konstatiert. Die Berücksichtigung
bzw. bei der Vertiefung von bewussten der Thema-Rhema-Gliederung, wie sie in der
Kenntnissen über lexikalische und grammati- Germanistik von Drach und Boost diskutiert
sche Spezifika der Fremdsprache eine wesent- worden waren, hatten in der sowjetischen
liche Hilfe sein kann, findet sich in der russi- Linguistik dieser Zeit einen wesentlichen
schen Linguistik relativ früh. Bereits in den Neuwert. Neben dieser unterrichtsbezogenen
30er Jahren hatte Ščerba darauf verwiesen, Entwicklungslinie stehen Arbeiten, die ihren
dass man beim Vergleich des Russ. mit dem Ausgangspunkt in Fragestellungen der Über-
Frz. und dem Dt. feststellen kann, dass die setzungswissenschaft haben. Diese Richtung
Sprachen bei der Benennung gleicher Er- wird für das Dt. (neben dem Engl. und Frz.)
scheinungen unterschiedliche Spezifizierun- durch Fedorov (1953) repräsentiert, der im
386 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

synchronen Sprachvergleich eine wesentliche pensiert werden, vgl. z. B. die Entsprechun-


Grundlage für die Übersetzungswissenschaft gen von desubstantivischen Verben der Wort-
sieht. Ähnlich wie Krušel’nickaja spricht er bildungskategorie ,mit Hilfe des vom moti-
davon, dass durch den Vergleich der Überset- vierenden Substantiv Bezeichneten eine
zung mit dem Original Fragestellungen auf- Handlung ausführen‘, die die Handlung und
geworfen werden, die in Bezug auf die iso- das Gerät im Instrumental benennen: dt.
lierte Erforschung und Beschreibung der Ein- fönen ⫺ russ. sušit’ fenom (vgl. Ohnheiser
zelsprachen nicht entstanden wären, und dass 1987, 111⫺113). Diese Entsprechungen ver-
kontrastive Analysen es erlauben, die struk- weisen darauf, dass ein Vergleich der Wort-
turellen Besonderheiten jeder der beiden bildung des Dt. und Russ. nicht bei der Ge-
Sprachen zu erkennen. Auch wenn Fragen genüberstellung von Derivations- und Kom-
der Identität bzw. Differenz im lexikalisch- positionspotenzen isolierter Lexeme stehen
grammatischen Aufbau der Vergleichsspra- bleiben kann, sondern onomasiologische Ka-
chen noch nicht eindeutig geklärt werden tegorien als Tertium Comparationis herange-
können, bringt die entsprechende Gewich- zogen werden müssen. Nur so wird deutlich,
tung der Inhaltsseite bei der Konfrontation dass nicht allein Wortbildungsverfahren dif-
einen Gewinn gegenüber bisherigen allein auf ferieren, sondern als Kompensationen in der
die Formmittel gerichteten Untersuchungen. Vergleichssprache auch analytische Mehr-
Dazu kommt bei Fedorov eine hohe Sensibi- wortbenennungen, semantische Derivationen
lität gegenüber textuellen Faktoren und der und grammatische Kennzeichnungen auftre-
Determination des Sprachvergleichs durch ten können. Eine besondere Form stabiler
Textsorten und national-kulturelle Besonder- analytischer Benennungen im Russ., die das
heiten, die in kontrastiven Deskriptionen des Dt. nicht kennt, sind die Binomina, die vor
Dt. und Russ. der folgenden Jahre vielfach allem als Entsprechungen von dt. Komposita
aus der Sicht der Linguisten wieder ver- und dt. Motionsbildungen auftreten können,
schwunden waren. vgl. dt. Münzfernsprecher ⫺ russ. telefon-av-
tomat, Ärztin ⫺ ženščina-vrač. Die Tendenz
zur häufigeren Kompositabildung im Dt. ge-
2. Wortschatz und Benennungsbildung genüber einer stärker frequentierten Mehr-
wortbenennung im Russ. relativiert sich in
Die kontrastive Analyse des dt. und russ. gewisser Weise, wenn in die Betrachtung auch
Wortschatzes hat sich bislang vorrangig auf umgangssprachliche Bildungen des Russ. ein-
Unterschiede und Übereinstimmungen ein- bezogen werden, wo häufig Univerbierungen
zelner Lexeme oder bestimmter Gruppen von die Mehrwortbenennungen ersetzen, vgl. dt.
Wörtern konzentriert. Das in vielen Einzel- Fünftagewoche und russ. pjatidnevnaja nedelja
untersuchungen zusammengetragene empiri- sowie pjatidnevka. Einen besonderen Platz im
sche Material lässt im Überblick eine gewisse Rahmen des Wortschatzvergleichs nehmen
Systematisierung der Äquivalenzbeziehungen die Eigennamen ein. Die Gegenüberstellung
zwischen Elementen des dt. und russ. Wort- von Namen wie dt. Peter, Vera, Claudia und
schatzes erkennen. Differenzen zeigen sich in russ. Petr, Vera, Klavdija ist naturgemäß vor-
den Eins : Viele- bzw. Viele : Eins-Entspre- nehmlich unter phonetischen Gesichtspunk-
chungen sowie in Generalisierungs- bzw. Spe- ten von Interesse. Referentiell-semantisch ist
zifizierungslücken (Birkenmaier 1987, 16ff.). eine Konfrontation gegenstandslos, weil diese
Die Berücksichtigung der Interdependenz Onyme außerhalb eines Textes oder einer Ge-
von Wortschatzanalyse und Grammatik ver- sprächssituation keine bestimmte Person be-
mag auch die Relevanz von Valenzeigen- zeichnen und keine begriffliche Bedeutung
schaften für den Lexemvergleich zu verdeutli- aufweisen. Erst ihre Verknüpfung mit einem
chen. Attributivische Verbindungen eines appellativischen Element bewirkt ihre indivi-
russ. Nomens können z. B. in Abhängigkeit dualisierende Funktion und macht sie für die
davon, ob das Attribut ein Beziehungs- oder interlinguale Gegenüberstellung ⫺ wie in den
Qualitätsadjektiv ist, gleichgelagerte Wort- appositionellen Fügungen Peter der Große
fügungen oder Komposita im Dt. erfordern, oder Paul III. und Petr Velikij oder Pavel III
vgl. russ. nepreryvnoe dviženie (Qualitätsad- ⫺ relevant (Gutschmidt 1990, 571ff.). Bei
jektiv) ⫺ dt. ununterbrochener Verkehr, ulič- derartigen im dt.-russ. Kontakt historisch be-
noe dviženie (Beziehungsadjektiv) ⫺ Straßen- legten Namen wird nicht die ansonsten ge-
verkehr, dt. Einwortbenennungen können bräuchliche Transkription des Namens als
durch russ. analytische Nominationen kom- Äquivalent gewählt, sondern die Substitution
36. Kontrastive Analysen Deutsch-Russisch: eine Übersicht 387

durch die in der nationalkulturellen Tradition legenheiten, 5) Stilistische Synonymie (komu-


übliche Form. Toponyme rücken dann ins l. more po koleno ⫺ weder Tod noch Teufel
Blickfeld kontrastiver Fragestellungen, wenn fürchten) mit gleicher Situationsbezogenheit,
sie entweder vollständig aus appellativischen aber stilistischer Differenzierung, 6) Polyse-
Elementen bestehen, wie z. B. dt. Lange mie bzw. Homonymie (jazyk prilip k gortani
Straße ⫺ russ. Dlinnaja ulica, bzw. aus pro- ⫺ die Zunge klebt am Gaumen) als falsche
prialen und appellativischen Elementen zu- Freunde, denn im Russ. in der Bedeutung
sammengesetzt sind, wie z. B. dt. Schweriner ,vor Erstaunen verstummen‘ und im Dt. ,dur-
See ⫺ russ. Šverinskoe ozero (vgl. Probst stig sein‘, 7) Enantiosemie (u kogo-l. kaša v
1984, 45ff.). Die innere Form der Nominatio- golove ⫺ jd. hat Grütze im Kopf) mit der Be-
nen ist ein wesentlicher Faktor der typolo- deutung ,dumm‘ im Russ. und ,klug‘ im Dt.
gisch-charakterologischen Eigenständigkeit Ein onomasiologischer Ausgangspunkt
von Wortschatz und Wortbildung. Derartige würde auch nichtphraseologische Entspre-
vergleichende Analysen im Dt. und Russ. ste- chungen einbeziehen, z. B. für das Dt.: 1)
hen noch in der Anfangsphase. Es fehlen (idiomatische) Komposita, vgl. solomennaja
auch Forschungen zur Struktur des Wort- vdova ⫺ Strohwitwe (mit gleicher Figuriert-
schatzsystems, die Erscheinungen wie u. a. heit) und glup kak probka ⫺ stockdumm (mit
Polysemie, Synonymie und Antonymie, wie unterschiedlicher Figuriertheit), 2) stabile
Hyperonymik und Hyponymik, direkte und Konstruktionen (ohne Figuriertheit und
übertragene Bedeutungen kontrastiv erfassen Emotionalität), vgl. ne stavit’ vsjakoe lyko v
(vgl. Kotorova 1998). Das Methodeninventar stroku ⫺ nicht alles so genau nehmen, 3) kon-
kontrastiver dt.-russ. lexikalischer Analysen notativ-emotional markierte Lexeme, vgl. pe-
wird noch zu wenig theoretisch reflektiert. remyvat’ kostočki komu-l. ⫺ über jdn. herzie-
hen, 4) nichtmarkierte Lexeme oder Para-
phrasierungen, vgl. v polnyj golos ⫺ offen.
3. Phraseologie Für weitere kontrastive Analysen der phra-
seologischen Struktur muss stärker die situa-
Die Phraseologie ist als linguistische Diszi-
tive Invariante als Tertium Comparationis
plin ein relativ junges Gebiet, sie hat jedoch
herangezogen und die Systemkonfrontation
in der kontrastiven Analyse Dt.-Russ. einen
durch einen interkulturellen Vergleich der
besonderen Stellenwert, da russ. Linguisten
kommunikativen Verwendung ersetzt wer-
in produktiver Fortführung der Ideen von
den.
Bally mit wesentlichen theoretischen Arbei-
ten die Phraseologie schon Ende der 40er
Jahre als selbständige Teildisziplin etablieren 4. Morphologie
konnten (Vinogradov 1977). Arbeiten russ.
Germanisten zur Phraseologie des Dt. konn- Während kontrastive Analysen auf der Ebene
ten diese Ansätze fortsetzen (Černyševa 1970) der Lexik sich vielfach auf die Gegenüberstel-
und auch kontrastive Fragestellungen nicht lung von Lexemen bzw. Wortfeldern aus bei-
nur unter didaktischem, sondern vor allem den Sprachen beschränken können, zeigt sich
unter linguistischem Aspekt in die internatio- beim Vergleich von grammatischen Erschei-
nale Diskussion einführen (Rajchštejn 1980, nungen, dass das, was in einer Sprache z. B.
23ff.). Der Autor unterscheidet für den Ver- in Form einer morphologischen Kategorie
gleich Dt.-Russ. folgende Äquivalenztypen: grammatikalisiert ist, in der Vergleichs-
1) Identität (russ. igrat’ rol’ ⫺ dt. eine Rolle sprache nicht kategorialisiert sein muss. Stan-
spielen) mit gleicher Semantik und Figuriert- dardbeispiele für ein derartiges Entspre-
heit, 2) Strukturelle Synonymie (namylit’ go- chungsverhältnis zwischen dem Dt. und
lovu komu-l. ⫺ jdm. den Kopf waschen) mit Russ. sind die Kategorie des Aspekts des
gleicher Semantik, aber lexikalischen Diffe- russ. Verbs und ihr Fehlen im Dt. (vgl. An-
renzen, 3) Ideographische Synonymie (rubit’ dersson 1972) sowie die nur im Dt. vorhan-
s pleča ⫺ kein Blatt vor den Mund nehmen) in dene Kategorie der Determination des Sub-
der Gegenüberstellung der Bedeutungen ,sich stantivs (vgl. Birkenmaier 1979; Gladrow
offen und schroff aussprechen‘ und ,offen 1979). Nur für den referentiellen Gebrauch
seine Meinung sagen, ohne etwas zu beschö- der Substantive im Dt. finden sich im Russ.
nigen‘, 4) Hyperonymie/Hyponomie (mel’- signifikante Entsprechungen, für die generali-
kaja ryba ⫺ kleiner Fisch) im Russ. nur für sierende Verwendung der Artikelformen las-
Menschen, im Dt. auch für Dinge und Ange- sen sich keine regulären Äquivalente nach-
388 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

weisen. Ebenso findet auch der lexikalisierte liegen vorrangig nicht in der Anzahl der Ka-
Artikelgebrauch in idiomatischen Verknüp- sus, sondern einmal in den unterschiedlichen
fungen wie in dt. Hand anlegen, aber die syntagmatischen Regularitäten für die Kasus-
Hand reichen, Atem holen, aber den Atem an- gestaltung (Valenzbeziehungen) und zum an-
halten, keine formell relevanten Entsprechun- deren darin, dass Kasusrelationen des Russ.
gen im Russ. Für das Auftreten der Artikel- im Dt. in Form von Einzellexemen, d. h. von
opposition bei der individualisierenden Ver- Komposita, ausgedrückt werden können, vgl.
wendung des Substantivs lassen sich im Russ. butylka iz-pod moloka ⫺ Milchflasche, pam-
jedoch klare Entsprechungsverhältnisse er- jatnik Puškinu ⫺ Puschkindenkmal, zavedu-
kennen. Das durch die Artikelform ein als juščij kafedroj ⫺ Lehrstuhlleiter. Eine syste-
neu erwähnt gekennzeichnete Substantiv matische kontrastive Analyse der korrelati-
muss in der russ. Entsprechung in die Endpo- ven Beziehungen zwischen den semantischen
sition einer neutralen Äußerung rücken, vgl. Kasus im Sinne von Fillmore und den Ober-
Eine junge Frau mit einer großen Aktentasche flächenkasus im Dt. und Russ. steht noch
betrat plötzlich den Hörsaal. ⫺ Vdrug v audi- aus, sie ist aber, wie die Beispiele zeigen, von
toriju vošla molodaja ženščina s bol’šim portfe- hoher praktischer Relevanz für die Spracher-
lem. Der Korrelationsmechanismus zwischen lernung. In dieser Hinsicht muss auch die
der Determination des Substantivs und der Differenzierung in Bezug auf die unterschied-
Thema-Rhema-Gliederung zeigt sich auch in liche formelle Realisierung der Numeruskate-
einem Satz, der durch ein direktes Objekt er- gorie im Dt. und Russ. verstanden werden,
weitert ist, vgl. die beiden folgenden Sätze, vgl. z. B. dt. die Brille/die Brillen (Sg. und Pl.)
die sich nur durch die Grenze zwischen ⫺ russ. očki (Pluraletantum), dt. die Masern
Thema und Rhema der Äußerung und durch (Pluraletantum) ⫺ russ. kor’ (Singularetan-
die Intonationskontur unterscheiden: Vera 兩 tum), dt. die Möhre/die Möhren (Sg. und Pl.)
napisala recenziju. ⫺ Vera hatte eine Rezen- ⫺ russ. morkov’ (Singularetantum, Kollekti-
sion geschrieben. Vera napisala 兩 recenziju. ⫺ vum), zum Letzteren die Ableitung eines Sin-
Vera hatte eine/die Rezension geschrieben. Die gulativums: morkovka.
Bedeutung der Indeterminiertheit des Objekt-
substantivs wird hier nur durch das erste Bei-
spiel eindeutig signalisiert, im zweiten hinge- 5. Satzbau
gen, wo die Grenze zwischen Thema und
Rhema nach dem Verb liegt, wird markiert, Der deutlichste Unterschied im Satzbau bei-
dass das Substantiv recenzija durch einen der Sprachen liegt darin, dass das Russ. im
Kontrastakzent hervorgehoben wird und der Gegensatz zum Dt. eingliedrige Strukturmu-
Satz den Sinn hat, dass Vera eine bzw. die ster aufweist, die kein formelles Subjekt aus-
Rezension und nicht etwa eine Reportage ge- gliedern. Ihnen entsprechen regulär zweiglie-
schrieben hatte. Eine derartige Kontrastposi- drige dt. Strukturmuster mit grammatischem
tion gibt die indeterminierte Bedeutung nicht Subjekt und grammatischem Prädikat, vgl.
eindeutig wieder. Dieses Beispiel zeigt an- die russ. unpersönlichen Sätze vom Typ Mo-
hand einer syntaktisch und suprasegmental rosit ⫺ dt. Es nieselt, die Nominalsätze wie
sehr einfachen Konstruktion, dass bei der Vesna ⫺ Es ist Frühling, die unbestimmt-per-
Wiedergabe der Determinationsopposition sönlichen Sätze wie Ždut tebja ⫺ Man wartet
im Russ. die genaue Konstellation der auf dich, die verallgemeinert-persönlichen
Thema-Rhema-Gliederung zu berücksichti- Sätze wie Uma ne kupiš’ ⫺ Verstand kann
gen ist und die vielfach in der Fachliteratur man nicht kaufen, die Prädikativsätze wie Na
zu findende Formulierung, dass ein indeter- ulice bylo cholodno ⫺ Draußen war es kalt
miniertes Substantiv im Russ. anhand seiner und die Infinitivsätze wie Sud’by ne minovat’
Endposition im Satz zu erkennen sei, die ⫺ Dem Schicksal kann man nicht entgehen.
wirklichen Verhältnisse des informationalen Im Dt. ist die Position des grammatischen
Aufbaus russ. Äußerungen vereinfacht. Ne- Subjekts ⫺ wenn man von Ellipsen absieht ⫺
ben diesen topologisch-prosodischen Aus- obligatorisch entweder durch ein rein formel-
drucksmöglichkeiten der Determiniertheit/ les es oder durch das Indefinitpronomen
Indeterminiertheit verfügt das Russ. auch man, das auf ein Agens verweist, gekenn-
über einige morphologische sowie verschie- zeichnet (vgl. Gladrow 1997). In den prototy-
dene lexikalische Wiedergabemittel (vgl. u. a. pischen Realisierungen des Subjekts im Russ.
Gladrow 1979, 153⫺232). Die kontrastiv re- und Dt. können grammatischer Nominativ
levanten Unterschiede für die Kasuskategorie mit semantischer Agentivität und informatio-
36. Kontrastive Analysen Deutsch-Russisch: eine Übersicht 389

naler Thematizität weitgehend koinzidieren, vermögen. Sätze ohne Subjektsnominativ im


vgl. russ. Viktor uechal und dt. Viktor ist weg- Russ. können ⫺ wie die Infinitivsätze ⫺ auch
gefahren. Die Divergenzen zwischen den russ. pragmatisch markiert sein, und zwar da-
und dt. Satzstrukturen treten besonders dann durch, dass sich das Subjektsdenotat mit
hervor, wenn Nominativ, Agentivität, The- einem modal modifizierten Prädikat verbin-
matizität und Assertion nicht zusammenfal- det, vgl. Segodnja tebe ubirat’ komnatu ⫺
len und sich auf den einzelnen Strukturie- Heute musst du das Zimmer aufräumen. Auf
rungsschichten unterschiedliche Realisierun- diese Weise kann das Russ. das Fehlen eines
gen ergeben. In der grammatischen Struktur dem Dt. vergleichbaren Systems von moda-
der russ. Sätze sind das die Modelle, in denen len Hilfsverben kompensieren. Eine detail-
die Position des grammatischen Subjekts ⫺ lierte kontrastive Deskription der russischen
wie in den unbestimmt-persönlichen, verall- Infinitivsätze ist jedoch noch eine Aufgabe
gemeinert-persönlichen und unpersönlichen der Zukunft.
Konstruktionen ⫺ nicht durch eine Nomina-
tivform aufgefüllt ist. Sie signalisieren ganz
bestimmte semantische Modifikationen, z. B. 6. Text
eine Anonymisierung Emu pozvonili v univer-
sitet ⫺ Man hatte ihn in der Universität ange- Kontrastive Analysen des Dt. und Russ. ste-
rufen; eine Generalisierung Ee ne ubediš’ ⫺ hen dem Untersuchungsobjekt Text bzw. Dis-
Man kann sie nicht überzeugen; oder eine kurs immer noch zögernd gegenüber. Es ist
Impersonalisierung der Subjektsposition Pod bisher nur in ersten Ansätzen gelungen, die
nogami skripit ⫺ Unter den Füßen knirscht es. in den letzten Jahren bei einzelsprachlichen
In allen diesen Fällen ohne Nominativ im Deskriptionen von Texten oder Sprachhand-
Russ. bzw. mit dem Indefinitum man und lungsmustern erzielten Ergebnisse auch für
dem nichtanaphorischen Pronomen es im Dt. den synchronen Vergleich nutzbar zu ma-
geht es um ein Subjekt, das auf ein nichtspe- chen. Bei einem bilateralen Vergleich von
zifisches Denotat verweist (vgl. Gladrow Texten oder Redeakten erhebt sich vor allem
1989, 89ff.). Das Subjekt als Partizipant der die Frage nach dem Tertium Comparationis,
propositional-semantischen Struktur kann wobei es naturgemäß nicht um unikale oder
im Russ., wenn die Nichtaktivität des Sub- okkasionelle Kommunikationsakte geht, son-
jektdenotats bezeichnet werden soll, auch dern um typisierte, standardisierte Texte und
durch einen obliquen Kasus ausgedrückt Situationen, wie sie in der Sprechakttheorie
werden, vgl. Žene povezlo ⫺ Meine Frau hatte beschrieben werden. Wierzbicka hat dazu
Glück; Devočku lichoradilo ⫺ Das Mädchen eine auch für den kontrastiven Vergleich an-
hatte Fieber. Das Dt. weist keine stabilen wendbare Modellierung von elementaren Re-
Konstruktionen für die Kennzeichnung der deakten vorgelegt, die in semantisch unifi-
Nichtaktivität des Subjektdenotats auf. Die zierten Formulierungen die Sprechakte defi-
Konstituenten der informationalen Struktu- niert (Wierzbicka 1983). Die Fruchtbarkeit
rierung, Thema und Rhema, werden im Russ. dieses Ansatzes soll das Beispiel „Glück-
vorrangig durch die Wortstellung in Korrela- wunsch“ illustrieren. Deutsche und Russen
tion mit der Satzintonation voneinander ab- gratulieren einander zum Geburtstag, zum
gegrenzt. In den prototypischen Äußerungen Jubiläum, zur Hochzeit. Aber zu einem Feier-
fallen ⫺ wie schon erwähnt ⫺ Nominativ, tag wie Weihnachten und Neujahr gratulieren
Agens und Thema zusammen. Es finden sich sich im eigentlichen Sinne nur die Russen,
aber auch Strukturen, die die Abfolge Prädi- die Deutschen wünschen sich ein fröhliches
kat ⫹ Subjekt aufweisen, vgl. Pod-echalo Weihnachtsfest bzw. ein gutes neues Jahr, vgl.
taksi ⫺ Es kam ein Taxi herangefahren. In der z. B. russ. Serdečno pozdravljaju Vas s Novym
dt. Entsprechung tritt das expletive es auf, godom ⫺ dt. Ich wünsche Ihnen ein gutes
das die Umsetzung des indeterminierten Sub- neues Jahr. Das Kommunikationsziel in bei-
stantivs an das Satzende im Vergleich zu der den Wendungen ist gleich: Ich weiß dass et-
expressiv gefärbten Äußerung mit vorgezoge- was geschehen ist was für dich gut ist 兩 ich
nem Satzakzent auf dem Nomen (Ein Taxi denke dass du dich über diesen Anlass freust 兩
kam herangefahren) ermöglicht. Somit wer- ich sage: auch ich freue mich aus diesem An-
den die Determinationsopposition des Sub- lass 兩 ich sage das weil ich will dass es dir an-
stantivs und das expletive es typologisch ge- genehm ist (Wierzbicka 1983, 130). Die Äqui-
sehen zu Ausdrucksmitteln, die die relativ un- valenzbeziehung zwischen dem Dt. und Russ.
flexible Wortstellung des Dt. auszugleichen ergibt sich also erst auf der Ebene der ganzen
390 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

Äußerung. Die in beiden Sprachen durch völ- nantenphoneme. Das Russ. kennt die Diffe-
lig unterschiedliches lexikalisches Material renzierung von langen und kurzen Vokalpho-
formulierten Glückwünsche haben ein und nemen und die gerundeten Vorderzungenvo-
denselben Sinn. Das bedeutet, dass man beim kalphoneme wie im Dt. nicht, verfügt aber
Vergleich der Situationen über die sprach- über die palatalisierten Phonemoppositionen,
liche Ebene hinausgehen und ethnokulturelle die im Dt. fehlen. Den 5 Vokalphonemen des
Faktoren des Sprachverhaltens einbeziehen Russ. entsprechen 20 betonte Vokale im
muss. Eine detaillierte Analyse der Sprach- Lautsystem, die sich durch die Akkomoda-
handlung „Entschuldigung“ im Russ. mit im- tion an harte und weiche Konsonanten erge-
pliziertem Vergleich zum Dt. findet sich in ben. Die lautlichen Eigenheiten des Dt. im
Rathmayr (1996, 12ff.). Auch die unilaterale Vergleich zum Russ. zeigen sich außer in der
Methode des kontrastiven Vergleichs zwi- Spezifik des phonologischen Systems in der
schen dem Dt. und Russ. muss in Bezug auf Artikulationsbasis und in der Intonation. In
das Analyseobjekt Text modifiziert und wei- Bezug auf die Artikulation des Dt. ist das vor
terentwickelt werden. Der schriftliche Text allem die höhere Aktivität der Lippen bei der
unterscheidet sich von der Standardsituation Vokalbildung, die Verbindung mit der Vor-
vor allem durch die Getrenntheit der Ge- derzungenartikulation, der Neueinsatz bei
sprächsteilnehmer. Außerdem sind bestimmte der Vokalbildung im Anlaut, die höhere
Parameter, die in der Standardsituation aus Zäpfchenaktivität bei der Bildung der Kon-
der Umgebung erschlossen werden, im Text sonanten, der Stimmverlust stimmhafter
größtenteils durch verschiedene Mittel des Konsonanten besonders im Anlaut, die Aspi-
Wortschatzes, des grammatischen Baus oder ration bei der Konsonantenbildung, die In-
der Intonationskontur versprachlicht. Um tensität der Muskelspannung bei der Bildung
die Subjektivität des jeweiligen Übersetzers der Vokale und der Sonore sowie die Zungen-
auszuschließen, werden zwei komplementäre kontaktstellung. Für das Russ. hingegen ste-
Vergleichsmethoden vorgeschlagen: erstens hen die Merkmale der Aktivität der Mittel-
der Vergleich von Paralleltexten, d. h. die zunge bei der Bildung der palatalisierten
Konfrontierung von mehreren Originaltexten Konsonanten, der Velarisierung bei der Bil-
der gleichen Textsorte, und zweitens der sog. dung der nicht-palatalisierten Konsonanten,
zweiseitig gerichtete unilaterale Vergleich, der vollen Stimmhaftigkeit und der stark aus-
d. h. die Analyse von Übersetzungen aus der geprägten Assimilation. Hinsichtlich der In-
Sprache A in die Sprache B und umgekehrt tonation verfügt das Dt. über einen festen
von Übersetzungstexten aus B in A. und dynamischen Wortakzent, im Russ. da-
gegen ist die Wortbetonung frei, beweglich
und quantitativ-dynamisch geprägt. Der
7. Aussprache Stimmumfang ist im Dt. deutlich geringer als
im Russ. Besonders die Entscheidungsfrage
Grundlage für die Erlernung des Dt. als ist im Russ. durch ein großes Intervall zwi-
Fremdsprache und für die exakte Beherr- schen der letzten Vorlaufsilbe und der Haupt-
schung seines Funktionierens ist für die akzentsilbe gekennzeichnet. Da die lautliche
Sprachträger des Russ. die Kenntnis der Spe- und segmentale Struktur der Wörter von der
zifik des Lautsystems und der Intonations- Prosodik der Äußerung abhängt, wird sich
muster. Das Bewusstmachen der Differenzen eine Präzisierung dieser aus der kontrastiven
und Parallelen des phonologischen Systems Phonetik und Phonologie gewonnenen Er-
ist Bedingung für die Überwindung des kenntnisse erst durch verbesserte experimen-
„Nichthörens“ der Unterschiede in der Arti- telle Analysen der suprasegmentalen Ebene,
kulation. Die kontrastiven Darstellungen der der Äußerungsprosodie, ergeben können.
Phonetik und Phonologie des Dt. und Russ. Nowendige Untersuchungen zur Korrelation
konzentrieren sich deshalb naturgemäß auf zwischen Thema-Rhema-Gliederung und
die Differenzen in der Aussprache (Wiede pragmatischer Strukturierung von Sprach-
1981, 116ff.; Müller 1987, 285ff.), die Frage handlungsmustern erfordern verstärkt ono-
der Äquivalenz ist auf dieser Ebene nicht re- masiologische Ansatzpunkte.
levant. Die Unterschiede im Phoneminventar
des Dt. im Vergleich zum Russ. sind gravie- 8. Resümee
rend: den dt. 16 Vokalphonemen stehen im
Russ. 5 Vokalphoneme gegenüber, den dt. 21 Die kontrastiven Forschungen zum Dt. und
Konsonantenphonemen ⫺ 34 russ. Konso- Russ. weisen zwei sich deutlich unterschei-
36. Kontrastive Analysen Deutsch-Russisch: eine Übersicht 391

dende Zielrichtungen auf, zum einen Anwen- verstärkt auf die Art und Weise, wie Gegen-
dungsfelder, die über die Linguistik hinausge- stände, Beziehungen, Sachverhalte und
hen ⫺ der Fremdsprachenerwerb und die Sprachhandlungen gleich oder verschieden
Praxis des Übersetzens und Dolmetschens, sprachlich realisiert werden, auf ihre semanti-
und zum anderen ein linguistisch-theore- sche, informationale und pragmatische Inter-
tisches Gebiet ⫺ die charakterologisch pretation richten. Die innere Form der Nomi-
geprägte Typologie (Zeleneckij/Monachov nationsstrukturen, die einzelsprachlich spezi-
1983). Trotz der fruchtbaren Ansätze im ty- fischen Motivierungen und Bedeutungsstruk-
pologisch-charakterologischen Vergleich gibt turen sind für einen typologischen dt.-russ.
es Defizite in der theoretischen Fundierung Sprachvergleich von hoher Relevanz.
der Methoden und Konzepte des dt.-russ.
synchronen Sprachvergleichs. Bilateral ange-
legte kontrastive Darstellungen greifen wegen 9. Literatur in Auswahl
des Fehlens brauchbarer metasprachlicher Andersson, Sven-Gunnar (1972): Aktionalität im
Grundlagen in der Regel zu intuitiven und Dt. Eine Untersuchung unter Vergleich mit dem russ.
heuristischen Daten. Es gibt derzeit noch Aspektsystem. I. Die Kategorie Aspekt und Aktions-
keine gesicherte Zusammenstellung überein- art im Russ. und im Dt. Uppsala (Acta Universitatis
zelsprachlicher Wissensrepräsentationen, kein Upsaliensis. Studia Germanistica Upsaliensia 10).
umfassendes Inventar von Frames, Szenen, Birkenmaier, Willy (1979): Artikelfunktionen in ei-
Prototypen usw., es existiert keine Metaspra- ner artikellosen Sprache. Studien zur nominalen De-
che, aus der die interessierenden Tertia Com- termination im Russ. München (Forum Slavicum
parationis nur abzurufen wären. Bestimmte 34).
theoretische Konzepte der einzelsprachlichen ⫺ (1987): Vergleichendes Studium des dt. und russ.
Deskription haben sich aber auch für die Wortschatzes. Tübingen.
Konfrontation des Dt. und Russ. als tragfä- Bondarko, Aleksandr Vladimirovič (1988): Die Be-
hig erwiesen. Dazu gehört sowohl die Kom- griffe „semantische Kategorie“, „funktional-se-
ponentenanalyse und die Prototypentheorie mantisches Feld“ und „kategoriale Situation“ un-
als auch die mit den Begriffen des Wortfeldes ter dem Aspekt konfrontativer Forschungen
(vgl. u. a. Radünzel 1998) und des funktio- (russ.). In: Metody sopostavitel’nogo izučenija jazy-
nal-semantischen Feldes (Bondarko 1988, kov. Moskva, 12⫺19.
15⫺16) verbundenen Beschreibungsmodelle. Černyševa, Irina Ivanovna (1970): Phraseologie der
Das Prinzip der interlingualen Kompensation dt. Gegenwartssprache (russ.). Moskva.
ermöglicht es, über die Feststellung, dass be- Fedorov, Andrej Venediktovič (1953): Einführung
stimmte Bedeutungen gegebenenfalls nur in in die Übersetzungstheorie (russ.). Moskva.
einer der Vergleichssprachen eine lexikali-
Gladrow, Wolfgang (1979): Die Determination des
sierte oder grammatikalisierte Realisierung
Substantivs im Russ. und Dt. Eine konfrontative
aufweisen, hinauszugehen und nichtkatego- Studie. Leipzig (Linguistische Studien).
rialisierte oder auf anderer Ebene kodierte
Ausdrucksmittel aufzuzeigen. Das schließt ⫺ (Hg.) (1989): Russ. im Spiegel des Dt. Eine Ein-
führung in den russ.-dt. und dt.-russ. Sprachver-
ein, bei der Konfrontation die Gesamtheit
gleich. Leipzig (korrigierte u. ergänzte Neuausgabe
der Ausdrucksmittel der Vergleichssprache Frankfurt am Main etc. 1998. Berliner Slawistische
(morphologische, syntaktische, suprasegmen- Arbeiten 6).
tale, wortbildende, lexikalische, phraseologi-
Gladrow, Wolfgang; Michail Vasil’evič Raevskij
sche) sowie ihr gegebenenfalls wechselseitiges
(Hg.) (1994): Konfrontative Erforschung der dt. und
Zusammenwirken in Betracht zu ziehen. Die russ. Sprache: grammatisch-lexikalische Aspekte
weitere Entwicklung des dt.-russ. kontrasti- (russ.). Moskva.
ven Vergleichs wird sich auf zwei Wege zu
Gladrow, Wolfgang (1995): Prinzipien der kon-
konzentrieren haben. Er wird einerseits den frontativen Linguistik. In: Norbert Dittmar; Mar-
Gegenstandsbereich über Wörter, grammati- tina Rost-Roth (Hg.): Deutsch als Zweit- und
sche Kategorien, Wortbildungskategorien, Fremdsprache. Methoden und Perspektiven einer
Sätze und Texteinheiten hinaus auf Situa- akademischen Disziplin. Frankfurt am Main etc.,
tions- bzw. Sprachhandlungstypen erweitern. 23⫺34 (Werkstattreihe DaF 52).
Der Strukturvergleich wird durch die Kon- ⫺ (1997): Die dt. Pronominalform es im Text und
frontation von Sachverhalts- oder sprachli- ihr Vergleich mit dem Russ. In: Wolfgang Gla-
chen Interaktionsmustern ergänzt bzw. in den drow; Irene Dehmel (Hg.): Der Text in Forschung
Situationsvergleich eingebettet. Andererseits und Lehre. Frankfurt am Main etc., 23⫺35 (Berli-
wird die kontrastive Analyse ihr Interesse ner Slawistische Arbeiten 3).
392 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

Gutschmidt, Karl (1990): Eigennamen und sla- Rathmayr, Renate (1996): Pragmatik der Entschul-
wisch-dt. Sprachvergleich. In: Zeitschrift für Slawi- digungen. Vergleichende Untersuchung am Beispiel
stik 35/4, 571⫺576. der russ. Sprache und Kultur. Köln etc. (Bausteine
Kotorova, Elizaveta (1998): Zwischensprachliche zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte.
Äquivalenz in der lexikalischen Semantik. Eine ver- Reihe A: Slawistische Forschungen. NF 16).
gleichende Studie des Russ. und Dt. (russ.). Frank- Ščerba, Lev Vladimirovič (1974): Zu den Wechsel-
furt am Main etc. (Berliner Slawistische Arbeiten beziehungen zwischen Mutter- und Fremdsprache
5). (russ.). In: L. V. Ščerba: Jazykovaja sistema i reče-
Krušel’nickaja, Klavdija Grigor’evna (1961): Skiz- vaja dejatel’nost’. Leningrad, 338⫺343 (erstmals
zen zur konfrontativen Grammatik der dt. und russ. publiziert 1934).
Sprache (russ.). Moskva. Sternin, Josif Abramovič; Christa Fleckenstein
Müller, Ursula (1987): Zielsprache Dt. ⫺ Aus- (1994): Studien zur kontrastiven Lexikologie und
gangssprache Russ. ⫺ Versuch einer Gegenüber- Phraseologie, dargestellt am Material des Russ. und
stellung unter phonologisch-phonetischem Aspekt. Dt. Voronež.
In: DaF 24/5, 285⫺295; 24/6, 359⫺366. Vinogradov, Viktor Vladimirovič (1977): Grundbe-
Ohnheiser, Ingeborg (1987): Wortbildung im griffe der russ. Phraseologie als linguistischer Dis-
Sprachvergleich. Russ.-Dt. Leipzig (Linguistische ziplin (russ.). In: V. V. Vinogradov: Izbrannye
Studien). trudy. Leksikologija i leksikografija. Moskva,
118⫺139 (erstmals publiziert 1946).
Probst, Lilia (1984): Zur Wiedergabe von Eigenna-
men beim Übersetzen vom Dt. ins Russ. In: Na- Wiede, Erwin (1981): Phonologie und Artikulations-
menkundliche Studien. Berlin, 45⫺63 (Berichte der weise im Russ. und Dt. Eine konfrontierende Dar-
Humboldt-Universität zu Berlin 5). stellung. Leipzig (Linguistische Studien).
Radünzel, Claudia (1998): Das Wortfeld Behinder- Wierzbicka, Anna (1983): Sprechakte (poln.). In:
ter im Dt. und seine russ. Entsprechungen. Frank- Tekst i zdanie. Zbiór studiów. Pod red. T. Do-
furt am Main etc. (Europäische Hochschulschrif- brzyńskiej i E. Janus. Wrocław etc., 125⫺137.
ten: Reihe 16, Slawische Sprachen und Literatu- Zeleneckij, Aleksandr L’vovič; Petr Fedorovič Mo-
ren 59). nachov (1983): Vergleichende Typologie der dt. und
Rajchštejn, Aleksandr Davydovič (1980): Konfron- russ. Sprache (russ.). Moskva.
tative Analyse der dt. und russ. Phraseologie
(russ.). Moskva. Wolfgang Gladrow, Berlin (Deutschland)

37. Kontrastive Analysen Deutsch-Polnisch: eine Übersicht

1. Einleitung feststellen, da man von Anfang an keine illu-


2. Phonetisch-phonologische Ebene sionären Anforderungen an diese Disziplin
3. Morphologie und Syntax
stellte. Die meisten Studien sind als linguisti-
4. Lexik, Phraseologie und Lexikographie
5. Gesamtdarstellungen sche Analysen angelegt, bei denen der heuri-
6. Literatur in Auswahl stische Aspekt dominiert. Andere Studien
realisieren ihre explizit bzw. implizit formu-
lierte Forschungshypothese in ihrer schwa-
1. Einleitung chen, d. h. diagnostischen Version. Eine ver-
hältnismäßig kleine Anzahl von Veröffentli-
Mitte der sechziger Jahre wendet sich die pol-
nische Sprachwissenschaft dem synchronen chungen fällt unter fehleranalytische Studien.
Sprachvergleich zu. 1974 wird in das Studien- Es sind etwa tausend Studien, verstreut in
programm das Fach „Deutsch-polnische kon- verschiedenen Zeitschriften und Sammelbän-
trastive Grammatik“ eingeführt, wodurch es den, erschienen. Einen Einblick in den For-
zu einer Intensivierung der Forschung auf die- schungsstand können Bibliografien von
sem Gebiet kommt. Die für die internationale Ka̧tny (1985; 1989) und der Literaturbericht
Forschung charakteristischen drei Phasen in von Miemietz (1981) gewähren. In den fol-
der Entwicklung der kontrastiven Linguistik genden Ausführungen können die For-
⫺ Überbewertung, pauschale Kritik und Un- schungsergebnisse nur skizzenhaft dargestellt
terbewertung ⫺ lassen sich in Polen nicht werden.
37. Kontrastive Analysen Deutsch-Polnisch: eine Übersicht 393

2. Phonetisch-phonologische Ebene das kontrastive Valenzlexikon von Morciniec


u. a. (1995) anzusehen. Theoretische Prob-
Als ein geschlossenes Subsystem der Sprache leme der Valenz werden in der Monografie
gehören die phonetisch-phonologischen Ein- von Sadziński untersucht, der zwischen „ei-
heiten zu den am besten erforschten. Es ist ner statischen und einer diese überlagernden
hervorzuheben, dass die Forschungsergeb- dynamischen Valenz“ (Sadziński 1989, 207)
nisse in einer Reihe von Lehrbüchern zur unterscheidet.
deutschen Aussprache und Intonation ihre
didaktische Umsetzung fanden. Als ein wich- 3.2. Nominalphrase, Syntax
tiges Prinzip der Ausspracheschulung wird Die älteren kontrastiven Arbeiten zur nomi-
(bei Erwachsenen) die Bewusstmachung der nalen Determination bedürfen im Lichte der
Unterschiede angesehen. In den Untersu- neueren Forschung in Deutschland einer er-
chungen wird davon ausgegangen, dass neuten Untersuchung. Zum Adjektiv liegt
fremdsprachliche Laute durch den ähnlichs- eine bilaterale Analyse von Bzdȩga (1980),
ten Laut der Muttersprache ersetzt werden. zur nominalen Flexion eine Bearbeitung von
Prȩdota (1979) behandelt die phonische In- Nowicka-Koźluk vor. Tiefgründige und viel-
terferenz des Polnischen auf das Deutsche im seitige Analysen (auch semantischer und syn-
segmentalen und nichtsegmentalen (Vokal-
taktischer Art) sind im Bereich der Präposi-
einsatz, Wortakzent, Assimilation) Bereich.
tionen und Präpositionalphrasen zu verzeich-
Zwischen subphonematischen (rein phoneti-
nen, stellvertretend sei auf Schröder (1988)
schen) und phonematischen Interferenzer-
verwiesen. Außerdem sind mehrere Mono-
scheinungen wird von Szulc (1976, 140) un-
grafien und Dissertationen zur Syntax zu-
terschieden. Neue Erkenntnisse in der Inter-
ferenzforschung konnten durch experimen- sammengesetzter Sätze, zur Satzspaltung, zu
telle Untersuchungen zur Perzeption deut- den Partizipialkonstruktionen zu verzeich-
scher Vokale durch polnische Sprecher (vgl. nen. Spärlich sind textlinguistische Analysen
Hentschel (1986) gewonnen werden. Weitere vertreten.
empirische Untersuchungen wären hier sinn- Zur Wortbildung ist eine Reihe von Dis-
voll. sertationen (vorwiegend in Posen) entstan-
den; in ihnen werden substantivische Ablei-
tungen, die Diminutiva und Augmentativa,
3. Morphologie und Syntax die nominale Zusammensetzung und die No-
mina agentis behandelt.
3.1. Das Verb
Besonders viele Untersuchungen beschäfti-
gen sich mit dem Verb und seinen Katego- 4. Lexik, Phraseologie und
rien. Der Aspekt und das Tempus sind Ge- Lexikographie
genstand einer Untersuchung von Czochral-
ski (1975), in der die Morphonologie der Auch wenn die phraseologischen Probleme
Aspektbildung beim polnischen Verb einen noch nicht im gebührenden Maße zum Ob-
wichtigen Platz einnimmt. Das dabei nur am jekt wissenschaftlicher Forschung geworden
Rande behandelte Problem der Aktionsarten sind, lassen sich doch mehrere anwendungs-
wird in der Monografie von Ka̧tny (1994) bezogene Sammlungen und lexikographi-
ausführlich bearbeitet. Der Analyse des Kon- schen Arbeiten (z. B. Ehegötz u. a. 1990) ver-
junktivs widmet sich die Monografie von zeichnen. Zu einem Zentrum der parömiolo-
Czarnecki (1977). Die konfrontative Be- gischen und soziolinguistischen Forschung
schreibung der Modalität (Modalverben, Im- scheint sich die Breslauer Germanistik zu
perativ, Modalitätsverben, Aufforderung, profilieren. Zu soziolinguistischen Fragen
u. ä.) erfährt viel Aufmerksamkeit. Neben sind hier drei Monografien (zum Anrede-
dem Passiv (vgl. Czarnecki 1985) als einer system, zu Begrüßungs- und Abschiedsfor-
grammatischen Kategorie behandelt man meln) erarbeitet worden. Die soziolinguisti-
dessen Konkurrenzformen. Der Valenzprob- sche Problematik müsste in der weiteren For-
lematik widmen sich mehrere Dissertationen, schung stärker berücksichtigt werden. Ver-
in denen Klassen von Verben (Verba dicendi, hältnismäßig gut sind die „falschen Freunde“
movendi, vivendi; Verben des Säuberns, Prä- des Übersetzers sowohl in theoretischer als
fixverben) einer Analyse unterzogen werden. auch lexikographischer Hinsicht (vgl. u. a.
Als eine Krönung dieser Untersuchungen ist Lipczuk 1987) erforscht.
394 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

5. Gesamtdarstellungen Engel, Ulrich (1999): Deutsch-polnische kontras-


tive Grammatik. Bd. 1, 2. Heidelberg.
Im Rahmen des Forschungsprojekts der ehe- Helbig, Gerhard; Gert Jäger (Hg.) (1983): Studien
maligen Bilateralen Germanistenkommission zum deutsch-polnischen Sprachvergleich. Leipzig
DDR ⫺ Polen sind zwei Sammelbände in (Linguistische Studien).
Leipzig (vgl. Helbig/Jäger 1983; Polnisch- Hentschel, Gerd (1986): Vokalperzeption und natür-
deutscher Sprachvergleich 1982) und vier in liche Phonologie. München.
Kraków (Reihe „Studien zum polnisch-deut- Ka̧tny, Andrzej (1985): Bibliography of German-
schen Sprachvergleich“) erschienen. Polish contrastive studies. In: Papers and Studies in
In der deutschen Grammatik für Polen Contrastive Linguistics 20, 141⫺167.
von Czochralski (1990) sind die wichtigsten ⫺ (1989): Bibliographie zum deutsch-polnischen
Kontraste in komprimierter Weise darge- Sprachvergleich. In: Andrzej Ka̧tny (Hg.): Studien
stellt. Unter Leitung von Prof. Ulrich Engel zur kontrastiven Linguistik und literarischen Über-
läuft seit einigen Jahren das DEUTSCH- setzung. Frankfurt/Main etc., 65⫺84.
POLNISCHE KONTRASTIVE PROJEKT. ⫺ (1994): Zu ausgewählten Aktionsarten im Polni-
Die nach dem Dependenzmodell erar- schen und deren Entsprechungen im Deutschen.
Rzeszów.
beitete Systemgrammatik liegt in der Roh-
fassung vor; die Arbeit am 2. Band ⫺ ei- Lipczuk, Ryszard (1987): Verbale Tautonyme lateini-
scher Herkunft in deutsch-polnischer Relation. Göp-
ner kommunikativ angelegten kontrastiven
pingen (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 457).
Grammatik ⫺ steht kurz vor dem Abschluss.
Diese Grammatik als Resultat kontrastiver Miemietz, Bärbel (1981): Kontrastive Linguistik
Deutsch-Polnisch 1965⫺1980, Ein Literaturbericht.
Forschung dürfte eine Grundlage für effekti- Gießen (Vorträge und Abhandlungen zur Slavistik 2).
veren Deutschunterricht in Polen schaffen.
Morciniec, Norbert u. a. (1995): Wörterbuch zur
Valenz deutscher und polnischer Verben. Wrocław.
6. Literatur in Auswahl Polnisch-deutscher Sprachvergleich I. Arbeitsbuch
für Fortgeschrittene von einem Autorenkollektiv
Bzdȩga, Andrzej (1980): Das Adjektiv im Polnischen (1982). Hg. Karl-Marx-Universität Leipzig. Sek-
und Deutschen. Wrocław etc. tion Theoretische und angewandte Sprachwissen-
schaft/Herder-Institut. Leipzig.
Czarnecki, Tomasz (1977): Der Konjunktiv im
Deutschen und Polnischen. Wrocław etc. Prȩdota, Stanisław (1979): Die polnisch-deutsche In-
terferenz im Bereich der Aussprache. Wrocław u. a.
⫺ (1985): Das Passiv im Deutschen und Polni-
schen. Warszawa. Sadziński, Roman (1989): Statische und dynami-
sche Valenz. Hamburg.
Czochralski, Jan (1975): Verbalaspekt und Tempus-
Schröder, Jochen (1988): Deutsche Präpositionen
system im Deutschen und Polnischen. Warszawa.
im Sprachvergleich. Leipzig.
⫺ (1990): Gramatyka niemiecka dla Polaków. War- Szulc, Aleksander (1976): Die Fremdsprachendidak-
szawa. tik. Warszawa.
Ehegötz, Erika u. a. (1990): Phraseologisches Wör-
terbuch Polnisch-Deutsch. Leipzig. Andrzej Ka̧tny, Gdańsk (Polen)

38. Kontrastive Analysen Deutsch-Tschechisch/Slowakisch:


eine Übersicht

1. Vorbemerkungen 1. Vorbemerkungen
2. Gesprochene Form
3. Geschriebene Form Das Deutsche und das Tschechische/Slowaki-
4. Wort und Wortbildung sche als Sprachen gemeinsamer ide. Her-
5. Wortschatz und Phraseologie kunft, die nach langjährigen Kontakten ver-
6. Wortarten schiedener Art und Intensität viele Gemein-
7. Satzbau samkeiten v. a. auf höheren Systemebenen
8. Text und in der Sprachverwendung aufweisen,
9. Sprachsituation werden in den vergleichenden Analysen vor-
10. Literatur in Auswahl wiegend in ihren Unterschieden vorgestellt.
38. Kontrastive Analysen Deutsch-Tschechisch/Slowakisch: eine Übersicht 395

Der dt.-tsch./slk. Sprachvergleich kann auf sprachlern gewidmeten Arbeiten (Marouš-


eine lange Tradition zurückblicken; viele Er- ková 1973; Vaverková 1977) sind auf die
kenntnisse lassen sich den Arbeiten der Pra- Unterrichtspraxis orientiert.
ger Schule entnehmen, die den „analytischen
Sprachvergleich“ als Ermittlungsmethode ge- 2.2. Die Vokalinventare werden in kontrasti-
brauchte. Von V. Mathesius ist die erste sy- ven Arbeiten (Povejšil 1992, 12ff.; Vaverková
stematische dt.-tsch. Analyse (Nosil 1942) in- 1977, 256ff.) für ähnlich befunden. Alle drei
spiriert worden. Obwohl die Analysen von Sprachen kennen den Unterschied der Vokal-
heute und die vor dem tsch. Hintergrund ver- qualität und dessen distinktive Funktion. Die
fasste Grammatik der deutschen Gegen- kurzen Vokale stimmen danach (mit Aus-
wartssprache (Povejšil 1992) manche Lücken nahme von [y], [æ]) überein, während die lan-
geschlossen haben, bleiben doch viele von E. gen auch qualitativ (im Öffnungs- und Span-
Beneš (1967, 103) erwähnte Defizite beste- nungsgrad) differenziert sind. Für den tsch./
hen; sie haben sich in den letzten Jahren mit slk. Muttersprachler ist v. a. die Unterschei-
der Verbreitung des kontrastiven Sprachver- dung von [o:] und [e:] schwer (Verwechslung
gleichs auf neue Disziplinen der Sprachwis- mit [u:] und [i:]). Die positionelle Ausnutzung
senschaft noch vermehrt. und Distribution der Lang- und Kurzvokale
Eine übereinstimmende theoretische, me- weisen bedeutende Unterschiede auf: Wäh-
thodologische und terminologische Basis der rend im Dt. ein Zusammenhang zwischen
kontrastiven Analysen bleibt auch im dt.- Vokalquantität und Silbenstruktur (beson-
tsch./slk. Vergleich ein in absehbarer Zeit ders bei mittleren Vokalen) konstitutiv ist,
kaum erfüllbares Ziel. Unserem Beschrei- stellt die Vokalquantität im Tsch. eine auto-
bungsschema ist das stratifikative Modell zu- nome Eigenschaft dar, und im Slk. gilt das
grunde gelegt, weil die Mehrheit der ausge- sog. rhythmische Gesetz (in aufeinanderfol-
werteten Analysen darauf fußt (vgl. Šmeč- genden Silben ist im Prinzip nur eine Länge
ková 1997). zulässig). Der Abstand in Stärke und Dauer
Die engverwandten westslawischen Spra- zwischen betonten und unbetonten Silben ist
chen, das Tsch. und das Slk., die hier gemein- im Vergleich zum Dt. gering. Offene betonte
sam dem Dt. gegenübergestellt werden sollen, Silben mit kurzem Vokal sind geläufig, die
haben im Laufe der Geschichte weitere inte- betonte und die nachfolgende Silbe sind nicht
grative Prozesse (vgl. die Konstituierung der kohäsiv; es wird hier kein fester Anschluss
slk. Schriftsprache mit tsch. Anteil) erfahren. angenommen (Trost 1976, 190f.).
Trotzdem würden sie v. a. auf niederen Ebe-
nen eine spezielle Konfrontation verdienen. 2.3. Die in der dt. Standardsprache distink-
Um falschen Verallgemeinerungen vorzubeu- tive Labialisierung ist im Tsch./Slk. nur eine
gen, stützen wir uns auf solche Analysen, in Begleiterscheinung aller hinteren Vokale (vgl.
denen jeweils eine der Sprachen mit dem Dt. Povejšil 1992, 13ff.).
kontrastiert wird.
2.4. Der Konsonantismus weist in den drei
Sprachen trotz äußerer Ähnlichkeit wichtige
2. Gesprochene Form Unterschiede auf, u. zw. im Inventar (dt. [ç],
[r], [R]; tsch. [ď, ť, ň, č, ž, ř], [z] und [ž]; tsch./
2.1. Das zur Verfügung stehende lautliche, slk. [l, r] als silbische Laute; slk. [l’] als wei-
von den organischen Möglichkeiten des cher Laut), in phonologischer Geltung (tsch.
menschlichen Körpers determinierte Konti- [n] J /n/, dt. /n/; dt. [ç] und [x] als kombinato-
nuum der Artikulation ist im Dt.-Tsch./Slk. rische Varianten), in der Qualität ([l], [h]) und
unterschiedlich aufgegliedert. Aus kontrasti- in der Normengebundenheit.
ver Sicht wird zwar die Identität einiger Ele-
mente angenommen, die größte Aufmerk- 2.4.1. Die Opposition stimmhaft/ungespannt
samkeit wird jedoch den Differenzen opposi- vs. stimmlos/gespannt der paarigen und
tioneller oder nichtoppositioneller Art gewid- nichtpaarigen Konsonanten wird im Tsch./
met. Weniger werden die Unterschiede im Slk. anders als im Dt. realisiert. Die Fortisie-
Phoneminventar und in der Phonemkombi- rung und Lenisierung im Dt. stellt hohe An-
natorik sowie die Ausnutzung der Kombina- sprüche an die Perzeption und Artikulation
torik beachtet. Es mangelt an strengen expe- des tsch./slk., die Opposition der Stimmhaf-
rimentell-phonetischen Untersuchungen. Die tigkeit favorisierenden Muttersprachlers. In
der dt. Aussprache bei tsch./slk. Mutter- den kontrastiven Analysen werden deshalb
396 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

neben der dt. standardsprachlichen Norm geriebene Aussprache schwächt zwar den
auch regionale Realisierungen berücksichtigt Fremdakzent ab, im Tsch. wird sie aber als
(Romportl/Grepl 1963, 20ff.). In der Neutra- Sprachfehler betrachtet.
lisierung der Opposition stimmhaft vs.
stimmlos im Morphem- und Wortauslaut 2.9. Der spontane Fremdakzent der tsch.
neigt das Tsch. im Unterschied zum Dt. zur Sprecher (vgl. die Übersicht in Maroušková
Assimilation der Stimmhaftigkeit an den fol- 1973) ist in seiner Gruppenbezogenheit zeit-
genden Laut (nikdo ⫺ [ňigdc]); eingehender unabhängig. In Böhmen könnte zwischen
zu dieser regressiven Assimilation vgl. Rom- spontanem und traditionalisiertem Fremdak-
portl/Grepl (1963, 37ff.) und Povejšil (1992, zent im Aussprachebereich unterschieden
28ff.). werden; es fehlt aber an strengen Untersu-
chungen zu den beiden Phänomenen (Trost
2.5. Die Unterschiede in der dt.-tsch./slk. 1976, 192).
Prosodie werden als beträchtlich beurteilt,
besonders was den Wortakzent betrifft (vgl.
Trost 1976, 190), 3. Geschriebene Form
Wortakzent 3.1. Die graphematische und orthographi-
sche Problematik sowie die der geschriebenen
Dt. Tsch. Sprache im Allgemeinen stellt im dt.-tsch./
兩 兩 slk. Vergleich ein wesentliches Desideratum
morphematisch gebunden silbengebunden dar. Es fehlen Vergleiche des Zeicheninven-
Basismorphem (1. Silbe des pho- tars und der Funktion der Grapheme, der
兩 netischen Wortes) Rolle der diakritischen Zeichen, der Hetero-
wortzusammenfassend wortabgrenzend graphie bei Homonymie sowie der Hand-
兩 兩 schrift- und Schriftarten, u. a. auch des
beschränkt distinktiv nicht distinktiv „Fremdakzents“ in der Schreibung.
Im Dt. ist der Wortakzent (Haupt-, Nebenak-
zent) eine Kombination aus melodischer und 3.2. Eine vergleichende Übersicht über die
dynamischer Hervorhebung, wobei die letz- Graphem-Phonem-Korrespondenz im Dt.
tere überwiegt; im Tsch./Slk. zeichnet er sich und Tsch. gibt Povejšil (1992, 36ff.): Bei dt.
durch Unterschiede in Tonstärke und -höhe Langvokalen und Diphthongen entspricht
oder im Timbre aus. ein Phonem im Durchschnitt drei Graphe-
men, bei Kurzvokalen ist das Verhältnis 1 : 2.
2.6. Die zentralisierende Funktion des dt. Im Tsch. kommt bei Vokalen, Diphthongen
Wortakzents zieht die Reduktion der Neben- und Konsonanten die 1 : 1-Korrespondenz in
silbenvokale nach sich; außer dem reduzier- etwa 65% der Fälle vor. Im Unterschied zum
ten [e] kommen darin nur selten weitere (nur Dt. gilt im Tsch. die vereinigte funktionelle
kurze) Vokale vor, während im Tsch./Slk. die Geltung eines konsonantischen und eines
unbetonten Vokale nicht so deutlich abge- vokalischen Graphems: Die palatalisierten
schwächt werden. Laute werden je nach Position entweder dia-
kritisch (durch ˇ , z. B. ted )ˇ oder mit Hilfe des
2.7. Die satzphonetischen Faktoren, die folgenden i bzw. ě wiedergegeben (děti).
„Sprechmodulationen“ (Romportl 1957, 352),
ihre Funktionen, hierarchische Anordnung 4. Wort und Wortbildung
und Stellung im Sprachsystem haben in den
kontrastiven Analysen bisher wenig Beach- 4.1. Im Dt.-Tsch./Slk. kann das Wort als re-
tung gefunden; die Grundintoneme des Sat- lativ selbständige Einheit auf allen Ebenen
zes werden als ähnlich betrachtet (Romportl/ ausgegliedert werden. Während in allen drei
Grepl 1963, 48ff.). Neue Impulse für den Ver- Sprachen der phonetische und graphische
gleich der Satzprosodie bringt die Untersu- Zusammentritt der Wörter möglich ist, kann
chung der Thema-Rhema-Gliederung (TRG). das komplexe Wort nur im Dt. getrennt oder
durch inkorporierte Elemente unterbrochen
2.8. Wenig beachtet werden pragmatische werden. Die Veränderlichkeit der Wortform
Faktoren der Lautproduktion und -perzep- kommt in der Morphemalternation in Wort-
tion. Sie sind z. B. in der Einstellung der tsch. und Formenbildung zur Geltung. Diese Er-
Sprecher zu den /r/-Varianten im Spiel: Die scheinung ist im System aller drei Sprachen
38. Kontrastive Analysen Deutsch-Tschechisch/Slowakisch: eine Übersicht 397

angelegt, aber funktionell unterschiedlich be- 4.4.2. Methodologisch anregend ist der Sy-
lastet; es divergiert die Anzahl der Alternatio- stemvergleich der deadjektivischen Verben im
nen, deren Typenvielfalt und Vorkommens- Dt. und Tsch. (Dokulil 1976, 112ff.), in dem
häufigkeit. In der Vielfalt der Alternationen das Klassifikationsschema für die tsch. Ver-
hebt sich das Tsch. nicht nur vom Dt., son- ben nach den Umschreibungen mit den Ver-
dern auch von anderen slawischen Sprachen ben machen, werden, sich zeigen und sein im
ab (Eichler 1976, 130f.). Dt. aufgestellt wird.

4.1.1. In der Wortstruktur der drei Sprachen 4.5. Die Derivation durch Präfigierung weist
gibt es mehr Unterschiede als Gemeinsamkei- Differenzen im Kompositions- und Deriva-
ten. Der Umstand, dass dt. Wörter im tionscharakter der Präfigierung, in formaler
Durchschnitt fast zweimal länger sind als und semantischer Übereinstimmung der Prä-
tsch., führt dazu, dass der parallele dt. Text fixe mit Präpositionen/Adverbien, in der Prä-
um 15⫺20% länger und seine semantische fixabilität nominaler und verbaler Basen so-
Dichte niedriger ist (Skála 1976, 200). wie in der Distribution der Präfixe bei einzel-
nen Wortarten auf. Theoretische und metho-
4.2. Die Wortbildungskonstruktionen entste- dologische Aspekte des Vergleichs der Präfix-
hen in den drei Sprachen durch dieselben verben sind auf entsprechender Materialbasis
Verfahren. Die übereinstimmenden Wortbil- in mehreren Analysen systematisch erarbeitet
dungsarten unterscheiden sich aber struktu- worden. Die lexikalische Semantik der Prä-
rell, semantisch, quantitativ, distributionell fixe erweckt dabei weniger Aufmerksamkeit
und in der Potenz der Wortbildungstypen. als der aktionsartliche/aspektuelle Charakter.
Uhrová/Uher suchen in mehreren Arbeiten
(vgl. v. a. 1991, 25ff.) eine gemeinsame Basis
4.3. Mit der Ausarbeitung der dt., tsch. und
für den dt.-tsch. Vergleich und finden sie in
slk. Standardwerke zur Wortbildung, in de-
der dem slaw. Aspekt übergeordneten katego-
nen onomasiologische Gesichtspunkte vor-
rialen Opposition ,Terminativität‘ vs. ,Atermi-
herrschen, sind notwendige Grundlagen für
nativität‘; während im Dt. terminative (erblü-
kontrastive Analysen geschaffen. Bisher sind
hen, erschießen) und aterminative Verben
Systemanalysen den Gebrauchsanalysen, v. a.
(schreiben) unterschieden werden können,
den funktionalstilistisch orientierten, vorge-
sind die tsch. terminativen Verben noch
zogen worden. Die Analysen decken das Ge-
in Imperfektiva (rozkvétat) und Perfektiva
biet ungleichmäßig ab; besondere Aufmerk-
(rozkvést, zastřelit) aufzugliedern. Die tsch.
samkeit wird der verbalen Präfigierung ge- Aterminativa sind nur imperfektiv (psát). Die
widmet, die nominale Derivation und Kom- Termini „perfektiv“ und „imperfektiv“ sollten
position bleiben im Hintergrund. Von den nach der Meinung von Uhrová/Uher nur der
onomasiologischen Bereichen sind eingehend Bezeichnung des slaw. Aspekts vorbehalten
dt. und tsch. Berufsbezeichnungen und Dimi- bleiben. Die aktionsartlichen Merkmale (z. B.
nutiva beschrieben, in Ansätzen werden Orts- temporal, multiplikativ, quantitativ usw.)
namen kontrastiert. Es fehlen materialge- sind für die verglichenen Sprachen gleich zu
stützte Analysen der meistvertretenen Äqui- definieren.
valente der dt. Wortbildungskonstruktionen,
z. B. der tsch./slk. syntaktischen Gruppen als 4.6. Durch Zusammensetzung wird in den
Entsprechungen zu den dt. Nominalkompo- drei Sprachen das Inventar aller Hauptwort-
sita. arten (auch des Adverbs) ausgebaut, im
Tsch./Slk. ist sie aber quantitativ unbedeu-
4.4. Bei der Derivation durch Suffigierung tend (mit fast einem Nullstand beim Verb)
gibt es zwischen den drei Sprachen Differen- vertreten. Differenzen gibt es in der Anzahl
zen im Inventar der Suffixe einzelner Wort- der Konstituenten, im Gebrauch der Fugen-
arten und deren funktioneller Belastung so- zeichen und in der Vertretung der Typen.
wie im Anteil der Morphemalternationen.
4.7. Die Hauptprobleme des dt.-tsch./slk.
4.4.1. Der Vergleich der deadjektivischen Vergleichs im Bereich der Komposition beste-
Substantive auf -ost’ im Slk. mit den dt. hen in der Dechiffrierung der Wortbildungs-
Äquivalenten (Heinisch 1980, 901ff.) ergänzt bedeutung des dt. Kompositums durch
eine Reihe von Untersuchungen zu diesem in Nichtmuttersprachler, in der Bestimmung der
den slaw. Sprachen sehr aktiven Suffix. Synonymie zwischen Kompositum und Wort-
398 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

gruppe (intra- und interlingual) und in der den bisherigen kontrastiven Beiträgen wird
Terminologisierung/Determinologisierung die partiell parallele Struktur der Modelle,
beider Mittel (vgl. Vaverková 1979, 256ff.). aber auch deren abweichende Produktivität
und (v. a. bei Zwillingsformeln) problemati-
sche Übersetzbarkeit diskutiert.
5. Wortschatz und Phraseologie
5.1. Der dt.-tsch./slk. Wortschatzvergleich 6. Wortarten
kann zwar auf eine lange Tradition zurück-
blicken, er bleibt aber oft auf Kommen- 6.1. Differenzen in der Wortartgliederung er-
tare zu Einzelerscheinungen beschränkt. Die geben sich aus der Spezifik der jeweiligen
Grundlagen der systematischen kontrastiven Sprache, z. T. aber auch aus einem abwei-
Untersuchung hat Filipec (1976, 23ff.) ge- chenden Beschreibungsansatz.
schaffen. Er unterscheidet zwischen (a) allge-
meinen und (b) spezifischen Voraussetzungen 6.1.1. Die flektierbaren Wortarten unter-
der Wortschatzkonfrontation. Zu (a) gehört scheiden sich in den hier verglichenen Spra-
die Erforschung der Nominationsverhältnisse chen v. a. darin, dass sie im Tsch./Slk. dank
und der Strukturbeziehungen der Sprache, zu der reichen Flexion ihre Autonomie im Satz
(b) die Schaffung einer Metasprache und die beibehalten, im Dt. jedoch wegen des Fle-
Ausarbeitung geeigneter Analysemethoden. xionsrückgangs immer fester in entspre-
In den Vergleich sind der Sprachtypus, das chende syntaktische Gruppen eingebaut wer-
Verhältnis der Varietäten und statistische den. Weitere Differenzen kommen in para-
Proportionen einzubeziehen. Den Gegenstand digmatischen, syntagmatischen und funktio-
der Analyse sollen engumgrenzte Teilsysteme nal-stilistischen Merkmalen ihrer peripheren,
der lexikalischen Einheiten (mit Berücksichti- im Ausdruck wortarteigener Kategorien de-
gung des Minimalkontextes) bilden. fizitären Bereiche vor (vgl. Šimečková 1988,
95f.). Die flexionslosen Wortarten sind im
5.2. Die bisherigen dt.-tsch./slk. Wortschatz- Dt. weitgehend konvertierbar; im Tsch./Slk.
analysen sind außer kleineren Nominalberei- können demgegenüber deutliche Grenzen
chen v. a. verbalen Untergruppen (Wahrneh- zwischen ihren Klassen gezogen werden.
mungs-, Mitteilungs-, Possessiv-, Modal- und
Funktionsverben) gewidmet; es herrscht eine 6.2. Das Substantiv ist im Dt.-Tsch./Slk.
feldmäßige, ebenenüberschreitende Analyse durch gleiche grammatische Kategorien ge-
vor. Das kontrastive Herangehen ermöglicht kennzeichnet. Die Genuszuteilung (M, F, N)
eine bessere Erkennung und Erfassung se- ist weder durch semantische noch durch for-
mantischer Distinktionen, als es bei intralin- male Regeln vollständig erfassbar. Im laufen-
gualer Analyse der Fall ist (Schwanzer den Text decken sich die dt. und tsch. Sub-
1978, 155). stantive nur etwa zu 50% im Geschlecht. Die
Genusunterscheidung spiegelt sich im Tsch./
5.3. Beim dt.-tsch./slk. Wortschatzvergleich Slk. im attributiven Pronomen und Adjektiv,
zeichnet sich deutlich ein Weg quer über Le- im prädikativen Verb, Substantiv und Adjek-
xik und Grammatik zum komplexen Ver- tiv wider. Die Subkategorie der Belebtheit/
gleich ab, u. zw. im Rahmen der begrifflich- Unbelebtheit besitzt beim slk./tsch. Substantiv
semantischen Kategorien der Possessivität, noch Reste von Ausdrucksmitteln; das Slk.
Kausativität, Quantifizierung, Raum- und rangiert darin nicht nur vor dem Tsch., son-
Richtungsbezogenheit usw. (vgl. Krenčeyová dern auch vor anderen slaw. Sprachen (Gla-
1989, 237ff. u. a. m.). drow 1976, 212). Der Numerus ist in allen drei
Sprachen als logisch-grammatische Kategorie
5.4. Der Parallelismus eines großen Teils mit zwei Formeninventaren für Singularität
der älteren dt.-tsch. Phraseologie (bis zum und Pluralität konstituiert. In den semanti-
2. Weltkrieg) gab früher Anlass zu den Unter- schen Untergruppen der Pluraliatantum im
suchungen des dt. Einflusses auf die tsch. Dt.-Tsch. werden kontrastiv mehr Unter-
Phraseme. Der prinzipielle Wandel nach 1945 schiede als Gemeinsamkeiten festgestellt. Das
ist mit Ausnahme der Fachsprachen noch Kasussystem besteht im Tsch./Slk. aus sieben
nicht systematisch bearbeitet. Auf beiden Sei- Formen (außer den dt. noch Vokativ, Ablativ
ten gibt es heute einschlägige theoretische und Instrumental) mit eigenen Funktionen. In
und lexikographische Werke, die eine Basis den gemeinsamen Kasus gibt es bis auf einige
für den soliden Vergleich liefern könnten. In Prädikatsrollen grundsätzliche Übereinstim-
38. Kontrastive Analysen Deutsch-Tschechisch/Slowakisch: eine Übersicht 399

mung (vgl. Povejšil 1992, 129ff.). Tieferge- und vom Adjektiv unterscheidbar (dt. Adj. ⫽
hende kontrastive Analysen der grammati- Adv. kurz; tsch. Adj. krátký, Adv. krátce; slk.
schen Kategorien des Substantivs stehen noch Adj. krátky, Adv. krátko). Dadurch erübrigen
aus. sich die Probleme der Disambiguierung im
Prädikat (vgl. Marko 1980, 96ff. u. a.).
6.3. Der Vergleich des Dt. als Artikelsprache
mit dem Tsch./Slk. als artikellosen Sprachen 6.7.1. Die zusammengerückten Pronominal-
ist auf der Motivationsbasis des Artikelge- adverbien mit da(r)- und hier- in deiktischer,
brauchs durchführbar: Die im Dt. erfass- anaphorischer und kataphorischer Funktion
ten situativen, satzübergreifend-kontextuel- konkurrieren im Dt. als Substitute mit den
len, satzgrammatischen und -semantischen Präpositionalgruppen; im Tsch./Slk. ent-
Regularitäten und ihr Zusammenwirken (vgl. spricht ihnen die Präpositionalgruppe allein.
die Beiträge H.-J. Grimms, v. a. 1979, 1ff.) er- In den bisherigen dt.-tsch./slk. Analysen wer-
möglichen eine systematische, bisher nur in den die mit dem Gebrauch des Pronominal-
Ansätzen existierende Untersuchung der adverbs zusammenhängenden Teilfragen v. a.
tsch./slk.-dt. Äquivalente. in Hinsicht auf die Translationsproblematik
und den Unterricht des Dt. untersucht.
6.4. Das Adjektiv unterscheidet sich trotz
der Übereinstimmung in morphologischen 6.7.2. Die dt. zusammengerückten Rich-
und syntaktischen Kategorien v. a. durch die tungsadverbien mit hin- und her- und die
flexivische Autonomie im Tsch./Slk. einerseits konkurrierenden Präpositionalfügungen mit
und die Determiniertheit der Flexion in Ab- Richtungsmerkmal (die Katze springt vom
hängigkeit von dem vorangehenden Glied im Baum/herunter) unterscheiden sich von den
dt. Syntagma andererseits. Weitere Differen- tsch. Entsprechungen (kočka skáče se stromu/
zen zeigen sich in morphosyntaktischen Sub- dolů) durch die Kombinierbarkeit beider Mit-
klassen, in den Restriktionen der Flexion und tel, deren Vorkommenshäufigkeit sowie
Kongruenzfähigkeit, v. a. aber in der Existenz durch die Nähe des Richtungsadverbs zum
des Possessivadjektivs im Tsch./Slk.; dieses richtungsdeterminierten Verb.
Adjektiv wird von Personen-, seltener von
Tiernamen gebildet und konkurriert mit dem 6.8. Die Wortart Verb steht beim dt.-tsch./
adnominalen (im Dt. auch mit dem analyti- slk. Vergleich im Zentrum des Interesses.
schen) Genitiv (Krenčeyová 1989, 244 u. a.).
6.8.1. Von zahlreichen dem Genus verbi ge-
6.5. Die in allen drei Sprachen formal und widmeten Analysen befassen sich die meisten
funktional heterogene Klasse der Pronomen mit dem Vergleich des dt. Formenpaars
divergiert im Inventar, in Genusmerkmalen, Vorgangspassiv⫺Zustandspassiv und des
im Ausmaß der Homomorphie, in Position tsch. Paars sein ⫹ Partizip II⫺Reflexivpassiv.
und Kombinierbarkeit im Syntagma usw. Es geht hier um keine Parallelität. Der Unter-
(vgl. dazu detailliert Povejšil 1992, 152ff.). schied zwischen den dt. analytischen Formen
Besondere Aufmerksamkeit verdienen das In- zum Ausdruck des Vorgangs und Zustands
ventar und die Funktionen der Reflexivpro- und der tsch. Umschreibeform (werden/sein
nomen (vgl. Šimečková 1978, 52ff. u. a.). ⫹ Part. II) wird z. T. mit Hilfe des Verbala-
spekts reflektiert (der Bau wird beendet ⫺
6.6. Ebenso wie im Dt. wird die Wortart Nu- stavba je dokončována; der Bau ist beendet ⫺
merale im Tsch./Slk. herkömmlich nach dem stavba je dokončena). Der Unterschied ist
Kriterium der Quantifizierung ausgegliedert aber nur im Präsens deutlich, in den übrigen
und lässt sich morphologisch-syntaktisch in Zeitformen tritt er weniger scharf hervor (Be-
anderen Wortklassen auflösen. Differenzen neš 1970, 107ff.). Das tsch. Reflexivpassiv
gibt es in der Vollständigkeit der Paradigmen drückt sowohl eine allgemeine, sich wieder-
und im Gebrauch der Subklassen, u. a. bei holende Handlung aus als auch eine einzelne
mündlicher Realisierung. Als ergiebig erweist Handlung mit anonymisiertem Agens (stavba
sich die Kontrastierung der Numeralien im se dokončuje); es ist im Unterschied zu der
Rahmen der übergeordneten Kategorie der gehobenen Umschreibeform normalsprach-
Quantifizierung. lich markiert. Von den Typen der passivi-
schen Prädikation, die dem Dt.-Tsch./Slk.
6.7. Im Unterschied zum Dt. ist das Adverb meist gemeinsam sind (vgl. Beneš 1970, 115),
im Tsch./Slk. eindeutig formal signalisiert untersucht Daneš (1976, 113ff.) das sog. Re-
400 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

zipientenpassiv. Der Unterschied zwischen und Vollverben sowie in anderen als verbalen
der dt. und der tsch. Konstruktion besteht Mitteln ist die ausführliche Analyse von Fied-
ihm zufolge darin, dass das tsch. Rezipienten- ler/Kostov (1978, 136ff.) gewidmet.
passiv mit dostat/dostávat (dostal jsem při-
dáno) nur auf sog. „Rezipientenverben“ be- 6.8.4. In der durch die Fortschritte der slawi-
schränkt ist, während die dt. Konstruktion stischen Forschung wesentlich vorangetriebe-
mit bekommen, kriegen (er bekam das Buch nen Konfrontation der Aspektualität beste-
geschenkt) grammatikalisiert ist und als pe- hen auch weiterhin Probleme, u. a. mit der
riphrastische morphologische Kategorie des Metasprache. Im dt.-tsch./slk. Vergleich zeich-
Verbs betrachtet werden kann. Die Reflexiv- net sich ein Weg ab von der anfänglichen Ver-
konstruktionen mit passivischem Charakter mischung von Aspekt und Aktionsart über
(Das Buch liest sich gut.//Ta kniha se dobře die Differenzierung von Aspekt als grammati-
čte.) weisen im Dt. und Tsch. potentielle mo- scher Kategorie und Aktionsart als lexika-
dale Bedeutung auf. lisch-semantischer Kategorie bis zur Konstitu-
ierung der übergeordneten sprachlich-begriff-
6.8.2. Die Dreiteilung der sprachlichen Tem- lichen Kategorien (Uhrová/Uher 1977, 45ff.).
pussphären und die Funktionen der Grund- Die wortbildenden, morphologischen, syn-
form Präsens stimmen im Dt., Tsch. und Slk. taktisch- und lexikalisch-kontextuellen Äqui-
überein. Die Hauptdifferenzen bestehen in valente des tsch. Aspekts im Dt. beschreibt
der engen Verknüpfung von Tempus und Hnı́k (1976, 113ff.).
Aspekt im Tsch./Slk. und im Formeninventar
(nur drei Tempusformen im Tsch./Slk.). Die 6.9. Präpositionen gehören auch im dt.-tsch./
Verflechtung von Tempus und Aspekt wurde slk. Vergleich zu den problematischsten Be-
an den slk. Perfektiva und Imperfektiva als reichen. Die Beschreibung der dt. Präpositio-
Entsprechungen zu den dt. präsentischen Äu- nen liefert bereits eine solide Basis für den
ßerungen mit generalisierender Funktion un- Vergleich, aber im Tsch. fehlt sie; eine syste-
tersucht, tsch. Entsprechungen des dt. Fu- matische dt.-slk. Konfrontation wird in meh-
tur I sind in mehreren unterrichtsbezogenen reren Arbeiten von I. Vaverková durchge-
Einzeluntersuchungen beschrieben worden. führt. Die meisten Übereinstimmungen im
Systematische Vergleiche des Tempusbereichs Dt.-Tsch./Slk. finden sich im Bereich der se-
fehlen. kundären Präpositionen.

6.8.3. Von den grammatischen Mitteln zum 6.10. Der dt.-tsch./slk. Vergleich der Parti-
Ausdruck der funktional-semantischen Kate- keln ist durch unterschiedliche Klassifizie-
gorie ,Modalität‘ stimmen in den drei Spra- rungsansätze in der Bohemistik und Germa-
chen der Indikativ und Imperativ funktionell nistik erschwert. Der in vielen Analysen an-
überein; die Ersatzmittel des Imperativs dek- genommene hohe Äquivalenzgrad der Parti-
ken sich aber nicht. Das Tsch./Slk. besitzen keln und deren Funktionen täuscht; die Vor-
keine Konjunktivformen, der Konditionalis kommenshäufigkeit der tsch./slk. Partikeln
berührt sich funktionell nur z. T. mit dem ist niederiger als die der dt. und ihr Gebrauch
Konjunktiv Präteritum. Die Redewiedergabe viel weniger automatisiert (Nekula 1966).
wird im Tsch./Slk. nicht durch besondere
Mittel grammatisch signalisiert. Die kontras- 7. Satzbau
tiven Analysen der Modalität (in enger Zu-
sammenarbeit von Bohemisten und Germa- 7.1. Während die Untersuchungen zu valenz-
nisten entstanden) unterscheiden allgemeine, gebundenen Konstruktionen meist Einzelfäl-
voluntative und Gewissheitsmodalität und len gewidmet sind und auf Unterrichts- und
beschreiben systematisch die entsprechenden Translationszwecke hinzielen, gilt das größte
Ausdrucksmittel im Dt. und Tsch. (vgl. Interesse des theoretischen Vergleichs den
Grepl/Masařı́k 1974, 370ff. und weitere Ar- syntaktischen Verdichtungsmitteln, u. zw. den
beiten dieser Autoren). Der Vergleich der dt. verbonominalen Konstruktionen als Substi-
und tsch. Partikeln zum Ausdruck der Ge- tuten des Verbs und den als sekundäre Prädi-
wissheitsmodalität (Masařı́k 1982, 21ff.) zeigt kate dienenden Mitteln (Verbalsubstantiven,
eine relativ große semantische und kommuni- satzwertigen Infinitiv- und Partizipialgrup-
kative Parallelität einiger Lexeme (eben// pen, Adjektiv-Adverbien). Obwohl die Ver-
právě, denn//pak usw.). Dem Ausdruck der dichtungsmittelarten im Dt. und Tsch. meist
Modalität in Kombinationen von Modal- übereinstimmen, gibt es Differenzen im In-
38. Kontrastive Analysen Deutsch-Tschechisch/Slowakisch: eine Übersicht 401

ventar sowie in Subkategorisierung und Vor- Zusammenhang mit der TRG untersucht.
kommenshäufigkeit der Konstruktionen (Po- Das vervollständigte topologische Modell bil-
vejšil 1972, 116). det nach Zeman (1992, 232) ein Raster, „das
innerhalb des Satzfeldes die topologischen
7.2. Die Kategorie des prädikativen Attri- Phänomene ziemlich genau lokalisieren hilft“
buts im Dt. und die des slk. doplnok/tsch. (vgl. die übereinstimmende Signalisierung der
doplněk entsprechen einander strukturell und Satzintention am Satzanfang, die unter-
funktionell und lassen sich auf Grund glei- schiedliche Position des Verbs, u. zw. die me-
cher Kriterien beschreiben und von anderen diale Position im Tsch., das Klammerprinzip
Kategorien (v. a. vom dt. Prädikativ, Attribut im Dt.). Die dt.-tsch. Analysen der Wortfolge
und Adverbiale) abgrenzen (vgl. Marko im Rahmen der TRG konzentierten sich zu-
1980, 96ff.). erst auf die Stellung der Satzglieder im Ein-
fachsatz (Beneš 1968, 57ff.), später auf ini-
7.3. Der Elementarsatz wird kontrastiv meist tiale und finale Positionen im kontextunge-
in Bezug auf die Besetzung der Subjektposi- bundenen Satz und schließlich auf die sy-
tion betrachtet; die größte Aufmerksamkeit stemhafte Anordnung der Verbergänzungen,
wird dem Pronomen es und seinen Entspre- die der Aussagedynamik im Satzkern ent-
chungen geschenkt (u. a. dem „expletiven“ es sprechen soll; es werden ähnliche Konstella-
und seiner gelegentlichen tsch. Entsprechung tionen für das Tsch. und Dt. angenommen.
ono, oder der Konstruktion mit es in sog. Zur translationslinguistischen Relevanz der
„gespaltenen Sätzen“, die im Tsch. im Unter- TRG vgl. Koenitz (1987).
schied zu anderen slaw. Sprachen eine Paral-
lele zum Dt. haben).
8. Text
7.4. Die Analysen der Gesamtsätze sind
meist der Hypotaxe gewidmet (im dt.-slk. 8.1. Die transphrastischen Erscheinungen
Vergleich auch den koordinativen Satzrei- der Textebene beginnen im dt.-tsch./slk. Ver-
hen). gleich erst Ende der 70er Jahre aktuell zu
werden. Die kontrastiven Analysen werden
7.4.1. Das Interesse am Finalsatz wird er- meist den zueinander in Translatrelation ste-
weckt durch die Unterschiede im Gebrauch henden Texten gewidmet; es fehlt an Verglei-
des Modus, der Konjunktionen und durch chen der Texte ohne Translatrelation, an si-
die Konkurrenz des um ⫹ zu-Infinitivs im Dt. tuationsäquivalenten Textvergleichen sowie
Es lässt sich nachweisen, dass die scheinbaren an textlinguistischen Fehleranalysen. Die
Ausnahmen im Gebrauch von damit/dass und Textsortenklassifizierung aus dt.-tsch. Sicht
aby/že daraus resultieren, dass im Tsch. sich ist erst in Anfängen (vgl. Jäger/Koenitz
auch der abhängige Begehrungssatz (z. B. 1978, 59ff.), ebenso der Vergleich der Text-
nach den Verba Permittendi) vom Aussage- verflechtungsmittel.
satz durch den Gebrauch von aby unterschei-
det, während im Dt. die Unterscheidung 8.2. Ansatzweise werden Differenzen refe-
durch Verbalmodus oder Modalwörter er- renzsemantischer Art in morpho-syntakti-
folgt (Prosil ho, aby přišel včas.//Er bat ihn, scher Repräsentation untersucht (vgl. meh-
dass er rechtzeitig kommen soll/solle. Vgl. rere Beiträge von Frank, v. a. 1988, 416ff.).
Trost 1982, 187f.).

7.4.2. Im weiten Rahmen der Konzessivsätze 9. Sprachsituation


lässt sich nach Frank (1983, 66) eine beson-
dere, die Irrelevanz der Geschehensumstände 9.1. Die Arten von Varietäten stimmen im
im Verhältnis zum Hauptsatz ausdrückende Dt. und Tsch. (nicht so im Slk.) im Prinzip
Klasse konstituieren, die mit den übrigen, ein überein. Die Abgrenzung der gesprochenen
relevantes Geschehen erfassenden Nebensät- Schriftsprache von der nichtstandardsprach-
zen in Korrelation steht und deshalb nicht lichen gesprochenen Form des „Gemeintsche-
mehr getrennt beschrieben werden sollte chischen“ („obecná čeština“) ist in den vergli-
(Satztypen mit tsch. kdokoli usw. ⫺ dt. mit chenen Sprachen mit Problemen verbunden.
wer auch immer usw.). Die Differenzen liegen im Tsch. hauptsäch-
lich in der morphologischen Sphäre, im All-
7.5. Die Differenzen in der Wortfolge werden gemeinen aber in der regional beeinflussbaren
entweder am topologischen Modell oder im Lexik. Im Dt. und Tsch. wird die Annähe-
402 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

rung der erwähnten Varietäten festgestellt und Russischen. In: Linguistische Studien Berlin 29/
(vgl. Jäger/Koenitz 1978, 51 u. a.). Die Dia- 2, 206⫺216.
lekte sind im Vergleich mit dem Stand in den Grepl, Miroslav; Zdeněk Masařı́k (1974): Zur Ka-
deutschsprachigen Ländern weniger funktio- tegorie der Modalität im Deutschen und Tschechi-
nal belastet (ihre Anzahl und Bedeutung schen aus konfrontativer Sicht. In: DaF 11/6,
wächst in östlicher Richtung an, aber die mei- 370⫺378.
sten Sprachnutzer sind keine Dialektspre- Grimm, Hans-Jürgen (1979): Einige Vorüberlegun-
cher mehr). gen für eine „konfrontationsfreundliche“ Beschrei-
bung des Artikelgebrauchs im Deutschen. In: DaF
9.2. Die kontrastive Forschung auf dem Ge- 16/1, 1⫺7.
biet der Sprachsituation sowie in den funk- Heinisch, Regina (1980): Slowakische deadjektivi-
tionalstilistischen Sphären ist noch nicht weit sche Substantive auf -ost’ und Probleme ihrer Wie-
vorangeschritten, obwohl es auf beiden Sei- dergabe im Deutschen. In: Zft. f. Slawistik 25/6,
ten Untersuchungen gibt, die aufeinander be- 901⫺906.
zogen werden könnten. Hnı́k, Jaromı́r (1976): Slovotvorné, morfologické,
syntakticko-kontextové a lexikálně kontextové
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39. Kontrastive Analysen Deutsch-Serbisch/Kroatisch: eine Übersicht 403

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39. Kontrastive Analysen Deutsch-Serbisch/Kroatisch: eine Übersicht

1. Überblick der Schwerpunkt der deutsch-serbokroati-


2. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts schen Sprachvergleiche deutlich auf jugosla-
3. Die Kontrastive Grammatik deutsch- wische Forschungsstätten und hier naturge-
serbokroatisch mäß auf die jugoslawische Germanistik.
4. Das Zagreber Projekt
5. Lexikographie
Im Folgenden soll die Entwicklung anhand
6. Wirkung, Fortgang und Ausblick von Gesamtdarstellungen und größeren For-
7. Literatur in Auswahl schungsprojekten nachgezeichnet werden;
Einzeluntersuchungen werden vor allem inso-
weit zur Sprache kommen, als sie Bestand-
1. Überblick teile oder Folgeerscheinungen solcher größe-
Ein Bericht über den deutsch-serbokroati- ren Unternehmungen sind.
schen Sprachvergleich hat zwei Phasen zu un- Der Zerfall Jugoslawiens und der Krieg
terscheiden: die Zeit bis zur Mitte des der 90er Jahre hat viele Fortschritte zunichte
20. Jhs., in der die Forschung großenteils tra- gemacht. Ob und wie schnell sich die Wissen-
ditionellen, später auch junggrammatischen schaft von dem Blutverlust erholen wird,
Methoden verpflichtet war, und den wesent- bleibt abzuwarten.
lich kürzeren Zeitabschnitt seit den 60er Jah-
ren des 19. Jahrhunderts, in dem sich die 2. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts
Forschung zunehmend an modernen lingu-
istischen Methoden orientierte. In der ersten Es gibt aus früherer Zeit eine Reihe von Dar-
Phase spielte die Slawistik/Serbokroatistik stellungen, die als Vorläufer kontrastiver Un-
des Auslands, zumal des deutschen Sprachbe- tersuchungen gewertet werden können. Im
reichs, eine wichtige Rolle, was von vornhe- Jahr 1767 erschien in Zagreb eine „Slawoni-
rein eine kontrastive Sehweise nahelegte. sche und deutsche Grammatik“ („slawo-
Allerdings waren Grundbegriffe und Metho- nisch“ steht hier für „kroatisch“) von Matija
den kontrastiver Sprachbetrachtung damals Antun Relković. Dieses in ungarischer Or-
noch kaum entwickelt. Die zweite Phase thographie gedruckte Buch hatte durchaus
brachte grundlegende theoretisch-methodi- sprachvergleichende Ambitionen. Im Unterti-
sche Neuerungen. Gleichzeitig verlagerte sich tel heißt es, dass das Buch sowohl der Jugend
404 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

Slawoniens bei der Erlernung des Deutschen folgten gegen Ende des Jahrzehnts. 1969 und
als den Deutschen beim Lernen des Slawoni- 1970 veranstaltete das Mannheimer Institut
schen helfen könne. Wenig später wurde in für deutsche Sprache (IDS) zwei Tagungen zu
Buda (1775), dann in Osijek (1789) eine „An- kontrastiven Problemen, von denen starke
leitung zur slawonischen Sprachlehre“ von Impulse zur Erarbeitung konkreter kontrasti-
Marijan Lanosović veröffentlicht. Besonders ver Grammatiken ausgingen. Die Ergebnisse
wichtig wurde indessen die im Prinzip nicht dieser Tagungen finden sich in Moser u. a.
kontrastiv angelegte „Serbische Grammatik“ (1970) und Moser u. a. (1971). Aufsehen er-
von Vuk Karadžić, die erstmals 1818 als An- regten hier vor allem die Referate von Za-
hang zu seinem Serbischen Wörterbuch er- brocki (1970), der den Begriff „Kontrastive
schien. Diese Grammatik nämlich wurde von Grammatik“ nach außen abgrenzte, und von
Jacob Grimm übersetzt und kommentiert; Coseriu (1970), der die Frage nach der Ver-
die deutsche Fassung erschien 1824. Glückli- gleichsbasis („tertium comparationis“) be-
cherweise ist Jacob Grimms durchschossenes leuchtete und feststellte, was überhaupt (und
Handexemplar mit zahlreichen handschriftli- mit welcher Legitimation) verglichen werden
chen Bemerkungen 1974 als Faksimile nach- kann. Hinzu kam zur selben Zeit Juhász
gedruckt worden. Die kontrastive Kompo- (1970) mit seinem Buch über die Interferenz
nente fällt vor allem in diesen Randbemer- als der wohl wichtigsten Motivation für kon-
kungen auf. Unter den wichtigeren Darstel- trastive Beschreibungen.
lungen der späteren Jahre ist vor allem Brlićs In dieser neuen Situation haben zwei große
„Grammatik der illyrischen Sprache“ (1833; kontrastive Forschungsunternehmen, die den
1842) zu nennen, wobei mit „illyrisch“ wie- deutsch-serbisch/kroatischen Sprachvergleich
derum „serbokroatisch“ gemeint ist. Modell- betreffen, ihren Ursprung. Zwar liegen die
haft wurde für lange Zeit Leskiens Gramma- Wurzeln beider Unternehmen noch in den
tik der serbokroatischen Sprache von 1914, 60er Jahren, aber Ausformung und Entwick-
die jedenfalls stärker die sprachvergleichende lung wurden maßgeblich durch die Ereignisse
Perspektive reflektierte als Rešetars Elemen- um 1970 gesteuert. Es handelt sich um die
targrammatik der kroatischen (serbischen) Kontrastive Grammatik deutsch-serbokroa-
Sprache von 1916. Zu erwähnen ist schließ- tisch von Engel/Mrazović (1986) und um das
lich noch Radovićs Lexikon der deutschen Zagreber fünfsprachige kontrastive Projekt.
Verben von 1952, das auf Sprachkontraste Beide Projekte werden ausführlich dargestellt,
hin angelegt ist, überdies Anklänge an den weil in ihrem Wirkungsbereich fast alle
damals noch kaum bekannten Valenzbegriff deutsch-serbokroatischen Einzeluntersuchun-
gen der Folgezeit entstanden sind.
zeigt. Als letztes Werk dieser traditionell aus-
gerichteten Phase verdient Josip Hamms ser-
bokroatische Grammatik (1967) Erwähnung. 3. Die „Kontrastive Grammatik
Alle diese Darstellungen sowie eine grö- deutsch-serbokroatisch“ (KGDSK)
ßere Zahl vergleichender Einzeluntersuchun-
gen, im Ganzen mehr von deutscher als von Die wichtigsten Anstöße zu diesem Unter-
jugoslawischer Seite (weitere wichtige Lite- nehmen kamen von Pavica Mrazović. Als
ratur findet man bei Kunzmann-Müller wissenschaftliche Mitarbeiterin, später or-
(1994)), waren nicht kontrastiv im heutigen dentliche Professorin an der Universität Novi
Sinne. Weder waren bis dahin die Methoden Sad interessierte sie sich zunächst aus fremd-
des Sprachvergleichs erarbeitet noch die sprachendidaktischen Gründen für deutsch-
Grundbegriffe kontrastiver Sprachbetrach- serbokroatische Sprachvergleiche. Seit 1970
tung untersucht und abgeklärt. Dies geschah bemühte sie sich um ein kontrastives Groß-
dann teilweise durch Uriel Weinreichs „Lan- projekt, das gemeinsam mit dem IDS durch-
guages in Contact“ (1953), dessen Anregun- geführt werden sollte. Was das Grammatik-
gen im Washingtoner Center for Applied Lin- modell betraf, so fiel schon früh die Entschei-
guistics aufgegriffen wurden und sich schließ- dung für die im IDS entwickelte Dependenz-
lich seit 1962 in Fergusons Contrastive Struc- Verb-Grammatik (DVG), die damals eine der
ture Series niederschlugen, wo mehrere Spra- wenigen Möglichkeiten bot, Sprachen auf
chen mit dem Englischen verglichen wurden. moderner Grundlage exhaustiv und konsi-
Die Bände dieser Serie hatten einstweilen als stent zu beschreiben (vgl. dazu Engel 31994;
Modelle für künftige kontrastive Arbeiten zu 1. Aufl. 1977). Mit Unterstützung der Kultur-
gelten. Weitere theoretische Klärungen er- und Informationszentren der BRD in Bel-
39. Kontrastive Analysen Deutsch-Serbisch/Kroatisch: eine Übersicht 405

grad (Leitung: Hans-Otto Broecker, später lung) rund ein Viertel des Ganzen ausma-
Dr. Hubert Hohl) und Zagreb (Leitung: Dr. chen. Ein phonologisch-phonetischer Teil
Gertraud Stoop-Wirth) fanden seit 1972 lau- konnte bislang nicht ausgearbeitet werden.
fend Arbeitssitzungen statt, in denen ein Ver- Immerhin hat Žepić dazu 1985 einen beach-
treter des IDS Gesamtplan und Grammatik- tenswerten Aufsatz veröffentlicht. Eine ser-
modell erläuterte, während jugoslawische bokroatisch-deutsche Phonologie von Simić/
Germanisten ihre kontrastiven Vorarbeiten Simić liegt seit 1990 in Typoskriptform vor.
zur Diskussion stellten. Zwar lagen umfas- Beschreibungssprache der KGDSK ist
sende Beschreibungen der beiden Sprachen Deutsch. Eine serbokroatische Version, even-
auf DVG-Basis damals noch nicht vor, für tuell gekürzt, war geplant, konnte aber in-
das Serbokroatische gab es nicht einmal ent- folge der politisch-militärischen Wirren nicht
sprechende Einzelausarbeitungen. Aber ge- mehr realisiert werden. Die Beschreibung er-
rade das Bewusstsein, solche völlig neuarti- folgt Teil um Teil in einem „Dreierschritt“:
gen Beschreibungen in das Projekt einbringen zuerst werden die deutschen, dann die serbo-
zu müssen, stärkte die Motivation der sich kroatischen Teilgebiete möglichst ausführlich
allmählich herausbildenden Arbeitsgruppe. beschrieben; kontrastiert wird erst im dritten
Das Beschreibungsverfahren der DVG ist Schritt, der beide Sprachen behandelt und
verhältnismäßig oberflächennah: Was in Dia- teilweise zweispaltig angelegt ist. Der Dreier-
grammen oder Regeln angezeigt wird, ent- schritt erwies sich im Nachhinein als unnötig
spricht immer dem realisierten Text. Die aufwendig, vor allem weil Wiederholungen
Summe der Symbole in graphischen Dar- nicht ausgeschlossen werden konnten, wes-
stellungen ist identisch mit der Summe der halb bei späteren kontrastiven Projekten des
Wörter oder Wortgruppepn in der gesproche- IDS ein anderes Verfahren gewählt wurde.
nen/geschriebenen Kette. Zwischenkatego- Immerhin gewann man auf diese Art je eine
rien (wie z. B. Phrasen) werden prinzipiell vollständige DVG-Grammatik des Deut-
nicht vermerkt, sind freilich leicht zu erschlie- schen und des Serbokroatischen.
ßen. Über das Prinzip der Abhängigkeit wer- Mit der KGDSK lagen zwei äquivalente
den die systematisch regulierten Umgebun- Grammatiken für das Deutsche wie das Ser-
gen der Wörter erfasst. Dies führt ⫺ keines- bokroatische vor. Neuartiges für beide Spra-
wegs nur beim Verb ⫺ zur Unterscheidung chen findet man etwa bei den Beschreibungen
von Ergänzungen und Angaben, d. h. sub- des Genus verbi und der Sprechakte. Was das
klassenspezifischen und aspezifischen Begleit- Serbokroatische betrifft, so erwies sich die bis
elementen. Im Bereich der Topologie (Wort- dahin unbekannte Unterscheidung zwischen
stellung) werden auf verschiedenen Ebenen Modal- und Modalitätsverben als nützlich.
unmarkierte Grundfolgen konstituiert, von Bemängelt wurde von manchen Kritikern die
denen Abweichungen unter wohldefinierten Art, wie deutsches Tempussystem und serbo-
Bedingungen erfolgen. kroatisches Aspekt-Tempus-System kontra-
1978 kam es zu einer institutionellen Festi- stiert wurden, ferner die Behandlung des Ar-
gung der bis dahin halboffiziellen Zusam- tikelproblems, die Kongruenzregeln u. a. Im-
menarbeit. Das IDS und die Universität Novi merhin scheinen auch in den Augen der Kri-
Sad, diese zugleich stellvertretend für die tik die Vorteile zu überwiegen.
Universitäten Belgrad, Sarajevo, Zagreb,
schlossen einen Vertrag über die Erstellung
einer deutsch-serbokroatischen kontrastiven 4. Das Zagreber Projekt
Grammatik. Die Stiftung Volkswagenwerk
übernahm die finanzielle Förderung für Ursprünglich war die KGDSK als gesamt-
4 Jahre. 1983 konnte eine vorläufige Fassung jugoslawisches Unternehmen geplant; in den
in Novi Sad öffentlich vorgestellt werden. Die Vertrag von 1978 war deshalb auch die Uni-
mühsame Endredaktion wurde einer klei- versität Zagreb eingebunden. Aber hier exi-
neren Gruppe übertragen. Die KGDSK er- stierte seit der 2. Hälfte der 60er Jahre auch
schien in 2 Bänden 1986 (s. Engel/Mrazović das von Rudolf Filipović initiierte und gelei-
1986). tete kroatisch-englische Projekt, das wenig
Das Werk enthält auf 1500 Seiten später als das „Zagreber fünfsprachige kon-
3 Hauptteile ⫺ Wörter und Wortgruppen, trastive Projekt“ bekannt wurde. Ursprüng-
Satz, Text ⫺, die in 18 kürzere Einzelteile ge- lich hatte Filipović sogar an 6 Sprachen (un-
gliedert sind, wobei die Teile über den Satz ter Einschluss des Deutschen) gedacht. Als
(einfacher Satz, komplexer Satz, Wortstel- sich die Konturen der KGDSK abzeichneten,
406 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

gliederte Filipović den deutsch-kroatischen Beispiele zum richtigen Sprachgebrauch an-


Teil aus, betrachtete ihn aber weiterhin als zuleiten.
Bestandteil seines Projekts im weiteren Sinne. Besondere Erwähnung verdienen aber ne-
Von dieser Verbindung zeugt auch die Tatsa- ben dem schon erwähnten Lexikon deutscher
che, dass Filipović das Geleitwort zur Verben von Radović ⫺ das freilich durch die
KGDSK verfasst hat (s. Filipović 1986b). spätere Valenzforschung heute überholt ist ⫺
Über das Zagreber Projekt ist mehrfach be- zwei Wörterbücher, die lexikalisierten Wort-
richtet worden; vgl. die besonders ausführ- gruppen gewidmet sind und sich in der Rich-
liche Darstellung bei Raabe 1974. Den wis- tung der Kontrastierung ergänzen.
senschaftlichen Ertrag des Projekts findet Das deutsch-serbokroatische phraseologi-
man teilweise in Filipović (1986a), wo auch sche Wörterbuch (Mrazović/Primorac 1981)
die zahlreichen kontrastiven ⫺ freilich nicht enthält auf nahezu 1000 Seiten rund 20 000
deutsch-(serbisch)/kroatischen ⫺ Arbeiten phraseologische Einheiten. Auch wenn dieses
Filipovićs vornehmlich zu Phonologie und Wörterbuch im Gegensatz zu Matešić et al.
Lehnwortschatz aufgeführt sind. (1988) keinen nennenswerten theoretischen
Das Zagreber Projekt war nicht an ein be- Unterbau aufweist, hat es sich seit seinem Er-
stimmtes Grammatikmodell gebunden. Es scheinen doch als wertvolles Nachschlage-
war deshalb geeignet, die kontrastiven Arbei- werk und Hilfsmittel im Fremdsprachenun-
ten von Zagreber Germanisten aufzunehmen, terricht und beim Übersetzen erwiesen. Dies
die teilweise an der Leipziger Germanistik hat seine Ursache einmal in der Zweispra-
(G. Helbig) orientiert waren, teilweise auch chigkeit beider Autorinnen, zum anderen in
eigene Wege gingen. Jedenfalls lieferte die Za- den Materialgrundlagen, zu denen die um-
greber Germanistik vor allem mit der Ausar- fangreichen Karteien der Dudenredaktion
beitung zur Morphologie und Semantik von (Mannheim) und des Wörterbuchs der deut-
Verb und Verbalkomplex einen wertvollen schen Gegenwartssprache (Berlin) gehören.
Beitrag zur KGDSK, schied aber 1985 offizi- Das kroatisch-deutsche phraseologische
ell aus dem bisher gemeinsamen Projekt aus. Wörterbuch von Matesić et al. (1988) enthält
Weitere Beiträge zu Nomen, Adjektiv und auf mehr als 700 Seiten über 18 000 „phra-
Verb sowie den entsprechenden Wortgrup- seologische Einheiten“ der kroatischen Spra-
pen, die für die KGDSK mitverwendet wer- che mit ihren deutschen Entsprechungen,
den konnten, wurden von Žepić (1976; 1978; darunter auch Funktionsverbgefüge und prä-
1983) und Gojmerac (1981) vorgelegt. Goj- positionale „Minimalphraseme“, zusammen-
merac (1978) steuerte ferner eine Untersu- gesetzte Begriffe und Wortverbindungen mit
chung zum komplexen Satz bei. Nach Er- Satzcharakter. Während somit ein besonders
scheinen der KGDSK wurden in Zagreb weiter Begriff des Phraseologismus zugrunde
auch phraseologische Themen (Ivanetić/Kar- gelegt wurde, haben die Verfasser anderer-
lavaris-Breuer 1991; 1995) und Probleme aus seits auf die Angabe von Stilmerkmalen ver-
dem pragmatischen Bereich wie Sprechakte zichtet, was der Benutzer bedauern, der Lin-
und Textsorten (Ivanetić 1993; 1994; Glo- guist aber eher begrüßen wird: weniges ist de-
wacki-Bernardi 1992) bearbeitet. finitorisch schlechter abgesichert als die so
vielberufenen „Stilebenen“.
Außerdem gibt es Aktivitäten in der kon-
5. Lexikographie trastiven Valenzlexikographie. Miloje Íorde-
vić hat 1996 die theoretische Grundlegung
Zweisprachige Gebrauchswörterbücher gab
für ein deutsch-bosnisch/kroatisch/serbisches
und gibt es in großer Zahl und rasch aufein-
Valenzlexikon ausgearbeitet. Das Lexikon
anderfolgenden Auflagen, da, vor allem in
selbst soll, falls entsprechende Mittel bewil-
der sozialistischen Ära, das Prinzip limitier-
ligt werden, ab 1997 erstellt werden.
ter und staatlich subventionierter Auflagen
ständige Nach- und Neudrucke erforderlich
machte. Diese gleichwohl nützlichen Wörter- 6. Wirkung, Fortgang und Ausblick
bücher sind nicht eigentlich kontrastiv ange-
legt. Sie haben Ergebnisse der neueren Gram- Auf der Grundlage der KGDSK wurden wei-
matikforschung nicht in nennenswertem Maß tere monographische Einzelstudien und klei-
übernommen, beruhen im Wesentlichen auf nere Beiträge erarbeitet. Hingewiesen sei auf
dem Prinzip der „Wortgleichungen“ und ver- Dahl 1988, Íordević et al. 1988, Krivokapić
suchen, durch mehr oder weniger glückliche 1986, Ličen 1987, Petronijević 1988, Petrović
39. Kontrastive Analysen Deutsch-Serbisch/Kroatisch: eine Übersicht 407

1986, 1987, 1988, 1991, Popadić 1988, Popo- Alle positiven Ansätze hat der Krieg fürs
vić 1985, Zilić 1986, Žuljević 1992 und auf Erste zerstört. Auch wenn sich die Wissen-
zahlreiche Aufsätze zum deutsch-serbisch/ schaft weitgehend der polemisch verblende-
kroatischen Sprachvergleich in Mrazović/ ten Abgrenzungspolitik enthielt, erwies sie
Teubert 1988. Schon früher, aber ebenfalls sich gegenüber dem staatlich gelenkten Kul-
KGDSK-orientiert, waren Bačvanski 1982, turbetrieb doch als machtlos. Dies zeigt sich
Engel/Mikić 1983, Matulina 1985 und Mra- auch in der Terminologie. Die Benennung
zović 1982 erschienen. Dass die Auswirkun- „serbokroatisch“/„kroatoserbisch“ wurde für
gen der KGDSK so im Wesentlichen auf den die KGDSK und andere Untersuchungen be-
serbisch oder kroatisch sprechenden Bereich, wusst verwendet aus der Überzeugung he-
also das ehemalige Jugoslawien, beschränkt raus, dass es sich hier ⫺ im Sinne Vuk Kara-
blieben, ist der alten und fortdauernden džićs ⫺ um eine einzige Sprache mit be-
Asymmetrie zwischen den beiden Kulturen zu stimmten regionalen, sozialen, auch nationa-
danken: das Deutsche erscheint als Ziel- len Varianten vor allem im phonetischen und
sprache nach wie vor dominant, kontrastive im lexikalischen Bereich (viel weniger in der
Erkenntnisse sind daher im Wesentlichen für Syntax) handelt. Diese Sehweise hat eine alte
serbisch oder kroatisch sprechende Deutsch- Tradition. Es war ja nicht nur Vuk Karadžić
lerner wichtig; der Serbisch-/Kroatisch-Un- mit seinem sprachwissenschaftlichen Gefolge,
terricht in den deutschsprachigen Ländern der das Serbisch-Kroatische als Einheit auf-
hält sich in Grenzen. fasste. Auch die Verwaltungsorgane der Do-
Die KGDSK sollte, dies war die ursprüng- naumonarchie, die um die Mitte des 19. Jhs.
liche Planung, auch Folgen für den Fremd- den Fachwortschatz in dem vielsprachigen
sprachenunterricht haben. Eine „didaktische Staat zu regeln hatten, sprechen bezogen auf
Grammatik“ für das ehemalige Jugoslawien den südslawischen Bereich neben dem Slove-
war vorgesehen, konnte aber nicht mehr ver- nischen lediglich vom „Illyrisch-Serbischen“,
wirklicht werden. Die konkrete Umsetzung das „als ein Dialect aufgefaßt und behandelt
kontrastiver Erkenntnisse für Unterrichts- [wird, obwohl es] wegen des Gebrauches
zweier verschiedener Alphabete … nun in
zwecke wurde nur stückweise erreicht.
zwei besondere Literaturkreise geschieden
Das Lehrerhandbuch zum Hauptschul-
ist“ (s. Terminologie, S. VII). Heute betont
Deutschlehrbuch Moja domovina, das schon
nicht nur die Republik Kroatien in offiziellen
in den achtziger Jahren in Gebrauch war,
Verlautbarungen, dass in ihren Grenzen
enthielt immerhin ein Kapitel über die kon-
„kroatisch“ gesprochen und geschrieben
trastive Analyse des Serbokroatischen und
wird, dass es eine serbokroatische Sprache
des Deutschen (Mrazović 1986). Eine Umset- nicht gibt und nie gegeben habe. Auch in der
zung wissenschaftlich-kontrastiver Erkennt- Republik Serbien gilt im offiziösen Sprachge-
nisse in pädagogische Arbeitsverfahren sollte brauch nur noch die „serbische“ Sprache,
sich freilich immer auf zusammenfassende und Bosnien reklamiert für sich eine „bosni-
Darstellungen stützen können, die kompak- sche“ Sprache. Es ist dabei ganz unerheblich,
ter, auch praxisnäher als die dickleibige dass die Gemeinsamkeiten auf allen linguisti-
KGDSK sind. Eine größere Zahl solcher Dar- schen Ebenen überwiegen und die feststellba-
stellungen war geplant. Erschienen ist davon ren Sprachunterschiede keineswegs mit den
bisher nur eine Grammatik des Serbokroati- heutigen politischen Grenzen übereinstim-
schen für Ausländer (Mrazović/Vukadinović men. Dass die Bevölkerungsgruppierungen
1990). Eine deutsche Grammatik auf DVG- des ehemaligen Jugoslawien nach dem Krieg
Basis, immerhin aus kontrastiver Perspektive der neunziger Jahre nicht mehr zusammenle-
geschrieben, stellt Íukanović/Žiletić 1983 dar. ben wollen, auch nicht mehr können, ist
Didaktische Monographien zu Teilbereichen unbestreitbar; dass sie sich auch in kulturel-
waren geplant; eine Beschreibung der deut- ler Hinsicht voneinander abgrenzen, wiegt
schen Partikeln von Elke Hentschel liegt seit schwerer als Linguistenmeinung. Man sollte
1989 maschinenschriftlich vor. Viele nützliche wohl Paul Garde 1996 zustimmen, der mit
Informationen zum Kroatischen und zum Ser- Blick auf das ehemalige Jugoslawien meint,
bischen mit gelegentlichen kontrastiven Streif- dass zwar weiterhin ein einheitliches „Dia-
lichtern vermittelt auch Kunzmann-Müllers system“ existiere (für das neuerdings eine Be-
„Grammatikhandbuch“ (1994), das auf einge- zeichnung gefunden werden sollte, der alle
hender Forschung und gründlicher Sprach- betroffenen Gruppen zustimmen können);
praxis beruht. dass aber im Rahmen dieses linguistisch defi-
408 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

nierbaren Diasystems drei Standardsprachen ⫺; Pavica Mrazović (Hg.) (1986): Kontrastive


anzuerkennen sind ⫺ das Kroatische, das Grammatik deutsch-serbokroatisch. 2 Bände. Mün-
Serbische und das Bosnische. chen.
Künftige kontrastive Analysen zu den süd- Filipović, Rudolf (1986a): Theorie der Sprachen im
slawischen Sprachen werden sich möglicher- Kontakt (serbokroat.). Zagreb.
weise nicht allzu sehr von den bisherigen un- ⫺ (1986b): Kontrastive Grammatik im Rahmen
terscheiden; sie werden aber in den meisten der kontrastiven Linguistik. Geleitwort zu Engel/
Fällen unter anderer Flagge daherkommen. Mrazović (Hg.) (1986), 7⫺12.
Die Autoren danken den Kollegen Mirko Garde, Paul (1996): Langue et Nation: Le cas
Gojmerac, Zagreb, Helmut Keipert, Bonn, serbe, croate et bosniaque. In: Cahiers de L’ILSL,
und Daniel Weiss, Zürich, für wertvolle Hil- No 8, 123⫺147.
fen. Glovacki-Bernardi, Zrinjka (1992): Textsorte
Kochrezept. In: Grazer Linguistische Studien 38,
73⫺83.
7. Literatur in Auswahl
Gojmerac, Mirko (1978): Konditionalsätze im
In der folgenden Bibliographie werden fremdspra- Deutschen und Serbokroatischen. In: Petojezični
chige Arbeiten (deren Titel in Übersetzung angege- kontrastivni projekt [Das fünfsprachige kontrastive
ben werden) als „serbokroatisch“ gekennzeichnet, Projekt], Band 2. Zagreb, 32ff.
soweit sie vor 1990 erscheinen sind. Für später er-
⫺ (1981): Sprachliche Mittel zur Wiedergabe des
schienene Arbeiten wird die jeweilige Standard-
serbokroatischen Verbalaspekts im Deutschen (Ser-
sprache genannt.
bokroatisch-deutsche kontrastive Studien 3). Za-
Bačvanski, Marija (1982): Bivalente Verben im greb.
Deutschen im Vergleich mit der sprachlichen Situa-
tion des Serbokroatischen (serbokroat.). Novi Sad. Hamm, Josip (1967): Kurze Grammatik der serbo-
kroatischen Schriftsprache für Ausländer (serbo-
Brlić, Ignjat Alojzije (1833): Grammatik der illyri- kroat.). Zagreb.
schen Sprache, wie solche in Bosnien, Dalmatien,
Slawonien, Serbien, Ragusa etc. dann von den Illy- Ivanetić, Nada (1993): Mißbilligende Sprechakte
riern in Banat und Ungarn gesprochen wird. Buda im Kroatischen und Deutschen. In: Zagreber ger-
(2. Aufl. Zagreb 1842). manistische Beiträge, Band 2, 195⫺210.
Coseriu, Eugenio (1970): Über Leistung und Gren- ⫺ (1994): Todesanzeigen in kroatischen und deut-
zen der kontrastiven Grammtik. In: Hugo Moser schen Zeitungen. In: Zagreber germanistische Bei-
et al. (Hg.) (1970). Düsseldorf, 9⫺30. träge, Band 3, 109⫺125.
DAAD (Hg.) (1986): Jugoslawisch-deutsches Ger- ⫺; Ute Karlavaris-Bremer (1991): Bezeichnungen
manistentreffen. Bonn. für Menschen im Deutschen und im Kroatischen
(kroat.). In: Jezik i kultura [Sprache und Kultur].
Dahl, Johannes (1988): Die Abtönungspartikeln im
Zagreb, 123⫺126.
Deutschen. Ausdrucksmittel für Sprechereinstellun-
gen, mit einem kontrastiven Teil deutsch-serbokroa- ⫺; ⫺ (1995): Faule Grete und gute Gera. Vom
tisch (Deutsch im Kontrast, Band 7). Tübingen. Übersetzen kulturspezifischer Phraseme (kroat.).
Íordević, Miloje; Ulrich Engel; Pavao Mikić In: Übersetzen: Zeitgenössische Strömungen und
(1983): Verbalphrase und Verbvalenz. Untersuchun- Tendenzen (kroat.). Zagreb, 487⫺503.
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Engel, Ulrich (1994): Syntax der deutschen Gegen- zen mit Quantifikatoren im Deutschen und Serbo-
wartssprache (Grundlagen der Germanistik 22). kroatischen. In: DAAD (Hg.), 158⫺191.
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berg. tation. In: Zeitschrift für Slawistik 35, 529⫺534.
⫺; Pavao Mikić (1983): Valenz im Deutschen und Kunzmann-Müller, Barbara (1994): Grammatik-
im Serbokroatischen. Ein Vorschlag für kontra- handbuch des Kroatischen und Serbischen (Heidel-
stive Beschreibungen. In: Íordević et al. (1983), berger Publikationen zur Slavistik, Linguistische
197⫺255. Reihe, Band 7). Frankfurt a. M./Berlin usw.
39. Kontrastive Analysen Deutsch-Serbisch/Kroatisch: eine Übersicht 409

Lanosović, Marijan (1775): Anleitung zur slawoni- ⫺; Božinka Petronijević; Miloje Íordević (1988):
schen Sprachlehre. Buda (Nachdruck Osijek 1789). Untersuchungen zum nominalen Bereich deutsch-ser-
Leskien, August (1914): Grammatik der serbokroa- bokroatisch (Deutsch im Kontrast, Band 8). Hei-
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Popović, Branislava (1985): Die kausalen Subjunk-
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Matešić, Josip, et al. (1988): Kroatisch-deutsches Zagreber Projekt zur angewandten kontrastiven Lin-
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Commission für slawische juridisch-politische Ter-
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schen und des Deutschen. In: Methodisches Hand- Zabrocki, Ludwik (1970): Grundfragen der kon-
buch zur Lehrbuchserie Meine Heimat SFR Jugosla- frontativen Grammatik. In: Hugo Moser et al.
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Žepić, Stanko (1970): Morphologie und Semantik
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ski frazeoloski recnik. Beograd. nistische Studien, Band 3). Zagreb.
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trastivni projekt [fünfsprachiges kontrastives Pro-
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In: Mrazović/Teubert (Hg.). Heidelberg, 124⫺167. schen (Serbokroatisch-deutsche kontrastive Stu-
Petrović, Velimir (1986): Bildung und Gebrauch des dien, Band 4). Zagreb.
Adjektivs in der deutschen Gegenwartssprache. Osi- ⫺ (1985): Deutsch als Fremdsprache aus serbo-
jek. kroatischer Sicht. Phonetik und Phonologie. In:
⫺ (1987): Temporale Satzangaben im Serbokroati- SAIS Arbeitsberichte aus dem Seminar für Indo-
schen und im Deutschen (Deutsch im Kontrast 6). germanische und Allgemeine Sprachwissenschaft,
Heidelberg. Band 8. Kiel, 223⫺239.
Zilić, Erminka (1986): Passivkonstruktionen mit
⫺ (1988): Infinitivsätze als Nomenergänzung im
Agensbezeichnung im Deutschen und im Serbo-
Deutschen und ihre Entsprechungen im Serbo-
kroatischen. In: DAAD (Hg.), 224⫺243.
kroatischen. In: Mrazović/Teubert (Hg.), 298⫺312.
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schen und im Serbokroatischen (bosn.). Diss.
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(masch.). Sarajevo.
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Deutschen und im Serbokroatischen. In: Popadić Ulrich Engel, Bonn (Deutschland)
et al. Heidelberg, 5⫺122. Zoran Žiletić, Beograd (Jugoslawien)
410 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

40. Kontrastive Analysen Deutsch-Bulgarisch: eine Übersicht

1. Zur Geschichte sche kontrastive Analysen einen führenden


2. Zur Terminologie und Methodologie Platz ein. Wichtige Publikationsorgane sind
3. Thematische Bereiche ebenfalls die Zeitschrift „Deutsch als Fremd-
4. Literatur in Auswahl sprache“ und die „Zeitschrift für Slawistik“,
die „Linguistischen Arbeitsberichte“ der Uni-
1. Zur Geschichte versität Leipzig, die Jahrbücher der Universi-
täten Sofia und Veliko Târnovo, die Zeit-
1.1. Ansatzweise existierten kontrastive Ana- schriften „Philologia“, „Ruski i zapadni
lysen zwischen Bulgarisch und anderen slawi- ezici“ (Russisch und westliche Sprachen, ab
schen Sprachen schon Anfang der 40er Jahre 1990 unter dem Titel „Čuždoezikovo obuče-
(vgl. Dančev 1984). Abgesehen von Lehrbü- nie“ ⫺ Fremdsprachenunterricht, mit dem
chern und Grammatiken für den Deutsch- englischen Untertitel „Foreign Language
unterricht, die Elemente kontrastiver Heran- Teaching“). Nicht zuletzt zu erwähnen sind
gehensweise enthalten, sind die Anfänge der die Tagungsmaterialien der Forschungsgrup-
deutsch-bulgarischen kontrastiven Studien pen der Universität Veliko Târnovo und des
für die 60er Jahre anzusetzen (vgl. Petkov Fremdsprachenzentrums Sofia (vgl. 1.1. und
1964, 1ff.). Von systematischer Forschung 1.3.) sowie die Germanistischen Jahrbücher
auf dem Gebiet der kontrastiven Linguistik für die VRBulgarien, die vom Kultur- und In-
kann man jedoch erst in den 70er Jahren formationszentrum der DDR in Sofia heraus-
sprechen. 1974 wurde an der Universität So- gegeben wurden. Besondere Erwähnung ver-
fia eine Forschungsgruppe gegründet, die sich dient das „Lesebuch zum deutsch-bulgari-
zum Ziel setzte, die bulgarische Sprache im schen Sprachvergleich“, wo vom Herausgeber
Kontrast mit anderen Sprachen zu erfor- die Ergebnisse und die weiteren Aufgaben des
schen. Später sollten sich dieser Gruppe Lin- deutsch-bulgarischen (synchronen) Sprach-
guisten aller Hochschulen in Bulgarien an- vergleichs formuliert wurden (vgl. Walter
schließen. Sie wurde auch zur Begründerin 1981, 9ff.). Die zusammengestellten Untersu-
der Zeitschrift „Sâpostavitelno ezikoznanie“ chungen widerspiegeln den Forschungsstand
(vgl. 1.2.). Weitere Forschungsgruppen exi- bis 1981 auf allen sprachlichen Ebenen.
stieren an der Universität Veliko Târnovo
und am Fremdsprachenzentrum des Instituts 1.3. Von 1974 bis 1989 existierten eine bilate-
für Ausländische Studenten in Sofia. Last but rale Germanistenkommission und eine bilate-
not least ist die Sektion Theoretische und An- rale Bulgaristenkommission, die abwechselnd
gewandte Sprachwissenschaft der Universität in Bulgarien und in der DDR wissenschaftli-
Leipzig zu erwähnen, wo ebenfalls intensive che Tagungen organisierten. Die Tagungsma-
(u. a. auch deutsch-bulgarische) kontrastive terialien zum deutsch-bulgarischen und bul-
Studien betrieben wurden (vgl. 1.2. und 1.3.). garisch-deutschen Sprachvergleich erschienen
In Leipzig entstanden auch zahlreiche Disser- gewöhnlich in den „Linguistischen Arbeitsbe-
tationen über kontrastive Probleme des Spra- richten“ der Universität Leipzig, in den „Lin-
chenpaares Deutsch-Bulgarisch. guistischen Studien“ des Zentralinstituts für
Sprachwissenschaft der Akademie der Wis-
1.2. Zwei Jahre nach der Gründung der senschaften Berlin (Ost) oder in speziellen
Gruppe kontrastiver Forschungen in Sofia Ausgaben wie „Probleme der Bulgaristik“
(vgl. 1.1.) erschien das erste Heft eines (Leipzig 1976). 1988 erschien in Sofia zum er-
„Bulletins“ zur kontrastiven Erfoschung des stenmal das „Archiv für Bulgarische Philo-
Bulgarischen mit anderen Sprachen. Heft 3 logie“, das zum Publikationsorgan der bilate-
des 2. Jahrgangs war den deutsch-bulgari- ralen Kommission Bulgarien-DDR werden
schen Analysen gewidmet. 1978 verwandelte sollte. Es sind davon jedoch nur zwei Bände
sich das „Bulletin“ in die Zeitschrift „Sâpo- erschienen (1988; 1991), ein dritter Band be-
stavitelno ezikoznanie“ (Kontrastive Sprach- findet sich im Druck. Sie enthalten die
wissenschaft), die ab 1979 neben dem bulgari- Tagungsberichte der letzten gemeinsamen Ta-
schen Titel auch den russischen „Sopostavi- gungen zum deutsch-bulgarischen und bulga-
tel’noe jazykoznanie“ und den englischen risch-deutschen Sprachvergleich. Bei den tra-
„Contrastive Linguistics“ trägt (im weiteren ditionellen wissenschaftlichen Tagungen der
wird sie als Contrastive Linguistics zitiert). In Gruppen Veliko Târnovo und Fremdspra-
dieser Zeitschrift nehmen deutsch-bulgari- chenzentrum Sofia (unter der Betreuung des
40. Kontrastive Analysen Deutsch-Bulgarisch: eine Übersicht 411

Anglisten Andrej Dančev) zum Thema „Kon- bekanntlich mit ganz unterschiedlichen Be-
trastive Linguistik und Fremdsprachenunter- schreibungsmodellen zu tun, so dass es kaum
richt“ nehmen die deutsch-bulgarischen Ana- möglich ist, kontrastive Analysen auf Grund
lysen einen gebührenden Platz ein. Deutsch- eines einheitlichen Beschreibungsmodells durch-
bulgarische kontrastive Untersuchungen wur- zuführen. Die meisten kontrastiven Untersu-
den ebenfalls bei den alljährlichen Landes- chungen gehen von Systembeschreibungen
konferenzen der bulgarischen Deutschlehrer der einen oder der anderen Sprache aus. Da-
und Germanisten am Kultur- und Informa- bei werden die Verhältnisse der einen Sprache
tionszentrum der DDR in Sofia vorgetragen. auf der anderen abgebildet. D. h., es wird
ohne metasprachliche Mittel als gemeinsame
Bezugsgröße gearbeitet (Walter 1981, 13).
2. Zur Terminologie und Ein gut gelungener Versuch, das theoretische
Methodologie Stratifikationsmodell beim Vergleich des
2.1. Die erste Nummer von „Contrastive deutschen und des bulgarischen Tempussy-
Linguistics“ (vgl. 1.2.) enthält drei Beiträge, stems anzuwenden, ist die Monographie von
die sich mit terminologischen und metho- Petkov (1994, 5ff.). Ansätze einer kontrasti-
dologischen Fragen der kontrastiven Lingui- ven Untersuchung auf der Grundlage der Va-
stik befassen (Dančev 1978, 30ff.; Petkov lenz- bzw. Dependenzgrammatik stellt die
1978, 7ff.; Sternemann 1978, 19ff.). In der Arbeit von Baševa (1997) dar.
bulgarischen linguistischen Terminologie ist
2.4. Als Vergleichsbasis, wie schon in 2.2. an-
die Unterscheidung zwischen historisch-
gedeutet, wird selten eine Metasprache ange-
vergleichender und synchron-vergleichender
wendet. In den meisten Arbeiten wird ein for-
Sprachwissenschaft (ähnlich wie im Russi-
males Tertium comparationis (strukturelle
schen) durch die Bezeichnungen sravnitelno
Einheiten gleichen oder ähnlichen Typs) zu-
ezikoznanie und sâpostavitelno ezikoznanie
grunde gelegt, vor allem sind dies grammati-
nicht problematisch. Trotzdem erscheinen
sche Kategorien, oder es wird ein gemischtes
auch Bezeichnungen wie kontrastivna (kon-
⫺ semantisches und formales ⫺ Tertium com-
trastive) und konfrontativna lingvistika (kon-
parationis verwendet (Petkov 1994, 218ff.).
frontative Linguistik). In deutschsprachigen
Untersuchungen (unter dem Einfluss der 2.5. Aus Gründen der fehlenden einheitli-
DDR-Tradition) dominiert jedoch der Termi- chen (vergleichbaren) Beschreibungsmodelle
nus konfrontativ als Oberbegriff für syn- des Deutschen und des Bulgarischen bietet
chron-vergleichende Untersuchungen, die so- sich bei kontrastiven Analysen der Überset-
wohl Unterschiede (Kontraste) als auch Ähn- zungsvergleich als geeignete Basis zum Ge-
lichkeiten bzw. Gemeinsamkeiten berücksich- winn von linguistischen Daten an. Die An-
tigen. In neueren Arbeiten überwiegt schon wendung eines Übersetzungskorpus wird oft
die Bezeichnung kontrastive Linguistik. abgelehnt, da nicht alles, was angemessene
Translationstexte im Verhältnis zum Original
2.2. Kontrastive Analysen werden vorge-
bieten können, linguistisch komparabel sein
nommen sowohl zum Zwecke der Gewin-
kann. Trotzdem werden jedoch immer wieder
nung neuer linguistischer Erkenntnisse (Kon-
kontrastive Analysen anhand von Transla-
frontation als Ermittlungsmethode) als auch
tionstexten betrieben. Sie ermöglichen näm-
zum Zwecke der Darstellung der Ergebnisse
lich (obwohl sie aufwendig sind) den Ver-
kontrastiver Untersuchungen (Konfrontation
gleich nicht nur von abstrakten Sprachsy-
als Darstellungsmethode) (vgl. Jäger 1972,
stemen, sondern auch von kommunikativ-
233ff.). Dabei ist die Anzahl der Arbeiten, die
pragmatischen Gesichtspunkten. Die Mehr-
im ersteren Sinne verfahren, vorherrschend:
zahl der deutsch-bulgarischen kontrastiven
Erscheinungen des Deutschen bzw. des Bulga-
Analysen verwendet einen Übersetzungskor-
rischen werden „auf dem Hintergrund“, „im
pus; viele formulieren sogar explizit den An-
Spiegel“ oder „unter Berücksichtigung“ der je
spruch, für die Übersetzungstheorie und
anderen Sprache betrachtet (vgl. z. B. Dimova
-praxis von Belang zu sein.
1981, 38ff.). Vollständige Vergleiche aller Ge-
meinsamkeiten und Unterschiede in einem
sprachlichen (Teil-)System sind seltener der 3. Thematische Bereiche
Fall.
3.1. Phonetisch-phonologische Analysen
2.3. In der germanistischen und der bulga- Der Bereich der Phonetik und Phonologie ist
ristischen Sprachwissenschaft hat man es für kontrastive Untersuchungen besonders
412 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

geeignet, da er gut überschaubar und mit mo- tuale (Petkov 1964, 1ff.) Probleme des Verbal-
dernen Methoden beschrieben worden ist. In systems sowie Probleme des Genus verbi (Sliv-
den meisten Kultursprachen liegen schon zu- kova 1978, 53ff.; Bütner 1991, 8ff.). Eine mo-
verlässige Vorarbeiten vor. Dies trifft auch nographische Studie zum Tempussystem des
für das Sprachenpaar Deutsch-Bulgarisch zu. Deutschen und Bulgarischen fasst die Ergeb-
Es nimmt deshalb nicht Wunder, dass gerade nisse jahrelanger Forschung und zahlreicher
in diesem Bereich eine Monographie und ein Publikationen in diesem Bereich zusammen
Universitätslehrbuch erschienen sind. Die (Petkov 1994, 5ff.). Die kontrastive Analyse
Verfasserin stellt sich zum Ziel (Simeonova wird durchgeführt unter paralleler Anwen-
1989, 5ff.), die Segmentsysteme des Deut- dung eines semantischen und eines formalen
schen und Bulgarischen in kontrastiver Sicht Terium comparationis, indem die semantische
zu beschreiben und daraus Konsequenzen zu Metasprache mit positiven und negativen
ziehen hinsichtlich ihrer Realisierung, ihres Werten auf alle Tempusformen beider Spra-
phonologischen Status, ihrer Distribution chen projiziert wird. Dadurch wird die voll-
und Kombinatorik. Die kontrastive Beschrei- ständige kontrastive Erfassung polysemer
bung wird unter physiologisch-genetischem, Formen sowie ihrer Beteiligung an verschiede-
akustisch-perzeptionellem und phonologi- nen komplexen Bedeutungen möglich. Im
schem Aspekt vorgenommen. Die physiolo- nominalen Breich sind die meisten kontrasti-
gisch-genetische Beschreibung erfolgt nach ven Analysen der Kategorie Determiniertheit/
bereits vorhandenen Untersuchungen beider Nichtdeterminiertheit und dem Artikelge-
Segmentsysteme, während die akustische brauch gewidmet (Riemschneider 1980, 60ff.;
Analyse von der Verfasserin selbst vorgenom- Grozeva 1983a, 68ff.; Račeva 1984, 18ff.),
men wurde im Experimentalphonetischen was sich aus der Tatsache ergibt, dass sowohl
Laboratorium der Universität Sofia. Unter Deutsch als auch Bulgarisch Artikelsprachen
phonologischem Aspekt werden die Segment- sind, dass aber funktionale und pragmatische
systeme beider Sprachen sowohl durch die Divergenzen beim Artikelgebrauch vorhan-
paradigmatischen als auch durch die syntag- den sind. Die meisten Untersuchungen zur
matischen Beziehungen dargestellt und ein- Kategorie der Bestimmtheit/Unbestimmtheit
ander gegenübergestellt. Als formales Ter- gehen ebenenübergreifend auch auf Probleme
tium comparationis für die gesamte kontra- der Thema-Rhema-Gliederung ein (Riem-
stive Darstellung dient die für beide Sprachen schneider 1980, 60ff.; Grozeva 1983a, 68ff.)
einheitliche phonetische Transkription, erar- sowie auf die vertextende Funktion dieser Ka-
beitet in enger Anlehnung an die internatio- tegorie (Grozeva 1983b, 288ff.). Kontrastive
nale phonetische Umschrift API. Eine ähn- Analysen liegen ebenfalls zum Problem des
liche Struktur hat auch das Universitätslehr- Genus substantivi vor (Ivanova 1991, 58ff.).
buch (Simeonova 1988, 3ff.), das jedoch ein
zusätzliches Kapitel über die prosodischen 3.3. Analysen zur Wortbildung
und suprasegmentalen Merkmale beider Spra- Neben grundlegenden methodologischen und
chen enthält. Die Intonationsproblematik ist typologischen Studien (Sarlov 1987, 23ff.)
in kontrastiver Sicht erstmalig von Simeonova wird oft die Präfigierung von Verben behan-
behandelt worden, die auch weitere Studien delt (Sarlov 1992, 5ff.). Im Zentrum des In-
auf diesem Gebiet angeregt hat (vgl. Vladimi- teresses steht zuweilen die Polypräfigierung
rova 1992, 56ff.; Grigorova 1994, 5ff.). von Verben (Sugareva 1978, 258ff.). Verbale
Wortbildungsprozesse werden ebenfalls im
3.2. Morphologische Analysen Zusammenhang mit der Aktionsart (Paraške-
Im grammatischen und lexikalischen Bereich vov 1981, 242ff.) sowie mit der semantischen
sind viele der Analysen ebenenübergreifend. und morphologischen Struktur des Grund-
Trotzdem wird hier die Abgrenzung der morphems (Radeva 1985, 18ff.) untersucht.
einzelnen Teilsysteme beibehalten, um eine Die nominale Komposition im Deutschen,
gewisse Überschaubarkeit zu gewährleisten. die bekanntlich ein Problem im Deutsch-
Das komplizierte Verbalsystem sowohl des unterricht und bei der Translation darstellt,
Bulgarischen als auch des Deutschen ist wohl wird unter sprachtypologischen, unterrichts-
der Grund dafür, dass sich sehr viele Arbeiten und übersetzungsrelevanten Gesichtspunkten
mit dieser Wortart beschäftigen. Untersucht behandelt (Politov 1992, 25ff.), aber in letzter
wurden temporale (Walter 1976, 25ff.; Petkov Zeit auch unter textlinguistischem und fach-
1994, 5ff.), modale (Walter 1988, 38ff.), per- sprachlichem Aspekt (Dimova 1988, 57ff.; Di-
sonal-numerale (Walter 1978, 95ff.), aspek- mitrova 1993, 319ff.). Auch der stilistische
40. Kontrastive Analysen Deutsch-Bulgarisch: eine Übersicht 413

Wert nominaler Komposita in künstlerischen für das Bulgarische. Ansätze kontrastiver Va-
Texten (für die Herstellung von „Verschwom- lenzanalysen stellen die Arbeiten von Buču-
menheit“) ist untersucht worden, wobei der kovska dar (1978, 196ff.). Der heutige Stand
Schwerpunkt auf die Relevanz solcher Kom- der Forschung setzt jedoch eine etwas andere
posita im Übersetzungsprozess liegt (Dimova Herangehensweise voraus. Als gelungener
1995, 43ff.). Im Bereich der Wortbildungs- Versuch ist die Arbeit von Baševa anzusehen
problematik liegen auch die Untersuchungen (1997), wo sie Aktantensätze untersucht, die
zu den Strukturtypen der Abbreviaturen im satzförmige Realisierung des Präpositional-
Deutschen und Bulgarischen (Jordanova objekts darstellen und im Rahmen des Va-
1980, 77ff.). Insgesamt lässt sich wohl sagen, lenzmodells korrelierende syntaktische Kon-
dass trotz zahlreicher vertiefter und überzeu- struktionen in beiden Sprachen ermittelt. Die
gender Vergleiche zu Einzelfragen der Wort- Rolle der Parataxe und Hypotaxe auf der
bildung eine vollständige Untersuchung auf Ebene der Wortgruppe, das Satzes und des
diesem für den Unterricht und die Transla- Textes ist aus stilistischer Sicht untersucht
tion wichtigen Gebiet bisher ausgeblieben ist. worden (Dimova 1995, 78ff.).
Auch die einheitliche theoretisch-methodolo-
gische Grundlage bleibt zur Zeit ein Deside- 3.5. Lexikologische Analysen
rat, obwohl sie gerade in diesem Bereich gut Abgesehen von Untersuchungen im Bereich
möglich wäre. der Wortbildung (vgl. 3.3.) und der Phraseo-
logie (vgl. 3.6.) sind Arbeiten über „rein lexi-
3.4. Syntaktische Analysen kologische“ Probleme eher selten. Wortfeld-
Im Bereich der Syntax sind zum Teil grundle- theorie sowie Semanalyse wären eine gute
gende Probleme der Satzstruktur und -mo- Grundlage kontrastiver Analysen, sie sind je-
dellierung und der Satzsemantik behandelt doch selten genutzt worden (vgl. Dimova
worden unter Anwendung von „Tiefenkasus“ 1981, 38ff.). Die meisten lexikologischen Ver-
(Borisevič 1983, 97ff.) oder logischer Struk- gleiche sind im Bereich der Wortentlehnung
turen (Papazova 1992, 65ff.). Hauptsächlich und des internationalen Wortschatzes (Paraš-
sind jedoch die syntaktischen Analysen ein- kevov 1976, 50ff.). Und nicht zuletzt sind
zelnen Fragen der Syntax gewidmet. Dabei lexikologische Probleme unter dem Aspekt
herrscht gerade in diesem Bereich die größte der „falschen Freunde“ des Übersetzers Ge-
methodologische Vielfalt. Untersucht wurden genstand kontrastiver Analyse gewesen (Ki-
unter kontrastivem Aspekt Probleme der di- leva/Dentscheva 1994, 109ff.).
vergierenden Wortstellung in beiden Spra-
chen (Sugareva 1976, 5ff.), der Satzglied- 3.6. Phraseologische Analysen
funktionen und -besetzung (Bučukovska Phraseologismen sind wegen ihrer Bildhaftig-
1976, 84ff.; Borisević 1977, 35ff.; Kostova- keit und stilistischen Markiertheit, die in den
Dobreva 1983, 27ff.), der semantisch-struk- verschiedenen Sprachen selten übereinstim-
turellen Zusammenhänge im Satzgefüge, wo- men können, ein interessantes Objekt kontra-
bei am häufigsten temporale und modale Be- stiver Analysen. Über Aspekte, Ziele und
ziehungen im Zentrum des Interesses stehen Konzeptionen der kontrastiven deutsch-bul-
(Mečkova-Atanasova 1980, 32ff.; Stojanova- garischen Phraseologieforschung berichtet
Jovčeva 1978, 27ff.). Besondere Erwähnung Vapordžiev (1999, 139 ff.). Dabei stellt er fest,
verdienen die Untersuchungen zu den struk- dass die Affinität zur Bildung von Serien im
turellen Unterschieden zwischen Deutsch und phraseologischen Bereich vom Analytismus
Bulgarisch beim Ausdruck der Negation. Die der Sprache nicht unmittelbar abhängig ist.
Arbeiten von Kânčeva enthalten wertvolle Ein onomasiologisches Herangehen bietet
Beobachtungen zum Problem der totalen und sich an, was in mehreren konkreten Analysen
der partiellen Negation (1978, 180ff.), zur durchgeführt wird (Vapordžiev 1988, 73ff.).
Unterscheidung von Limitation und Nega- Auch von bulgaristischer Seite ist kontra-
tion (1986, 63ff.) sowie zur textlinguistischen stive Phraseologieforschung betrieben wor-
Relevanz der Negation in beiden Sprachen den (Bajčev/Bütner 1988, 246ff.). Die lexiko-
(1987, 266ff.). Valenzprobleme sind leider sel- graphische Erfassung von Phraseologismen
ten Gegenstand kontrastiver Forschung ge- für den Deutschunterricht setzt ebenfalls
wesen, obwohl die Valenz- bzw. Dependenz- umfangreiche kontrastive Vorarbeiten vor-
grammatik eine gute Grundlage für kontra- aus (Vapordžiev/Mičri 1993, 5ff.). Für den
stive Analysen abgeben könnte. Der Grund Deutschunterricht bilden auch Sprichwör-
dafür sind wohl die fehlenden Vorarbeiten ter im Sprachvergleich ein verlockendes so-
414 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

wohl sprachliches als auch volkspsychologi- Beaugrande, Allain de; Wolfgang Dressler; Stanka
sches und ethnopoetisches Problem (Biževa Stojanova-Jovčeva (1995): Einführung in die Text-
1974, 5ff.). linguistik (bulg.). Sofia.
Biževa, Evgenia (Hg.) (1974): Deutsche Sprichwör-
3.7. Textlinguistische Analysen ter und ihre bulgarischen Entsprechungen (Titel
bulg.). Sofia.
Während für das Deutsche zahlreiche Vorar-
beiten zur Textlinguistik vorhanden sind, ist Borisevič, Pavel (1977): Zur Distribution und
dies in Bezug auf das Bulgarische gar nicht semantischen Struktur des Subjekts im Deutschen
und Bulgarischen (bulg.). In: Bulletin zur kontrasti-
der Fall. Aus diesem Grunde sind wohl auch
ven Erforschung des Bulgarischen mit anderen Spra-
die kontrastiven Analysen textlinguistischer chen (bulg.) 2/3, 35⫺47.
Probleme eher eine Seltenheit. Abgesehen von
⫺ (1983): Zur Beschreibung der Satzsemantik
Arbeiten, die textlinguistische Aspekte der
im Deutschen und Bulgarischen (bulg.). In: Kon-
Wortbildung (vgl. 3.3.), der Negation (vgl. trastive Linguistik und Fremdsprachenunterricht
3.4.) oder des Artikelgebrauchs (vgl. 3.2.) (bulg.). Veliko Tarnovo, 97⫺108.
behandeln, beziehen sich die kontrastiven Un-
Bučukovska, Antonia (1976): Das Objekt im Bul-
tersuchungen in diesem Bereich vor allem garischen und Deutschen. In: Probleme der Bulga-
auf Probleme einzelner Textsorten (Kileva ristik II, 84⫺90.
1993, 27ff.), oder es werden Überschriften ei-
⫺ (1978): Valenz und Rektion der Verben im Deut-
ner strukturell-funktionalen Analyse unterzo- schen und Bulgarischen. In: Linguistische Arbeits-
gen (Comati 1988, 5ff.). Besondere Erwäh- berichte 21, 196⫺204.
nung verdient wohl die bulgarische Ausgabe
Bütner, Uwe (1991): Zur Wiedergabe deutscher
der „Einführung in die Textlinguistik“ von Passivkonstruktionen im Bulgarischen. In: Archiv
Beaugrande/Dressler, die von Stojanova-Jov- für bulgarische Philologie 2. Sofia, 8⫺57.
čeva nicht nur übersetzt, sondern auch in Comati, Sigrun (1988): Vergleichende Struktur- und
dem Sinne bearbeitet wurde, dass überall als Funktionsanalyse von bulgarischen und deutschen
Illustrationsbeispiele bulgarische Texte ste- Zeitungsüberschriften. München.
hen. Man kann wohl annehmen, dass für ein Dančev, Andrej (1978): Kontrastive Studien, Sprach-
solches Unterfangen vertiefte und umfangrei- theorie und Fremdsprachenunterricht (bulg.). In:
che kontrastive Vorarbeiten notwendig sind. Contrastive Linguistics 3/1, 30⫺47.
Deshalb steht auch der Name der Übersetze- ⫺ (1984): Die kontrastiven Studien in Bulgarien
rin gleichrangig neben den anderen zwei 1944⫺1984 (bulg.). In: Contrastive Linguistics 9/5,
Verfassernamen (Beaugrande/Dressler/Stoja- 5⫺20.
nova-Jovčeva 1995, 13ff.). Dimitrova, Marijka (1993): Zur Ermittlung der Be-
deutungsstruktur von Texten und Wortbildungs-
3.8. Zusammenfassung konstruktionen am Beispiel von deutsch- und bul-
Zusammenfassend läßt sich sagen, dass die garischsprachigen wissenschaftlichen und populär-
kontrastiven Analysen Deutsch-Bulgarisch wissenschaftlichen Texten. In: Dokumentationen
fast alle thematischen Bereiche abdecken, und Materialien (DAAD 27), Bonn, 319⫺345.
wenn auch keine vollständige kontrastive Dimova, Anna (1981): Die Polysemie des deut-
deutsch-bulgarische Grammatik vorliegt. schen Pronomens man unter Berücksichtigung sei-
Defizite sind zu verzeichnen vor allem im ner Äquivalente im Bulgarischen. In: DaF 18/1,
Bereich der Textlinguistik, der lexikalischen 38⫺44.
Semantik und der Fachsprachen. Ein Deside- ⫺ (1988): Textlinguistische Aspekte der Wortbil-
rat bleibt ebenfalls die einheitliche termino- dung im Deutschen und Bulgarischen. In: Archiv
logisch-methodologische Fundierung kontra- für bulgarische Philologie 1, Sofia, 57⫺65.
stiver Analysen. ⫺ (1995): Der impressionistische Stil in der österrei-
chischen Literatur und Probleme der Übersetzung
(bulg.). Veliko Târnovo (Bibliotheca Austriaca).
4. Literatur in Auswahl Grigorova, Evelina (1994): Perzeptive Untersu-
chung der kommunikativen Funktion der Intona-
Bajčev, Bojan; Uwe Bütner (1988): Zu den Äquiva- tion bei Phrasen mit lexikalisch-grammatischer
lenzbeziehungen zwischen bulgarischen und deut- Struktur einer Ergänzungsfrage im Deutschen und
schen Phraseologismen. In: Fremdsprachen 32/4, Bulgarischen (bulg.). In: Contrastive Linguistics 19/
246⫺250. 1, 5⫺14.
Baschewa, Emilia (1997): Zur Anwendung des Va- Grozeva, Maria (1983a): Die Zusammenhänge zwi-
lenzmodells in kontrastiven Untersuchungen. In: schen der aktuellen Gliederung des Satzes und dem
DaF 34/3, 156⫺161. Artikelgebrauch im Bulgarischen und Deutschen
40. Kontrastive Analysen Deutsch-Bulgarisch: eine Übersicht 415

(bulg.). In: Kontrastive Linguistik und Fremdspra- ⫺ (1994): Kontrastive Untersuchung der Tempora
chenunterricht (bulg.). Sofia, 68⫺76. im Deutschen und Bulgarischen (bulg.). Sofia.
⫺ (1983b): Die vertextende Funktion der Kate- Petkov, Pavel; Herbert Ernst Wiegand (Hg.)
gorie Bestimmtheit:Unbestimmtheit (bulg.). In: (2000): Deutsch und Bulgarisch im Kontrast. Hil-
Theorie und Praxis des wissenschafdtlichen und des desheim/Zürich/New York (Germanistische Lingui-
wissenschaftlich-technischen Textes (bulg.). Sofia, stik 149⫺150).
288⫺296. Politov, Stefan (1992): Zur Frage der Übersetzung
Ivanova, Ljudmila (1991): Zum Problem des Ge- der determinativen deutschen Komposita ins Bul-
nus substantivi. In: Archiv für bulgarische Philolo- garische (bulg.). In: Contrastive Linguistics 17/2,
gie 2. Sofia, 58⫺103. 25⫺28.
Jäger, Gert (1972): Konfrontation und Translation. Račeva, Tanja (1984): Der Artikelgebrauch bei ei-
In: DaF 10/4, 233⫺244. ner semantischen Gruppe von Substantiven in der
Jordanova, Ljubima (1980): Strukturtypen der Funktion des Prädikativs im Deutschen und Bulga-
Abkürzungen in der bulgarischen und deutschen rischen (bulg.). In: Contrastive Linguistics 9/2,
Gegenwartssprache aus vergleichender Sicht. In: 18⫺23.
Linguistische Arbeitsberichte. Beiheft 1, 77⫺78. Radeva, Vasilka (1985): Semantische Struktur de-
Kânčeva, Radka (1978): Zur Problematik der Ne- substantivischer Verben im Bulgarischen und
gation des Verbs im Deutschen und Bulgarischen. Deutschen (bulg.). In: Contrastive Linguistics
In: Linguistische Arbeitsberichte 20, 180⫺188. 10/1, 18⫺23.
⫺ (1986): Limitation und Negation im Deutschen Riemschneider, Rumjana (1980): Zum Problem der
und Bulgarischen. In: Zeitschrift für Slawistik Artikelwörter im Deutschen und Bulgarischen. In:
31/1, 63⫺66. Linguistische Arbeitsberichte. Beiheft 1, 60⫺63.
⫺ (1987): Überlegungen zum textlinguistischen Sarlov, Stojan (1987): Einige Fragen der kontrasti-
Aspekt der Negation. In: Beiheft des Germanisti- ven Studien im Bereich der Wortbildung (bulg.).
schen Jahrbuches der VR Bulgarien. Sofia, 266⫺ In: Contrastive Linguistics 12/4, 23⫺29.
271. ⫺ (1992): Zur Semantik einiger ver-Verben und ihrer
Kileva, Reneta (1993): Kontrastive Aspekte der bulgarischen Entsprechungen. Heidelberg (Deutsch
Untersuchung der Textsorte Zeitungsnachricht. In: im Kontrast 12).
Philologia 27⫺28, 145⫺151. Simeonova, Ruska (1988): Grundzüge einer kontra-
⫺; Emilia Dentscheva (1994): Zur Lösung einiger stiven Phonetik Deutsch-Bulgarisch. Sofia.
konzeptueller Probleme eines Wörterbuchs der ⫺ (1989): Die Segmentsysteme des Deutschen und
„falschen Freunde“ (Bulgarisch-Deutsch). In: Ger- Bulgarischen. Eine kontrastive phonetisch-phonolo-
manistisches Jahrbuch. Sofia, 109⫺116. gische Studie. München.
Kostova-Dobreva, Haritina (1983): Über den Sta- Simeonova, Ruska (1998): Grundzüge einer kontra-
tus des Prädikats in der hierarchischen Struktur stiven Phonetik und Phonologie. Deutsch-Bulga-
des Satzes (bulg.). In: Contrastive Linguistics 12/ risch. Sofia.
6, 27⫺32.
Slivkova, Diana (1978): Die zusätzliche Informa-
Mečkova-Atanasova, Zdravka (1980): Ein neuer tion in den Passivformen mit sein im Deutschen
Strukturtyp von Temporalsätzen. In: Linguistische und sam im Bulgarischen (bulg.). In: Contrastive
Arbeitsberichte. Beiheft 1, 32⫺37. Linguistics 3/4, 53⫺61.
Papazova, Silvia (1992): Zur temporalen Limitie- Sternemann, Reinhard (1978): Konfrontative Lin-
rung und Lokalisierung des Sachverhalts im Bulga- guistik, Einzelgrammatik und Sprachtheorie (bulg.).
rischen und Deutschen. In: Philologia 25/26, In: Contrastive Linguistics 3/1, 19⫺29.
65⫺72.
Stojanova-Jovčeva, Stanka (1978): Untersuchun-
Paraškevov, Boris (1976): Die Internationalismen gen zum Zusammenhang zwischen dem semanti-
im Deutschen und Bulgarischen. In: Probleme der schen Wert des wenn-Satzes und der Modus-Tem-
Bulgaristik II. Leipzig, 50⫺71. pus-Kombination im Nebensatz und im tragenden
⫺ (1981): Zu einigen Besonderheiten der Inchoa- Satz mit Hilfe eines Vergleichs mit dem Bulgari-
tiva im Bulgarischen und Deutschen (Resumee). schen. In: DaF 15/1, 27⫺32.
In: Linguistische Arbeitsberichte 29, Leipzig, Sugareva, Tekla (1976): Gebundenheit und Freiheit
242⫺244. in der Wortstellungsstruktur deutscher und bulga-
Petkov, Pavel (1964): Ausdrucksmittel im Deut- rischer Sätze. In: Probleme der Bulgaristik II,
schen für den slavischen Verbalaspekt (bulg.). In: 5⫺16.
Jahrbuch der Universität Sofia (bulg.), 58/1, 1⫺53. ⫺ (1978): Zur Präfigierung des Verbs im Deutschen
⫺ (1978): Versuch einer Klassifizierung der Teilbe- und Bulgarischen unter Berücksichtigung der Ver-
reiche in der vergleichenden Sprachwissenschaft ben mit zwei oder mehreren Präfixen. In: Linguisti-
(bulg.). In: Contrastive Linguistics 3/1, 7⫺29. sche Arbeitsberichte 20/21, 258⫺268.
416 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

Vapordžiev, Veselin (1988): Onomasiologisches im Bulgarischen und Deutschen. In: Probleme der
Herangehen an die Beschreibung der Phraseologis- Bulgaristik II, 25⫺39.
men. In: Archiv für bulgarische Philologie 1. Sofia,
73⫺80. ⫺ (1978): Zur Problematik der Kategorie Person
des Verbs im Bulgarischen und Deutschen. In: Lin-
⫺ (1999): Kontrastive Phraseologieforschung
guistische Arbeitsberichte 20, 95⫺99.
Deutsch-Bulgarisch. In: 70 Jahre Germanistik in
Bulgarien. Tagungsbeiträge. Sofia, 139⫺148. ⫺ (Hg.) (1981): Lesebuch zum deutsch-bulgarischen
⫺; Elena Micri (1993): Wörterbuch der deutschen Sprachvergleich. Leipzig.
Idiome (Titel bulg.). Sofia. ⫺ (1988): Zur vergleichenden Darstellung des Mo-
Vladimirova, Tatjana (1992): Zum Anteil der Ton- dalsystems im Deutschen und Bulgarischen der Ge-
höhe an der Signalisierung von Abgeschlossenheit genwart. In: Archiv für bulgarische Philologie 1. So-
bei frei produziertem Sprechen im Bulgarischen fia, 38⫺47.
und Deutschen. In: Philologia 25/26, 56⫺64.
Walter, Hilmar (1976): Zur Methodologie des se-
mantischen Vergleichs zwischen finiten Verbformen Anna Dimova, Schumen (Bulgarien)

41. Kontrastive Analysen Deutsch-Griechisch: eine Übersicht

1. Vorbemerkung nahmen die nur aus Konsonanten bestehende


2. Zur griechischen Schrift und Sprache Schrift der Phönizier, reicherten sie mit
3. Kontrastive Analysen Deutsch-Griechisch vokalischen Zeichen an und schafften so eine
4. Literatur in Auswahl lineare Abfolge von Konsonant und Vokal;
damit können die Griechen auf eine fast 3000
1. Vorbemerkung Jahre alte Schrifttradition zurückblicken.
Aus der griechischen Schrift wiederum hat
Die Recherche zu diesem Beitrag gestaltete sich die lateinische Schrift entwickelt, was bei
sich in mehrfacher Hinsicht schwierig. Zum näherem Hinsehen gerade bei den Großbuch-
einen liegen zum modernen Griechisch noch staben gut nachvollziehbar ist: So stimmen
nicht sehr viele Beschreibungen linguistischer die griechischen Buchstaben A, B, E, H, I, K,
Teilbereiche vor ⫺ von Gesamtbeschreibun- M, N, O, R, T, X, Y und Z ⫺ bei teilweise
gen ganz zu schweigen ⫺, zum anderen sind unterschiedlicher lautlicher Realisierung (vgl.
folglich auch kontrastive Arbeiten zum Spra- die unterstrichenen Buchstaben) ⫺ mit dem
chenpaar Deutsch-Griechisch dünn gesät. lateinischen Alphabet überein; auch die unge-
Darüber hinaus finden sich die Beiträge sehr wohnten Schriftbilder für D, L und S können
verstreut in Zeitschriften, Sammelwerken, noch erschlossen werden, während die Buch-
Hochschul-Schriftenreihen usw. Auf diesem staben G, U, J, P, F, C und V im Lateini-
Hintergrund bittet der Verfasser um Nach- schen nicht vorkommen. Die schwieriger zu
sicht, falls relevante Veröffentlichungen über- entziffernden Kleinbuchstaben sind zumeist
sehen worden sein sollten. In diesem Fall durch kursives Schreiben der Großbuchsta-
wäre eine entsprechende Nachricht sehr will- ben entstanden. ⫺ Die griechische Sprache
kommen. wird heute weltweit von 14 bis 15 Millionen
Menschen als Muttersprache gesprochen;
2. Zur griechischen Schrift und etwa 10 Millionen Sprecher leben in Grie-
Sprache chenland, in Deutschland an die 400 000. Seit
1981 ist Griechisch eine der offiziellen Spra-
Bevor ein Überblick über kontrastive Analy- chen der Europäischen Union. ⫺ Das Grie-
sen gegeben wird, sollen einige Informatio- chische gehört wie das Deutsche zur indo-
nen zur griechischen Schrift und Sprache vor- europäischen Sprachenfamilie. Das heutige
angestellt werden: Griechisch wies bis vor kurzem noch zwei
Die griechische Schrift ist eine Buchstaben- in Lexik, Flexion und Syntax voneinander
oder Alphabetschrift. Alle Alphabetschriften partiell unterschiedene Sprachvarianten auf:
gehen auf Entwicklungen im semitischen die archaisierende Katharéwussa (gereinigte
Sprachbereich zurück. Die Griechen über- Sprache), eine Art Kanzleisprache, deren sich
41. Kontrastive Analysen Deutsch-Griechisch: eine Übersicht 417

vorwiegend die Verwaltung, das Rechtswe- der Gefahr erliegen, vereinfachend und ver-
sen, die Wissenschaft und die Kirche bedien- gröbernd mit den Unterschieden und Ähn-
ten, sowie die Dhimotikı́ (Volkssprache), die lichkeiten umzugehen. Die meisten dieser
allgemeine und weithin standardisierte Um- Arbeiten entstanden aus dem Bedürfnis he-
gangssprache. Die Katharéwussa wurde bei raus, den Deutschunterricht mit griechischen
der griechischen Staatsgründung im Jahre Schülern effektiver zu gestalten. So nimmt es
1832 als allgemeine Schriftsprache einge- nicht Wunder, dass dabei fast sämtliche
führt; nach mehr als hundert Jahre langer, Publikationen dem Umfeld des Bereichs
z. T. sehr heftig geführter Kontroversen um Deutsch als Zweit-/Fremdsprache entstam-
die ,neugriechische Sprachfrage‘ gilt seit 1976 men und nur ausnahmsweise die Lehr- und
nunmehr die Dhimotikı́ als das offizielle grie- Forschungsaktivitäten der inzwischen an
chische Idiom. einigen deutschen Universitäten etablierten
Neogräzistik repräsentieren, die sich mehr-
heitlich immer noch mit rein literarischen
3. Kontrastive Analysen Deutsch- Fragen beschäftigt. Von den eigens für unter-
Griechisch richtliche Zwecke geschriebenen kontrastiven
Arbeiten werden im Folgenden zwei Beiträge
3.1. Grammatiken und Lehr-/ näher vorgestellt.
Lernmaterialien Der bis heute umfangreichste (79 Sei-
Manche der in Griechenland verfassten ten) überblickartig verfasste Sprachvergleich
Grammatiken des Deutschen sind aus kon- Griechisch-Deutsch von Eideneier (1976) ent-
trastiver Sicht geschrieben, ohne jedoch kon- stand im Zusammenhang mit der Entwick-
trastive Analysen im engeren Sinne zu sein. lung von Maßnahmen zur Weiterbildung
Dasselbe gilt auch für die im deutschen deutscher Lehrer von Kindern ausländischer
Sprachraum erschienenen und für griechisch- ⫺ hier: griechischer ⫺ Arbeitnehmer. Adres-
sprachige Deutschlernende geschriebene saten dieses Sprachvergleichs sind also deut-
Grammatiken (vgl. z. B. Drögemüller 19832). sche Deutschlehrer, die Schüler griechischer
Die vielen Lehrwerken Deutsch als Fremd- Arbeitsmigranten in der deutschen Schule
sprache beigegebenen Glossare Deutsch- unterrichten. Neben dem von Ruge behandel-
Griechisch haben durchweg Wörterbuchcha- ten Kapitel „Phonetik“ informiert Eideneier
rakter und machen Sprachkontraste in der über die folgenden grammatischen Teilberei-
Regel nicht explizit. Die einzigen Lehr- und che: Personreferenz, Zeitreferenz, Negation,
Lernmaterialien großen Stils, die program- Vergleich, Zugehörigkeit, Modalität, Tempo-
matisch den Sprachkontrast berücksichtig- ral-, Kausal-, Konditional- und Lokalrelatio-
ten, waren meines Wissens die von Steindl im nen, Satzbaumuster, Fragen und Aufforde-
Rahmen eines am Institut für Film und Bild rungen. Jedes Kapitel schließt mit einer
in Wissenschaft und Unterricht durchgeführ- Fehlerprognose. Kritisch zur eigenen Arbeit
ten und mit Bundes- und Landesmitteln ge- merkt Eideneier an, dass seine Darstellung
förderten Modellversuchs herausgegebenen längst nicht vollständig ist und dass sie sich
„Bilingualen Materialien für den Unterricht auf die wichtigsten Erscheinungen als eine er-
mit Ausländerkindern“ (vgl. Winters-Ohle ste Hilfe für den deutschen Lehrer be-
1982), die allerdings keine große Verbreitung schränkt, wobei Detailfragen späteren Ein-
fanden. Auch bei den meisten in deutscher zelanalysen vorbehalten bleiben.
Sprache erschienenen Grammatiken des Von praktischem Nutzen ⫺ trotz einiger
Griechischen trifft die oben gemachte Aus- Inkorrektheiten ⫺ sind auch die Kapitel, die
sage zu. Die besten aus kontrastiver Perspek- sich im Materialienheft: Sprachvergleiche von
tive geschriebenen Grammatiken sind die von „Deutsch lernen“ (Meese u. a. 1980) mit
Moser-Philtsou (1962), Tzermias (1969) und dem griechisch-deutschen Sprachkontrast be-
Ruge (1997). schäftigen. In der Einführung in die Thema-
tik des Heftes setzt sich Meese mit den Mög-
3.2. Beiträge mit vorrangig didaktischem lichkeiten der kontrastiven Fehleranalyse
Hintergrund auseinander, wobei der praktische Wert für
Die in diesem Abschnitt zu nennenden Publi- den Lehrer des Deutschen als Zweit- oder
kationen sind der Überzeugung verpflichtet, Fremdsprache betont wird, ohne dabei in die
dass kontrastive Analysen für ein kognitiv Wissenschaftsdebatte eingreifen zu wollen.
unterstütztes Fremdsprachenlernen notwen- Der Sprachvergleich beschäftigt sich mit den
dig sind, auch wenn viele Sprachvergleiche Bereichen Phonetik, Grammatik und Lexik.
418 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

Jeder dieser Bereiche wird untergliedert in die scher Lehrer, die griechische Schüler un-
Beschreibung erst des deutschen, dann des terrichten. Die Analysen von Ruge (s. in Ei-
griechischen Systems, in die Präsentation ei- deneier 1976) haben als Ziel den Vergleich
niger Beispiele und in Übungen zu möglichen von Sprachlauten und Kombinationen von
Fehlerquellen. Behandelt werden: Deutsches Sprachlauten, wie sie im Deutschen und
und griechisches Phoneminventar (mit Übun- Griechischen vorliegen und funktionieren,
gen); Artikel, Substantiv, Personal- und Pos- um so erklären zu können, aus welchen
sessivpronomen, Verb, Modalverb, reflexives Gründen Interferenzen möglich sind.
Verb, trennbares Verb, Negation, Adjektiv, Markou (1978) hat mit ihrer Untersu-
Komparation, Präposition und Satzbau. Den chung eine grundlegende wissenschaftlich
Abschluss bildet eine Liste mit Strukturen fundierte Arbeit vorgelegt. Eine Sammlung
und Redewendungen. von Aussprache- und Rechtschreibfehlern im
Deutschen griechischer Kinder bildet die Ba-
3.3. Wissenschaftliche Untersuchungen sis einer kontrastiven Sachanalyse, die für sie
3.3.1. Teilbereich: Phonetik/Phonologie die Voraussetzung für Fehlervoraussagen ist.
Jeder deutsche Muttersprachler kann leicht Nach Darstellung der Hauptmerkmale der
feststellen, dass griechische Muttersprachler, Artikulationsbasis in beiden Sprachen wer-
wenn sie Deutsch sprechen, durch ihren be- den die Einzelelemente beschrieben und ver-
sonderen Akzent in der Aussprache auffallen, glichen. Die kontrastive Analyse von Markou
da die dem Deutschen zu Grunde liegenden soll als Grundlage für die Prognostik von
artikulatorischen, rhythmischen und intona- wahrscheinlichen Tendenzen im Fehlerver-
torischen Gewohnheiten stark vom Griechi- halten griechischer Muttersprachler im Deut-
schen abweichen. Darum befassen sich relativ schen dienen. Unberücksichtigt bleiben die
viele Beiträge besonders intensiv mit dem rhythmischen und intonatorischen Eigen-
phonetisch-phonologischen Bereich. Fast alle schaften des Griechischen, da dieser supra-
kontrastiven Arbeiten streifen zumindest die- segmentale Bereich erst in Ansätzen Gegen-
sen Bereich, aber nur wenige setzen sich wis- stand wissenschaftlicher Forschung ist.
senschaftlich fundiert damit auseinander. Für Radisoglou (1986) stellt einen von ihm
den Kontrast Griechisch-Deutsch sind hier durchgeführten deutschen Aussprache- und
vorrangig zu nennen die Arbeiten von Ruge (s. Orthographietest mit griechischen Schülern
in Eideneier 1976, 13⫺29), Markou (1978), vor. Im Kapitel Therapie- und Übungsvor-
Radisoglou (1986) und Katsikas (1994; 1994/ schläge akzentuiert der Autor insbesondere
95). die oft unterschätzte Bedeutung einer intensi-
Die bis heute für den deutschen Sprach- ven Hörschulung als unabdingbare Voraus-
raum umfassendsten Untersuchungen hat setzung für tendenziell akzentfreies Sprechen,
Katsikas vorgelegt. In seiner Diplomarbeit aber auch für korrektes Schreiben. Radiso-
(1994) gibt er eine systematische und sehr glou schlägt eine Liste mit Übungswörtern
detailreiche Gesamtanalyse der phonetischen für die gezielte Behebung von Aussprachefeh-
und phonologischen Eigenschaften des Grie- lern vor; unbekannte Wörter dienen dabei zu-
chischen und des Deutschen und verbindet sätzlich der Wortschatzerweiterung (vgl. dazu
damit je spezifische Muster einer adäqua- auch Storch/Chatziioannou 1994). Der Autor
ten Ausspracheschulung für deutschlernende macht zusätzlich auf den wichtigen Aspekt
Griechischsprachige bzw. griechischlernende aufmerksam, dass ein Sprecher mit fehlerhaf-
Deutschsprachige. Von demselben Autor ter Aussprache im Deutschen als Ausländer
stammt auch die bisher ausführlichste Unter- stigmatisiert werden kann, was mit negati-
suchung zur phonologisch-phonetischen Dif- vem sozialem Prestige (,Gastarbeiter‘status)
ferenz des ,ach‘- und ,ich‘-Lautes im Deut- verbunden sein kann. Negative psychische
schen und Griechischen (1994/95). Die Arbei- Folgen können dabei nicht ausgeschlossen
ten von Katsikas eignen sich besonders gut werden. Um diese möglichen negativen Phä-
für die wissenschaftliche Lehre und sind für nomene zu vermeiden, gilt es, das Problembe-
zukünftige Lehrwerkautoren, die Erkennt- wusstsein des Deutsch-als-Fremdsprache-
nisse der phonetisch-phonologischen Kon- Lehrers zu schärfen. Er muss nicht nur in der
trastforschung verwerten möchten, eine Lage sein, Fehler festzustellen, sondern auch
reichhaltige Quelle. gezielt korrigierende Übungen anzubieten,
Die erste wichtige Darstellung phoneti- was wiederum erforderlich macht, dass die
scher Kontraste Griechisch-Deutsch entstand Unterrichtenden auf kontrastive Sprach-
im Zusammenhang mit der Fortbildung deut- kenntnisse zurückgreifen können.
41. Kontrastive Analysen Deutsch-Griechisch: eine Übersicht 419

3.3.2. Teilbereich: Zweitschrifterwerb tionen im Sprachsystem, die statischen loka-


Der bisher vernachlässigten, aber spannen- tiven Präpositionen und die dynamischen lo-
den Frage des Zweitschrifterwerbs geht Ber- kativen Präpositionen. Da das Hauptanlie-
kemeier (1997) in ihrer sprachwissenschaft- gen der kontrastiven Arbeit für den Autor
lich-didaktischen empirischen Untersuchung darin besteht, eine deskriptive korrekte Ana-
nach. Sie soll deshalb ausführlicher vorge- lyse darzustellen, die in erster Linie sprachdi-
stellt werden. Auf der Basis eines in Grie- daktisch von Nutzen sein soll, hält er eine
chenland durchgeführten Deutsch-Kurses grundlegende Diskussion der oft divergieren-
mit auf Griechisch erstalphabetisierten Kin- den Auffassungen über die deutschen Präpo-
dern hat sie nach vergleichender Darstellung sitionen im Rahmen seiner Arbeit für irrele-
der Merkmale der griechischen und lateini- vant. Er schränkt sein Untersuchungsinter-
schen Schrift die Unterrichtsverläufe und die esse auf einige lokale Präpositionen ein, er-
Schreibprodukte der Schüler analysiert. Die weitert es allerdings bei der Darstellung der
Autorin diskutiert sodann den interessanten semantischen Gruppen der griechischen Prä-
Aspekt des Zusammenhangs von Sprach- positionen. Bei den untersuchten Präpositio-
und Schriftbewusstheit. Im Rahmen der Feh- nalphrasen nimmt er keine Unterscheidung
leranalyse bei bilingual-biskriptualen Schü- nach den syntaktischen Funktionen vor; die
lern verweist Berkemeier auf die Notwendig- Auswahl wird anhand einzelner Präpositio-
keit eines genauen Vergleichs von Schrift- nen getroffen (vgl. die Kritik in Benholz
und Sprachmerkmalen. Bei der graphemati- 1990, 7ff.). Aggis erweist sich als optimisti-
schen Analyse der Buchstabenformen der bei- scher Anhänger der kontrastiven Linguistik,
den Schriften untersucht sie die die Schriften dem es darum geht, dem in Griechenland
konstituierenden Elementarformen, da ihrer oder im deutschen Sprachraum Deutsch als
Erkenntnis nach erst auf dieser Basis die in- Fremdsprache unterrichtenden Lehrer Ein-
tergraphematisch (im Unterschied zur intra- sichten in die spezifischen Sprachlernschwie-
graphematisch) bedingten möglichen Interfe- rigkeiten der Griechen zu ermöglichen, eine
renzfehler erkannt werden können. Die da- erste Vorstellung von der Eigenart des Grie-
raus resultierende Fehlertypologie unterschei- chischen zu vermitteln und ihn zur didaktisch
det folglich bei den schriftbedingten Fehlern hilfreichen Fehleranalyse zu befähigen (XII).
zwischen orthographischen, graphematischen Fries (1988), der in seiner Habilitations-
und graphophonologischen. Zum Schluss ih- schrift die Untersuchung von Aggis (1986)
rer Synthese von empirischer Untersuchung, nicht berücksichtigt, unterscheidet bei der
Weiterentwicklung sprachwissenschaftlicher Frage nach dem Sinn einer kontrastiven Ana-
Theoriebildung und didaktischer Problembe- lyse zweier Einzelsprachen zwischen den zwei
arbeitung betont die Autorin die Wichtigkeit Subdisziplinen der ,Theoretischen Kontrasti-
einer linguistisch fundierten Fehler- und ven Linguistik‘ und der ,Angewandten Kon-
Lernprozessanalyse für einen erfolgreichen trastiven Linguistik‘, jene wiederum mit einer
Unterricht, wobei sie eine Reihe von prakti- theoretischen und einer angewandten Kom-
schen Konsequenzen und Leitideen nennt. ponente. Bei der Untersuchung präpositio-
naler Syntagmen im Deutschen und Grie-
3.3.3. Teilbereich: Präpositionen chischen verweist er auf die besonderen
Neben den vergleichsweise breit gestreuten Lernschwierigkeiten in diesem Bereich für
Hinweisen und Analysen zum phonetisch- Deutschlernende, obwohl auch das Griechi-
phonologischen Sprachkontrast ist das Ge- sche aus universalgrammatischer Sicht über
biet der Präpositionen ⫺ nach allgemeiner ähnliche Möglichkeiten interner Präpositio-
Überzeugung ein großer Problembereich für nalphrasen-Strukturierung verfügt. Für Fries
deutschlernende Griechen ⫺ im Deutschen sind die Schwierigkeiten in der spezifischen
und Griechischen bisher am ausführlichsten Weise begründet, wie unterschiedliche Spra-
erforscht. Zu nennen sind hier insbesondere chen eine Informationskodierung über lexi-
die Arbeiten von Aggis (1986), Fries (1988) kalisch und strukturell fassbare Bedingungen
und Benholz (1990). Aggis’ Dissertation von ermöglichen.
1986 ist die erste größere Untersuchung zu
Diese Bedingungen können unterschieden werden
den wichtigsten lokalen Präpositionen im in solche, die sich auf die grammatische Funktion
Griechischen und Deutschen; er selbst be- von Präpositionalphrasen im Satz bzw. auf tex-
zeichnet seine Arbeit als Pionierleistung. Ag- tuelle Funktionen beziehen, und solche, die sich auf
gis’ Arbeit besteht aus drei Teilen: Die Stel- die interne Struktur der Präpositionalphrasen be-
lung der deutschen und griechischen Präposi- ziehen. Unter letzteren sind solche differenzierbar,
420 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

die aufgrund hauptsächlich lexikalischer Eigen- 3.3.4. Sonstige Teilbereiche


schaften erfasst werden müssen, und solche, die mit
In diesem Abschnitt werden weitere wichtige
sprachspezifischen Strukturierungsmöglichkeiten
zu tun haben (Fries 1988, 2). kontrastive Arbeiten zu Einzelphänomenen
in Auswahl kurz vorgestellt.
Als Ziel seiner Studie gibt Fries u. a. an, die Bessa (1984) versucht aufzuzeigen, mit
Ursachen für gewisse Fehlertypen im Fremd- welchen sprachlichen Mitteln die griechische
spracherwerb des Deutschen bzw. des Grie- Besonderheit der Kategorie des Aspekts des
chischen im Bereich der Präpositionalphra- Verbalsystems im Deutschen wiedergegeben
sen zu sichten, um dadurch Hinweise für die werden kann. Mittels zahlreicher Beispiele
Entwicklung therapeutischer Maßnahmen aus einem ins Deutsche übersetzten Roman
liefern zu können. fand sie heraus, dass die folgenden sprachli-
Die sehr gründlich erarbeitete Dissertation chen Mittel zur Wiedergabe des griechischen
von Benholz (1990) ist aus dem an der Uni- Verbalaspekts im Deutschen dienten: Adver-
versität Gesamthochschule Essen angesiedel- bien, Konjunktionen, Partikeln, Pluralität
ten Förderunterricht für Kinder ausländi- bzw. Singularität der Argumente eines Prädi-
scher (hier: griechischer) Arbeitnehmer her- kats der Subjekte und der Objekte, Inter-
punktion. Als weitere Datenbasis diente die
vorgegangen. Aus der unterrichtlichen Praxis
Auswertung von Übersetzungen griechischer
Deutsch als Fremd- bzw. Zweitsprache für
Texte ins Deutsche durch griechische Schul-
griechische Schüler ergab sich das Bedürfnis
kinder mit dem Ergebnis, dass diese bei allen
nach einem linguistischen Vergleich von zu-
sonstigen sprachlichen Fehlleistungen stets
mindest Teilbereichen des Griechischen und die aspektuellen Informationen mit zusätzli-
Deutschen. Da die deutschen Präpositionen chen Ausdrücken, freier Übersetzung, Adver-
sich im Deutschunterricht mit griechischen bien etc. ganz korrekt vermittelten.
Schülern immer wieder als gewichtiges Prob- Lipkowskis (1991) Ausgangspunkt ihrer
lem herausgestellt hatten, lag es nahe, dieses lexikologischen Arbeit war die Beobachtung,
linguistische Feld zum Wohle einer verbesser- dass Lernende beider Sprachen Schwierigkei-
ten Unterrichtspraxis sowie einer adäquate- ten mit der Bildung und dem Gebrauch de-
ren Lehr-/Lernmittelerstellung zu bearbeiten. verbaler Nomen haben. Grundlage ihrer ver-
Die Untersuchung, die das gesamte Spek- gleichenden Studie sind Wortlisten zu den
trum der Präpositionen (83 deutsche und 70 Deverbativa beider Sprachen, die unter den
griechische) in seiner Komplexität zu erfassen folgenden Aspekten untersucht werden: Wort-
sucht, besteht aus einem theoretischen Teil, bildungsmuster, Umfang der Paradigmen,
der die Semantik der deutschen und griechi- morphologische Besonderheiten, semantische
schen Präpositionen beschreibt und ver- Funktionen, Vergleich der Wortbildungsmu-
gleicht (auch in der Auseinandersetzung mit ster und der semantischen Funktionen. Ihre
den Arbeiten insbesondere von Aggis (1986), Annahme, dass viele Fehlleistungen von
Fries (1988), Ruge (19972) und Tzermias Deutsch- wie von Griechischlernenden im
(1969)), sowie einem empirischen Teil (Über- Wortschatzbereich und speziell im Bereich
setzungen vom Griechischen ins Deutsche der Deverbativa auf intra- und intersprach-
und umgekehrt). Probanden waren 50 grie- liche Strukturen zurückgehen, wurde bestä-
chische Schüler aus dem genannten Förder- tigt, da für beide Sprachen Ableitungsmuster
programm mit hinreichenden Kenntnissen im mit komplexen Bedeutungsstrukturen und
Deutschen wie im Griechischen. Ausdrück- nur wenige direkte Entsprechungen festge-
lich gehörte es nicht zur Zielsetzung, einen stellt wurden. Zum Schluss gibt die Autorin
didaktische Aufbereitungen nach Suffixen
Beitrag zur Fehlerprognose beim Deutschler-
und nach semantischen Merkmalen.
nen griechischer Kinder zu leisten; vielmehr
In ihrer überarbeiteten Dissertation nennt
sollten die wissenschaftlichen Grundlagen Butulussi (1991) drei Ziele ihrer umfangrei-
dafür geschaffen werden, den Bereich der chen vergleichenden Untersuchung: Darstel-
Präpositionen einerseits für den Unterricht lung hauptsächlich syntaktischer, semanti-
des Deutschen als Zweit-/Fremdsprache, an- scher, begrifflich-logischer und auch prag-
dererseits aber auch für den muttersprach- matischer Unterschiede und Ähnlichkeiten
lichen Griechischunterricht an deutschen zwischen den deutschen und griechischen
Schulen sowie für den Unterricht des Neu- kognitiven Verben; Beitrag zu theoretischen
griechischen als Fremdsprache didaktisch lexikologischen Fragestellungen; Erstellung
aufzuarbeiten. kontrastiver Lexikoneinträge als mögliche
41. Kontrastive Analysen Deutsch-Griechisch: eine Übersicht 421

Weiterentwicklung der Einträge in den Va- Berkemeier, Anne (1997): Kognitive Prozesse beim
lenzwörterbüchern. Die Informationen, die Zweitschrifterwerb. Zweitalphabetisierung grie-
die Autorin in der pragmatischen, syntakti- chisch-deutsch-bilingualer Kinder im Deutschen.
schen und semantischen Charakterisierung Frankfurt am Main etc. (Arbeiten zur Sprachana-
lyse 29).
sowie in den Redundanzregeln oder in einfa-
chen Regeln vermittelt, können nach ihrer Bessa, Elli (1984): Eine kontrastive Untersuchung
der Vermittlung „aspektueller“ Informationen im
Meinung auch im Fremdsprachenunterricht
Neugriechischen und im Deutschen. Universität Bie-
und in der Übersetzungswissenschaft von lefeld (Magisterarbeit). Bielefeld.
Nutzen sein.
Butulussi, Eleni (1991): Studien zur Valenz kogniti-
Liedke (1994) wendet sich in ihrer verglei-
ver Verben im Deutschen und Neugriechischen. Tü-
chenden diskursanalytischen Untersuchung bingen.
⫺ der ersten dieser Art ⫺ den in der traditio-
Drögemüller, Hans P. (19832): Kleine deutsche
nellen Grammatik als Partikel klassifizierten Sprachlehre für Griechen. Heidelberg.
Elementen wie ,hmhm‘, ,aha‘, ,ach so‘, ,ja‘
usw. zu. Am Beispiel des Deutschen und des Eideneier, Hans (1976): Sprachvergleich Griechisch-
Deutsch. (Teil Phonetik von Hans Ruge). Düssel-
Griechischen geht sie der Frage nach, ob und dorf.
inwieweit sich Einsatz und Bedeutung solcher
Partikel in den beiden Sprachen unterschei- Fries, Norbert (1988): Präpositionen und Präposi-
tionalphrasen im Deutschen und im Neugriechischen.
den. Dabei liegt ein Ziel der Arbeit auch u. a. Aspekte einer kontrastiven Analyse Deutsch-Neu-
darin, eine Vorarbeit für eine Fremd- bzw. griechisch. Tübingen.
Zweitsprachdidaktik zu leisten, die die münd-
Fries, Norbert (1992): Ausgewählte Probleme der
liche Kompetenz als ein wesentliches Lernziel kontrastiven Analyse Deutsch-Neugriechisch. In:
berücksichtigt, insbesondere unter dem Info DaF 19/1, 22⫺35.
Aspekt, welche möglichen Auswirkungen der
Härting, Patricia J. (1989): Die Präpositionalergän-
Sprachkontrast für die interkulturelle Kom- zung im Deutschen und ihre Entsprechungen im Neu-
munikation ⫺ Missverständnisse eingeschlos- griechischen. Universität Bielefeld (Magisterar-
sen ⫺ mit sich bringt. beit). Bielefeld.
Eine weitere Arbeit, die sich mit möglichen Katsikas, Sergios-Elisseos (1994): Kontrastive Pho-
interkulturellen Missverständnissen ausein- netik und Phonologie Neugriechisch-Deutsch. Laut-
andersetzt, ist die Untersuchung von Leist liche Interferenzen deutschlernender Griechischspra-
(1996), die Gestik und Mimik deutsch-grie- chiger und griechischlernender Deutschsprachiger.
chisch vergleichend beschreibt und analysiert Universität Wien (Diplomarbeit). Wien.
⫺ ein Aspekt, der bisher vernachlässigt wor- Katsikas, Sergios (1994/1995): „Ach“-Laut [x] und
den ist. Die Autorin rückt ins Bewusstsein, „ich“-Laut [ç] im Neugriechischen und im Deut-
dass zweisprachig aufwachsende Kinder mit schen. Ein Beitrag zur kontrastiven Phonologie. In:
dem verbalen auch immer ein nonverbales LernSprache Deutsch. Teil 1: 2/2, 121⫺150; Teil 2:
Regelsystem erwerben, was zur Folge hat, 3/1⫺2, 77⫺123.
dass diese Kinder flexibler, sicherer und sen- ⫺ (1997): Probleme der neugriechischen Graphe-
sibler mit Gestik und Mimik umgehen. Diese matik aus der Perspektive des Fremdsprachenler-
Erkenntnis sollte auch im jeweiligen Fremd- ners. In: Heiner Eichner u. a. (Hg.): Sprachnor-
sprachenunterricht angemessener als bislang mung und Sprachplanung. Festschrift für Otto Back
zum 70. Geburtstag. Wien, 419⫺474.
Berücksichtigung finden.
Leist, Anja (1996): Griechisch-deutsche Zweispra-
chigkeit und nonverbale Kommunikation. Eine Un-
4. Literatur in Auswahl tersuchung über Gestik und Mimik mit Vorschulkin-
dern. Frankfurt am Main etc.
Aggis, Theodoros (1986): Lokale Präpositionen im Liedke, Martina (1994): Die Mikro-Organisation
Deutschen und ihre griechischen Entsprechungen. von Verständigung. Diskursuntersuchungen zu grie-
Konstanz. chischen und deutschen Partikeln. Frankfurt am
Antoniadou, Christina; Petra Kaltsas (1994): Lexi- Main etc.
kon der idiomatischen Redewendungen. Griechisch- Lipkowski, Eva (1991): Deverbale Nomen des Deut-
Deutsch/Deutsch-Griechisch ⫺ Lejiko¬ tvn idivma- schen und Neugriechischen. Eine vergleichende Stu-
tikv¬n ekfra¬sevn. Ellhnika¬-Germanika¬/Germa- die. Essen.
nika¬-Ellhnika¬. Köln/Thessaloniki. Markou, Marie-Louise (1978): Materialien zur
Benholz, Claudia (1990): Präpositionen im Deut- Analyse von Lautschwierigkeiten griechischer Kin-
schen und Neugriechischen. Ein Sprachvergleich und der. In: Materialien Deutsch als Fremdsprache.
Untersuchungen zum schriftlichen Übersetzen grie- Heft 9: Kontrastivität ⫺ Fehleranalyse ⫺ Unter-
chischer Migrantenkinder. Essen. richtspraxis Deutsch als Fremsprache, hg. v. Ar-
422 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

beitskreis Deutsch als Fremdsprache beim DAAD Ruge, Hans (19972): Grammatik des Neugriechi-
(AKDaF). Regensburg, 211⫺234. schen. Lautlehre ⫺ Formenlehre ⫺ Syntax. Köln.
Meese, Herrad; Ingrid Fröhlich; Gisela Panju u. a. Storch, Günther; Melissa Chatziioannou (1994):
(1980): Muttersprachlich bedingte Fehlerquellen Kontrast. Deutscher Aussprachekurs für Griechen.
ausländischer Arbeiterkinder: Ein Vergleich ausge- Arbeitsbuch. (Odhgo¬w oruh¬w profora¬w gia Ellh-
wählter Kapitel der deutschen Sprache mit den je- new poy mauai¬voyn Germanika¬). Athen.
weiligen Entsprechungen im Griechischen, Italieni- Tzermias, Pavlos (1969): Neugriechische Gramma-
schen und Serbokroatischen. In: Deutsch lernen tik. Formenlehre der Volkssprache mit einer Einfüh-
2⫺3, 7⫺131. rung in die Phonetik, die Entstehung und den heuti-
Moser-Philtsou, Maria (1962): Lehrbuch der Neu- gen Stand des Neugriechischen. Bern/München.
griechischen Volkssprache. München. Winters-Ohle, Elmar (1982): Sprachkontrastive
Prinz, Michael (1991): Klitisierung im Deutschen Hinweise Griechisch-Deutsch. In: Michael Steindl
und Neugriechischen. Eine lexikalisch-phonologische (Hg.): Bilinguale Materialien für den Unterricht mit
Studie. Tübingen. Ausländerkindern. Sachkunde 2⫺4. Handreichungen
Radisoglou, Theodoros (1986): Deutscher Aus- für den Lehrer. Grünwald, insges. 93 S. (Institut für
sprache- und Orthographietest: Ergebnisse einer Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht).
Untersuchung bei griechischen Schülern an zwei-
sprachigen Klassen in der Bundesrepublik Elmar Winters-Ohle, Dortmund
Deutschland. In: Info DaF 13/2, 99⫺121. (Deutschland)

42. Kontrastive Analysen Deutsch-Ungarisch: eine Übersicht

1. Kontrastive Analysen Deutsch-Ungarisch im seiner die gesamtungarische Entwicklung


gesamteuropäischen Forschungskontext nachhaltig prägenden Bedeutung mit einer
2. Grundlagenforschung gewissen Idealisierung auch auf die deutsch-
3. Subsystemspezifische kontrastive Analysen ungarische kontrastive Forschung im allge-
4. Ausblick
5. Literatur in Auswahl
meinen übertragen werden. Diese lassen sich
wie folgt zusammenfassen:

1. Kontrastive Analysen Deutsch- (1) Offenheit verschiedenen Modellen und


den theoretischen Ergebnissen der euro-
Ungarisch im gesamteuropäischen päischen kontrastiven Projekte gegen-
Forschungskontext über;
(2) Einfluss des synchronen Vergleichs von
Seit Anfang der 70er Jahre zeichnen sich in
der ungarischen Germanistik mit zunehmen- Ungarisch mit Englisch sowie mit Rus-
der Deutlichkeit die Konturen einer Kontra- sisch;
stiven Linguistik als Disziplin ab. Dass es in (3) Integrationsfreudigkeit in Bezug auf
dieser Entwicklung im Unterschied zu den Ergebnisse der typologischen und der
meisten anderen Teilen der linguistischen Sprachgeschichtsforschung;
Welt zu keinem Bruch kommt, ist wohl dem (4) intensive Beeinflussung durch die Interfe-
Umstand zu verdanken, dass die in Ungarn renz- sowie die Sprachkontaktforschung;
vertretene deutsch-ungarische kontrastive (5) eine in der Prager Schule verwurzelte
Forschung nicht an groß angelegte Projekte funktionale Orientierung, die aber auch
gebunden ist, sondern vielmehr durch ein- die durch Martinet und Coseriu initiierte
zelne, häufig eine Dissertation als Ziel verfol- Weiterentwicklung sowie auch das in der
gende Forschungsvorhaben bzw. durch eine modernen Typologie- und Grammatikali-
niedrige Anzahl von wissenschaftlichen Mit- sierungsforschung vertretene Funktiona-
arbeitern beschäftigende Projekte gekenn- lismuskonzept zu integrieren versucht,
zeichnet ist. Eine Ausnahme davon stellt le- der Rezeption von Ergebnissen formali-
diglich die von János Juhász geleitete For- sierter Theorien sich aber auch nicht ver-
schungsgruppe dar, die bis zur Mitte der 80er schließt.
Jahre koordiniert tätig war. Die Wesenszüge In diesem Sinne betonte Juhász (1975, 29) die
dieses kontrastiven Projektes können wegen Wichtigkeit der Kontinuität der Forschung
42. Kontrastive Analysen Deutsch-Ungarisch: eine Übersicht 423

und wies explizit auf die negativen Auswir- keitswahrnehmung bei Sprachwissenschaft-
kungen und Gefahren der Konstruierung ei- lern und durchschnittlichen, linguistisch un-
ner geschlossenen Theorie für die Kontrastive voreingenommenen Sprachteilhabern ausge-
Linguistik hin. Kennzeichnend ist, dass in hend, werden die Faktoren ermittelt, die die
deutsch-ungarischer Relation nur am Rande globale Ähnlichkeit der phraseologischen
generativ orientierte Analysen zu verzeichnen Subsysteme zweier oder mehrerer Sprachen
sind, welche aber auf die internationale gene- bedingen. Es wird überzeugend nachgewie-
rative Forschung kaum einen Einfluss aus- sen, dass sich die Ähnlichkeit nicht einfach
üben. aus dem qualitativen Verhältnis interlingual
äquivalenter Phraseolexeme herleiten lässt,
sondern sich aus der Zusammenwirkung
2. Grundlagenforschung heterogener Faktoren ergibt, unter denen
der Erscheinung der partiellen Äquivalenz
Die Kontrastive Linguistik wird herkömm- eine besondere Bedeutung beigemessen wird.
licherweise in Grundlagenforschung und in Sprachliche und außersprachliche Universa-
faktenorientierte kontrastive Forschung un- lien sowie Sprach- und Kulturkontakte füh-
terteilt. Hält man sich konsequent an diese ren nach Hessky (1993, 134) in vielen Fällen,
Klassifizierung, so stößt man jedoch in der durch die Besonderheiten der einzelsprach-
analytischen Praxis häufig auf Abgrenzungs- lichen Systeme bedingt, nicht zu einer voll-
schwierigkeiten. Das Allgemeine hat sich ständigen interlingualen Identität, sondern
doch immer im Besonderen zu spiegeln (vgl. zur Ähnlichkeit.
Juhász 1975, 29), deshalb sind faktenorien- Prinzipielle Probleme der Vergleichbarkeit
tierte Analysen erst auf der Basis einer soli- und der Vergleichsgrundlage werden von
den Grundlagenforschung wirklich gewinn- László (1980) im Zusammenhang mit der Ex-
bringend. Umgekehrt sind unreflektiert durch- plizität und Implizität des sprachlichen Aus-
geführte, auf eine unmittelbare Anwendung drucks thematisiert. Wegen des asymmetri-
bedachte Untersuchungen nicht nur aus der schen Verhältnisses morphologischer und se-
Sicht der Sprachwissenschaft, sondern gerade mantischer Kategorien werden auf morpho-
auch im Fremdsprachenunterricht unbrauch- logischen Kategorien bzw. auf Funktionen
bar. einer Kategorie als Vergleichsgrundlage beru-
In der Einleitung zu dem von ihm selbst hende kontrastive Analysen als nicht ausrei-
herausgegebenen Sammelband mit deutsch- chend angesehen. Als Alternative wird von
ungarischen kontrastiven Studien werden László (1980, 119ff.) ein auf Ergebnisse der
von Juhász u. a. folgende Aspekte der Grund- russischen Feldforschung zurückgreifendes
lagenforschung hervorgehoben: Möglichkei- Vergleichsverfahren unterbreitet, wobei gram-
ten und Grenzen der Theoriebildung in der matisch-lexikalische Felder als Tertium com-
Kontrastiven Linguistik unter besonderer Be- parationis angesetzt werden. Die Ermittlung
rücksichtigung des Status des Idealisierungs- der Verteilung der verglichenen Ausdrucks-
faktors, Bestimmung des Gegenstandsbe- mittel zwischen Grammatik und Lexikon
reichs für die Grenzgebiete der Kontrastiven spielt bei diesem Verfahren eine wichtige
Linguistik, prinzipielle Fragen der Vergleich- Rolle.
barkeit typologisch weit voneinander entfern- Allgemeinen Problemen der Abgrenzung
ter Sprachen, Problematik der interlingualen von Grammatik und Lexikon aus einzel-
Ähnlichkeit, Verhältnis von Form und Funk- sprachlicher wie kontrastiver Sicht ist die
tion im Deutschen und Ungarischen, Verhält- Monographie von Kertész gewidmet. Der in-
nis zwischen Implizität und Explizität des terlinguale Vergleich Deutsch-Ungarisch wird
Ausdrucks in deutsch-ungarischer Relation, durch einzelsprachliche Untersuchungen vor-
interlinguale Redundanzunterschiede, Prob- bereitet. Es wird anhand zahlreicher Fallstu-
leme der Reversibilität in der Kontrastiven dien gezeigt, dass die Grenze zwischen Gram-
Linguistik (vgl. Juhász 1980, 23ff.). Diese matik und Lexikon in den beiden kontrastier-
Probleme wurden von Juhász in unterschied- ten Sprachen vielfach nicht „an der gleichen
lichen Schaffensphasen besonders themati- Stelle“ (Kertész 1980, 204) festzulegen ist.
siert. Die Untersuchung der besagten interlingua-
Mit allgemeinen Problemen der zwischen- len Asymmetrien trägt nicht nur zum tieferen
sprachlichen Ähnlichkeit setzt sich Hessky Verständnis der theoretischen Aspekte des
(1993) am Beispiel von Phraseolexemen aus- Problems bei, sondern auch zur Optimierung
einander. Von einem Vergleich der Ähnlich- der Vermittlung bestimmter Erscheinungen
424 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

im Fremdsprachenunterricht. Interferenzun- 3.1. Kontrastive Morphologie


tersuchungen belegen, dass interlinguale Dis- Die von Kertész tiefgründig untersuchten in-
krepanzen bei der Grenzziehung zwischen terlingualen Asymmetrien in der grammati-
Grammatik und Lexikon besondere Lern- schen bzw. lexikalischen Kodierung derselben
schwierigkeiten darstellen und die sorgfältig- Erscheinungen ⫺ wie unter 2. bereits aus der
ste Aufbereitung des Stoffes erfordern, wobei Sicht der Grundlagenforschung erwähnt ⫺
der Bestimmung des angemessenen Verhält- kommen in der Morphologie besonders präg-
nisses von Bewusstmachung und Automati- nant zum Vorschein. Dies sei an zwei Beispie-
sierung große Bedeutung zukommt. Die Ar- len veranschaulicht. Inhalte, die im Ungari-
beit von Kertész liefert somit auch ein Bei- schen durch verbale Flexionsendungen aus-
spiel dafür, dass Grundlagenforschung auch gedrückt werden, haben im Deutschen in vie-
wichtige praxisbezogene Implikationen ha- len Fällen lexikalisch kodierte Entsprechun-
ben kann. gen. Im Ungarischen gibt es dagegen kein
Eine bedeutsame Komponente der Grund- grammatisches Mittel zur Kodierung der in-
lagenforschung bildet die Diskussion über direkten Rede, so dass der Konjunktiv bei
Auswahl bzw. Erarbeitung eines angemesse- unvollständiger Disambiguierung durch den
nen Beschreibungsmodells, das den Eigen- Kontext im Ungarischen durch zusätzliche le-
tümlichkeiten der zu kontrastierenden Sub- xikalische Mittel ausgedrückt werden muss.
systeme gerecht wird. Überlegungen dieser Lászlós Analyse der beim Vergleich morpho-
Art sind im Bereich der Syntax besonders logischer Kategorien beobachtbaren Diskre-
aufschlussreich. Arbeiten von László (1988) panzen lässt sich ebenfalls in diesen Zusam-
und Ágel (1993; 1995) zur kontrastiven Syn- menhang einordnen.
tax Deutsch-Ungarisch belegen, dass die Eine Asymmetrie ganz anderer Art äußert
Grenzen des auf die Ausgangssprache ange- sich darin, dass die jeweils angemessene de-
wandten Beschreibungsmodells durch den skriptive Erfassung der deutschen und der
Vergleich mit anderen Sprachen deutlicher ungarischen Morphologie aufgrund von un-
zum Vorschein kommen können als in der terschiedlichen Beschreibungseinheiten er-
einzelsprachlichen Analyse (vgl. dazu aus- folgt, zumal morphemzentrierte Modelle nur
führlicher Abschnitt 3.2.). Dies kann zur Mo- dem agglutinierenden Sprachtyp gerecht wer-
difizierung oder gegebenenfalls auch zur Auf- den können. Die Beschreibung der analy-
gabe des Beschreibungsmodells führen. tisch-flektierenden deutschen Morphologie
ist dagegen nur im Rahmen von wortzentrier-
ten Ansätzen zu leisten. Das Problem der
3. Subsystemspezifische kontrastive Vergleichbarkeit der beiden Modelle ist je-
Analysen doch in der einschlägigen Forschung noch
nicht thematisiert worden.
Da gegenwärtig in deutsch-ungarischer Rela- Im Grenzbereich zwischen Morphologie
tion keine Kontrastive Grammatik vorliegt und Syntax ist die kontrastive Analyse passi-
und in absehbarer Zeit auch nicht verfügbar vischer Konstruktionen einzuordnen (vgl.
sein wird, soll in den folgenden Abschnitten Dürscheid 1995). Als passivisch werden dabei
subsystemorientiert vorgegangen werden. Der Konstruktionen mit Agensunterdrückung an
mir zugeteilte Raum erlaubt es nicht, die For- der Subjektposition angesehen. Durch die
schungsergebnisse detailliert darzustellen, es Untersuchung konnte nachgewiesen werden,
dass das Ungarische bei der Kodierung passi-
können nicht einmal alle wichtigen Arbeiten
vischer Lesarten, die im Deutschen vorzugs-
erwähnt werden. Eingegangen werden soll ei-
weise durch syntaktische Konstruktionen
nerseits auf die die deutsch-ungarische kon-
ausgedrückt werden, vorwiegend morpholo-
trastive Forschung in besonderer Weise prä- gische Mittel einsetzt.
genden Arbeiten sowie andererseits auf Ana-
lysen, die interessante Probleme ansprechen 3.2. Kontrastive Syntax
und die der zukünftigen Forschung wichtige Aufgrund von typologischen Studien und ei-
Anregungen vermitteln können. Untersu- ner intensiven Auseinandersetzung mit der
chungen zur Kontrastiven Phonetik, Phono- Kontrastierung der deutschen und ungari-
logie, Textlinguistik und Pragmatik werden schen Satzstruktur gelangt László (1988) in ei-
dabei angesichts der quantitativ wie qualita- ner bahnbrechenden Arbeit zur Revidierung
tiv sich erst langsam konstituierenden For- des in der germanistischen Valenzforschung
schung in diesen Bereichen ausgeklammert. bis dahin vorherrschenden syntaktischen Va-
42. Kontrastive Analysen Deutsch-Ungarisch: eine Übersicht 425

lenzkonzeptes. Im Rahmen eines deutsch-un- rungsmodell ausgebaut, das als eine Teiltheo-
garischen valenzlexikographischen Projekts rie sowohl in die Dependenzgrammatik als
mit dem Ziel der Erstellung eines Lernerwör- auch in die GB-Theorie integriert werden
terbuches wurden von ihr die Grenzen der kann (vgl. u. a. Ágel 1995). Der deutsch-un-
Übertragbarkeit des syntaktischen Valenz- garische Sprachvergleich bietet den Anlass
modells auf die Beschreibung der ungari- dazu, nicht nur ein neues Valenzmodell aus-
schen Satzstruktur klar erkannt und aufge- zuarbeiten, sondern auch die Aufgaben einer
deckt. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen Valenztheorie zu überdenken und neu zu
war dabei die Beobachtung, dass syntaktisch bestimmen. Zentral ist die Abgrenzung von
kodierte Valenzstrukturen des Deutschen im Valenzpotenz und Valenzrealisierung. Eine
Ungarischen vielfach komplexe Verbformen wichtige Aufgabe für die Valenztheorie be-
als Entsprechung haben. Dies sei an der Ge- steht nach Ágel darin, die theorieinternen
genüberstellung von Ich sehe ihn. versus Lá- Grenzen der Valenzpotenz- und Valenzreali-
tom. (lát- ,seh-‘; -om ,1. Person Singular ⫹ sierungsforschung transparent werden zu las-
definites Objekt, vorzugsweise im Singular‘) sen. Die Operationalisierbarkeit des neuen
exemplifiziert. Für die Interpretation der un- Valenzansatzes wird durch die Analyse diver-
garischen Faktenlage schlägt László (1988, ser grammatischer Erscheinungen unter Be-
222ff.) vor, die morphologische Struktur des weis gestellt. Es wird außerdem demonstriert,
Verbs bei der Valenzbeschreibung mit zu be- daß neben echten Valenzrealisierungsstruktu-
rücksichtigen. Der entscheidende Punkt ist ren auch mit „Nachahmungen der normalen
dabei das Aufeinanderbeziehen der syntakti- Valenzrealisierungsstrukturen ohne realisierte
schen und der morphologischen Struktur des Valenzpotenz“ (Ágel 1995, 12) gerechnet wer-
Verbs. Die Ergebnisse der typologischen Va- den muss. Die prinzipielle Stellungnahme
lenzforschung aufgreifend, gelingt es László, zum Verhältnis von Valenztheorie und Va-
die Idee eines Zwei-Ebenen-Modells auszu- lenzpraxis erscheint aus der Perspektive des
bauen und für die Valenzbeschreibung des Fremdsprachenunterrichtes als besonders re-
Ungarischen und Deutschen zu operationali- levant. Ágel setzt sich für die konsequente
sieren. Die entscheidende Neuerung im Ver- Trennung von Valenztheorie und Valenzpra-
gleich zur typologischen Forschung besteht xis ein. Aus der Sicht der Valenztheorie fällt
bei László darin, dass sie, über die Systemati- nämlich das Obligatheits- bzw. Fakultativi-
sierung der Strukturtatsachen hinausgehend, tätsproblem mit dem Problem der Unter-
auch die Mechanismen der Interaktion der scheidung von struktureller Valenzrealisie-
morphologischen und syntaktischen Struktur rung und verschiedenen die möglichen Kom-
des Verbs in der Satzbildung erfasst. Kern- binationen valenzrealisierter Konstituenten
punkt der Lászlóschen Überlegungen ist die steuernden Regeln und Regularitäten zusam-
Ansetzung von zwei Realisierungsebenen der men. Für die Belange des Fremdsprachenun-
Valenz, wobei die Einheiten der morphologi- terrichtes kann dagegen die Unterscheidung
schen Ebene als potentielle Deiktika/Ana- von Obligatheit und Fakultativität nach Ágel
phern, d. h. als potentielle Zeigfeld-Aktanten durchaus sinnvoll sein.
angesehen werden. Im Unterschied zur tradi- Die Syntax der Substantivgruppe im
tionellen Auffassung, nach der nur Relatio- deutsch-ungarischen Sprachvergleich rückt
nen oberhalb der Wortstrukturebene für den seit Anfang der 90er Jahre sowohl in theore-
Satz konstitutiv sein können, geht László tischer als auch in valenzlexikographischer
vom Primat der Morphologie in der Satzkon- Hinsicht immer mehr in den Mittelpunkt
stituierung aus. Eine syntaktische Explizie- des Interesses. Eine dependenzgrammatische
rung der morphologisch kodierten Aktanten Analyse wird von Ágel (1993) aus kontrastiv-
erfolgt demnach erst dann, wenn die durch typologischer Perspektive geleistet. Die Über-
sie vermittelte Information nicht ausreicht. prüfung der Übertragbarkeit des satzsyntak-
Die entsprechenden Einheiten der morpholo- tischen Valenzrealisierungskonzeptes auf die
gischen und der syntaktischen Ebene werden Nominalphrase mündet in die Einführung
als die Realisierung des gleichen Aktanten des Begriffs des finiten Substantivs sowie
des Verbs auf zwei Strukturebenen interpre- in die Uminterpretation der traditionell als
tiert. stark bezeichneten Adjektivflexion als Be-
Das von László vorgelegte Zwei-Ebenen- standteil der Substantivflexion. Bei der Ana-
Modell wurde von Ágel unter Einbeziehung lyse des adnominalen possessiven Dativs
vieler neuer Fakten in einer Reihe von Arbei- werden dependenzielle Untersuchung und
ten zu einem strukturellen Valenzrealisie- sprachhistorische Ableitung in einem kon-
426 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

struktivistischen Gesamtkontext miteinander 3.3. Kontrastive Wortbildung


verbunden. Dies führt unter Einbeziehung In deutsch-ungarischer Relation zeichnen
der entsprechenden ungarischen Fakten zur sich gegenwärtig erst Ansätze einer kontrasti-
Erklärung der typologischen Sonderstellung ven Wortbildungsforschung ab. Systemati-
der Konstruktion im Deutschen. sche, auf breiter empirischer Basis durchge-
Die Möglichkeiten und Grenzen eines führte kontrastive Untersuchungen stellen
deutsch-ungarischen Substantivvalenzwörter- ein Forschungsdesideratum dar. Im Bereich
buchs werden von Bassola und László in ei- der Komposition liegt nur die der Integration
ner Reihe von Arbeiten erwogen (vgl. u. a. traditioneller Ansätze und moderner Wort-
László 1993; Bassola 1995, 107ff., 155ff., strukturtheorien verpflichtete Arbeit von
169). Nach László (1993, 221) besteht in kon- Knipf-Komlósi (1989) zur Interpretierbarkeit
trastiven Analysen der Substantivvalenz der Rektionskomposita vor. Die Verfasserin
Konsens darüber, dass die Ermittlung der setzt sich auch mit den fremdsprachendidak-
ungarischen Entsprechungen des deutschen tischen Aspekten des Phänomens auseinan-
Präpositionalattributs das schwerwiegendste der. Auf dem Gebiet der Derivation kann
Problem für den deutsch-ungarischen Sprach- man im Grunde genommen nur auf Ruzsicz-
vergleich darstellt. Thematisiert werden von kys Studien zu einem nominalen und einem
László die Schwierigkeiten, die sich aus dem verbalen Suffix zurückgreifen (vgl. Ruzsiczky
geringeren Grammatikalisierungsgrad der 1976; 1980). In diesen unilateralen Analysen
Substantivvalenz im Ungarischen bei der wird Ungarisch als Ausgangs- und Deutsch als
Konzipierung eines zweisprachigen Lerner- Zielsprache angesetzt. Die Ermittlung der
wörterbuchs für Deutsch lernende Ungarn deutschen Entsprechungen der mit dem deno-
ergeben. László (1993, 230) kommt zu der minalen -z-Suffix gebildeten ungarischen Ver-
Schlussfolgerung, dass die Idee eines formal- ben führt zur Beobachtung, dass die Semantik
syntaktischen zweisprachigen Substantivva- der ungarischen -z-Verben komplexer und si-
lenzwörterbuchs für das Sprachenpaar tuationsgebundener ist als die ihrer deutschen
Deutsch-Ungarisch in dem Fall, wenn sich Äquivalente (vgl. Ruzsiczky 1976, 333). Die
die systematisierbare Komponente im Unga- Untersuchung der mit dem Suffix -s gebildeten
rischen als zu gering erweisen sollte, nicht substantivischen Derivate des Ungarischen
mehr aufrechterhalten werden könnte. Als und ihrer deutschen Entsprechungen ergibt als
Alternativlösung kommt nach László (1993, Resultat, dass unter den deutschen Äquivalen-
ten der ungarischen Ableitungen die Kom-
230) im ungarischen Teil des Wörterbuchs die
posita überwiegen und dass neben einigen
Interpretation der deutschen Valenzstruktur
regulär erfassbaren Entsprechungstypen ein
in Betracht.
großer Rest an Irregularitäten übrigbleibt
Das Topik im Deutschen und Ungarischen
(vgl. Ruzsiczky 1980, 138ff.). Dies ist ange-
ist Gegenstand einer eingehenden generativen sichts der formorientierten Vergleichsgrund-
Analyse von Molnár (1991). Die syntakti- lage auch nicht weiter verwunderlich, zumal
schen Besonderheiten des Topiks werden da- sogar in einzelsprachlicher Hinsicht meistens
bei auf pragmatischer Grundlage gedeutet. zahlreiche Asymmetrien in der Zuordnung
Probleme der Festlegung einer Korrefe- von Formen zu Funktionen bestehen können.
renzbeziehung zwischen einem Element des Ein vielversprechender Weg für die zukünftige
Matrixsatzes und dem impliziten Subjekt ei- Forschung könnte die Ansetzung einer an
ner Infinitivergänzung, in der generativen funktional bestimmten Wortbildungskatego-
Forschung als Kontrolle bezeichnet, werden rien orientierten Vergleichsgrundlage sein.
in Brdar-Szabó/Brdar (1992) aus kontrastiver Die dephraseologische Derivation, d. h.
Sicht beleuchtet. Anhand des Vergleichs von die Entstehung von Wortbildungskonstruk-
Kontrollphänomenen im Deutschen und Un- tionen auf der Grundlage von Phraseologis-
garischen wird für die Notwendigkeit einer men, wird in deutsch-ungarischer Relation
Integration der syntaktischen, semantischen von Földes (1988) einer ersten kontrastiven
und pragmatischen Aspekte der Erscheinung Analyse unterzogen. Da das Phänomen in
argumentiert. Es wird zugleich dafür plädiert, den verglichenen Sprachen nicht ausreichend
dass ein typologisches Infinitheitskontinuum erforscht ist, bietet diese Untersuchung ein
als Vergleichsgrundlage in kontrastiven Un- Beispiel dafür, wie die Deskription der ent-
tersuchungen von Kontrollphänomenen an- sprechenden Einzelsprachen durch kontra-
gesetzt werden sollte. stive Analysen bereichert werden kann.
42. Kontrastive Analysen Deutsch-Ungarisch: eine Übersicht 427

3.4. Kontrastive Lexikologie ren Struktur und der syntaktischen Funktion


Explizit kontrastiv-lexikologische Studien der einzelnen Phraseologismen ergänzt. In ei-
sind in der bisherigen Forschung für das Spra- nem nächsten Schritt der Analyse wird von
chenpaar Deutsch-Ungarisch noch nicht vor- der Paraphrase ausgehend ermittelt, ob im
gelegt worden. In der Interferenzforschung Ungarischen ein sprachliches Zeichen mit der
findet man jedoch bei Juhász (1970, 97ff.) gleichen oder annähernd gleichen Bedeutung
wichtige Anhaltspunkte für eine kontrastive vorhanden ist. Sollte dies nicht der Fall sein,
Analyse von Polysemie, Synonymie sowie von so wird der entsprechende deutsche Phraseo-
Bedeutungsstrukturen. Außerdem ist auch logismus für die Relation Deutsch-Ungarisch
noch die Erforschung der falschen Freunde als äquivalenzlos eingestuft. Nach der Er-
des Übersetzers in diesem Zusammenhang zu mittlung der semantischen Äquivalente setzt
erwähnen. In deutsch-ungarischer Relation der eigentliche Sprachvergleich ein, d. h. die
liegt zu diesem Thema die Arbeit von Eme- Feststellung von Unterschieden und Identitä-
riczy (1980) vor. ten. Als Vergleichsgrundlage dient somit die
interlinguale semantische Äquivalenz. Die
3.5. Kontrastive Phraseologie weitere Analyse geht von einer tiefgründigen
Die Phraseologie gilt als einer der am besten Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen
untersuchten Bereiche des deutsch-ungari- ihrer Erfassung aus und verfolgt das Ziel,
schen Sprachvergleichs. In diesem Rahmen aufgrund eines Kriterienkatalogs interlin-
können nur einige Schwerpunkte hervorge- guale phraseologische Entsprechungstypen zu
hoben werden, viele wichtige Aspekte müssen ermitteln. Die systemlinguistische Untersu-
unerwähnt bleiben. Maßgebend für die For- chung wird durch die kontrastive Analyse
schung ist nach wie vor Hesskys 1987 ver- von Verwendungsbeispielen abgerundet.
öffentliche Monographie. Im ersten Haupt- Intra- und interlinguale Aspekte der kon-
teil werden die linguistischen Grundfragen trastiven Betrachtung der deutschen Phraseo-
der Phraseologie behandelt (vgl. Hessky logie werden in einem ersten Versuch von
1987, 13ff.), um eine solide Basis für die kon- Földes, dem Autor zahlreicher Studien über
trastive Analyse zu schaffen. Im allgemein- Detailfragen der Phraseologie im deutsch-un-
theoretischen Teil stehen Definitions- und garischen Sprachvergleich, unter die Lupe ge-
Abgrenzungsprobleme, Aspekte der Vorge- nommen (vgl. Földes 1996). Es handelt sich
formtheit bzw. Reproduzierbarkeit, der Idio- dabei um Dialekt und Standardsprache, na-
matizität und der synchronischen Motiviert- tionale Varietäten des Deutschen, Minderhei-
heit sowie das Verhältnis von Synchronie und tensprache im Vergleich zum Binnendeut-
Diachronie im Vordergrund. Im zweiten schen sowie um sozio- und interkulturelle
Hauptteil wird ein kontrastives Modell aus- Aspekte des interlingualen Vergleichs. Die
gearbeitet, das dann des weiteren auf seine große Vielfalt verschiedener kontrastiver Di-
Anwendbarkeit in der Kontrastierung reprä- mensionen ermöglicht allerdings keine Syn-
sentativer Teilmengen des deutschen und un- these.
garischen phraseologischen Bestandes über-
prüft wird. Die Gerichtetheit der Analyse 4. Ausblick
zeigt vom Deutschen als Ausgangssprache
zum Ungarischen hin. Für die Durchführung Weitere intensive Forschung erfordern im Be-
des Vergleichs wurde nach sorgfältiger Erwä- reich der Grundlagenprobleme vor allem die
gung anderer Möglichkeiten ein primär in- Festlegung des jeweils angemessenen Tertium
duktives Verfahren gewählt. Einzelnen phra- comparationis sowie die theoretisch fundierte
seologischen Einheiten der Ausgangssprache Auswahl bzw. Modifizierung des der kontra-
werden entsprechende einzelne Einheiten der stiven Analyse zugrunde gelegten Modells.
Zielsprache zugeordnet, und die beiden Enti- Eine weitere wichtige Forschungsaufgabe
täten werden dann als Elemente einer binären stellt die Beantwortung der Frage dar, ob der
Opposition verglichen. Die Analyse des etwa Vergleich bestimmter Subsysteme des Deut-
1500 phraseologische Einheiten umfassenden schen und des Ungarischen eine vorange-
Korpus gliedert sich in mehrere Schritte. Den hende einheitliche Deskription auf der
einzelnen Phraseolexemen des Deutschen Grundlage gemeinsamer Beschreibungskate-
wird zuerst ihre semantische Paraphrase zu- gorien voraussetzt oder ob sich die Kontras-
gewiesen, um dadurch den denotativen Kern tierung zweier in einem ersten Schritt durch
ihrer Bedeutung zu erfassen. Dieses Verfah- verschiedene Kategorien erfassten Subsysteme
ren wird durch die Ermittlung der Konnota- wissenschaftlich eventuell auch verantworten
tionen sowie durch die Bestimmung der inne- lässt.
428 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

In subsystembezogener Hinsicht ist vor Dürscheid, Christa (1995): Passivische Konstruk-


allem im Bereich der Kontrastiven Phonetik, tionen im Deutschen und Ungarischen. In: Jahr-
Phonologie, Textlinguistik und Pragmatik ein buch der ungarischen Germanistik, 109⫺126.
großer Nachholbedarf zu verzeichnen, es sind Emericzy, Tibor (1980): Faux amis in ungarisch-
aber auch in allen anderen Subsystemen noch deutscher Relation. In: János Juhász (Hg.), 49⫺64.
viele kontrastive Detailanalysen zu leisten. Földes, Csaba (1988): Erscheinungsformen und
Die gründliche Bearbeitung von Detail- Tendenzen der dephraseologischen Derivation in
problemen ist dabei stets vor dem Hinter- der deutschen und ungarischen Gegenwartsspra-
grund einer holistischen Betrachtungsweise che. In: Deutsche Sprache 16/1, 68⫺78.
durchzuführen. Festzuhalten ist, dass eine ⫺ (1996): Deutsche Phraseologie kontrastiv. Intra-
Synthese der bereits verfügbaren Forschungs- und interlinguale Zugänge. Heidelberg (Deutsch im
ergebnisse noch aussteht. Die funktionale In- Kontrast 15).
terpretation der erhobenen kontrastiven Da- Hessky, Regina (1987): Phraseologie. Linguistische
ten könnte im Rahmen eines pragmatisch Grundlagen und kontrastives Modell deutsch-unga-
fundierten Modells erzielt werden, für das risch. Tübingen (Reihe Germanistische Linguistik
Sprachenpaar Deutsch-Ungarisch liegt aber 77).
gegenwärtig noch kein elaborierter Versuch ⫺ (1993): Zu einigen Aspekten der zwischensprach-
einer derartigen Synthese vor. Die funktio- lichen Ähnlichkeit. In: Péter Bassola; Regina
nale Interpretation von Unterschieden und Hessky; László Tarnói (Hg.) (1993), 127⫺135.
vollständigen bzw. partiellen Identitäten er- Juhász, János (1970): Probleme der Interferenz. Bu-
fordert außerdem die Einbeziehung der typo- dapest/München.
logischen Dimension. Kontrastiv-typologi-
sche Untersuchungen können nämlich um- ⫺ (1975): Elmélet és gyakorlat a nyelvek szinkrón
egybevetésében. [Theorie und Praxis im synchro-
fassende funktionale Zusammenhänge trans-
nen Vergleich von Sprachen.] In: Magyar Nyelv 71/
parent werden lassen und bei der Überprü- 1, 29⫺35.
fung von Hypothesen über implikationelle
Hierarchien eine bedeutende Rolle spielen. ⫺ (Hg.) (1980): Kontrastive Studien Ungarisch-
Sollte diese Linie in der zukünftigen For- Deutsch. Budapest.
schung konsequent verfolgt werden, so wäre Kertész, Marianna (1980): Allgemeine und wissen-
davon nicht nur die gegenseitige Bereiche- schaftsgeschichtliche Fragen des Verhältnisses von
rung der typologischen und kontrastiven Grammatik und Lexik und seine Problematik in kon-
Forschung zu erwarten, sondern auch die Ge- frontativer Sicht. Budapest.
winnung von operationaliserbaren Erkennt- Knipf-Komlósi, Elisabeth (1989): Zur Interpretier-
nissen, die nach entsprechender didaktischer barkeit der Rektionskomposita im Deutschen und
Aufbereitung im gesteuerten Zweitspracher- Ungarischen. In: Germanistisches Jahrbuch DDR ⫺
werb Anwendung finden können. Generativ UVR, 220⫺227.
orientierte kontrastive Analysen verfolgen László, Sarolta (1980): Morphologische Katego-
dagegen in erster Linie das Ziel, zur Lösung rien und grammatisch-lexikalische Felder im
theorieinterner Probleme beizutragen, wobei Sprachvergleich. In: János Juhász (Hg.), 111⫺121.
die vorgeschlagenen Modifizierungen häufig ⫺ (1988): Mikroebene. In: Pavica Mrazović; Wolf-
zur Umstrukturierung der zugrunde gelegten gang Teubert (Hg.): Valenzen im Kontrast. Ulrich
Modellvariante führen. Engel zum 60. Geburtstag. Heidelberg, 218⫺233.
⫺ (1993): Der partizipiale Anschluß von Substan-
5. Literatur in Auswahl tivergänzungen im Ungarischen. Überlegungen zu
einem Problembereich des deutsch-ungarischen
Ágel, Vilmos (1993): Valenzrealisierung, Finites Substantivvalenzvergleichs. In: Péter Bassola; Re-
Substantiv und Dependenz in der deutschen Nomi- gina Hessky; László Tarnói (Hg.), 221⫺232.
nalphrase. Hürth-Efferen.
Molnár, Valéria (1991): Das TOPIK im Deutschen
⫺ (1995): Valenzrealisierung, Grammatik und Va- und im Ungarischen. Stockholm (Lunder germani-
lenz. In: ZGL 23, 2⫺32. stische Forschungen 58).
Bassola, Péter (1995): Deutsch in Ungarn ⫺ in Ge- Ruzsiczky, Éva (1976): Ungarisch-deutsche kon-
schichte und Gegenwart. Heidelberg (Sammlung
trastive Untersuchungen im verbalen Bereich der
Groos 56).
Wortbildung. In: Deutsche Sprache 4, 324⫺335.
⫺; Regina Hessky; László Tarnói (Hg.) (1993): Im
Zeichen der ungeteilten Philologie. Budapest. ⫺ (1980): Ungarisch-deutsche kontrastive Unter-
suchungen im Bereich der Bildung von Nomina.
Brdar-Szabó, Rita; Mario Brdar (1992): Kontrolle
In: János Juhász (Hg.), 123⫺140.
kontrastiv gesehen: Wegweiser zu einer Neuorien-
tierung. In: Jahrbuch der ungarischen Germanistik,
239⫺258. Rita Brdar-Szabó, Budapest (Ungarn)
43. Kontrastive Analysen Deutsch-Finnisch: eine Übersicht 429

43. Kontrastive Analysen Deutsch-Finnisch: eine Übersicht

1. Einleitung (2) Vokale. Im Finnischen ist die Opposi-


2. Laut und Schrift tion kurz vs. lang ⫺ bei gleichbleibender
3. Morphologie Qualität ⫺ sowohl in betonten als auch in
4. Wortschatz und Phraseologie unbetonten Silben relevant, im Deutschen be-
5. Syntax
6. Pragmatik
steht (bis auf wenige Ausnahmen) Qualität-
7. Literatur in Auswahl Quantität-Redundanz. Finnen haben Schwie-
rigkeiten mit den deutschen gespannten
Langvokalen, bei der Differenzierung der
1. Einleitung verschiedenen e-Laute sowie bei der Vokalre-
duktion in unbetonten Stellungen.
Das Deutsche und das Finnische sind weder (3) Diphthonge. Im Finnischen gibt es 18,
genetisch noch typologisch verwandt und im Deutschen nur drei Diphthonge. Finni-
deshalb sehr unterschiedlich: Das Deutsche sche Interferenz, eine überdeutliche biphone-
ist eine indoeuropäische flektierende Sprache matische Aussprache anstatt der deutschen
mit analytischen Tendenzen, das Finnische gleitenden Aussprache mit unbestimmter
eine finnisch-ugrische agglutinierende synthe- Schlussqualität, ist nicht kommunikations-
tische Sprache. störend.
Von den rund 5,1 Millionen finnischen (4) Konsonanten. Das Deutsche hat 24 Kon-
Staatsbürgern sprechen ca. 4,8 Millionen Fin- sonantenphoneme, das Finnische nur 13. Der
nisch und knapp 0,3 Millionen Schwedisch Anteil der Konsonanten im Redefluss beträgt
als Muttersprache. Die größte Gruppe von im Deutschen ca. 60%, im Finnischen ca.
Finnischsprechenden im Ausland, 0,3 bis 0,4 50% (vgl. Hall u. a. 1995, 35, 87). Da das
Millionen, lebt in Schweden. Finnische nur einen ⫺ von seinem Lautwert
Seit Mitte der 60er Jahre sind deutsch-fin- sehr variierenden ⫺ Sibilanten besitzt, berei-
nische kontrastive Fragestellungen Gegen- tet die Unterscheidung der deutschen s-Laute
stand wissenschaftlichen Interesses. Die vor- Schwierigkeiten. Neue Lautqualitäten für
liegende Übersicht hat das Ziel, Forschungs- Finnen sind u. a. der Ich- und Ach-Laut so-
schwerpunkte vorzustellen, kann aber nur wie die vielen deutschen /r/-Varianten. Die
eine Auswahl von Quellen berücksichtigen. Aspiration der deutschen stimmlosen Klusile
Es muss u. a. auf die Angabe von ungedruck- muss geübt werden, denn die finnischen
ten Arbeiten verzichtet werden. nicht-aspirierten /p/, /t/, /k/ werden von Deut-
schen als /b/, /d/, /g/ interpretiert. Bei diesen
wiederum sollten die Finnen mehr Stimmhaf-
2. Laut und Schrift tigkeit haben.
2.1. Aussprache (5) Phonotaktik. Im Deutschen ist Konso-
nantengemination nicht vorhanden, im Fin-
Neuere Gesamtdarstellungen der deutschen
nischen wird sie im Inlaut systematisch aus-
Phonetik mit deutsch-finnischen kontrastiven
genutzt. Da im Finnischen Konsonanten-
Abschnitten liegen mit Hakkarainen (1995)
gruppen im An- und Auslaut blockiert sind
und Hall u. a. (1995) vor. Von älteren Arbei-
und die deutschen Kombinationen insgesamt
ten sei die kontrastiv-didaktische Darstellung
vielfältiger sind, müssen ganz neue motori-
von Erämetsä/Klemmt (1974) erwähnt. Auf
sche Abläufe gelernt werden. Aufmerksam-
Paradigmatik und Syntagmatik der Vokale
keit verdient auch der Knacklaut als Grenz-
geht Iivonen kontrastiv (1997) ein. Kombina-
signal vor anlautendem Vokal.
torik, Koartikulation und Prosodie stehen im
(6) Schnellformen. Finnen haben Schwierig-
Mittelpunkt u. a. bei Schmidt (1974) und
keiten mit „schwachen Formen“, Assimilatio-
Fuchs (1985). Unterschiede in der Fragein-
nen und Elisionen in den stark reduzierten
tonation werden von Freihoff (1976) und
unbetonten Silben des Deutschen. Ihre Nicht-
Luukko-Vinchenzo (1988) erörtert; für Auf-
beherrschung kann eine sonst fließende
forderungen siehe Winkler (1989, 156⫺168).
Kompetenz überdecken, denn viele phoneti-
(1) Artikulationsbasis. Im Vergleich zum sche Fehler muten wie morphosyntaktische
Finnischen ist die deutsche Artikulationsbasis an (Fuchs 1985).
vor- und hochverlagert und die Artikula- (7) Intonation. Die finnische Intonation ist
tionsbewegungen sind kräftiger. relativ monoton und zeigt geringe Intervalle.
430 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

Stärke und Höhe sind miteinander verbun- 3.1.2. Tempus


den, und neben der Hauptbetonung am In beiden Sprachen gibt es zwei einfache
Wortanfang gibt es staccatoartige Nebenak- Tempusformen (Präsens und Präteritum/Im-
zente. Die Deutschen sprechen legatoartiger, perfekt) sowie zwei zusammengesetzte Ver-
mit größeren Intervallen und hohen Kaden- gangenheitstempora aus Hilfsverb und Parti-
zen, die Betonung ist zentralisiert und der zip II (Perfekt und Plusquamperfekt). Die
Unterschied zwischen dem Hauptakzent und Verwendung der Vergangenheitstempora ist
den reduzierten Silben groß. Eine besondere weitgehend ähnlich; auf Folgendes ist jedoch
Schwierigkeit für Finnen ist die steigende zu achten: (a) Da es im Finnischen nur ein
Frageintonation. Temporalhilfsverb gibt, bereitet die Wahl
2.2. Rechtschreibung zwischen haben und sein Schwierigkeiten. (b)
Im Finnischen steht oft das Imperfekt, wo
(1) Laut/Schrift-Zuordnung. Die finnische im Deutschen das Perfekt üblich ist (Luin
Orthographie ist fast phonematisch. Der fin- lehdestä, että … ⫺ Ich habe in der Zeitung
nische Deutschlerner muss sich daran gewöh- gelesen, dass …). (c) Bei Zeitadverbialen, die
nen, dass ein deutsches Phonem mehrere ein in der Vergangenheit angefangenes und
Schreibweisen und ein Buchstabe unter- zum Sprechzeitpunkt noch weiterverlaufen-
schiedliche Lautwerte haben kann. Schwie- des Tun oder Geschehen ausdrücken, wird im
rigkeiten machen u. a. stumme Buchstaben Deutschen das Präsens, im Finnischen das
sowie unbekannte Konsonantenverbindun- Perfekt verwendet, vgl. Ich wohne hier seit
gen. zehn Jahren ⫺ Olen asunut täällä kymmenen
(2) Zeichensetzung. Anführungszeichen und vuotta. ⫺ Im Finnischen gibt es kein eigentli-
Semikolon werden im Deutschen öfter als im ches Futur; gelegentlich werden futurische
Finnischen verwendet (Skog-Södersved 1993). Verbkonstruktionen verwendet. (Vgl. Tarvai-
Zu Unterschieden im Gebrauch des Binde- nen 1985, 53⫺68; Martin 1973, 108⫺114.)
strichs in Komposita siehe Hyvärinen (1997a).
3.1.3. Modus
3. Morphologie Von den vier morphologischen Modi in bei-
den Sprachen sind nur drei funktionell ähn-
Während die Verbmorphologie in beiden lich. Modale Inhalte können auch mit ande-
Sprachen ungefähr die gleiche Komplexität ren Mitteln umschrieben werden (Tarvainen
aufweist, ist die Nominalflexion im Finni- 1985, 68⫺85; Hyvärinen 1989, 381⫺416).
schen reicher; grammatischen Hilfswörtern
kommt eine geringere Bedeutung zu. Die fin- (1) Der Indikativ ist in beiden Sprachen der
nischen Flexionsendungen sind in der Regel neutrale Normalmodus.
eindeutig, im Deutschen kommt öfters Syn- (2) Der deutsche und der finnische Impera-
kretismus vor. tiv entsprechen sich in ihrem Kernbereich.
Das finnische Imperativparadigma ist bis auf
3.1. Das Verb die Form der 1. Person Sg. vollständig; es
Die Unterscheidung zwischen regelmäßigen gibt auch einen Imperativ Passiv. Im Deut-
und unregelmäßigen sowie zwischen trennba- schen existieren Imperativformen nur für die
ren und untrennbaren Verben sind Phäno- zweite Person; für andere Personen gibt es
mene, die im Finnischen kein Gegenstück Ersatzformen u. a. im Konjunktiv I (vgl.
haben. Winkler 1989).
(3) Wie der deutsche Konjunktiv II wird
3.1.1. Person und Numerus der finnische Konditional als „Irrealis“ ver-
Die Personalformen sind im Finnischen dis- wendet.
tinkter (Tarvainen 1985, 28⫺35). In den (4) Im Finnischen fehlt eine Entsprechung
Kongruenzregeln zwischen Subjekt und Fini- für die Hauptfunktion des deutschen Kon-
tum gibt es nur kleine Unterschiede. Anders junktivs I in der indirekten Rede.
als im Deutschen weist im Finnischen das (5) Der (heute seltene) finnische Modus der
Partizip II der zusammengesetzten Vergan- Vermutung, der Potential, hat keine morpho-
genheitstempora Numeruskongruenz auf. Als logische Entsprechung im Deutschen. In bei-
Höflichkeitsform fungiert im Finnischen die den Sprachen können Verbindungen aus
2. Person Pl. Zum Anredeverhalten vgl. auch Modalverb ⫹ Infinitiv als „analytische Modi“
Kap. 6. ⫺ Zur Negation als Teil der finni- verschiedene Sicherheitsgrade ausdrücken. Im
schen Verbflexion siehe Kap. 5.5.2. Deutschen unterscheiden sich solche subjek-
43. Kontrastive Analysen Deutsch-Finnisch: eine Übersicht 431

tiv-epistemischen Modalverbverbindungen in den- bzw. Vorgangspassiv und das sein- bzw.


den zusammengesetzten Vergangenheitstem- Zustandspassiv. Im Finnischen liegt keine
pora auch formal von den objektiv-deonti- entsprechende Abstufung vor. Nach Bartsch
schen, im Finnischen fällt beides zusammen, (1985, 108f.) wird das sein-Passiv im Präsens/
vgl. Er kann noch nicht weggegangen sein Präteritum 95prozentig durch Perfekt-/Plus-
(subjektiv) / Er hat noch nicht weggehen kön- quamperfektformen des finnischen Passivs
nen (objektiv) ⫺ Hän ei ole voinut vielä lähteä übersetzt, was durch die resultative Kompo-
(subjektiv/objektiv). nente bei den letzteren erklärt werden kann.
In der anderen Richtung fällt die Wahl zwi-
3.1.4. Genus verbi schen Vorgangs- und Zustandspassiv den
Die großen Unterschiede zwischen dem deut- Finnen schwer.
schen und dem finnischen Passiv haben (4) Im Finnischen sind alle Verben, die ein
mehrere kontrastive Studien angeregt. Valli menschliches Subjekt haben können, passiv-
(1971) erörtert die mediale Verwendung des fähig. Im Deutschen gibt es mehr Restriktio-
deutschen Passivs als Äquivalent von finni- nen. Siehe Hyvärinen (1996).
schen abgeleiteten Intransitiva. Die bisher (5) Im Deutschen gibt es mehr agensab-
umfassendste einschlägige Arbeit ist die Mo- gewandte Konkurrenzformen des Passivs
nographie von Bartsch (1985). Übersichts- (Bartsch 1985).
darstellungen finden sich u. a. bei Tarvainen
(1985, 36⫺43). und Martin (1973, 117⫺122). 3.2. Das Substantiv und andere Nomina
Zum Passiv in Infinitivkonstruktionen siehe Am detailliertesten werden die substantivi-
Hyvärinen (1989, 219⫺296), zur Rationalisie- schen Flexionskategorien von Tarvainen
rung der Passivrestriktionen im DaF-Unter- (1985), Järventausta (1991) und Järven-
richt Hyvärinen (1996). tausta/Schröder (1997) beschrieben.
(1) Das finnische Passiv wird synthetisch, (1) Im Finnischen gibt es weder Genera noch
das deutsche periphrastisch gebildet. Die Artikel. Artikelgebrauch, Genuszuweisung
deutschen mehrteiligen Formen (zusammen- und pronominale Genuskongruenz sind typi-
gesetzte Tempora, Erweiterungen um Modal- sche Schwierigkeiten bei finnischen DaF-Ler-
verben) bereiten Finnen Schwierigkeiten. nern.
(2) (a) Im Deutschen ist eine vollständige
(2) Eine wichtige Funktion der deutschen
Diathesenkonverse (Akkusativobjekt J Sub-
Artikelwörter besteht darin, das Substantiv
jekt; Subjekt J Agens) möglich; außerdem
als definit oder indefinit zu determinieren. Im
gibt es ein subjektloses Passiv bei intransitiven
Finnischen müssen andere Mittel, wie Kasus-
passivfähigen Verben. Das finnische Passiv ist
immer subjekt- und agenslos; das Akkusativ- wechsel (Nominativ/Akkusativ vs. Partitiv)
objekt erfährt zwar eine morphologische Ver- oder Wortstellung, verwendet werden (Jär-
einfachung, wird aber nicht zum kongruenz- ventausta 1991, 87⫺143).
auslösenden Nominativsubjekt. Dies erklärt (3) Den finnischen 15 Kasus stehen im
die häufigen Kongruenzfehler der Finnen in Deutschen nur vier Kasus gegenüber. Die
deutschen subjekthaltigen Passivsätzen. Bei deutschen Entsprechungen der finnischen
deutschen subjektlosen Passivsätzen fällt die Lokal- und sog. Marginalkasus sind oft Prä-
richtige Verwendung des (nur vorfeldfähigen) positionen. Zu den Lokalausdrücken siehe
es schwer. (b) Das maximale strukturelle Kap. 5.3.
Äquivalent des finnischen Passivs ist das (4) Während im Deutschen Artikelwort,
deutsche subjektlose Passiv ohne realisierte Adjektivattribut und Substantiv eine mono-
Agensgröße. Deutsche Passivsätze mit Agens flexivische Kette mit Arbeitsteilung bilden,
müssen durch finnische Aktivsätze wiederge- sind im Finnischen die kongruierenden
geben werden (Tarvainen 1985, 42f.). (c) Die Kasusendungen (bis auf die durch die Vokal-
finnische Passivform impliziert einen unbe- harmonie bedingte Variation) gleich. DaF-
stimmten menschlichen Täter. Deswegen wird Anfänger tendieren dazu, die finnische En-
sie oft als eine „vierte indefinite Personal- dungssymmetrie auf das Deutsche zu über-
form“ charakterisiert, die semantisch dem tragen.
deutschen man ähnelt. Finnen neigen zu einer (5) Im Deutschen bildet der Artikel den lin-
überproportionalen Verwendung der man- ken Rahmen der Nominalgruppe. Im Finni-
Form auf Kosten des Passivs. schen als einer Nicht-Artikelsprache fehlt
(3) Das Deutsche verfügt über zwei seman- eine obligatorische Rahmenstruktur. Im Fin-
tisch unterschiedliche Passivformen, das wer- nischen stehen die Attribute bis auf wenige
432 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

Ausnahmen vor dem Substantiv. Im Deut- Kopra (1980; 1989). ⫺ Metaphern und
schen sind Adjektivattribute vorangestellt, Idiommodifikationen in deutschen und finni-
während Genitivattribute normalerweise und schen Sportartikeln sind von Sorrali (1997)
Präpositionalattribute immer nachgestellt untersucht worden.
sind.
(6) Den deutschen Possessivpronomina ent-
sprechen im Finnischen Genitivformen der 5. Syntax
Personalpronomina und/oder Possessivsuf- Tarvainen (1985) bringt mit seiner kontrasti-
fixe: dein Haus ⫺ (sinun) talo ⫹ si. ven Syntax für das Sprachenpaar Deutsch-
(7) Im Deutschen werden Kardinalzahlen Finnisch eine valenzsyntaktisch fundierte be-
ab zwei als Attribut nicht flektiert und das schreibende und kontrastierende Gesamtdar-
Substantiv steht im Plural (drei Männern Da- stellung. In seinem Umkreis sind mehrere
tiv Pl.). Im Finnischen steht das Substantiv kontrastive Arbeiten entstanden: Piitulainen
im entsprechenden Fall im Singular, und es (1981; 1983) befasst sich mit der Adjektivsyn-
gilt Kasuskongruenz (kolmelle miehelle Alla- tax, Järventausta (1991) mit der Semantosyn-
tiv Sg.). Ausnahmen sind Nominativ und Ak- tax des Subjekts und Hyvärinen (1989; 1995)
kusativ: die Kardinalzahl fungiert als Kopf mit der Infinitivsyntax; zur Phraseosyntax
der Phrase und bindet ein Substantiv im Par- siehe Einzelbeiträge bei Korhonen (1995;
titiv Sg. an sich (kolme miestä). 1996). ⫺ Anderer Provenienz sind die Infini-
tivuntersuchung von Hartung (1983) und die
Studien zu Adverbialsyntax sowie satzwerti-
4. Wortschatz und Phraseologie
gen Sequenzen von Itälä (1984; 1985; 1988).
Wenn von historischer Lehnwortforschung Im Rahmen des Satzmodus-Konzepts haben
und rein lexikographischen Arbeiten abgese- Luukko-Vinchenzo (1988) für Fragen und
hen wird, gibt es nur wenige vergleichende Winkler (1989) für Aufforderungen gründli-
Arbeiten zum Wortschatz im Allgemeinen. che Parallelbeschreibungen geliefert.
Das zweiteilige Lehr- und Übungsbuch zur 5.1. Subjekt
Lexikologie von Kostera (1996; 1997) ist
kontrastiv angelegt. Martin (1973) themati- Järventausta (1991) hebt u. a. folgende Ge-
siert u. a. lexikalische Interferenzen und die meinsamkeiten und Unterschiede im Subjekt-
im Vergleich zum Deutschen größere Nei- gebrauch hervor:
gung des Finnischen, Fremdwörter durch hei- (1) Syntaktische Valenz. In beiden Sprachen
mische Nachbildungen zu ersetzen. In seiner selegieren die meisten Verben ein obligatori-
phonotaktischen Analyse der Wortgestalt sches Subjekt. Im Finnischen kommt sowohl
konstatiert Schmidt (1974), dass die finni- primäre als auch sekundäre Subjektlosigkeit
schen Wörter länger sind als die deutschen. häufiger vor als im Deutschen.
In beiden Sprachen sind Komposition und (2) Morphosyntaktische Qualität. (a) Das
Derivation beliebte Wortbildungsverfahren. deutsche Subjekt steht im Nominativ, das fin-
Das Finnische ist reich an Wortbildungssuffi- nische im Nominativ oder ⫺ bei Negation
xen, hat aber keine Präfixe. Die Bedeutung und bei indefiniter Quantifizierung in Exis-
der deutschen Verbalpräfixe muss mit ande- tenzialsätzen ⫺ im Partitiv. (b) Die Definit-
ren (lexikalischen, syntaktischen) Mitteln heitsdetermination erfolgt beim deutschen
wiedergegeben werden bzw. unspezifiziert nominalen Subjekt durch Artikel. Im artikel-
bleiben. ⫺ Zu einigen Einzelproblemen der losen Finnisch wird sie tendenziell durch
Wortbildung siehe Hyvärinen (1997a; b). Wortstellung angezeigt; in Existenzialsätzen
Das seit 1986 laufende Phraseologiepro- sind außerdem die Nominativ/Partitiv-Oppo-
jekt von Korhonen ist das bisher größte sition und die Prädikatskongruenz entschei-
deutsch-finnische kontrastive Unternehmen dend.
in Finnland. Ein gutes Bild sowie weitere Li- (3) Semantische Rollen. In Järventaustas
teraturhinweise vermitteln die jüngst von Korpus hatten in beiden Sprachen ca. 37%
Korhonen herausgegebenen Sammelbände der Subjekte die prototypische Agensrolle
(1995; 1996). Ein praktisches Ziel des Pro- inne. Wider Erwarten war die Patiensrolle
jekts ist ein deutsch-finnisches Idiomwörter- mit rund 40% in beiden Sprachen die häu-
buch. Eine finnisch-deutsche Idiomatik liegt figste.
von Schellbach-Kopra (1985) vor. Zur kon- (4) Prototypikalität. Die Schnittmenge der
trastiven Parömiologie siehe u. a. Schellbach- prototypischen Subjekteigenschaften Nomi-
43. Kontrastive Analysen Deutsch-Finnisch: eine Übersicht 433

nativ, Definitheit, Agentivität und Belebtheit denz für die größere morphosyntaktisch-se-
war in beiden Sprachen kleiner als erwartet: mantische Transparenz des Finnischen dem
im Deutschen 26,7%, im Finnischen 18,2%. Deutschen gegenüber bringen:
5.2. Objekt (1) Je nach seiner Funktion hat das deut-
Als Objekte galten in der älteren Grammatik sche unflektierte Adjektiv im Finnischen ver-
nur Transitivobjekte (das deutsche Akkusa- schiedene weitgehend systematische Entspre-
tivobjekt, das finnische Akkusativ-/Partitiv- chungen. Die wichtigste Distinktion ist dieje-
objekt). Tarvainen (1985) weist nach, dass nige zwischen Prädikativen in verschiedenen
mit pronominaler Anaphorisierbarkeit als Kasus und Adverbialen auf die Adverben-
Abgrenzungskriterium nicht nur eine Grenze dung -sti. Die Transparenz der finnischen
zwischen den deutschen Präpositionalobjek- Prädikativkasus bedeutet in der Regel Red-
ten und -adverbialen, sondern auch zwischen undanz: Die Grundbedeutung des Prädikats-
den finnischen Lokalkasusobjekten (Illativ-, verbs wird durch den Kasus in einer Art se-
Elativ-, Allativ- und Ablativobjekt) und den mantischer Kongruenz nochmals markiert
Lokaladverbialen gezogen werden kann. Auf (Piitulainen 1981).
der Systemebene können die deutschen Prä- (2) Während im Deutschen nur in ganz we-
positional- und die finnischen Lokalkasusob- nigen Fällen die morphologische Form eines
jekte als maximale strukturelle Äquivalente vom Adjektiv abhängigen Aktanten mit der
gelten, auch wenn auf Einzelverb- oder Sub- logisch-semantischen Funktorenstruktur des
klassenebene eineindeutige Äquivalenzen Adjektivs korreliert, gibt es im Finnischen in
nicht existieren. relativ vielen semantischen Adjektivgruppen
eine deutliche Affinität zu einer bestimmten
5.3. Adverbial Aktantenform (Piitulainen 1983).
Im adverbialen Bereich sind vor allem Lokal- 5.5. Der Satz
ausdrücke Gegenstand von kontrastiven Stu-
dien gewesen, vgl. Menger (1981), Itälä 5.5.1. Wortstellung
(1984; 1985) und Tarvainen (1985). Für die deutsche Wortstellung sind die ver-
(1) Lokalrelationen werden im Deutschen bale Satzklammer, die damit verbundene
mit Präpositionen, im Finnischen hauptsäch- Feldstruktur und eine von Valenzgebunden-
lich mit Lokalkasus, oft auch mit Postposi- heit, Satzgliedhierarchie und wortartkatego-
tionen (seltener Präpositionen) ausgedrückt, rialem Status bedingte Reihenfolge hervorste-
die Äquivalenzbeziehungen sind jedoch kei- chende Merkmale. Im Finnischen erlaubt die
neswegs eineindeutig (vgl. Menger 1981). Die reiche Morphologie eine viel freiere Wortstel-
finnischen Lokalkasus bilden Dreierreihen lung. Schwierigkeiten bereiten die strenge
mit Wo-, Wohin- und Woher-Relation, und Verb-Zweit-Regel in deutschen Aussage- und
einige Postpositionen können zusätzlich die Wortfragesätzen, denn im Finnischen können
Wolang-Relation explizieren. Deutsche Prä- mehrere Satzglieder vor dem Finitum stehen,
positionen sind auf nur zwei oder eine Rela- sowie die Verb-Letzt-Stellung in deutschen
tion fixiert (Itälä 1985). Nebensätzen, denn finnische Haupt- und Ne-
(2) Lokale Richtungsphänomene werden bensätze unterscheiden sich in der Wortfolge
zum Teil unterschiedlich versprachlicht. Hier- nicht. Deutsche Verb-Erst-Sätze haben ihr
her zählen die im finnischen DaF-Unterricht Gegenstück in finnischen Satzfrage- und Im-
so genannten deutschen Wo-Verben, deren fin- perativsätzen. Zu Details siehe Tarvainen
nische Entsprechungen implikatonsbedingt (1985, 344⫺392).
entweder mit einem Woher- (z. B. finden ⫺
5.5.2. Negation
löytää) oder einem Wohin-Ausdruck (z. B.
ankommen ⫺ saapua) verbunden werden. Die Unterscheidung zwischen der deutschen
Außerdem können im Finnischen viele Ver- Satz- und Sondernegation, die Wahl zwischen
ben, z. B. väsyä ,sich ermüden‘, mit Hilfe ei- nicht und anderen Negationswörtern (kein,
ner Valenzerweiterung um ein Wohin-Adver- nie, niemand …) und die Stellung von nicht
bial zu „lokal-resultativen“ Verben umfunk- bereiten Finnen Schwierigkeiten, da die finni-
tioniert werden (Itälä 1985, 264). sche Negation grundverschieden ist. Laut
Lindgren (1974) ist die deutsche Negations-
5.4. Adjektivsyntax partikel nicht morphosyntaktisch eine Wort-
Von Piitulainen stammen zwei kontrastive negation; eine semantisch-funktionelle Satz-
Adjektivmonographien (1981; 1983), die Evi- negation könne durch einen maximalen Ne-
434 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

gationsskopus über das Prädikat erreicht Studie von Tiittula (1994) zu Argumentation
werden. Das finnische Negationssystem funk- und Bewerten in Leitartikeln sowie die Ana-
tioniere genau umgekehrt: Die finnische Ne- lyse von Telefongesprächen des Typs ,Aus-
gation ist immer ein finites Verb und somit kunft erbitten‘ von Liefländer-Koistinen/
die oberste Form im Prädikatskomplex. Da Neuendorff (1991). Auf Prospektwerbung
die Verneinung immer im Prädikat erfolgt, sei geht Koskensalo (1995) kontrastiv ein. An-
sie morphosyntaktisch betrachtet eine typi- hand eines größeren Korpus stellt Piitulai-
sche Satznegation. Die freie Wortstellung des nen (1993) fest, dass deutschsprachige Todes-
Finnischen ⫺ zusammen mit markierter Be- anzeigen texthaftiger und expliziter sind als
tonung und besonderer Wortwahl ⫺ erlaube finnische. Unterschiede gibt es u. a. im Aus-
aber eine Fokussierung der Negation auf nur drücken von Bewertungen und Emotionali-
einen Teil des Satzes, so dass funktionell eine tät, in der Variationsbreite und Direktheit der
Sondernegation entsteht. Ausdrücke für das Sterben, im Gebrauch von
performativen Verben sowie in der Verwen-
5.5.3. Der zusammengesetzte Satz dung von Titeln und Namen.
Die deutschen und die finnischen zusammen- (3) Interkulturelle Kommunikation. Seit ca.
gesetzten Sätze sind nur unter dem Aspekt zehn Jahren stehen Probleme der deutsch-
der Subordination kontrastiert worden. Tar- finnischen Kommunikation zunehmend im
vainen (1985) betrachtet Nebensätze und In- Blickpunkt des Forschungsinteresses. Ein gu-
finitkonstruktionen in der Valenzdistribution tes Bild vom Stand der Forschung vermitteln
des Verbs. Itälä (1988) entwickelt ein bilateral u. a. Tiittula (1995 a; b; 2000), Schellbach-
einsetzbares akribisches Beschreibungssystem Kopra (1991), Muikku-Werner (1992) und
für die Beurteilung des Satzgrads von sub- Salo-Lee/Winter-Tarvainen (1995).
ordinativen satzwertigen Sequenzen, wobei Relativ zueinander vertreten Finnen eine
„übereinstimmende Modelltypizität nicht not- High-Context-Kultur, die Selbstverständlich-
wendigerweise auch Anwendungsäquivalenz keiten nicht expliziert, und Deutsche eine
beinhaltet“ (Itälä 1988, 206). Hartung (1983) Low-Context-Kultur, die mehrfache Redun-
gruppiert die deutschen Infinitivkonstruktio- danzen in Kauf nimmt. Finnen gehen mit me-
nen nach semantischen Gesichtspunkten und takommunikativen Äußerungen und Hörer-
fragt nach ihrer Satzgliedfunktion und den signalen sparsamer um und zeigen eine grö-
jeweiligen finnischen Entsprechungen, die ßere Schweigetoleranz. Auch proxematisch
zum größten Teil ebenfalls Infinitive, aber sind Finnen an größere Abstände gewöhnt.
auch Partizipien, Verbalsubstantive und Ne- In den Direktheitskonventionen und der Dis-
bensätze sind. Hyvärinen (1989; 1995) ver- senstoleranz gibt es Unterschiede.
gleicht die Infinitive u. a. unter dem Aspekt Große Unterschiede gibt es im Anrede-
der Kontrolle (logisches Subjekt der Infinitiv- und Höflichkeitsverhalten. Eine typische
handlung) und trennt die kontroll- und va- Form der finnischen formellen Anrede ist die
lenzneutralen Infinitivverbindungen in Prädi- mit dem bloßen Nachnamen, und zwar
katsteilfunktion von solchen, in denen das gleichwohl für Männer und Frauen, während
Infinitivsyntagma als valenzgebundenes Satz- im Deutschen die geschlechtsmarkierende
glied fungiert. Anrede mit Titel und Nachname üblich ist. In
Finnland ist Duzen auch unter Unbekannten
6. Pragmatik weit verbreitet; die Höflichkeitsform (2. Per-
son Plural) wird oft als steif und altmodisch
(1) Abtönungspartikeln. Auf einige Äquiva- empfunden. Zu ihrer Vermeidung werden an-
lenzaffinitäten zwischen den in beiden Spra- dere distanzschaffende Strategien eingesetzt.
chen polysemantischen Abtönungspartikeln Im Allgemeinen spielt negative Höflichkeit
und auf ihre situationsangemessene Verwen- mit vielerlei Vermeidungsstrategien im Finni-
dung sind u. a. Kärnä (1983), Abraham/ schen eine große Rolle.
Wuite (1984) und Liefländer-Koistinen (1990)
eingegangen. Zu satzmodusspezifischen Rest-
riktionen siehe Luukko-Vinchenzo (1988) 7. Literatur in Auswahl
und Winkler (1989). Abraham, Werner; Eva Wuite (1984): Kontrastive
(2) Textsorten. Die kommunkationsorien- Partikelforschung unter lexikographischem Ge-
tierte Textlinguistik hat mehrere kontrastive sichtspunkt: Exempel am Deutsch-Finnischen. In:
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43. Kontrastive Analysen Deutsch-Finnisch: eine Übersicht 435

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schaftskommunikation kontrastiv. Frankfurt/M.
⫺ (1991): ,Ei kiittämistä!‘ ⫺ ,Nichts zu danken!‘ Zur etc., 63⫺93.
Höflichkeitsphraseologie im Finnischen und im Valli, Erkki (1971): Zur Bedeutung und Verwen-
Deutschen. In: Christine Palm (Hg.): EURO- dung des deutschen Passivs (vom Finnischen aus
PHRAS ’90. Uppsala, 211⫺223. gesehen). In: DaF 8, 232⫺234.
Schmidt, Kurt (1974): Ein Vergleich phonotakti- Winkler, Eberhard (1989): Der Satzmodus „Impe-
scher Strukturen des Deutschen und Finnischen. rativsatz“ im Deutschen und im Finnischen. Tübin-
In: Nordeuropa Studien 7, 111⫺119. gen (Linguistische Arbeiten 225).
Skog-Södersved, Mariann (1993): Semikolon,
Doppelpunkt und Anführungszeichen im Wirt- Irma Hyvärinen, Helsinki (Finnland)

44. Kontrastive Analysen Deutsch-Türkisch: eine Übersicht

1. Einleitung Deutschland begonnen und in den achtziger


2. Kontrastive Beschreibung im Dienste des Jahren seine Blütezeit erlebt (vgl. Cimili/Har-
Deutschunterrichts kort 1976; Gabriel-Hess 1979; Meyer-Ingwer-
3. Zur Lexik und Wortbildung im Deutschen
und Türkischen
sen 1975 u. a.). Ausgangspunkt der kontrasti-
4. Kontrastive Studien aus linguistischer Sicht ven Arbeit war die Situation der Gastarbeiter
5. Kontrastive Semantik und Pragmatik und ihrer Kinder, insbesondere ihrer Schwie-
6. Schlussbemerkungen rigkeiten mit der deutschen Sprache in der
7. Literatur in Auswahl Schule. Durch Beobachtungen, empirische
Untersuchungen in der Schule und durch
1. Einleitung den systematischen Vergleich beider Spra-
chen wurden die Besonderheiten herausgear-
Der deutsch-türkische Sprachvergleich hat beitet, die beim Erlernen der deutschen Spra-
sowohl in Deutschland als auch in der Tür- che in Deutschland dem türkischen Lerner
kei im Zuge der Arbeitsemigration nach schwerfallen. Auch spezifische Fehler türki-
44. Kontrastive Analysen Deutsch-Türkisch: eine Übersicht 437

scher Gastarbeiter und ihrer Kinder in der dass die Schüler in beiden Sprachen von den
deutschen Sprache wurden zur kontrastiven sprachlichen Normen abweichende, individu-
Analyse herangezogen. In der Türkei bezie- elle Regelsysteme gebildet haben (vgl. hier
hen sich kontrastive Analysen überwiegend auch Tekinay 1987a; b).
auf syntaktische und phonologische Aspekte Diese Analyse könnte für den türkischen
(Selen 1970; Ergenç 1984). Die Analyse lexi- deutschlernenden Schüler in Deutschland ei-
kalischer semantischer und pragmatischer nen großen Beitrag leisten, wenn der lingui-
Kontraste ist demgegenüber in gewisser stische Befund auf die sprachdidaktischen
Weise vernachlässigt worden, obwohl sie für Zielsetzungen der einzelnen Lehrwerke über-
das Fach Deutsch als Fremdsprache von gro- tragen würde.
ßer Bedeutung sein dürfte. (vgl. Sözer-Huber
1994). Eine Ausnahme bildet hierbei Kuglin
(1978), der die Tatsache erwähnt, dass in bei- 3. Zur Lexik und Wortbildung im
den Sprachen ungleiche Quantitäten und Deutschen und Türkischen
Qualitäten vorliegen. Ilkhan (1986) verweist
auf das Problem, dass semantisch eindeutige Die deutsch-türkischen Kontraste in Lexik
Sätze in der Ausgangssprache in der Überset- und Wortbildung wurden sowohl semantisch
zung in die Zielsprache mehrdeutig werden. als auch morphologisch in synchronischer
In diesem Aufsatz wird nun ein Überblick Weise untersucht (Ülkü 1980; Mungan 1993;
über eine Auswahl von Aufsätzen zum Aktas 1993).
Thema der deutsch-türkischen kontrastiven Die Analyse des deutsch-türkischen
Analyse versucht. Sprachvergleichs ist von besonderem Inter-
esse, weil es sich um zwei Sprachen handelt,
die beide das Präfix, das Suffix und das Bil-
2. Kontrastive Beschreibung im dungsverfahren von Flexemen, die eine Wort-
Dienste des Deutschunterrichts form bilden, aufweisen. Ülkü ordnete in sei-
ner Arbeit die Präfixe und Suffixe nach der
Die analytisch-vergleichende Erforschung der semantischen Kategorie und beschreibt die
deutschen und der türkischen Sprache wurde jeweils dazugehörenden Bedeutungen und
auf Grund der Interferenzfehler durchge- Bedeutungsveränderungen und ihre Entspre-
führt. Cimilli/Liebe-Harkort (1976), Meyer- chungen in beiden Sprachen. Mit Hilfe der
Ingwersen u. a. (1977), Gabriel-Hess (1979) Grammatik und dem onomasiologischen
gehen entweder auf mögliche Fehler oder auf Herangehen legt er äquivalente Bedeutungen
Schüleräußerungen ein. Auf diese Weise ver- und ihre Entsprechungen in beiden Sprachen
suchten sie, eine linguistische Fehlerdiagnose fest. Er kommt zu dem Schluss, dass die Af-
und Fehlertherapie aufzustellen. In diesen fixsysteme im Deutschen und Türkischen un-
Arbeiten wird zur Lexik, Grammatik und zu terschiedlich sind. Die Präfixe sind im Deut-
den Verben in kontrastiver Hinsicht Stellung schen häufiger als im Türkischen, während
genommen. Die Autoren verweisen auf die die türkische Sprache reich an Suffixen ist.
systemgerechte Bildung von Sätzen und auf Diese Tatsache führt bei der wechselseitigen
den kompatiblen Gebrauch von Lexik in der Wiedergabe zu semantischen Problemen.
jeweiligen Sprache. Ülkü und Mungan haben sich in ihren Arbei-
Kuglin (1978, 55) verweist ⫺ abgesehen ten mit diesem Problem beschäftigt. Zum
von Gabriel-Hess ⫺ auf die einseitige Aus- Beispiel wird bei der Wiedergabe von Präfi-
richtung dieser Arbeiten. Die Autoren „gehen xen im Türkischen durch Hinzufügung eines
von kontrastivischen Ansätzen aus, erheben Adverbs, eines anderen Verbs oder eines an-
jedoch in keiner Komponente Anspruch auf deren Gerundiums Folgendes erreicht: „auf-
Vollständigkeit der Beschreibung“. blicken/yukarı bakmak; auflachen/birdenbire
Aytemiz (1990, 70⫺128) untersucht in sei- gülmek; aufsteigen/yukarı çıkmak; aufgraben/
nem Buch Sätze türkischer Schüler und ihre kazarak açmak“ (vgl. Ülkü 1980, 43; Mungan
Sprachkompetenz im Türkischen und Deut- 1993, 252⫺253).
schen. Er stellt einen Fehlerkatalog auf, an- Aktaş (1993) stellt in seinem Aufsatz mit
hand dessen er Orthographie, graphemati- vielen Beispielen die Übereinstimmungen und
sche Substitution, den nominalen Bereich, die Abweichungen bei den zusammengesetzten
Partikeln, die Präpositionen, die Tempora, Wortbildungen heraus. Einige zusammen-
die Verben u. a. grammatische Kategorien gesetzte Wortbildungen im Deutschen und
kontrastiert. Er kommt zu dem Ergebnis, Türkischen zeigen die gleichen lexikalischen
438 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

und semantischen Merkmale wie das Wort- ihren morphosyntaktischen Beschreibungen


bildungsverfahren selbst. Zum Beispiel die und Bedeutungserklärungen. Das zweispra-
Zusammensetzung Adjektiv ⫹ Substantiv: chig angelegte Wörterbuch wurde mit Hilfe
schnell [hızlı], Zug [tren]: Schnellzug [hızlı der Dependenzgrammatik abgefasst. Daher
tren]; Verb ⫹ Substantiv: schreiben [yaz- dient dieses Wörterbuch sowohl Deutschler-
mak], Maschine [Makina]: Yazı Makinası nern als auch Türkischlernern.
u. a.
Angesichts der Äquivalenz der Wortbil-
4. Kontrastive Studien aus
dung und Wortbildungsverfahren im Deut-
schen und Türkischen könnten für das Fach linguistischer Sicht
DaF in der Türkei didaktische Schlüsse gezo- Im Rahmen der vorliegenden kontrastiven
gen werden. Ein kontrastiver Wortbildungs- Arbeiten lassen sich Teilsystembeschreibun-
unterricht könnte hier von Vorteil sein. gen der traditionellen Grammatik anführen.
Die kontrastive Arbeit von Kristinus Hier sind Sebüktekin (1990, 208⫺210) und
(1981) basiert auf einer inhaltsbezogenen Kurt (1995, 118⫺149) zu erwähnen. Beide
Sprachauffassung, die anhand ihres alphabe- Autoren befassen sich mit den Tempora im
tisch geordneten Materials Erklärungen zu Deutschen und Türkischen, jedoch mit unter-
sprachlichen Kontrasten mit Beispielsätzen schiedlichen Zielsetzungen. Kurt geht von ei-
gibt. Die zahlreichen Verben und deren ab- nem semantischen und pragmatischen Aus-
hängige Präpositionen erscheinen im Türki- gangspunkt aus, während Sebüktekin als Ziel
schen allgemein als Postposition oder nur als die Übersetzung zu Grunde legt. Nach einer
Kasusendung. Als Basis für diesen Sprach- systematischen Beschreibung der Tempora
vergleich wurden die Schwierigkeiten bei der im Deutschen und Türkischen zeigt Kurt in
Übersetzung aus dem Türkischen ins Deut- seiner Arbeit, unabhängig von einem Aspekt-
sche zu Grunde gelegt (Kristinus 1981, 1). Je- gebrauch der Verben, die elf Tempora im
doch zeigt sich hier ein bemerkenswerter Türkischen, denen sechs Tempora im Deut-
Mangel an didaktischen Konzeptionen für schen entsprechen. Diese Tempora werden
das Fach DaF. Sicherlich wären solche Kon- nach Kurt als perfektiv vs. imperfektiv einge-
trastierungen für den Lerner gewinnbringen- ordnet. Die perfektiven Aspekte der Tempus-
der, wenn sie greifbare Beschreibungskrite- formen des Deutschen sind: Perfekt, Plus-
rien aufweisen würden. quamperfekt und Futur II, im Türkischen
Die Verben mit ihren Präpositionen und hingegen bestimmtes Perfekt, unbestimmtes
ihre Wiedergabe im Türkischen wurden auch Perfekt I, unbestimmtes Perfekt II, bestimm-
von Ozil (1980) aufgegriffen. Sie geht in ih- tes Plusquamperfekt, bestimmtes Futur II
rem Artikel auf diese Verben und ihre Wertig- und unbestimmtes Futur II. Dem imperfekti-
keiten ein und stellt Abweichungen beider ven Aspekt der deutschen Tempora Präsens,
Sprachen fest. Im Türkischen werden die Präteritum und Futur I werden die türki-
deutschen Präpositionen durch Suffixe, die schen Tempora Präsens, bestimmtes Präteri-
den Zustand bestimmen, wiedergegeben. Zu tum, unbestimmtes Präteritum und Futur I
manchen Verben werden obligatorisch noch zugeordnet.
andere Lexeme wie „ile, doğru, kadar“ zuge- Sebüktekin versucht in seiner Arbeit, die
fügt (vgl. auch Tekinay, 1987c). Tempora auf Grund der Gleichzeitigkeit,
Abdülhayoğlu (1990, 24) nahm in seinem Vorzeitigkeit, Nachzeitigkeit und nach der
Wörterbuch die türkischen Verben auf der grammatischen Progression zu kontrastieren,
Basis der Valenztheorie und ihrer Wiedergabe in der keine systematische Abgrenzung der
im Deutschen auf. Die türkischen Verben Syntax, Semantik und Pragmatik vollzogen
werden in ihren lexikalischen Bedeutungen ist. Der angeführte Übersetzungsvergleich
und mit ihren weiteren kopulativen Funktio- vom Türkischen ins Deutsche ist zwar sehr
nen mit der deutschen Sprache vergleichend reichhaltig an Tempora, aber zu dieser Prob-
beschrieben. Für die betreffenden Verben lematik wird keine Stellung genommen.
wurden Kasusendungen und Ergänzungen Aktas (1992) kontrastiert in seinem Auf-
sowie zweisprachige Beispielsätze aufgeführt. satz das deutsche und das türkische Präsens.
Daher dient dieses Wörterbuch einerseits als Mit dem analytischen Verfahren der kontra-
Stilwörterbuch, andererseits auch als Nach- stierten Sätze zeigt er, dass das deutsche Prä-
schlagewerk für die Übersetzung. sens im Türkischen mit dem Verblexem ⫹
Das deutsch-türkische Wörterbuch von „-yor“ und auch mit dem „-r“-Präsens (Ao-
Ozil (1990) umfaßt 292 deutsche Verben mit rist) wiedergegeben werden kann.
44. Kontrastive Analysen Deutsch-Türkisch: eine Übersicht 439

Çobanoğlu (1993) vergleicht in seinem gabe durch „kim“ (wer) und „ne“ (was) mög-
Buch türkische und deutsche Substantive und lich, während das Prädikat dann die Endung
Verben in Morphologie und Syntax. Er weist „se/sa“ des Bedingungssatzes erhält. Wenn
darauf hin, dass die türkischen Substantive das Bezugswort unbestimmt ist, erfolgt die
mit 24 Morphemen auf Grund ihres sprachli- Wiedergabe durch das unbestimmte Objekt
chen Charakters fast genau analysiert werden „yer“ (Ort, Platz, Stelle): „Er fuhr, wohin er
können. Dagegen kann die deutsche poly- wollte“ (İstediği yere gitti).
funktionale Substantivflexion mit Hilfe von Akerson (1993) geht von der funktionellen
4 Morphemen beschrieben werden. Deutsch- Grammatik aus und versucht, die Funktion
türkische syntaktische Unterschiede schildert der türkischen Relativkonstruktion in die
er auch in seiner Arbeit. Er führt aus, dass grammatische Form umzusetzen. Sie stellt
die deutschen Nebensätze im Türkischen, die fest, dass die Relativkonstruktion im Türki-
auch Ergänzungen der Hauptaussage ge- schen sehr von dem Deutschen differiert. Die
nannt werden, meist durch Nominalisierun- türkischen Relativkonstruktionen haben be-
gen, Partizipien oder durch Gerundien ausge- stimmte konkrete Leerstellen, und sie können
drückt werden (vgl. auch Abdülhayoğlu von der Relativkonstruktion sowohl indefinit
1983). als auch definit interpretiert werden. Ist die
Kuglin (1981a) geht auf das Thema „mar- Leerstelle als indefinit akzeptiert, so ist die
kiert“ vs. „unmarkiert“ ein und gibt auf Relativkonstruktion „restriktiv“. Wenn sie
Grund der quantitativen und qualitativen aber als definit akzeptiert wird, so ist die Re-
Analyse Denkanstöße. Die Markiertheit/Un- lativkonstruktion eine „appositive“.
markiertheit durch bestimmte und unbe- Ozil (1993) verwendet die analytische
stimmte Artikel oder durch Tempus-Modus- Grammatik und beschreibt die Unterschiede
Markierungen sind im Türkischen völlig an- anhand ausgewählter Beispielsätze. Nach sy-
ders. Zum Beispiel kommt bei dem Gebrauch stematisch gebildeten Sprachenpaaren und
der Artikel im Türkischen anstatt der gram- Erklärungen von Relativkonstruktionen liegt
matischen Bedeutung durch Satz- oder Text- im Türkischen eine starke Nominalisierung
kontext die Artikelfunktion zur Sprache. vor. Die verbalnominalen Konstruktionen
Hansen (1995) analysiert „die deutschen können im Türkischen wie lexikalische Sub-
Artikel und ihre Wiedergabe im Türkischen“. stantive behandelt werden, während sie im
Durch die kontrastive Analyse stellt er unter Deutschen durch Relativsätze mit pronomi-
anderem fest, dass im Türkischen die Definit- nalen Bezugswörtern ausgedrückt werden.
heit durch textuelle Identifizierbarkeit signa- Rollfs (1993) geht auf die Fehleranalyse
lisiert wird. Dem deutschen unbestimmten von Relativsatzbildungen bei türkischen
Artikel entspricht das Lexem „bir“, welches Deutschlernern ein. Sie kommt zu dem Er-
relevante Diskursreferenten markiert. Es gebnis, dass die deutschen Sätze auf Grund
kann bei Irrelevantem fakultativ ausgelassen unterschiedlicher Sprachauffassungen von
werden. Bei der Wiedergabe von bestimmtem türkischen Lernern als Hauptsätze verstan-
und unbestimmtem Artikel wurde angedeu- den werden. Die häufig auftretenden Fehler
tet, sind die Auslassung von Relativpronomen,
die Verwendung eines falschen Genus, ein fal-
„… dass das Türkische tendenziell den Kern der
funktionalen Kategorie der Definitheit an der
scher Kasus und die Anwendung des Sub-
Oberfläche markiert, während die Peripherie un- junktors „dass“.
markiert bleibt“ (Hansen 1995, 61). Wegeras (1995) empirische Studie basiert
auf den Genus-Fehlern der türkischen Ger-
Eine der wichtigsten Kontrastierungen manistik-Studenten. Die Fehlerquellen sind
nimmt der Relativsatz im Deutschen und auf die Muttersprache zurückzuführen, da
Türkischen ein. Tekinay (1987d) behandelt in die türkische Sprache keinen bestimmten Ar-
ihrem Aufsatz die Relativsätze nach der tikel kennt, ihr aber unbestimmte Markierun-
strukturellen Auffassung. Sie geht von der gen (genusneutral) zur Verfügung stehen. Die
deutschen Sprache aus und ordnet die Rela- deutschen Substantive, die einer morphologi-
tivsätze nach der Wiedergabemöglichkeit im schen Regel unterliegen, sowie die Substan-
Türkischen. Sie betont, dass die Relativsätze tive, die auf -heit, -keit, -ung, -chen enden,
im Türkischen teils durch das Partizip I auf stellen die geringeren Fehlerquellen dar.
„-en/-an“, teils durch das Possessivpartizip Akerson/Ozil (1990) gehen der Valenz-
auf „-diği“ wiedergegeben werden. Bei verall- grammatik nach und zeigen die Gemeinsam-
gemeinernden Relativsätzen ist die Wieder- keiten und Unterschiede der Satzbaupläne im
440 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

Deutschen und Türkischen. Sie heben hervor, anderer deutlicher Unterschied sind die Leer-
dass viele Akkusativverben wie „nehmen, stellen, für die es im Deutschen keine Ent-
kaufen, trinken“ die gleichen Satzbaupläne sprechung gibt: „abla, abi“; und die hierar-
aufweisen wie im Türkischen. Daher sind sie chische (Rang-)Bewertung in der Kommuni-
der Meinung, dass man mit diesen Verben im kation: „hocam-oğlum, bey-efendi“ u. a.
Deutschunterricht beginnen sollte. Im An- Başoğlu (1987) untersucht die türkischen
hang werden die Verben mit Ergänzungsklas- Anredeformen zum einen in semantischer
sen aufgelistet und Beispielsätze dazu angege- Hinsicht, zum anderen nach der pragmati-
ben. schen Kategorie im Vergleich zum Deut-
Ozil (1985) zeigt in ihrem Aufsatz, dass die schen. In ihrer Studie geht es nicht nur um
Präpositionalobjekte im Türkischen als kau- die Alltagskultur, die die interkulturelle Ver-
sal und postpositional ausgedrückt werden. ständigung prägt. Zusammenfassend deutet
Im Deutschen wird der Kasus von den Ver- sie an, dass
ben bestimmt, ebenso verhält es sich im Tür-
a) die nominale Anredeform nach Ge-
kischen; auch dort bestimmen die Verben den
schlechtszugehörigkeit, sozialem Stand,
jeweiligen Kasus.
Alter und Vertrautheit gewählt werde;
In dem Aufsatz von Ozil (1989) wird das
b) sich in den Anredeformen reale Abhängig-
Verb „sein“ mit seinen Entsprechungen im
keitsverhältnisse manifestieren;
Türkischen „olmak“ und „-dir“ verglichen.
c) die Veränderungen im Gebrauch der Anre-
Ozil ist der Ansicht, dass das Morphem
depronomina und wertenden Nomina auf
„-dır“ nicht wie im Deutschen funktioniert,
emotionale oder intentionale Faktoren zu-
sondern es drückt je nach Kontext die Bedeu-
rückzuführen seien (Başoğlu 1987, 298).
tung von Bestimmtheit oder Wahrscheinlich-
keit aus. Das Verb „olmak“ erscheint bei Mo- Ozil (1994) weist darauf hin, dass das Anre-
dusformen und Satztypen an der Oberflä- desystem im Deutschen feste Regeln habe, im
chenstruktur des Satzes nicht. Türkischen dagegen lasse sich Mobilität und
Flexibilität feststellen, die zu einer komple-
xen Verwendung führe.
5. Kontrastive Semantik und Liebe-Harkort (1994, 66) stellt die Pro-
Pragmatik bleme des Sprachvergleichs und der Kultur-
begegnung dar. Er meint, dass die kontrastive
Die deutsch-türkische kontrastive Analyse Linguistik für die Praxis des Sprachunter-
für die Sprachverwendung wird meiner An- richts einen sehr geringen Beitrag geleistet
sicht nach wesentlich vernachlässigt. Zwar habe. Den Entwicklungsschritt sieht er in der
gibt es eine Reihe von Untersuchungen, die Kooperation von kontrastiver Linguistik und
sich auf die Anredeform konzentrieren, mei- interkultureller Pädagogik. Er argumentiert,
nes Wissens aber liegen sehr wenige Untersu- dass das einfachste Begegnungsfeld die Wort-
chungen zu den auf die Zielsprache gerichte- bedeutungen sein könnten, „in denen sich die
ten Kommunikationsanlässen vor. In den subjektiven wie auch die objektiven Wirklich-
Anredeformen kristallisieren sich illokutive keiten der Sprecher niederschlagen“. Ab-
Äußerungen heraus, die die pragmatische schließend stellt er ein Begegnungsmodell auf
und soziologische Komponente in der Kom- der Basis von Handlung, Mitteilung und
munikation verifizieren. Wahrnehmung auf.
Kuglin (1977, 269⫺273) vergleicht in sei- Syntaktisch-semantische Analysen lassen
nem Aufsatz die nominalen und pronomina- sich bei den Sprichwörtern im Deutschen und
len Anredesysteme. Er verweist in seinem Ar- Türkischen erkennen. Tekinay (1987e) und
tikel auf die Unterschiede, welche in der Ver- Sağlam (1995) untersuchen die Sprichwörter
wendung der formellen und informellen An- nach den Satztypen und nach ihrer Tempus-
redeformen liegen. Der Übergang von der konstruktion. Sprichwörter beider Sprachen
formellen und höflichen Anredeform zu der weisen sowohl dieselben Satztypen als auch
informellen Anredeform ist im Deutschen semantische Parallelitäten auf. Diese Ge-
sehr deutlich erkennbar, während dieser im meinsamkeiten können im Fach DaF einge-
Türkischen zwanglos und ohne Ankündigung setzt werden, da sie das Erinnerungsvermö-
stattfindet. Ferner steht seiner Meinung nach gen der Lerner fördern.
die türkische Sprache „hinsichtlich der pro- Im Deutschen und Türkischen rekurriert
nominalen Anrede in einem Stadium vor der der inhaltliche Diskurs auf unterschiedliche
Konsolidierung des Solidaritätsprinzips“. Ein oder gleiche kommunikative Strategien. Auf
44. Kontrastive Analysen Deutsch-Türkisch: eine Übersicht 441

die Analyse semantisch-pragmatischer Äuße- Die Ergebnisse einer solchen Untersuchung


rungen geht İlkhan (1987) unter dem Aspekt könnten einen Beitrag zu der Diskussion
der Kontrastivität ein. Er nimmt zuerst zu über die Erreichbarkeit der (fremd-)sprach-
den türkischen Deutschlehrbüchern in kul- lichen Verständigung leisten.
turspezifischer Hinsicht Stellung und ver- Toklu (1993) kontrastiert in seiner Dok-
weist dann auf die kulturspezifischen Äuße- torarbeit die festgeprägten kommunikativen
rungen im Türkischen und Deutschen. Solche Formeln, die in bestimmten konventionali-
Kommunikationssituationen sind im Türki- sierten Situationen immer wieder vorkom-
schen und Deutschen unterschiedlich: z. B. men.
,Geçmiş olsun‘ (wörtlich: ,es soll vorbeigehen: Die Untersuchung der lexikalischen Be-
Gute Besserung!‘). Außer dem Genesungs- deutung im Deutschen und Türkischen hat
wunsch wird die Äußerung im Türkischen eine gewisse Bedeutung für das Fach DaF.
nach unangenehmen und schwierigen Situa- Yıldız (1978) geht in seiner Arbeit auf die
tionen verwendet. Differenzierungen des kulturell begründeten
In einem anderen Artikel kontrastiert İlk- Bedeutungsbegriffs ein. Er weist darauf hin,
han (1988) die Rede- und Verhaltensweisen dass die lexikalischen Beschreibungspoten-
im Deutschen und Türkischen, in denen sich tiale des Verbs „kochen“ und die „Kocharten“
die interkulturellen Gegebenheiten des Spre- sich im Deutschen und Türkischen decken.
chers niederschlagen. Bei dieser Kontrastie- Im Türkischen gibt es dagegen bei der Gegen-
rung legt er die sprachlichen Aspekte im standsbedeutung von Küchengeschirr Leer-
Kommunikationsprozess zugrunde, in denen stellen, die nicht übersetzungsäquivalent
eine Auseinandersetzung auf soziokultureller sind.
Ebene stattfindet. Yıldız (1983) untersucht das Wort „doch“
Kayayerli (1989) geht auf einige Wortbe- und meint, dass die Bedeutung des Wortes im
deutungen ein, in denen sich die unterschied- Türkischen nicht durch eine anschauliche De-
liche Alltagskultur widerspiegelt: Mäuschen finition vermittelt werden könne. Seine Be-
(tatlım, seygilim), rauchen (sigara içmek) u. a. deutung könne erst nach situativ bestimmtem
Kuglin (1979) bringt in seinem Aufsatz so- Gebrauch und nach seiner Funktion im Satz
wohl theoretische als auch praktische Kennt- bestimmt werden.
nisse linguistisch-kontrastiver Art zur Spra- Die Internationalismen im Deutschen und
che. Als Grundlage für seine Untersuchung Türkischen wurden m. E. nur von wenigen
nimmt er die Anredeformen im Deutschen Linguisten behandelt (vgl. Wegera 1994;
und Türkischen. Er meint, dass die Anrede- Balcı 1994; Kanatlı 1996). Die Etablierung
formen im Nomen als ,Aufforderung‘ ge- der Internationalismen als Gegenstand der
braucht werden können. Er kommt zu dem Linguistik geschah auf der Ebene der Lexik.
Ergebnis, dass die deutsche Sprache in der Alle Verfasser versuchen mit gleicher Zielset-
Pragmatik sehr viele Leerstellen gegenüber zung die Gemeinsamkeiten und Unterschiede
der Türkischen habe, und dies würde für tür- der Internationalismen im Deutschen und
kische Deutschlerner ein Problem darstellen. Türkischen festzustellen. Sie vertreten die
Auf die pragmatischen Interferenzen geht Meinung, dass die Internationalismen sowohl
Kuglin (1981b) ein. Er meint, dass die in den für das Erlernen einer Zweitsprache als auch
Lehrwerken dargebotene Lexik in der Regel für die interkulturelle Verständigung einen
zum Aufbau verbaler Interaktion nicht in großen Beitrag leisten können.
systematischer Weise vermittelt werde. So Einer der wenig kontrastierten linguisti-
gibt es z. B. Interferenzmöglichkeiten „bei schen Bereiche ist die Phonologie. Ergenç
unterschiedlichen Realitätskorrelationen von (1984) kontrastiert in ihrer Doktorarbeit
lexischen Elementen, die in oberflächlicher deutsch-türkische Phoneme mit der Zielset-
Übersetzungsäquivalenz zueinander stehen, zung, die Interferenzen beim Erlernen der
ebenso bei Fehlen des Realitätsbezugs eines deutschen Sprache zu vermeiden. Zunächst
Begriffs in der Gegenwelt. So wird türkisch ordnet sie die Artikulation der deutschen
arkadaş je nach Kontext jeweils durch Kol- Phoneme, verglichen mit den türkischen Pho-
lege oder Freund wiedergegeben.“ nemen, in einen theoretischen Kontext ein.
Für das Fach DaF steht im Vordergrund Dann versucht die Verfasserin, Interferenzen
die Aktivierung von interkultureller Kommu- bei ihren Probanden zu entdecken. Anhand
nikation. Selçuk (1994) versucht in seinem dieser Fehlerquellen schlägt sie Lösungen
Artikel, deutsch-türkische Verhaltens- und vor, die in die Praxis umgesetzt werden sol-
Bedeutungsunterschiede zu kontrastieren. len. Als Fehlerquellen erweisen sich beson-
442 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

ders die Akzentsetzung und die Aussprache, bungen sprachlicher Systeme hinausgehen
z. B., was „lang“, „kurz“ oder als „Murmel- und die kommunikativen Besonderheiten,
laut“ ausgesprochen werden muss. d. h. ihren Einfluss, den sie auf die Sprecher
Özen (1986) hebt die phonetischen Prob- haben, analysieren und fruchtbar machen. Si-
leme türkischsprachiger Deutschlerner her- cherlich helfen strukturelle Beschreibungen,
vor. Er geht in seinem Aufsatz auf die Tem- das Verständnis der Zielsprache zu erleich-
poverhältnisse in der Sprechgeschwindigkeit tern, wenn die funktionelle Sprachbedeutung
im Deutschen und Türkischen ein. Seine in der Ausdrucksebene eindeutig kontrastiert
These wird in der Äußerung expliziert: „In wird. Auf diese Weise kann aus den vorlie-
der Senkung wird im Deutschen schneller genden Analysen Nutzen gezogen werden.
und in der Hebung langsamer gesprochen als
im Türkischen.“ (Özen 1986, 37) Die Gründe
sind unterschiedliche Sprachstrukturen wie 7. Literatur in Auswahl
Vokalharmonie, Konsonantenverbindungen, Abdülhayoğlu, Suphi (1983): Untersuchungen zu
Orthographie und die Artikulationsgewohn- verbabhängigen Einbettungen im Deutschen und
heiten in der Muttersprache. Türkischen. Frankfurt a. Main.
Eğit (1995) vergleicht die deiktischen und ⫺ (1990): Türkisch-Deutsches Valenzlexikon. Ho-
anaphorischen Ausdrücke im sprachlichen hengehren.
Handeln beider Sprachen. Semantisch ist die
Akerson, Fatma; Şeyda Ozil (1990): Über die Syn-
Lokaldeixis mit dem Türkischen weitgehend
tax einiger Verben im Deutschen und im Türki-
identisch, aber der lokaldeiktische Ausdruck schen mit didaktischen Hinweisen. In: Dibilim,
bietet im Türkischen viele Variationsmöglich- İstanbul Üniversitesi Edebiyat Fakültesi. Yabancı
keiten. Sowohl in personal- als auch in tem- Diller Eğitim Bölümü Dergisi, 223⫺248.
poraldeiktischen Äußerungen lassen sich in Akerson, Fatma Erkman (1993): Determination
beiden Sprachen die gleichen semantischen bei restriktiven und appositiven Nominalsyntag-
Werte erkennen. men und Relativkonstruktionen im Türkischen. In:
Diyalog, 45⫺67.
6. Schlussbemerkungen Aktaş, Tahsin (1992): Semantische Beschreibung
des Deutschen und Türkischen Präsens. Eine kon-
Es liegt eine Anzahl von deutsch-türkischen trastive Analyse. In: Gazi Üniversitesi Gazi Eğitim
kontrastiven Untersuchungen vor. Der analy- Fakültesi Dergisi, 329⫺340.
tisch-vergleichende Aspekt bei der Erfor- ⫺ (1993): Almanca ve Türkçe’de Birleşik Kelime
schung wurde theoretisch konstituiert und Teşkil Etme Yöntemleri. In: Gazi Üniversitesi Gazi
begründet, aber nicht auf die Anwendbarkeit Eğitim Fak. Dergisi, 11⫺23.
im Sprachunterricht geprüft: Die Sprach- Aytemiz, Aydın (1990): Zur Sprachkompetenz tür-
strukturen beider Sprachen wurden im Hin- kischer Schüler in Türkisch und Deutsch. Europä-
blick auf DaF für türkische Lerner vergli- ische Hochschulschriften. Frankfurt a. Main.
chen, wobei dieser Vergleich der Theorie ver- Balcı, Tahir (1994): Die Fremdwortdiskussion am
haftet bleibt. Zweifellos ist dieser Vergleich Beispiel türkisch-deutscher Internationalismen im
notwendig, aber er ist keine ausreichende Wirtschaftswortschatz. In: Diyalog, 95⫺101.
Vorbedingung für DaF, wenn die Ergebnisse Başoğlu, Sylvia (1987): Anrede in türkischer Gegen-
aus der Theorie heraus nicht auf die Praxis wartsliteratur. Frankfurt a. Main.
angewendet werden können. Cimilli, Nükhet; Klaus Liebe-Harkort (1976):
Einige der vorliegenden Untersuchungen Sprachvergleich Türkisch-Deutsch. Düsseldorf.
sind Teilsystem-Beschreibungen von Spra- Çobanoğlu, Mustafa K. (1993): Türkisch-Deutsch.
chen, während der eigentlich wichtigere Morphosyntaktische Untersuchungen mit PLL
Sprachvergleich in diesen Arbeiten unzurei- (Programming language for linguistics) und ein
chend behandelt wird. Modell zur maschinellen Übersetzung. Frankfurt
Aus den kontrastierten Analysen geht a. Main.
deutlich hervor, dass in nicht-verwandten Eğit, Yadigar (1995): Deixis und Anaphora. Zur
Sprachen dieselben Denkinhalte ausgedrückt Verwendung der deiktischen und anaphorischen Aus-
werden können, auch wenn unterschiedliche drücke im Deutschen und Türkischen. Ege Üniversi-
Sprachstrukturen vorhanden sind, die sowohl tesi Edebiyat Fakültesi. İzmir.
grammatikalisch als auch lexikalisch nicht Ergenç, İclal (1984): Almanca ve Türkçe’nin ses ya-
miteinander identisch sind. Daher sollten die pılarının karsılaştırılması. A. Ü. Dil ve Tarih-Coğra-
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44. Kontrastive Analysen Deutsch-Türkisch: eine Übersicht 443

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45. Kontrastive Analysen Deutsch-Arabisch: eine Übersicht

1. Zum Stand der Sprachforschung matische Substanz des Klassischen Arabisch


2. Grundzüge kontrastiver Analysen im Modernen Hocharabisch relativ wenig
3. Literatur in Auswahl modifiziert fortgeführt wird. Die Neuerungen
bestehen insbesondere in einer stärkeren
1. Zum Stand der Sprachforschung Normierung der Modernen Hochsprache und
einer damit einhergehenden Verringerung der
Kontrastive Analysen Deutsch-Arabisch und Anzahl der praktisch zu beherrschenden Re-
umgekehrt sind im germanistischen und im geln.
arabistischen Bereich zur Unterstützung der
Ausbildung in beiden Sprachen angefertigt 1.1. Qualifizierungsarbeiten und Aufsätze
worden. Als Hilfsmittel und Referenzen ste- Abgesehen von Dissertationen und Diplom-
hen dabei neben der Auswertung von Beleg- arbeiten zur arabischen Lexik und Gramma-
material für das Deutsche etliche Grammati- tik mit kontrastiven Elementen sind vor
ken und Einzeldarstellungen zur Verfügung. allem von ägyptischen, irakischen, algeri-
Für das Moderne Hocharabisch sind umfas- schen und marokkanischen Germanisten etli-
sende Publikationen dagegen ziemlich rar, die che Dissertationen angefertigt worden, in de-
„Syntax of Modern Arabic Prose“ von Can- nen Sachverhalte der deutschen Grammatik
tarino (1974/75) bezieht sich lediglich auf die darstellt und auf vergleichbare arabische
„ältere“ moderne arabische Literatur. Die Erscheinungen bezogen werden. Als wichti-
Lehrbücher von Ambros (1969), Krahl/ ge Beiträge zur kontrastiven Grammatik
Reuschel (1974), Blohm/Reuschel/Samarraie Deutsch-Arabisch seien die Dissertationen
(1981), Fischer/Jastrow (1976) und Fischer von Ghanem (1981) zur Übersetzung deut-
(1986) behandeln ausgewählte Gebiete der scher Nominalkomposita ins Arabische, Ou-
arabischen Morphologie und Syntax, bieten bouzar (1971) zu periphrastischen Verbfor-
aber keine Gesamtdarstellung der Gramma- men im Deutschen, Imam (1974) zur Modali-
tik des Modernen Arabisch. Eine Abhand- tät im Deutschen, Morsi (1972) zur Verbva-
lung zur Phonetik und Phonologie des Mo- lenz, Abd Er-Rahman (1979) zu Verbergän-
dernen Hocharabisch hat Kästner (1981) vor- zungen und von Bouzada (1986) zu Verben
gelegt. Häufig werden ⫺ auch bei kontrasti- der Fortbewegung im Deutschen, Arabischen
ven Darstellungen ⫺ Rückgriffe auf Gram- und Französischen genannt. Gleichfalls her-
matiken des Klassischen Arabisch vorgenom- vorgehoben werden sollen die Studien von
men, was im Prinzip zulässig ist, da die gram- Abd Er-Rahman (1987) und Msellek (1989)
45. Kontrastive Analysen Deutsch-Arabisch: eine Übersicht 445

zu deutschen und arabischen Verben im Zu- Erarbeitung einer Fachdidaktik „Deutsch als
sammenhang mit der Valenztheorie und zur Fremdsprache“ und von Deutschlehrbüchern
Theorie des Wortfelds sowie zu den deut- für Araber zu schaffen (El Korso 1978; 1985;
schen Präpositionen zu und von und deren Abou Hattab 1989; Seddiki 1992). Wichtige
arabischen Äquivalenten, von Abou Hattab Themenbereiche sind die phonetischen und
(1981) zur Verwendung deutscher und arabi- lexikalischen Interferenzen (Abou Hattab
scher finiter Verbformen, von Sayim (1982) 1976; 1989; Schade 1989; Beldjehem 1984),
zu Fragen der Satzsyntax, von Taraman die Arbeit zur Entwicklung des Wortschatzes
(1986) zur Übersetzung von Phraseologismen (Seddiki 1992) und Grundsatzfragen der
und Stock (1989) zur Übersetzung von arabi- Lehrbuchgestaltung. Dabei fordern Abou
schen Metaphern ins Deutsche. Die Sprech- Hattab, Seddiki und Thum (1989, 161ff.) u. a.
akttheorie findet ihren Niederschlag bei eine stärkere Orientierung auf die Adressaten
Dalache (1983) zu Sprachhandlungstypen des der zu schaffenden oder zu vermittelnden
Dankens und Begrüßens im Deutschen, Fran- Lehrbücher, die Beachtung der arabischen
zösischen und Algerisch-Arabischen. Eine Lerngewohnheiten und die Berücksichtigung
kontrastive Darstellung deutscher und arabi- der Ausgangssprache und des sozialen und
scher Sprachstile steckt noch in den Anfän- kulturellen Milieus des Lernenden.
gen, zumal für das Moderne Hocharabisch Die Kommunikation unter den arabischen
noch keine umfassende Abhandlung zur Stili- Germanisten findet vorwiegend auf regiona-
stik vorliegt. ler Ebene statt, wie die Reihe „Kairoer Ger-
Kontrastive Analysen werden auch zwi- manistische Studien“ und Berichte über Tref-
schen dem Deutschen und der regionalen fen maghrebinischer Germanisten dokumen-
arabischen Umgangssprache ⫺ neben oder tieren.
anstelle der modernen Hochsprache ⫺ vorge- Als Lehrbücher in der Deutschausbildung
nommen, so bei Seddiki (1992) in Ansätzen arabischer Universitäten und Schulen werden
bei der Darlegung von Grundprinzipien der überwiegend Publikationen aus dem deutsch-
Lehrbuchgestaltung für das Deutsche unter sprachigen Raum verwendet. Arabische lan-
Beachtung des Französischen, Hocharabi- deskundliche Belange spielen in diesen keine,
schen und Algerisch-Arabischen, bei Dalache bei Lehrbüchern arabischer Germanisten eine
(1983) und bei Matta (1987) beim Vergleich zunehmende Rolle. Seit der zweiten Hälfte
von Zwillingsformeln des Deutschen und des der 80er Jahre gibt es verstärkte Bemühungen
Ägyptisch-Arabischen. Da das von der jewei- um die Einbeziehung interkultureller Aspekte
ligen regionalen Umgangssprache stärker ab- in den Sprachunterricht (Seddiki 1992). Als
weichende Hocharabisch erst in der Schule „kulturübergreifend“ haben sich im Schulun-
vermittelt wird, kann es nicht verwundern, terricht z. B. Fabeln erwiesen, die, obwohl mit
wenn man bei Lachachi (1989, 265) lesen unterschiedlichen Aktanten versehen, gleiche
kann, dass die Muttersprache des Algeriers allgemeingültige Wahrheiten und Erfahrun-
der Dialekt sei, während das Hocharabisch gen vermitteln und deshalb auf besonderes,
als Zweitsprache erworben wird. In diesem lernförderndes Verständnis stoßen.
Zusammenhang verdient Beachtung, dass
Seddiki (1992) und andere maghrebinische
Germanisten den Maghreb als (relativ) ein- 2. Grundzüge kontrastiver Analysen
heitlichen Sprachraum betrachten. Deutsch-Arabisch
Auf spezifische Probleme des Deutschler-
nens in den Maghrebstaaten machen zudem Trotz der Unterschiede zwischen Deutsch als
Beldjehem (1984), Lachachi (1989, 265ff.) indogermanischer und Arabisch als semiti-
und Seddiki (1992, 25) mit ihrer Forderung scher Sprache sollte man im Auge behalten,
aufmerksam, den Einfluss der Mittlersprache dass sich beide Sprachfamilien näher stehen
Französisch beim Deutschunterricht zu be- als andere und dadurch eine erhebliche An-
achten. Schade (1989, 274ff.) verweist in die- zahl gleicher oder vergleichbarer Kategorien
sem Zusammenhang auf die Rolle des Berbe- aufweisen.
rischen als möglicher Erstsprache im Magh-
reb. 2.1. Phonetik und Phonologie
Die Artikulationsbasis des Deutschen liegt im
1.2. Lehrforschung Vergleich zu der des Arabischen weiter vorn
Arabische Germanisten bemühen sich auch und oben im Mund- und Rachenraum, so
darum, wissenschaftliche Grundlagen für die dass das Arabische im Vergleich zum Deut-
446 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

schen kehlig klingt (Kästner 1981, 29). Dies hang gebracht werden. Während die für indo-
ist auf das Vorhandensein sogenannter ge- germanische Sprachen typische zweikonso-
presster Laute im Arabischen zurückzufüh- nantige Wurzel beim Deutschlernen kaum
ren, bei denen die Zunge, abgesehen von der Beachtung findet, spielt die für semitische
primären Artikulationsstelle, nach hinten Sprachen charakteristische dreikonsonantige
und unten gezogen wird. Dabei entstehen Wurzel, die allgemein die Grundbedeutung
Oppositionen gepresster und nichtgepresster der von ihr abgeleiteten Wörter enthält, ge-
Laute im dentalen, velar-uvularen und laryn- rade im Arabischen mit einer auch für semi-
galen Bereich. tische Sprachen stark ausgeprägten inneren
Flexion mit diversen Ablautreihen bei No-
(1) a) nichtgepresste Laute: d t s z men und Verb eine gut erkennbare Rolle. Die
š k  h Ablautreihen des Deutschen, die z. B. im Prä-
gepresste Laute: dø tø sø zø teritum und Perfekt des starken Verbs und
h̊ q  hø bei der Pluralbildung des Substantivs in Er-
b) tabi a „folgen“ ⫺ tøab an „natürlich“ scheinung treten, dürften dabei beim arabi-
sāra „gehen“ ⫺ søāra „werden“ schen Deutschlerner auf geringe Schwierig-
kalb „Hund“ ⫺ qalb „Herz“ keiten stoßen, selbst wenn sich die Vokal-
aina „wo“ ⫺  ain „Auge“ quantitäten und -qualitäten zwischen beiden
Ein den arabischen Presslauten vergleichba- Sprachen unterscheiden:
rer Laut liegt beim l in englischen Wörtern (2) a) dt.: (Vokalwechsel i ⫺ a ⫺ e) sitzen,
wie well „gut“ vor. saß, gesessen
Das Deutsche weist wesentlich mehr Vo- (Vokalwechsel o ⫺ ā ⫺ o) kommen,
kalphoneme und weniger Konsonantenpho- kam, gekommen
neme auf als das Arabische: 15 Vokalphone- (Vokalwechsel ı̄ ⫺ o ⫺ o) gießen, goss,
men und 19 Konsonantenphonemen des gegossen
Deutschen stehen im Arabischen 6 Vokalpho- b) ar. (alternierende Wortbasen katab ⫺
neme und 28 Konsonantenphoneme gegen- ktub)
über. Nach Abou Hattab (1976, 166ff.) und Perfekt: kataba „hat geschrieben“
Seddiki (1992, 37) bereiten den Arabern die Imperfekt mit Präfix der 3. P. m.: yak-
deutschen Umlaute ä, ö und ü sowie die tubu „schreibt, wird schreiben“
Diphthonge au und eu besondere Schwierig- Imperativ: uktub „schreib“
keiten, hinzu kommen der -ng- und der ich- (unterschiedliche Vokalmorpheme im
Laut, den Araber nicht selten durch sch erset- Sg. und Pl.) ǧabal(un) „Berg“, Pl. ǧibā-
zen, und das im Arabischen fehlende p. Im l(un) „Berge“
Arabischen gibt es ferner keinen mehrkonso-
nantigen Wortanlaut wie im dt. zwei, Straße Der relativ großen Anzahl von z. T. trennba-
und keine Konsonantenhäufungen wie in ren Vorsilben und von Nachsilben im Deut-
Fortschritt oder Weststraße, bei deren Aus- schen steht eine begrenzte Anzahl von un-
sprache der Araber gern einen Sprossvokal trennbaren Vor- und Nachsilben im Arabi-
einfließen lässt. Deutschen Arabischlernern schen gegenüber, die spezifische, regelmäßig
fällt zunächst die richtige Artikulation der wiederkehrende Bedeutungen (Kausativ, Re-
arabischen Presslaute schwer, sie haben ferner flexiv, Kausativ ⫹ Reflexiv beim Verb; No-
die richtige Aussprache des Halbvokals w, die men der einmaligen Tätigkeit, Nomen mit
phonematische Unterscheidung des dem Orts-, Zeit-, Instrumental- und Intensivbe-
deutschen Zäpfchen-r ähnlichen ġ und des deutung u. a.) anzeigen. Die für das Deutsche
Zungen-r und das Vorkommen von s, z, h charakteristischen Verb-, Substantiv- und
und  in allen Wortpositionen zu beachten. Adjektivkomposita sind im Arabischen nicht
nachweisbar. Ihnen können beim Verb entwe-
(2) walad „Kind“ ġair „anders“ der Verben mit Vorsilben und/oder mit Ver-
saala „fragen“ mā „Wasser“ dopplung des zweiten Konsonanten oder
šahr „Monat“ miyāh „Gewässer“ Längung des ersten Vokals oder „einfache“
Verben mit unterschiedlichen Wurzeln ent-
2.2. Morphologie sprechen; im nominalen Bereich finden sich
Die geringe Zahl der Vokalphoneme und die Wortgruppen, die vor allem aus Substantiv ⫹
hohe Zahl der Konsonantenphoneme im Substantiv im Genitiv, Substantiv ⫹
Arabischen kann mit der Bedeutung der Kon- Präposition ⫹ Substantiv und attributiven
sonanten für die Wortbildung in Zusammen- Fügungen des Typs Substantiv ⫹ Adjektiv
45. Kontrastive Analysen Deutsch-Arabisch: eine Übersicht 447

bestehen, welche gegenüber „normalen“ Ge- gen für etliche maskuline und feminine Nomen
nitivkonstruktionen oder attributiven Fügun- (-ūna/-ı̄na bzw. -ātu(n), -āti(n) für Nominativ
gen jedoch nicht besonders gekennzeichnet und Genitiv/Akkusativ) und für die Mehrzahl
sind. der Nomen den in verschiedenen Formen
auftretenden Plural mit innerer Flexion. Das
(3) a) dt.: zählen, erzählen, auszählen, sich
Fehlen des Dativs und die Funktionszuord-
verzählen; gehen, weggehen, hingehen,
nungen des Arabischen für den Nominativ ⫽
hinausgehen, hinaufgehen, hinunterge-
Subjektskasus, Genitiv ⫽ Casus adnominalis
hen, ausgehen;
(Genitivattribut) und Kasus nach Präpositio-
ar.: Wurzel  dd:  adda „zählen“,  ad-
nen, Akkusativ ⫽ Casus adverbialis (Ob-
dada „durchzählen“, a adda „vorberei-
jekte, Adverbiale, prädikative Attribute) kön-
ten“, ta addada „zahlreich sein“;
nen zu Interferenzen bei der Verwendung von
ar. Wurzel ktb: maktab „Büro“, kātib
deutschen Kasus führen. Fehler treten auch
„Schreiber, Schriftsteller“, maktūb
bei der Bildung der deutschen bzw. arabi-
„geschrieben, Brief“, kitāb „Buch“;
schen Genitivkonstruktion auf, da im Arabi-
mašā „gehen“, dß ahaba „(weg)gehen,
schen das erste Nomen keinen Artikel und
(weg)fahren“, søa ida „hinaufgehen“.
keinen Marker einer eventuellen Indefinitheit
b) dt. Studentenwohnheim, großformatig,
hat und auch kein adjektivisches Attribut un-
Fünfjahrplan, Erstklässler
mittelbar folgen lässt.
ar.: Genitivkonstruktion ⫺ Substantiv
⫹ Substantiv: bait atø-tøalaba „Studen- (4) a) dt. N.: der Lehrer, G.: des Lehrers, D.:
tenwohnheim“, dem Lehrer, A.: den Lehrer;
Genitivkonstruktion ⫺ Adjektiv ⫹ ar. N.: al-mu allimu, G.: al-mu allimi,
Substantiv: kabı̄r al-hø aǧm „großforma- A.: al-mu allima;
tig“; b) dt.: das große Haus des Lehrers,
attributive Fügung Substantiv ⫹ Ad- ar.: baitu l-mu allimi l-kabı̄ru;
jektiv: h̊utøtøa h̊amsı̄ya „Fünfjahrplan“ dt.: zum Lehrer, ar.: ilā l-mu allimi
(eigentlich „Fünfplan“); c) dt.: Ich habe einen Lehrer gesehen.,
Genitivkonstruktion Substantiv ⫹ at- ar.: raaitu mu alliman.
tributive Fügung Substantiv ⫹ Adjek- dt.: Er ist zeitig gegangen.,
tiv: talāmı̄dß asø-søaff al-awwal „die Erst- ar.: dß ahaba mubakkiran.
klässler“ dt.: Sie lächelte glücklich.,
ar.: ibtasamat sa ı̄datan.
Das Klassische Arabisch und das Moderne
Arabisch haben einen geringen Bestand an Der Zweiteilung des Genus „maskulin, femi-
Fremdwörtern. Der deutschlernende Araber nin“ im Arabischen wie in anderen semiti-
muss wesentlich mehr Fremdwörter, häufig schen Sprachen steht im Deutschen eine
lateinischer oder griechischer Herkunft, ler- Dreiteilung „maskulin, feminin, neutrum“
nen, als dies umgekehrt beim Arabischlernen gegenüber. Vergleichsweise wenig Mühe sollte
der Fall ist. es dem Araber machen, den im Deutschen
Ein Grobvergleich der nominalen Katego- fehlenden Dual zu bewältigen, zumal diese
rien Status, Kasus, Genus und Numerus Kategorie in der arabischen Umgangssprache
weist für den Deutschlerner im allgemeinen wenig verbreitet ist, hingegen muss der deut-
eine unkompliziertere Ausgangslage im Ara- sche Arabischlerner die Verwendung des
bischen aus. Dem einheitlichen definiten, Duals im Modernen Hocharabisch beachten.
dem Nomen vorangestellten Artikel al- ste- Der Gebrauch des arabischen definiten Arti-
hen vollständige Flexionsreihen des Artikels kels al- und der des deutschen Artikels ent-
im Deutschen gegenüber. Gegenüber drei sprechen einander weitgehend, sie sind aber
Flexionsklassen des Substantivs und einer nicht völlig deckungsgleich. Unterschiede
starken und schwachen Deklination des Ad- zwischen beiden Sprachen finden sich z. B.
jektivs im Deutschen gibt es im Arabischen für bei der Bezeichnung des Superlativs im Ara-
Substantiv und Adjektiv zwei Flexionsklassen bischen und Deutschen (ar. Regens einer Ge-
im Sg., die sich nur beim indefiniten Nomen in nitivkonstruktion mit nachfolgendem indefi-
einer Kasusendung unterscheiden. Das Arabi- nitem Substantiv im Singular oder definitem
sche weist drei Kasus auf, deren Singular- Substantiv im Plural, dt. Adjektiv nach Arti-
Kurzendungen häufig nicht mehr beachtet kel im Rahmen einer attributiven Fügung)
werden: Nominativ, Genitiv und Akkusativ. und bei der Verwendung des Infinitivs (ar. als
Im Plural gibt es spezifische „äußere“ Endun- Nomen häufig mit Artikel):
448 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

(5) dt.: die größte Stadt, kāna ⫹ Imperfekt ⫽ Vergangenheit,


ar.: akbaru madı̄natin, akbaru l-mudun, kāna ⫹ Perfekt ⫽ Vorvergangenheit,
dt.: die größten Städte, yakūnu ⫹ Perfekt ⫽ Futur II
ar.: akbaru l-mudun Hinsichtlich der Gebrauchshäufigkeit liegen
dt.: Er wollte kommen., die zusammengesetzten deutschen Formen
ar.: arāda l-maǧı̄ . deutlich vor den arabischen Formen. Prinzi-
Bei den Personalpronomen wird im Arabi- piell können im Arabischen alle zeitlichen
schen auch in der 3. P. Pl. und der 2. P. Sg. Verhältnisse mit Perfekt und Imperfekt, z. T.
und Pl. zwischen maskulin und feminin mit temporalen Adverbialen als Zeitmarker,
unterschieden. Personalpronomen im Genitiv ausgedrückt werden.
und Akkusativ werden als Allomorphe der Bei den Konjugationsparadigmen gibt es
selbständigen Pronomen in Form der soge- für arabische Deutschlerner insofern Verein-
nannten Personalsuffixe an Präpositionen fachungen, als das Deutsche wie beim Perso-
und an Substantive ⫺ ohne Artikel ⫺ mit nalpronomen eine Geschlechtertrennung nur
Possessivbedeutung (wie bei den Possessiv- bei der 3. P. Sg. kennt, das Arabische aber
pronomen der 3. P. im Russischen jego „sein“ darüber hinaus bei der 3. P. Du. und Pl. und
usw.) sowie an Verben angehängt. bei der 2. P. Sg. und Pl.:
(6) a) dt.: ich ⫺ du ⫺ er, sie, es ⫺ wir ⫺ ihr (8) dt. ihr schreibt/schriebt
⫺ sie ar. taktubūna, katabtum (zu Männern)/
ar.: anā ⫺ anta, anti ⫺ huwa, hiya ⫺ taktubna, katabtunna (zu Frauen)
nahø nu ⫺ antum, antunna ⫺ hum, Demgegenüber weist das Arabische aber trotz
hunna Lautveränderungen bei der Konjugation der
b) baituka (zu Mann), baituki (zu Frau) Verben mit einem Wurzelkonsonanten w oder
„dein Haus“, y allgemein regelmäßigere Konjugationspara-
raaituka/raaituki „Ich habe dich (zu digmen als das Deutsche auf. Die arabischen
Mann/Frau) gesehen.“ Verben lassen sich dabei in vier Konjuga-
tionstypen mit Perfekt- und Imperfektbasen
Im Arabischen ist die Verwendung einer
einordnen.
besonderen pronominalen Höflichkeitsform
Das arabische Passiv wird mit Mitteln der
stark eingeschränkt.
inneren Flexion, nicht mit einem Hilfsverb
Das deutsche und das arabische Verb wei- gebildet. Es hat grundsätzlich in den ersten
sen zwei echte „synthetische“ Konjugations- Silben des Perfekts ein -u-, vor dem letzten
formen aus, die zum einen überwiegend die Konsonanten dagegen ein -i-. Beim Imper-
Gegenwart und die Zukunft (dt. Präsens, ar. fekt erhält das Flexionspräfix ein -u-, alle
Imperfekt), zum anderen die Vergangenheit weiteren Vokale sind -a- mit Ausnahme der
anzeigen (dt. Imperfekt/Präteritum, ar. Per- jeweiligen Endung. Gemeinsamkeiten haben
fekt). Die Stammmorpheme beider Konjuga- das Deutsche und Arabische bei der Verwen-
tionen werden im Deutschen vorwiegend mit dung des Passivs, wobei die Passivkonstruk-
Mitteln der äußeren Flexion, im Arabischen tion ohne Nennung des Agens im Arabischen
allgemein mit Mitteln der inneren Flexion ge- die Regel ist, im Deutschen häufig vor-
bildet. Dabei sind das deutsche Präsens und kommt. In beiden Sprachen werden Vor-
Präteritum sowie das arabische Perfekt Suf- gangs- und Zustandspassiv und -reflexiv ver-
fixkonjugationen, das arabische Imperfekt wendet, wobei im Arabischen das jeweilige
hingegen in erster Linie eine Präfixkonjuga- Partizip Passiv bzw. Aktiv (letzteres von refle-
tion. Beide Sprachen verfügen über mit Hilfs- xiven Verben) den zumindest zeitweilig beste-
verben zusammengesetzte analytische Verb- henden Zustand anzeigt, und das Partizip
formen: Aktiv als infinite Verbform damit auch in
(7) a) dt.: Präsens/Imperfekt: (er) rechnet/ präkativer Stellung vorkommt.
rechnete; (9) a) Vorgangspassiv/Zustandspassiv:
ar.: Imperfekt/Perfekt: yahø sabu/hø asiba dt. Der Brief wurde geschrieben. Der
b) dt.: Formen von werden ⫹ Infinitiv ⫽ Brief ist geschrieben.
Futur, Formen von haben/sein ⫹ Par- ar. kutibat ir-risāla. ar-risāla maktūba.
tizip II ⫽ Perfekt, Plusquamperfekt, b) Vorgangsreflexiv/Zustandsreflexiv:
Futur II; dt. Er bereitete sich auf die Prüfung
ar.: Formen von kāna „war“ ⫹ finite vor. Er ist auf die Prüfung vorbereitet.
Form des Verbs im Imperfekt oder ar. ista adda li-l-imtihø ān. huwa mu-
Perfekt: sta idd(un) li-l-imtihø ān.
45. Kontrastive Analysen Deutsch-Arabisch: eine Übersicht 449

Das Arabische weist Modalverben, Funk- Aufgrund der Hauptfunktion des arabischen
tionsverben und Phasenverben in ähnlichen Akkusativs als casus adverbialis im weiten
Konstruktionstypen mit Infinitiv wie im Sinne (Objekte, Adverbiale) tritt dieser nicht
Deutschen auf, wobei bei Modalverben und nur häufig an die Stelle von deutschen Dativ-
Phasenverben auch Verknüpfungen mit objekten, sondern konkurriert als Adverbial
(an ⫹) finitem Verb im Imperfekt (Subjunk- auch z. T. mit Präpositionalgruppen, vor
tiv) vorkommen: allem bei Temporalbestimmungen der Gleich-
zeitigkeit und bei Modalbestimmungen, vgl.
(10) a) dt. Er konnte/wollte kommen.
auch (4c).
ar. (mit Infinitiv:) istatøā a/arāda l-
maǧı̄ , (mit an ⫹ Imperfekt) istatøā a/ (13) a) dt. Dativ ⫽ ar. Akkusativ:
arāda an yaǧı̄ . dt.: Wir halfen dem Freund.
b) dt. Er stattete einen Besuch ab. ar.: sā adnā sø-søadı̄q(a).
ar. qāma bi-ziyāra. b) Modalbestimmungen:
c) dt. Er begann zu arbeiten. dt.: Er ging schnell.,
ar. badaa (fı̄) l- amal (mit Inf.)/ya- ar.: mašā sarı̄ an (Akk.)/bi-sur a (Prä-
mal (mit Impf.) positionalgruppe)
c) Temporalbestimmungen:
2.3. Syntax dt.: zu Beginn dieses Jahres,
Auf dem Gebiet der Wortsyntax dürften In- ar.: matøla a hādß ihi s-sana (Akk.), fı̄
terferenzen vor allem bei attributiven Fügun- matøla i hādß ihi s-sana (Präp.-Gruppe)
gen des Typs Substantiv ⫹ attributives Ad-
In der arabischen Grammatik wird traditio-
jektiv vorkommen, bei denen das Attribut im
nell zwischen Nominalsätzen und Verbalsät-
Deutschen dem Substantiv vorangestellt, im
zen unterschieden. Nach manchen Gramma-
Arabischen indes nachgestellt und zudem in
tikern steht an der Spitze des Nominalsatzes
den gleichen Status (definit, indefinit) wie das
ein Nomen, an der Spitze des Verbalsatzes ein
Leitwort gesetzt wird.
Verb, nach anderen enthält ein Verbsatz obli-
(11) dt. das große Haus ⫺ ein großes Haus, gatorisch ein Verb, ein Nominalsatz dagegen
ar. al-baitu l-kabı̄r ⫺ bait(un) kabı̄r(un) kein Verb, sondern die Ø-Form der Kopula
kāna „sein“ mit Gegenwartsbedeutung. Die
Mit den gleichen Statusverhältnissen wie
arabische Zweiteilung der Satztypen findet
beim attributiven Adjektiv werden auch attri-
auch in der deutschen Grammatik gewisse
butive Partizipialkonstruktionen und Rela-
Bezüge: Verben wie sein, werden und bleiben
tivsätze im Arabischen konstruiert; deshalb
als besondere Bestandteile des Prädikats wer-
haben nur dann Partizipialkonstruktionen
den z. T. von anderen Verben abgeteilt (Hel-
und Relativsätze einen voranstehenden Defi-
big/Buscha 1986, 540/541). Die Grundwort-
nitmarker (Artikel) bzw. Relativartikel/Rela-
stellung in arabischen Verbalsätzen ist dabei
tivpronomen, wenn sie sich auf ein definites
Verb ⫺ Subjekt ⫺ Objekt, bei Voranstellung
Leitwort beziehen. Genus, Kasus und Nume-
des Subjekts liegt Topikalisierung desselben
rus des Relativpronomens stimmen mit de-
vor. Auch jedes andere Nomen kann in arabi-
nen des Leitworts überein. Die Stellung des
schen Sätzen topikalisiert werden, wobei der
Leitworts im Relativsatz wird mit dem sog.
Rückbezug wie beim Relativsatz mit dem
rückweisenden Pronomen verdeutlicht, das in
rückweisenden Pronomen hergestellt wird.
dem Kasus steht, in dem dieses im Relativ-
Deutsches Passiv mit Agensbezug kann im
satz stehen würde. Für den arabischen
Arabischen mit derartigen Konstruktionen
Deutschlerner ist deshalb zu beachten, dass
wiedergegeben werden:
deutsche Relativsätze immer mit Relativpro-
nomen eingeleitet werden und sich die Fle- (14) a) dt. Ahø mad schreibt einen Brief.
xion des Relativpronomens nach dessen Posi- ar. yaktubu Ahø madu risāla(tan).
tion im Relativsatz richtet und damit ein dt. Das Haus ist groß.
rückweisendes Pronomen überflüssig macht. ar. al-baitu kabı̄r(un).
b) dt. Den Brief schreibt Ahø mad. Der
(12) dt. der Mann, der den Brief schrieb ⫺ ein
Brief wird von Ahø mad geschrieben.
Mann, der den Brief schrieb
ar. ar-risālatu yaktubu-hā Ahø mad.
ar. ar-raǧulu lladß ı̄ kataba r-risāla ⫺ raǧu-
l(un) (Ø)kataba r-risāla Während das System der Nebensätze im Alt-
dt. der Mann, dem ich einen Brief schrieb, arabischen relativ wenig differenziert er-
ar. ar-raǧulu lladß ı̄ katabtu lahu risālatan scheint, sind im modernen Arabischen alle
450 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

auch im Deutschen begegnenden Nebensatz- ⫺ (1989): Besonderheiten eines DaF-Lehrbuchs für


arten mit ihren jeweiligen äquivalenten einlei- arabisch sprechende Lerner, IX. IDT, Wien.
tenden Konjunktionen vertreten. Bemerkens- Ambros, Arne (1969): Einführung in die moderne
wert ist, dass arabische Nebensätze, sieht arabische Schriftsprache. München.
man von konditionalen und konzessiven Ahmad, Ferhan Shahab (1996): Kontrastive Lingui-
Satzgefügen ab, überwiegend auf die jeweili- stik Deutsch-Arabisch: zur Relevanz der kontrasti-
gen Hauptsätze folgen. ven Untersuchungen für den Fremdsprachenunter-
richt. Heidelberg.
(15) a) Temporalsätze: Beldjehem, Yamina (1984): Zur Effektivierung der
dt.: Als er kam, freuten sich alle. Arbeit an Lexikkenntnissen im Deutschunterricht al-
ar.: farihø a l-ǧamı̄  indamā ǧāa. gerischer Deutschlehrerstudenten auf der Grundlage
b) Kausalsätze: einer Fehleranalyse. Diss. (masch.), Berlin.
dt.: Er konnte nicht kommen, weil er Blohm, Dieter; Wolfgang Reuschel; Abid Samar-
krank war. raie (1981): Lehrbuch des Modernen Arabisch. Teil
ar.: lam yatamakkan min al-maǧı̄  II. Leipzig.
liannahu kāna marı̄dø an. Bouzada, Aida (1986): Die Verben der Fortbewe-
c) Konditionalsätze: gung dt. gehen, frz. aller, ar. dß ahaba. Eine konfronta-
dt.: Wenn du gut lernst, wirst du Er- tive Untersuchung. Diss. (masch.), Leipzig.
folg haben. Cantarino, Vincente (1974/75): Syntax of modern
ar.: idß ā ta allamta ǧayyidan tanǧahø . Arabic prose. Bloomington/London.
Aus der Übersetzungspraxis bekannt, noch Dalache, D. (1983): Remercies en Allemand et
nicht durch wissenschaftliche Arbeiten unter- Arabe algerien: étude syntactique, sémantique, prag-
mauert ist die je nach Stilebene unterschiedli- matique et didactique. Doctorat de 3e cycle, Paris.
che Ausprägung der Satzkohärenz im Deut- El Korso, Kamal (1978): L’enseignement de la lan-
schen und Arabischen. Der Übersetzer muss gue allemande en Algérie, Problèmes et méthodes.
speziell bei politischen Erklärungen, bei Doctorat de 3e cycle, Paris.
Kommentaren und bei populärwissenschaft- ⫺ (1985): Linguistique contrastive: La langue
licher Literatur darauf achten, die relativ lan- allemande. Problèmes et méthode. Alger.
gen und verschachtelten arabischen Satzge- Fischer, Wolfdietrich (1986): Lehrgang für die ara-
füge (mit Nebensätzen und prädikativen At- bische Schriftsprache der Gegenwart. Band 2. Wies-
tributen) in akzeptable syntaktische Einhei- baden.
ten des Deutschen zu zerlegen, wobei die ex- ⫺; Otto Jastrow (1976): Lehrgang für die arabische
pliziten Beziehungen der Ko- und Subordi- Schriftsprache der Gegenwart. Band 1. Wiesbaden.
nierung im Arabischen im Deutschen eher Ghanem, H. A. (1981): Übersetzungsprobleme deut-
implizit erscheinen. scher Nominalkomposita ins Arabische. Diss. Wien.
Haddad, Najm (1983): Alltägliche Verhaltenswei-
sen und Sprache. Ein deutsch-arabischer Vergleich
3. Literatur in Auswahl für fremdsprachige didaktische Zwecke. In: Info
DaF 4, 77⫺84.
Abd Er-Rahman, Faisa (1979): Zum Verhältnis von
Semantik (Lexik) und Grammatik anhand der Ver- Helbig, Gerhard; Joachim Buscha (91986): Deut-
ben mit Dativ und Akkusativ sowie der Verben mit sche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländer-
der Präposition „zu“ bzw. „nach“, einschließlich ei- unterricht. Leipzig.
nes partiellen Vergleichs mit dem Arabischen. Diss. Imam, Mustafa (1974): Ausdrucksweise und Moda-
(masch.), Berlin. lität der deutschen Sprache der Gegenwart und ent-
⫺ (1987): Das semantisch-syntaktische Feld der sprechende Möglichkeiten des Arabischen. Diss.
deutschen Präpositionalphrasen mit „aus“ in Ge- (masch.), Leipzig.
genüberstellung mit dem entsprechenden arabi- Kästner, Hartmut (1981): Phonetik und Phonologie
schen „min“-Feld. In: Kairoer Germanistische Stu- des Modernen Hocharabisch. Leipzig.
dien 2/87, 1⫺36. Krahl, Günther; Wolfgang Reuschel (1974): Lehr-
Abou Hattab, Muhammad (1976): Zu einigen buch des Modernen Arabisch. Teil 1. Leipzig.
Schwierigkeiten für Araber beim Erlernen der deut- Lachachi, Djamel Eddine (1989): Zweitsprachener-
schen Sprache. In: DaF 13/3, 166⫺171. werb Deutsch. In: Jochen Pleines (Hg.): DAAD:
⫺ (1981): Einführung in das Studium der Zeit im Dokumentationen und Materialien: Germanistik im
Arabischen und Deutschen. Das Präsens im Arabi- Maghreb, Tagungsberichte. Rabat, 30. 10.⫺1. 11.
schen und Deutschen. In: Azhar-Universität, Zeit- 1989, 263⫺272.
schrift der Fakultät für Sprach- und Übersetzungs- Matta, Hilda (1987): Äquivalenzbeziehung zwi-
wissenschaft (ar.) 5/81, 67⫺109. schen deutschen und ägyptisch-arabischen Wort-
46. Kontrastive Analysen Deutsch-Japanisch: eine Übersicht 451

paaren. In: Kairoer Germanistische Studien. Band Seddiki, Aoussine (1992): Aufbereitung und Verar-
2/87, 126⫺164. beitung des Wortschatzes unter interkulturellem
Morsi, Mahmoud (1972): Das deutsche Verb in sei- Aspekt in einem Deutschlehrbuch für Algerien auf
ner Valenz und Distribution in Bezug auf das Arabi- der Anfangsstufe. Ein Beitrag zur Theorie und Pra-
sche. Diss. (masch.), Jena. xis der Erarbeitung von Lehr- und Lernmitteln.
Diss., Leipzig.
Msellek, Abderrazak (1989): Plädoyer für ein
deutsch-arabisches Valenzwörterbuch. In: Jochen Stock, Kristina (1989): Die Metapher ⫺ Der Blu-
Pleines (Hg.): DAAD: Dokumentationen und Mate- menflor auf den Auen. Zum Übersetzen von
rialien: Germanistik im Maghreb, Tagungsberichte. Sprachbildern aus dem Arabischen. In:- Dieter
Rabat, 30. 10.⫺1. 11. 1989, 225⫺234. Blohm (Hg.): Studien zur arabischen Linguistik.
Oubouzar, Erika (1971): L’évolution des formes ver- Wolfgang Reuschel zum 65. Geburtstag. Berlin,
bales périphrastiques en Allemand. Doctorat de 3e 131⫺140.
cycle, Paris. Taraman, Soheir (1986): Kulturspezifik als Überset-
Salman, S. M. (1984): Besondere phonetische zungsproblem. Phraseologismen in arabisch-deut-
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Studenten beim Erlernen der deutschen Sprache.
Thum, Bernd (1989): Die historische Dimension in
Diss. (masch.), Berlin.
germanistischer Landeskunde und Kulturwissen-
Sayim, Mohamed (1982): Untersuchungen zu den schaft. Vorschläge zur Methode. In: Jochen Pleines
weiterführenden Nebensätzen in der deutschen Ge- (Hg.): DAAD: Dokumentationen und Materialien:
genwartssprache. Diss. (masch.), Leipzig. Germanistik im Maghreb, Tagungsberichte. Rabat,
Schade, R.-Dieter (1989): Diskrepanzen im münd- 30. 10.⫺1. 11. 1989, 161⫺184.
lichen und schriftlichen Sprachverhalten marokka-
nischer Germanistikstudenten. In: Jochen Pleines
(Hg.): DAAD: Dokumentationen und Materialien: Dieter Blohm, Crimmitschau (Deutschland)
Germanistik im Maghreb, Tagungsberichte. Rabat, unter Mitarbeit von Nahed El Dib, Giza
30. 10.⫺1. 11. 1989, 273⫺282. (Ägypten)

46. Kontrastive Analysen Deutsch-Japanisch: eine Übersicht

1. Kontrastive Grammatik … ein Irrweg? kern fand, die ihr Produkt hätten didaktisie-
2. Zielsetzung der Deutsch-Japanischen ren können. Und drittens gelang es ihr nicht,
Kontrastiven Grammatik sich zu einem Teilbereich der Sprachtypolo-
3. Methodik der Deutsch-Japanischen
gie zu entwicklen: denn ihre zweisprachige
Kontrastiven Grammatik
4. Probleme und Diskussionen Kontrastierung reicht von vornherein dazu
5. Perspektive der djKG nicht aus, Prototypen bestimmter Sprach-
6. Literatur in Auswahl strukturen zu postulieren. Nur im glücklich-
sten Sonderfall kann sie eventuell die Rolle
einer Teiltheorie der Sprachtypologie spielen.
1. Kontrastive Grammatik … ein Der Versuch einer deutsch-japanischen
Irrweg? kontrastiven Grammatik in den 70er Jahren
Die kontrastive Grammatik in den 70er Jah- litt an diesen inhärenten Unzulänglichkeiten,
ren befand sich auf einem pseudo-linguisti- die übrigens vielen Mitarbeitern einigerma-
schen Irrweg im dreifachen Sinne: Erstens ßen bewusst waren. Sie versuchten aber ernst-
war sie nicht in der Lage, zur internationalen haft, diese Einschränkungen zu überwinden,
Universalienforschung substantiell beizutra- so dass sogar noch aus dem wissenschaftli-
gen, unter anderem deswegen, weil ihr die chen Irrweg eine Reihe wichtiger Beiträge zur
Beschreibungsmethodik fehlte, die die bilin- linguistischen Theorie, Sprachpädagogik und
guale Differenz auf eine Universalgrammatik Sprachtypologie hervorgingen.
beziehen könnte. Zweitens war sie auch nicht Im Folgenden wird kurz dargestellt, wie
in der Lage, ihre Beschreibungen erfolgreich die Untersuchungen der deutsch-japanischen
in die Didaktik umzusetzen, vor allem deswe- kontrastiven Grammatik (abgekürzt: djKG)
gen, weil sie in den meisten Fällen keine Zu- im Institut für deutsche Sprache in Mann-
sammenarbeit mit den pädagogischen Prakti- heim (IdS) und bei den Forschungsgruppen
452 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

der japanischen Germanisten in den 70er und 2.2. Kontrastive Untersuchungen anderer
frühen 80er Jahren durchgeführt wurden und Forschungsgruppen
was daraus entstanden ist. Japanische Germanisten, die meistens selbst
Deutschlehrer sind, haben sich auch aus
ihrem eigenen beruflichen Interesse mit
2. Zielsetzung der Deutsch-
deutsch-japanischen kontrastiven Untersu-
Japanischen Kontrastiven chungen beschäftigt. Eine Reihe einzelner
Grammatik Aufsätze sind in den letzten 20 Jahren in
Fachzeitschriften wie Doitsu Bungaku veröf-
2.1. Projekt der djKG des IdS fentlicht worden. Bei lokalen Forschungs-
Das Projekt der djKG im IdS (Projektdauer gruppen in Osaka, Kyushu u. a m. waren
1973⫺1980) wurde vom Auswärtigen Amt kontrastive Themen öfters Diskussionsgegen-
der Bundesrepublik Deutschland finanziert. stand von Symposien. Die Germanisten ver-
Der japanische Partner der Gemischten Kul- wendeten aber hierbei sehr heterogene Me-
turkommission der beiden Staaten beteiligte thoden. Einige stellten willkürlich ausge-
sich daran lediglich durch die Entsendung wählte Teilstrukturen ohne systematisches
eines hauptamtlichen Mitarbeiters aus einer Konzept zur Diskussion und begnügten sich
staatlichen Universität sowie durch die Ver- mit einer Gegenüberstellung der entsprechen-
mittlung der Zusammenarbeit mit dem Part- den Strukturen der beiden Sprachen. An-
nerinstitut Kokuritu Kokugo Kenkyusyo dere versuchten, aus dem Kontrast einiger
(staatl. Institut für Staatssprache). An dem Teilstrukturen bestimmte Sprachuniversalien
Projekt beteiligen sich insgesamt 12 deutsche abzuleiten. Die meisten Arbeiten führten
und 19 japanische Mitarbeiter sowie mehr als schließlich zu einer vorwissenschaftlichen In-
10 Hilfskräfte. Das japanische Partnerinstitut terpretation von unsystematisch betrachteten
entsandte dabei während der ganzen Projekt- Phänomenen der beiden Sprachen.
dauer einen Japanologen, dessen Anwesen- Unter deutschen Japanologen gab es sehr
heit in Mannheim die Bilateralität des Pro- wenige Linguisten, die sich für kontrastive
jekts symbolisierte. Untersuchungen interessierten. Die Tradition
Der Zweck des Projekts war, „zur Verbes- der deutschen Japanologie tendierte eher zu
serung der sprachwissenschaftlichen Voraus- kulturellen Exotika als zu einer wissenschaft-
setzungen für den Deutschunterricht in Japan lichen Zusammenarbeit in Form eines bilate-
und den Japanischunterricht in deutschspra- ralen Projekts. Die Linguisten in deutsch-
chigen Ländern beizutragen“ (Kaneko/Stik- sprachigen Ländern waren meistens wegen zu
kel, Bd. 1, 1984, 27). Das Ziel war von vorn- geringer japanischer Sprachkenntnisse nicht
herein eindeutig didaktisch. Aber die Didak- in der Lage, sich an einem bilateralen Projekt
tisierung wurde in der Tat hintangestellt, und zu beteiligen. Die Schwierigkeit des IdS, qua-
zwar in der Hoffnung, dass sie irgendwann lifizierte japanologische Linguisten zu gewin-
einmal von Pädagogen fachlich besser vorge- nen, geht weniger auf formale Bedingungen
nommen würde. Der Akzent der Arbeit lag wie eine begrenzte Projektdauer als auf den
auf den „sprachwissenschaftlichen Vorausset- absoluten Mangel an Fachleuten zurück.
zungen“, worunter man aber sehr Unter-
schiedliches verstand. Es bestand eine Dis- 3. Methodik der Deutsch-Japanischen
krepanz zwischen dem pädagogischen Zweck
Kontrastiven Grammatik
und dem wissenschaftlichen Interesse der
Mitarbeiter. Es fehlten auch Diskussionen, Zu Beginn der djKG-Untersuchungen am
um diese Diskrepanz zugunsten des eigentli- Anfang der 70er Jahre war von einem Ter-
chen Zwecks des Projekts zu überwinden. tium Comparationis die Rede. Darunter ver-
Der dabei gefundene Kompromiss war es, die stand man etwas Drittes, das man beim Ver-
Forschungsarbeiten so zu gestalten, dass die gleich zweier verschiedener Gegenstände als
Ergebnisse des djKG denjenigen Fremd- einen gemeinsamen Maßstab voraussetzen
sprachlehrern von Nutzen sein sollten, die muss. Dieses Thema wurde von den Mitar-
daraus Lehrmaterialien zum unmittelbaren beitern der djKG intensiv diskutiert, ohne je-
Einsatz im Fremdsprachenunterricht herstel- doch ein geeignetes Tertium zu finden, das als
len würden. Es ist jedoch bis jetzt unbekannt, Basis der weiteren Arbeit hätte dienen kön-
ob die Mannheimer Arbeit didaktisch umge- nen. Um eine brauchbare Vergleichsbasis zur
setzt worden ist. Beschreibung der grammatischen Erschei-
46. Kontrastive Analysen Deutsch-Japanisch: eine Übersicht 453

nungen zu gewinnen, nahm die Mannheimer Sprachvergleich, von dem die Gruppe bei vie-
Gruppe zunächst die folgenden Äquivalen- len Beiträgen in den 70er Jahren nicht nur für
zen an: die Datensammlung, sondern auch für gram-
matische Beschreibungen sehr oft Gebrauch
(1) semantische Äquivalenz
gemacht hat. Das Arbeitsverfahren mit Hilfe
(2) strukturelle Äquivalenz
dieser Methode läuft etwa wie folgt: Man
(3) pragmatische Äquivalenz
wählt z. B. eine bestimmte grammatische Ka-
(4) Verhaltensäquivalenz.
tegorie wie z. B. das Passiv des Deutschen
Im Folgenden wird im Einzelnen ausgeführt, und sammelt eine Reihe von passivischen
worum es sich bei diesen Äquivalenzklassen Sätzen, die dann ins Japanische übersetzt
handelte. werden. Die Übersetzungsarbeit wird in den
meisten Fällen vom Mitarbeiter selbst über-
3.1. Semantische Äquivalenz nommen, so lange er hinreichende bilinguale
Beide Sprachen Deutsch und Japanisch er- Sprachkenntnisse besitzt; sonst wird ein zu-
scheinen auf den ersten Blick sehr unter- verlässiger Zweisprachiger damit beauftragt.
schiedlich in allen strukturellen Aspekten. Die Ausgangsstruktur (vgl. unten) wird nun
Man fragt mit Recht, ob es überhaupt mög- zuerst durch die Übersetzung (2) in die
lich sei, diese Sprachen in sinnvoller Weise Strukturen der Zielsprache (3) übertragen.
miteinander zu vergleichen. Wenn wir zu- Aber die Übersetzung ergibt meistens meh-
nächst einmal Wörter der beiden Sprachen rere Ausdrücke in der Zielsprache, die nicht
miteinander vergleichen, so stellt sich sofort unbedingt passivische Konstruktionen sind.
heraus, dass der Versuch einer unmittelbaren Wenn die gewonnenen Strukturen (3) noch
Übersetzung der Wörter meistens fehlschlägt. einmal in die Ausgangssprache zurück über-
Unter den lexikalischen Einheiten des Deut- setzt werden (4), dann gewinnt man wieder
schen und des Japanischen besteht also keine eine Reihe von verschiedenen Strukturen (5).
Eins-zu-eins-Entsprechung. Auch die forma- Daraus bekommt man praktisch eine fast un-
len Satzstrukturen sind in den beiden Spra- endliche Streuung der Strukturen, die doch
chen prinzipiell nicht übertragbar. Die All- in gewisser Weise eine passivische Bedeutung
tagserfahrungen der Bilingualen, die sich mit besitzen. Das Resultet ist eine bilaterale Dif-
unterschiedlichen Sprachen genügend ver- fusion der Struktur, die zum Bedeutungsfeld
ständigen können, besagen jedoch, dass die „Passiv“ gehören.
gegenseitige Kommunikation besser wird, je
größer die eingesetzten linguistischen Einhei- (2) Jstr1
ten werden. Wörter sind generell nicht über- D Passiv Jstr2 (3)
tragbar. Phrasen schon eher, und Sätze sind (1) Jstr3
..
(4)
verständlicher, erst Kombinationen von meh- .
reren Sätzen ermöglichen jedoch erfolgreiche
Dstr1
bilinguale Kommunikation. Daraus folgt, Dstr2
dass man die Äquivalenz, auf die man sich
beim Sprachvergleich stützt, nicht über Wort-
bedeutungen, sondern zumindest über Satz- (5)
bedeutungen zu gewinnen hat. Diese empiri- Abb. 46.1.
sche Annahme stößt jedoch auf einen seriö-
sen Widerspruch. Denn eine Satzbedeutung Mit diesem Verfahren erhält man lediglich
muss dem Fregeschen Prinzip nach aus Wort- eine Menge von Strukturen der beiden Spra-
bedeutungen und Satzstrukturen kompositio- chen, die zum semantischen Feld der Aus-
nell hergeleitet werden. Die Mannheimer Ar- gangssprache, in unserem Fall zum Passiv des
beitsgruppe fand hier einen methodischen Deutschen gehören. Was dabei vernachlässigt
Kompromiss derart, dass sie sentenzielle Aus- wird, ist eben die strukturelle Parallität, die
sagen zur Basis des Strukturvergleichs der das eigentliche Ziel des Kontrasts sein sollte.
beiden Sprachen macht und die Bedeutungs- Die Übersetzungsäquivalenz ist daher kei-
entsprechung sentenzieller Einheiten als den neswegs ein richtiges Mittel für die kontras-
plausibelsten Kandidaten für das Tertium tive Untersuchung, so lange eine strukturelle
Comparationis betrachtet. Die Technik, die Kontrastierung in Frage kommt. Sie ist auch
aus dieser Annahme abgeleitet wurde, war in theoretischer Hinsicht fragwürdig, weil sie
die Übersetzungsäquivalenz, ein prätheoreti- sich vorwiegend auf die Sprachintuition eines
sches Arbeitsinstrument für einen intuitiven Bilingualen stützt, ohne dass dabei die syn-
454 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

taktische Parallelität sowie die Kontraste der radikal verallgemeinert war wie in der X-bar-
lexikalischen Einheiten in Betracht gezogen Syntax, erschien die Dependenztheorie sehr
würden. Sie ist in der Tat bloß ein ungenü- attraktiv, weil sie es erlaubt, die Relationen
gendes Instrument, das nur zum Zweck der unter den Termen praktisch unbeschränkt zu
Sammlung der Sprachdaten brauchbar ist. beschreiben, so dass sie zum Vergleich der
Trotzdem ist sie u. a. beim IDS-Projekt unre- formalen Kategorien eher eine bessere Hand-
flektiert (wenn auch bewusst) zur Notlösung habung zu garantieren schien. Sie braucht
gebraucht worden. außerdem generell keine andere Relation als
das „Regieren“, das zwei Terme (Regens und
3.2. Strukturelle Äquivalenz oder Wahl der Rectum) direkt in eine allgemeine Relation
Grammatiken einbezieht. Die Mannheimer Arbeitsgruppe
Um die strukturelle Äquivalenz zu gewinnen, legte sich beim Beginn ihrer Arbeit noch auf
ist ein Arbeitsinstrument unentbehrlich, mit keine bestimmte Beschreibungstheorie fest.
dem man die morphologische und syntakti- Der Beschreibungsstil war etwa „gemäßigt
sche Struktur der beiden Sprachen gleicher- generativ“, wie Stickel im ersten Sammel-
maßen effektiv analysieren kann. In den band (Stickel 1976) zeigt. Aber in der zweiten
70er Jahren standen den Mitarbeitern der Hälfte des Projekts führten die gruppeninter-
kontrastiven Untersuchungen einige brauch- nen Diskussionen dazu, die formale Struktur
bare Grammatikmodelle zur Verfügung. Ei- der Grammatik möglichst einheitlich mit ei-
nes davon war die Erweiterte Standardtheo- nem quasi-dependenziellen Modell, d. h. mit
rie der generativen Grammatik. Die Phrasen- Hilfe von einem Konzept „Zuordnung“ zu
Struktur-Grammatik (PSG) dieses Modells beschreiben. Allerdings waren viele Arbeiten
erschien als das kräftigste Instrument für die mit selbständigen Themen nicht gebunden
Beschreibung der formalen Strukturen der an diese Einschränkung. So entstand eine Di-
Sprachen. Es gab schon eine Reihe wichtiger versifizierung des Beschreibungsstils: die ge-
Beschreibungen für das Deutsche, z. B. Gram- meinsame Beschreibung mit Hilfe der Zuord-
matiken und Aufsätze der Berliner Arbeits- nungsoperation, aber die Einzelarbeiten mit
gruppe sowie der Linguisten, die sich in den einem beliebigen theoretischen Modell. Die
Linguistischen Kolloquien und anderen Zir- Forschungsberichte der Arbeitsgruppe er-
keln organisierten. In Japan spielte der Ar- scheinen daher in methodischer Hinsicht
beitskreis mit der Zeitschrift ENERGEIA sehr heterogen.
(1967 ⬃) für die theoretische Untersuchung Im Gegensatz zur Mannheimer For-
der deutschen Grammatik eine führende schungsgruppe litten die meisten „theorie-
Rolle. Der erste Sammelband der djKG (Stik- freien“ Germanisten in Japan ohne Zweifel
kel 1976) war ein Dokument der damaligen nicht an einem solchen theoretischen Zwie-
Forschungsatmosphäre. spalt wie an der Wahl der Grammatiken. Sie
Die theoretische Auseinandersetzung zwi- begnügten sich sogar mit der alten Becker-
schen Transformationalisten und generativen schen Schulgrammatik oder mit einer leichter
Semantikern, die neuen Forschungstenden- verständlichen Grammatik aus München,
zen der linguistischen Pragmatik und Textlin- Bonn oder Leipzig. Dies trug jedoch dazu
guistik machten es schwer, die Methodik für bei, dass ihre Forschung leichter zu didakti-
die Beschreibungen der djKG zu vereinheitli- sieren war. Aber es gab und es gibt noch
chen. Sie ermöglichten aber den Mitarbeitern keine Arbeiten, aus denen irgendwelche Lern-
in anderer Hinsicht, eine neue Methode zu ent- programme für „Deutsch für Japaner“ oder
wickeln, um die verschiedenen, bisher wenig „Japanisch für Deutschsprachige“ hätten
erforschten Sprachphänomene wie die prag- produziert werden können.
matischen ohne theoretisches Vorurteil zu ei-
nem bilingualen Vergleich zu bringen. Dies 3.3. Pragmatische Äquivalenz
war besonders erwünscht bei der Beschrei- Beim Projekt djKG sollten neben dem Ver-
bung der grammatischen Phänomene wie gleich des grammatischen Systems auch die
des interpersonal geregelten Teilsystems der pragmatischen Aspekte der Sprachen vergli-
Grammatik, der Topik-Fokus-Konstruktio- chen werden. Dabei wird unter „Pragmatik“
nen, des Tempus-Aspekt-Komplexes u. ä. m. im Gegensatz zum Sprachsystem allgemein
Eine Alternative zur PSG war die Depen- der Sprachgebrauch im weitesten Sinne ver-
denzgrammatik, die bereits als deskriptiv standen. Der Sprachgebrauch ist aber seiner-
äquivalent mit der PSG theoretisch bewiesen seits wieder in zweierlei Hinsicht zu betrach-
ist. In der Zeit, als die PSG noch nicht so ten: Erstens versteht man darunter die An-
46. Kontrastive Analysen Deutsch-Japanisch: eine Übersicht 455

wendung des Sprachsystems. Zweitens wird systematisch arbeiten können, sondern ledig-
damit das Sprachverhalten bezeichnet. Bei lich ein spezifisches Thema von der pragmati-
der linguistischen Pragmatik im ersten Sinne schen Untersuchung ausgewählt, nämlich das
geht es um die Frage, wie man in alltäglicher Problem der Honorifikformen des Japani-
Kommunikation mit Wörtern und Gramma- schen. Auf Grund der parametrischen Be-
tik umgeht. Im Fall der Kommunikation mit schreibung der japanischen Honorifikformen
Hilfe von Sprachen ohne gemeinsamen Wort- hat ein kleines Team der Mitarbeiter eine
schatz bringt der Unterschied historischer Liste möglicher deutscher Entsprechungen
und sozialer Konventionen beim Wortge- der japanischen Honorifikformen ausgear-
brauch oft ein seriöses Problem mit sich. Ein beitet. Die Liste gilt als Gegenüberstellung
extremes Beispiel ist das Sprach-Tabu. Dies der entsprechenden Ausdrucksweisen in bei-
muss aus didaktischen Gründen ausführlich den Sprachen. Dabei handelte es sich unter
behandelt werden, damit sich die Lernenden anderem um die Auflistung der interpersona-
in der Zielsprache angemessen ausdrücken len Motivationen. Diese Beschreibung der
können. Es gibt auch eine Reihe grammati- Honorifikformen wird offensichtlich nicht
scher Phänomene, in der die sozial konven- ausreichen, um aus dieser zumindest im Japa-
tionalisierten Elemente verflochten sind. Ein nischen weitgehend lexikalisierten Kategorie
deutliches Beispiel dafür sind die Konventio- eine generellere Teiltheorie der Pragmatik ab-
nen für das Duzen im Deutschen. Für die zuleiten. Sie war jedoch ein Versuch, den Weg
zwei Anredeformen gibt es keine Entspre- zu bahnen.
chungen im Japanischen, das keine gramma-
tische Kategorie der Pronomina hat. Deshalb 3.4. Vergleich des Sprachverhaltens
ist eine Gegenüberstellung theoretisch inter- Bei dem die sprachlichen Äußerungen be-
essant und zugleich sprachdidaktisch unent- gleitenden Verhalten handelt es sich darum,
behrlich. wie distinktiv man sich bei jedem einzelnen
Beim Sprachgebrauch handelt es sich im Äußerungstyp verhält. Die Aufgabe in diesem
Grunde um solche sozial konventionalisier- Bereich besteht darin, dieses äußerungsbezo-
ten Gebrauchsregeln. Hier stieß die Mannhei- gen distinktive Sprachverhalten der Mutter-
mer Arbeitsgruppe wieder auf eine Schwierig-
sprachler der beiden Sprachen miteinander
keit: Es gab damals ebenso wie heute keine
zu vergleichen. Eine Begrüßung wird z. B. be-
methodischen Prinzipien, die man einer kon-
gleitet von einem Händedruck nach der deut-
trastiven Beschreibung dieser Art hätte effek-
schen Konvention, aber von einem Kopfnik-
tiv zugrunde legen können. Für die Kon-
ken nach der japanischen. Dies scheint zwar
trastierung von Tabus in den beiden Spra-
chen bräuchte man sicher ein Sonderprojekt. typisch, ist aber weitgehend eine Karikatur.
Soziolinguistische Konventionen wie Duzen Wieweit die Konventionen dieser Art im all-
können allenfalls ausführlich in Sprachlehr- täglichen Sprachverhalten tatsächlich ge-
büchern dargestellt werden. Eine Reihe ande- braucht und standardisiert werden, ist bis
rer wichtiger Probleme des Sprachgebrauchs, jetzt nicht ernsthaft untersucht worden. Eine
die zwischen den hier beispielhaft genannten kontrastive Beschreibung des Sprachverhal-
zwei extremen Themen liegen, lassen sich nur tens müsste auch mit einem gesonderten Pro-
mit großer Schwierigkeit kontrastiv systema- jekt durchgeführt werden. Der Vergleich des
tisieren. Dies muss jedoch gemacht werden, Sprachverhaltens wurde beim Mannheimer
zumal die Ergebnisse der linguistischen Prag- Projekt zwar lediglich teilweise, aber ernst-
matik zum Zweck des bilingualen Sprachun- haft vom Partnerinstitut in Tokyo unternom-
terrichts in Lernprogramme umgesetzt wer- men. Eine Arbeitsgruppe des Kokuritu-Ko-
den müssen. Man hätte es sicher schon da- kugo-Kenkyusyo übernahm die Aufgabe, ei-
mals tun können, wenn man in Zusammenar- nen relativ kleinen Teil dieses Themenbe-
beit mit Sprachdidaktikern zumindest ein Re- reichs, nämlich das Verhalten bei einer Be-
pertoire von im Land der Zielsprache sozial grüßung, zu untersuchen. Sie machte mit Un-
geschätzten Sprachverhalten in typischen terstützung der Stadt Mannheim eine Feld-
Sprechsituationen konkret kontrastiv darge- arbeit, um u. a. bei der Begrüßung das
stellt hätte. Das wäre sicher ein wertvoller sprachbegleitende Verhalten der erwachsenen
Vorschlag für die interkulturelle Kommuni- Deutschen ausführlich ⫺ teilweise mit unmit-
kation gewesen. telbarer Befragung ⫺ zu untersuchen. Daraus
Die Mannheimer Forschungsgruppe hat entstand der Forschungsbericht (A contrastive
tatsächlich im Bereich der Pragmatik nicht study …, 1984).
456 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

4. Probleme und Diskussionen der „klassischen“ kontrastiven Grammatik


muss in Zukunft etwa durch ein Projekt für
Die Forschung der djKG hat eine Reihe noch ein bilinguales Bedeutungswörterbuch besei-
zu erforschender Probleme hinterlassen, die tigt werden, das nicht nur Wortbedeutungen,
hoffentlich zum Nutzen des Fremdsprachen- die sich als Komplexe von konzeptuellen Ein-
unterrichts oder der maschinellen Überset- heiten, Sprachregeln und historisch-sozialen
zung künftig methodisch angemessener ange- Sedimenten der Völker darstellen, sondern
gangen werden können. Im Folgenden sollen auch idiomatische Wendungen und Phraseo-
sie kurz erwähnt werden. logie verschiedener Art kontrastiv beschrei-
4.1. Bereich der Lautstruktur ben soll.
Die segmentalen Elemente der beiden Spra- 4.3. Bereich der Morphologie
chen bringen keine schwerwiegenden kon- Der Unterschied von morphologischen Struk-
trastiven Probleme mit sich. Einige gerundete turen der beiden Sprachen ist bei den djKG-
Vokale und der allgemein höhere Energieauf- Projekten in den 70er Jahren relativ befriedi-
wand beim Aussprechen der Konsonanten gend untersucht worden. Dabei hat sich u. a.
des Deutschen sind für den didaktischen herausgestellt, dass erstens lexikalische Wort-
Standpunkt nennenswert. Der eigentliche klassen und morphematische Formklassen
Kontrast kommt aber im Bereich der supra- kreuzklassifiziert werden müssen, weil das Ja-
segmentalen und prosodischen Lautstruktur panische eine Reihe formklassen-spezifischer
zum Vorschein. Ein wichtiger Kontrast be- Suffixe wie die Suffixverben, -adjektive u. a.
steht im phonotaktischen Unterschied zwi- besitzt. Zweitens haben Flexionsparadigmen
schen der konsequent geschlossenen Silben- auch typologische Varietäten: die verbale Fle-
struktur des Deutschen und der konsequent
xion des Deutschen hat eine interne Flexion
offenen des Japanischen. Dazu kommt noch
mit Stammvokalwechsel, die generell synthe-
ein bemerkenswerter Kontrast im Bereich der
tisch ist. Dagegen ist die japanische Morpho-
Prosodie, mit der die Phonotaktik der beiden
logie konsequent analytisch und hat ein inter-
Sprachen eng im Zusammenhang steht. Der
nes Sandhi wie /kak⫹ta/ J [kai-ta]. Bei der
Unterschied liegt dabei wesentlich in der sil-
Bildung eines Verbalkomplexes kommt der
bischen Prosodie des Deutschen und in der
Unterschied der morphologischen Struktur
Morenstruktur des Japanischen (u. a. beim
deutlich ans Licht: im Deutschen verketten
Tokyo-Dialekt); denn die Prosodie des Deut-
sich freie Morpheme der Verben. Dagegen
schen lässt sich unmittelbar aus der Silben-
struktur herleiten, aber die des Japanischen wird im Japanischen eine Verkettung der Suf-
ergibt sich lediglich indirekt nach der Trans- fixverbiale mit einem „Head“-Verb linksoffen
formation der Moren in die Silben. Im konstruiert. Die Wortbildungsverfahren in
Sprachlehrwerk für Deutschsprachige sollte den beiden Sprachen sind in Mannheim aus-
u. a. vermerkt werden, dass das Japanische führlich kontrastiert worden, wenn auch die
über drei Morenphoneme verfügt wie /Q/ in Beschreibung im Band I (Kaneko 1984) noch
/iQpai/ J [ippai] (ein Glas), /N/ in /iNtai/ J weitgehend taxonomisch war, so dass der
[intai] (Rücktritt), /R/ in /satoR/ J [sato:] Vergleich bloß in einer Auflistung der geläufi-
(Zucker). Die Akzent- und Intonationsregeln gen Wortbildungstypen besteht.
im Deutschen sind bis jetzt nur wenig er- 4.4. Bereich der Syntax
forscht worden. Der Übergang von segmen-
talen und phonologischen Elementen zu stan- Die syntaktische Beschreibung der djKG in
dardisierten Intonationsregeln mit Salienz- den 70er Jahren spiegelte die theoretischen
verteilung soll in Zukunft ausführlicher kon- Auseinandersetzungen der damaligen Lingui-
trastiv untersucht werden. stik wider. Dominant waren die generativen
und dependenziellen Ansätze. Die Mannhei-
4.2. Bereich des Wortschatzes mer Zuordnungsssyntax war in Wirklichkeit
Der Vergleich von Wortbedeutungen war bei nichts anderes als eine Mischform. Jedoch
bisherigen kontrastiven Untersuchungen im konnte man auf eine Reihe wichtiger Prob-
Allgemeinen nicht geplant. Die allgemeine leme hinweisen. Der bemerkenswerteste Kon-
Mutmaßung, dass er von vornherein unmög- trast im syntaktischen Bereich besteht in den
lich sei, ist schon durch die Erfahrung der unterschiedlichen Wohlgeformtheitsbedin-
Forschungsprojekte für maschinelle Überset- gungen: im Deutschen spielt eine strikt ober-
zung am Anfang der 80er Jahre zumindest flächenstrukturelle Valenz eine entscheidende
technisch widerlegt worden. Dieses Manko Rolle, während im Japanischen eine semanti-
46. Kontrastive Analysen Deutsch-Japanisch: eine Übersicht 457

sche Bedingung der konzeptualen Rekon- gegenstände notwendig. Erst dadurch wird
struierbarkeit entscheidend ist. Der Unter- die Verträglichkeit des Forschungsbereichs
schied der Zuordnungstypen unter dem mit einem Beschreibungsmodell garantiert.
Aspekt von Wortklassen ergibt eine Reihe in-
teressanter Kontraste in diesem Bereich, die 5. Perspektive der djKG
in Kaneko 1996 (Neuauflage) zusammenge-
fasst sind. 5.1. Anwendungsprobleme
Gemäß dem eigentlichen Zweck der kontras-
4.5. Bereich der intersentenziellen tiven Grammatik sollte an die Anwendung
Relationen schon bei der Organisation der Forschungs-
Eine interessante Parallele zeigt sich bei der gruppen gedacht werden. Ein djKG-Projekt
Satzfeldverteilung des Deutschen und der hätte z. B. einen integrierten Workshop für
Makroposition mit Topik-Markierer „wa“ im Didaktisierung und/oder für Programmie-
Japanischen. Dieser Forschungsbereich ist rung benötigt. Dieses organisatorische Prin-
ein guter Kandidat für eine weitere typologi- zip sollte von einem künftigen kontrastiven
sche Untersuchung. Ein anderer Beschrei- Projekt berücksichtigt werden.
bungsbereich, der bis jetzt noch nicht ausrei- 5.2. Universalienforschung
chend erforscht worden ist, enthält u. a. die
Die Forschung der kontrastiven Gramma-
koordinative Struktur und damit im Zusam-
tik kann ohne Zweifel zur Universalienfor-
menhang die intersentenzielle Übertragung
schung beitragen, vorausgesetzt jedoch, dass
von Anaphorik und Negation. In diesem Be- die Mitarbeiter mit einem gewissen theoreti-
reich warten noch viele Forschungsthemen schen Niveau und zugleich mit breiter Per-
auf eine kontrastive Untersuchung. spektive auf relevante Daten anderer Spra-
chen die zu kontrastierenden Gegenstände so
4.6. Bereich der Pragmatik
zu beschreiben vermögen, dass sie diese nöti-
Bei der Kontrastierung der pragmatischen genfalls gleich mit als Universalien angenom-
Phänomene handelt es sich um die verschie- menen Prototypen in Beziehung setzen kön-
denen Motivationen für sprachliche Äuße- nen. Beim gegenwärtigen Stand der linguisti-
rungen. Man sollte daher zuerst einmal von schen Forschung in Japan wie in der Bundes-
einer Reihe illokutionärer Sprechakttypen republik scheint die Voraussetzung offen-
ausgehen, um das pragmatische System der sichtlich erfüllt zu sein. Folglich besteht jetzt
Sprachverwendung theoretisch zu erfassen. die Möglichkeit, die Arbeit an einer djKG
Dies wurde aber bei der bisherigen kontrasti- zum didaktischen und/oder computer-lingui-
ven Untersuchung nicht gemacht. Ähnliches stischen Zweck wieder aufzunehmen in der
war allerdings einmal in einem Projekt für Hoffnung, dass sie zur weiteren Entwicklung
künstliche Intelligenz versucht worden, aber der Universalienforschung beiträgt.
es gibt bis jetzt noch kein befriedigendes Re-
sultat. In diesem Bereich bleibt vieles noch Literatur in Auswahl
zu tun.
A contrastive study of Japanese and German lin-
4.7. Sonstige Problematik guistic behaviour (1984): Kokuritu Kokugo Ken-
kyusyo. Bericht 80. Tokyo.
In der Zeit der theoretischen Innovation in- DOITU BUNKAGU (Die deutsche Literatur):
nerhalb der Linguistik war es unvermeidlich, (1933 ⬃): Zeitschrift, hg. von der Japanischen Ge-
dass die Beschreibung der Sprachphänomene sellschaft für Germanistik. Tokyo.
auf verschiedenen Grammatikmodellen ba- ENERGEIA (1967 ⬃): Zeitschrift, hg. von dem Ar-
sierte. Die Mannheimer Zuordnungssyntax beitskreis für deutsche Grammatik. Tokyo.
hat im Bereich der Morphologie und teils Kaneko, Tohru (1996): Typologischer Kontrast des
auch in der Syntax zwar einen bestimmten Deutschen und des Japanischen. Heidelberg.
Beitrag geliefert, mehr wäre aber erst mit ⫺; Gerhard Stickel (Hg.) (1984⫺1986): Deutsch-Ja-
Hilfe einer erweiterten PSG möglich gewesen. panisch im Kontrast (Bd. I, 1984; Bd. II, 1985; Bd. IV,
Im Allgemeinen scheint theoretische Offen- 1986. [Bd. III ⫽ Kaneko (1996)]). Heidelberg.
heit auf den qualitativen Fortschritt der Be- Stickel, Gerhard (1976): Deutsch-Japanische Kon-
traste. Vorstudien zu einer kontrastiven Grammatik.
schreibung eine positive Wirkung auszuüben. Forschungsberichte des IdS. Bd. 34. Tübingen.
Um dies aber zustande zu bringen, ist die
vorherige Systematisierung der Forschungs- Tohru Kaneko, Chiba (Japan)
458 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

47. Kontrastive Analysen Deutsch-Chinesisch: eine Übersicht

1. Entstehung der Interferenz und Bedeutung Fehlern. Hier spricht man von negativem
der kontrastiven Analysen für das Erlernen Transfer oder Interferenz.
einer Fremdsprache Die durch die kontrastive Analyse ermit-
2. Untersuchungsgegenstand und -methoden
der kontrastiven Analysen telten Lernerleichterungen und Lernschwie-
3. Weitere Überlegungen zu kontrastiven rigkeiten können bei der Erstellung von
Analysen Deutsch-Chinesisch Lehrmaterialien, bei der Entwicklung von
4. Literatur in Auswahl Unterrichtsmethoden, aber auch im individu-
ellen Sprachlernprozess durch Bewusstma-
chung und entsprechende gezielte Übungen
1. Entstehung der Interferenz und berücksichtigt werden. Daher hat die kon-
Bedeutung der kontrastiven trastive Linguistik eine große Bedeutung vor
Analysen für das Erlernen einer allem für Lehrer und Lehrbuchautoren im
Fremdsprache Erwachsenenunterricht und vor allem dort,
„wo gemäß neuer Strömungen im Sprachun-
Oft kommt Folgendes vor: Ein Ausländer, terricht wieder mehr kognitive Elemente ver-
der sich mit uns Chinesen auf Chinesisch un- wendet werden. Von besonderer Relevanz ist
terhält, spricht mit einem fremden Akzent, sie aber bei systematischen und vertiefenden
grammatische Fehler treten auf. Auch wir
Betrachtungen fremdsprachlicher Systeme auf
Chinesen machen ähnliche Fehler, wenn wir
fortgeschrittener Ebene“. (Nickel 1973, 467)
uns mit einem Ausländer unterhalten. Wie
kommt das? Neben psychologischen und Professor Lü Shuxiang, einer der bekann-
soziologischen Faktoren spielen linguistische testen chinesischen Philologen, wies in seinem
Quellen eine wichtige Rolle. Lado wies ein- Artikel „Beispiele des Vergleichs zwischen der
mal darauf hin: „Der wichtigste Faktor, der englischen und der chinesischen Grammatik“
Leichtigkeit und Schwierigkeit beim Erlernen darauf hin: „Die Besonderheiten eines Ge-
fremder Sprachmuster bestimmt, ist die Ähn- genstandes können nur durch den Vergleich
lichkeit oder die Unterschiedlichkeit von mit einem anderen Gegenstand hervortreten.
Mustern der Muttersprache.“ (Lado 1964, 21 Beispielsweise werden die Besonderheiten der
und 91) chinesischen Sprache durch den Vergleich mit
Jeder Mensch, der mit dem Erlernen einer der englischen Sprache sichtbar. Diese kon-
bestimmten Fremdsprache beginnt, verfügt trastive Untersuchung ist für den Fremdspra-
bereits über seine Grundsprache (Mutter- chenunterricht sehr wertvoll.“ (Lü Shuxiang
sprache); er hat diese Sprache internalisiert. 1992, 5)
Der Erwerb einer Fremdsprache ist also zu-
nächst einmal durch den oben genannten
Sachverhalt vorbelastet, d. h., jede Fremd- 2. Untersuchungsgegenstand und
sprache kann nur durch den Filter der von -methoden der kontrastiven
dem jeweiligen Individuum internalisierten
Grundsprache erlernt werden. Schon wegen
Analysen
der vorausgesetzten kommunikativ-funktio- Der Ansatz der kontrastiven Linguistik be-
nalen Übereinstimmungen erwartet der Ler- ruht im Wesentlichen darauf, dass das gram-
ner Entsprechungen zwischen den Bedeu-
matische System einer Sprache in seiner
tungs- und Ausdrucksstrukturen der beiden
Ganzheit oder teilweise dem einer anderen
beteiligten Sprachen. Die Erfahrung lehrt uns
schließlich, dass jedes Individuum dazu neigt, Sprache gegenübergestellt wird, ohne dass
internalisierte Laute, Formen und deren Dis- dabei die unterschiedlichen genetischen und
tribution auf die zu lernenden Fremdspra- historischen Zusammenhänge Berücksichti-
chenstrukturen zu übertragen. Daher wird gung finden müssen. Die Berechtigung für
der Lernprozess dort, wo sich solche Erwar- eine solche direkte Gegenüberstellung liegt
tungen bestätigen, erleichtert und begünstigt. vor allem darin, dass die Sprecher auch ganz
Dort, wo strukturelle Unterschiede zwischen verschiedenartiger Sprachen mit ihrem Spre-
den beiden beteiligten Sprachen bestehen, chen doch die gleichen oder jedenfalls sehr
führt die Neigung, Eigenschaften der Grund- ähnliche Funktionen und Handlungen ver-
sprache auf die Zielsprache zu übertragen, zu wirklichen können.
47. Kontrastive Analysen Deutsch-Chinesisch: eine Übersicht 459

2.1. Berücksichtigung kultureller Faktoren hao (Guten Morgen)! Wanshang hao (Guten
bei den kontrastiven Analysen Abend)! sind Grußformeln, die aller Wahr-
Die Sprache ist eine historische Kategorie der scheinlichkeit nach aus westlichen Sprachen
Menschheit. Sie hat einen eigenständigen übernommen wurden und erst in der heuti-
Entwicklungsprozess erfahren. Die Sprache gen Zeit Verbreitung in der Alltagssprache
besteht im Grunde genommen aus dem Bau- gefunden haben. Im Alltag finden wir noch
material des jeweiligen Wortschatzes, das sich häufig Grußformeln wie Da ye, nin chi le ma
aus den sozialen Bedingungen eines Volkes (Onkel, haben Sie schon gegessen)? oder da
heraus entwickelt hat. Unterschiede in der niang, nin chi le ma (Tante, haben Sie schon
sprachlichen Entwicklung lassen sich auf un- gegessen)? Dies sind Beispiele typischer chi-
terschiedliche historische und soziale Bedin- nesischer Sprechakte des Grüßens. Beim Ab-
gungen sowie auf eine eigenständige Ausprä- schied sagt man im Deutschen: Auf Wiederse-
gung von Sitten und Gebräuchen, besser ge- hen!, Adieu!, Tschüss!, Glückliche Reise!, Gute
sagt, von der Kultur des jeweiligen Volkes zu- Reise!, Leb wohl!, Alles Gute!, Machs gut!, Be-
rückführen. Z. B. hat das deutsche Wort hüt dich Gott!, Gute Nacht! (vor dem Schla-
Schuh in der chinesischen Sprache seine Ent- fen), Guten Tag! (ärgerlich beim Abschied).
sprechung in xie. Aufgrund der Wortbil- Beim Abschied gibt es im Chinesischen an-
dungslehre kann im Deutschen durch Anfü- scheinend weniger Formeln als im Deut-
gung des Wortes Hand das neue Wort Hand- schen. Konventionell gebrauchte Formeln
schuh geprägt werden. Im Chinesischen bildet sind etwa zaijian! yi lu ping an! In China wird
shoutao (Handbekleidung) das Pendant. Den man, wenn man etwas Gutes geleistet oder
Begriff shouxie (Handschuh) gibt es im Chi- Erfolg bei der Arbeit erzielt hat, öfters von
nesischen nicht. Diese verschiedenen Aus-
Bekannten und Freunden gelobt. Da enste-
drucksweisen drücken beispielhaft in der
Sprache die unterschiedlichen kulturellen Er- hen vielerlei Komplimentsformeln, auf die
fahrungen aus. Im Deutschen sind Füße und die Gelobten sozusagen verneinenderweise
Hände von gleicher Wertigkeit, also können oder etwas herabschätzend reagieren. Sehen
sowohl Füße wie auch Hände mit „Schuhen“ wir uns folgende Beispiele an:
bekleidet werden. Im Chinesischen jedoch Wörtliche Übersetzung:
haben Füße und Hände nicht die gleiche Wer- A: Li xiansheng, nin Herr Li, Sie sprechen
tigkeit, dementsprechend gelten xie (Schuhe) deyu shuo de perfekt Deutsch.
als spezielle Bekleidung für Füße, die aber für zhen hao.
Hände nicht angemessen wäre. Somit ent- B: Hao shenme, cha Gar nicht perfekt.
steht das neue Wort shoutao (Handbeklei- de yuan ne. Davon bin ich weit ent-
dung). Am Beispiel des Wortes Haar können
fernt.
wir feststellen, dass es im Chinesischen die
Entsprechungen fa und mao gibt. Erst der In ähnlichen Fällen würden Deutsche norma-
Kontext bestimmt die jeweilige Anwendung. lerweise entgegenkommend reagieren und
Im Chinesischen wird nur das Kopfhaar als das Lob dankend und wohlwollend entgegen-
fa bezeichnet, während die Behaarung des nehmen. Es ist vorstellbar, dass die vernei-
Körpers mit mao bezeichnet wird. Tierhaare nende zurückhaltende Verhaltensweise der
werden in jedem Fall als mao bezeichnet. Das Chinesen bei dem obigen Lob von Deutschen
chinesische Wort si würde im Deutschen mit sehr wahrscheinlich als scheinbar bescheiden
sterben übersetzt. Es bedeutet Absterben von oder sogar als selbstabwertend verstanden
Lebenden und bezieht sich im Chinesischen würde. Umgekehrt würde die wohlwollende
auf alle Arten von Lebewesen und Pflanzen. und entgegenkommende Verhaltensweise der
Im Deutschen bezieht sich sterben nicht auf Deutschen von Chinesen als nichtbescheiden
alle Arten von Lebewesen. In erster Linie
und/oder überheblich verstanden, als ob die
wird sterben nur für Menschen benutzt. Es
Deutschen sehr daran gewöhnt wären, gelobt
gibt natürlich Ausnahmen, so sagt man im
Deutschen auch Der Wald stirbt. zu werden. Diese beiden Annahmen sind des-
halb nicht richtig, weil die kommunikativ-
2.2. Berücksichtigung kommunikativ- pragmatische Funktion der jeweiligen betei-
pragmatischer Faktoren der beteiligten ligten Sprachen nicht berücksichtigt ist. An
Sprachen bei den kontrastiven oben genannten Beispielen ist erkennbar,
Analysen dass eine gegebene Aussage nicht beliebig er-
Im Chinesischen gibt es ein differenziertes Sy- klärt werden darf. Man muss hier einen Un-
stem, sich zu grüßen und Höflichkeiten aus- terschied zwischen Sprache (Langue) und
zudrücken. Nin hao (Guten Tag)! Zaoshang Rede (Parole) machen. Objekt der Sprach-
460 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

wissenschaft ist die Sprache als System von so versteht ihn kein Chinese. Woran liegt
Zeichen, als ein in sich geschlossenes Regel- das? Das deutsche Sprachsystem (wie die an-
system zu deren Verknüpfung, das als sozia- deren indogermanischen Sprachsysteme) ist
les Faktum den Individuen zur Verfügung ein Sprachsystem, bei dem die morphologi-
steht. Daneben steht die Ebene der Rede (Pa- sche und die syntaktische Struktur miteinan-
role), auf der die Sprechfähigkeit der kompe- der verbunden sind. Im Deutschen sind z. B.
tenten Sprachteilhaber konkret zur Anwen- durch Substantive drei morphologische Kate-
dung gelangt. F. de Saussure hat sich über gorien charakterisiert: Genus, Numerus und
die Beziehung zwischen Sprache und Rede Kasus. Diese Kategorien, die teils formal-
folgendermaßen geäußert: „Man muß sich grammatischer Natur sind (Genus), teils syn-
von Anfang an auf das Gebiet der Sprache taktisch (Kasus) oder semantisch (Numerus)
(Langue) begeben und sie als Norm aller an- abzuleiten sind, kommen in komplexer Weise
deren Äußerungen der menschlichen Rede im Satz zum Ausdruck. Wir wollen den oben
gelten lassen. … Sie ist zu gleicher Zeit ein genannten Satz analysieren: Das ich steht im
soziales Produkt der Fähigkeit zu menschli- Nominativ. Man kann dadurch feststellen,
cher Rede und ein Ineinandergreifen notwen- dass das ich das Subjekt im Satz ist, auch
diger Konventionen, welche die soziale Kör- wenn es nicht am Satzanfang steht. Das dich
perschaft getroffen hat, um die Ausübung steht im Akkusativ und ist Objekt. Im Chine-
dieser Fähigkeit durch die Individuen zu er- sischen ist die morphologische Flexion so gut
möglichen.“ (de Saussure 1931, 11) wie nicht vorhanden. Aber die chinesische
Satzgliedstellung ist sehr streng. Im chinesi-
2.3. Unterschiedlichkeiten auf der Ebene schen Satz sieht es folgendermaßen aus: Das
der Syntax im Chinesischen und im Subjekt steht gewöhnlich an erster Stelle des
Deutschen Satzes. Darauf folgt das Prädikat (Verb). Das
Die Beziehungen der Wörter und Satzteile zu- Objekt steht hinter dem Prädikat. Die Adver-
einander werden im Deutschen durch Endun- bialbestimmung steht vor dem Prädikat. Das
gen gekennzeichnet. Die Endungslosigkeit Attribut steht immer vor dem Substantiv. Die
der chinesischen Sprache bedeutet, dass we- deutsche Satzgliedstellung ist viel flexibler als
der das Substantiv eine Genus-, Kasus- oder die chinesische. Im deutschen Satz unterliegt
Numerusmarkierung (nur mit wenigen Aus- nur die Position des Prädikats einer stringen-
nahmen im Genus und Numerus) besitzt ten Regelung. Dabei sind drei verschiedene
noch das Verb Person, Numerus, Tempus Stellungstypen zu unterscheiden:
oder Modus kennzeichnen kann. Damit ent-
fallen die strukturellen Informationen von Stellungstyp 1 (Zweitstellung):
Rektion und Kongruenz. Die syntaktischen Glied 1 fin. Verb Glied 3 Gliedn
Beziehungen werden daher im Chinesischen Sie wandert gern ans Meer
mit anderen Mitteln, z. B. mit lexikalischen
Mitteln, insbesondere durch die Wortreihen-
folge im Satz gekennzeichnet. Da also den Stellungstyp 2 (Spitzenstellung):
Wortstellungsregeln im Chinesischen anders fin. Verb Glied 2 Glied 3 Gliedn
als im Deutschen eine entscheidende Bedeu- Wandert sie gern ans Meer
tung zukommt, gebührt ihnen eine hervorge-
hobene Stellung bei der Kontrastierung der
Stellungstyp 3 (Endstellung):
beiden Systeme. Wenn man den folgenden
Satz Ich halte dich für meinen Freund umbaut, Konj. Glied 1 Glied 2 fin. Verb
wie etwa so: Dich halte ich für meinen Freund, wenn sie ans Meer wandert
so versteht man ihn trotz des Umbaus. Dem
Inhalt nach sind die beiden Sätze äquivalent. Die Regel der Zweitstellung (Typ 1) gilt für:
Man hat bloß das Objekt vorangestellt. Aber ⫺ Aussagesätze (Peter fährt in die Stadt.)
wenn man den chinesischen Satz mit glei- ⫺ Ergänzungsfragen (Wann kommt Peter?)
chem Inhalt ⫺ uneingeleitete Nebensätze (Das sei nicht
wo ba ni kancheng shi wo de pengyou schlimm, sagte sie.)

nach dem obigen deutschen Muster formu- Die Regel der Spitzenstellung (Typ 2) gilt für:
liert, wie etwa so: ⫺ Entscheidungsfragen (Kommt er morgen?)
⫺ Aufforderungssätze (Gehen Sie bitte wei-
ni ba wo kancheng shi wo de pengyou, ter!)
47. Kontrastive Analysen Deutsch-Chinesisch: eine Übersicht 461

⫺ uneingeleitete Nebensätze (Zeigt die Am- mal kann ein Komplement des Resultats sehr
pel rotes Licht, so ist anzuhalten.) eng mit dem prädikativen Verb verbunden
⫺ irreale Wunschsätze (Wäre sie doch hier!) sein, es kommt zur Bildung einer Verb-Kom-
Die Regel der Endstellung (Typ 3) gilt für: plement-Konstruktion, die wie ein einziges
⫺ Ausrufesätze (Was du alles kannst!) Wort aussieht, z. B.:
⫺ irreale Wunschsätze (Wenn doch alles vor- Wo ba shu dai zou le. Ich habe das Buch
bei wäre! mitgenommen.
⫺ eingeleitete Nebensätze (Weil er zu müde
Die deutschen und die chinesischen Prädi-
war, verstand er nichts.)
katsformen sind ganz unterschiedlich. Im
Im chinesischen Satz kann ein Verb oder ein deutschen Satz steht das Verb als Prädikat
Adjektiv ⫺ die beiden werden als Prädikat immer im Mittelpunkt. Mit anderen Worten
gebraucht ⫺ ein zusätzliches und erklärendes gesagt, die Struktur des Satzes hat ihr Zen-
Element nach sich haben, das als Komple- trum im Verb. Daraus ergibt sich die Valenz-
ment bezeichnet wird. Das ergänzte Verb theorie. Sie besagt, dass das Verb im Satz be-
oder Adjektiv wird Beziehungswort genannt. stimmte Leerstellen eröffnet, die besetzt wer-
Es gibt im Chinesischen zwei Arten von den müssen bzw. besetzt werden können. Sie
Komplementen: Das eine, das bezeichnet, werden besetzt durch obligatorische Aktan-
welchen Grad oder welches Ausmaß eine Tä- ten (die im Stellenplan des Verbs enthalten
tigkeit erreicht hat, heißt Komplement des und in der Regel nicht weglassbar sind) oder
Grades; das andere heißt Komplement des fakultative Aktanten (die auch im Stellenplan
Resultats, weil es das Resultat der Handlung des Verbs enthalten, aber unter bestimmten
angibt. Im Deutschen gibt es das Komple- Kontextbedingngen weglassbar sind). Außer
ment des Grades und des Resultats nicht. den obl. und fak. Aktanten treten im deut-
Der folgende Satz kann zwei chinesische Ent- schen Satz freie Angaben auf, die von der Va-
sprechungen haben: lenz des Verbs nicht determiniert sind. Im
Deutschen besteht das Prädikat aus einer fi-
Ta zenmeyang xiao le? niten Form eines Vollverbs oder aus der Ver-
Wie hat er
bindung eines finiten Verbs mit infiniten Prä-
gelacht?
Ta xiao de zenmeyang? dikatsteilen. Da beim Stellungstyp 1 und 2
das finite Verb von den infiniten Teilen in der
Wenn man meint: In welchem Grad hat er ge- Weise getrennt wird, dass das Finitum an
lacht? Wie war das Resultat seines Lachens?, zweiter oder erster Stelle steht, die infiniten
so wird der Satz folgendermaßen übersetzt: Prädikatsteile aber ans Satzende treten, ent-
steht der für den deutschen Satz typische ver-
Ta xiao de zenmeyang? bale Rahmen, der im Chinesischen nicht vor-
Die Antwort kann lauten: handen ist. Im Chinesischen gibt es nicht nur
Ta xiao de chuan Er lachte so, dass er Verbalprädikate, sondern auch verblose Prä-
bu shang qi lai. kaum Luft bekam. dikate, die im Deutschen gar nicht möglich
sind. Es sind folgende verblose Prädikate zu
Wenn man meint: Auf welche Art und Weise verzeichnen:
hat er gelacht?, so wird der Satz folgenderma- Das Adjektiv-Prädikat: Ein Satz, in dem
ßen übersetzt: das Hauptelement des Prädikats ein Adjektiv
ist, wird als Satz mit Adjektiv-Prädikat be-
Ta zenmeyang xiao le?
zeichnet, z. B.:
Die Antwort: De yu hen nan. Die deutsche Sprache
Ta min zhe zui xiao le. Er lächelte, den ist schwer.
Mund geschlossen (Wörtlich: Die deutsche
haltend. (wörtliche Sprache sehr schwer.)
Übersetzung) Er hat Guo li de shui hen re. Das Wasser im Topf ist
geschmunzelt. heiß.
Man kann aus dem Kontext oder durch die (Wörtlich: Das Wasser
Intonation des Sprechenden feststellen, wel- im Topf sehr heiß.)
che Übersetzung angemessen ist. Allerdings Das Nominalprädikat:
steht das Komplement immer hinter dem Im Satz mit Nominalprädikat besteht das
Verb (oder dem Adjektiv). Dazwischen steht Hauptelement des Prädikats aus einem Sub-
meistens eine strukturelle Partikel de. Manch- stantiv oder einer Nominalkonstruktion, z. B.:
462 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

Jin tian libai. Heute ist Sonntag. len ist das Subjekt im Deutschen obligato-
(Wörtlich: Heute Sonn- risch. Im Gegensatz dazu gibt es im Chinesi-
tag.) schen sehr viele subjektlose Sätze. Beispiels-
Sichuan hao di fang. Sichuan ist ein reiches weise wird in den uneingeleiteten chinesi-
Gebiet. schen Nebensätzen das Subjekt, das mit dem
(Wörtlich: Sichuan rei- Subjekt des Hauptsatzes identisch ist, nicht
ches Gebiet.) wiederholt; außerdem braucht man auch ein
Zhe ge ren xiao Dieser Mensch ist eng- Subjekt, das mit dem Objekt des Hauptsatzes
xinyanr. herzig. identisch ist oder das sich aus dem inhalt-
(Wörtlich: Dieser lichen Zusammenhang ergibt, im Nebensatz
Mensch kleines Herz.) nicht eigens zu wiederholen. Z. B.:
Na zhang zhuozi san Jener Tisch hat drei
Rang gao shan di Wenn man den hohen
tiao tui. Beine.
tou, (gao shan) Bergen befiehlt, den
(Wörtlich: Jener Tisch
bu gan bu di tou; Kopf zu senken, wagen
drei Beine.)
sie es nicht, den Kopf
Subjekt-Prädikat-Kombination als Prädikat: nicht zu senken.
Das Prädikat kann aus einer Kombination rang heshui rang wenn man den Flüssen be-
von Subjekt ⫹ Prädikat bestehen. Diese lu, (heshui) bu fiehlt, Platz zu machen,
Kombination nennt man im Chinesischen gan bu ranglu. wagen sie es nicht, kei-
Subjekt-Prädikat-Kombination (S⫹P-Kom- nen Platz zu machen.
bination). Das heißt, dass das Prädikat eine Na difang chu le Wenn dort etwas pas-
S⫹P-Kombination sein kann, die verbal ver- shir (,shir) jiu siert, wird es bestimmt
wendet wird, z. B.: xiao bu liao. katastrophal werden.
Ta hai shuo wo Er sagte noch, dass ich
Ta zui ben. Er ist nicht redegewandt. biaoyang bu de, nicht gelobt werden dürfe,
(Wörtlich: Er der Mund (ta) yi biaoyang denn wenn er mich loben
dumm.) (,wo) jiu qiao würde, würde ich meine
Wo ya teng. Ich habe Zahnschmerzen. weiba. Nase zu hoch tragen.
(Wörtlich: Ich ein Zahn tut
weh.) Besonders in klassischen chinesischen Ge-
Ta danr xiao Sie ist ängstlich. dichten, vor allem in den Gedichten, wo das
(Wörtlich: Sie die Galle klein.) Subjekt ich der Dichter sein soll ⫺ durch den
Kontext begreift der Leser leicht, wer das
Dem einfachen deutschen Satz liegt grund- Subjekt ist ⫺, ist es nicht nötig, das Subjekt
sätzlich ein Verb zugrunde, das in finiter zu verdeutlichen; und die Forderung der
Form erscheint. Das die Struktur des Satzes Prägnanz erlaubt dem Dichter auch nicht,
bestimmende und als Prädikat bezeichnete unwichtige und unnötige Informationen im
Verb kann gewissermaßen die Achse des Sat- Gedicht auszudrücken. Nennen wir hier das
zes sein, um die sich die anderen Elemente Gedicht „Gedanken in stiller Nacht“ von Li
bewegen lassen. Das trifft aber für den chine- Bai und seine Übersetzung als Beispiel:
sischen Satz nicht in allen Fällen zu. Die
oben genannten Prädikatsformen im Chinesi- chuang qian ming Vor meinem Bett das
schen sind Beispiele dafür. yue guang, Mondlicht ist so weiß,
In deutschen Sätzen ist das Subjekt unent- yi shi di shang Daß ich vermeinte, es sei
behrlich; sogar in den Sätzen, wo ein seman- shuang, Reif gefallen.
tisches Subjekt fehlt, muss ein es als soge- jü tou wang Das Haupt erhoben schau
nanntes grammatisches Subjekt an der Stelle ming yue, ich auf zum Monde.
des Subjekts stehen, z. B.: Es regnet. Nur in di tou si guxiang. Das Haupt geneigt denk
Aufforderungssätzen der zweiten Person darf ich des Heimatdorfs.
das Subjekt wegfallen: Mach das Fenster zu! (übersetzt von Günter
Setz dich! Und auch in den Sätzen, wo es als Eich)
Korrelat für das logische oder semantische
Subjekt an Stelle des Subjekts steht, ist das 3. Weitere Überlegungen zu kontrastiven
es als grammatisches oder formales Subjekt Analysen Deutsch-Chinesisch
weglassbar, z. B.: Mir scheint, als ob … statt
Es scheint mir, als ob …, Mir ist kalt statt Es Bei kontrastiven Analysen Deutsch-Chine-
ist mir kalt. Abgesehen von diesen Sonderfäl- sisch muss man stets im Auge behalten, dass
48. Kontrastive Analysen Deutsch-Koreanisch: eine Übersicht 463

die beiden Sprachen jeweils zu zwei ganz ver- 4. Literatur in Auswahl


schiedenartigen Sprachfamilien gehören. Die
deutsche Sprache gehört zur indogermani- Braunmüller, Kurt (1977): Referenz und Pronomi-
nalisierung. Zu den Deiktika und Pronomen des
schen Sprachfamilie und ist eine flektierende Deutschen. Tübingen.
Sprache, dagegen gehört die chinesische
Drosdowski, Günther (Hg.) (1984): Duden. Gram-
Sprache zur chinesisch-tibetischen Sprachfa- matik der deutschen Gegenwartssprache (⫽ Der
milie und ist eine nichtflektierende, sozusa- große Duden Bd. 4), 4. völlig neu bearb. und erw.
gen isolierende Sprache. Im chinesischen Satz Aufl., Mannheim.
schenkt man den kommunikativen Funktio- Fleischer, Wolfgang; Wolfdietrich Hartung u. a.
nen und semantischen Analysen mehr Auf- (Hg.) (1983): Kleine Enzyklopädie ⫺ Deutsche
merksamkeit, während man bei der Analyse Sprache. Leipzig.
des deutschen Satzes mehr Satzstrukturregeln Heidolph, Karl Erich; Walter Flämig; Wolfgang
beachtet. Dies wäre meines Erachtens der Motsch (Hg.) (1984): Grundzüge einer deutschen
Schlüssel zur Kontrastierung der beiden Grammatik. 2. Aufl. Berlin.
Sprachen. Sprache ist ein Gebilde aus Expli- Helbig, Gerhard; Joachim Buscha (1974): Deutsche
kation und Implikation. So enthalten kom- Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunter-
richt. Leipzig.
munikative Sätze nicht nur denotative Infor-
mationen, sondern auch implizite Verweise Lado, Robert (1964): Language teaching: A scienti-
fic approach. New York.
auf Außersprachliches. Das außersprachliche
Lü, Shuxiang (Hg.) (1981): Xiandai hanyu ba bai
Wissen hat das enzyklopädische Wissen
ci. Beijing.
(Braunmüller 1977, 52) zum Inhalt. Unter en-
⫺ (1992): Beispiele des Vergleichs zwischen der
zyklopädischem Wissen verstehen wir alle
englischen und der chinesischen Grammatik. In:
nichtsprachlichen Informationen, die sich ein Yuyan jiaoxue yu yanjiu, Nr. 2. Beijing, 4⫺18.
Sprecher/Hörer auf Grund seiner Bildung Nickel, Gerhard (1973): Kontrastive Linguistik. In:
und Lebenserfahrung angeeignet hat und Peter Althaus u. a. (Hg.): Lexikon der Germanisti-
über die er für einen längeren Zeitraum ver- schen Linguistik. Tübingen, 462⫺470.
fügt. In der vorliegenden Arbeit haben wir Qian, Wencai (1985): Chinesisch-Deutsche Kontra-
bereits einige Beispiele aus der gesellschaftli- stive Syntax. Hamburg.
chen Kommunikation gegeben. An diesen de Saussure, Ferdinand (1931): Grundfragen der
Beispielen soll lediglich gezeigt werden, dass Allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin.
das Ausdrücken der impliziten Sprechakte Zhang, Zhigong (1982): Xiandai hanyu. Beijing.
eine besondere Schwierigkeit darstellt und Zhao, Yuanren (1979): Hanyu kouyu yufa. Beijing.
größter Aufmerksamkeit bedarf, um keine
Lächerlichkeiten zu erzeugen. Qian Wencai (Beijing), China

48. Kontrastive Analysen Deutsch-Koreanisch: eine Übersicht

1. Vorwort beziehungen bedingt. Die Valenztheorie hat


2. Valenz der Verben aber in die koreanische Linguistik noch kaum
3. Ergänzungsklassen Eingang gefunden. Es wird daher hier ver-
4. Satzmodelle
5. Schluss sucht, die Valenztheorie auf die koreanische
6. Literatur in Auswahl Sprache anzuwenden.
Aufgrund der kontrastiven Beschreibung
versucht man neue didaktische Überlegungen
1. Vorwort im Deutschunterricht in Korea umzusetzen.
Beim Deutschunterricht in Korea stellt man Die Untersuchung beschränkt sich auf die
immer wieder fest, dass Deutschlernende be- syntaktische Analyse von Ergänzungen und
stimmte Fehler machen, die für Koreaner ty- Satzmodellen, denn es hat sich im Deutsch-
pisch zu sein scheinen. Ein Teil dieser Fehler unterricht in Korea erwiesen (Lie 1995), dass
ist durch die Nichtbeachtung von Valenz- unter den verschiedenen Fehlertypen syntak-
464 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

tische Fehler vorherrschen und dass die Ver- nicht verbspezifisch sind. Die Ergänzungen
mittlung von syntaktischen Grundstrukturen, können je nach Verbklasse obligatorisch oder
die in Form von Satzmodellen dargestellt wer- fakultativ sein, während die Angaben immer
den, zu einem wichtigen Teil des Fremdspra- fakultativ sind.
chenunterrichts gehört (Zöfgen 1992, 147).
Einige Probleme ergeben sich bei der
Übertragung der lateinischen Terminologie 3. Ergänzungsklassen
auf die Ergänzungen im Koreanischen und
Die Ergänzungen der Verben können klassifi-
bei der lateinischen Transkription der korea-
ziert werden. Zur Klassifizierung der Ergän-
nischen Sätze.
zungen wird als primäres Kriterium ihre Ana-
phorisierbarkeit geprüft, d. h. die Ersetzbar-
2. Valenz der Verben keit durch Anaphern, d. h. durch Pronomina
und Adverbien mit allgemeinster Bedeutung
Die Valenz der Verben ist die Eigenschaft von wie das, dann, dorthin.
Subklassen der Verben, sich mit spezifischen
Elementen anderer Wortklassen zu Syntag- 3.1. Ergänzungsklassen im Deutschen
men zu verbinden. Die Valenz der Verben be- Mit der Anaphorisierungsprobe werden im
stimmt die Satzstruktur nicht nur in syntakti- Deutschen acht Ergänzungsklassen unter-
scher, sondern auch in semantischer Hinsicht. schieden (Schumacher 1987, 137ff.). Auf eine
Die für Subklassen der Verben spezifischen genauere Erläuterung der einzelnen Ergän-
Elemente sind die Ergänzungen, die zugleich zungsklassen mit Anaphern und Beispielsät-
Satzglieder sind. Die übrigen Satzglieder, die zen wird aus Platzmangel verzichtet.
nicht spezifisch für Subklassen von Verben
sind, werden als Angaben angesehen. Zur Er- 3.2. Ergänzungsklassen im Koreanischen
mittlung der Satzglieder, ob sie verbspezifisch Die Ansätze der Valenztheorie sind auf die
sind oder nicht, wird die Weglassprobe (Eli- Beschreibung der koreanischen Satzstruktur
minierungstext) verwendet. Wenn in einem anzuwenden. Der Begriff der Ergänzungen
Satz bestimmte Satzglieder eliminiert werden als Satzglieder, die sich mit bestimmten Sub-
und der verbleibende Satzrest ungramma- klassen der Verben verbinden, und die Ana-
tisch wird, sind die betreffenden Satzglieder phorisierbarkeit als Abgrenzungskriterium für
als obligatorische Ergänzungen einzustufen: die einzelnen Klassen der Ergänzungen bil-
*Jemand wohnt ⫺ Jemand wohnt in Seoul. Bei den die gemeinsame Ausgangsbasis. Das
den verbleibenden Satzgliedern wird eine Im- koreanische Prädikat besteht aus zwei Grup-
plikationsbeziehung zwischen Sätzen unter- pen, d. h. prozessiven und qualitativen Ver-
sucht, die das betreffende Satzglied nicht ent- ben. Die letzteren werden manchmal mit Ad-
halten, und solchen, in denen es vorkommt: jektiven verglichen, denn sie bezeichnen eine
Jemand isst ⫺ Jemand isst etwas (Schuma- Eigenschaft und bilden keine progressive, im-
cher 1987, 137). Wenn der Implikationstest perative und passive Form. Hier werden sie
negativ ausfällt, wird das betreffende Satz- dennoch wegen ihrer Funktion als Prädikat
glied als Angabe betrachtet: Jemand schläft. im Satz berücksichtigt.
Wenn der Implikationstest positiv ausfällt, Im koreanischen Satz gilt ein Syntagma als
wird weiterhin gefragt, ob das betreffende eine Ergänzung, wenn es als ein verbspezi-
Satzglied spezifisch für bestimmte Subklassen fisches Satzglied betrachtet wird und in einer
der Verben ist, um die Bedeutung des jeweili- paradigmatischen Beziehung steht. Ergän-
gen Verbs zu prüfen: In dem Satz Jemand fin- zungen treten meist in Form einer Nominal-
det das Buch, kann man weiter fragen, Wo und Pronominalgruppe auf, die aus Substan-
findet er das Buch? ⫺ Er findet das Buch im tiv bzw. Pronomen und Postposition besteht
Regal. In der Bedeutung des Verbs finden, (chek-i ,das Buch‘ oder gu-ga ,er‘). Daneben
nämlich ,auffinden‘ oder ,entdecken‘, ist eine gibt es noch folgende Satzgliedtypen: satzför-
spezielle Ortsbestimmung impliziert. Das mige Nominalgruppen, deren Elemente aus
Satzglied, das auf den Ort Bezug nimmt, ist Substantiv bzw. Pronomen, Verb und Post-
spezifisch für eine bestimmte Subklasse der position bestehen (gu-ga onda-go ,dass er
Verben und wird als eine fakultative Ergän- kommt‘); Verbalgruppen, die sich mit einem
zung eingestuft. Ergänzungen sind also ver- Verb und einer Postposition (onda-go ,zu
bspezifische Satzglieder, während Angaben kommen‘) verbinden oder in Finalform (-ro)
48. Kontrastive Analysen Deutsch-Koreanisch: eine Übersicht 465

stehen (ilha-ro ,zu arbeiten‘); Adverbialgrup- gende Anaphern ermittelt: nugurul ,wen‘.
pen, die aus einem Adverb und einer Postpo- muotol ,was‘, gurul ,ihn‘, gunyorul ,sie‘, gugo-
sition bestehen (yogi-ro ,hierher‘). Die prozes- tul ,das‘. Die Ergänzung nimmt auf eine Per-
siven Verben in adverbialer Form, die von son oder Sache Bezug, die von einer Hand-
Subklassen der Verben abhängen, dienen als lung direkt betroffen wird: Nanun gu haksen-
(Art)ergänzung (gunun gomsohage sanda ,er gul anda.
lebt bescheiden‘). Die Namen der Ergän- ,Ich kenne den Studenten.‘
zungsklassen sind teils von Wortarten abge-
leitete (Nominalergänzung), teils semantische Die direkte Nominalergänzung drückt das
(Lokalergänzung) oder funktionale Bezeich- Resultat einer Handlung aus:
nungen (Finalergänzung). Nanun morirul charuge hetta. ,Ich habe die
Es werden im Koreanischen folgende Er- Haare schneiden lassen.‘
gänzungsklassen unterschieden: Die direkte Nominalergänzung nennt ein
(1) Nominalergänzung (NomE) Mittel, mit dem die Handlung ausgeführt
(2) Direkte Nominalergänzung (DnomE) wird:
(3) Indirekte Nominalergänzung (InomE) Nanun yonpilul sayonghanda. ,Ich benutze ei-
(4) Ablativergänzung (AblE) nen Bleistift.‘
(5) Direktivergänzung (DirE) Die Ausdrucksformen der Ergänzungsklasse
(6) Lokalergänzung (LokE) können eine Nominalgruppe wie in den obi-
(7) Kausalergänzung (KauE) gen Beispielen, eine Pronominalgruppe oder
(8) Finalergänzung (FinE) eine satzförmige Nominalgruppe sein:
(9) Adverbialergänzung (AdvE)
(10) Artergänzung (ArtE) Gu hanksengun narul chal anda. ,Der Schüler
(11) Resultativergänzung (ResE) kennt mich gut.‘
(12) Soziativergänzung (SozE) Nanun guga olgotul anda. ,Ich weiß, dass er
kommen wird.‘
(13) Qualitativergänzung (QualE)
(14) Komparativergänzung (KomE) (3) Indirekte Nominalergänzung (InomE)
(15) Quotativergänzung (QuoE) Die indirekte Nominalergänzung entspricht
Die einzelnen Ergänzungsklassen werden un- dem indirekten Objekt in der traditionellen
ten näher erläutert. Grammatik. Sie wird durch folgende Ana-
phern erfragt: nuguege ,wem‘, guege ,ihm‘,
(1) Nominalergänzung (NomE) gunyoege ,ihr‘. Die indirekte Nominalergän-
Die Nominalergänzung gilt als Subjekt in der zung drückt eine Zuwendgröße aus. Die Aus-
traditionellen Grammatik. Sie bezieht sich se- drucksformen der Ergänzungsklasse können
mantisch auf den Träger einer Handlung, ei- eine Nominalgruppe oder eine Pronominal-
nes Vorgangs, eines Geschehens, eines Zu- gruppe sein:
standes oder einer Existenz. Die Ergänzung Nanun sonsengnimege gamsahanda. ,Ich danke
wird durch folgende Anaphern identifiziert: dem Lehrer.‘
nuga ,wer‘, muoti ,was‘, gugoti ,das‘, igoti Haksengi naege mutnunda. ,Ein Schüler fragt
,dies‘, gunun ,er‘, gunyonun ,sie‘. Die Ergän- mich.‘
zung tritt in verschiedenen Ausdrucksformen
auf, in denen das betreffende Satzglied unter- (4) Ablativergänzung (AblE)
strichen ist: Die Ablativergänzung wird durch folgende
Anaphern ermittelt: odieso, odirobuto ,wo-
Nominalgruppe: Suopi chigum sijakhanda.
her‘; nugurobuto, nuguegeso, nuguhanteso
,Der Unterricht beginnt jetzt.‘
,von wem‘. Die Ergänzung drückt den Aus-
Pronominalgruppe: Gunun ne hyongida. ,Er
gangspunkt einer Handlung oder eines Vor-
ist mein Bruder.‘
gangs aus und bezieht sich auf den Ort und
Satzförmige Nominalgruppe: Guga chipe it-
die Person. Die Ausdrucksformen der Ergän-
nungoti susanghada. ,Dass er zu Hause ist,
zungsklasse können eine Nominalgruppe
scheint verdächtig zu sein.‘ oder eine Adverbialgruppe sein:
(2) Direkte Nominalergänzung (DnomE) Bosga hakkyoeso ttonanda. ,Der Bus fährt von
Die direkte Nominalergänzung entspricht der Schule ab.‘
dem direkten Objekt in der traditionellen Munjenun gogieso sijakhanda. ,Das Problem
Grammatik. Die Ergänzung wird durch fol- fängt da an.‘
466 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

(5) Direktivergänzung (DirE) Gunun 1980 nyone teonatda. ,Er wurde 1980
Die Direktivergänzung wird durch folgende geboren.‘
Anaphern ermittelt: odiro, odie ,wohin‘; go- Suopi han sigan golrinda. ,Der Unterricht
gie, gogiro ,dorthin‘. Die Ergänzung drückt dauert eine Stunde.‘
die Richtung oder den Zielort einer Hand- (10) Artergänzung (ArtE)
lung aus. Die Ausdrucksformen der Ergän- Die Artergänzung wird durch folgende Ana-
zungsklasse können eine Nominalgruppe, phern ermittelt: ottoke ,wie‘; kurotke ,so‘. Die
eine Pronominalgruppe oder eine Adverbial- Ergänzung drückt die Art und Weise einer
gruppe sein: Handlung oder eines Zustandes aus. Die
Gichaga yokuro ganda. ,Der Zug fährt zum Ausdrucksformen der Ergänzungsklasse sind
Bahnhof.‘ qualitative Verben, deren Flexion entspre-
Urido gogiro galgotida. ,Wir werden auch chende Formen hat:
dorthin laufen.‘ Nanun ku bunul chongjunhage dehanda. ,Ich
(6) Lokativergänzung (LokE) verhalte mich ihm gegenüber höflich.‘
Die Lokativergänzung wird durch folgende (11) Resultativergänzung (ResE)
Anaphern erfragt: odie, odieso, odirul ,wo‘; Die Resultativergänzung wird durch folgende
gogie, gogieso, gogirul ,dort‘; yogi, yogieso, Anaphern ermittelt: ottongoti, ottongoturo,
yogirul ,hier‘. Die Ergänzung drückt den Ort muoti, muoturo ,zu welchem …‘; gugoti, gugo-
aus, an dem eine Handlung oder ein Vorgang turo ,dazu‘. Die Ergänzung drückt das Resul-
geschieht bzw. ein Zustand herrscht. Die tat einer Zustandsveränderung oder einer
Ausdrucksformen der Ergänzungsklasse kön- Handlung aus. Die Ausdrucksform der Er-
nen eine Nominalgruppe oder eine Adverbial- gänzungsklasse kann eine Nominalgruppe
gruppe sein: sein:
Gichaga yokul tongahanda. ,Der Zug fährt Muli orumi doeotda. ,Das Wasser wurde zu
am Bahnhof vorbei.‘ Eis.‘
Urinun gogieso sanda. ,Wir wohnen dort.‘ Nanun banul du grupuro nanunda. ,Ich teile die
(7) Kausalergänzung (KauE) Klasse in zwei Gruppen.‘
Die Kausalergänzung wird durch folgende (12) Soziativergänzung (SozE)
Anaphern ermittelt: gugoturo, gugottemune Die Soziativergänzung wird durch folgende
,daran, deswegen‘; mouturo, muottemune Anaphern ermittelt: nuguua ,mit wem‘; muot-
,woran, weswegen‘. Die Ergänzung drückt gua ,womit‘. Die Ergänzung drückt eine ge-
die Ursache oder den Grund eines Gesche- meinschaftliche Beziehung mit dem Agens
hens aus. Die Ausdrucksform der Ergän- aus. Die Ausdrucksformen der Ergänzungs-
zungsklasse kann eine Nominalgruppe sein: klasse können eine Nominalgruppe oder eine
Hyongi pebyonguro chukotda. ,Mein Bruder Pronominalgruppe sein:
starb an einer Lungenkrankheit.‘ Urinun chokgua ssaunda. ,Wir kämpfen mit
(8) Finalergänzung (FinE) Feinden.‘
Die Finalergänzung wird durch folgende Urinun kuua demyonhanda. ,Wir stehen ihm
Anaphern ermittelt: muote, muotul, muoturo gegenüber.‘
,wofür‘, ,wozu‘. Die Ergänzung drückt den (13) Qualitativergänzung (QualE)
Zweck eines Geschehens aus. Die Ausdrucks- Die Qualitativergänzung wird durch folgende
formen der Ergänzungsklasse können eine Anaphern ermittelt: nugu ,wer‘; nuguro, nugu-
Nominalgruppe oder eine Verbalgruppe sein: rago ,als jemand‘; nuguchorom ,wie jemand‘,
Nanun sanyangul ganda. ,Ich gehe auf Jagd.‘ muott ,was‘; muoturo, muorago, muochorom
Nanun bapmokuro ganda. ,Ich gehe essen.‘ ,als was‘. Die Ergänzung drückt eine Eigen-
schaft, Beurteilung, Funktion, Qualifikation
(9) Adverbialergänzung (AdvE) oder Unterordnung aus. Die Ausdrucksform
Die Adverbialergänzung wird durch folgende der Ergänzungsklasse kann eine Nominal-
Anaphern ermittelt: onje ,wann‘; olma (don- gruppe sein:
gan), myot ,wieviel‘. Die Ergänzung drückt Nanun sonsengida. ,Ich bin Lehrer.‘
einen Zeitpunkt, einen Zeitraum und die
Quantität aus. Die Ausdrucksform der Er- (14) Komparativergänzung (KomE)
gänzungsklasse kann eine Nominalgruppe ⫺ Die Komparativergänzung wird durch fol-
oft mit Zahleinheiten ⫺ sein: gende Anaphern ermittelt: nuguua ,mit je-
48. Kontrastive Analysen Deutsch-Koreanisch: eine Übersicht 467

mand‘; nuguboda ,als jemand‘; muotgua ,mit 5. Schluss


etwas‘; muotboda ,als etwas‘.
Die Ausdrucksformen der Ergänzungs- Wie festgestellt, unterscheiden sich Zahl und
klasse können eine Nominalgruppe oder eine Art sowie die Kombination der Ergänzungen
Pronominalgruppe sein: im Deutschen und Koreanischen wesentlich
I bangi cho bangboda kuda. ,Dieses Zimmer voneinander. Die deutschen Ergänzungsklas-
ist größer als jenes.‘ sen werden primär nach morphosyntakti-
Ne kinun hyonggua gatda. ,Ich bin so groß schen Kriterien festgelegt, während die ko-
wie mein Bruder.‘ reanischen vorwiegend semantisch-syntak-
tisch bestimmt sind. Die Ergänzungen im
(15) Quotativergänzung (QuoE) Deutschen und Koreanischen werden syntak-
Die Quotativergänzung wird durch folgende tisch gemäß den einzelsprachlichen Struktur-
Anaphern erfragt: muorago ,dass …‘. Die Er- regeln unterschiedlich aktualisiert, obwohl
gänzung drückt eine Aussage aus, die von je- den beiden Sprachen eine gemeinsame se-
mand anderem stammt und indirekt vermit- mantische Struktur zugrunde liegt. Diese Un-
telt wird. Die Ausdrucksformen der Ergän- terschiede bereiten den Studierenden in Ko-
zungsklasse können eine satzförmige Nomi- rea große Schwierigkeiten beim Deutschler-
nalgruppe oder eine Verbalgruppe sein: nen, so dass die Gegenüberstellung der Satz-
Gunun biga ondago malhanda. ,Er sagt, dass modelle nützlich sein wird, um ihnen die
es regnet.‘ Strukturunterschiede der beiden Sprachen
Nanun hagetdago yaksokhetda. ,Ich ver- klarzumachen, damit sie die deutsche Sprach-
sprach, das zu tun.‘ struktur besser verstehen.
Aus der Untersuchung ergibt sich, dass die
Valenztheorie für die Beschreibung der ko-
4. Satzmodelle reanischen Satzstruktur geeignet ist. Im Ko-
reanischen besteht eine stärkere Tendenz zum
Die Kombinationen der Ergänzungen, die im Weglassen von Ergänzungen, wenn es durch
Satz vorkommen, werden Satzmodelle ge- den Kontext klar ist, worum es sich handelt.
nannt. Satzmuster sind Satzmodelle, bei de- Einige Probleme müssen jedoch näher erläu-
nen die Ergänzungen nicht näher gekenn- tert werden: Der Implikationstest, der auch
zeichnet sind, während in Satzbauplänen ob- für das Koreanische ohne weiteres zu verwen-
ligatorische und fakultative Ergänzungen un- den ist, stützt sich im Grunde auf die Intui-
terschieden werden. Die fakultativen Ergän- tion des Sprechers, so dass die Entscheidung
zungen werden durch Klammern gekenn- der obligatorischen oder fakultativen Ergän-
zeichnet: (AkkE). zung individuell verschieden sein könnte. Die
Unterscheidung der Ergänzungen und Anga-
4.1. Satzmodelle im Deutschen ben sowie die der obligatorischen und fakul-
Die deutschen Ergänzungsklassen sind nicht tativen Ergänzung erscheinen im Koreani-
beliebig kombinierbar, so dass sich eine be- schen noch schwieriger, denn der Kontext
grenzte Anzahl von Strukturen ergibt. Schu- spielt im Koreanischen eine sehr große Rolle,
macher (1987, 151ff.) gibt in einer Über- so dass die Grenze zwischen der Ergänzung
sichtstabelle 35 Satzmuster mit Satzbauplä- und Angabe fließend ist (vgl. Brochlos 1986).
nen und Beispielsätzen an; sie wird hier je- Es ist daher zu überlegen, ob der Einsatz ver-
doch ausgespart. schiedener Stufen bei der Trennung der Er-
gänzungen und Angaben möglich ist.
4.2. Satzmodelle im Koreanischen Die vorgestellten Ergänzungsklassen und
Da im Koreanischen auch die Ergänzungen Satzmodelle des Koreanischen könnten auch
nicht beliebig kombinierbar sind, entsteht für den Unterricht Koreanisch als Fremd-
eine begrenzte Zahl von Satzmustern. Es wer- sprache eine Hilfe leisten. Für die kontrastive
den hier 35 Satzmuster mit insgesamt 47 Satz- Arbeit Deutsch und Koreanisch nach der Va-
bauplänen mit Beispielsätzen vorgestellt. Um lenztheorie sollte als nächster Schritt die
den Überblick über die verschiedenen Typen gründliche Untersuchung der Semantik und
der koreanischen Satzstruktur zu gewinnen, Pragmatik unternommen werden. Aufgrund
werden die Sätze hier nicht in einen konkreten solcher Arbeiten ist weiterhin ein kontrasti-
Kontext eingebettet. Siehe Übersicht über die ves Valenzlexikon Deutsch und Koreanisch
Satzmodelle (Tabelle 48.1.) unten. durchaus denkbar.
468 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

Tabelle 48.1.: Übersicht über die Satzmodelle

Satzmuster Satzbaupläne Beispielsätze


1) NomE NomE Agiga unda.
Das Kind weint.
2) NomE DnomE NomE Nanun chekul iknunda.
Ich lese ein Buch.
DnomE Nanun (mulul) masinda.
Ich trinke (Wasser).
3) NomE InomE NomE InomE Nanun guege mutnunda.
Ich frage ihn.
4) NomE AblE NomE AblE Guga hagyoeso naonda.
Er kommt aus der Schule.
NomE (AblE) Gunun (kkumeso) kkeonatda.
Er wachte vom Traum auf.
5) NomE DirE NomE DirE Nanun hakgyoe ganda.
Ich gehe in die Schule
NomE (DirE) Gunun (chipul) ttonatda.
Er ging (aus dem Haus).
6) NomE LokE NomE LokE Nanun sigole sanda.
Ich wohne auf dem Land.
NomE (LokE) Bajiga (byoke) golyoitda.
Die Hose hängt (an der Wand).
7) NomE ArtE NomE ArtE Urinun gomsohage sanda.
Wir leben bescheiden.
8) NomE KauE NomE (KauE) Gunun (sagoro) chukotda.
Er starb (bei einen Unfall).
9) NomE FinE NomE FinE Nanun sanyangharo ganda.
Ich gehe auf die Jagd.
10) NomE AdvE NomE AdvE Suopi han sigan golrinda.
Der Unterricht dauert eine Stunde.
11) NomE ResE NomE ResE Muli orumi doeotda.
Das Wasser wurde zu Eis.
NomE (ResE) Gu bani (dulro) galrajotda.
Die Klasse wurde (in zwei Gruppen) geteilt.
12) NomE SozE NomE SozE Nanun hyonggua ssauotda.
Ich stritt mit meinem Bruder.
NomE (SozE) Nanun (hyonghago) ganda.
Ich laufe (mit meinem Bruder).
13) NomE QualE NomE (QualE) Nanun (uejanguro) ppohyotda.
Ich wurde (zum Vorsitzenden) gewählt.
14) NomE KomE NomE (KomE) Guga (hyongboda) natda.
Er ist besser (als sein Bruder).
15) NomE InomE DnomE NomE InomE (DnomE) Gunun naege (gilul) mutnunda.
Er fragt mich (nach dem Weg).
NomE (InomE) DnomE Gunun (naege) chekul chunda.
Er überreicht (mir) ein Buch.
16) NomE AblE DnomE NomE (AblE) DnomE Gunun (nahante) chekul bilrinda.
Er leiht (von mir) ein Buch aus.
17) NomE DnomE DirE NomE DnomE (DirE) Gunun narul (goriro) bulronenda.
Er lockt mich (auf die Straße).
18) NomE DnomE LokE NomE DnomE (LokE) Nanun gurul (gileso) mannatda.
Ich traf ihn (auf der Straße).
48. Kontrastive Analysen Deutsch-Koreanisch: eine Übersicht 469

Tabelle 48.1: Übersicht über die Satzmodelle (Fortsetzung)

Satzmuster Satzbaupläne Beispielsätze


19) NomE DnomE ArtE NomE (DnomE) ArtE Nanun (gurul) chongjunghi dehanda.
Ich verhalte mich (ihm gegenüber) höflich.
20) NomE DnomE KauE NomE DnomE (KauE) Nanun (charittemune) sajangul mannanda.
Ich suche den Chef (wegen einer Stelle) auf.
21) NomE DnomE FinE NomE DnomE FinE Gunun morul simuro onda.
Er kommt, um Reis anzubauen.
22) NomE DnomE AdvE NomE DnomE (AdvE) Omoniga yongdonul (chon Won) chusinda.
Die Mutter gibt ein Taschengeld (von
1000 Won).
23) NomE DnomE QualE NomE DnomE QualE Gunun gunyorul anero samnunda.
Er nimmt sie zur Frau.
NomE DnomE (QualE) Sonsengnimi (sanguro) chekul chunda.
Der Lehrer schenkt (als Belohnung) ein Buch.
24) NomE DnomE ResE NomE DnomE (ResE) Urinum gurul (banjanguro) ppopatda.
Wir wählten ihn (zum Klassensprecher).
25) NomE DnomE SozE NomE DnomE (SozE) Nanun ssalul (chekgua) bakkuotda.
Ich tauschte Reis (gegen Bücher).
26) NomE DnomE KomE NomE DnomE (KomE) Nanun pirirul (hyongboda) chal bunda.
Ich spiele Flöte besser (als mein Bruder).
27) NomE InomE QuoE NomE InomE (QuoE) Gunun naege (humchottago) gobekhanda.
Er gesteht mir, (gestohlen zu haben).
NomE (InomE) QuoE Omoniga (nabogo) garago hasinda.
Die Mutter sagt (mir), da ich gehen soll.
28) NomE AblE DirE NomE (AblE) DirE Nanun (pusaneso) seoulro ganda.
Ich gehe (von Pusan) nach Seoul.
NomE AblE (DirE) Nanun pusaneso (seoulro) oatda.
Ich bin von Pusan (nach Seoul) gekommen.
29) NomE SozE DirE NomE (SozE) DirE Nanun (hyonggua) chipe ganda.
Ich gehe (mit meinem Bruder) nach Hause.
30) NomE SozE LokE NomE SozE (LokE) Nanun gunyoua (chipeso) mannanda.
Ich treffe mich mit ihr (zu Hause).
31) NomE KauE AblE NomE KauE (AblE) Nanun baramsorie (gipun chameso) kketda.
Ich wachte durch den Wind (aus tiefem
Schlaf) auf.
NomE (KauE) AblE Kottbyongi (baramttemune) sangeso
ttolojotda.
Die Vase fiel (durch den Wind) vom Tisch.
32) NomE KauE ResE NomE (KauE) ResE Gu songi (huajero) pehoga doeotda.
Das Schloss wurde (durch den Brand) zur
Ruine.
33) NomE InomE DnomE NomE (InomE) DnomE Omoniga (naege) yongdonul (chon Won)
AdvE (AdvE) chusinda.
Die Mutter gibt (mir) ein Taschengeld
(von 1000 Won).
34) NomE InomE NomE (InomE) DnomE Gunun (naege) sajonul (sanguro) chunda.
DnomE QualE (QualE) Er überreicht (mir) (als Belohnung) ein
Wörterbuch.
35) NomE DnomE AblE NomE DnomE (AblE) DirE Gunun sangul (changkoeso) bokdoro omginda.
DirE Er trägt den Tisch (vom Speicher) auf den Flur.
NomE DnomE AblE (DirE) Nanun mulul umuleso (chipuro) narunda.
Ich bringe das Wasser vom Brunnen
(nach Hause).
470 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

6. Literatur in Auswahl Schumacher, Helmut (Hg.) (1986): Verben in Fel-


dern. Valenzwörterbuch zur Syntax und Semantik
Brochlos, Holmer (1986): Untersuchungen zur Rek- deutscher Verben. Berlin etc.
tion koreanischer Verben. Diss. (masch.) Berlin.
⫺ (1987): Ergänzungsklassen und Satzmodelle in
Bucher, Stefan (Hg.) (1997): Fehler und Lernstrate- einer Valenzgrammatik. In: Hugo Aust; Theodor
gien: Studien am Beispiel DaF in Korea. Frankfurt Lewandowski (Hg.): Wörter. Sätze, Fugen und
a. M. Fächer des Wissens. Festgabe für Theodor Lewan-
Choe, Hyon-bae (1956): Koreanische Grammatik. dowski zum 60. Geburtstag. Tübingen.
4. Aufl. Seoul.
Duden-Grammatik (1984): Grammatik der deut- Tang, Weiming (1984): Satzstrukturen im Deut-
schen Gegenwartssprache. Der große Duden Bd. 4. schen und im Chinesischen anhand der Depen-
4. Aufl. Mannheim. denzgrammatik. In: Hans-Rüdiger Fluck; Zaize Li;
Qichang Zhao (Hg.): Kontrastive Linguistik.
Engel, Ulrich (1988): Deutsche Grammatik. Heidel-
Deutsch/Chinesisch. Heidelberg, 260⫺281.
berg.
Helbig, Gerhard; Joachim Buscha (1989): Deutsche Zöfgen, Ekkehard (1992): Angabe oder Ergänzung
Grammatik. 12. Aufl. Leipzig. ⫺ fakultativ oder obligatorisch? (Verb-)Valenz-
Jun, Gyong-Jae (1993): Eine kontrastive Studie theoretische Fragestellungen aus fremdsprachen-
über die Satzbaupläne des Deutschen und des Korea- grammatischer Sicht. In: Albert Barrera-Vidal;
nischen. Frankfurt a. M. etc. Manfred Raupach; Ekkehard Zöfgen (Hg.): Gram-
matica Vivat. Konzepte, Beschreibungen und Analy-
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sen zum Thema ,Fremdsprachengrammatik‘. Tübin-
kats. In: Hangul. H. 186, 35⫺71.
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Lie, Kwang-sook (1995): Fehleranalyse beim
Deutschunterricht in Korea. In: Language Re-
search 31/1, 165⫺178. Kwang-sook Lie, Seoul (Korea)

49. Kontrastive Analysen Deutsch-Madagassisch: Eine Übersicht

1. Übersicht über kontrastive Analysen zum tet Raminosoa (1983) sehr ausführlich. Die
Sprachenpaar Deutsch-Madagassisch Grammatik von Ramanantsialonina (1968)
2. Kontrastive Aspekte der deutschen und der ist wahrscheinlich die erste auf Madagassisch
madagassischen Grammatik verfasste deutsche Grammatik. Sie gibt je-
3. Routineformeln
4. Kulturspezifika
doch keine kontrastiven Hinweise auf das
5. Perspektivierung Madagassische. Hier ist die erste auf Deutsch
6. Literatur in Auswahl geschriebene madagassische Grammatik er-
giebiger (Aichele o. J.). Diese Arbeit ist je-
doch nicht allgemein zugänglich, da sie nie
1. Übersicht über kontrastive gedruckt wurde und somit nur als Manu-
Analysen zum Sprachenpaar skript vorliegt. Kartaschowa (1990) stellt eine
Deutsch-Madagassisch Übersetzung aus dem Russischen dar. Das
„Gesprächsbuch“ enthält in der Art der tra-
Es gibt Sprachen und Sprachenpaare, die ditionellen Sprachführer eine nach Themen
sehr gut erforscht sind. Deutsch gehört zwei- geordnete Sammlung von Routineformeln,
fellos zu diesen Sprachen, nicht aber Mada- Sätzen und Wörtern in beiden Sprachen. Zu-
gassisch. Madagassisch ist hier in erster Linie sätzlich ist der Übersetzung eine Vorbemer-
mit den meisten anderen Sprachen in Län- kung beigefügt, die wichtige kontrastive
dern der Dritten Welt zu sehen. Auch liegen Aspekte zwischen Madagassisch und Deutsch
nicht viele kontrastive Analysen zum Spra- erläutert (Schmidt 1990). Auch nach Themen
chenpaar Madagassisch-Deutsch vor. Die re- geordnet ist der „Kauderwelsch“-Band von
lativ geringe Zahl von relevanten Arbeiten, Ravoson (1989).
von denen die Darstellung in den folgenden Wesentliche neue Erkenntnisse bieten die
Kapiteln ausgeht, wollen wir hier kurz cha- bisher vorgelegten Magisterarbeiten und Dis-
rakterisieren: sertationen madagassischer Germanisten, die
Über die Geschichte der Relationen zwi- fast durchgängig kontrastiv gearbeitet haben.
schen Deutschland und Madagaskar berich- Sie behandeln u. a. folgende Themen: Arti-
49. Kontrastive Analysen Deutsch-Madagassisch: Eine Übersicht 471

kelwörter im Deutschen und Madagassi- zu schreiben sei. Daraufhin haben englische


schen; Till Eulenspiegel und die madagassi- Missionare mit der Übersetzung der Bibel
schen Erzählungen „Ikotofetsy und Ima- begonnen (Schmidt 1990, 13). Insgesamt
haka“; deutsche und madagassische Mär- muss man sagen, dass die eingeführte Schrei-
chen; die deutsche Revolution von 1848 und bung nicht in jeder Hinsicht zweckmäßig ist,
die madagassische V. V. S. Bewegung von weil eine große Differenz zur Aussprache be-
1913; das Hira gasy, ein besonderer Typ des stand und besteht, z. B. wird ia am Wortan-
madagassischen Volkstheaters, und das Nie- fang [e] ausgesprochen: ianao [enau] ,du/Sie‘,
derdeutsche Theater; kontrastive Analyse diavolana [devùlana] ,Vollmond‘, akzentuiert
deutscher und madagassischer Routinefor- wird es [i] ausgesprochen, z. B. masiaka [ma-
meln; Interjektionen im Deutschen, Engli- sika] ,böse‘, oa [o] toaka [toka] ,Alkohol‘, va-
schen, Französischen und Madagassischen. hoaka [vahoka] ,Volk‘, oa am Wortende [u]:
Schließlich sind noch die beiden Wörterbü- soa [su] ,gut‘, ao [o] laoka [loka] ,Gericht mit
cher mit Deutsch und Madagassisch zu er- Reis als Beilage‘, taolana [tolana] ,Knochen‘,
wähnen: Rakibolana Malagasy-Alemà (1991) a/i/o ⫹ n ⫹ i/o ⫹ na vokal ⫹ nna vonona
und Rakibolana Alemà-Malagasy (1994). Ne- [vunna] ,bereit‘, inona [inna] ,was‘, lefonina
ben der Lemmaliste enthält das Wörterbuch [lefunna] ,mit dem Speer aufspießen‘.
eine auf Deutsch und Madagassisch geschrie- Insgesamt kann man jedoch sagen, dass es
bene Übersicht über die Geschichte des Ma- nicht die Aussprache ist, die die Erlernung
dagassischen (Schmidt 1991) und eine eben- der deutschen Sprache bzw. des Madagassi-
falls auf Deutsch und Madagassisch ver- schen in besonderem Maße erschwert. Die
fasste madagassische Grammatik (Rajao- meisten Lernschwierigkeiten und auch die
narivo 1991) sowie eine entsprechende deut- wesentlichsten Unterschiede finden wir in
sche Grammatik (Bergenholtz 1991). Beide den jeweiligen grammatischen Strukturen. Im
Grammatiken geben einige Hinweise auf Madagassischen steht das Prädikat an erster
kontrastive Aspekte. Stelle, wir können auch von einer VOS-Spra-
che sprechen, anders bei Deutsch mit einer
SVO-Sprache. Wir setzen dabei voraus, dass
2. Kontrastive Aspekte der V für Prädikat steht. Das eingliedrige Prädi-
madagassischen und der deutschen kat kann von einem Existenzoperator misy
Grammatik ,es gibt‘ eingeleitet werden: misy fivoriana ,es
gibt-Versammlung‘ oder von einem Substan-
Im Folgenden setzen wir eine gewisse Be- tiv: mpanjaitra ny raiko ,Schneider-mein Va-
kanntheit mit dem Deutschen voraus. Auf ter‘, Adjektiv: reraka ny zaza ,müde das
Grundzüge des Madagassischen gehen wir et- Kind‘, Personal-, Demonstrativ-, Interroga-
was genauer ein; insbesondere, wenn es sich tivpronomen: azy ny sary ,ihm das Photo‘,
um kontrastive Regularitäten handelt, die iny ny raiko ,der dort-mein Vater‘, inona io?
Madagassisch für Deutsch und auch Deutsch ,was das da‘, Adverb: omaly ny fivoriana ,ge-
für Madagassen schwieriger machen. stern die Versammlung‘.
Für jedes Sprachpaar gibt es typische In- Es kann aber auch aus einem Verb, ver-
terferenzerscheinungen. Für die Deutschen, bunden mit einer Nominal- oder Adver-
die Madagassisch lernen, gilt insbesondere, bialphrase, bestehen:
dass sie die madagassische Satzmelodie nicht Mantsaka rano ny tovovavy
treffen, sondern „abgehackt“ reden. Außer- holen-Wasser-das/die Mädchen
dem sprechen sie gelegentlich alle Silben des Verb-Objekt-Subjekt
geschriebenen Wortes aus. Der Madagasse
Miresaka amin‘ny mpampianatra aho
hat typisch das Problem, dass er die letzte
sprechen-mit dem-Lehrer-ich
Silbe betont, z. B. sehén. Auch treten Prob-
Verb-Adverbialglied-Subjekt
leme mit dem stimmhaften s und dem Zisch-
laut auf. Manoratra ny anarako amin‘ny penina i Rakoto
Einige Schwierigkeiten des Deutschen mit schreiben-den Namen mein-mit dem-Kugel-
dem Madagassischen hängen mit der schreiber-der-Rakoto
Schreibweise zusammen. Die madagassische Verb-Objekt-Adverbialglied-Subjekt
Sprache wurde vor 1823 in arabischer Schrift Da das Madagassische keine Kopulaverben
geschrieben. Im März 1823 legte der dama- kennt, kann das Prädikat schließlich allein
lige König Radama I. fest, dass die Landes- aus einer Nominal- oder Adverbialphrase be-
sprache künftig in lateinischen Schriftzeichen stehen.
472 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

Die deutsche Sprache ist im Gegensatz zu vavy tsara ny voninkazo isa-maraina ny rano
dem Madagassischen stark flektierend. Am ,durch das Wasser werden die Blumen jeden
Beispiel des Verbs wird das Deutsche nach Morgen von dem Mädchen gewissenhaft be-
Tempus/Modus und Person/Numerus flek- gossen‘; 5. vom Umstand (Temporal): isa-ma-
tiert oder tritt auch auf als Infinitiv, Partizip I raina ,jeden Morgen‘ (Temporal-Subjekt),
oder II, vgl. denkt, dachte, denkend, gedacht. Umstandsverb: isa-maraina no an-(t)on-
Im Madagassischen ist das Verb eine Kombi- drah(a)-an’ny tovovavy tsara ny voninkazo
nation von Kernmorphem und Derivations- amin‘ny rano ,jeden Morgen werden die Blu-
morphem: tondraka, man-ondraka, a-ton- men von dem Mädchen mit Wasser gewissen-
draka, tondrah-ana. Es hat keinen Infinitiv, haft begossen‘; 6. vom Umstand (Eigen-
und das Präsens gilt als Basisform. Wie wir schaft) tsara ,gut‘, possessives Verb: tsara
es schon erwähnt haben, kann es substanti- tondraky ny tovovavy isa-maraina amin’ny
viert als Subjekt auftreten, z. B. mety ny man- rano ny voninkazo ,gewissenhaft begossen
jaitra ,das Nähen ist möglich‘, oder als Attri- werden die Blumen von dem Mädchen jeden
but erscheinen: eto ny vehivavy manjaitra Morgen mit Wasser‘ (Rajaona 1972, 708).
,hier ist/sind die nähende[n] Frau[en]‘, hitako Die wörtliche Übersetzung einiger der
manjaitra ny vehivavy ,ich sehe die Frau[en] sechs Beispiele enthalten ein Passiv. Dies ent-
beim Nähen‘. spricht den Verbformen im Madagassischen,
Der strukturelle Vergleich zwischen einer aber stellt natürlich kein übliches Deutsch
Ergativsprache wie Madagassisch und SVO- dar. In einer „besseren“ Übersetzung hätte
Sprachen wie Deutsch verdeutlicht, dass man wohl überall für die madagassischen
grammatische Kategorien, darunter auch das passiven Verbformen ein aktives Verb ge-
Subjekt, nicht universal sind. Im Deutschen wählt. Und bei einer Übersetzung aus dem
ist lediglich zwischen aktiven und passiven Deutschen ins Madagassische wird man die
Sätzen zu trennen, wobei in aktiven Sätzen umgekehrte Tendenz feststellen. Für den Un-
im Regelfall das Subjekt Agens und das Pa- terricht und auch für die lexikographische
tiens Objekt ist, in Passivsätzen ist das Sub- Praxis gibt es hier ein Problem, für das es
jekt Patiens, während man das Agens in einer keine einfache Lösung gibt. Z. B. sind in Ra-
Präpositionalphrase findet: 1. Das Mädchen kibolana Malagasy-Alemà (1991) madagassi-
begießt jeden Morgen die Blumen gewissenhaft sche Passive sowohl mit passiven als auch mit
mit Wasser; 2. Die Blumen werden jeden Mor- aktiven Verben wiedergegeben (die Abkür-
gen von dem Mädchen gewissenhaft mit Was- zung mt.ih. steht für passives Verb):
ser begossen. Mit denselben Satzelementen
hatavezina mt.ih. fettgefüttert werden, fettfüttern
können wir im Madagassischen die Aussagen hatsaraina mt.ih. verbessert werden, verbessern
nach verschiedenen syntaktischen Orientie-
rungen konstruieren. Differenzierende Verb- Wie die obige Erklärung zeigt, wird hiermit
formen werden durch Sehrichtungen unter- eine stark verkürzte Fassung der tatsächli-
schieden, d. h. von wem ein Geschehen gese- chen Verhältnisse geboten. In Wirklichkeit
hen wird: 1. vom Täter: ny tovovavy ,das verdecken die gleichlautenden Termini Passiv
Mädchen‘ (Agens-Subjekt), agentives Verb: (für Deutsch) und Passiv (für Madagassisch),
man-(t)ondraka tsara ny voninkazo amin’ny dass es sich deutlich um verschiedene gram-
rano isa-maraina ny tovovacy ,das Mädchen matische Strukturen handelt, für die man un-
begießt jeden Morgen die Blumen gewissen- terschiedliche Termini verwenden könnte.
haft mit Wasser‘; 2. vom Betroffenen: ny Wir haben vorhin gesagt, dass die deutsche
voninkazo ,die Blumen‘ (Patiens-Subjekt), ob- Sprache stark flektierend ist. Dies gilt nicht
jektives Verb: tondrah(a)-an’ny tovovavy nur für die Verbal-, sondern auch für die No-
tsara amin’ny rano isa-maraina ny voninkazo minalphrase. Deutsche Substantive und Arti-
,die Blumen werden jeden Morgen gewissen- kelwörter haben Genus und werden nach Ka-
haft vom Mädchen mit Wasser begossen‘; 3. sus und Numerus flektiert. Das ist jedoch
vom Instrument: ny rano ,das Wasser‘ (In- nicht der Fall im Madagassischen, wo die
strument-Subjekt), instrumentales Verb: a- grammatischen Kategorien Numerus, Genus
tondraky ny tovovavy tsara isa-maraina ny und Kasus nicht existieren. Statt dessen wer-
voninkazo ny rano ,das Wasser ist das Instru- den z. B. durch die Hinzufügung von lahy
ment, womit das Mädchen die Blumen gewis- ,männlich‘, vavy ,weiblich‘ solche Informa-
senhaft begießt‘; 4. vom Umstand (Mittel): tionen durch lexikalische Ausdrücke wieder-
ny rano ,das Wasser‘ (Mittel-Subjekt), appli- gegeben. An dieser Stelle wäre zu erwähnen,
katives Verb: an(t)ondradrah(a)-an’ny tovo- dass sich die Artikelklasse im Deutschen un-
49. Kontrastive Analysen Deutsch-Madagassisch: Eine Übersicht 473

mittelbar auf eine Nominalphrase bezieht. Im seiner Aussage aus. Solche Partikeln können
Madagassischen kann der Artikel ny ein Prä- z. B. eine Frage ausdrücken: Andeha angaha
dikat bestimmen, z. B. ny milalao dia ny an- ianao? ,fährst du eigentlich?‘; eine Warnung:
kizy ,diejenigen, die spielen, sind die Kinder‘, Tandremo fa maranitra anie io antsy io! ,pass
wobei die syntaktische Einsetzung des Arti- mal auf, das Messer ist scharf!‘; eine Bitte:
kels vor dem Prädikat eine Topikalisierung Aza ela re! ,komm schon gleich!‘ oder eine
des zweiten Elements des Satzes darstellt. Bestätigung/Verstärkung des Inhalts der Aus-
Was das Subjekt im Madagassischen betrifft, sage: Marary tokoa izy/Tena marary izy ,er ist
ist auch festzustellen, dass es am Ende des sicherlich krank‘; eine Vermutung oder einen
Satzes steht und, wenn es nicht selbstdetermi- Zweifel am Inhalt der Aussage: Toa marary
niert ist (wie bei den Pronomen), von einem izy ,er ist vielleicht krank‘.
Artikel bestimmt wird: Manasa lamba ny to-
vovavy ,das/die Mädchen wäscht/waschen
3. Routineformeln
[die] Wäsche‘ (Andriamanantseheno 1985).
Im Deutschen bezeichnet man als Artikel- Die deutsche und die madagassische Sprache
wort alle Wörter, die eine Nominalphrase ein- gehören ganz unterschiedlichen Gesellschafts-
leiten können und vor anderen Attributen formen an, und diese Tatsache lässt sich
stehen, z. B. das Kind, mein Bleistift, derjenige durch einige kontrastive Aspekte von deut-
Schüler. Es wird zwischen zwei Artikelarten schen und madagassischen Routineformeln
unterschieden: den Artikeln der kein-mein- illustrieren. Routineformeln sind solche Aus-
Gruppe, d. h. dem unbestimmten Artikel, kein drücke, die in rekurrenten Situationen sich
und der Possessivartikel mein, dein, sein, ihr, wiederholen und daher routinisiert werden
euer, ihr auf der einen Seite, und den Artikeln (Coulmas 1981). Zu den alltäglichen Aus-
der der-dieser-Gruppe, d. h. dem bestimmten drücken zählen Routineformeln wie Wie
Artikel und allen anderen Artikeln auf der geht’s? ⫺ Danke gut!; Verzeihung ⫺ Macht
anderen. Im Madagassischen stehen die Arti- nichts. Sie sind sprach-, kultur- und gesell-
kel immer vor einem Substantiv oder einem schaftsspezifisch und lassen sich nicht ohne
substantivierten Adjektiv oder Verb ny tsara weiteres auf eine andere Sprache übertragen
,das Gute‘, ratsy ny mandainga ,Lügen ist (Coulmas 1981). Nicht nur die Formeln wer-
schlecht‘. Es sind zwei Artikelarten zu tren- den routinisiert, sondern auch die Situatio-
nen: die Nominalartikel ny (anaphorisch und nen werden standardisiert und mit einer fe-
nicht deiktisch), ilay, ikala (anaphorisch, sten Reihe von Aktivitäten verbunden.
deiktisch) und die Personalartikel Ra-, i-, ilai-, Schon Houtman (1603) hat madagassische
An-, ry. Im Allgemeinen sind die Eigennamen Routineformeln in seinem Wörterbuch inte-
im Deutschen selbstdeterminiert. Wenn der griert. Es ist z. B. ein Dialog zwischen einem
Eigenname von einem bestimmten Artikel be- Holländer (H), der Nahrungsmittel kaufen
gleitet wird, gilt das als wiederaufnehmender möchte, und einem Madagassen (M) zu fin-
Hinweis auf eine bereits direkt oder indirekt den. Der folgende Auszug ist in der von
erwähnte Person. Auf Madagassisch sind die Houtman verwendeten Orthographie wieder-
Artikel Ra-, ilai-, Andria(n)- mit Eigennamen gegeben:
zusammengeschrieben und sind Respektarti- H. ⫺ Ranga rsaboy nau keney. ,Grüß Gott, mein
kel, Rakoto ,Herr Koto‘, i determiniert auch Freund‘
Verwandtschaftsnamen i neny ,meine Mutter‘ M. ⫺ Hennau hokenoy keney. ,Und Sie auch,
(Rajaonarivo 1991, 54). mein Freund‘
Während wir bisher auf Differenzen hinge- H. ⫺ Hennau tsemits sabo? ,Haben Sie etwas für
wiesen haben, wollen wir auch noch eine mich?‘
M. ⫺ Oulun ynou iany? ,Was für Leute sind Sie?‘
Ähnlichkeit erwähnen, die es z. B. nicht ohne
H. ⫺ Iahey vajaha, mevarou atou. ,Wir sind Aus-
weiteres zwischen Französisch und Deutsch länder und möchten gern Handel führen‘
gibt. Es geht um die Verwendung von Abtö- M. ⫺ Innou jaey? ,Welche Waren möchten Sie?‘
nungspartikeln, deren Bedeutung von der H. ⫺ Iahey milla agombe, osse, vare, rononne, tin-
Kommunikationssituation stark abhängig ist, telle, wankesey, watssorey, hoedits sajy mamy,
im Deutschen z. B. Das hatte ich dir ja gesagt; vo’a ravintsary. ,Wir möchten Ochsen, Zie-
Das is nun mal so; glauben Sie mir doch! gen, Reis, Milch, Honig, Pomeranzen, Zi-
Diese Partikeln sind Modalwörter und drük- trusfrüchte und auch Zimtstangen, Gewürz-
ken die kommunikative Intention des Spre- nelken, Blätter vom Ravensarabaum‘.
chers seinem Gesprächspartner gegenüber Madagassische Routineformeln sind auch in
oder seine Einschätzung des Realitätsgehalts Ravoson (1989) und Kartaschowa (1990) zu
474 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

finden. Eine genauere Darstellung sollte je- dann besonders erforderlich, wenn es um for-
doch neben dem nonverbalen Verhalten auch melhafte Wendungen in Briefen geht. Beson-
soziokulturelle Aspekte der Kommunikation ders bei der Begrüßung und Verabschiedung
und ihre pragmatischen Effekte berücksichti- ist es notwendig, Anreden und Schlussfor-
gen (Rajaonarivo/Stegemann 1994). Für kon- meln für offizielle Schreiben und für Briefe
trastive Darstellungen für Madagassisch- an Freunde zu beachten. Die Registerangabe
Deutsch sind folgende Sprechakte besonders formell/informell ist erforderlich, um für un-
relevant: bedauern, befehlen, begr¸ßen, be- terschiedliche Situationen die angemessenen
schimpfen, bitten, danken, drohen, (sich) Sprachhandlungen zu beschreiben.
entschuldigen, erlauben, fluchen, gratu- Diese Zusammenhänge sind in Rakibo-
lieren, loben, kondolieren, tadeln, (sich) lona Alemà-Malagasy (1994) wie folgt er-
verabschieden, verbieten, vorschlagen, fasst: Auf die einzelnen Routineformeln wird
(sich) vorstellen, w¸nschen. Die Zuord- von den einzelnen Wörterbuchartikeln ver-
nung sprachlicher Ausdrücke zu Verwen- wiesen, z. B. auf gratulieren u. a. von aus-
dungssituationen und Sprechergruppen setzt sprechen, Examen, Geburt, Geburtstag, Glück-
ein Modell sprachlicher Variation voraus, das wunsch/wünsche, Gratulation, herzlich, Hoch-
durch die Register mündlich/schriftlich, for- zeit, Jubiläum, Namenstag, Prüfung, umar-
mell/informell/neutral und implizit/explizit men. In dem konkreten Wörterbuch, das so-
markiert wird. Die meisten Sprachhandlun- wohl für Madagassen als auch für Deutsche
gen kommen ohne die Einteilung mündlich/ konzipiert ist, wird beispielsweise begr¸ßen
schriftlich aus. Eine solche Einteilung wird wie folgt dargestellt:

begr¸ßen miarahaba1
mündlich/formell amim-panajana/raha miteny
Auf madagassisch bedeutet das Wort miarahaba Mifono hevitra roa samihafa ny teny miarahaba
sowohl ,begrüßen‘ als auch ,gratulieren‘ […] amin’ny teny malagasy > (miarahaba2) […]
Den Ausländern gegenüber wird meistens auf die Tsy ny teny malagasy mazàna no ampiasaina re-
madagassische Sprache verzichtet zugunsten der hefa mandray vazaha fa ny teny frantsay na an-
französischen oder englischen. glisy.
Daneben gibt es Begrüßungsformeln in alltäglichen Misy fiarahabana raikitra ankoatr’ireo izay ma-
Situationen, die dennoch eine formelle Anrede ver- neho fanajana (oh. any amin’ny toeram-piasana,
langen (z. B. im Büro, auf der Straße etc.). Diese eny an-dalana, sns.). Fampiasa ireto teny raikitra
Formeln kann man auch als offizielle Anrede etwa ireto na eo amin’olona mifankafantatra na entina
des Vorgesetzten einsetzen. Sie werden i. d. R. in miarahaba olona ambony rehefa mifanena. Mian-
der persönlichen Begegnung verwendet. Sie sind kina amin’ny fotoana ny fampiasana azy ireo
auf Deutsch an die Tageszeit gebunden: amin’ny teny alema:
(guten) Morgen hatramin’ny 9 ora maraina
(guten) Tag amin’ny 10 ora hatramin’ny 5 ora hariva
(guten) Abend amin’ny hariva
Folgende Gruß- und Wunschformeln J w¸nschen Miankina amin’ny fety hita ao amin’ny alimanaka
sind von Festen, die im Kalender festgelegt sind, ny fampiasana ireto teny fiarahabana manaraka
abhängig: ireto:
Frohe Ostern/Weihnachten Arahaba, tratry ny Paska/Krismasy!
Es handelt sich hier um eine Frage nach dem Befin- Fanontaniana momba ny toe-pahasalamana ity
den, nicht um eine bloße Begrüßungsform. Dem fiarahabana manaraka ity. Arak’izay dia milaza ny
entsprechend reagiert man auf die Frage, indem toe-pahasalamany izay anontaniana:
man ⫺ so ausführlich, wie man möchte ⫺ über
seine Befindlichkeit Auskunft gibt:
Wie geht es Ihnen? Manahoana ianoa, Tompoko?
Mögliche Antwort: ⫺ Danke gut! Und Ihnen? Ny mety ho valiteny: Tsara fa misaotra!/Ianao no
manahoana?
Nicht so gut/Schlecht Tsy dia salama-/ Antonontonony
Normalerweise wird einem auf madagassisch kein Tsy firariana andro mahafinaritra mihitsy no enti-
schöner Tag gewünscht, sondern es wird nach der miarahaba amin’ny teny malagasy fa fanontaniana
Gesundheit des anderen gefragt. momba ny toe-pahasalamana.
49. Kontrastive Analysen Deutsch-Madagassisch: Eine Übersicht 475

Auf Madagassisch können andere Anderedefor- Ankoatra ny „ianao/Tompoko“ dia azo atao ny
meln ohne ein Pronomen der dritten Person ver- miarahaba olona araka ny toerany eo amin’ny fia-
wendet werden. Diese bezeichnen die Tätigkeit/den raha-monina/fifandraisana mahazatra, oh.:
Beruf/den sozialen Status des Betreffenden, d. h.
die Anrede bezieht sich darauf, in welchem sozialen
Verhältnis der Adressat zu dem Sprecher steht,
z. B.:
einem Lehrer gegenüber: Manahoana Ramose/Madama?
einem Vorgesetzten gegenüber: Manahoana Andriamatoa Tale?
einem älteren Menschen gegenüber: Manahoana Dada Pasy/Maman’i Rondro?
einem Verwandten gegenüber: Manahoana Dadabe/Neny/Dadatoa?
Zu Besuch bei Trauernden gibt es in Madagaskar Amin’ny famangiam-pahoriana dia misy fiaraha-
ein Begrüßungsritual: bana manokana araka ny fomba malagasy:
Begrüßungsformel: Akory avy izato ianareo, Tompoko?
mögliche Antwort: Ny mety ho valiteny: Indreto izahay eto ihany, Tom-
poko

Gestik arahana fihetsika


Mit der Begrüßung sind verschiedene Gesten ver- Arahana fihetsika samihafa ny teny fiarahabana:
bunden:
Bei formellen Gelegenheiten begrüßen sich die Ge- Mifandray tanana rehefa mifampiarahaba amim-
sprächspartner per Handschlag. Bei Madagassen panajana.
ist auch Händedruck mit beiden Händen üblich. Mazatra ny malagasy ihany koa ny mifampiara-
(…) haba an-tanan-droa. (…)

mündlich/informell eo amin’ny mpifankazatra/ raha miteny


Die hier genannten Begrüßungsformeln werden un- Ireo fiarahabana raikitra tanisaina manaraka ireto
ter Bekannten benutzt: dia fampiasa eo amin’ny olona mifankahalala
tsara:
(guten) Morgen! hatramin’ny 9 ora maraina
(guten) Tag! amin’ny 10 ora hatramin’ny 5 ora hariva
(guten) Abend! amin’ny hariva
Hallo!/Hallo, wie geht’s? (Man)ahoana!
Wie geht’s? Fahasalamana!
In Madagaskar werden dazu vertrauliche Anreden
verwendet:
Mädchen gegenüber: „aky, ndry“ Ahoana aky ndry!
Jungen gegenüber: „leity, ise“. Ahoana leity/ise!
Darüber hinaus gibt es in einigen Berufsgruppen Ankoatra izany dia misy fiarahaban raikitra eo
in Deutschland bestimmte Grüße, z. B.: Waid- amin’ny sokajin’asa samihafa any Alemaina: Waid-
mannsheil! mansheil!
Hier handelt es sich um einen Jägergruß. Man ver- Teny fiarahaban ifanaovan’ny mpihaza ary ampia-
wendet ihn, um sich bei der Jagd viel Glück zu wün- saina ho firariantsoa.
schen.

4. Kulturspezifika Fachexperten (Bergenholtz/Kaufmann 1996).


Auch für den gemeinsprachlichen Bereich
Die meisten Linguisten unterscheiden zwi- kann eine solche Argumentation gegen eine
schen Weltwissen und Sprachwissen. Man Trennung von Welt- und Sprachwissen ge-
spricht auch von enzyklopädischem und führt werden. Die Fragwürdigkeit einer Tren-
sprachlichem Wissen. Es gibt aber auch an- nung wird am ehesten deutlich, wenn kon-
dere Linguisten, die weder scharf trennen trastive Analysen durchgeführt werden. Je
noch eine unscharfe Grenzlinie ziehen wol- größer der kulturelle Abstand zwischen zwei
len, sondern von Graden von Kultur- und Sprachen ist, um so eher wird man Fälle mit
Fachkenntnissen ausgehen. Bei einer Fach- Kulturspezifika finden. In allen Fällen mit
sprache kann man dann trennen zwischen In- Kulturunspezifika liegt eine gemeinsame kul-
formationen für Laien, Semifachleute und turelle Erfahrung vor, die vorausgesetzt wer-
476 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

den kann. Jede „linguistische“ bzw. „semanti- Pfannkuchen m mofomamy manify endasina anaty
sche“ Erklärung versucht sozusagen den lapoaly [Mehlspeise, die man flach in einer
Kern des Wissens zu bieten, vergleichbar mit Pfanne bäckt]
dem Fall, dass ein Fachexperte eine Erklä- Bei Sprachvergleichen wird man immer wie-
rung für einen Laien gibt. Dies kann aber nur der feststellen, dass Familienbeziehungen in
gelingen, wenn das gemeinsame Weltwissen verschiedenen Kulturen auf unterschiedliche
vorausgesetzt werden kann. Bei der Überset- Weise gesehen werden, so dass keine volle
zung in eine andere Sprache kann entspre- Übereinstimmung bei einer Übersetzung
chend ein Wort für ein anderes eingesetzt nach der Methode (A) erreicht werden kann.
werden. Kulturspezifika sind dagegen da- Eine deutsche Kernfamilie besteht aus den El-
durch gekennzeichnet, dass sie sich nicht tern und den Kindern. Jede Kernfamilie ist
ohne weiteres in eine andere Sprache überset- Teil einer Familie, d. h. einer Gruppe von
zen lassen. Das Problem ist jedem Übersetzer Menschen, die alle miteinander verwandt
bekannt. Er hat dann mindestens drei ver- sind. Im Prinzip kann man dieselbe Erklä-
schiedene Möglichkeiten, wenn er für L1a, rung für ein Teil dessen geben, wofür fianaka-
d. h. ein bestimmtes Wort in der Ausgangs- viana steht. Mit diesem Ausdruck ist jedoch
sprache, ein L2a, d. h. ein anderes Wort in der nicht nur das gemeint, was auf Deutsch Fa-
Zielsprache finden soll: (A) Er findet einen milie ist, sondern auch eine Menge von Fami-
Ausdruck, der zwar nicht genau trifft, aber lien, die sich zu einem foko zusammenge-
doch eine Ähnlichkeit mit L1a aufweist. (B) schlossen haben. Zu einem foko gehören so-
Er übersetzt gar nicht durch ein einzelnes mit Gruppen von Familien, denen gemein-
Wort, sondern lässt L1a als Teil des L2-Textes sam ist, dass sie dieselben Ahnen haben. Die
stehen, evtl. in Anführungszeichen gesetzt. Ahnen können sich aber nicht mit Sicherheit
(C) Schließlich kann er statt eines Wortäqui- auf genealogische Befunde berufen. Den foko
valents eine Erklärung in L2 schreiben, die verbinden gemeinsamer Wohnort und ge-
den Inhalt von L1a wiedergibt. meinsamer Kult des namensgebenden Ahnen
Beim Sprachenpaar dieses Beitrags ist die (Suter 1992, 146). Zur Familie im weiteren
Menge der Kulturspezifika erheblich, insbe- Sinne gehören aber auch Freunde und even-
sondere bei der Richtung Madagassisch J tuell Kollegen. Wenn daher in Madagaskar
Deutsch. Wir wollen im Folgenden einige ein Deutscher hört, der oder die gehört zur
Beispiele hierfür geben und dabei auf die ent- Familie, wird er es entweder nicht oder nicht
sprechenden Wörterbuchartikel in Wörterbü- ganz richtig verstehen. Auch wenn wir bei der
chern zurückgreifen, in denen die oben ge- Kernfamilie bleiben, gibt es wesentliche Un-
nannte Methode (C) angewandt wird. terschiede. Man kann dies schematisch wie
Viele madagassischen Familien essen mor- folgt (S. 477) darstellen (Rajaspera 1995).
gens, mittags und abends Reis. Manchmal Ein Beispiel einer solchen Verwandt-
gibt es auch etwas Fleisch, Fisch dazu. Ge- schaftsbeziehung wird in dem madagassisch-
trunken wird „ranovola“, das man nach der deutschen Wörterbuch wie folgt erklärt:
Methode (A) durch Reiswasser übersetzen mirahavavy p.t. verwandtschaftliche oder gesell-
könnte. In Rakibolona Alemà-Malagasy schaftliche Beziehung zwischen Mitgliedern des
(1991) gibt es dazu folgenden Wörterbuchein- weiblichen Geschlechts
trag: Umgekehrt muss man dann sagen, dass die
ranovola a. Getränk deutschen Beziehungen für Verwandtschaft
Nach dem Kochen des Reises bleibt meist ein von einem anderen System ausgehen, vgl.
angebrannter Rest am Topfboden. Auf diesen dazu aus dem deutsch-madagassischen Wör-
wird Wasser gegossen, und das Ganze wird auf- terbuch:
gekocht. Dieses Getränk wird meist zu den
Mahlzeiten getrunken. Tante f nenitoa, rahavavin-dreny (Schwester der
Mutter), anabavin-dray (Schwester des Vaters),
Dies ist nur eines aus mehr als hundert mada- vadin’ny rahalahin-dray (Frau des Bruders väter-
gassischen Gerichten und Getränken. Ent- licherseits), vadin’ny anadahin-dreny (Frau des
Bruders mütterlicherseits)
sprechend gibt es in Deutschland Gerichte
und Getränke, die man auf Madagaskar Eng verbunden mit der Zugehörigkeit zu ei-
nicht kennt, z. B. Korn, Sekt, Pfannkuchen ner Familie im Sinne von Großfamilie ist für
und vieles mehr. Hierfür ein Beispiel aus Ra- Madagassen die Zugehörigkeit zu einer sozia-
kibolana Alemà-Malagasy (1994): len bzw. administrativen Gemeinschaft, zu ei-
49. Kontrastive Analysen Deutsch-Madagassisch: Eine Übersicht 477

Abb. 49.1.

ner fokontany. Man könnte dies mit ,Ge- vgl. hierzu den Eintrag in Rakibolona
meinde‘ nach der Methode (A) übersetzen, Alemà-Malagasy (1991):
würde dann aber den Kern der Bedeutung
fokontany a. Stadt- oder Dorfviertel, kleinste kom-
von fokontany nicht treffen. Eine fokontany munale Verwaltungseinheit
besteht meistens aus einer Gruppe von 300
bis 600 Personen, die eine gewisse Selbstver- Entsprechend sind die deutschen Termini für
waltung mit einem gewählten Chef ausüben, die Aufteilungen in Gemeinde, Kreis, Bun-
478 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

desland usw. sowie die entsprechenden Funk- und auch nicht buxi. Der letzte Ausdruck ist
tionsträger eigens zu erklären, will man nicht erst neulich in die madagassische Sprache ge-
die ungenaueren Methoden (A) und (B) ver- kommen, er findet sich in keinem Wörter-
wenden. buch. Ein buxi ist mit einem Mini-bus oder
Kulturspezifika finden sich natürlich auch einem taxi-be vergleichbar, hat aber mehr
in dem ganzen Bereich des familiären Zusam- Sitzplätze. Ein taxi-brousse ist ein Sammel-
menlebens, darunter auch religiöse und tradi- taxi, das über längere Strecken fährt.
tionelle Riten. Ein fady ist ein Verbot, es wird Weiterhin gibt es auf Madagaskar bzw. in
gelegentlich durch Tabu erklärt. Dabei ist es Deutschland eine Reihe von Pflanzen und
jedoch so, dass es fadys gibt, die für nur eine Bäumen, die es in dem jeweiligen anderen
Person oder für mehrere Personen, vielleicht Land nicht gibt. Hierfür gibt es zwar lateini-
eine Großfamilie, vielleicht für eine Region sche Termini, aber keine in der jeweils ande-
oder für eine bestimmte Zeit gelten. Wer ein ren Sprache, z. B. auf Madagaskar die
fady nicht einhält, kann für immer oder für Pflanze avoko, die man wie folgt im erwähn-
kurze Zeit aus der Gemeinschaft ausgeschlos- ten Wörterbuch erklärt: „Kletterpflanze, de-
sen werden. In anderen Fällen kann das ren Wurzel und Früchte essbar sind“. Ent-
Nicht-Einhalten des fadys dazu führen, dass sprechend kennen wir auf Madagassisch
der „Übeltäter“ nicht nur sich selbst in Ge- keine Wörter für Eiche, Birke oder Buche.
fahr bringt, sondern auch andere. Z. B. gibt Wir kennen in Europa natürlich Muscheln
es in einem Dorf den fady, dass man, wäh- und verwenden sie oft als Dekoration in der
rend das Boot für die Reise fertig gemacht Wohnung; Kinder genießen das leichte Brau-
wird, nicht mit den anderen reden darf. An- sen, wenn sie die Muscheln ans Ohr legen. So
dere fadys bestehen darin, dass man an einem ist es auch auf Madagaskar. Muscheln haben
bestimmten Tag nicht arbeiten darf. Da bei in einigen Gegenden außerdem eine andere
einer Heirat die fadys beider Eheleute für Funktion. Hierfür gibt es ein eigenes Wort
beide gelten, kann das dazu führen, dass an antsiva, das im madagassisch-deutschen Wör-
zu wenigen Tagen gearbeitet wird. In diesen terbuch wie folgt erklärt wird: „große Mu-
und anderen Fällen kann dann der mpanan- schel, die die Küstenbewohner als Musikin-
dro ,eine Art Astrologe‘ ein fady aufheben. strument, aber auch als Signalhorn benut-
Erwähnen wollen wir noch die famadi- zen“.
hana, die nach der Methode (A) verkürzt als Wir haben hier nur einige wenige Beispiele
Umwendung erklärt werden kann. Die ge- anführen können. Eine systematische kon-
nauere, aber immer noch kurz gefasste Erläu- trastive Analyse auf diesem Feld wäre eine
terung lautet in Rakibolana Malagasy-Alemà lohnende Aufgabe für weitere Forschungen.
(1991) wie folgt: Vorarbeiten dazu finden sich in den zitierten
famadihana a. Wörterbüchern sowie in einer Reihe von so-
Zentraler und wichtigster Ritus des madagassi- ziologischen, wirtschaftlichen und landwirt-
schen Ahnenkultes auf dem zentralen Hoch- schaftlichen Analysen (z. B. Suter 1992).
land. Nach einer angemessenen Frist (mehrere
Jahre) wird ein Verstorbener aus der Familien-
gruft geholt und in neue Leichentücher gewik- 5. Perspektivierung
kelt. Famadihana ist ein großes, frohes Fami-
lienfest, in dessen Verlauf auch Tiere (Rinder, Für weitere kontrastive Arbeiten gibt es The-
Geflügel) geopfert werden. Es kann mehrere men genug. Wir möchten insbesondere auf
Tage dauern und wird von Musik, Tanz und Ge- drei Aufgaben hinweisen, die wir als vor-
sang begleitet.
dringlich einstufen.
Kulturspezifika finden sich keineswegs nur in Für genauere konstrastive Analysen, als sie
sozialen Zusammenhängen. In Deutschland bisher vorgelegt wurden, wäre eine Zusam-
hat man anders als auf Madagaskar Auto- menstellung eines madagassischen Textkor-
bahnen, Straßenbahnen oder Straßenbahn- pus dringend erforderlich. Selbst ein kleines
linien. Daher gibt es auch keine madagassi- Korpus, bestehend aus 3⫺5 Mio. Textwör-
sche Wörter dafür, man muss den Sachver- tern, würde eine empirische Basis bilden, die
halt erklären. Z. B. für Autobahn steht in Ra- über die teilweise unsicheren, introspektiv ge-
kibolana Malagasy-Alemà (1991): arabe maro wonnenen Daten hinausführen können (Ber-
zotra ifamoivoizana ,Straße mit mehreren genholtz 1994). Es wäre zwar besonders in-
Verkehrsspuren‘, andererseits gibt es in teressant, auch die gesprochene Sprache ein-
Deutschland weder taxi-be noch taxi-brousse zubeziehen. Aber dies wäre zum einen zeit-
49. Kontrastive Analysen Deutsch-Madagassisch: Eine Übersicht 479

aufwendig, zum anderen wären die bislang spielen). In: Udo L. Figge (Hg.): Portugiesisch-
schlecht erforschten dialektalen Unterschiede deutsche Lexikographie: Grundlagen, Makro- und
zu berücksichtigen. Man sollte daher zu- Mikrostruktur, Computerunterstützung, Anwen-
nächst ein Korpus des geschriebenen Mada- dung. Tübingen, 47⫺63.
gassischen erstellen, in das neben Zeitungen, ⫺; Uwe Kaufmann (1996): Enzyklopädische Infor-
Wochenschriften, Erzählungen und Romane mationen in Wörterbüchern. In: Nico Weber (Hg.):
Theorie der Semantik und Theorie der Lexikogra-
auch religiöse Schriften und Teile der Bibel
phie. Tübingen, 168⫺182.
aufgenommen werden sollten. Hiermit wäre
der Anfang für verschiedene Parallelkorpora Coulmas, Coulmas (1981): Routine im Gespräch.
Zur pragmatischen Fundierung der Idiomatik. Wies-
mit Deutsch und Madagassisch gemacht. baden.
Weiterhin ist festzustellen, dass bisher jede
Houtman (1603) ⫽ Fréderic de Houtman van
Form von kontrastiven fachsprachlichen Un-
Gouda: Dialogues et dictionnaire malais et malga-
tersuchungen mit Deutsch und Madagassisch ches, avec de nombreux mots arabes et turcs. Am-
fehlt. In weiten Bereichen hängt dies auch da- sterdam: Jean Evertsz. Wiederabdruck. In: Collec-
mit zusammen, dass eine eigene madagassi- tion des Ouvrages anciens conernant Madagascar.
sche Terminologie zu den meisten Fachspra- Tome I. Paris 1903, 323⫺392.
chen noch völlig fehlt. Man kann hier deswe- Kartaschowa, Ludmilla (1990): Gesprächsbuch
gen nicht nur analytisch vorgehen, sondern Deutsch-Madagassisch. Leipzig.
wird systematisch neue Fachterminologien Rajaona, Siméon (1972): Structure du malgache.
entwickeln müssen. In vielen Bereichen wird Fianarantsoa.
der Bezug zum Französischen und Engli- Rajaonarivo, Suzy (1991): Famintinana ny fitsi-
schen von besonderer Wichtigkeit sein, aber peny Malagasy/Kurze Grammatik des Madagassi-
in Bereichen wie Tourismus, Handel, Phar- schen. In: Rakibolana Malagasy-Alemà, 28⫺83.
mazie und Medizin bestehen wesentliche ⫺; Sabine Stegemann (1994): Routineformeln/
deutsch-madagassische Beziehungen und ent- Fomba fiteny raikitra. In: Rakibolana Alemà-Ma-
sprechende Bedürfnisse für bilinguale fach- lagasy, 743⫺786.
sprachliche Forschung, darunter auch die Bil- Rajaspera, Raphaël (1995): Taxinomies lexicales et
dung von neuen madagassischen Termini. structures sémantiques vues à travers de traduction
Schließlich ist der Bedarf an weiteren du français en malgache: les termes de parenté, la
deutsch-madagassischen Wörterbüchern zu dénomination des couleurs. In: Journal des traduc-
erwähnen. Die beiden vorliegenden sind als teurs Meta 40, 623⫺631.
Textproduktionswörterbücher konzipiert und Rakibolana Malagasy-Alemà (1991) ⫽ Rakibolana
haben mit ihren jeweils etwa 10.000 Lemmata Malagasy-Alemà: Madagassisch-Deutsches Wörter-
einen zu geringen Lemmabestand, als dass sie buch. Hg. v. Henning Bergenholtz in Zusammenar-
auch als Rezeptionswörterbücher problemlos beit mit Suzy Rajaonarivo et al. Antananarivo/
verwendet werden können. Sie umfassen je- Moers.
doch jenen Kernbereich des Wortschatzes, Rakibolana Alemà-Malagasy (1994) ⫽ Deutsch-
der besonders ausführliche Angaben benö- Madagassisches Wörterbuch/Rakibolana Alemà-
tigt. Eine Erweiterung des Lemmabestandes Malagasy. Hg. v. Henning Bergenholtz in Zusam-
menarbeit mit Suzy Rajaonarivo et al. Antanana-
in diesen Wörterbüchern auf das Fünf- bis rivo/Moers.
Sechsfache wäre erforderlich und auch zu be-
Ramanantsialonina, Félix (1968): Gramera. Fiana-
wältigen, da der erste besonders arbeitsinten-
rana ny teny Alemà. Antananarivo.
sive Bereich schon erfasst worden ist.
Ramandresiarisoa, Helga (1991): Kontrastive Ana-
lyse deutscher und madagassischer Routineformeln.
6. Literatur in Auswahl Magisterarbeit Université d’Antananarivo/Univer-
sität Bielefeld.
Aichele, W. (o. J.): Einführung in das Madagassi- Raminosoa, Beby Soa (1983): Contribution à l’his-
sche (Dialekt von Imerina). Ms. Antananarivo. toire des relations entre l’Allemagne et Madagascar.
Andriamanantseheno, Christian (1985): Die kon- Diplomarbeit, Université de la Sorbonne Nouvelle
trastive Funktion des Artikels im Deutschen und Ma- Paris III. Paris.
dagassischen. Magisterarbeit Université d’Antana- Ranarijaona Ravaoraivelo, Claire (1986): Das
narivo/Universität Bielefeld. „Hira gasy“ als ein besonderer Typ des madagassi-
Bergenholtz, Henning (1991): Famintinana ny fitsi- schen Volkstheaters im Vergleich mit dem nieder-
peny Alemà/Kurze Grammatik des Deutschen. In: deutschen Theater als Volkstheater. Magisterarbeit
Rakibolana Malagasy-Alemà, 62⫺104. Université d’Antananarivo/Universität Bielefeld.
⫺ (1994): Die empirische Basis zweisprachiger Rasoloson, Janie Noëlle (1994): Interjektionen im
Wörterbücher (mit madagassisch-deutschen Bei- Kontrast. Am Beispiel der deutschen, madagassi-
480 VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen

schen, englischen und französischen Sprache. Frank- Suter, Claire-Lise (1992): Landnutzung, Produktion
furt a. M. usw. und Verwertung bäuerlicher Erzeugnisse in der Ge-
Ravoson, Voahanginirina Helena (1989): Madagas- meinde Avaratrambolo ⫺ eine Fallstudie im zentra-
sisch für Globetrotter. Bielefeld. len Imerina (Madagaskar). Diplomarbeit: Bern.
Schmidt, Bernd (1990): Vorbemerkungen. In: Kar-
taschowa 1990, 11⫺20.
⫺ (1991): Avy amin’ny teny malagasy/Aus der Ge- Henning Bergenholtz, Århus (Dänemark)
schichte der madagassischen Sprache. In: Rakibo- Suzy Rajaonarivo, Antananarivo
lana Malagasy-Alemà, 14⫺27. (Madagaskar)
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten
des Deutschen

50. Das Deutsche in Österreich

1. Grundsätzliches und konstituieren als solche die Varietäten.


2. Sprachgeografische, sprachhistorische und Hinsichtlich ihres Umfangs verzeichnet Eb-
sprachsoziologische Voraussetzungen des ner (1998) für Österreich auf dem auffälligen
österreichischen Deutsch Gebiet des Wortschatzes rund 7000 Austria-
3. Linguistik des österreichischen Deutsch
4. Das österreichische Deutsch im Unterricht zismen, während die großen deutschen Wör-
Deutsch als Fremdsprache terbücher von Duden und Brockhaus-Wahrig
5. Literatur in Auswahl den gesamtdeutschen Wortschatz mit über
200 000 Wörtern angeben. Das macht einen
Anteil der österreichischen lexikalischen Ei-
1. Grundsätzliches genheiten in der Schrift und Standardsprache
Die verbindliche Sprachform der einzelnen von etwa 3% aus ⫺ oder anders ausgedrückt:
deutschsprachigen Länder ⫺ insbesondere in auf einen Text von 100 Wörtern entfallen
Deutschland, in Österreich und im größten durchschnittlich drei Austriazismen, wobei
Teil der Schweiz ⫺ bildet die deutsche freilich die tatsächlichen Verteilungen je nach
Schrift- und Standardsprache, während der Inhalt und Sachgebiet schwanken. Es herrscht
Substandard als gesprochene Dialekte und daher innerhalb der deutschen Sprache be-
Umgangssprachen überall räumlich stark dif- züglich der Standardsprache weitgehende
ferenziert ist. Die Schrift- und Standard- länder- und gebietsübergreifende allgemeine
sprache ist jedoch keine Einheitssprache, son- Verständlichkeit. Die jeweils gebräuchlichen
dern besteht aus Varietäten. Begonnen von Varianten mit allgemeiner Akzeptanz in den
Kloss und ausgebaut von Clyne (1984, 1992, einzelnen Gebieten und damit auch die ein-
1995) erfolgt ihre Beurteilung seit den ausge- zelnen Varietäten sind somit hinsichtlich ih-
henden 80er Jahren (Polenz 1987, 1988, 1990) rer normativen Gültigkeit als gleichwertig
nach dem plurizentrischen Modell. Es setzt in und gleichberechtigt anzusehen. Hier hat der
rein synchroner, auf die Gegenwart bezoge- von österreichischer Seite besonders im
ner Vorgangsweise Nation, Staatsterritorium Vergleich zu der vielfach als vorbildlich be-
und Sprache gleich und folgert daraus natio- trachteten norddeutschen Varietät stets ver-
nale Varietäten des Deutschen in Deusch- tretene Grundsatz zu gelten: „Österreichisches
land, in Österreich und in der Schweiz als Deutsch ist kein schlechteres, sondern ein an-
deutsches (oder deutschländisches) Deutsch, deres Deutsch“ (Moser 1989, 25).
österreichisches Deutsch und Schweizer- Was bei dieser rein synchronen Beurtei-
deutsch (oder genauer Schweizer Hoch- lung ausgeklammert wird, ist einerseits die
deutsch; vgl. Art. 51; Ammon 1995). Die die Diachronie und andererseits die Verbreitung
Varietäten ausmachenden Varianten betref- und Gültigkeit der Varianten, indem über die
fen in jeweils unterschiedlichem Umfang alle tatsächlich staatsgebundenen Varietäten hin-
sprachlichen Ebenen: die phonetisch-phono- aus zahlreiche weitere Varianten teils länder-
logische (und danach in Einzelheiten auch die übergreifend, teils nur auf Teilbereiche eines
graphematische Ebene), die morphologische, Landes beschränkt auftreten. So deckt sich
die syntaktische und die lexikalisch-semanti- hinsichtlich der Verbreitung und räumlichen
sche Ebene einschließlich der Phraseologie. Gültigkeit nur ein kleiner Teil als spezifische
Dazu kommen noch pragmatische Unter- Varianten mit den heutigen Staatsgebieten, so
schiede. Bei größtenteils vorherrschenden ver- dass Sprach- und Staatsgrenzen tatsächlich
bindlichen Gemeinsamkeiten machen diese zusammenfallen. Dagegen tritt der größere
Varianten jeweils die differentia specifica aus Teil als unspezifische Varianten auf (Ammon
482 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

1995). Es sind von Österreich aus beurteilt ei- einigen das nationale Moment der Sprache als
nerseits länderübergreifende oberdeutsche Identifikationsmerkmal hervorgekehrt wird
Varianten in Süddeutschland, Österreich und (Hrauda 1948; Muhr 1982, 1989, 1995a; Pol-
der Schweiz; westoberdeutsche Varianten in lak 1992), so ist dabei unter Vernachlässi-
Südwestdeutschland, der Schweiz, Liechten- gung der strukturlinguistischen Gegebenhei-
stein und im westlichsten österreichischen ten (Reiffenstein 1983, 23) die soziolinguisti-
Bundesland Vorarlberg; sowie ostoberdeut- sche Sicht ausschlaggebend, die auf ein ver-
sche Varianten in (Alt)Bayern und Österreich. breitetes Bewusstsein sprachlicher Eigen-
Andererseits gibt es lediglich auf Teilgebiete ständigkeit verweist und auf dem Selbstver-
von Österreich beschränkte Varianten, wobei ständnis der Österreicher als souveräner Na-
vor allem im Wortschatz West-Ost-Unter- tion mit einer entsprechenden Abgrenzung
schiede mit ostösterreichischem Eigenverhal- besonders von Deutschland und den Deut-
ten zu beobachten sind und teilweise auch schen beruht. Als Gegenargumente werden
Vorarlberg eine Eigenstellung einnimmt. Die hauptsächlich genannt die zahlreichen ober-
Ursachen dafür liegen in der Diachronie und deutschen Gemeinsamkeiten und da beson-
gehen damit auf die jahrhundertealte Ge- ders mit (Alt)Bayern und damit gegenüber
schichte der deutschen Sprache mit verschie- staatlichen die länderübergreifenden Nord-
denartigen stammessprachlichen Grundla- Süd-Unterschiede innerhalb des Deutschen
gen, wechselnden kulturellen Beziehungen und die relativ geringe Anzahl spezifischer
und sich unterschiedlich entwickelnden terri- Varianten in ganz Österreich oder bloß in
torialen und sprachräumlichen Verhältnissen Teilgebieten, wobei den tatsächlich staatsab-
zurück, während die heutigen Staatsterrito- hängigen Verwaltungsterminologien wenig
rien trotz ihrer längeren Vorgeschichte relativ alltagssprachliche Präsenz und Bedeutung
jung sind. So besteht die heutige Republik beigemessen wird (Pohl 1997; Scheuringer
Österreich seit 1918 und gab es von 1949 bis 1987; 1996). Da aber das österreichische
1990 mit der Bundesrepublik Deutschland Deutsch in seiner Struktur eine Varietät der
und der Deutschen Demokratischen Repu- deutschen Sprache bleibt und auch gegen-
blik zwei deutsche Staaten. Es wurde daher wärtig alle Entwicklungen der deutschen
in linguistischer Hinsicht auf Grund der Sprache mitvollzieht, gehen unter verschiede-
Mehrzahl der in ihrer jeweiligen Verbreitung nen Voraussetzungen seit den 30er Jahren des
von den heutigen Staatsterritorien unabhän- 20. Jh.s immer wiederkehrende Versuche, es
gigen Varianten auch vorgeschlagen, die Va- als möglichst selbständige Sprachform „Öster-
rietäten der deutschen Schrift- und Standard- reichisch“ hinstellen zu wollen, an der Sprach-
sprache als pluriareale Varietäten zu verste- realität vorbei. Ebenso ist aber auch die vor
hen (Wolf 1994, 74; Scheuringer 1996; Pohl allem in Deutschland praktizierte unizentri-
1997). Dass zahlreiche normative Wörterbü- sche Haltung abzulehnen, die eine meist
cher des Deutschen der tatsächlichen Variabi- nord- und mitteldeutsch geprägte Standard-
lität nicht in genügendem Maß Rechnung sprache als eine für den gesamten deutschen
tragen, so dass die Kodifizierungen in Sprachraum verbindliche einheitliche Norm
Deutschland, Österreich und der Schweiz vorgibt und damit am Sprachgebrauch vor
scheinbar jeweils einheitliche nationale Varie- allem in Süddeutschland, Österreich und der
täten entstehen lassen, widerspricht der Schweiz vorbeigeht.
Sprachwirklichkeit und bedarf der Revision.
Auch das österreichische Deutsch bildet in
sich keine einheitliche Varietät des Deut-
2. Sprachgeografische,
schen, sondern besteht aus der Summe der in sprachhistorische und
Österreich vorkommenden Varianten auf al- sprachsoziologische
len Ebenen (Ebner 1980, 215). Als Kodifi- Voraussetzungen des
zierung gilt das 1951 herausgegebene und seit österreichischen Deutsch
1979 fortgeführte „Österreichische Wörter-
buch“, das wegen zahlreicher Unzuläng- Nach seinen sprachgeografischen und damit
lichkeiten mehrfach kritisiert wurde (Wiesin- dialektalen Grundlagen gehört Österreich
ger 1980; Fröhler 1982; Reiffenstein 1995). mit Süddeutschland und der Schweiz zum
Wenn in einer vor allem in Österreich kon- Oberdeutschen. Innerhalb dieses gehört der
troversiell geführten Diskussion (Wiesinger größte Teil Österreichs von Tirol im Westen
1995a; Scheuringer 1996a; Pohl 1997; Schrodt bis Niederösterreich und dem Burgenland im
1997) unter sprachpolitischen Aspekten von Osten zum ostoberdeutschen Bairischen,
50. Das Deutsche in Österreich 483

während das westlichste Bundesland Vorarl- (1793⫺1801) von Johann Christoph Adelung
berg sowie ein kleines westtirolisches Rand- zur Folge, dass die heimische Sprachtradition
gebiet um Reutte dem westoberdeutschen zugunsten einer einheitlichen Schriftsprache
Alemannischen zugeordnet ist (Wiesinger besonders von der Schule unterdrückt wurde.
1990). Daraus resultieren im österreichischen Erst mit der kleindeutschen Lösung der riva-
Deutsch oberdeutsche Gemeinsamkeiten mit lisierenden Großmächte Österreich und Preu-
Süddeutschland und der Schweiz sowie Ge- ßen, die zur Gründung der Österreichisch-
meinsamkeiten des bairischen Bereiches mit Ungarischen Monarchie 1866/67 und zum
(Alt)Bayern und des alemannischen Vorarl- Deutschen Reich 1871 führte, trat allmählich
bergs mit der Schweiz, Liechtenstein und dem auch die sprachliche Verschiedenheit ins Be-
süddeutschen Allgäu, was im Wortschatz be- wusstsein und kam die zunächst negativ
sonders zu Tage tritt (vgl. 3.5.), wie über- konnotierte Bezeichnung „österreichisches
haupt ein wesentlicher Teil des österreichi- (Hoch)deutsch“ auf (Lewi 1875). Zuneh-
schen Deutsch auf den Dialekten basiert und mend, besonders aber seit 1945 mit der Wie-
sich vor allem der sogenannte „Akzent“ und derherstellung der Souveränität Österreichs
Aussprachegewohnheiten (vgl. 3.1.) bis in die nach seiner vorübergehenden Zwangseinglie-
Standardsprache auswirken. Da Österreich derung in das nationalsozialistische Deutsche
auf drei Seiten von nicht weniger als sechs Reich, entwickelte sich, verbunden mit einem
Fremdsprachen umgeben ist (Italienisch, Al- neuen nationalen Selbstbewusstsein, auch das
penromanisch, Slowenisch, Ungarisch, Slo- österreichische Deutsch zu einer im Lande
wakisch, Tschechisch) und in der bis 1918 be- verbindlichen Varietät. In sprachsoziologi-
stehenden Österreichisch-Ungarischen Mo- scher Hinsicht gilt in Österreich ein breites
narchie noch weitere Fremdsprachen galten Spektrum mündlicher Variation. Hinsichtlich
(Kroatisch, Serbisch, Polnisch, Ukrainisch, der Alltagssprache bildet es den Substandard,
Rumänisch), kam es auch zu Entlehnun- denn die österreichisch geprägte Standard-
gen aus diesen Nachbarsprachen (Wiesinger sprache wird in erster Linie in nur wenigen
1990b). Situationen des öffentlichen Lebens wie
Schließlich ist als dritte Quelle das allmäh- Rundfunk, Fernsehen, Kirche und Schule als
lich zum heutigen Stand führende Territo- offizielle und halboffizielle Sprachform (und
rialgebilde und seine Verwaltung mit dem das mit phonostilistischen Abstufungen) ge-
Hauptsitz in Wien zu nennen, auf das die braucht und bloß eine kleine Bildungsschicht
österreichische Amtssprache und ihre Termi- spricht sie auch als Alltagssprache. Die
nologien zurückgeht. mündliche Variation ist abhängig von der so-
Bis um die Mitte des 18. Jh.s galt in Öster- zialen Stellung mit Bildung, Beruf, Verbalin-
reich und Bayern die sich von der Kanzlei- tensität und Mobilität, der Generationszu-
sprache Kaiser Maximilians I. herleitende, gehörigkeit, dem Geschlecht und der Ge-
bairisch geprägte oberdeutsche Schriftspra- sprächssituation.
che, die im Rahmen der konfessionellen Ge- Auf Grund einer Umfrage (Steinegger
gensätze als „katholische“ Form der „protes- 1998) bezeichnen sich 79% als Dialektsprecher
tantischen“, besonders auf Martin Luther zu- und nennen 50% den Dialekt, 45% die Um-
rückgehenden ostmitteldeutsch geprägten gangssprache und 5% das „Hochdeutsche“ als
Form in Mittel- und Norddeutschland gegen- ihre durchschnittliche Alltagssprache. In Dör-
überstand (Wiesinger 1999b). Erst durch das fern liegen diese Durchschnittswerte bei
Fortschrittsstreben der Aufklärung kam es 62 : 35 : 3%, während sich Großstädter mit
um 1750, verbunden mit dem von Leipzig 27 : 65 : 8% geradezu umgekehrt verhalten.
ausgehenden sprachkritischen Wirken Jo- Unter soziologischem Aspekt nimmt der Dia-
hann Christoph Gottscheds, zur Sprachre- lekt von einer unteren über eine mittlere zu ei-
form und damit zur Übernahme der mittel- ner höheren Sozialschicht zugunsten der höhe-
deutsch-norddeutschen Form, was schließlich ren Varietäten im Gesamtdurchschnitt von
zu einer allgemein gültigen Form der deut- 76 : 23 : 1%, 47 : 49 : 4% und 35 : 56 : 9% ab. Bei
schen Schriftsprache im gesamten deutsch- den einzelnen Gesprächssituationen lässt sich
sprachigen Raum führte (Wiesinger 1995; eine Dialektabnahme zugunsten der höheren
1997). Dies hatte in Österreich bis um die Variäten mit zunehmendem Abstand zum
Mitte des 19. Jh.s besonders unter dem Ein- Gesprächspartner beobachten, so dass sich
fluss der Normvorgaben im als verbind- ein deutliches Gefälle von Familie und Part-
lich betrachteten „Grammatisch-kritischen nern über das kleine Geschäft zum täglichen
Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart“ Einkauf, die Kollegen am Arbeitsplatz, die
484 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

Bank und das Kleidergeschäft bis zum Arzt, 1negativ, 1Vatikan, 1Kilogramm, 1Kilowatt,
Vorgesetzten am Arbeitsplatz und dem städti- 1Superintendent, 1bilateral und 1Pentagon so-
schen Amt ergibt. Zunehmend aber lässt sich wohl für ,Fünfeck‘ als auch für ,amerikani-
beobachten, dass auch in offiziellen und halb- sches Verteidigungsministerium‘. Weniger gut
offiziellen Situationen immer mehr die dia- erhalten sind 1Servaz, 1Camembert, 1Uniform,
lektale Färbung und der Dialekt selbst ge- 1quantitativ, 1Caterpillar, Gene1ralleutnant. Da-
braucht werden und frühere, noch vor rund gegen hat sich die deutsche Akzentuierung
30 Jahren geltende „hochdeutsch“-standard- statt österreichischem Initialakzent schon
sprachliche Konventionen mit zum Teil gesell- mehrheitlich durchgesetzt in To1pas, To1kajer,
schaftlichen Sanktionierungen fallen. Auch Samo1war, Ob1oe, Philhar1moniker/philhar-
die Schule pendelt sich im Unterricht zuneh- 1monisch, A1loe oder Alo1e und in zweisilbigem
mend auf Umgangssprache als mündliche Ko1pie statt dreisilbigem 1Kopi-e. Einen inner-
Konversationsform ein. österreichischen Ost-West-Gegensatz zeigen
1Dechant : De1chant und 1Labor : La1bor. Die
traditionelle österreichische End- oder Zweit-
3. Linguistik des österreichischen gliedbetonung ist sehr gut erhalten in Kaf 1fee,
Deutsch Pla1tin, Kana1pee, Roma1dur, Tele1fon, weniger
gut in Fleu1rop, Si1phon, Ta1bak, Pale1tot, Ro-
Im Folgenden werden charakteristische Er- ko1ko und sie schwindet stark zugunsten deut-
scheinungen der deutschen Schrift- und Stan- scher Anfangsbetonung in 1Amok, 1Manne-
dardsprache in Österreich auf allen sprachli- quin, 1Pingpong, 1Sellerie, 1Prosit. Mittelsil-
chen Ebenen kurz beschrieben. benbetonung hält sich sehr gut in Ka1tharsis,
3.1. Zu Aussprache und Schreibung Kle1matis, Cha1risma, Am1moniak, Mathe1ma-
tik und geringer in Al1gebra und fünfsilbigem
Einen wichtigen, mangels geeigneter Be- Zere1moni-e gegenüber viersilbigem Zere-
schreibungsmethoden leider vernachlässigten mon1nie. In Komposita und Ableitungen
suprasegmentalen Bereich bilden zunächst deutscher Herkunft gilt Erstgliedakzent in
die sprechkonstitutiven Eigenschaften der 1Pfefferminze, 1Oberforstmeister, 1eigentüm-
Artikulationsbasis, der Lautbildung (Artiku- lich, 1nacheinander, 1insgeheim, und in deutsch
lation) und der Sprechmelodie (Intonation). empfundenem 1Attentat sowie in geringerem
Diese populär als „Färbung“ oder „Akzent“ Umfang in 1Oberlandesgericht, 1Oberleutnant,
bezeichneten Eigenschaften sind landschaft- 1Attentäter, 1gleichermaßen, 1überglücklich,
lich verschieden und schlagen vom Dialekt 1allfällig, 1unablässig, ge1radeaus, 1miteinander,
bis in den Standard durch. Nach den dialek- 1entweder. Die deutsche Zweitgliedbetonung
talen Grundlagen gelten in Österreich Vari- hat sich bereits mehrheitlich durchgesetzt in
anten eines bairischen und in Vorarlberg mit Viertel1stunde, hundert1tausend, aller1liebst,
dem Westtiroler Gebiet um Reutte eines ale- alt1jüngferlich, un1möglich und Kor1nelkirsche.
mannischen Typus. Dabei treten besonders Als ostösterreichisch erweist sich der Fach-
die von Wien bestimmte ostösterreichisch-do- ausdruck des Fußballspiels A/ab1seits mit -s-
nauländische, die steiermärkisch-burgenlän- Erweiterung und Zweitgliedbetonung. Gut er-
dische, die Kärntner und die Tiroler Sprech- haltene österreichische Zweitgliedbetonung
weise hervor. haben über1siedeln, ob1liegen/Ob1liegenheit,
Zu den suprasegmentalen Eigenschaften Ent1gelt. Dagegen hat sich gegen traditionelle
gehört aber auch die Wortakzentuierung. Da- österreichische Erstgliedbetonung nun deut-
bei tritt bei der jüngeren Generation gegen- sche Zweitgliedbetonung mehrheitlich durch-
über der tradierten Verhaltensweise insofern gesetzt in offen1baren/Offen1barung und Ab1-
eine Änderung ein, als in unterschiedlichem teil. Durch Aufgabe des ursprünglich mit
Ausmaß mittel- und norddeutsch bestimmte Österreich gemeinsamen Verhaltens in Bayern
Akzentuierungen aufgegriffen werden (Wie- sind heute zu Akzentuierungsaustriazismen
singer 1999). Obwohl die österreichischen mit allerdings bereits unterschiedlichem Rück-
Akzentuierungen ursprünglich auch in Bay- gang aufgestiegen 1Kimono, Kana1pee, Roma1-
ern und teilweise in Schwaben galten, sind sie dur, Fleu1rop, Si1phon, Roko1ko, Mathe1matik,
dort ebenfalls zurückgegangen. Von Wörtern Al1gebra, A/ab1seits, 1Kopi-e, 1Philharmoniker/
fremder Herkunft behaupten sich in Öster- 1philharmonisch, 1Oboe, Pro1sit, Selle1rie,
reich noch sehr gut mit Anfangs- bzw. Erst- Manne1quin.
gliedakzentuierung 1Anis, 1Offset, 1Pankraz, Über die landschaftlich unterschiedlichen
1Diakon, 1Kimono, 1Majoran, 1Marzipan, 1N/ suprasegmentalen Unterschiede hinaus gibt
50. Das Deutsche in Österreich 485

es in Österreich auch segmentale phonetische betonte e in Bote, Nase, Tage, Gäste sowie in
Eigenschaften der Standardsprache. Hin- den Vorsilben be- und ge- wird nicht als
sichtlich der Lautqualitäten klingt das öster- Schwalaut [e], sondern als offenes [i] artiku-
reichische Deutsch relativ weich durch ge- liert. In der Endsilbe -en bleibt dieser Vokal
ringe Intensität der Plosiv- und Frikativ- nach den Nasalen m, n, ng erhalten, wie in
fortes, wobei *p+ und *f+ vor Vokalen und kommen, nehmen, lehnen, kennen, fangen, sin-
im Auslaut im Gegensatz zum stets aspi- gen. Dagegen wird der Vokal nach allen an-
rierten *k+ nur wenig oder gar nicht be- deren Konsonanten synkopiert wie in leiden,
haucht werden. Die Leneskonsonanten *b+, leiten, Raben, tappen, legen, lecken, sinken,
*d+, *g+, *s+ sowie *j+ als [z] in französischen reisen, reißen, offen, Ofen, machen, riechen,
Lehnwörtern werden in oberdeutscher Weise fallen, Narren. In der Endsilbe -er tritt durch
stimmlos gebildet und erfahren keine merkli- die r-Vokalisierung der [A]-Schwa ein, so dass
che Auslautverhärtung, wenngleich *b+/*p+, es [fa:tA] ,Vater‘, [li:bA] ,lieber‘ heißt. Hinge-
*d+/*f+ und *s+/*ß+ im Auslaut neutralisiert gen wird die Vorsilbe er- stets [iA] ausgespro-
sind, z. B. in grob : Ysop, Rad : Rat, Tod : Not, chen, was meist auch für die Vorsilben ver-,
Mus : Fuß, Haus : Strauß. Umgangssprach- zer als [fiA], [tsiA], gilt, die aber auch zu [fA],
lich fallen die anlautenden Plosivlenes und [tsA] abgeschwächt werden können. In den
-fortes *d+/*t+, *b+/*p+ besonders im Donau- Ableitungssilben -tum, -it, -ik, -iz hört man
und Voralpenraum in stimmlose Halbfortes vielfach die Kürzen [twm], [it], [ik], [its] wie in
zusammen, so dass kein Unterschied mehr Reichtum, Profit, Politik, Notiz.
besteht zwischen du : tu, Dank : Tank, bak- Wenige bisher abweichende Schreibungen
ken : packen, Draht : trat, Blatt : platt, ge- auf Grund anderer Vokalquantität sind Kük-
bracht : Pracht. Während *g+, *k+ vor Voka- ken statt Küken, Geschoße statt Geschosse, Ver-
len unterschieden sind, z. B. Garten : Karten, ließ(e) statt Verlies(e), Schleuße neben Schleuse.
fallen auch sie vor Konsonanten zusammen, Reine abweichende Schreibgewohnheiten sind
z. B. Greis : Kreis. Dagegen bleibt die Unter- zusammengeschriebenes sodass und Moriz
scheidung von Lenes und Fortes im Inlaut neben Moritz.
aufrecht; z. B. leiden : leiten, behagen : Haken,
reisen : reißen. Die Endsilbe -ig wird nach der 3.2 Zum Formengebrauch
Schreibung mit Plosiv [g], realisiert, z. B. [bi- Vor allem Fremdwörter, doch auch einzelne
lig] ,billig‘, [hailig] ,heilig‘, [isig] ,Essig‘, Erbwörter zeigen Genusunterschiede. So
[kø:nig] ,König‘. In einer Reihe von Frem- heißt es in Österreich gegenüber Deutschland
wörtern wird anlautendes *ch+ als Fortisplo- meist der : das Gehalt, die : der Rodel, die :
siv [k] gesprochen, so in China, Chemie, Chir- Imprima1tur : das Impri1matur. Schwanken
urg, Charakter, Chameläon, Chaos, Charisma herrscht in der : das Kiefer, der : das Pyjama,
und in ihren Ableitungen. Das ist auch im In- der : das Raster, der : das Embryo, der : das
laut in Orchester, Melancholie der Fall. Fer- Aspik, das : der Virus, das : der Keks, das : die
ner gilt in einer Reihe von Fremdwörtern im Brezel, das : die Labsal, das : die Vokabel. Ge-
Anlaut vielfach [st], und [sp], so in Stil, Stan- genüber Deutschland gilt in Österreich nur
dard, Strategie, Struktur, Spezies, sporadisch. ein Genus in der (das) Gummi, der (das)
Präkonsonantisches r wird meist zum [A]- Spagat, der (das) Terpentin, der (das) Kathe-
Schwa vokalisiert, z. B. in Schirm, Hirte, der, das (der) Kataster, das (der) Zubehör,
Hirse, erben, werfen, horchen, während r nach der (die) Quader, die (der) Spachtel. Joghurt
a schwindet, so dass Bart/Bad, warben/Wa- zeigt alle drei Genera: in Vorarlberg mit
ben, Sarg/sag, Narren/nahen lautgleich wer- Deutschland und der Schweiz der, sonst das,
den. Aus dem Vokalismus ist der relativ ge- teilweise auch die. Genusunterschiede kön-
ringe Öffnungsgrad der kurzen Vokale *i+ ⫺ nen auch Formunterschiede auslösen. So
*ü+ ⫺ *u+ und *e+ ⫺ *ö+ ⫺ *o+ zu nennen. heißt es in Österreich gegenüber Deutschland
Geschriebenes langes *ä+ etwa in Käse, nä- der Schranken : die Schranke, der Akt : die
hen, spät, nämlich, Drähte, Universität wird Akte, der Karren : die Karre, der Scherben :
außer in Vorarlberg meist als geschlossenes die Scherbe, die Zehe : der Zeh, das Offert :
[e:] realisiert, was in wählen, erzählen durch- die Offerte. In der Pluralbildung wird häufig
wegs gilt. In Fremdwörtern aus dem Franzö- umgelautet, so in die Erlässe, Wägen, Krä-
sischen wird entweder Nasalvokal beibehal- gen (Papier)bögen, Pölster. In französischen
ten wie in [sã:s) ,Chance‘, [bA1lã:s] ,Balance‘ Fremdwörtern gilt in Österreich -s-Plural in
oder es wird Vokal ⫹ n artikuliert wie in die Parfums : Parfume, die Interieurs : Inter-
[bal1ko:n] ,Balkon‘, [sa1lo:n] ,Salon‘. Das un- ieure, die Billiards : Billiarde und -en-Plural in
486 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

die Saisonen : Saisons, die Fassonen : Fassons, stands- und Bewegungsverben die Perfektbil-
die Cremen : Cremes. Umgangssprachliche -n- dung mit sein, z. B. ich bin gesessen/gelegen/
Plurale nach -l in Neutra werden in Austrizis- gestanden.
men häufig auch geschrieben, so die Mädeln, Ferner erfolgt gegenüber Deutschland ein
Würsteln, (Brat)hendeln, Brezeln, Bröseln zum Teil abweichender oder zusätzlicher Ge-
(Paniermehl), Schinakeln (kleine Boote). brauch von Präpositionen, z. B. er kommt
auf : zu Besuch, sie gehen auf : in Urlaub, er
3.3. Zur Wortbildung macht eine Prüfung aus : in Chemie, er hat
Die Diminutivbildung erfolgt dialektal und auf : ⫺ den Geburtstag vergessen.
umgangssprachlich auf zweifache Weise, in- Schließlich erfolgt in Nebensätzen mit
dem in Ost- und Südösterreich meist zum mehrteiligem Prädikat aus haben und den In-
Ausdruck des Kleinen -(e)l und mit persön- finitiven eines Voll- und Modalverbs, die Ab-
lich-emotionalem Bezug -erl verwendet wird. folge Vollverb ⫹ haben ⫹ Modalverb, wäh-
In Westösterreich lauten beide Formen in rend in Deutschland haben die Spitzenstel-
Oberkärnten und im größten Teil von Tirol lung einnimmt, z. B. Eine Stimme, die ich
-(e)l und -(e)le, und in Westtirol und im ale- ohne weiteres als eine allererste bezeichnen
mannischen Vorarlberg gibt es nur einheitli- hätte können (Thomas Bernhard).
ches -(e)le. So heißt es z. B. Kindel : Kinderl,
Kettel : Ketterl bzw. Kindel : Kindle und in 3.5. Zum Wortschatz
Westtirol nur Kindle und in Vorarlberg Kin- Den auffälligsten Anteil am österreichischen
dele. Während schriftsprachlich meist -chen Deutsch macht der Wortschatz aus. Dabei gibt
und bei Wörtern auf -ch- lein gilt, z. B. Nacht- es außer neutralen Austriazismen wie Fenster-
kästchen, Fläschchen, Tüchlein, zeigen Aus- stock : Fensterleibung, Waschmuschel : Wasch-
triazismen und stark umgangssprachlich ge- becken, Sprossenkohl : Rosenkohl, Nudelwal-
bundene Wörter die l-Formen. Formale Di- ker : Teigrolle, Kommerzialrat : Kommerzien-
minuierungen ohne semantischen Verkleine- rat, Gebarungsjahr : Geschäftsjahr, Geld behe-
rungsbezug sind Würstel, (Salat)häuptel ,Sa- ben : abheben, sich verkühlen : sich erkälten
latkopf‘, Kipfel ,Hörnchen‘, Krügel, ,halber auch einen sprachsoziologisch gebundenen
Liter Bier‘, Hendel ,Huhn‘, Brezel. Ihre ech- Wortschatz, der dann in Texten auch soziosti-
ten Diminuierungen werden dann mit -erl listisch markiert ist. So gehören etwa der
bzw. -(e)le gebildet. Solche feste Austriazis- Umgangssprache an Watsche für Ohrfeige,
men sind dann Sackerl ,Tüte‘, Zuckerl ,Bon- hantig für barsch, picken für kleben und sind
bon‘, Weckerl ,weckenförmiges Gebäck‘, saloppe Ausdrücke Flasche für Ohrfeige, Ha-
Salzstangerl ,längliches, mit Salz bestreutes berer für Freund, hackeln für arbeiten. Solche
Gebäck‘, Kipferl, Schwammerl ,Pilz‘, Stam- soziostilistischen Markierungen geben Ebner
perl ,Schnapsgläschen‘, Stockerl ,einfacher (1998) und zum Teil abweichend das „Öster-
Hocker aus Holz‘, Marterl ,Bildstock‘, Pik- reichische Wörterbuch“ an. Obwohl alle Sach-
kerl ,Aufkleber/Vignette‘. gebiete betreffend, gibt es ein unterschied-
In der Wortkomposition wird bei Masku- lich starkes Vorkommen des österreichischen
lina und Neutra die Fügung im Genitiv sing. Wortschatzes. Anhand einer charakteristi-
mit -s bevorzugt, so dass es Gesangsverein, schen Auswahl zählt Ammon (1995) folgende
Gelenksentzündung, Rindsbraten, Schweins- Verteilungen, die einen ungefähren Eindruck
braten heißt. Als bloßes Fugenzeichen wird es vermitteln können: 1. Speisen und Mahlzei-
auch auf Feminina ausgedehnt wie Fabriks- ten: 101; 2. Verwaltung, Justiz, Gesundheits-
arbeiter, Personsbeschreibung, Aufnahmsprü- wesen, Schule und Militär: 91; 3. Geschäftsle-
fung. Ein historisches Genitiv-s zeigt auch das ben, Handwerk, Landwirtschaft und Ver-
Adverb durchwegs. Eine besondere Verbal- kehr: 85; 4. Haushalt und Kleidung: 55; 5.
ableitung ist jene auf -ieren, sodass es röntge- Menschliches Verhalten, Soziales, Charakter-
nisieren : röntgen, strichlieren : stricheln heißt. eigenschaften und Körperteile: 31; 6. Sport
und Spiele: 19; 7. Sonstiges: 21; 8. Indeklina-
3.4. Zur Syntax bilia (Formwörter): 15. Hier ist auch darauf
Unter wenigen typischen Eigenheiten ist hier hinzuweisen, dass Österreich 1994 im Rah-
der mündliche und zunehmend auch schriftli- men der Aufnahmeverhandlungen in die Eu-
che oberdeutsche Gebrauch des Perfekts an ropäische Union 23 österreichische Lebens-
Stelle des Imperfekts hervorzuheben, z. B. ich mittelbezeichnungen für den Warenverkehr
habe gezahlt, ich bin gegangen. Ferner gilt in mit Österreich festschreiben ließ, u. a. Ma-
ebenfalls oberdeutscher Weise bei einigen Zu- rille (Aprikose), Karfiol (Blumenkohl), Kren
50. Das Deutsche in Österreich 487

(Meerrettich), Weichsel (Sauerkirsche), Top- der Bundeshauptstadt Wien aus ein Verkehrs-
fen (Quark) (De Cilia 1995). wortschatz durchgesetzt, der allerdings nur
Nicht der gesamte zum österreichischen zum Teil in Vorarlberg aufgegriffen wird und
Deutsch zählende Wortschatz ist auf Öster- sich deutlich vom angrenzenden Bayern ab-
reich beschränkt. Über solchen hinaus gibt hebt, z. B. Tischler : Schreiner (teilweise noch
es sowohl räumliche Grenzüber- als auch in Vorarlberg), Trafik : Tabakladen, Schulta-
Grenzunterschreitungen. Hinsichtlich seiner sche : Schulranzen, Jause : Brotzeit, Marille :
Stellung im Rahmen der deutschen Sprache Aprikose, Karfiol : Blumenkohl (ohne Vorarl-
lässt sich der österreichische Wortschatz nach berg), (Schlag)obers : (Schlag)sahne, sich ver-
seiner Verbreitung in fünf Bezeichnungs- und kühlen : sich (v)erkälten.
eine sechste Bedeutungsgruppe gliedern. Da- 4. Ost- und westösterreichischer Wort-
bei ist darauf hinzuweisen, dass heute durch schatz, der sich zwischen dem westlichen
Mobilität und Medienverbund einerseits Aus- Oberösterreich, der östlichen Salzburger
triazismen passiv über Österreich hinaus be- Landesgrenze und Oberkärnten über Salz-
kannt sind und umgekehrt Österreicher auch burg bis ins Nordtiroler Unterland und der
typische Ausdrücke aus Deutschland kennen, Osttirol-Kärntner Landesgrenze scheidet,
wie es überhaupt unterschiedliche Einflüsse wobei der Westen meist mit (Alt)Bayern kon-
aus Deutschland gibt (Wiesinger 1988b). Die form geht. Selten liegt westliches Vordringen
fünf Bezeichnungsgruppen lassen sich in ei- einer Neuerung vor wie bei Metzger : Fleisch-
nen grenzüberschreitenden uneigentlichen hauer (älter Fleischhacker) und Fas(t)nacht :
österreichischen Wortschatz der Gruppen 1 Fasching, meist handelt es sich um östliche
und 2 und in einen gesamt- oder teilösterrei- Neuerungen wie Rauchfang : Kamin, Bart-
chischen eigentlichen österreichischen Wort- wisch : Kehrwisch ,Handbesen‘, Stoppel : Stöp-
schatz der Gruppen 3 bis 5 einteilen, wobei sel, Gelse : (Stech)mücke, drei Viertel (neun) :
ein Teil der Bezeichnungen von 4 und 5 wie- Viertel vor (neun).
der grenzüberschreitend vorkommt. 5. Regionaler Wortschatz. Er begegnet für
regional beschränkte Einrichtungen, Gegen-
1. Oberdeutscher Wortschatz, der Öster- stände und Vorgänge wie z. B. im ostösterrei-
reich mit Süddeutschland und der Schweiz chischen Weinbaugebiet Weinbauer, Wein-
gegen Mittel- und Norddeutschland ver- hauer für Winzer, Sturm für gärenden Trau-
bindet, z. B. Bub : Junge, Ferse : Hacke, bensaft, Heuriger für frischgegorenen neuen
Rechen : Harke, Orange : Apfelsine, Knödel : Wein, Buschenschank oder Heuriger für des-
Kloß, Samstag : Sonnabend, heuer : dieses sen vorübergehend durch einen grünen Bu-
Jahr, kehren : fegen. schen (Bündel) von Zweigen) gekennzeich-
2. Bairisch-österreichischer Wortschatz auf nete Schankstätte. Ebenso verfährt Vorarl-
Grund der gemeinsamen Stammesgrundlage berg, das seine Eigenheiten vielfach mit dem
bzw. späterer Sprachbeziehungen in Öster- angrenzenden Allgäu und/oder der (Ost)-
reich und (Alt)Bayern, z. B. Maut : Zoll, schweiz teilt, z. B. schaffen : arbeiten, Schrei-
Scherz(el) : Anschnitt des Brotes, Brösel : Pa- ner : Tischler, Lauch : Porree, Blumenkohl :
niermehl, Kren : Meerrettich, Kletze : Dörr- Karfiol, Arve : Zirbe (Kiefernart), Kilbi :
birne, Topfen : Quark, Kluppe : (Wäsche)- Kir(ch)tag (Kirchweihfest), Bestattnis : Be-
klammer, Fleckerlteppich : Flickenteppich, gräbnis.
(Tinten)patzen : (Tinten)klecks, pelze- 6. In Österreich weist eine Reihe von Be-
n : Obstbäume mit Pfropfreisern veredeln. zeichnungen eine eigene oder eine über die
3. Gesamtösterreichischer Wortschatz. Er allgemeine deutsche Bedeutung hinausge-
umfasst einerseits eine Fülle politischer, ver- hende Zusatzbedeutung auf, wobei die Ver-
waltungstechnischer, amtlicher und rechtli- breitungen den Gruppen 1⫺3 entsprechen,
cher Termini, die in der staatlichen Souve- z. B. Sessel ,einfaches Sitzmöbel mit Lehne‘
ränität begründet sind, z. B. Nationalrat : (sonst Stuhl), Fauteuil ,bequemes gepolstertes
Bundestag, Parlament : Bundeshaus, Landes- Sitzmöbel‘ (sonst Sessel), Pension ,Altersver-
hauptmann : Ministerpräsident, Obmann : Vor- sorgung allgemein‘ (in Deutschland streng
sitzender (eines Vereins), Journaldienst : Be- genommen nur für Beamte, sonst Rente);
reitschaftsdienst, Kundmachung : Bekanntma- Bäckerei auch ,süßes Kleingebäck‘, Knopf
chung, Ansuchen : Gesuch, Verlassenschaft : auch ,Knoten‘, angreifen auch ,anfassen‘, ge-
Nachlass, Erlagschein : Zahlkarte (bei der hören auch ,gebühren‘ (einem schlimmen
Post), Matura : Abitur. Andererseits hat sich, Kind gehört eine Strafe), jemanden ausrichten
zum Teil erst in den letzten Jahrzehnten, von ,über jemanden gegenüber dem Gesprächs-
488 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

partner schlecht reden‘, Anstand haben ,durch es trotz des damit verbundenen Mehrauf-
Beanstandung Ärger bekommen‘, spreizen wands nicht länger angebracht, Deutsch als
auch ,fruchtschwere Äste von Obstbäumen Einheitssprache zu lehren (vgl. die Beiträge
mit Stangen abstützen‘. in Krumm 1997). Dies kann in der Weise ge-
schehen, dass als Orientierungspunkt für die
3.6. Zur Pragmatik zu vermittelnde Norm das nächstliegende
Kaum untersucht sind die zum Teil auch geografische Land gewählt wird und ausge-
gesellschaftlich unterschiedlichen Verwen- hend vom gemeinsamen sprachlichen Grund-
dungsweisen des gemeinsamen Wortschatzes bestand allmählich und besonders ab der
wie überhaupt die Ausdrucksweise (Pragma- Mittelstufe die grammatischen, lexikalisch-
tik), wobei die mündlichen Sprachvarietäten semantischen und die pragmatisch-alltags-
auch für die Schriftsprache bedeutsam sind. sprachlichen Varianten einbezogen und be-
So geht man, wenn man krank ist, in Öster- wusst gemacht werden. Außerdem empfiehlt
reich zum Doktor, in Deutschland zum Arzt. es sich, hinsichtlich der standardsprachlichen
Hat sich in Österreich jemand den Fuß gebro- Aussprache auch das muttersprachliche Ver-
chen, fährt ihn die Rettung ins Spital, wäh- halten der Deutschlernenden einzubeziehen
rend man in Deutschland Bein, Krankenwa- und den gemeinsamen Lautbestand zu nut-
gen, Krankenhaus sagt. Häufigen Sonderange- zen, soweit es die tatsächlichen standard-
boten in Deutschland stehen in Österreich sprachlichen Gebrauchsweisen des Deut-
verbilligte Waren in Aktion gegenüber. Wie schen zulassen. So ist es nicht sinnvoll, z. B.
teilweise auch noch in Süddeutschland ist es von Italienern mit stimmlosen b, d, g, s und
in Österreich nicht üblich, beim Grüßen und Zungenspitzen-r Stimmhaftigkeit und Zäpf-
bei der Anrede gegenüber Bekannten den Na- chen-r zu verlangen. Auch in der Landes-
men zu verwenden. Dagegen gehört es in kunde ist es erforderlich, der Verschiedenheit
Österreich weiterhin zum guten Ton, Höher- der deutschsprachigen Länder Rechnung zu
gestellte ⫺ und das auch in informellen Situa- tragen. Die so erzielbare stärkere Realitäts-
tionen ⫺ zu titulieren und vor allem den er- nähe wird auch dazu beitragen, bei den
worbenen (Berufs)titel des Ehemannes auf Deutschlernenden den oft auftretenden Er-
die Ehefrau zu übertragen. Unbekannte, hö- fahrungsschock beim Besuch deutschsprachi-
hergestellt wirkende Herren werden gerne als ger Länder zu mindern, der nicht zuletzt
Herr Direktor oder Herr Doktor angeredet, durch eine vielfach einseitige Unterrichtspra-
unbekannte Damen weiterhin mit verkürz- xis verursacht wird (vgl. Wiesinger 1998).
tem gnä(dige) Frau. Dass sich Österreicher
besonders gegenüber der meist kurz ange-
bundenen norddeutschen Verhaltensweise lie- 5. Literatur in Auswahl
benswürdig und wortreich, zum Teil sogar
Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in
umständlich und wiederholend auszudrücken
Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Pro-
scheinen, ist auch ein pragmatischer Zug blem der nationalen Varietäten. Berlin/New York.
(Muhr 1993b).
Bürkle, Michael (1995): Zur Aussprache des öster-
reichischen Standarddeutschen. Die unbetonten Sil-
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richt unter Zugrundelegung des österreichi- tions to the Sociology of Language 62).
schen Deutsch sowie Unterricht in österrei- ⫺ (1995): The German Language in a chanching Eu-
chischer Landeskunde und in österreichischer rope. Cambridge.
Literatur vor allem der Gegenwart. Dies ge- De Cilia, Rudolf (1995): Erdäpfelsalat bleibt Erd-
schieht besonders an den Österreich-Institu- äpfelsalat: Österreichisches Deutsch und EU-Bei-
ten und durch österreichische Lektoren an tritt. In: Muhr/Schrodt/Wiesinger, 121⫺131.
Universitäten, wo häufig auch Österreich-Bi- Ebner, Jakob (1980, 1998): Wie sagt man in Öster-
bliotheken eingerichtet sind (vgl. Art. 8; 142). reich? Wörterbuch der österreichischen Besonderhei-
Angesichts der plurizentrischen bzw. pluria- ten. 2. Aufl. 1980, 3. Aufl. 1998 Mannheim etc.
realen Gestaltung der deutschen Sprache ist (Die Duden-Taschenbücher 8).
50. Das Deutsche in Österreich 489

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51. Das Deutsche in der Schweiz

1. Einleitung müller 1996, 9ff. ⫺ Kurze historische Über-


2. Allgemeine Charakteristika der Situation blicke sind greifbar mit: Haas 1982, 71ff.;
3. Hochdeutsch in seiner Schweizer Form 1992, 312ff.; Sonderegger 1991, 13ff.).
4. Einstellungsprobleme ⫺ Hochdeutsch als
vermeintliche ,Fremdsprache‘
In der deutschen Schweiz wird deutsch ge-
5. Schlussfolgerungen sprochen und geschrieben; wer jedoch die
6. Literatur in Auswahl Deutschschweiz von Besuchen her kennt,
weiss, dass längst nicht alles, was gesprochen
wird, für deutsche Ohren verständlich klingt
1. Einleitung ⫺ und auch beim Lesen fallen Eigenheiten
auf. Trotzdem ist Deutsch, wie es in der
Die Schweiz ist ein mehrsprachiger Staat,
Schweiz geschrieben wird, für den gesamten
dessen Sprachenvielfalt durch die Verfassung
deutschsprachigen Raum verständlich. Das
geregelt ist: Art. 116 der schweizerischen
belegt nicht zuletzt die reiche Literatur aus
Bundesverfassung hält im 1. Abschnitt fest:
„Deutsch, Französisch, Italienisch und Räto- der Deutschschweiz (vgl. dazu für die neuere
romanisch sind die Landessprachen der Zeit die „Geschichte der deutschsprachigen
Schweiz.“ Und in einer Verfassungsänderung, Schweizer Literatur im 20. Jh.“ (1991), wo
die 1996 in einer Volksabstimmung gutgeheis- die literarische Situation mit einem „Blick
sen wurde, wird dieser ,Sprachenartikel‘ in aus der Fremde“ (S. 9) umfassend dargestellt
Abschnitt 2 ergänzt mit dem Auftrag zur För- wird).
derung der Verständigung zwischen den Lan- Die Deutschschweiz gehört zum deutsch-
desteilen: Art. 116/2: „Bund und Kantone sprachigen Kulturraum und hält neben wirt-
fördern die Verständigung und den Aus- schaftlichen auch enge kulturelle Kontakte
tausch unter den Sprachgemeinschaften.“ zu den anderen deutschsprachigen Ländern,
Laut der letzten Volkszählung (1990) geben vor allem zur Bundesrepublik Deutschland.
von den Einwohnern der Schweiz 4.374.694 / Trotzdem unterscheidet sich die Sprachsitua-
63,6% (1980, 65,0%) Deutsch als Haupt- tion markant von derjenigen der anderen
sprache an, Französisch 1.321.695 / 19,2% deutschsprachigen Gebiete: „Wir sind zwei-
(1980, 18,4%), Italienisch 524.116. / 7,6% sprachig innerhalb der eigenen Sprache“ for-
(1980, 9,8%), Rätoromanisch 39.632 / 0,6% muliert ebenso kurz wie treffend der Deutsch-
(1980, 0,8%) und eine andere Sprache, also schweizer Schriftsteller Hugo Loetscher (Loet-
eine Nicht-Landessprache 613.550 / 8,9% scher 1986, 28). Diese Situation der ,inneren
(1980, 6,0%) (vgl. zu den Sprachenverhältnis- Zweisprachigkeit‘ zeigt neben allgemeinen
sen in der gesamten Schweiz: Bickel/Schläpfer Charakteristika (vgl. 2. und 3.) auch spezifi-
(Hg.) 1994, 25ff.; Camartin 1982, 303ff.; Dür- sche Merkmale und Probleme (4.), denen sich
492 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

die Deutschschweizer Sprachgemeinschaft ge- ein Kontinuum wie in anderen ober- oder
genüber sieht und die nach eigenen Schluss- mitteldeutschen Sprachregionen. Das hängt
folgerungen rufen (5.). sprachgeschichtlich damit zusammen, dass
die Deutschschweiz an der Herausbildung
der neuhochdeutschen Standardsprache nicht
2. Allgemeine Charakteristika der massgeblich beteiligt war; es dürfte aber
Situation ebenso ⫺ wie Haas (1994, 216ff.) nachzeich-
net ⫺ mit dem in der Schweiz spezifischen
Auffälligstes Merkmal der Deutschschweizer Verhältnis von gesprochener Sprache und
Sprachsituation ist die ständige Präsenz zweier Schriftsprache zusammenhängen.
Varietäten der deutschen Sprache: das Schwei- Was die Verteilung der beiden Formen
zer Hochdeutsch als Standardsprache und die Mundarten und Standardsprache betrifft, so
Deutschschweizer Dialekte oder Mundarten ist ⫺ in groben Zügen ⫺ herauszustellen (für
(beide Begriffe sind in der Deutschschweiz Details vgl. Haas 1982, 101ff.; Bickel/Schläp-
ohne Bedeutungsunterschiede geläufig). Letz- fer (Hg.) 1994, 281ff.; Ris 1979, 41ff.; Sieber/
tere werden oft als ,Schweizerdeutsch‘ oder Sitta 1984, 10ff.; 1986, 16ff.; 1987, 390ff.;
,Schwyzerdütsch‘ (,Schwyzertü[ü]tsch‘) be- Werlen 1983, 1422ff.; 1988, 93ff.):
zeichnet ⫺ ein Sammelname für eine Vielfalt
von unterschiedlich kleinräumigen regionalen a) In der Deutschschweiz schreibt man ⫺
Sprachvarietäten der Deutschschweiz, die im prinzipiell ⫺ Standardsprache, und man
mündlichen Verkehr Verwendung finden. spricht ⫺ ebenso prinzipiell ⫺ die Mundarten.
Die ,Romands‘ (die französischsprachigen Die unterschiedliche Verwendung von Vari-
Schweizer) bezeichnen oft die Deutschschwei- anten im mündlichen und schriftlichen Be-
zer Mundarten gesamthaft als ,le Schwyzer- reich ist denn auch ein Hauptmerkmal der
tütsch‘ (vgl. „Le Schwyzertütsch. 5e langue Deutschschweizer Sprachsituation, zu deren
nationale?“ 1981), ebenso ist der Begriff im Kennzeichnung sich der Terminus mediale
deutschsprachigen Ausland geläufig. Die ge- Diglossie etabliert hat, der ⫺ in einer Spezifi-
genwärtig wirksamen Ausgleichstendenzen zierung des Fergusonschen Diglossiebegriffs
zwischen den einzelnen Dialekten gehen auch ⫺ auf eine Arbeit von Kolde (1981, 65ff.) zu-
dahin, dass viele Zürcherinnen und Zürcher rückgeht. (Vgl. auch Sieber/Sitta 1984, 11;
ihren Dialekt vermehrt als ,Schwyzertütsch‘ 1986, 20). Einbrüche bei dieser Verteilung
denn als ,Züritütsch‘ bezeichnen. Das hängt gibt es aber auf beiden Seiten:
mit der überaus mächtigen Stellung Zürichs Grundsätzlich wird zwar Hochdeutsch ge-
zusammen: Ein Viertel der gesamten Deutsch- schrieben, es gibt aber auch dialektales
schweizer Bevölkerung wohnt in der Agglome- Schreiben ⫺ zumal im privaten Bereich und
ration Zürich. in emotionalisierten Rubriken der Presse
Das Nebeneinander von Mundarten und (z. B. Werbung, Gratulation, Kontaktan-
Standardsprache ist tatsächlich im Wortsinn zeige), ganz abgesehen von Mundartliteratur,
zu verstehen: Auf der einen Seite stehen die seit alters in der Deutschschweiz eine
Mundarten ⫺ nicht eine Mundart, auch wenn nicht nur folkloristische Rolle spielt.
die jüngere sprachgeschichtliche Entwicklung
in der Deutschschweiz markante lokale Un- b) Die Mundarten sind ⫺ unter Deutsch-
terschiede eingeebnet hat und eine starke schweizern, teilweise sogar gegenüber Aus-
Tendenz zur Entwicklung von grossräumige- ländern in Erstkontakten ⫺ die unstrittig nor-
ren Mundarten zu erkennen ist; auf der an- male mündliche Sprachform der informellen
deren Seite steht die Standardsprache. Der Situation ⫺ die deutschschweizerische Um-
Deutschschweizer spricht Mundart oder Stan- gangssprache. Im Gegensatz zu allen anderen
dardsprache und jeder Deutschschweizer deutschsprachigen Gebieten hat sich in der
kann unterscheiden, ob sein Gesprächspart- Deutschschweiz zwischen den Mundarten und
ner gerade Mundart oder Standardsprache der Standardsprache keine Umgangssprache
spricht. Deutschschweizer müssen die Sprach- entwickelt. Die Mundarten sind tauglich ge-
form wechseln, neudeutsch: ,switchen‘. Auch nug, die Funktionen einer Umgangssprache
wenn durchaus Unterschiede im code-switch- zu übernehmen, und Ausgleichstendenzen
ing und code-shifting auszumachen sind (vgl. zwischen den einzelnen Mundarten unterstüt-
Werlen 1988, 93ff.), ist zumindest von der zen dies ⫺ ohne allerdings in Richtung eines
Einschätzung der Sprecher her ein Bruch zwi- einheitlichen ,Schweizerdeutsch‘ zu tendieren
schen den Sprachformen festzustellen ⫺ nicht (vgl. Christen 1997, 346ff., 1998, 239 ff.). Die
51. Das Deutsche in der Schweiz 493

dialektalen Grossräume in der Deutsch- sie können es aber erschweren. Dies haben
schweiz (v. a. Bern, Basel, Luzern, Zürich, Deutschschweizer ⫺ wenn auch in spezifi-
Ostschweiz, Graubünden, Wallis) zeigen so- scher Weise ⫺ mit den Österreichern gemein-
mit ein weit zäheres Leben, als Prognosen ih- sam (vgl. dazu Art. 50).
nen zubilligen wollten. Jeder Deutschschwei- Das ,Schweizerhochdeutsch‘ wird von
zer spricht mit anderen Deutschschweizern Meyer (1989, 14) definiert als
Mundart ⫺ und die sprachliche Verständi-
„eine Variante der deutschen Standardsprache mit
gung ist dabei gewährleistet. Ammon lautlichen, orthographischen, grammatikalischen
(1995, 294) schlägt zur Kennzeichnung dieser und Wortschatz-Eigenheiten, die entweder nur in
„üblichen Kommunikationsform über die der Schweiz (in der ganzen oder in grossen Teilen)
Dialektgrenzen hinweg“ den Terminus „poly- oder darüber hinaus in Teilen des übrigen Sprach-
dialektaler Dialog“ vor. gebietes (vor allem in Süddeutschland und Öster-
reich) gelten, aber nicht der (binnendeutschen) Ein-
Die Standardsprache ist formellen Situatio- heitsnorm entsprechen“,
nen und den Kontakten mit Anderssprachi-
gen vorbehalten. während es von Sonderegger (1985, 1930)
beinahe schwärmerisch umschrieben wird als
c) In unterschiedlicher Weise haben sich für
die Wahl der Sprachform in Institutionen „unnachahmliches Kolorit schweizerisch mitge-
typische Traditionen gebildet, die zu einem formter nhd. Standardsprache in allen sprachlichen
Teilsystemen, was bis zu einem gewissen Grad
institutionen-spezifischen Sprachgebrauch ge- selbst in der Duden-Grammatik der zweiten Hälfte
führt haben, welcher seinerseits wiederum des 20. Jh.s angesichts des bedeutenden Beitrags
weitgehend dadurch bestimmt ist, wie formell der Schweizer Schriftsteller zur gesamtdt. Literatur
bzw. informell das Verhältnis innerhalb der als Lizenz oder als schweiz. Norm anerkannt ist.“
Institution von den Beteiligten gesehen wird;
er wird freilich auch durch situative und me- Erstmals ist mit Ammon (1995, 251 ff.) eine
diale Faktoren bestimmt. Alle drei Faktoren differenzierte linguistische Auseinanderset-
lassen sich in den Diskussionen um Mundart- zung mit schweizerischen Formen des Hoch-
gebrauch in Schule, Medien und Kirche deutschen greifbar, die den Versuch unter-
nachweisen. (Vgl. zur Schule zusammenfas- nimmt, Materialien für das Desiderat eines
send: Sieber/Sitta 1986; 1989, zu den Medien: Schweizer Binnenkodexes aus der einschlägi-
Ramseyer 1988, zur Kirche: Rüegger/Schläp- gen Literatur zusammenzustellen. Dazu ge-
fer/Stolz 1996). Entgegen der Meinung vieler hören nebst Meyer (1989) und Kaiser (1969/
spielt der Gegenstand, über den gesprochen 1970) der Rechtschreibduden (Duden, Band
wird, keine Rolle. Grundsätzlich lässt sich 1 (Rechtschreibung) 1991; 2000), Bigler u. a.
über jeden Gegenstand in beiden Sprachformen (1987), Schweizer Schülerduden 1 und 2
sprechen. Unter diesen Voraussetzungen ⫺ (1980; 1976), Siebs (1969), Duden, Band Re-
der Möglichkeit einer Wahl, zumindest im dewendungen (1992), Boesch (1957), Burri
mündlichen Bereich ⫺ stellen sich der Ver- u. a. (1993), Hofmüller-Schenck (in Vorb.).
wendung der Standardsprache in spezieller Mit seiner Forderung, sich mit „der Plurina-
Weise Probleme. Hier ist denn auch in der tionalität des Deutschen wissenschaftlich
Deutschschweizer Situation eine brisante Mi- gründlicher zu befassen“ hat Ammon (1995,
schung festzustellen, die nicht nur sprach- V) nicht nur der Diskussion um den Status
didaktisch zu Problemen führt (vgl. 4.). des Schweizer Hochdeutschen neue Impulse
gegeben, sondern mit seiner Arbeit auch das
Spannungsfeld der nationalen Zentren des
3. Hochdeutsch in seiner Schweizer Deutschen deutlicher als bisher ins Bewusst-
Form sein gehoben. Dies dürfte gerade für die
Schweizer von besonderer Bedeutung sein,
Bundesdeutschen fällt auf, wenn sie in der sind doch hier das Prestige und der Stellen-
Schweiz Standardsprache lesen oder hören, wert der nationalen Varietät ,Schweizerhoch-
dass Unterschiede zwischen dem ,Binnen- deutsch‘ auf Grund der starken Stellung der
deutsch‘ (auf die Problematik dieses Begriffs Dialekte keineswegs gesichert, im Gegenteil:
hat Polenz (1990, 19) zu Recht hingewiesen) Gerade bei der Wahl von Wörtern wird bei
und der in der Schweiz verwendeten Stan- vielen Deutschschweizern eine Vermeidungs-
dardsprache bestehen. Die Unterschiede ma- strategie sichtbar, die den Texten manchmal
chen zwar das Verständnis nicht unmöglich, genau jenes Kolorit raubt, das sie lebendig
494 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

machen würde. Dahinter steht eine Vorstel- ,schweiz[erisch].‘ ausgezeichnet. Unter Beizug
lung, von schweizerischen Linguisten wurde für die
12. Auflage des Rechtschreib-Dudens (1941)
„die der durchschnittliche Schweizer (und auch
Schweizer Lehrer) von der hochdeutschen Sprache eine erweiterte Liste aufgenommen, so dass
hat; es ist die Vorstellung von einer einzigen guten der „Rechtschreibduden nun 770 Wörter, die
deutschen Sprache, die Vorstellung von einem rei- schweizerische Besonderheiten aufweisen
nen Deutsch, dem vor allem etwas keinesfalls an- oder zumindest Besonderheiten, die auf die
haften darf: der Geruch oder auch nur der Hauch Schweiz und benachbarte Gebiete beschränkt
von etwas Helvetischem. Und dieser Stallgeruch sind“ (Steiger 1941, 74) enthält. Eine umfas-
wird im Geschriebenen am ehesten in Wörtern und sendere ⫺ wenn auch nicht unumstrittene ⫺
Wendungen spürbar.“ (Blesi 1994, 54). Sammlung wurde von Kaiser (1969/70) vor-
Und so gilt denn, dass Schweizer Schriftstel- gelegt und mit Meyer (1989) steht eine leicht
ler ,alles zu hochdeutsch schrieben‘, wie zugängliche und umfassende Zusammenstel-
ihnen z. B. von Günter Grass vorgehalten lung der ,schweizerischen Besonderheiten‘
wurde ⫺ zur Verfügung, während Ammon (1995,
251ff., bes. 260⫺277) wichtige Unterschiede
„womit er wohl meint, die Schweizer würden die in Wortlisten aufführt. Zusammenfassend
Schriftsprache [⫽ die Standardsprache; P. S.] zu
dargestellt wurden die Helvetismen von Haas
unterwürfig auf deren grammatikalische Vorschrif-
ten hin befragen und einsetzen, sie würden sich als (1982, 113ff.), wo sich auch erste, konstru-
Schreibende zeitlebens wie guterzogene Schüler ierte Textbeispiele finden (vgl. auch Blesi
3
verhalten. Dass der Schweizer übertreibe, ja über- 1994 [1988], 63f.). Haas unterscheidet:
kompensiere, wenn er hochdeutsch schreibe, ist of-
⫺ ,lexikalische‘ Helvetismen: ausschließlich
fenbar noch immer eine fable convenue. Er befinde
sich […] gleichsam ,im Dreieck Goethe ⫺ Thomas in der Schweiz gebräuchliches Wortgut,
Mann ⫺ NZZ‘.“ (B. von Matt 1986, 61). z. B. Falle (Klinke), parkieren (parken),
Traktandenlisten (Tagesordnung), Estrich
Das „Verhältnis der Deutschschweizer Auto- (Dachboden), tischen ⫺ abtischen (den
ren zur Schriftsprache“ ist denn auch von Tisch decken ⫺ abräumen)
Schriftstellern wie Literaturwissenschaft breit ⫺ ,semantische‘ Helvetismen: in der Schweiz
erörtert worden. Böhler (1991, 316) kommt spezifische Bedeutung eines im gesamten
in seinem Überblick zum Fazit, deutschsprachigen Raum gebräuchlichen
„es sei eines der wesentlichsten Merkmale der Lite- Wortes, z. B. Busse (Bußgeld), Vortritt
ratur in der (Deutsch)schweiz, dass sie aus der Dif- (Vorfahrt), das Licht anzünden (einschal-
ferenz zwischen dem Eigenen, der Mundart, und ten, anknipsen)
dem Fremden, der Hochsprache, lebe und dass sie ⫺ ,hergestellte‘ Helvetismen: Wörter, die von
diese Differenz in der Literatur austrage.“ zentralen Instanzen ausdrücklich für die-
sen Staat geschaffen und oft auch als ver-
Die auffälligsten Besonderheiten des Schwei-
bindlich erklärt werden: Identitätskarte
zerhochdeutschen betreffen das Lexikon
(Personalausweis), Fahrausweis (Führer-
(3.1.) und die Aussprache (3.2.); daneben be-
schein), Nationalrat, Ständerat, Bundesrat.
stehen (kleinere) Unterschiede in der Schrei-
⫺ ,Frequenzhelvetismen‘: In schweizerischen
bung, in Syntax und Morphologie (3.3.). Und
Texten gehäuft anzutreffende Wörter und
schliesslich zeigen sich auch ⫺ insbesondere
Wendungen, die ausserhalb der Schweiz
in der Kommunikation mit Deutschen ⫺
wenig gebräuchlich sind: selber, allfällig,
pragmatische Unterschiede (3.4.).
angriffig.
3.1. Besonderheiten im Lexikon Der Umgang mit Helvetismen lässt auf un-
Wichtigstes Kennzeichen der nationalen Va- terschiedliche Haltungen schliessen. Einer-
rietät ,Schweizerhochdeutsch‘ ist das Vorhan- seits sind viele Helvetismen den Deutsch-
densein von spezifischem Wortgut in der schweizern kaum bewusst, sie werden erst bei
Standardsprache der Deutschschweiz. Diese intensiven Kontakten mit Bundesdeutschen
,Helvetismen‘ (⫽ „schweizerische Sprachei- offenbar, wenn vieles in der alltäglichen
gentümlichkeiten“ Duden DW 1995, 1522) Kommunikation anders verläuft als gewohnt
sind zwar im Gegensatz zu Österreichs Aus- (vgl. als (konstruiertes) Textbeispiel: Haas
triazismen nicht gesamthaft offiziell kodifi- 1982, 119). Andererseits reagieren gerade
ziert, aber schon seit der 10. Auflage des Lehrkräfte durchaus nicht nur unterstützend
Rechtschreibdudens (1929) werden spezifisch auf den Gebrauch nationaler Varianten, wie
schweizerische Wörter anerkannt und mit eine Pilotuntersuchung des Korrekturverhal-
51. Das Deutsche in der Schweiz 495

tens anhand eines mit nationalen Varianten schon festgestellt: „ ,ischt‘ zu sagen [anstelle
konstruierten Textes gezeigt hat (Ammon von ,ist‘; P. S.], ,-ich‘ und ,-ach‘ mit dem glei-
1995, 437ff.). Eine mögliche Unsicherheit im chen Mitlaut zu sprechen, macht uns heute
Umgang mit dem Wortschatz mag ⫺ nebst bereits lächeln.“ Unbestreitbar bleibt aber
der zumindest schulisch verbreiteten Un- auch ein regionaler Charakter des Schweizer-
kenntnis der Eigenheiten von schweizeri- hochdeutschen, der „vornehmlich durch
schem Hochdeutsch ⫺ unterstützt werden Merkmale der Stimmführung, der Druckver-
durch den nicht sanktionierten Status, der teilung und der Klangfarbe gekennzeichnet
den einschlägigen Wörterbüchern des Schwei- ist“ (Schwarzenbach 1986, 101).
zerhochdeutschen (v. a. Meyer 1989, aber Dieses Schweizerhochdeutsch hat bereits
auch Schulwörterbüchern wie Bigler u. a. in der 19. Auflage des Siebs (1969) seinen be-
1987) zukommt. Auf den unklaren Status rechtigten Platz bekommen, was für die in-
von Helvetismen weist Burger (1995, 15) hin; nerschweizerische Diskussion um die Aus-
er kommt auf Grund einer Befragung zu sprache des Deutschen in der Schweiz von
phraseologischen Helvetismen zum Ergebnis, Bedeutung war: Durch die Differenzierung
dass lediglich 19% der von Meyer (1989) in von ,reiner‘ und ,gemässigter‘ Hochlautung
seinem Wörterbuch dargestellten Phraseolo- sind österreichische und schweizerische „Son-
gismen von heutigen Sprachbenutzern als ge- derheiten“ (Siebs, 19. Aufl. 1969, 8) in der
bräuchlich eingeschätzt werden. Hochlautung akzeptiert worden.
Boesch hat mit seiner ,Aussprache des
3.2. Varianten in der Aussprache
Hochdeutschen in der Schweiz. Eine Weglei-
Standardsprache erschien in der Deutsch- tung‘ (Boesch 1957) erstmals eine systemati-
schweiz lange vorwiegend in ihrer geschriebe- sche Sammlung vorgelegt. (Vgl. zu Hinter-
nen Form, sie war als gesprochene Sprache gründen und Wirkung: Ammon 1995, 242).
auf offizielle Kontexte (der Schule, der Öf- Darin nennt er als Gründe, die für eine eigen-
fentlichkeit, der Kirche) beschränkt. Dies hat ständige schweizerische Aussprache sprechen,
sich mit den audiovisuellen Medien grund- u. a. Folgendes:
sätzlich geändert. Wenn heute ein Kind ein-
geschult wird, so hat es im Regelfall bereits „Unser alemannisch gefärbtes Hochdeutsch ist […]
mehr gesprochene Standardsprache gehört ein Deutsch in deutschsprechendem Munde und legt
als ein Schweizer früher während seines gan- den legitimen Anspruch einer Landschaft fest, die
Gemeinsprache in einer ihr angepassten Form zu
zen Lebens ausserhalb der Schule. Deutsche
lauten, einer Form, die dem Sprechenden erlaubt,
und österreichische TV-Sender werden in der die Hochsprache nicht als eine fremde Sprache,
Schweiz empfangen und genutzt. Mit auf sondern als die seine zu erkennen und sich in ihr
diese Einflüsse zurückzuführen ist es denn wohl zu fühlen. Von ihm darf nicht verlangt wer-
auch, wenn heute viele Schweizer ein Hoch- den, dass er seinen ganzen Spechapparat vom Ge-
deutsch sprechen, das kaum mehr deutliche wohnten auf das Ungewohnte so vollständig um-
Mundartmerkmale erkennen lässt (vgl. Hove stelle, wie eine Fremdsprache dies verlangt. Sind
1995, 291ff.) ⫺ unter Beibehaltung einer re- die Anforderungen einer deutschen Hochsprache,
gionalen schweizerischen Färbung (vgl. Sie- wegen der Vielfalt festverwurzelter Dialekte, in die-
benhaar 1994, 31ff.). So hört man auch im ser Hinsicht grösser, so kann sie eben nicht densel-
ben Anspruch auf festgeregelte Einheitlichkeit ma-
eidgenössischen Parlament immer weniger,
chen wie das Französische oder das Englische. Wir
was als ,Ratsherrendeutsch‘ als typisch haben keine Akademie wie Paris und keine für das
schweizerisch-mundartliche Aussprache galt: Sprechen so massgebliche Stelle wie das britische
k als kch, inlautendes st und sp als scht, schp Radio“ (Boesch 1957, 14).
oder häufige Assimilationen (Apfokat statt
Advokat, Gopfried statt Gottfried). ⫺ Aller- Wie beim Lexikon sind also viele Varianten
dings ist die Einschätzung der aktuellen Si- der Aussprache des Deutschen in der Schweiz
tuation durchaus kontrovers. So publizierte gängige und von den einschlägigen Wörter-
der ,Sprachspiegel‘, das Organ des Deutsch- büchern sanktionierte Formen. Dass sie aber
schweizerischen Sprachvereins (ab 1993, im hiesigen Sprachbewusstsein oftmals als
Schweizerischer Verein für die deutsche Spra- minderwertig erscheinen, hat mit Vorstellun-
che SVDS), noch 1992 einen Artikel „Der gen von ,reinem Deutsch‘ zu tun, die auch in
Guttural im Bundesparlament“ (Müller-Mar- der Schweiz auf eine lange sprachideologi-
zohl 1992), der die schlechte Aussprache der sche Tradition zurückzuführen sind. Und sie
Parlamentarier bitter beklagt: Bereits vor beruhen auf einer weit verbreiteten Fehlein-
Jahrzehnten hat allerdings Boesch (1957, 13) schätzung:
496 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

„Viele Deutschschweizerinnen und Deutschschwei- ⫺ y wird in eingebürgerten Wörtern als i an-


zer haben fälschlicherweise den Eindruck, nur bei stelle von ü gesprochen (z. B. Ägypten,
ihnen deute die Aussprache auf ihre Herkunft hin. Asyl, Physik, Pyramide, System).
Sie lassen sich von einer sterilen Vorstellung eines
⫺ ie, ue/uo, üe/üo v. a. in Orts- und Eigenna-
,reinen‘ Deutsch leiten und verkennen die Vielfäl-
tigkeit der lebendigen Sprache. Nicht einmal Be- men werden als Diphthonge gesprochen.
rufssprecherinnen und -sprecher sowie Schauspie- (Bekannt ist die binnendeutsche Aus-
lerinnen und Schauspieler sprechen deutsch ganz sprache von grüezi, das im Tourismusland
ohne regionale Anklänge“ (Burri u. a. 1995, 6). Schweiz als grüzi beinahe zum bundes-
Die 1995 vom schweizerischen Radio DRS deutschen Erkennungsmerkmal geworden
herausgegebene Schrift Deutsch sprechen am ist.)
Radio (Burri u. a. 1995) ist im Moment wohl c) Konsonanten
die wichtigste Reverenz für die Aussprache ⫺ b, d, g und s werden stimmlos gesprochen.
des Hochdeutschen in der Schweiz. Dass eine ⫺ Auslautverhärtung wird kaum durchge-
so kleine Schrift (mit lediglich 40 Seiten Um- führt (so unterscheiden sich Rad und Rat
fang) diese Funktion erfüllen muss, macht in der Aussprache).
deutlich, wie schwer man sich mit einer Kodi-
⫺ ch im Anlaut wird häufig als [x] gespro-
fizierung der Aussprache in jüngerer Zeit tut.
chen (Chemie, China, Chaos, Choral).
Grösseren Projekten war bisher kein Erfolg
⫺ g in der Endsilbe -ig wird auch in Endstel-
beschieden: Eine revidierte Neuauflage des
lung als -ig ausgesprochen und nicht als
Standardwerks von Boesch (1957) ist in den
-ich (König, sonnig, wenig, zwanzig, geneh-
80er Jahren nicht über das Planungsstadium
migt). ⫺ (Eine immer wieder geführte Dis-
hinausgekommen und ob das seit langem an-
kussion von ,Sprachfreunden‘ in Leser-
gekündigte Werk von Hofmüller-Schenk (in
briefspalten betrifft die Aussprache von
Vorb.) überhaupt erscheinen kann, ist eben-
sonnig als sonnich im Wetterbericht von
falls fraglich. Diese Normierungsprobleme
können aber nicht darüber hinwegtäuschen, Radio und Fernsehen. Hier wird oft äus-
dass auffällige Unterschiede in der Aus- serst emotional die nördliche Variante
sprache des Deutschen in der Schweiz vor- sonnich als ,schlechter Import vom gros-
handen sind. Sie betreffen z. B. (für Detail- sen Bruder aus dem Norden‘ verun-
lierteres vgl. Meyer 1989, 25ff.; Ammon glimpft.)
1995, 225ff.; Burri u. a. 1995): ⫺ r wird niemals vokalisiert im Auslaut
(Tier, nicht: Tia; Wette(r), nicht Wetta).
a) Betonungen ⫺ Die Aussprache von v als f bei (eingebür-
Häufig sind die Wörter im Schweizerhoch- gerten) Fremdwörtern ist viel häufiger
deutschen erstbetont, wo in Deutschland (z. B. Advent, Advokat, Evangelium, Kla-
Zweit- oder Drittsilbenbetonung vorliegt vier, nervös, November, Revier, violett, Vul-
(z. B. 1Abteilung, 1ausführlich, 1eigentümlich, kan).
1unvergesslich, 1vorzüglich).
Auffällig wird die Erstbetonung insbeson- 3.3. Graphie, Syntax und Morphologie
dere bei Komposita, wo in der Schweiz (noch In der Schweiz gelten die Rechtschreibnor-
ausgeprägter als im übrigen südlichen Raum) men des Duden, diese Rechtsgrundlage ist
die Stammsilbe des ersten Glieds der Zusam- auch mit der Neuregelung der Rechtschrei-
mensetzung betont wird (z. B. 1Durcheinan- bung durch einen Beschluss der Kultusbehör-
der, 1hauptverantwortlich, 1Hornisse, 1Notwen- den (EDK) erneuert worden.
digkeit, 1Wacholder, 1Werkzeugmaschinenfa- Schweizer gehörten zu den ersten Anhän-
brik). Viele Abkürzungen tragen den Beto- gern Konrad Dudens. Bereits 1892 wurden
nungsschwerpunkt auf der ersten und nicht seine Rechtschreibregeln in der Bundeskanz-
auf der letzten Silbe wie in der Bundesrepu- lei eingeführt, lange vor Bayern und Preussen
blik (z. B. 1SBB, 1NZZ, 1FDP). (vgl. Haas 1982, 121). Eine einzige nennens-
b) Vokale werte Abweichung gilt allerdings in der
⫺ Die Vokale werden teilweise anders ausge- Schweiz: anstelle von ß wird konsequent ss
sprochen (z. B. lang in: brachte, Rache, geschrieben. ⫺ Die Aufgabe der Kurrent-
Nachbar, Viertel, Vorteil; kurz in: Städte, schrift in den Schulen (ab etwa 1920) sowie
düster, Jagd, Krebs, Obst). die Einführung einer schweizerischen Ein-
⫺ Die Endsilben -el, -em, -en, -er werden heitstastatur für die Schreibmaschine (die
meist gesprochen (z. B. Brezel, Atem, ma- auch für Französisch tauglich sein sollte)
chen, Macher). führten zum allmählichen Verschwinden des
51. Das Deutsche in der Schweiz 497

ß. Im Kanton Zürich wurde es für die Schu- Gesprächspartners. Gesprächsbeiträge über-


len durch Beschluss des Erziehungsrates lappen sich damit, was ,Schweizer‘ als unhöf-
(Kultusbehörde) 1935 abgeschafft. Die Zei- lich empfinden. Dies führt zu unterschiedli-
tungsdruckereien hielten länger daran fest, chen Diskussionsstilen. ,Schweizer‘ monolo-
am längsten ⫺ bis 1974 ⫺ die ,Neue Zürcher gisieren stärker; jeder Gesprächsbeitrag wird
Zeitung‘. Heute findet es noch Verwendung zu einer kleinen Selbstdarstellung, die zu un-
in einzelnen Druckereien für den Buchdruck. terbrechen unhöflich wäre. So werden Dis-
(Vgl. Meyer 1989, 36). kussionen eher blockartig geführt.
Eine Menge von kleinen Unterschieden ⫺ Unterschiede in der Intonation (vgl. Am-
liesse sich auch in Syntax, Wortbildung und mon 1995, 258) können zu falschen Deutun-
Morphologie anführen. In nicht weniger als gen führen, indem Intonationsstrukturen, die
105 Paragraphen listet Meyer (1989, 37⫺61) sich auf die Satzperspektive oder auf die
entsprechende Unterschiede auf. Wir haben logisch-grammatische Struktur des Satzes
einmal Folgendes herausgestellt: beziehen, als einstellungstypische Signale der
„Syntax:
Sprecher missdeutet werden, z. B.: Die nord-
Für Deutsch ungewöhnlich tönt Nebensatzeinlei- deutsche ⫺ fallende ⫺ Frageintonation wirkt
tung durch ansonst, wie es etwa am Anfang von M. auf ,Schweizer‘ schnoddrig; die für Nord-
Frischs ,Stiller‘ zweimal kurz hintereinander vor- deutsche singende Intonation der ,Schweizer‘
kommt: ,Ich bin nicht Stiller! ⫺ Tag für Tag, seit wirkt auf sie seltsam, oftmals grob.
meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch ⫺ Dem ,Schweizer‘ fehlen im Hochdeut-
zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre ich schen oftmals die redeleitenden Partikeln.
es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aus- Das Hochdeutsche bleibt für viele v. a.
sage verweigere‘. Übrigens habe ich bereits vor Ta- Schreib- und Lesesprache. Das Reden wirkt
gen melden lassen, es braucht nicht die allererste
Marke sein, immerhin eine trinkbare, ansonst ich
dadurch farblos, mitunter ist auch Mimik
eben nüchtern bleibe …“ […] und Gestik eingeschränkter als in mundartli-
chem Reden.
Wortbildung: ⫺ Schliesslich scheint auch ,schweizeri-
Schweizerischem Zugsunglück, Unterbruch oder sches‘ Diskussions- und Konfliktverhalten
Wissenschafter korrespondiert deutsches Zugun-
glück, Unterbrechung, Wissenschaftler.
anders als ,deutsches‘ zu sein. ,Deutsche‘ dis-
kutieren und kritisieren härter, greifen scho-
Morphologie: nungsloser an, wo ,Schweizer‘ etwa durch
In der Schweiz neigt man stärker zum Gebrauch Schweigen oder Nicht-Eingehen auf etwas ihr
starker Verbformen als in Deutschland.“ (Sieber/ Missfallen zu erkennen geben.
Sitta 1986, 156f.).
In ihrer Untersuchung der Kommunikations-
3.4. Unterschiede im Sprachgebrauch kultur in einem Berner Stadtviertel weisen
Wichtiger noch als die angeführten Unter- Werlen u. a. (1992, 16) darauf hin, dass „glo-
schiede im Sprachsystem sind jene im Sprach- bal gesehen Deutschschweizer Kommunika-
gebrauch. Im Erleben der Sprachteilhaber tionskultur stärker indirekt (ist) als etwa die
werden sie oft als Unterschiede ,der Sprache‘ bundesdeutsche.“ Und in den generellen Er-
oder als Einstellungssignale wahrgenommen. gebnissen des Projekts kommen sie zum
Bedauerlicherweise gibt es dazu keine syste- Schluss:
matischen Untersuchungen. Einige Beobach- „Die globale Deutschschweizer [Kommunika-
tungen dazu lassen sich aber zusammentragen tions-]Kultur ist eine Kultur der Unzugänglichkeit.
(vgl. dazu: Sieber/Sitta 1984, 23f.; Löffler Unzugänglich ist jede/r, der/die als nicht der glei-
1989, 207ff.; Werlen u. a. 1992, 243ff.): chen Gruppe zugehörig betrachtet wird. Wer Zu-
gänglichkeit herzustellen versucht, wird instrumen-
⫺ Schweizerdeutsches Sprechen ist generell teller Ziele verdächtigt. Damit ist das Gespräch
bedächtiger, langsamer als standarddeut- zwischen den Menschen nur schwer möglich ⫺ für
sches. Damit hängt ein Weiteres zusammen: die Meinungsbildung in einer funktionierenden De-
⫺ ,Schweizerinnen und Schweizer‘ ertragen mokratie eigentlich unmöglich. Die naheliegende
im Gespräch längere Pausen als ,Deutsche‘. Forderung nach einer Erziehung zur Dialogfähig-
Im Bestreben, die für sie oft unerträglich keit müsste ergänzt werden mit der Aufklärung
lange Dauer des Schweigens zu beenden, über die kommunikationskulturellen Festlegungen,
sprechen ,Deutsche‘ eher ⫺ und wirken da- die Dialogfähigkeit geradezu behindert.“ (Werlen
u. a. 1992, 244).
mit auf ,Schweizer‘ vorlaut.
⫺ ,Deutsche‘ markieren einen Sprecher- Dass eine ,Kommunikationskultur der Unzu-
wechsel oft durch Einfall in den Beitrag des gänglichkeit‘ in einem mehrsprachigen Land
498 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

mit einem hohen Anteil an ausländischer Be- möglichen und so zu einer weniger negativen
völkerung nicht unproblematisch ist, liegt auf Gewichtung der Standardsprache beitragen
der Hand. Hier dürfte die öffentlichen Dis- (vgl. Werlen/Ernst 1994, 227ff.).
kussion um die Sprachenvielfalt in der Generell lässt sich aber über die Jahre der
Schweiz tieferliegende Kommunikationspro- Schulpflicht hinweg eine Entwicklung fest-
bleme eher verdecken als beheben. stellen, die von anfänglich positiven zu immer
distanzierteren Einschätzungen des Hoch-
deutschen führt, wie es die folgenden Bei-
4. Einstellungsprobleme ⫺ spiele illustrieren (Beispiele aus: Sieber/Sitta
Hochdeutsch als vermeintliche (Hg.) 31994, 39):
,Fremdsprache‘ a) „Wir müssen Hochdeutsch nicht lernen ⫺ wir
können es.“ (Schüler, 1. Schuljahr)
Die Deutschschweizer Sprachsituation ist b) „Hochdeutsch könnte von mir aus aussterben.“
u. a. dadurch gekennzeichnet, dass gegenüber (Schüler, 5. Schuljahr)
Dialekt und Standardsprache oft sehr unter- c) „Gefühle kann ich besser in Mundart ausdrük-
schiedliche Einstellungen vorhanden sind, ken. Hochdeutsch ist für mich eine Fremdspra-
tendenziell sehr positive gegenüber dem Dia- che.“ (Schülerin, 8. Schuljahr)
lekt als Medium der Mündlichkeit, tenden-
ziell negative, zumindest distanzierte, gegen- Massgeblich beeinflusst wird diese Entwick-
über der mündlichen Standardsprache. Die lung durch folgende Faktoren:
Sorgen und Mühen mit dem Hochdeutschen ⫺ Anfänglich positive Erfahrungen mit (v. a.
betreffen fast ausschließlich die Mündlich- medial geprägtem) Hochdeutsch in den
keit, als Schreib- und Lesesprache ist Hoch- Anfangsjahren sowie der Anreiz, jene
deutsch allseits akzeptiert. Deutschschweizer Sprachform zu erwerben, in der lesen und
und Deutschschweizerinnen sprechen aber in schreiben gelernt wird ⫺ Tätigkeiten, die
ihrer grossen Mehrheit nicht gern Hoch- zumindest für Schulanfänger meist (noch)
deutsch. Das belegen alle vorhandenen Da- positiv besetzt sind (vgl. zum frühen
ten ⫺ von empirisch erhobenen Messungen Hochdeutscherwerb: Häcki-Buhofer u. a.
über mehr oder weniger strukturierte Beob- 1994, 147ff.).
achtungen bis hin zum Tenor in einschlägigen
Artikeln der Presse. Diese einheitliche Ten- Im Verlauf der ersten drei Schuljahre wirken
denz steht in deutlichem Gegensatz zu den sich aber mindestens zwei Faktoren hinder-
anderen deutschsprachigen Gebieten. Zu ih- lich aus:
rer Entstehung trägt ein ganzes Bündel von ⫺ eine starke Überlagerung von schulischem
Faktoren bei: identitätsstiftende und natio- Hochdeutsch und geschriebener Form der
nalsymbolische Funktionen des Dialekts, die Sprache (vgl. dazu 4.2.),
spezifischen Eigenheiten des multikulturellen ⫺ eine immer deutlichere Koppelung von
und multilingualen Staatsgebildes ,Schweiz‘, schulischen Situationen mit einem be-
die Stärke und Ausbaufähigkeit der schwei- stimmten Sprachformengebrauch: Die
zerdeutschen Dialekte, das nicht in allen Wahl der Sprachform ist häufig starr fest-
Teilen unproblematische Verhältnis der gelegt:
Deutschschweiz zu Deutschland und wohl
noch einiges mehr. Ein nicht unwesentlicher „Grundsätzlich ist die Mundart die ,Sprache der
Einfluss kommt hier der Schule zu. Freizeit‘, Standardsprache die ,Sprache der Ar-
beitszeit‘ in der Schule, d. h. die Mundart bestimmt
4.1. Zur Rolle der Schule die Kommunikation in den Pausen, vor Beginn
und nach Ende des Unterrichts und in informellen
Während der Schulzeit bilden sich durch spe- Situationen ausserhalb des Unterrichts. Das gilt für
zifische Verwendung der beiden Sprachfor- alle an der schulischen Kommunikation Beteilig-
men Dialekt und Hochdeutsch Einstellungen ten, d. h. für den Verkehr der Schüler miteinander,
heraus, die mit ihrer deutlichen Besetzung des der Schüler mit den Lehrern und der Lehrer mit-
Dialekts als positiver, des Hochdeutschen als einander. Demgegenüber ist die Standardsprache
negativer Variante für den Aufbau von Stan- für die eigentlichen Lektionen reserviert.
Innerhalb der schulischen Arbeit gibt es Fächer,
dardsprachkompetenz in der Mündlichkeit in denen fast nur Mundart gesprochen wird (und
wenig förderlich sind. Dass diese Situation zwar sowohl von den Schülern miteinander als
nicht unveränderlich ist, beweisen Erfahrun- auch im Verkehr mit dem Lehrer), und andere, in
gen von Lehrkräften, die bewusst einen ande- denen grundsätzlich Standardsprache gesprochen
ren Umgang mit beiden Sprachformen er- wird. Zur ersten Gruppe gehören mit systemimma-
51. Das Deutsche in der Schweiz 499

nenter Regelhaftigkeit Zeichnen/Werken, Musik, weniger die Sprachform als die medialen Er-
Turnen, mit weniger deutlicher Regelhaftigkeit Le- fahrungen damit: Hochdeutsch erscheint in
benskunde, Religion, Handarbeit/Hauswirtschaft, der Erfahrung vieler Schweizer als Schreib-
gelegentlich auch freiwillig gewählte Fächer (unter- und Lesesprache ⫺ mit den entsprechenden
schiedlicher inhaltlicher Ausrichtung); zur zweiten
Gruppe gehören die eigentlichen Sachfächer.
Konnotationen, die Schriftlichkeit andern-
Im Unterricht aller Fächer gibt es Phasen (un- orts auch hervorrufen. Mit grosser Regelmäs-
terschiedlicher Länge) und Situationen (unter- sigkeit trifft man Charakterisierungen wie:
schiedlicher Prägung), in denen Mundart gespro- Dialekt sei persönlich, vertraut, locker, frei,
chen wird. So liegt Mundart nahe bei Beziehungs- einfach, ausdrucksstark, sympathisch und lu-
haftem oder in Situationen der Spontaneität wie stig; Hochdeutsch dagegen unpersönlich, un-
der Unsicherheit; Standardsprache ist dagegen die vertraut, steif, kompliziert, wenig emotional,
Sprache der formellen Situation oder der Pla- gepflegt, gehoben. Interessant daran ist, dass
nung.“ (Sieber/Sitta 1986, 170). diese Opposition identisch ist mit der Einstel-
Diese Situation bietet wenig hilfreiche Vor- lung gegenüber gesprochener und geschriebe-
aussetzungen für den Aufbau positiver Ein- ner Sprache anderswo (Näheres dazu in Sie-
stellungen zur mündlichen Standardsprache. ber/Sitta 1986, 121ff.).
Mit zunehmendem Schulalter wächst denn Nicht unbeeinflusst von diesen polarisie-
auch die Abneigung gegenüber dem Hoch- renden Einstellungen gegenüber den Mund-
deutsch-Sprechen. Von den schulischen Insti- arten und der Standardsprache hat sich vie-
tutionen ist dieses Problem erkannt worden: lerorts ⫺ zumal in schulischen Bereichen (vgl.
Heute wird vermehrt Gewicht gelegt auf das Abschnitt 4.1.) ⫺ die Vorstellung entwickelt,
Sprachbewusstsein der Lehrkräfte, wenn von Hochdeutsch sei die erste Fremdsprache der
ihnen gefordert wird, dass sie die Wahl der Deutschschweizer. Die Einschätzung des
Sprachform bewusst und begründet treffen Hochdeutschen als Fremdsprache hat in den
sollen: siebziger Jahren zu Diskussionen um die ,Na-
tionalsprache‘ Deutsch geführt. So ist in ei-
„Es soll eine Wahl zwischen beiden Sprachformen
sein ⫺ mit der eindeutigen Gewichtung auf die neu
ner weit verbreiteten Darstellung über den
zu lernende Form des Hochdeutschen. Lehrerinnen schweizerischen Staat zu lesen:
und Lehrer sollen ihre Entscheidungen ⫺ auch den „Die Behauptung der Verfassung, die Schweiz be-
Schülern gegenüber ⫺ erklären können. Ein stän- sitze vier Nationalsprachen, ist eine kleine Willkür.
diges Hin und Her zwischen Mundart und Hoch- Das Schweizerdeutsche zum Beispiel, die Um-
deutsch ist zu vermeiden.“ (Kanton Solothurn: gangssprache von 4 Millionen Menschen, ist
Lehrplan für die Volksschule 1992, 6). eigentlich eine fünfte Sprache, und das Schrift-
Neuere Lehrpläne legen insgesamt grosses deutsch, die ,Nationalsprache‘, eine Fremdsprache,
die jedes Schulkind unter etlichen Mühen zuerst er-
Gewicht auf die Ausbildung von Einstellun-
lernen muss. (Tschäni 1974, 415).
gen, insbesondere auf jene der Lehrkräfte:
„Der Erwerb des Hochdeutschen ist ein Entwick-
Junge Deutschschweizer schätzen denn auch
lungsprozess, der im Vorschulalter beginnt und ihre Mundart als die eigentliche Form der
sich über die ganze Schulzeit hinzieht. Wichtigste Muttersprache ein:
Grundlage ist eine positive Einstellung zu dieser „Unbelastet von linguistischen Diskussionen und
Sprachform, die wesentlich durch die Einstellung Auseinandersetzungen bezeichnen die Rekruten in
der Lehrerinnen und Lehrer geprägt wird.“ (Kan- grosser Einmütigkeit allein den Dialekt als Mutter-
ton Zürich: Lehrplan für die Volksschule, Bereich sprache.“ (Schläpfer u. a. 1991, 210).
Sprache/Deutsch, Ausgabe 1991, 133 ff.).
Trotz dieser Unterschiede in der Einschät-
4.2. Mundarten und Hochdeutsch im zung der beiden Sprachformen ist die Sprach-
Spannungsverhältnis situation keineswegs so brisant, wie es den
In der medialen Diglossie gilt die uneinge- Anschein haben könnte. Der überwiegende
schränkte Akzeptanz der Mundarten als der Teil der Deutschschweizer scheint zufrieden
Sprache der Deutschschweiz, der ,Heimat‘, zu sein mit den gegenwärtigen Sprachverhält-
der Nähe ⫺ zusammengefasst: Die Mundar- nissen ⫺ oder genauer: Die Sprachverhält-
ten gelten als die Muttersprache im eigentli- nisse bilden für sie kaum ein Thema. ⫺ Das
chen Sinn, das Verhältnis zur Standard- zeigen die Rekrutenbefragungen (Schläpfer
sprache ist im Ganzen kühler, distanzierter, u. a. 1991) wie auch andere repräsentative
auch wenn hier zu differenzieren ist. Vieles, Umfragen in der Deutschschweiz (vgl. Nähe-
was dem Hochdeutschen an Distanziertheit res bei Sieber 1990, 84ff.). Im Gegensatz
und Abstraktheit nachgesagt wird, betrifft dazu hält die (veröffentlichte) Meinung stark
500 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

an einem Sprachzerfall-Szenarium fest, wobei ste Ausbildung ⫺ und damit wohl auch über
häufig vor einem ,Verlust des Hochdeut- die grössten Kompetenzen ⫺ verfügen (vgl.
schen‘ gewarnt wird (exemplarisch: „Zustand Draganits/Steinmann 1987, 12; Sieber 1990,
und Zukunft der viersprachigen Schweiz“ 85f.).
(1989); Vouga (Hg.) 1990). Zu Recht weist An diesem Zustand ist, wie im vorigen
Ris darauf hin, dass ,Verlust des gesproche- Abschnitt erläutert, die Schule mitschuldig,
nen Hochdeutschen‘ höchstens bedeuten bauen sich doch negative Einstellungen gegen-
könne, über dem Hochdeutschen im Laufe der Schul-
zeit eher auf, als dass sie durch einen fruchtba-
„dass eine Sprache nicht gebraucht werde, die an
sich da wäre oder die mit wenig Anstrengung akti-
ren Deutschunterricht abgebaut würden. Dies
viert werden könnte, nicht aber, dass elementare hängt wesentlich damit zusammen, dass
linguistische Strukturen wie Satzbaupläne oder das Hochdeutsch ⫺ auch in seiner gesprochenen
Lexikon nicht mehr vorhanden wären.“ (Ris Form ⫺ als Schriftsprache wahrgenommen
1990, 43). wird. Es hängt aber auch mit der Einstellung
der Deutschschweizer gegenüber dem Deut-
Dabei geraten aber andere Tatsachen aus schen und den Deutschen zusammen (vgl.
dem Blick: dazu die Zusammenstellung bei Ammon
⫺ Die tatsächlich feststellbare Zunahme 1995, 308ff.). Wir haben das komplexe Ver-
des Mundartgebrauchs hat weit mehr mit hältnis einmal wie folgt beschrieben:
Veränderungen im Kommunikationsverhal- „Da ist zunächst festzustellen, dass die Koopera-
ten zu tun als mit einer Frontstellung gegen tion zwischen der Schweiz und Deutschland aus-
das Hochdeutsche. serordentlich eng ist. Die Bundesrepublik ist der
⫺ Hochdeutsch ist die nach wie vor unbe- wichtigste Handelspartner der Schweiz, sie ist das
strittene und selbstverständliche Schreib- Herkunftsland der grössten Touristengruppe, in
sprache in der Deutschschweiz. Sie ist als sol- deutschen Händen ist der grösste ausländische
che lange etabliert und in ihrer Geltung Anteil an schweizerischem Grundbesitz.
nicht gefährdet. Viele enge wirtschaftliche, technische, kulturelle,
⫺ Sogar als Sprechsprache ist Hochdeutsch wissenschaftliche und auch familiäre Beziehungen
bestehen zwischen beiden Staaten und sollten
weniger umstritten als vielfach angenommen.
eigentlich ein gutes Verhältnis sichern.
Die Notwendigkeit, Hochdeutsch sprechen Auf der anderen Seite existieren in diesem Ver-
und verstehen zu können, ist heute wohl in hö- hältnis Einstellungen, die nicht unbedingt zum Bild
herem Masse anerkannt als noch vor einem des guten Nachbarn passen. Für den Schweizer ist
Jahrzehnt (vgl. Schläpfer u. a. 1991, 211). Deutschland ein ,Draussen‘, gegenüber dem man
Dazu dürften ⫺ neben der gewachsenen Be- Abgrenzung sucht. Starke Abwehrhaltungen ge-
deutung des Deutschen in Europa ⫺ auch die genüber Deutschland und der Sprache dieses Lan-
bildungspolitischen und schulischen Bemü- des lassen sich in der Geschichte, zumal seit dem
hungen der letzten Jahre beigetragen haben. ersten Weltkrieg, aufzeigen. Zur Zeit des Faschis-
mus stand die damalige Dialektbewegung ganz im
Und doch bleibt das Verhältnis der Deutsch- Zeichen der ,Geistigen Landesverteidigung‘: Selb-
schweizer zum Hochdeutschen nicht ohne ständigkeit und Eigenart der Schweiz suchte man
Spannung. Akzeptiert und gebraucht als gerade auch auf dem Gebiet der Sprache zu beto-
selbstverständliche Schreib- und Lesesprache, nen … Doch scheinen Vorurteile und negative Ein-
stellungen gegenüber Deutschland weiter zurück-
problemlos verstanden als Sprechsprache,
zureichen ⫺ mindestens ins 19. Jahrhundert.“ (Sie-
wird sie oft nur ungern selbst aktiv als ber/Sitta 1984, 26).
Sprechsprache genutzt und die eigenen Kom-
petenzen werden eher negativ eingeschätzt. ⫺ Wie weit historisch und politisch begründete
In einer vom Forschungsdienst des Schweizer Abwehrhaltungen heute noch wirksam sind,
Fernsehens durchgeführten Befragung sind lässt sich schwer feststellen. ⫺ Dass sie nicht
4 von 10 Befragten in der Deutschschweiz ganz verschwunden sind, wird aber in der zi-
(40,3%) der Meinung, dass die meisten tierten Rekrutenbefragung deutlich: Nach
Deutschschweizer sich eher schlecht im Hoch- Gründen gefragt, weshalb Deutschschweizer
deutschen ausdrücken können, knapp die eher selten in Deutschland Urlaub machen,
Hälfte (49,8%) beurteilt die Ausdrucksfähig- wird mit Abstand am häufigsten genannt:
keit als genügend und nur gerade 7% beurtei- „Der Umgang und der Kontakt mit Deut-
len sie als gut. Zu denken geben muss dabei, schen liegt dem Schweizer nicht zu sehr.“
dass die Ausdrucksfähigkeit von jenen beson- (Schläpfer u. a. 1991, 154). ⫺ Ein Indiz für
ders kritisch eingeschätzt wird, die über die be- das Fortbestehen von Abwehrhaltungen ist
51. Das Deutsche in der Schweiz 501

etwa die Antwort auf die Frage, die in gewis- Dennoch bin ich immer wieder erneut verwundert
sen Abständen in der Deutschschweiz gestellt und entzückt darüber, dass sie sich dieses Stücklein
wird: ,Wo würden Sie gern leben, wenn sie funktionierender Anarchie noch nicht haben neh-
nicht in der Schweiz leben würden?‘ Deutsch- men lassen.“ (Haas 1986, 51).
land rangiert hier immer fast ganz am Ende Was das Hochdeutsche in der Deutsch-
der Skala. schweiz betrifft, so ist herauszustellen:
Fasst man das hier Angedeutete zusam-
men, so zeigt sich ein deutliches Spannungs- a) Die deutsche Standardsprache ist auf
verhältnis zwischen den Mundarten und dem dem aktuellen Stand so weit vereinheitlicht,
Hochdeutschen in der Deutschschweiz. Die- dass sie regionale Abweichungen durchaus
ses Verhältnis war schon in der Vergangen- erträgt; die überregionale Verständigung wird
heit nie stabil, es war auch nie spannungslos damit nicht über Gebühr erschwert. Aller-
und es hat mindestens seit dem 19. Jh. immer dings ist hier ⫺ in Schule und Öffentlichkeit
wieder zu Diskussionen Anlass gegeben. Ge- ⫺ noch vieles zu tun, damit die schweizeri-
genwärtige Tendenzen laufen ⫺ soweit sie die sche Form des Hochdeutschen Akzeptanz
Mündlichkeit betreffen ⫺ einerseits in Rich- und Wertschätzung erfährt. Schläpfer wies
tung eines verstärkten Mundartgebrauchs und schon vor Jahren kritisch auf zwei Grundten-
andererseits in Richtung einer Stärkung der denzen hin, die er in der Schule beobachtete,
deutschschweizerischen Variante des Hoch- die aber darüber hinaus wirksam waren und
deutschen. Dass es wichtig ist, Hochdeutsch es immer noch sind:
sprechen und verstehen zu können, wird „Die eine ist gewissermassen schul-immanent. Sie
nicht ernsthaft bestritten. Das belegen sogar geht dahin, dass muttersprachlicher Unterricht und
die Ergebnisse der Rekrutenbefragungen, wo besonders auch Lehrmittel für den muttersprach-
tendenziell ein Ausbau des Mundartge- lichen Unterricht dazu neigen, einen älteren
brauchs gewünscht wird. Trotzdem erachten Sprachstand zu fixieren und Veränderungen im
48,8% der Rekruten es als sehr wichtig und Wortschatz und im System der Gegenwartssprache
41,7% als wichtig, Hochdeutsch sprechen kaum oder nur unwillig zur Kenntnis zu nehmen.
und verstehen zu können (Schläpfer u. a. ⫺ Die andere Tendenz ist schweizerisch beson-
1991, 118). Und ebenso deutlich wird für ein ders stark ausgeprägt: Der Deutschlehrer, der sich
Hochdeutsch in Schweizer Form geworben: um eine korrekte Standardsprache bemüht, neigt
aus seiner Mundart-Situation heraus zu Überkom-
Auf die Frage, wie ein Schweizer Hoch-
pensation und Hyperkorrektheit. […] Entgegen der
deutsch sprechen soll, waren die Antworten Einsicht der Sprachwissenschaft und obwohl
deutlich: neuere Sprachlehrwerke dagegen ankämpfen, lebt
„⫺ möglichst wie ein Deutscher: 16,8%; in der Schweizer Schule noch weit herum die Vor-
⫺ man darf hören, dass er Schweizer ist: 81%.“ stellung, es gebe im deutschen Sprachgebiet eine
(Schläpfer u. a. 1991, 155). einheitliche deutsche Hochsprache, die wir uns an-
eignen sollten.“ (Schläpfer 1983, 47f.).

5. Schlussfolgerungen b) Durch die Vereinigung Deutschlands ha-


Die Deutschschweiz ist Teil des deutschspra- ben die nördlichen und östlichen Gebiete des
chigen Kulturraumes und sie hat Anteil an deutschen Sprachraums eine womöglich ein-
der deutschen Standardsprache; als vierspra- heitlichere und gewichtigere Stimme erhalten,
chiger Staat hat die Schweiz gleichzeitig Ver- wo es um Fragen der Standardisierung und
pflichtungen gegenüber allen Landesspra- Normierung geht. Unter diesen Vorausset-
chen wahrzunehmen. Beide Tatbestände un- zungen ist darauf zu achten, dass die südli-
terstützen eine Förderung des Hochdeut- cheren Gebiete ⫺ zumal die Deutschschweiz,
schen in der Deutschschweiz. Die spezielle Österreich und Südtirol ⫺ ihre berechtigten
Situation der ,medialen Diglossie‘ wiederum Anliegen weiterhin mit Nachdruck vertreten
wirkt auch auf eine Wertschätzung der und einbringen können. Dies entspricht auch
Mundarten, die innerdeutschschweizerisch der weitgehend föderalistisch gewachsenen
den Status von Umgangssprachen besitzen Struktur der deutschen Standardsprache, die
und diesen Status auch beibehalten können. niemals über ein vergleichbar mächtiges Zen-
Und ⫺ es lebt sich keineswegs unangenehm trum wie Paris oder London verfügt hat. Die
in dieser Situation: Diskussion um nationale Varietäten des
„Die Sprachsituation dieses Landesteils lässt sich Deutschen, wie sie insbesondere durch Am-
nur dadurch erklären, dass sie den Bedürfnissen mon (1995) angestossen worden ist, hat be-
seiner Bewohner in perfekter Weise entspricht. sonders hier ihre Relevanz.
502 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

Dazu ist allerdings notwendig, dass die südli- Bickel, Hans; Robert Schläpfer (Hg.) (1994): Mehr-
cheren Gebiete ⫺ und zumal die Deutsch- sprachigkeit ⫺ eine Herausforderung. Aarau etc.
schweiz ⫺ ein (v. a. in gebildeten Kreisen) (Reihe Sprachlandschaft 13).
noch weit verbreitetes sprachliches ,under- Bigler, Ingrid u. a. (Bearb.) (1987): Unser Wort-
dog-Denken‘ ablegen. Anstatt in allen Norm- schatz. Schweizer Wörterbücher der deutschen Spra-
fragen nach Norddeutschland zu starren, che. Zürich.
sollten die Deutschschweizer ein eigenes und Blesi, Pankraz (1994): „Ist das überhaupt
eigenständiges Sprachbewusstsein entwik- Deutsch?“ ⫺ Eine Übung zur Verwendung von
keln, das das Hochdeutsche, wie es in der Wörtern und Wendungen beim Schreiben. In: Sie-
Schweiz verwendet wird, bejaht und unter- ber/Sitta (Hg.), 53⫺74.
stützt. ⫺ Zumindest die jüngere Generation Boesch, Bruno (1957): Die Aussprache des Hoch-
scheint hier bereits unverkrampfter zu reagie- deutschen in der Schweiz. Eine Wegleitung. Zürich.
ren, wie die oben zitierten Umfrageergebnisse Böhler, Michael (1991): Das Verhältnis der
von Schläpfer u. a. (1991, 155) zeigen. Deutschschweizer Autoren zur Schriftsprache. In:
Geschichte der deutschsprachigen Schweizer Litera-
c) Das geltende Sprachverteilungsmodell ⫺
tur im 20. Jahrhundert, 309⫺318.
Haas (1994, 219) bezeichnet es als ,archaisch‘
⫺ ist ein Faktor der nationalen Identität der Burger, Harald; Annelies Häcki-Buhofer (Hg.)
Deutschschweizer; es trägt damit kaum dazu (1994): Spracherwerb im Spannungsfeld von Dialekt
und Hochsprache. Bern etc. (Zürcher Germanisti-
bei, neben den Dialekten auch Hochdeutsch sche Studien; Bd. 38).
als nationale Varietät zu werten. Und auch
auf wissenschaftlichem Feld wird wenig un- ⫺ (1995): Helvetismen in der Phraseologie. In: Hei-
ner Löffler (Hg.): Alemannische Dialektforschung.
ternommen, um den Status des Schweizer-
Bilanz und Perspektiven. Basel. (Basler Studien zur
hochdeutschen detaillierter zu klären. Neben deutschen Sprache und Literatur; Bd. 68), 13⫺25.
den Fragen der Kodifizierung (die Deutsch-
schweiz verfügt über kein anerkanntes Wör- Burri, Ruth M.; Werner Geiger; Roswitha Schil-
ling; Edith Slembek (1995): Deutsch sprechen am
terbuch der nationalen Varietät wie den
Radio. Basel.
Mannheimer Duden, das Bertelsmann-Wör-
terbuch oder das Österreichische Wörter- Camartin, Iso (1982): Die Beziehungen zwischen
buch) wären hier ⫺ wie auch Ammon den schweizerischen Sprachregionen. In: Robert
Schläpfer (Hg.), 301⫺351.
(1995, 292) vorschlägt ⫺ insbesondere Unter-
suchungen zu schichtspezifischen Unterschie- Christen, Helen (1997): Koiné-Tendenzen im
den nützlich. Solche Untersuchungen ⫺ zu Schweizerdeutschen? In: Gerhard Stickel (Hg.): Va-
Einschätzung und Gebrauch des Hochdeut- rietäten des Deutschen: Regional- und Umgangs-
sprachen. Berlin/New York (Institut für Deutsche
schen ⫺ waren bisher kaum Gegenstand der Sprache Mannheim: Jahrbuch 1996), 346⫺363.
Forschung ⫺ zu stark wirkt wohl hier eine
ideologische Überhöhung des schichtunab- ⫺ (1998): Dialekt im Alltag. Tübingen (RGL 201).
hängigen Dialektgebrauchs der Schweizer Draganits, A.; M. Steinmann (1987): Mundart-
nach. Schriftsprache. Eine gesamtschweizerische Untersu-
d) Deutsch in der Schweiz ist ein Deutsch chung zu allgemeinen Sprachproblemen. Bern.
in deutschsprechendem Munde, das seine (SRG-Forschungsdienst).
Herkunft nicht zu verleugnen braucht. Es Duden, Band 1 (1991): Rechtschreibung der deut-
könnte im Gegenteil beredtes Zeugnis von schen Sprache. 20., neu bearb. und erw. Aufl. Mann-
der inneren Mehrsprachigkeit nicht nur der heim etc.
deutschsprechenden Menschen sein. Die in- ⫺ Band 1 (2000): Rechtschreibung der deutschen
nere Mehrsprachigkeit spiegelt in gewisser Sprache. 21., völlig neu bearb. und erw. Aufl.
Weise auch die erhöhten Anforderungen an Mannheim etc.
das Sprachvermögen heutiger Menschen. Die ⫺ Band 11 (1992): Redewendungen und sprichtwört-
Sprachsituation der Deutschschweiz mit ihrer liche Redenarten. Wörterbuch der deutschen Idioma-
,Zweisprachigkeit in der eigenen Sprache‘ tik. Hg. und bearb. von Günther Drosdowski und
macht diese Anforderungen deutlich und ver- Werner Scholte-Stubenrecht. Mannheim etc.
weist auf die Notwendigkeit einer verstärkten ⫺ (1995): Deutsches Wörterbuch (DW). Hg. und
Förderung der Sprachfähigkeiten. bearb. vom Wissenschaftlichen Rat und den Mit-
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51. Das Deutsche in der Schweiz 503

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504 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

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52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten 505

52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten

1. Das Deutsche und Entstehungsräume IV., 1346⫺1378) konnten sich gegen die feu-
europäischer Nationalsprachen dalen Partikulargewalten behaupten, und nach
2. Die deutschen Mundarten und der Mitte des 15. Jhs. war die deutsche Zen-
Umgangssprachen (Substandard)
tralgewalt auf den Tiefpunkt gesunken. Der
3. Die regionale Gliederung des Deutschen
4. Das deutsche Deutsch als nationale Varietät Buchdruck, das wirtschaftliche, politische
5. Literatur in Auswahl und kulturelle Gewicht vor allem Sachsens in
seinem damals großen Staatsgebilde, seine
führende Rolle in der Reformation und die
1. Das Deutsche und Wirkung von Luthers Sprache förderten aber
Entstehungsräume europäischer die schon vor 1500 einsetzenden Vereinheit-
Nationalsprachen lichungstendenzen im geschriebenen Deutsch.
Die Frage nach der mundartlichen Grund-
1.1. Die Entwicklung in anderen lage der deutschen Nationalsprache, dem
europäischen Staaten Standard, ist noch nicht völlig geklärt. Mi-
Die Frage nach den Entstehungsräumen eu- schungen lautlicher, grammatischer und lexi-
ropäischer Nationalsprachen ist anders zu kalischer Faktoren nicht nur eines Dialekts
beantworten als die im dezentralen Deutsch- und somit keine deutsche Mundart in reiner
land seit Bestehen der Stammesherzogtümer: Form bilden die Grundlage unserer neuhoch-
In Großbritannien ist auf Südengland mit deutschen Norm.
London, in Frankreich auf die Île de France
und Paris, in Italien auf die Toscana und Flo- 2. Die deutschen Mundarten und
renz, in Spanien auf Kastilien mit Burgos, in
Portugal auf die Grafschaft Portugal und Umgangssprachen
Oporto, in den Niederlanden mit der Ent- 2.1. Merkmale der Mundart
wicklung der flämischen Städtekultur auf
Holland, in Dänemark auf die Insel Seeland Eine Vielzahl von Bildungsweisen und Un-
und in Schweden auf die Landschaften um terscheidungsmerkmalen zur Schriftsprache
den Mälarsee zu verweisen. kennzeichnen die Mundart, die auch der Leh-
rer des mutter- und fremdsprachlichen Un-
1.2. Ursachen und Bedingungen für die terrichts erkennen und deuten muss.
Entwicklung in Deutschland
2.1.1. Beharrungsvermögen
Im Durcheinander der Kleinstaaterei stellt
sich in Deutschland die Frage nach der poli- Mundarten verkörpern die gesprochene
tisch und kulturell überragenden Landschaft Sprache des Volkes, die älter ist als die
anders als in den übrigen europäischen Län- Schriftsprache. Im Mittelhochdeutschen hat
dern. Während in fränkischer Zeit die maßge- man sie lantsprachen genannt. Sie bewahren
bende Wirtschaftsform die Grundherrschaft Altes lange und gut und besitzen Beharrungs-
war, erlangten seit dem 10. bis 12. Jh. die vermögen, aufgrund dessen sie die deutsche
Städte, besonders im Rheinland, mehr Gel- bzw. die germanische Vergangenheit verdeut-
tung und entzogen sich allmählich der grund- lichen helfen.
herrlichen Gewalt. In Deutschland spielt eine
große Rolle die seit althochdeutscher Zeit 2.1.2. Schöpferkraft, Phantasie,
wirkende starke Autonomie erst der Stämme, Bildhaftigkeit
dann der Territorialfürsten, und zwar mehr Andererseits besitzen sie Schöpferkraft. Eine
im westlichen Altland als im Osten, wo seit reiche Phantasie lässt Vergleiche und kräftige
der hochmittelalterlichen Ostsiedlung Men- Bilder entstehen, die auch der Neigung zum
schen aus westlichen, südlichen und nördli- Übertreiben (der Hyperbel) Ausdruck geben,
chen Richtungen zusammengeführt worden vgl. etwas ist zum Kranklachen, Totschießen.
sind. Im Spätmittelalter setzte mit Rudolf
von Habsburg verstärkt das Ringen um eine 2.1.3. Gefühlsbetontheit und Affekt
gesamtstaatliche Zentralisation ein. Doch In der stärkeren Gefühlsbetontheit im Ver-
weder ein Habsburger noch die Luxemburger gleich zur Hochsprache vermehrt in der
(Höhepunkt ihrer Macht unter Kaiser Karl Mundart (und Umgangssprache) das Negative
506 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

den Wortschatz nachhaltiger als das Positive: den Einzelfall. Nach dem Rheinischen Wör-
Das Volk lobt nicht gern; es sieht im Guten das terbuch gibt es z. B. für die Arten des Gehens
Normale. Alle Abweichungen davon in Sitte, und Laufens etwa einhundert Verben, die das
Brauchtum und Recht werden gescholten. Üp- Zweckmäßige oder das Hindernde des Lau-
pig entfaltet ist deshalb der Wortschatz für fens unterscheiden, die Dauer der Bewegung,
Begriffe wie „schimpfen“, „stehlen“, „lügen“, den trägen, schlendernden, nachlässigen
„streiten“, „betrunken sein“, „sterben“. Gang, das müßige, hinkende, steife, plumpe,
watschelnde, schleifende, zappelnde, tän-
2.1.4. Bevorzugung der Parataxe zelnde Gehen, während das Wort gehen
Auf syntaktischem Gebiet bevorzugt sie die selbst zurücktritt. Auch für sprechen/reden
Parataxe und verwendet nur wenige Binde- (vgl. Abb. 52.1) und für ziehen (Abb. 52.1)
wörter außer und (auch). Die einzelnen Aus- werden viele Ausdrücke verwendet.
sagen werden aneinandergereiht, nicht dage-
gen hypotaktisch. Man sagt nicht: ich gehe 2.1.9. Sparsamer und einförmiger Gebrauch
nicht aus, weil es mir zu kalt ist, sondern ik der Verben
gā nich ut, dat is mi to kold (Niederdeutsch). Andererseits kann die Mundart wie die Um-
Damit verkörpert sie einen älteren Sprachzu- gangssprache sparsam im Gebrauch der Ver-
stand. ben sein, sogar einförmig und bequem, wie
es der Hochsprache nicht gemäß ist, vgl. den
2.1.5. Mangel an Konjunktionen
häufigen Gebrauch von machen, tun, z. B. das
Viele Konjunktionen der Schriftsprache sind Feuer anmachen, wir machen los; tu das Geld
den Mundarten als Folge anderer Syntax hinlegen.
fremd oder sie werden anders verwendet,
z. B. ist im Bairischen und Südalemannischen 2.1.10. Fehlen oder Umschreiben abstrakter
das Bindewort bald (ⱕ sobald) häufig zu hö- Begriffe
ren: bal(d) ich gemerkt hān ,als ich merkte‘. Wichtige abstrakte Ausdrücke werden gemie-
Vielfach tritt die Konjunktion dass in Verbin- den, z. B. wird tot durch anschaulichere Aus-
dung mit anderen Konjunktionen und mit drücke ersetzt: er is nemme ufgestaune ,nicht
Fragewörtern auf, z. B. Nordsiebenbürgisch- mehr aufgestanden‘.
sächsisch: sag mir, wohin dass du gehst.
2.1.11. Drang zur Kürze: Assimilationen,
2.1.6. Wiederholungen, Kürzungen und Dissimilationen, Abschwächungen
Formelhaftigkeit des Ausdrucks
In Mundart und Umgangssprache gilt der
Nicht selten sind Wiederholungen und Kür- Drang zur Kürze: der Hänger ist ,der Anhän-
zungen des Ausdrucks. Vom Gebirgsschlesi- ger‘; Assimilationen sind feler ,Felder‘, der āle
schen war bekannt (G. Hauptmann „Die We- ,der Alte‘, unnern ,unsern‘ (ostfränk.) oder
ber“: ne, Vatterle, du machst a schenes Gebete Dissimilationen wie omlibus ,Omnibus‘ (Nas-
machs de. Im Gegensatz dazu lassen aleman-
sau), Gürteltaube ,Turteltaube‘ (bair.). Groß
nische Mundarten mitunter das Verb aus,
ist die Zahl der Abschwächungen nebento-
ohne dass ein Missverständnis besteht: du
niger Silben, z. B. kirwe, kilwe ,Kirchweih‘,
konntest mir das Brot (herüberreichen). Im
ostmitteldeutsch hantsch, westfäl. hantske
Niederdeutschen ist die Neigung zum formel-
,Handschuh‘, rhein. backes ,Backhaus‘.
haften Ausdruck relativ groß.
2.1.7. Vielfalt der Einzelbezeichnungen 2.2. Merkmale der Umgangssprache
(Substandard)
Die Vielfalt von Einzelbezeichnungen zeigt
z. B., dass im Taunus für den Begriff „Rind“ 2.2.1. Abgrenzung zu Mundart und
die Bezeichnungen Ochse, Stier, Lüpper (ver- Hochsprache
schnitten, Mask.), Kuh, Kalbin (erstgebärende Anders als die Mundart ist die Umgangsspra-
Kuh), Rind (junges), Kalb sogar je nach der che gesprochene Sprache nach der Schrift; sie
Färbung Fuchs, Rote, Braune, Schimmel, ist also jünger als die Schriftsprache und setzt
Schecke, Blesse verwendet werden, während diese voraus. Sie liegt zwischen den Ebenen
der Gattungsname ,Rind‘ dort fehlt. Mundart und Hochsprache. Eine klare, allge-
meinverbindliche Abgrenzung des Begriffes
2.1.8. Vielfältige verbale Ausdrucksfähigkeit ist schwierig. Nach Munske (1983, 1009) sind
Der Vorrat an Verben ist groß; die Mundart Umgangssprachen „in wesentlichen Zügen
abstrahiert wenig und richtet den Blick auf ihres phonologischen, morphologischen und
52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten 507

Abb.52.1: (nach Kleine Enzyklopädie Bd. I 1969/70, 364).

semantischen Systems das Resultat eines ohne das normgerechte Stiefel zu erreichen.
strukturellen Ausgleichs zwischen Dialekt Typisch ist der Dialektabbau auch in Kon-
und Hochsprache, wobei komplexe dialektale traktionen wie hamse ,haben sie‘ oder in der
Strukturen einfacheren hochsprachlichen an- Kürzung des Artikels: ne < ,eine‘. Im Bereich
gepasst werden“. So setzen die umgangs- des Wortschatzes spricht man vom Schuften,
sprachlichen Lautungen mit spirantischem Wuchten, Wühlen, Pfuschen oder es werden
-ch- bei Wörtern mit hochsprachlichem -g- Modewörter wie Lenz schieben, Sense machen
dieses voraus: wōchn ,Wagen‘, während die verwendet, wobei die Jugend erfinderisch und
Mundart in weiten ostmitteldeutschen Gebie- aktiv in der Verwendung des einmal gefunde-
ten dafür die -g-losen Formen wān, wōn, nen „modernen“ Ausdrucks ist (vgl. Art. 53,
woin, waun verwenden. Oder der mundartli- 4.5.2.). Die Umgangssprache ist vielfältig ab-
che Plural štebeln ,Stiefel‘ wird verachtet zu- gestuft innerhalb der Familie und der Gesell-
gunsten von umgangssprachlichem štiefeln, schaft und weist territoriale Unterschiede
das nach der Hochsprache ausgeglichen ist, auf.
508 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

2.2.2. Entstehung der Umgangssprache Land die bewahrende“. Nach ihren Anfängen
(Substandard) im 16. bis 18. Jh. ist entscheidend für die Ent-
Ihre Entstehung ist vor allem in den Städten faltung der Umgangssprache auch auf Grund
zu suchen, in denen seit jeher die sozial höher der gewaltigen Bevölkerungsumschichtun-
stehenden Gesellschaftskreise wirken. Aber gen, der Einwanderung von Spätaussiedlern
die sprachliche Strahlkraft der Städte im und Ausländern, sowie der gestiegenen Mo-
ausgehenden Mittelalter ist unterschiedlich. bilität das 20. Jh. geworden, wodurch sich
Während Köln auf ein größeres Gebiet die regionalen Sprachgemeinschaften binnen
sprachraumbildend eingewirkt hat, ist der kurzer Zeit ganz anders zusammensetzen. Hö-
Einfluss von Frankfurt a. M. geringer und herer Bildungsstand, Urbanisierung, sozialer
der Kassels flächenmäßig unbedeutend gewe- Aufstieg und Einfluss der Medien sind eben-
sen (vgl. Abb. 52.2). Dem Verhältnis dieser falls für den Abbau der Ortsdialekte verant-
westdeutschen Städte entspricht im Osten wortlich (Wiesinger 1996). Aber nicht immer
etwa das Leipzigs zu Erfurt und Nürnberg. hat die Umgangssprache ihr Umfeld beein-
Köln war mit 30 000 Einwohnern von den 15 flusst; z. B. liegt eine der volkreichsten ostmit-
Großstädten mit mehr als 10 000 Einwohnern teldeutschen Städte im Mittelalter, Freiberg,
die volkreichste im damaligen Deutschland auf einer Mundartlinie (Große 1955, 58). Die
(außerhalb Flanderns). Es folgten (nach Rö- beiden Abbildungen (Protze 1969/70, 336ff.),
rig 1932, 343f.) Lübeck, Straßburg, Nürn- Sarg im Rhein-Main-Gebiet und Wirkung
berg, Danzig, Ulm, Frankfurt a. M., Zürich, Kassels (Abb. 52.2) aus dem Material von De-
Augsburg, Erfurt, Breslau. Die Städte hemm- bus, zeigen die Wirkung der hessischen Um-
ten die weitere Ausdifferenzierung der Mund- gangssprache im Umkreis städtischer Zentren
arten und glichen aus: nach Schmitt (1942, (Dreieck Mainz⫺Frankfurt⫺Darmstadt), ei-
226) ist die Stadt fortan „die bewegende nes alten wirtschaftlichen und kulturellen Mit-
Grundkraft des Sprachlebens, das bäuerliche telpunktes. Dabei hält sich die von diesen

Abb.52.2: (nach Kleine Enzyklopädie Bd. I 1969/70, 336).


52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten 509

Abb. 52.3: Kontamination der Harken


(nach Kleine Enzyklopädie Bd. I 1969/70,
403).

Städten bewirkte Ausdehnung des Wortes indem die hochdeutschen Formen ,und‘,
Sarg auf Kosten des älteren Lade oder Toten- ,Schwester‘, ,sechs‘ das verkehrsreiche Rhein-
lade ungefähr in den Grenzen der Diözese tal und Umland ausfüllen, während die mund-
Mainz, die somit seit Jahrhunderten eine artlichen Formen (indi, endi; Söster, Sester;
sprachraumbildende Kraft darstellt. Kleiber sess) an die verkehrsarmen Randgebiete abge-
(1983, 1616) spricht von Städten als „Diffu- drängt worden sind. An den Berührungs-
sionszentren hochsprachlichen Wortschat- flächen mundartlicher oder umgangssprach-
zes“. Die Wirkung Kölns zeigt Frings (1956, I licher Wörter oder Lauterscheinungen entste-
Karte 12, dazu meine Karte 1969/70 I, 339), hen oft auf Grund sprachlicher Unsicherheit
510 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

Kontaminationen (Mischformen, Kreuzungen, die räumliche Verbreitung durch politische,


Kompromissbildungen). Dabei handelt es sich wirtschaftliche, geographische und andere
weder um die Annahme noch um die Ableh- Faktoren erklärt werden, wobei vom Laut im
nung einer neuen, jüngeren Form, sondern Einzelwort ausgegangen wird und sogar die
um eine dritte Möglichkeit, die Mischung Gliederung der deutschen Mundarten nach
oder Kreuzung verschiedener Erscheinungen, Merkmalen der hochdeutschen Lautverschie-
wie Abb. 52.3: ,Rechen‘ im Hessischen bzw. bung, d. h. nach den auseinanderlaufenden
im Ostmitteldeutschen (vgl. die Mischform Trennungslinien von ik/ich, maken/machen
önk < ink ⫹ öch ,euch‘ im Westmitteldeut- etc. (vgl. Abb. 52.4) oder unter Einbeziehung
schen/Ruhrgebiet) veranschaulichen. der schriftlichen Überlieferung die Entste-
hung der neuhochdeutschen Diphthongie-
2.3. Erforschung der deutschen Mundarten rung dargestellt werden kann. Um die Jahr-
und Umgangssprachen und Entstehung hundertwende war aber schon, Wenkers und
und Entwicklung der Sprachgeographie Wredes Fragestellung weiterentwickelnd, die
Die moderne Sprachwissenschaft bedient sich direkte Methode der Mundartaufnahme
heute der Ergebnisse, die ihr in vielfältiger praktiziert worden, wobei Bohnenberger
Weise von der Mundart- und Umgangsspra- (1902, 161ff.) im schwäbischen Raum vor-
cheforschung geliefert werden. ausging. Um 1910 begann Wrede mit einem
Schülerkreis aus dem Rheinland (Ramisch
2.3.1. Der Deutsche Sprachatlas 1908, Frings 1913) die direkte Methode anzu-
Der Bayer Johann Andreas Schmeller ist der wenden, wie es auch bei anderen nationalen
Begründer der wissenschaftlichen Dialektfor- Sprachatlanten (z. B. dem französischen) ge-
schung in Deutschland. Mit seinem Werk schah. In Teilgebieten wurden die in direkter
„Die Mundarten Bayerns, grammatisch dar- Methode gewonnenen Ergebnisse mit denen
gestellt“ (1821) hat er die Mundarten syste- im Deutschen Sprachatlas gespeicherten ver-
matisch mit der Sprache des Altdeutschen glichen. Diese Untersuchungen erschienen als
verknüpft. Schon 1860 hatte August Schlei- Monographien in der Reihe „Deutsche Dia-
cher eine „mundartliche Geographie Deutsch- lektgeographie“ (seit 1908), wobei meist am
lands“ gefordert. Georg Wenker legte dann Anfang eine Ortsgrammatik, dann eine Flä-
1876 den Grundstein zum „Sprachatlas des chengrammatik steht.
Deutschen Reiches“ und damit zur Sprach-
geographie, unter der man die Wissenschaft 2.3.2. Der Deutsche Wortatlas
von der räumlichen Verbreitung sprachlicher Im Deutschen Sprachatlas ist die lautgeo-
Erscheinungen versteht, sei es von lautlichen graphische Fragestellung, im Französischen
oder flexivischen Besonderheiten, von Eigen- Sprachatlas dagegen die wortgeographische
heiten des Wortschatzes oder der Syntax, gewählt worden. Man wusste zu Wenkers
oder von Akzentunterschieden. Wenker ent- Zeit noch nicht, dass fast jedes Wort seine ei-
wickelte 1876 einen Fragebogen, der 40 mit gene Geschichte und Ausdehnung im Raum
339 Wörtern im ganzen deutschen Sprachge- hat. Der Fragebogen zum Deutschen Wort-
biet abzufragende Sätze mit den dialektolo- atlas beruht hauptsächlich auf Sachfragen
gisch wichtigen lautlichen und grammati- oder onomasiologischen Fragen, z. B. wie
schen Erscheinungen enthielt. Satz 1 lautet: wird der ,Handwerker, der die Möbel anfer-
„Im Winter fliegen die trockenen Blätter in tigt‘, bezeichnet? (Herkner 1914). Nach der
der Luft herum“. Der Fragebogen wurde mit- Karte ,Ross‘, ,Pferd‘, ,Gaul‘ hat das aus dem
tels indirekter Methode von den Lehrern aus- Germanischen stammende Ross (engl. horse),
gefüllt, von denen damals mehr als 50% in dessen allgemeine Bedeutung ,Pferd‘ nur
ihren Schulorten geboren und aufgewachsen noch in oberdeutschen Mundarten erhalten
waren. Das Material kam aus insgesamt ist, die beiden Konkurrenten Pferd und Gaul,
52 800 Schulorten zusammen. Von den dar- wobei Gaul beide Varianten verdrängt. Zahl-
aus gezeichneten Verbreitungskarten wurde reiche Ortsnamen und mittelalterliche Texte
eine aussagekräftige Auswahl von 128 Karten beweisen die weite Verbreitung des alten
als „Deutscher Sprachatlas“ (1926⫺1956) Wortes Ross innerhalb des heutigen Gebietes
veröffentlicht. Von 1887 bis 1911 hat Wrede von Gaul und Pferd; auch die in bäuerli-
mit Wenker, dann selbständig leitend, aus cher Sphäre vorherrschende Ableitung rossig
dem Marburger Sprachatlasunternehmen ei- ,brünstig‘ (einer Stute) beweist das ursprüng-
nes der bedeutendsten Forschungsinstitute lich größere Verbreitungsgebiet von Ross, vgl.
für deutsche Sprache entwickelt. Es konnte Protze 1969/70 I, 362f. mit Karte. Nach bis
52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten 511

Abb. 52.4: (nach Kleine Enzyklopädie Bd. I 1969/70, 218).

ins Jahr 1921 zurückreichenden Vorbereitun- Bänden. Der Zusammenhang zwischen Wort
gen wählte Mitzka 200 Begriffe aus, die und Sache konnte ebenso wie die Lehnwort-
Wortgrenzen erkennen ließen. Nachdem alle forschung berücksichtigt werden. Es entstan-
Schulorte im deutschen Sprachgebiet von den auch regionale Wortatlanten (Peßler
1938 von Marburg aus einen Fragebogen er- 1928, Schwarz 1954), gemischt mit Laut-
halten hatten, kamen aus 48 373 Orten Ant- lichem (Hucke 1961f.).
worten zurück. Bei der Bearbeitung des Ma-
terials sind über fünfzig wortgeographische 2.3.3. Mundartwörterbuch
Studien entstanden, die Fragen der Wortbil- Für alle Arten sprachwissenschaftlicher,
dung, Etymologie, Synonymik, der Benen- volkskundlicher und sogar für rechts-, sozial-
nungsmotive und Verbreitungsursachen etc. und siedlungsgeschichtliche Forschungen
behandeln. Sie sind zumeist in den Bänden sind landschaftsgebundene Mundartwörter-
„Deutsche Wortforschung in europäischen bücher wichtig. Sie finden wir heute in allen
Bezügen“ veröffentlicht worden, die Wort- Sprachlandschaften. Die Sprachkarte wurde
karten selbst zwischen 1951 und 1980 in 22 auch hier zum Darstellungsmittel, wie Luise
512 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

Berthold (1938, 101ff.) gefordert hatte. Wenn wie es zur Zeit der Idiotica, der großen Ein-
auch die alphabetisch geordneten Stichwörter Mann-Leistungen im 18. und 19. Jh. geschah,
in erster Linie der Semasiologie und der Ety- sondern den Gesamtwortschatz der betref-
mologie dienen, so wird verstärkt die onoma- fenden Mundart, leitet die Arbeit eine wissen-
siologische Betrachtungsweise einbezogen. schaftliche Institution wie Akademie oder
Die Frage, ob die Forschungsarbeit synchro- Universität.
nisch oder diachronisch angelegt werden soll,
wird unterschiedlich beantwortet. Die älteren 2.3.4. Wörterbücher und Atlanten zur
Wortschatzsammlungen für das Bairische, Umgangssprache
das Schweizerische Idiotikon und das Schwä- Das Wörterbuch der deutschen Umgangs-
bische vereinigen Synchronie und Diachro- sprache von Küpper (6 Bde. 1963ff.) gibt mit
nie; fast alle jüngeren Wörterbücher sind syn- 20 000 Wörtern und Redewendungen eine Be-
chron orientiert. Nur im Pfälzischen Wör- standsaufnahme des Sprachgebrauchs, wie er
terbuch und im Siebenbürgisch-Sächsischen auf unseren Straßen und in unseren Unter-
Wörterbuch sind auch die Namen und histo- haltungen üblich oder möglich ist. Dabei
rische Belege aufgenommen worden. Da kommen alle sozialen Schichten, Berufe und
heute die Mundartwörterbücher nicht nur die Landschaften zu Wort (vgl. 53.4.). Küpper
von der Hochsprache abweichenden Beson- hat mit Hilfe von Rundfunk und Fernsehen
derheiten des lokalen Wortschatzes sammeln, die Öffentlichkeit direkt befragt und quasi ein

Abb. 52.5: Nord-Süd-Gliederung in der Lexik deutscher Umgangssprachen (nach Karten von Eich-
hoff 1977, bearbeitet von Munske 1983, 1014).
52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten 513

„Dictionary of Slang“ geschaffen, das Derbes Schwäbisch-Alemannische, wobei das Nie-


und Drastisches enthält und mitunter in die deralemannische mit dem Elsässischen sowie
gehobene Sprache eindringt. Hervorzuheben das Ober- und Hochalemannische viele alte
ist Kretschmers „Wortgeographie der hoch- Erscheinungen bewahren, z. B. ı̂, û, iu nur im
deutschen Umgangssprache“ (Göttingen Schwäbischen diphthongiert worden sind,
1918, 2. Aufl. 1969), die durch 350 unter- und, da ein gewisser Rhythmus von Statik
schiedlich ausführliche Wortartikel die Lexik und Dynamik sprachlichen Lebens die mei-
der „im täglichen Leben gesprochenen Spra- sten Dialekträume über die Jahrhunderte
che gebildeter Kreise“ (27) nach Verbreitung, hinweg auszeichnet, rechnet man das Ale-
Verwendung und Geschichte festhält und mannische zu den passiven Sprachlandschaf-
heute „eine historische Dokumentation“ ten; und das Bairisch-Österreichische mit sei-
(Munske 1983, 1013) darstellt. Kretschmers nen alten Dualformen es ,ihr‘, enk ,euch‘ und
zwischen 1909 und 1915 aufgenommenes Ma- dem Wandel ei > oa (hoaß ,heiß‘) und das bis
terial umfasst in unterschiedlicher Dichte den nach Südthüringen und ins Vogtland rei-
gesamten deutschsprachigen Raum in 170 chende Ostfränkische, das z. B. das Merkmal
Orten und wertet lokale Quellen des 17. bis ā für au und ei (bām ,Baum‘, brāt ,breit‘) auf-
19. Jhs. aus. Er empfahl in der 1938 geplan- weist. Lexikalische Eigenheiten des Bairi-
ten 2. Aufl. (Nachdruck der 1. Aufl. von schen sind: Rauchfang ,Kamin‘, Kuchel ,Kü-
1969) eine „Neuaufnahme des Stoffes“ etwa che‘, Anze ,Gabeldeichsel‘, Walger ,Teigholz‘,
1960⫺70. Diese mit erweiterten Fragebögen Pfeit ,Hemd‘, tenk ,links‘ und die aus dem
ist von Eichhoff 1971⫺76 in 402 Städten des Griechischen über das Gotische gekomme-
deutschen Sprachgebietes und von Protze nen Wochentagsnamen Ergetag ,Dienstag‘,
1975⫺80 in 296 Städten der DDR, also im Pfinztag ,Donnerstag‘. Das Bairische wird zu
wesentlich dichteren Aufnahmenetz, durch- den aktiven Sprachlandschaften gerechnet,
geführt worden, so dass beide neue Wortat- weil in früher Zeit die Entwicklungen wr > r,
lanten der städtischen Umgangssprache einen hl > l, th > d und die althochdeutsche Laut-
guten Vergleich zu Kretschmer ermöglichen verschiebung (vgl. Abb. 52.4), in mittelhoch-
und damit sprachdynamische Veränderungen deutscher Zeit die Diphthongierung ı̂ > ei, û
mancher regionaler Varianten dokumentiert > au, iu > eu (vgl. Protze 1969/70 I, 214 mit
werden können. Dabei konnten nun auch Karte) und die Entwicklung hs > ks ,wach-
zahlreiche für die gesprochene Sprache cha- sen‘ ausgingen.
rakteristische Modalwörter und zum Teil
Kennwörter der Umgangssprache wie halt 3.2. Das Mitteldeutsche
(vgl. 4.2.3.) oder „satzschließende, Bestäti- Das Mitteldeutsche gliedert sich in Westmit-
gung heischende Partikel“ (Munske 1983, teldeutsch mit Mittelfränkisch (Ripuarisch,
1013) nich(t); wa, wahr; gelle dargestellt wer- Moselfränkisch) und Rheinfränkisch (mit
den. Abb. 52.5: Die von Munske (1983, 1014) Hessisch, Rheinpfälzisch) und Ostmittel-
nach Karten von Eichhoff entwickelte Nord- deutsch mit Thüringisch, Obersächsisch und
Süd-Gliederung in der Lexik deutscher Um- Lausitzisch. Durch die „binnenhochdeutsche
gangssprachen spiegelt die deutsche Dialekt- Konsonantenschwächung“ (Lessiak 1933, 11ff.),
landschaft mit Variationen, die „als sich nach nämlich der Aufhebung der Verschlusslaut-
einer deutlichen Grenze (16 Isoglossen) von oppositionen p : b, t : d, k : g zugunsten der
Hof bis Fulda die Isoglossen nach NW stimmlosen Lenes ist das Mitteldeutsche mit
[Nordwesten] durch das Ripuarische und großen Gebieten des Oberdeutschen verbun-
nach SW [Südwesten] durch das Pfälzische den. Niederdeutsche Merkmale finden sich
auffächern“. vor allem im Westmitteldeutschen unter Ein-
schluss des Nordthüringischen. Doch zeich-
net das Mitteldeutsche eine ganze Reihe von
3. Die regionale Gliederung des der deutsch-romanischen bis zur deutsch-sla-
Deutschen wischen Sprachgrenze horizontal verlaufende
Sprachmerkmale aus, wie z. B. die Gutturali-
3.1. Das Oberdeutsche sierung nd > ng, die Abb. 52.7 zeigt. Ebenso
Die traditionelle Gliederung des Deutschen gesamtmitteldeutsch ist die Senkung i > e, u
geht von den Merkmalen der zweiten oder > o, die noch als Hond ,Hund‘, Loft ,Luft‘ in
hochdeutschen Lautverschiebung aus (vgl. der Westlausitz (Protze 1957, 11f. Karte 2)
Abb. 52.6). Zum Oberdeutschen gehören das und als Fond ,Pfund‘ (v. Polenz 1954, 31,
514 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

Abb. 52.6: (nach Kleine Enzyklopädie Bd. I 1969/70, 406).

Karte 5, Abb. 7) im Altenburgischen vor- der Wasserscheide zwischen Werra und


kommt. Auch au für mittelhochdeutsch iu, Fulda. Die Abgrenzung des Thüringischen im
z. B. nau ,neu‘, auch, ūch ,euch‘, Fauer ,Feuer‘ Norden wie im Süden (auf dem Rennsteig) ist
und Nau- in Ortsnamen ist eine alte mittel- deutlicher als die im Osten gegen das Öber-
deutsche Erscheinung. Die Vokalisierung des sächsische, wo man u. a. auf den n-Abfall
intervokalischen -g-: sān, sōn, soin ,sagen‘, beim Infinitiv hinweisen kann (thüringisch -e/
Voit ,Vogt‘ ist ebenso vor allem mittel- obersächsisch -en: mache/machen). Im Nor-
deutsch, die teilweise in unsere Schriftsprache den des Obersächsischen liegt das Osterländi-
Eingang gefunden hat (,Getreide‘ < getre- sche, wo man g- statt k- (Gind ,Kind‘)
gede, ,Sense‘ < segense). Lautgeographisch spricht, im Süden das Erzgebirgische und im
interessant für das Gesamtmitteldeutsche ist Osten grenzt sich das Meißnische bzw. Ober-
die sog. Konsonantenerleichterung im Wort sächsische schärfer gegen das Westlausitzi-
,Markt‘: zu Gunsten von Mark im Südsaum sche ab. Der Oberlausitzer fällt beim Spre-
und Mart im Nordsaum (vgl. Protze 1961, chen durch sein gerolltes r und dunkles l
Karte 1). Der Grenzsaum zwischen Westmit- auf und kennt Dehnungen: šlı̄dn ,Schlitten‘.
teldeutsch und Ostmitteldeutsch verläuft mit Kennwort des Lausitzisch-Schlesischen ist ok
52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten 515

Abb. 52.7: (nach Kleine Enzyklopädie Bd. I 1960/70, 411).

Abb. 52.8: Adoptivform (nach Kleine Enzyklopädie Bd. I 1969/70, 405).


516 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

Abb. 52.9: (aus Protze: Wortatlas der städtischen Umgangssprache. 1997, Karte 60).

,nur‘. Im Obersächsischen, Lausitzischen und in der Gegend der Hagendörfer, die aus den
vereinzelt im Niederdeutschen ist selbst noch Rheinlanden besiedelt worden sind (v. Polenz
in der Stadtsprache das aus dem Slawischen 1954, 142), zeigen. Dort ist eine jūt jebrātne
stammende Wort Plin(e)(n) ,Eierkuchen‘ Jans eine jūte Jāve Jotes ,gut gebratene Gans‘
bekannt (vgl. Eichler 1965, 98f.; Protze 1997, eine ,gute Gabe Gottes‘. Im Osterländischen
Karte 56). Zum Niederdeutschen hinüber ist jedoch mit altem thüringischen j- für g- zu
weist die Lautentwicklung g > j, v. a. im rechnen (vgl. v. Polenz 1954, 140ff., Abb. 16).
Osten bis über Berlin hinaus (vgl. Abb. 52.8). Nach Wrede (1919, 12) und Lessiak (1933,
Niederrheinische Besiedlung hat an der wei- 132) entstand der Lautwandel j- > g- als
ten Verbreitung des g- zu j- mitgewirkt, wie ,Adoptivform‘ bei der Wiederherstellung des
das große j-Gebiet in von Niederländern mit mittelhochdeutschen g- als Verschlusslaut. Im
besiedelten Landstrichen der Mark Branden- heutigen Gebiet des Wandels j- > g- (vgl.
burg und die kleinen j-Gebiete an der Weser ,Jahrmarkt‘, ,jung‘ auf Abb. 52.8) ist einst j-
52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten 517

statt g- gesprochen worden und die mit altem gisch, Mecklenburgisch-Vorpommersch und
j- anlautenden Wörter sind in die Bewegung Mittelpommersch. Der Gesamtraum des Nie-
hineingerissen oder „adoptiert“ worden, so dersächsischen zeigt den Einheitsplural -et
dass man nun Garmert, gung sagte. Schon (1.⫺3. Pers.). Im Westfälischen wird sch als s-
1603 verspottete Rollenhagen die Kursachsen ch, teilweise als s-k, z. B. skinken ,Schinken‘
mit dem Satz: Vor drei Gahren war Gunker gesprochen. Im Ostfälischen fallen mir, mich
Gochen noch ein gunger Gunker. Adoptivfor- zu mik; dir, dich zu dik zusammen, während
men sind wie Kontaminationen und Relikte sonst im Niederdeutschen allgemein die
ein wertvolles Mittel für die Rekonstruktion Kurzformen des Einheitskasus (Dat., Akk.)
eines abgelaufenen sprachlichen Prozesses. mi, di gelten. Das im Südosten zwischen
Harz, Elbe und Ohre gelegene Elbostfälische
3.3. Das Niederdeutsche ist mitteldeutsches Vorbruchsgebiet, worauf
Das Niederdeutsche umfasst drei große Ostern, hinder, Swester gegenüber sonstigem
Mundarträume: Niederfränkisch, Nordnie- ostfälisch Paschen, achter, Süster oder auch
dersächsisch mit West- und Ostfälisch und die Ortsnamen auf -leben weisen (Bischoff
Ostniederdeutsch mit Märkisch-Brandenbur- 1954, 91ff.); aber auch brandenburgische Ein-

Abb. 52.10: (nach Kleine Enzyklopädie Bd. I 1960/70, 397).


518 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

flüsse sind vorhanden. Das Märkisch-Bran- Bach, Adolf (1950): Deutsche Mundartforschung.
denburgische hat viele auf niederländische 2. Aufl. Heidelberg 1969 (Germanische Bibl.
Besiedlung weisende Wörter (Fenn, ,Moor‘, 3. Reihe).
Päde ,Quecke‘, Else ,Erle‘). In jüngerer Zeit Bellmann, Günter (1971): Slavoteutonica. Lexi-
wirkt Berlin stark ins Ostniederdeutsche (vgl. kalische Untersuchungen zum slawisch-deutschen
Bulette Abb. 55.9) und in der Niederlausitz. Sprachkontakt im Ostmitteldeutschen. Berlin etc.
Das Mittelpommersche ist das keilförmige, (Studia Linguistica Germanica 4).
sprachlich nach dem Süden ausgerichtete Berthold, Luise (1938): Die Wortkarte im Dienste
Gebiet zwischen Oder und dem Mecklen- der Bedeutungslehre. In: Zs. f. Mundartforschg.
burgisch-Vorpommerschen. 14, 101ff.
An der Nordseeküste finden wir das zum Bichel, Ulf (1973): Problem und Begriff der Um-
Englischen hinüberweisende Nord- und West- gangssprache in der germanistischen Forschung. Tü-
friesische sowie das Ostfriesische (Saterländi- bingen (Hermaea 32).
sche), die vom Niederländischen und Nieder- Bischoff, Karl (1954): Elbostfälische Studien. Halle.
deutschen bedrängt werden. Abb. 55.10: ,zie- ⫺ (1958): Sprachliche Beziehungen zwischen nieder-
hen‘ veranschaulicht den jungen tēn-Vor- deutschem Altland und Neuland im Bereich der mitt-
bruch aus dem Süden, der das einst einheit- leren Elbe. Berlin (Sitzungsberichte der Sächsischen
liche niederdeutsche trecken-Gebiet ausein- Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-
anderreißt. Hist. Kl. 103/4).
Bohnenberger, Karl (1902): Von der Südostecke
des Schwäbischen. In: Zs. f. hochdt. Mundarten 3,
4. Das deutsche Deutsch als nationale 161⫺181.
Varietät Clyne, Michael (Hg.) (1992): Pluricentric Langua-
ges. Differing Norms in Different Nations. Berlin/
Mit der Verfestigung der Eigenstaatlichkeit New York.
Österreichs, verstärkt auch durch die deut- Debus, Friedhelm (1963): Stadtsprachliche Aus-
sche Wiedervereinigung, hat sich eine leb- strahlung und Sprachbewegung gegen Ende des
hafte Diskussion zum Status der nationalen 19. Jahrhunderts. In: Marburger Universitätsbund,
Varietäten entwickelt (vgl. die Art. 50 und 17⫺68.
51). Deutsch wird insbesondere aus der Sicht Deutscher Sprachatlas (DSA). Aufgrund des
der österreichischen Sprachwissenschaft als Sprachatlas des Deutschen Reiches von Georg
plurizentrische Sprache mit verschiedenen, Wenker. Begonnen von Ferdinand Wrede, fortge-
konkurrierenden und interagierenden natio- setzt von Walther Mitzka und Bernhard Martin.
nalen Normen verstanden (vgl. Muhr 1993; Marburg 1926⫺1956 mit 128 Karten.
Muhr/Schrodt 1997). Ammon (1995) hat in Deutscher Wortatlas (DWA). Von Walther Mitzka,
seiner vergleichenden Studie der nationalen ab Bd. 5 von W. M. und Ludwig Erich Schmitt. Bd.
Varietäten Deutschlands, Österreichs und der 1⫺20. Gießen 1951⫺1973; Bd. 21 und 22. Hg. von
Schweiz die Merkmale des Standarddeutsch Reiner Hildebrandt. 1978, 1980.
Deutschlands in Analogie zu Austriazismen Dingeldein, Heinrich J. (1990): Studien zur Wort-
(vgl. Art. 50) als Teutonismen bzw. Deutsch- geographie der städtischen Alltagssprache in Hes-
landismen charakterisiert und katalogisiert sen. Marburg.
(Ammon 1995, 330ff.). Auch wenn unklar ist, Eichhoff, Jürgen (1977 f.): Wortatlas der deutschen
ob sich Ammons Begrifflichkeit durchsetzen Umgangssprachen. 3 Bände. Bern etc.
wird, so haben doch die Arbeiten von Am- Eichler, Ernst (1965): Etymologisches Wörterbuch
mon, Clyne (1992), Polenz (1988, 1990) u. a. der slawischen Elemente im Ostmitteldeutschen.
bewirkt, dass sich eine „ausgewogenere Plu- Bautzen.
ralität“ entwickelt und die Erkenntnis durch- Foerste, William (1960): Einheit und Vielfalt der
setzt, „daß die Binnenkodizes Österreichs niederdeutschen Mundarten. Münster.
und der Schweiz durch den deutschen Sprach- Friebertshäuser, Hans; Heinrich J. Dingeldein
kodex nicht voll ersetzbar sind“ (Ammon (1988): Wortgeographie der städtischen Alltags-
1995, 367). sprache in Hessen. Tübingen.
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52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten 519

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53. Soziale Varianten und Normen

1. Relevanz des Themas für Deutsch als sprachesprecher als Modelle zur Verfügung
Fremdsprache stehen, in der Regel die Lehrer), da kommu-
2. Variation und Varietäten nikative Praktiken einer Fremdsprache in
3. Normen muttersprachlichen Kontexten erfolgen und
4. Soziale Varietäten des Deutschen
5. Ausblick
im Prinzip ähnliche Auswirkungen haben wie
6. Literatur in Auswahl im Zweitspracherwerb in zielsprachlicher
Umgebung. Die Gültigkeit dieses Input-Prin-
zips wird durch die Verschiedenartigkeit des
1. Relevanz des Themas für Deutsch Kontaktes und des Aufenthaltes in ziel-
als Fremdsprache sprachlichen Umgebungen nicht aufgehoben.
Die meist im Unterricht vermittelten stan-
Kinder erwerben die Sprache ihrer Umge- dardsprachlichen Regularitäten werden im
bung, indem sie sich mit ihrer unmittelbaren zeitlichen Verlauf kommunikativer Praktiken
lokalen und sozialen Umgebung identifizie- häufig regional und sozial an die jeweils gel-
ren. Erwachsene Lerner haben eine lokale tenden Normen angepasst. Dieser natürliche
und soziale Identität bereits erworben, wenn Vorgang hat jedoch nichts damit zu tun,
sie beginnen, das Deutsche als Zweitsprache wenn es darum geht, die vorliegenden Be-
zu erlernen. Ihr sprachlicher Input wird von schreibungen zur Anpassung von Zweit-
der Region, in der sie sich aufhalten, und den spracherwerbern an ihre regionale und so-
sozialen Varietäten der Sprecher, mit denen ziale Umgebung in Form der für das Deut-
sie interagieren, stark beeinflusst. Untersu- sche geltenden sozialen Varianten und Nor-
chungen zum Zweitspracherwerb konvergie- men bei der Vermittlung im Deutsch als
ren darin, dass Zweitspracherwerber grosso Fremdsprache-Unterricht zu berücksichti-
modo Akzent, grammatische Regularitäten, gen. Einschlägige didaktische Untersuchungen
pragmatische Muster und personale Stile ih- kommen zu dem Schluss, dass Lerner sich an
rer lokalen und sozialen Umgebung überneh- standardsprachlichen Regeln orientieren soll-
men (vgl. Klein/Dittmar 1979; Klein 1984). ten, da ihrer Kompetenz nicht entsprechende
Cuius habitus, eius lingua gilt aber auch für Sprachgebrauchsweisen (expressive Informa-
Fremdsprachenlerner (Erwerb der Ziel- lität, ausgeprägter Gebrauch von Schimpf-
sprache in Kontexten, in denen wenige Ziel- wörtern, gruppenspezifische Ausdrücke etc.)
53. Soziale Varianten und Normen 521

als unangemessen missverstanden werden in Abhängigkeit von ihren sozialen Verwen-


können. Die Kenntnis sozialer Varianten und dungsbedingungen (vgl. Berruto 1987) kön-
Normen des Deutschen zielt daher auf sozio- nen zu Varietäten gebündelt werden. Varietä-
kognitives Wissen ab: ten sind demnach zu beschreiben als funktio-
nal voneinander geschiedene, konstitutive
1. Was unterscheidet standardsprachennahe Subsysteme des Gesamtsystems einer Spra-
umgangssprachliche Ausdrücke und Ei- che. Sie sind theoretisch-idealisierte Kon-
genschaften von nonstandard- und sub- strukte, die inventarisieren, welche Realisie-
standardspezifischen Verwendungsweisen? rungen von Sprache in Abhängigkeit von der
2. Welche (gruppenspezifischen) Varietäten Sprachgebrauchssituation systematisch zu er-
sollten bekannt sein, um den Lerner in der warten und als solche auf allen Ebenen des
Umgebung alltäglicher Interaktionen zu Sprachsystems beschreibbar sind (Phonolo-
einem akzeptablen Kommunikator zu ma- gie, Grammatik, Lexik). Die klassifizierenden
chen? extralinguistischen Parameter werden seit
3. Welche sozialen Sprachgebrauchsregeln Nabrings (1981) mit Bezug auf Coseriu (1952/
sollten Lernende kennen, um Missver- 1975) als diatopische (⫽ räumliche), dia-
ständnisse zu vermeiden oder aber diese stratische (⫽ schichtenspezifische), diachrone
Regeln in bestimmten Schlüsselsituationen (⫽ zeitliche) und diaphasische (⫽ situative)
mit Erfolg anzuwenden? Dimension der Variation bezeichnet (vgl.
Unsere folgenden Ausführungen befassen auch Dittmar 1997, Kapitel 4).
sich mit der gesprochenen Sprache. Eine Die Abgrenzung der Varietäten voneinan-
Übersicht über Eigenschaften der geschriebe- der ist nicht unproblematisch. Auf der hori-
nen Sprache findet sich in den Artikeln 13 zontalen (geographischen) Ebene stellt sich
und 25 dieses Handbuches. Beispielhaft wer- das Varietätenspektrum dar als ein Konti-
den in diesem Artikel ,soziale Varianten und nuum mit Kern- und Übergangszonen (vgl.
Normen‘ der Bundesrepublik Deutschland Art. 52). Die Kernzonen sind durch ein „ge-
berücksichtigt, da das Deutsche in Österreich wisses Maß an Homogenität und Stabilität“
und der Schweiz in den Artikeln 50 und 51 (Berruto 1987) charakterisiert, das erst die
behandelt wird; gleichwohl lässt sich vieles, Zusammenfassung zu einer je „einheitlichen“
was in diesem Artikel gesagt wird, auch auf Varietät erlaubt. Sie werden als Standardva-
Verhältnisse in der Schweiz und Österreich rietät, Umgangssprache(n) und Dialekt(e) be-
übertragen (vgl. auch Ammon 1995). zeichnet, wobei Standardvarietät und Dia-
Während Dialekte Auskunft über Sprecher lekte die Extrempunkte des Kontinuums
geben (habituelle Sprechweise), bedingt markieren. Der Terminus Standardvarietät
durch die sozioregionale Herkunft und als (älter auch: Hochsprache, Literatursprache,
Ausdruck sozial struktureller Verschiedenheit Schriftsprache, Gemeinsprache, Einheits-
(vgl. Artikel 52), geben soziale Sprachver- sprache) ist gegenüber dem koexistierenden
wendungsweisen Auskunft über soziale Pro- Terminus Standardsprache zu bevorzugen, da
zesse des Sprachgebrauchs (z. B. Arbeitstei- er im Unterschied zu letzterem die Einbet-
lung) und Sprachgebrauchsregeln auf der Fo- tung dieser Varietät in das Varietätengefüge
lie sozialer Merkmale und Kontexte (vgl. Dit- einer Sprache signalisiert. Für die Übergangs-
mar 1997, Kapitel 5). Im Folgenden soll zu- zonen haben Barbour/Stevenson (1990) die
nächst der Begriff der Norm erläutert werden, Termini ,standardnahe‘ vs. ,standardferne‘,
da sich mit diesem Begriff Korrektheitsbedin- ,dialektferne‘ vs. ,dialektnahe‘ Umgangsspra-
gungen von Äußerungen verbinden. Der che vorgeschlagen. Holtus/Radtke (1986⫺
Normbegriff soll dann für die Beschreibung 1990) folgend, wird das Kontinuum von lo-
sozialer Varietäten des Deutschen fruchtbar kalen über regionale Dialekte bis hin zum
Standard für die meisten europäischen Spra-
gemacht werden.
chen als ,Substandard‘ bezeichnet.
Unter einer Standardvarietät wird das Sub-
2. Variation und Varietäten system einer Sprache verstanden, dessen Nor-
men den höchsten Verbindlichkeitsgrad für
Jede natürliche, historisch gewachsene Einzel- alle Angehörigen einer politisch definierten
sprache wird in Abhängigkeit davon, wer sie in Kommunikationsgemeinschaft besitzen, da
welcher Situation, wann und wo verwendet, sie in Regelwerken kodifiziert und deshalb
unterschiedlich realisiert, d. h. sie variiert. präskriptiv sind. Sie wird geschrieben, besitzt
Diese spezifischen Variationen einer Sprache überregionale Reichweite und Gültigkeit, wird
522 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

vorzugsweise in institutionellen Kontexten zur Abgrenzung nach außen (oft also sehr be-
und offiziellen Kommunikationssituationen wusst) eine spezielle Varietät bzw. einen be-
benutzt und erscheint in der Alltagssprache stimmten Stil entwickeln (häufig als ,Sonder-
niemals in ihrer idealtypisch kodifizierten sprache‘ bezeichnet: Standes-, Berufs-, Fach-
Norm (vgl. Bartsch 1987; Ammon 1995). und Gruppensprachen; bekannte Beispiele
Die Abgrenzung des Terminus ,Umgangs- für Gruppensprachen: Argot, Jugendspra-
sprache‘ (Regiolekt) ist am schwierigsten, da chen).
die unter diesen Begriff fallenden Varietäten Auch Soziolekte können auf allen Ebenen
einerseits historisch als großräumigere Aus- des Sprachsystems unter Bezugnahme auf die
gleichssprachen zwischen verschiedenen Dia- Standardvarietät beschrieben werden, wobei
lekten und andererseits im Austausch mit der der Status des jeweiligen Soziolekts in der zeit-
Standardvarietät entstanden sind. Umgangs- genössischen soziolinguistischen Forschung
sprachen verfügen über ihr spezifisches Nor- vorrangig über eine spezifische Lexik charak-
mensystem, das teilweise zwar beschrieben, terisiert wird.
aber nicht kodifiziert ist. Umgangssprachen
existieren vorrangig mündlich, besitzen einen
größeren regionalen Gültigkeitsbereich als 3. Normen
die kleinräumigen Dialekte und werden in
3.1. Sprachnormen im Spiegel der
alltagssprachlichen Situationen verwendet. In
linguistischen Forschung
ihren standardnahen Varianten dringen sie
zunehmend in bisher der Standardvarietät Der Terminus ,Norm‘ geht zurück auf lat.
vorbehaltene Domänen vor. Stadtsprachen norma ,Winkelmaß, Richtschnur, Regel‘. In
(,Urbanolekte‘) können als Spezialfälle von den Geistes- und Sozialwissenschaften wird
Umgangssprachen betrachtet werden (vgl. er zur Beschreibung von Grundlagen und
Kallmeyer 1994/1995 und Dittmar 1997, Kapi- Voraussetzungen, von leitenden Grundsätzen
tel 4 und 5). und Mustern menschlichen Handelns ge-
,Soziolekte‘ als Inventarisierungen von so- nutzt, die auf Vereinbarungen (Konventio-
zialen Varianten werden auf der vertikalen nen) beruhen und deren Befolgung zu empi-
Gliederungsebene eines Sprachsystems unter- risch feststellbaren Regelmäßigkeiten im So-
schieden. Das Gliederungsprinzip folgt der zialverhalten der Menschen führt. Normen
sozialen, der diastratischen Dimension der können als Orientierungshilfen betrachtet
Variation. Man muss sich jedoch immer ver- werden, nach denen der Mensch sein Verhal-
gegenwärtigen, dass es sich bei der gesonder- ten ausrichtet. In diesem Sinne sind sie prä-
ten Betrachtung des diastratischen Kriteri- skriptiv. Ihre Nichtbefolgung zieht Sanktio-
ums als klassifikationsstiftend um eine me- nen nach sich, d. h. ihre Befolgung ist durch
thodische Abstraktion handelt, da es letztlich sozialen Zwang gesichert und wirkt normsta-
immer die Komplexität der extralinguisti- bilisierend. Jedoch ist explizite Formuliertheit
schen Dimension der Variation ist, die zur keine notwendige Bedingung ihrer Existenz,
Konstituierung einer Varietät führt (vgl. da sie zum Teil auch als unter Umständen un-
hierzu 4.4. und 4.5.). bewusstes Normwissen tradiert und weiterge-
Als prototypischer diastratischer Faktor geben werden. Sie existieren genau dann,
der Variation gelten soziale Schichten. wenn sie von den Mitgliedern einer sozialen
,Schicht‘ ist eine von Gruppen und Indivi- Gemeinschaft als handlungsleitend akzep-
duen abstrahierende soziale Größe, die dar- tiert werden.
auf zielt, dass sich in Abhängigkeit vom Das Kriterium für die Bewertung von Nor-
Sozialstatus (unbewusst) spezifische soziale men ist das der Angemessenheit oder Adä-
Normvorstellungen, Verhaltensweisen und quatheit.
Einstellungen entwickeln, zu denen auch das Da das Sprachverhalten des Menschen in-
Sprachverhalten betreffende Determinanten tegraler Bestandteil seines Sozialverhaltens
gehören. So kommt es zur Ausbildung von ist, können Sprachnormen als Teilbereich der
schichtenspezifischen Varietäten im engeren Sozialnormen betrachtet werden, die das
Sinne, z. B. von Oberschicht- oder Unter- menschliche Zusammenleben regeln.
schichtvarietäten. In der Linguistik werden im Wesentlichen
Nach Berufs-, Tätigkeits- oder Status- zwei Normkonzepte vertreten. Die eine Be-
merkmalen, nach Alter und Geschlecht wer- trachtungsweise geht aus der primär innerlin-
den andere soziale Gruppen zusammenge- guistischen Perspektive an das Phänomen
fasst, die zur inneren Kohäsionsstiftung und heran und fragt unter funktional-systemhaf-
53. Soziale Varianten und Normen 523

ten Aspekten danach, was grammatisch kor- das von Saussure (1916) mit den Termini
rekt und semantisch interpretierbar ist. Ihr ,langue‘ und ,parole‘ klassisch fixiert wurde.
Normbegriff ist die ,Regel‘. Der so genannte Eine neue Perspektive formuliert Coseriu
koexistierende Ansatz (verschiedene Normen (1952/1975), der den Saussureschen Ansatz
existieren gleichzeitig nebeneinander) geht auf seine normtheoretischen Konsequenzen
von einem weiter gefassten Begriff der Norm hin befragt. Er kritisiert die Saussuresche
aus und bezieht die sozialen Kontexte sprach- Antinomie zwischen langue und parole: Es
lichen Handelns in die Argumentation mit handele sich bei diesen Modellen eher um
ein. Der zu Grunde liegende Normbegriff ist zwei verschiedene Standpunkte, für die un-
im Sinne von ,Kommunikationsnormen‘ so- terschiedliche Abstraktionsgrade wesentlich
ziolinguistisch geprägt. seien. Ausgehend von der parole, von der
Linguistische Normen als Ausdruck von Sprechtätigkeit, setzt Coseriu eine erste Ab-
Sprachregeln existieren für alle Varietäten. straktionsstufe an, die das umfasst, was Wie-
Über die verbindlichsten, weil kodifizierten derholung früheren Sprechens ist. Diese Ab-
Normen verfügt die Standardvarietät. Ver- straktionsstufe nennt er ,Norm‘, bestehend
stöße gegen das Prinzip der Korrektheit bzw. aus individuellen, sprachlichen Varianten und
der sprachlichen Richtigkeit werden auf der einer sozialen, sprachsystemnahen Ausprä-
grammatisch-semantischen Ebene deshalb gung. Das Sprachsystem entsteht auf der
am strengsten sanktioniert. zweiten Formalisierungsstufe und umfasst
Eine analoge Hierarchisierung von Verstö- nur das für das System funktional Relevante.
ßen gegen Kommunikationsnormen ist auf Umgekehrt kann der Weg vom System zum
Grund des Adäquatheitskriteriums zur Beur- Sprechen als zunehmende (normgerechte)
teilung sprachlichen Verhaltens nicht sinn- Realisierung bzw. Konkretisierung beschrie-
voll. Von Sanktionen gegen Normverstöße zu ben werden. Damit hat Coseriu das dynami-
unterscheiden sind objektive Folgen der Be- sche Verhältnis zwischen System und Norm
folgung oder Nicht-Befolgung von Normen auf eine theoretische Grundlage gestellt: Das
(Gloy 1987), die vorrangig in der Beurteilung Sprachsystem ist sowohl weiter als auch en-
ger als die Norm. In der Soziolinguistik wer-
der sozialen und intellektuellen Kompetenz
den unter Normen Bewusstseinsinhalte, also
der Sprecher/Schreiber zum Ausdruck kom-
Abstraktionen, verstanden, die auf Erwar-
men.
tungshaltungen hinsichtlich situationsadä-
Die funktional-systemhafte Argumenta-
quaten Sprachverhaltens bezogen sind. Sie
tion arbeitet mit den Termini ,Sprachsystem‘,
entstehen durch kommunikative Erfahrun-
,Norm‘ und ,Sprachgebrauch‘ (oder ,Verwen-
gen, die bewertet werden (erfolgreich vs.
dung‘, ,Rede‘), mittels derer sie erklärt, wie nicht erfolgreich) und so Leitbildcharakter für
Regelmäßigkeiten in der Auswahl aus zu- künftiges Sprachverhalten erhalten. Einbezo-
nächst systematisch mehr oder weniger gen wird die Komplexität aller situativen und
gleichwertigen Varianten entstehen und zu sprachlichen Determinanten, die in der Kom-
Normen, d. h. verbindlichen Vorschriften, munikation eine Rolle spielen. Der soziale
werden können. Diese Betrachtungsweise ab- Charakter der Normen besteht darin, dass ihre
strahiert weitgehend von den Produktions- Befolgung einerseits von anderen gefordert
und Rezeptionsbedingungen sprachlicher Äu- wird und andererseits den Bestand einer sozia-
ßerungen und konzentriert sich vorrangig auf len Ordnung garantieren soll (Gloy 1987) bzw.
die Beschreibung der Normen der Standard- in der Bewertung ihrer Befolgung oder Nicht-
varietät, die Mechanismen ihrer Herausbil- befolgung (Hartung 1977). Außerdem besit-
dung und Veränderung im Spannungsfeld zen sie einen sozialen Geltungsbereich: Es exi-
zwischen Deskription und Präskription, zwi- stieren unterschiedliche gruppenspezifische
schen Sprachsystem und -verwendung. Normen bzw. Normvorstellungen in einer
Den ersten theoretischen Zugang entwi- Sprachgemeinschaft.
ckelte Paul (1880), der die Normentwicklung Einen einflussreichen Ansatz zur Beschrei-
der ,Gemeinsprache‘ (,Standardvarietät‘) über bung soziolinguistischer Normen hat Har-
statistische Durchschnittsbildungen aus der tung (1977, 1987) vorgelegt, dessen Argumen-
,individuellen Sprechtätigkeit‘ (Sprachge- tation eine Vermittlung zwischen einer im
brauch) heraus erklärte. Dieser Ansatz ver- strengeren Sinne linguistischen und einer im
weist bereits auf das Verhältnis zwischen dem weiteren Sinne soziolinguistischen Definition
System einer Einzelsprache und der Verwen- von Sprachnormen ermöglicht. Er betrachtet
dung dieses Systems in der Kommunikation, Normen als geronnene, bewertete kommuni-
524 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

kative Erfahrungen, die als Abstraktionen im Normen fokussiert und konzipiert. Welche
Bewusstsein der Sprecher/Hörer existieren normativen Praktiken in einer Kommunika-
und deren Befolgung die Produktion bzw. tionsgemeinschaft ausgeübt werden, soll auf
Rezeption normgemäßer sprachlicher Äuße- der Folie von Korrektheitsbegriffen empirisch
rungen ermöglicht. Diese individuellen Er- rekonstruiert werden. Bartsch unterscheidet
fahrungen der Sprecher/Hörer in der Kom- 1. die Korrektheit sprachlicher Mittel und 2.
munikation und die Verinnerlichung dieser die Korrektheit des Sprachgebrauchs. Zur
Erfahrungen als Normwissen sind eine Funk- Korrektheit sprachlicher Mittel (1) gehören
tion ihrer sozialen Zugehörigkeit. Das die lautlichen Normen als Resultat eines Arti-
Sprach(norm)wissen des Individuums er- kulationsvorganges (vgl. die Untersuchung
streckt sich grosso modo auf zwei Teilberei- von König 1989 unter 4.2.4.), die Normen der
che, den der im engeren Sinne linguistischen, syntaktischen Korrektheit (wichtigstes Krite-
der grammatisch-semantischen Normen, und rium: Verständlichkeit; im Übrigen wird un-
den der im weiteren Sinne pragmatisch-kom- terschieden: inkorrekt bezüglich der Schrift-
munikativen Normen, der Normen also, die und Umgangssprache, akzeptabel in der
sich direkt auf den sozialen Kontext und die Kommunikation mit Fremden und in be-
jeweilige Kommunikationssituation beziehen stimmten Situationen) und lexikalische Kor-
(z. B.: Wann ist eine Kommunikation über- rektheit (hier geht es um eine ,Ortholexik‘, die
haupt angebracht? Wer darf sie eröffnen? in Listen im Sinne eines ,kollektiven Ge-
Welche Varietät ist auszuwählen?). dächtnisses‘ gespeicherten Wörter eines Lexi-
Eine soziolinguistische Explikation des kons, sowie um die Gliederung nach Teil-
Normbegriffs hat Gloy (1987, 120ff.) vorge- wortschätzen, die die sprachliche Arbeitstei-
schlagen; unter Norm versteht er einen moda- lung der Sprecher einer Sprachgemeinschaft
len Sachverhalt: „Ein bestimmter (Hand- widerspiegeln).
lungs-, Wert-, Denk- …) Inhalt und die Form Die Korrektheit des Sprachgebrauchs (2)
seiner Äußerung sind nach dem Willen einer bezieht sich im Wesentlichen auf die semanti-
Instanz A für einen Personenkreis B unter sche und pragmatische Koheränz von Texten,
den Situationsbedingungen C in Bezug auf ei- die in ihrer (a) Qualität, (b) Quantität, (c) Re-
nen Zweck D mit der Begründung E erlaubt, levanz und (d) spezifischen Diskursmodalität
ge- oder verboten.“ (Gloy 1987, 121). Gloy besteht.
kommentiert seine Begriffsbestimmung fol- Die von Bartsch 1987 mit linguistischer
gendermaßen: Präzision vorgenommenen Explikationen
„Unter die so definierten sozialen Normen fallen als dieser Korrektheitsbegriffe dürften für eine
Teilmenge die Sprachnormen; sie und nicht die lin- Diagnose sozialer Varianten und Normen im
guistischen Regeln sollten Gegenstand soziolingui- Deutsch als Fremdsprache-Unterricht sehr
stischer Forschung und Theoriebildung sein. nützlich sein.
Sprachnormen in diesem Sinne sind also Erwartun-
gen und/oder explizite Setzungen modaler Sachver-
halte, die ihrem Inhalt zufolge die Bildung, Ver- 4. Soziale Varietäten des Deutschen
wendungsabsicht, Anwendung und Evaluation
sprachlicher Einheiten der verschiedensten Kom- Die Beschreibung der sozialen Dimension des
plexitäten regulieren (sollen). Diese Bestimmung Sprachgebrauchs antwortet auf die grundle-
geht über den Normbegriff Coserius hinaus, der in- gende Frage: Mit welchen Formen und in
nerhalb der strukturellen Sprachwissenschaften
welchen Funktionen schlagen sich soziale Pa-
noch am deutlichsten eine soziale Interpretation
versucht.“ (Gloy 1987, 121). rameter wie Alter, Geschlecht, Schicht, Situa-
tion (u. a.) im Sprachgebrauch von Sprechern
Im Unterschied zu den vorgenannten Auto- systematisch nieder? Umgekehrt kann gefragt
ren, die Sprachnormen zu definieren versu- werden: Welche sprachlichen Eigenschaften
chen, unternimmt Bartsch (1987) eine empi- sind es, die Varietäten als ,schichtspezifisch‘,
risch geleitete soziolinguistische Rekonstruk- ,geschlechtsspezifisch‘, ,jugendspezifisch‘, ,si-
tion des Normbegriffs. Sprachnormen ver- tuationsspezifisch‘ … sozial markieren? Die
steht sie als die soziale Realität sprachlicher soziolinguistische Forschung untersucht in
Korrektheitsbegriffe, die über die Wahr- Beantwortung solcher Fragen die Sprachver-
nehmung fremden vorbildlichen Sprachge- wendung auf allen linguistischen Ebenen der
brauchs aufgebaut werden, aus dem der Spre- Beschreibung.
cher durch Abstraktion der relevanten Merk- Die ,soziale‘ Dimension der Variation hat
male die Inhalte der jeweiligen sprachlichen man auch vertikale genannt. Soziale Schich-
53. Soziale Varianten und Normen 525

ten, wie auch immer im Einzelnen definiert, 4.1. Der normative Bezugsrahmen: Die
gelten als prototypischer diastratischer Fak- Standardvarietät
tor der Variation. Die unter ,diastratisch‘ zu Standardsprache oder Standardvarietät ist
explizierenden Varietäten sind relationale Be- die Bezeichnung für eine kodifizierte Spra-
griffe zu ,Standardvarietät‘. In der Regel be- che, die ihre Verbindlichkeit als offizielle Na-
findet sich eine diastratische Varietät auch in tionalsprache eines Staates erhält und in der
Relation zu einem lokalen/regionalen Dialekt Regel prestigebesetzt ist. Es handelt sich um
⫺ zumindest trifft dies auf Gruppen- und die deskriptive Bezeichnung für die historisch
Sondersprachen zu. Berücksichtigt man wei- legitimierte, überregionale, mündliche und
ter die Tatsache, dass Gruppenvarietäten schriftliche Sprachform der sozialen Mittel-
(z. B. Vereins-, Fach- und Berufsvarietäten) bzw. Oberschicht (in diesem Sinne synonyme
nur in bestimmten Situationen benutzt wer- Verwendung mit der ⫺ wertenden ⫺ Bezeich-
den und schichtenspezifische Varietäten nach nung „Hochsprache“). Entsprechend ihrer
dem Formalitätsgrad der Situation ausge- Funktion als öffentliches Verständigungsmit-
prägt sind (vgl. hierzu die Untersuchungen tel unterliegt sie (besonders in den Bereichen
von Labov), so wird deutlich, dass diaphasi- Grammatik, Aussprache und Rechtschrei-
sche Faktoren mit diastratischen einherge- bung) weitgehender Normierung, die über öf-
hen. Nabrings (1981, 89) ist daher zuzustim- fentliche Medien und Institutionen, vor allem
men, wenn sie unterstreicht, „daß die Tren- aber durch das Bildungssystem sichergestellt
wird. Die Beherrschung des Standards gilt als
nung der verschiedenen Dimensionen nur
Ziel aller sprachdidaktischen Bemühungen.
heuristischen Wert hat und eine reinliche
Für die bundesrepublikanische, schweizer-
Scheidung verschiedener Dimensionen und deutsche und österreichische Variante der
sprachlicher Varietäten recht problematisch plurizentrischen deutschen Sprache hat Am-
ist“. mon (1995) verbindliche orthophonetische,
Die zentrale Größe der diastratischen Di- orthophonemische, ortholexikalische, ortho-
mension ist die Gruppe. Mit Hilfe natürlicher syntaktische und orthopragmatische Bedin-
Merkmale kann sie in geschlechts- oder gungen formuliert (vgl. die Artikel 50 und
altersspezifische differenziert werden, mit Hil- 51).
fe von Operationalisierungen soziologischer
Konstrukte lassen sich Schicht- oder Status- 4.2. Substandard
gruppen unterscheiden. ,Geborenes Merkmal‘ Unter Substandard (vgl. auch Holtus/Radtke
der diastratischen Dimension ⫺ und insofern 1986⫺89) verstehen wir das standardnah ge-
der Begriffsbestimmung inhärent ⫺ ist unseres sprochene Deutsch, das einer Reihe von Kor-
Erachtens der ,Wertekonflikt‘. Das Typische rektheitsbedingungen des schriftlichen Stan-
an diastratischen Varietäten ist ihre Symptom- dards nicht genügt, überregionale Eigen-
funktion auf der vertikalen Skala: Werte mit schaften/Merkmale aufweist (mehr oder we-
dem Extremen gut vs. schlecht, prestigebesetzt niger der Durchschnitt der Großstadträume),
in halböffentlichen und öffentlichen Situatio-
vs. stigmatisiert etc. Mithilfe des geborenen
nen gesprochen wird, und zwar von Spre-
Merkmals ,Wertekonflikt‘ lassen sich ge-
chern, wie sie von König (1989) in seinem
schlechts-, alters- und schichtspezifische Va- „Atlas zur Aussprache des Schriftdeutschen
rietäten als potentiell in einem gewissen Werte- in der Bundesrepublik Deutschland“ doku-
konflikt zueinander stehende Varietäten auf- mentiert wurden. Zunächst wollen wir einige
fassen. In der Tat lässt sich dies durch empi- Merkmale nennen, die als prototypische
risch nachgewiesene Polaritäten erhärten: Merkmale des überregionalen, gesprochenen
Jugend- bzw. Unterschichtvarietäten werden Substandards angesehen werden können:
⫺ verglichen mit der älteren Generation oder
1. Morphosyntax
mit der Oberschicht ⫺ oft mit negativen Vor-
urteilen verbunden. Die in Untersuchungen In Hartmann (1990, 52) wird z. B. die Ver-
schmelzung als typisches Phänomen der Um-
zum geschlechtsspezifischen Sprachverhalten
gangssprache betrachtet:
ermittelten Unterschiede werden als ,Werte-
konflikte‘ formuliert. Diastratische Varietäten im Garten vs. in dem Garten;
sind somit der sprachliche Niederschlag mani- er hat-se vagessen (er hat sie vergessen)
fester sozialer Ordnung und der aus ihr resul- Spezifische Verteilungen von Verschmelzungs-
tierenden auffälligen Wertekonflikte (Un- typen können nach sozialer Markiertheit klas-
gleichheiten). sifiziert werden (vgl. Hartmann 1990).
526 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

Weitere Merkmale sind hängig von der Nominalphase; die entspre-


chende Standardäußerung wäre: Der Sohn
• weil mit Verbzweitstellung (vgl. ausführ- von X hat dann geheiratet. Die Ausdrücke
lich hierzu Wegener 1993 und Dittmar sind oft bereits mit negativen sozialen
1997, 287ff.) in z. B. einkaufen geh ick doch Konnotationen verbunden.
lieber im westteil weil PAUSE da is ürgent-
wie mehr vakaufskultur (Berlin-Korpus 2. Lexik
9. November 1989); Die umgangssprachliche Lexik wurde im
• Ausgliederung: z. B. können einem Satz „Atlas der deutschen Umgangssprache“ von
Partikeln wie indessen, freilich, immerhin, Eichhoff (1978) festgehalten. Die dort ange-
nur, echt, also vorangestellt werden; die gebene areale Verteilung trifft heute nur noch
ausgegliederten Partikeln sind dann mo- teilweise zu. Hentschel (1986) und Dittmar
dale Operatoren, die über dem Satz operie- (1997, 295ff.) belegen z. B., dass die nur für
ren (auch Operator-Skopus-Strukturen ge- den süddeutschen Raum empirisch ausgewie-
nannt). sene Modalpartikel halt inzwischen neben
• Extrapositionen: In der Äußerung der eben im norddeutschen Raum weiträumig
Tisch, den laß mal dort drüben stehen ist und systematisch verwendet wird. Allerdings
das Thema links herausgestellt, mit Hilfe werden in Dittmar (1997) auch erhebliche
der flektierten Proform wird an das Thema Sprachgebrauchsunterschiede zwischen den
anaphorisch angeknüpft. Die Linksher- ,alten‘ und den ,neuen‘ Ländern (Gebiet der
ausstellung ist auch ein Mittel der Fokus- ,alten‘ Bundesrepublik Deutschland vs. ehe-
sierung. Mit der Rechtsherausstellung wie malige DDR) festgestellt.
z. B. in er hat wieder einmal kein Glück ge-
habt, der Peter wird Peter rhematisch her- 3. Aussprache/Phonetik
vorgehoben. • Das empirisch fundierteste Werk ist derzeit
• Ausrahmung: Hierunter versteht man den Königs „Atlas zur Aussprache des Schrift-
meist pragmatisch bedingten Nachtrag/ deutschen in der Bundesrepublik Deutsch-
Kommentar im Anschluss an den rah- land“ (1989), dessen Autor das Ziel ver-
menschließenden infiniten Verbteil: sie ist folgt, „großlandschaftliche Unterschiede
dann wieder nach Hause zurückgekehrt, in der Aussprache des Schriftdeutschen zu
nach vielen Umwegen und mit der Bahn erkunden und darzustellen. Das betrifft
statt mit dem Auto. vor allem die Phonetik des Deutschen.“
• Verbspitzenstellung: Nach Auer (1993) in (König, 8). Aus der „alten“ BRD vor 1989
der überregional gesprochenen Sprache wurden 44 Aufnahmen ins Korpus aufge-
häufig anzutreffen; in der mündlichen nommen (Österreich und die Schweiz feh-
Rede fallen häufig die Expletivpronomina len). Im Wesentlichen wurden Städte be-
es/das weg; also kann das finite Verb (an rücksichtigt. Die Stichprobe entspricht
Stelle von anaphorischem/deiktischem Per- dem gehobenen sozialen Mittelstand (Vor-
sonalpronomen oder satzanaphorischem aussetzung: Abitur) im Alter zwischen 30
das) die Äußerung direkt einleiten. Proto- und 40 Jahren.
typisch werden mit finitem Verb in Spit- Folgende Kontextstile wurden erhoben:
zenstellung Äußerungen eines bestimmten (a) Spontane Sprechweise,
Handlungscharakters eingeleitet: Modali- (b) Vorlesesprache eines zusammenhängen-
sierende Bezugnahmen, Bewertungen und den Textes,
andere Kommentierungen, Elaborierun- (c) Vorlesesprache Wortliste,
gen, konversationelle Antworten und Dar- (d) Vorlesesprache Minimalpaare,
stellungen von Handlungsschritten in Er- (e) Vorlesesprache Einzellaute.
zählungen.
• Nonstandardmuster mit mehr oder weniger Die von König zusammengestellten Über-
überregionaler Reichweite (vgl. Henn- sichten über Konsonanten- und Vokalver-
Memmesheimer 1989): Es gibt Beispiele, in wendungen in der damaligen alten Bundesre-
denen das flektierte Pronomen oder die publik Deutschland stellen die erste empi-
flektierte Pronominalphase (ihm, ihr …) risch ermittelte überregionale Beschreibung
vom Substantiv abhängig ist: ihm sein von Ausspracheregeln dar.
Sohn hat dann geheiratet (ebd., 144). In Im Falle der von König ermittelten Aus-
diesem Beispiel ist das Fragepronomen spracheregeln können wir von standardnaher
bzw. das definite/indefinite Pronomen ab- Umgangssprache oder standardnahen Regio-
53. Soziale Varianten und Normen 527

nalsprachen sprechen. Standardnahe Aus- tät und/oder der Varietät von anderen Spre-
sprache wird demnach sozial hoch oder nied- chern als solche bestimmt werden.
rig (,Substandard‘) markiert. In diesem Sinne (4) Soziolekte stehen in einem engen, historisch
gewachsenen Beziehungsgefüge zu Dialekten“
haben wir es bei Königs Untersuchungen mit
(1976, 14f.)
„hoch“ markierten Regeln zu tun, die ein
weitverbreitetes Prestige haben. Sie sind für Als typischer Soziolekt gilt die städtische
Deutsch als Fremdsprache als Richtnormen Umgangssprache des Ruhrgebiets. Typisch
zu verstehen, die die traditionellen Siebschen für diesen Soziolekt ist die Distanzstellung
Ausspracheregeln ablösen. zwischen deiktischem und pronominalem Zei-
chen für hochsprachlich verschmolzene Pro-
nominaladverbien:
4.3. Soziolekte
(i) wir mußten in der Küche essen, da war
Kupzcak (1987, 269) betrachtet eine „Kon- kein platz für im guten zimmer
zeption, wonach als Soziolekt nur ein solches (ii) bin ich an die volkshochschule gegangen
Subsystem bzw. eine solche Varietät zu gelten und da bin ich dann so bis 1951 bei geblie-
hat, dessen/deren Sprechergruppe gerade mit ben
einer von mehreren soziologisch ermittelten
Sozialschicht(en) identisch ist“, als für eine
Begriffsbestimmung von Soziolekt grundle- 4.4. Registerkonzeption
gend.
Zwischen einem Sportkommentar, einem
Synonym mit ,Soziolekt‘ wird in der eng-
Gottesdienst und einer Unterrichtsstunde be-
lischsprachigen Literatur auch ,sozialer Dia-
stehen gewisse Unterschiede im Vokabular
lekt‘ gebraucht; auf den untrennbaren Zu-
sowie in den syntaktischen und kommunika-
sammenhang räumlicher (horizontaler) und
tiven Mustern. Solche Unterschiede in der
sozialer (vertikaler) dialektaler Variation wei-
sprachlichen Tätigkeit bezeichnen wir als ,Re-
sen Chambers/Trudgill hin (1980, 54). Im Zu-
gister‘. Während Aussprache und Lexik die
sammenhang mit der Erforschung von Stadt-
dialektale Herkunft einer Person markieren,
dialekten (neues dialektologisches Paradigma
ist für das Register die sprachliche Tätigkeit
seit Labov) konnten sozial determinierte,
zentral. Typische sprachliche Tätigkeiten die-
schicht- bzw. gruppenspezifische Varietäten
ser Art sind: erzählen, einkaufen, ein Einstel-
belegt werden, die auch als ,städtische Um-
lungsgespräch führen, mit Lehrern und Ärz-
gangssprachen‘ bezeichnet werden. Wir wol-
ten oder als Ärzte und Lehrer kommunizie-
len festhalten, dass ,Soziolekt‘ wie ,Dialekt‘
ren etc. Die von Halliday (1978) geprägten
ein relationaler Begriff ist (Bezug zum Stan-
drei Begriffe Rede- oder Gesprächsfeld, Mo-
dard); beide Begriffe überlappen sich, da dalität und Stil der Rede habe ich rekategori-
räumliche und soziale Determinanten sich siert als Gesprächsthema bzw. thematische Ge-
wechselseitig beeinflussen. staltung des Gesprächs/der Rede, Gesprächs-
Das derzeit trennschärfste Kriterium zwi- modalitäten und Rede-/Gesprächsstil (vgl.
schen ,Dialekt‘ und ,Soziolekt‘ ist nach Stei- Dittmar 1997, 207ff.).
nig die „spezifische Art der Bewertung Der Registerbegriff in der Linguistik geht
sprachlicher Varietäten“ (1976, 15). auf Firth (1957) zurück, der die Bedeutung
Folgende Elemente einer Definition von des sprachlichen Zeichens in engem Zusam-
,Soziolekt‘ führt Steinig (1976, 14f.) an: menhang mit dem sozialen Kontext sah; seine
„(1) Ein Soziolekt repräsentiert das Sprachverhal- erste begriffliche und theoretische Ausarbei-
ten einer gesellschaftlich abgrenzbaren Gruppe tung erfuhr er in Halliday/McIntosh/Strevens
von Individuen. (1964), einem Buch zum Englischen als
(2) Es ist nicht notwendig, daß sich die Indivi- Fremdsprache. Halliday et al. gehen von der
duen bewußt sind, zu einer bestimmten Spre- Beobachtung aus, dass Ausländer, die eine
chergruppe zu gehören; entscheidend ist, daß zweite Sprache lernen, spezifische Fehler ma-
sie von Sprechern einer abweichenden Varie- chen, die auf den Typ der sozialen Situation,
tät als zu dieser bestimmten Sprechergruppe
kommunikative Aufgaben und interaktive/so-
zugehörig empfunden werden.
(3) Soziolekte und Dialekte werden nicht als un- ziale Rollen im Kontext zurückgehen. Regi-
mittelbar und objektiv feststellbare Varietäten ster sind nach Halliday (1978) der Ausdruck
aufgefaßt, sondern können erst durch die Er- einer engen Verbindung zwischen Sprecher,
forschung der Einstellungen und Bewertungen Situation und Sprachgebrauch („variety ac-
von Sprechern gegenüber ihrer eigenen Varie- cording to the use“ ⫽ diatypische Varietät).
528 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

Für jedes Register müssen lexikalische Ein- wirken sich auf alle sprachlichen Ebenen
heiten, Typen von Ellipsen, Metaphern, auf- der Realisierung von Äußerungen aus;
gaben-, kontext- und rollenbezogene Parame- • auf der Diskursebene wird die Austausch-
ter berücksichtigt werden, die sich auf die In- struktur in Verbindung mit dem jeweils
teraktion beziehen. Bedeutungsorganisation durch die Aktanten evozierten gemeinsa-
und diskursiver Prozess bedingen sich im je- men und Gattungswissen organisiert;
weiligen sozialen Kontext gegenseitig. • je nach den spezifischen Anforderungen
Definition: ,Register‘ (auch ,diatypische an kommunikative Aufgaben werden die
Varietät‘) aktiviert eine semantische Konfigu- Äußerungen nonverbal und grammatisch
ration in einer gegebenen sozialen Situation in kodiert.
Abhängigkeit von einer spezifischen kommuni-
kativen Aufgabe, der Beziehungsqualität zwi- Die genannten Ebenen wirken aufeinander
schen Interaktanten (Rollenbeziehungen er- ein (Interrelation pragmatischer, semanti-
ster und zweiter Ordnung) und der Diskurs- scher und grammatischer Faktoren).
modalitäten (Austauschstruktur, kulturelles Eng verknüpft mit dem Registerbegriff ist
und Gattungswissen). der Stilbegriff (,Registerstil‘). Die Durchfüh-
Zu Definition und Schaubild 53.1 im Fol- rung kommunikativer Aufgaben ist als eine
genden einige Kommentare: Art dynamischer Prozess zu verstehen, der
durch semantische und pragmatische Feinab-
• Über Normen sind Register mit Sprach- stimmungen (unterschiedliche Diskursgranu-
und Kommunikationsgemeinschaften ver- laritäten) organisiert werden muss. Ein
bunden; Sportkommentar muss vor allem in seiner
• für die Durchführung situationsadäquater sprachlichen Organisation die jeweils relevan-
interaktiver und kommunikativer Aufga- ten Sportereignisse in nachvollziehbarer
ben müssen Wissen, Zweck und Perspekti- Folge für den Hörer gut verständlich darstel-
ven der sprachlichen Tätigkeit, die Bezie- len ⫺ wobei die Kommentatoren je nach Ge-
hungsqualität und affektive Zustände be- schlecht, Alter oder sozio-regionaler Her-
rücksichtigt werden. Diese vier Größen kunft unterschiedliche Stile verwenden kön-

Abb. 53.1: Registerschaubild.


53. Soziale Varianten und Normen 529

nen. Stile verbinden sich daher prototypisch Labov favorisierte referentielle Identität,
mit der personen- oder gruppenspezifischen die nur wenig Spielraum für Stilvariation
Expressivität der jeweils durchzuführenden eröffnet. Kriterium der pragmatischen
kommunikativen Aufgabe. Aus sozio-kogni- Äquivalenz ist Handlungsidentität.
tiver Perspektive vermitteln Stile Sprecherin- • Die soziostilistischen Markierungen (z. B.
formationen (Geschlecht, Alter, Herkunft Geschlecht, Alter oder Schicht) unterliegen
etc.), während Register je nach Kontext und bestimmten Regeln der Kookkurrenz: Be-
Aufgabe sprachgebrauchsbezogene Informa- nutzt ein Sprecher jugendsprachliches ey,
tionen liefern. Die erfolgreiche Anwendung so ist zu erwarten, dass er auch intensivie-
von Registern lässt sich an der Angemessen- rende Ausdrücke wie krass oder total bzw.
heit von sprachlichen Handlungen ablesen; bewertende Prädikate wie geil benutzt.
darüber hinaus mögen Sprecher auf Grund Das Prinzip der Kookkurrenz gilt auch für
unterschiedlicher Stile in der Durchführung die Prosodie: Zustimmung, Ablehnung,
der einzelnen Handlungen mehr oder weniger provozierende oder ironische Sprechakte
erfolgreich sein (soziale Wirkung, Image sind auch prosodisch markiert (vgl. Sel-
etc.). Im erläuterten Sinne sind Register und ting 1995).
Stil eng miteinander verbunden ⫺ Stil ist je- • Die Auswahl sprachlicher Mittel und ihre
doch Register (als Tätigkeit) nachgeordnet. Kombination in Sprechhandlungen (im
Sinne der Ausdrucksgestaltung unterein-
ander äquivalenter Handlungen) führt
4.5. Stile zu einer spezifischen Stillage (stilistische
,Stile‘ beziehen sich auf das wie der Kommu- Gestalt). Ausführliche Darstellungen der
nikation, also die Art, in der sich Personen Ergebnisse der Stilforschung finden sich
und Gruppen in ihrer unverwechselbaren in Hinnenkamp/Selting (1989), Dittmar
Identität und typischen Verhaltensweise in (1997) sowie Sandig (1995).
die Kommunikation einbringen. Diese Di- 4.5.1. Geschlechtsspezifische Stile
mension ist personen- und tätigkeitsbezogen.
Register betreffen dagegen das was der Kom- Die umfangreiche Literatur (Klann-Delius
munikation: Die zweckbestimmte tätigkeits- 1987) zum geschlechtsspezifischen Verhalten
und fachspezifische Sprache (,Musterwissen‘) wird in Hellinger (1995) in empirische Ergeb-
eint die in ihr Kommunizierenden oder trennt nisse und Anwendungsbereiche unterteilt. Ge-
sie auf Grund vorgegebenen Wissens und der schlechtsspezifische Differenzierungen sind
damit einhergehenden Rollenspezialisierun- sowohl für die mündliche als auch schriftliche
gen. Wie ich mich als Mann, Frau, Jugendli- Kommunikation von Bedeutung:
cher oder Studienrätin, Kegelvereinsmitglied • Linguistische Form (Phonetik/Prosodie/
oder Pastorin in alltagsweltlichen Aktionen Morphologie): Labov, Trudgill, Ammon
verhalte (Ausdrucksverhalten), obliegt dem und andere soziale Dialektologen haben
Stil, der sich aus erworbenen Habituseigen- empirisch nachgewiesen, dass Frauen stan-
schaften und expressiver Situationsgestaltung dardnähere, morphosyntaktisch korrek-
zusammensetzt. tere Varianten benutzten als Männer. Der
Eine explizite Stildefinition ist bei der ge- Befund gilt für verschiedene Einzelspra-
genwärtigen Forschungslage nicht möglich. chen. Frauen würden sich einerseits offen-
Folgende Elemente eines soziolinguistischen bar besser an herrschende Normen anpas-
Stilbegriffs, die über die letzten 20 Jahre in sen, andererseits aber auf Grund ihres En-
der Forschung als akzeptiert gelten, möchten gagements in der Kindererziehung den
wir hervorheben: Standard als Richtnorm vorziehen.
• Die expressive Gestaltung von Äußerun- • Sozio-kognitive Aspekte: Frauen verwen-
gen als sprachlichen Handlungen unter den mehr Rückkoppelungssignale und hal-
dem Gesichtspunkt der Bedeutungsäqui- ten sich in höherem Maße als Männer an
valenz, d. h. eine Aufforderung am Bahn- vorgegebene Themen.
schalter Rückfahrkarte Berlin⫺Hamburg • Gesprächsorganisation: Frauen sind insge-
(neutral) wäre äquivalent mit dem höfli- samt kooperativer. Sie reagieren toleranter
cheren Sprechakt Ich hätte gerne eine auf Meinungen und provozieren weniger
Rückfahrkarte Berlin⫺Hamburg. Pragma- durch Ablehnungen, Zurückweisungen.
tische Äquivalenz ist für das Verständnis Oft schwächen sie die Aussage von Äuße-
von Stil eine breitere Kategorie als die von rungen „relativierend“ durch Partikeln
530 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

oder Feedback-Signale ab, um das Gesicht spielerischen Stilen eine Art verbale Bricolage
des ,Anderen‘ nicht zu verletzen. Am Bei- hervorzubringen, welche die oft zitierten oder
spiel von Talkshows konnte gezeigt wer- imitierten kommunikativen Muster aus ihrem
den, dass Männer mehr und längere Rede- alten Gebrauchskontext herausholen und in
beiträge produzieren, Themen wählen und einen neuen stellen, in dem diese parodiert
abwählen, während Frauen damit beschäf- und verfremdet werden. Kurzum: Die Ju-
tigt sind, die Konversation in Gang zu hal- gendlichen stellen die Gültigkeit kommuni-
ten. kativer Ressourcen in Frage oder bedienen
Die anwendungsbezogene Forschung be- sich ihrer in einer neuen kreativen Weise. So
schäftigt sich mit der Frage, wie sich Sprecher entsteht ein gruppenspezifischer Stil, der
des Deutschen bezüglich der Geschlechts- Teile der Erwachsenensprache in Frage stellt,
markierungen verhalten sollen. Referieren verfremdet und in eigene kommunikative Be-
wir anaphorisch auf Berufe wie Physiker, dürfnisse inkorporiert (Definition dieses
Sprachstils bei Schlobinski et al.).
Rechtsanwalt, Wissenschaftler im Folgetext
Wie englische Ausdrücke, bekannte Sprü-
mit er oder sie? Der einmal mit -er markierte
che aus Medien, sozial bewertende Sprech-
Wissenschaftler kann im Folgenden logi-
akte, in leicht verfremdeter Form (vgl. die
scherweise nicht als sie bezeichnet werden,
Verfahren der Werbung!) in alltagssprach-
obwohl das Gleiche bei scientist im Engli-
lichen Diskursen verarbeitet werden, zeigen
schen möglich ist. Ausdrücke wie männliche
Schlobinski; Kohl; Ludewigt (1994) an Hand
Krankenschwester (male nurse) oder weibli-
vieler Beispiele. Dabei zeigt sich auch, dass
cher Chirurg (female surgeon) haben sich im
die redegliedernde Partikel ey in Form und
Deutschen nicht durchgesetzt. Lediglich de-
Funktion anders verwendet wird als entspre-
verbale Substantive wie Beschäftigte, Ange-
chende äquivalente Partikeln der Erwachse-
stellte, Studierende etc. verhalten sich ge-
nensprache (Argument für die Eigenständig-
schlechtsneutral (und werden daher heute zu-
keit der Jugendsprache). Der sogenannte Bri-
nehmend benutzt). Ein anderes Problem sind
colage-Stil der Jugendlichen erscheint mit der
die so genannten generischen Formen (Wäh-
Verflechtung eigenständiger wie fremder kom-
ler, Steuerzahler etc.), die Frauen einschlie-
munikativer Muster als von der diskursiven
ßen, ohne sie explizit zu nennen. Generelle
Normalform Erwachsener abweichend; somit
Lösungen für das Problem der generischen
durchbrechen kommunikative Muster jugend-
Formen gibt es nicht, aber immerhin Vor-
sprachlicher Diskurse die Normalformerwar-
schläge, Geschlechtsmarkierungen transpa-
tung von Diskursen Erwachsener und schaffen
rent zu machen: (z. B. Bundeskanzler/-in, Sol-
eine Art innovativer Norm diskursiver Kohä-
dat/-in, Bischof/-öfin etc.).
renz. In der neueren Forschung werden daher
4.5.2. Jugendspezifische Stile folgende Eigenschaften der Jugendsprache be-
Während die soziolinguistische Literatur der sonders hervorgehoben (vgl. Dittmar 1997,
60er und 70er Jahre dem Sprachgebrauch der Kapitel 5):
Jugendlichen defizitäre Tendenzen zuweist, • In rhetorischen Verfahren erschließt sich
bemüht sich die neuere Forschung um (wert- die Jugend die Erwachsenenwelt, indem
neutrale) strukturalistische und ethnogra- sie ironisierend, verfremdend, kreativ eine
phische Diagnosen, die die Differenz zwi- Gegenwelt mit Mustern aufbaut, die sie
schen jugendsprachlichem und „erwachse- aus dem diskursiven Kontext der Erwach-
nem Sprachgebrauch“ in Unterschieden im senen herausgeschnitten hat und in einem
Lexikon, in der Syntax sowie in der Verar- neuen Kontext anpasst.
beitung unterschiedlicher soziolinguistischer • Die Art der verbalen Verfahren spiegelt of-
Stile in Äußerungen sieht. Während Henne fenbar auch die lokale alltagsrhetorische
(1986) auf der Grundlage von Fragebögen ta- Kultur einer bestimmten Region und ihres
xonomische Merkmale hervorhebt (z. B. bei sozialen Kontextes. Dies ist am Beispiel
Grüßen und Anreden; Sprüchen; Redensar- Berlin besonders auffällig. Kulturelle Iden-
ten und Floskeln etc.), haben sich Schlobin- tität wird offenbar in der Schlagfertigkeit
ski; Kohl; Ludewigt (1994) auf der Folie teil- und Kreativität des Witzes gewahrt, wobei
nehmender Beobachtung mit Gesprächsstilen eigenständige Innovationen hinzukom-
von Jugendlichen befasst. Sie zeigen, dass Ju- men. Überregionale Merkmale sind sicher
gendliche sich kultureller Ressourcen der mo- gewisse Schlüsselwörter, Stereotypen, ver-
dernen Medienwelt (Comics, Filme, Theater- bale Routinen von Jugendlichen und Ge-
stücke, Werbung) bedienen, um in sprach- sprächswörter wie ey.
53. Soziale Varianten und Normen 531

• Die Obsession, mit der die Jugend Sexuali- von Vornamen vs. (Titel und) Familien-
tät herausfordert, scheint eine jugend- name). Eine Übersicht über Verfahren der
sprachliche Universalie zu sein. Sicher hat Höflichkeit findet sich in Brown/Levinson
sie in der Hierarchie der relevanten The- (1987) und ⫺ stärker auf das Deutsche bezo-
men für Jugendliche besondere Bedeu- gen ⫺ in Held (1995).
tung. In welcher Funktion auch immer sie
in Sprachspielen thematisiert wird, sie
5. Ausblick
dürfte eine tiefere Verarbeitungsfunktion
in der Kommunikation von Jugendlichen Welche Kenntnisse brauchen Lerner/Studen-
haben. ten des Deutschen als Fremdsprache über
• Spezifische Wortfelder und Sprüche Ju- Normen und soziale Varianten? Sie sollten
gendlicher sind abhängig von den regiona- wissen, dass
len und lokalen Sprachkulturen, in denen
sie benutzt werden. Ehmann (1992) fand • Regeln der hochsprachlichen deutschen
synonymen, aber auch erheblich unter- Grammatik zur Verständigung in sozialen
schiedlichen Sprachgebrauch in Städten Situationen keinesfalls ausreichen: Es wer-
wie Berlin, Leipzig, München und Wien den Wörter, syntaktische und semantische
(u. a.). Anders als in süddeutschen Gegen- Eigenschaften sowie Formulierungen für
den, in denen in der Regel auf Dialekt verschiedene Register in institutionellen
zurückgegriffen wird, sind die Quellen und anderen Situationen benötigt;
alternativer Ausdrücke in Norddeutsch- • die Normen für Register von Kontext zu
Kontext leicht variieren können, wobei es
land stärker das Englische und andere
für eine Sprachgemeinschaft verbindliche
Subsprachen des Deutschen (Gauner-,
Normen für solche Register gibt;
Knast-, Drogen-, Soldaten-, Sport- und
• kommunikative Muster für Kernregister
Spontisprache).
(z. B. Fahrkarten lösen etc.) als prozedura-
4.6. Höflichkeit les Wissen (metakommunikative Muster
zur Aneignung der genannten Formulie-
Höfliches Verhalten drückt sich in konventio-
rungen) zur Verfügung gestellt werden
nalisierten Verhaltensmustern aus, die von
sollten;
den Mitgliedern einer Gesellschaft respektiert
• die wesentlichen Eigenschaften der deut-
werden müssen, um nicht negativ sanktio- schen Umgangssprache vermittelt werden
niert zu werden. Für die Höflichkeit liegen sollten; einige von ihnen sollten auch pro-
Normen vor, die eine Berechenbarkeit von duziert werden können. Empirisch und di-
Nähe- und Distanzverhalten in der Kommuni- daktisch abgesicherte Vorschläge zur Di-
kation ermöglichen. Höflichkeit beinhaltet daktisierung zentraler Eigenschaften der
somit nicht nur die Achtung der fremden, gesprochenen Sprache liegen allerdings
sondern auch die Achtung der eigenen Per- noch nicht vor; es sollte den Lernern nahe
son. Für die Lösung kommunikativer Pro- gelegt werden, sich bei Benutzung der Um-
bleme der Nähe und Distanz in der alltäg- gangssprache nicht das Image von Mutter-
lichen Interaktion gibt es spezifische kommu- sprachlern geben zu wollen;
nikative Muster und sprachliche Mittel. • Varianten geschlechtsspezifischer und
Grußformeln, Anredeformen, Mittel der Ab- jugendspezifischer Stile sowie soziolektale
schwächung und Verstärkung, indirekte Merkmale möglichst in ihrem sozialen
Sprechakte, bestimmte Teile der Äußerung Wert und ihren Verwendungsweisen be-
implizit lassende Formulierungen etc. stellen kannt sein sollten; Aneignung zwecks Ver-
Verfahren dar, die einen kooperativen Um- wendung ist nicht anzuraten.
gang zwischen Gesellschaftsmitgliedern er-
leichtern sollen. Je nach Sprach- und Kom-
munikationsgemeinschaft, Alter, Geschlecht, 6. Literatur in Auswahl
Status, Ansehen etc. folgen diese Verfahren Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in
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532 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

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54. Fachsprachen 533

54. Fachsprachen

1. Status und Definition(en) von Fachsprachen Sprachvarietäten, z. B. Soziolekt und Dia-


2. Verwendungseigenschaften von lekt, Dialekt und Fachsprache, Fachsprache
Fachsprachen und Gruppensprache. In der Fachsprachen-
3. Systemeigenschaften von Fachsprachen forschung werden neben dem Kommunika-
4. Didaktisierung von Fachsprachen
5. Verweise
tionsgegenstand zunehmend auch die Kom-
6. Literatur in Auswahl munikationspartner mit ihren Kommunika-
tionsabsichten, die Kommunikationssituatio-
nen u. a. Faktoren berücksichtigt, z. B. das
1. Status und Definition(en) von Kommunikationsmedium, die Kommunika-
Fachsprachen tionsgemeinschaft; die Statusfunktion, die in-
ternationale Rezeption usw.
1.1. Fachsprachen als Ergebnis und Da die Fachsprachenforschung sich relativ
Ausdruck sprachlicher Differenzierung spät konstituiert hat und viele ihrer Vertreter
Sprachen leben nicht in Grammatiken und sie zunächst neben oder im Rahmen der
Wörterbüchern, sondern in ihrer ständigen (Funktional-)Stilistik, der Soziolinguistik oder
Verwendung durch den Menschen. Sprach- anderer linguistischer Disziplinen wie Lexi-
verwendung bei der Mitteilung von Empfin- kologie und Lexikographie, Terminologie-
dungen und Gedanken (kommunikative arbeit, Übersetzungswissenschaft, ja sogar
Funktion) wie auch beim Gewinn neuer Ein- Rhetorik, Hermeneutik, Sprachkritik und
sichten und Erkenntnisse (kognitive Funk- Sprachdidaktik betrieben haben, sind recht
tion) führt zu Sprachwandel und Sprach- unterschiedliche Vorstellungen vom Status
differenzierung. Den Sprachwandel erfasst der Fachsprachen entstanden, die ihren Aus-
die Sprachwissenschaft in diachronischer Be- druck in unterschiedlichen Definitionen von
trachtung als Sprachgeschichte sowohl sprach- Fachsprache und später Fachkommunika-
übergreifend als auch einzelsprachlich in Dis- tion gefunden haben. Die wichtigsten sollen
ziplinen wie historische Phonetik, historische im Folgenden knapp vorgestellt werden.
Morphologie, historische Syntax oder histori-
sche Lexikologie. Die Sprachdifferenzierung 1.2. Fachsprachen als Funktionalstile bzw.
ist in erster Linie Gegenstand der synchroni- Funktionalsprachen
schen Betrachtung von Einzelsprachen in Sieht man von der „klassischen“ Stilistik mit
Disziplinen wie Stilistik, Dialektologie und ihren Stilschichtmerkmalen (z. B. poetisch ⫺
Soziolinguistik. In neuerer Zeit, deutlicher er- gehoben ⫺ neutral ⫺ salopp ⫺ vulgär) ab,
kennbar seit den 60er Jahren des 20. Jh.s, hat dann sind Differenzierungskriterien der Stil-
sich auch die Fachsprachenforschung der klassifikation vor allem Zweck und Wirkung
Analyse sprachlicher Differenzierungspro- der sprachlichen Äußerung; Untersuchungs-
zesse und ihrer Resultate angenommen. und Beschreibungsgegenstand ist die Funk-
Die Untersuchung und Beschreibung tion bzw. Wirksamkeit der sprachlichen Mit-
sprachlicher Differenzierung hat ihren Aus- tel bei der Erfüllung des jeweiligen Zwecks.
gang von ganz unterschiedlichen Positionen Die zweck- und wirkungsorientierte Funktio-
genommen und auch ganz unterschiedliche nalstilistik wurde besonders deutlich von der
Merkmale zu Differenzierungskriterien erho- Prager (z. B. Havránek 1932; 1942; Beneš
ben. Grob vereinfachend lässt sich sagen: Für 1969; 1981) und der Moskauer (z. B. Riesel
die Stilistik sind Zweck und Wirkung aus- 1963; Kožina 1966; 1972) Schule repräsen-
schlaggebend; die Dialektologie geht von der tiert; sie ist von der deutschen Fachsprachen-
räumlichen Verbreitung aus; die Soziolin- forschung vor allem in der DDR rezipiert
guistik interessiert sich für die Sprachver- (z. B. Gläser 1979) und kritisch verarbeitet
wendung in bestimmten gesellschaftlichen (vgl. Hoffmann 1987, 31⫺44; Gläser 1998)
Schichten oder Gruppen; für die Fachspra- worden. Gegenwärtig spielt sie nur noch eine
chenforschung steht bzw. stand lange Zeit geringe Rolle. Charakteristisch für die be-
der Kommunikationsgegenstand im Vorder- griffliche Entwicklung in der funktionalstili-
grund. Bei näherem Hinsehen und vor allem stischen Konzeption ist die Triade Funktio-
auch bei diachronischer Betrachtung ergeben nalsprache ⫺ Funktionalstil ⫺ Fachstil. Die
sich allerdings z. T. beträchtliche Überschnei- Vertreter der Prager Schule unterscheiden zu-
dungen zwischen den sog. Diasystemen oder nächst vier Funktionen der Literatursprache:
534 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

(1) die kommunikative, (2) die praktisch spe- samtsprache. Voraussetzung für die Wahr-
zielle, (3) die theoretisch spezielle, (4) die äs- nehmung von Varietäten ist das Auftreten
thetische. Den vier Funktionen sind vier einer hinreichenden Anzahl gemeinsamer
funktionale Sprachen zugeordnet: (1) die All- Merkmale, durch die sich die eine Varietät
tagssprache, (2) die Sachsprache, (3) die wis- von den anderen unterscheidet, ohne dass da-
senschaftliche Sprache, (4) die poetische bei völlig unterschiedliche Teilsprachen der
Sprache. Die Fachsprachen sind hier in (2) Gesamtsprache entstehen müssen. Variation
und (3) zu suchen. Die Weiterführung hin zu der Gesamtsprache ist vielmehr ein Konti-
einer bestimmten Anzahl von funktionalen nuum mit unterschiedlichen Variationsgra-
Stilen hat die Moskauer Schule am konse- den. Dennoch tritt das Kontinuum als etwas
quentesten betrieben: (1) Stil des öffentlichen Gegliedertes, Diskontinuierliches mit Ver-
Verkehrs, (2) Stil der Wissenschaft, (3) Stil schiedenheiten in der sprachlichen Form und
der Publizistik, (4) Stil des Alltagsverkehrs, Struktur, eben in Gestalt von Varietäten auf.
(5) Stil der künstlerischen Literatur. Hier hat Die traditionelle Klassifizierung hat mit drei
die Fachsprachenforschung an (2) ange- Arten von Varietäten gearbeitet: regionale
knüpft und es war nur ein kleiner Schritt (Dialekte), soziale (Soziolekte) und funktio-
vom Funktionalstil der Wissenschaft (wissen- nale bzw. situative (Funktionalstile; Register)
schaftlichen Stil) zum Fachstil. Wie nahe Varietäten. In der neueren Literatur werden
beide beieinander liegen, zeigen zwei verbrei- diese als diatopische bzw. geographische, dia-
tete Definitionen, nämlich die des Funktional- stratische bzw. soziale und diaphasische bzw.
stils als „bestimmtes System sprachlicher funktional-kontextuelle Varietäten bezeich-
Mittel, die zu einem bestimmten Zweck unter net. Die Fachsprachen lassen sich am ehesten
bestimmten Bedingungen der sprachlichen der dritten Klasse zurechnen, wenn man da-
Kommunikation verwendet werden“ (Mitro- mit auch nicht allen ihren Besonderheiten ge-
fanova 1973, 11), und die des Fachstils als „für recht wird. Vernachlässigt werden dabei vor
die Gestaltung eines Fachtextes charakteristi- allem die Spezifik des Kommunikationsge-
sche Auswahl und Anordnung sprachlicher genstandes und die innere Differenziertheit
Mittel, die in einem Gesamtzusammenhang der Fachsprachen.
von Absicht, Inhalt, Form und Wirkung der In der Verallgemeinerung „zeichnet sich
Aussage fungieren“ (Gläser 1979, 26). eine sprachliche Varietät dadurch aus, daß ge-
Eine Gleichsetzung von Funktionalstil wisse Realisierungsformen des Sprachsystems
(insbes. Wissenschaftsstil) bzw. Fachstil und in vorhersehbarer Weise mit gewissen sozialen
Fachsprache ist expressis verbis nie erfolgt, und funktionalen Merkmalen der Sprachge-
wohl aber so lange praktiziert worden, wie brauchssituation kookkurieren. Wenn eine
wissenschaftliche Texte nur im Rahmen der Menge von gewissen miteinander kongruie-
Stilistik und im Vergleich mit künstlerischen renden Werten für bestimmte sprachliche Va-
Texten beschrieben worden sind. Der Haupt- riablen (d. h. gewisse Realisierungen gewisser
mangel dieser Vorgehensweise lag darin, dass Formen, die in der Gesamtheit der Sprache
sie ihre Aufmerksamkeit auf allgemeine mehr Realisierungen zulassen) zusammen mit
Merkmale und Gemeinsamkeiten von Fach- einer gewissen Menge von Merkmalen auftre-
sprachen konzentrierte, deren innere Diffe- ten, die die Sprecher und/oder die Ge-
renziertheit aber unbeachtet ließ. brauchssituationen kennzeichnen, dann kön-
nen wir eine solche Menge von Werten als
1.3. Fachsprachen als Varietäten sprachliche Varietät bezeichnen“ oder „eine
Wenn davon die Rede ist, dass einzelne Men- Varietät als Subsystem eines Systems mit ei-
schen, besonders aber größere oder kleinere ner ihr eigenen Norm […] verstehen“ (Ber-
Gemeinschaften ihre Nationalsprache (Ein- ruto 1987, 264f.). Das träfe in einem sehr
zelsprache) unterschiedlich gebrauchen, dann weiten Sinne auf die Produktion und Rezep-
operiert die Sprachwissenschaft mit Begriffen tion von Fachtexten durch Fachleute im Zu-
wie Varietät, Lekt, Subsprache, Existenzform sammenhang mit ihrer fachlichen Tätigkeit
u. a. m. Der Terminus Varietät betont die Ab- zu und käme der Auffassung von Fachspra-
weichung von einem bestimmten Standard, chen als Subsprachen nahe. Die Fachsprachen
der Terminus Lekt die besondere Lesart oder wären in dieser Sicht Varietäten, die in der
Sprechweise, der Terminus Subsprache die Summe mit allen anderen Varietäten die Na-
Unterordnung unter ein größeres Ganzes, der tional- bzw. Gesamteinzelsprache ausmachen
Terminus Existenzform die relative Selbstän- und in ihr einen gemeinsamen Kern haben.
digkeit einer speziellen Teilmenge der Ge- Näheres zu den Varietäten s. Halliday/McIn-
54. Fachsprachen 535

tosh/Strevens (1964, 81⫺98); Baily (1973); munikationsbereichen und (Fach-)Texten


Klein (1974); Nabrings (1981); zum Verhält- von unterschiedlichen Standpunkten oder
nis von Varietäten und Fachsprachen s. von einem interdisziplinären Ansatz aus be-
Adamzik (1998); Ammon (1998). handelt werden.
Varietätenorientiert sind die beiden folgen- Subsprachen sind Teil- bzw. Subsysteme
den, auf Sprachfunktionen und zweckorien- des gesamten Sprachsystems, die in den Tex-
tierten Handlungen aufbauenden Fachspra- ten bestimmter, z. T. sehr spezieller Kommu-
chendefinitionen, auch wenn das nicht expli- nikationsbereiche aktualisiert werden. Man
zit erklärt wird und sie in ihrer Terminologie- kann auch sagen: Subsprachen sind ausge-
wahl unabhängig scheinen: wählte Mengen sprachlicher Elemente und
„Wir verstehen unter Fachsprachen heute ihrer Relationen in Texten mit eingeschränk-
die Variante der Gesamtsprache, die der Er- ter Thematik (vgl. Hoffmann 1998a, 190).
kenntnis und begrifflichen Bestimmung fach- In den englischsprachigen Arbeiten über
spezifischer Gegenstände sowie der Verstän- diese Problematik ist oft die Rede von einem
digung über sie dient und damit den spezifi- reduzierten Sprachgebrauch. Als Beispiel da-
schen kommunikativen Bedürfnissen im Fach für sei eine von vielen Definitionen ange-
allgemein Rechnung trägt. […] Entsprechend führt: „Factors which help to characterize a
der Vielzahl der Fächer, die man mehr oder sublanguage include (i) limited subject mat-
weniger exakt unterscheiden kann, ist die Va- ter, (ii) lexikal, syntactic and semantic restric-
riante ,Fachsprache‘ in zahlreichen mehr tions, (iii) „deviant“ rules of grammar, (iv)
oder weniger exakt abgrenzbaren Erschei- high frequency of certain constructions, (v)
nungsformen realisiert, die als Fachsprachen text structure, (vi) use of special symbols.
bezeichnet sind“ (Möhn/Pelka 1984, 26). […] This notion of sublanguage is like that
Bei der Anwendung dieser Definition spie- of subsystem in mathematics“ (Lehrberger
len fachliche Sprachverwendungssituationen 1982, 102f.). Diese und ähnliche Aussagen
mit ihren Fachtexten eine entscheidende über das Wesen und die Eigenschaften von
Rolle. Und: Subsprachen enthalten drei Hauptbestand-
„Fächer sind Arbeitskontexte, in denen teile: (a) einen pragmatischen (organized part
Gruppen von fachlichen zweckrationalen of the real world; science subfield); (b) einen
Handlungen vollzogen werden. Fachspra- semantischen (lexical, semantic restrictions),
chen sind demnach sprachliche Handlungen (c) einen syntaktischen (restricted grammar),
dieses Typs sowie sprachliche Äußerungen, wobei der erste die beiden anderen determi-
die konstitutiv oder z. B. kommentierend mit niert. Mit science subfield wird jener Kommu-
solchen Handlungen in Verbindung stehen“ nikationsbereich hervorgehoben, der auch im
(von Hahn 1983, 65). Mittelpunkt des Interesses der Fachsprachen-
forschung steht.
1.4. Fachsprachen als Subsprachen Das Konzept der Subsprachen ist in modi-
Werden Fachsprachen als Subsprachen inter- fizierter Form auch in die deutsche Fachspra-
pretiert, dann tritt gegenüber Kommunika- chenforschung eingegangen, was an der fol-
tionsabsicht und Kommunikationshandlung, genden Definition zu erkennen ist: „Fach-
gegenüber Funktion und Situation der Kom- sprache ⫺ das ist die Gesamtheit aller
munikationsgegenstand in den Vordergrund. sprachlichen Mittel, die in einem fachlich be-
Mit Hilfe dieses Kriteriums lässt sich jeder grenzbaren Kommunikationsbereich verwen-
Text einem bestimmten Sachgebiet oder det werden, um die Verständigung zwischen
Kommunikationsbereich und damit einer be- den in diesem Bereich tätigen Menschen zu
stimmten Subsprache zuweisen. Auch die Ab- gewährleisten“ (Hoffmann 1987, 53). Nähe-
grenzung der Subsprachen gegeneinander auf res zu den Subsprachen s. bei Kittredge/Lehr-
Grund des Kommunikationsgegenstandes berger (1982); Hoffmann (1987, 47⫺71); zum
bzw. der in den Texten behandelten Themen Verhältnis von Fachsprachen und Subspra-
ist einfacher als bei den Varietäten. Die Viel- chen s. Hoffmann (1998a).
zahl der Gegenstände bzw. Themen lässt eine
weitreichende Differenzierung zu. Allerdings 1.5. Fachsprachen als Gruppensprachen
verlaufen die Grenzen auch hier nicht ganz Korreliert man Varietäten oder Subsprachen
scharf; denn ein und derselbe Gegenstand mit sozialen Schichten oder Gruppen, dann
oder Vorgang, z. B. ein Fahrzeug, ein Ge- rücken die Fachsprachen in die Nähe von So-
mälde, eine chemische Reaktion, eine Er- ziolekten; denn diese werden u. a. definiert
krankung, können in unterschiedlichen Kom- als Subsysteme oder Varietäten, deren Spre-
536 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

chergruppen mit bestimmten von der Sozio- eine ausgeprägte Exklusivität, Hermetik, zu
logie ermittelten Sozialschichten identisch deren Überwindung es erheblicher mentaler
sind. Die Besonderheiten der Fachsprachen und sprachlicher Aufwendungen bedarf, um
werden dann vorwiegend danach bewertet, eine die Grenzen der Expertengruppe erwei-
inwiefern sie wegen ihrer Gruppentypik bzw. ternde, d. h. fachexterne Kommunikation
soziolektalen Markiertheit ihre Benutzer als […] gelingen zu lassen“ (Möhn 1998, 151).
Vertreter eines bestimmten Faches und Näheres zur Gruppe s. Fisch (1987); zum
gleichzeitig als Angehörige einer bestimmten Verhältnis von Fachsprache und Gruppen-
sozialen Gruppe erkennen lassen (vgl. Kub- sprache s. Möhn (1998).
czak 1987, 269ff.). Mit anderen Worten:
Fachsprachen erhalten den Status von Grup- 1.6. Andere Statusbestimmungen
pensprachen. Zu ihrer Symbolfunktion Neben den skizzierten vier Auffassungen vom
kommt die Symptomfunktion hinzu. Sie Status der Fachsprachen gibt es eine Reihe
trägt dazu bei, Gruppen von Fachleuten ge- anderer, die diese variieren oder auch auf be-
gen Laien, aber auch untereinander, abzu- stimmte Kommunikationsbereiche und Spre-
grenzen und gleichzeitig die Mitglieder der chergruppen einengen.
Gruppen enger aneinander zu binden. So ent- Fachsprachen als Register sind ⫺ im klas-
steht sprachliche Gruppenidentität auf meh- sischen angelsächsischen Verständnis ⫺ funk-
reren Ebenen: vom streng wissenschaftlichen tionale Varianten des Sprachgebrauchs in der
Sprachgebrauch in fachinternen Publikatio- Fachkommunikation, die primär durch fach-
nen bis hin zum Fachjargon in der mündli- liche Situationen determiniert sind. Sie liegen
chen Fachkommunikation. Fachextern, d. h. zwischen Funktionalstilen und Varietäten.
gegenüber Laien, ist die Verwendung von Näheres s. Hess-Lüttich (1998).
Fachsprache, ja schon der Gebrauch von Fachsprachen als Wissenschaftssprachen zu
Fachtermini, dazu angetan, Autorität, Sozial- betrachten bedeutet, dass der Gegenstand der
prestige oder auch soziale Dominanz zu Betrachtung einerseits auf die Kommunika-
schaffen, z. B. bei Ärzten, Juristen oder hoch tion und damit auf die Funktion von Sprache
spezialisierten Handwerkern. Für extreme in der Wissenschaft allgemein und in einzel-
Formen der Abgrenzung steht der Begriff der nen wissenschaftlichen Disziplinen einge-
Sprachbarrieren, mit dem Kommunikations- schränkt wird. Andererseits erfolgt eine Er-
konflikte oder einfach Verstehens- und Ver- weiterung von der kommunikativen auf die
ständigungsschwierigkeiten bezeichnet wer- kognitive Funktion, d. h. auf die Rolle der
den (vgl. Fluck 1991, 198ff.). Sprache als Erkenntnisinstrument bzw. auf
Auf den Punkt gebracht wird die gruppen- das Verhältnis von Denken und Sprache. Nä-
sprachliche Position in Formulierungen wie: heres s. Kretzenbacher (1992; 1998).
„Das Fach ist personal gesehen die Gruppe Fachsprachen als Techniksprachen verdie-
der Experten“. „Eine Fachsprache ist das nen insofern eine besondere Würdigung, als sie
sprachliche System der Experten oder kurz eine wesentliche Komponente in der Mensch-
das Expertensystem“ (Wichter 1994, 42f.). heitsentwicklung und in der Geschichte der Zi-
Ihre Bekräftigung findet sie in der folgenden vilisation darstellen. Schon im Fachwort-
Feststellung: schatz lassen sich einzelne Reflexe und ganze
„Die relative Isolierbarkeit der Experten- Innovationsschübe aus dem Bereich der Tech-
gruppe und des zugehörigen Sprachaus- nik erkennen, die bis in die Ur- und Frühge-
schnittes rechtfertigt in vielerlei Hinsicht eine schichte zurückreichen. In neuerer Zeit inter-
gesonderte Betrachtung des Wechselverhält- essiert vor allem die Stellung zwischen Theorie
nisses von Fachsprache und Gruppe. Primär und Praxis, z. B. die Wechselwirkungen von
ist dabei die sprachliche Manifestation von Naturwissenschafts-, Handwerks- und All-
für die Expertengruppe einschlägigen Wirk- tagssprache(n). Näheres s. Jakob (1998).
lichkeitsausschnitten, welche die Gruppen- Fachsprachen als Institutionensprachen
mitglieder bindet und orientiert. Versprachli- können als institutionell verfestigte Gruppen-
chungen im Verlauf der Gruppengeschichte sprachen interpretiert werden.
belegen, dass mit der Entwicklung der Eigen- Berufssprachen schließlich tragen Merk-
perspektive einer Expertengruppe zugleich male von Funktionalstilen, Varietäten und
ein hohes Innovationspotential für die Gruppensprachen in unterschiedlicher Mi-
Sprachgeschichte gegeben ist. Folge dieses in schung.
der fortschreitenden Arbeitsteilung begrün- So unterschiedlich die Versuche zur Be-
deten Resultats und Geschehens ist zugleich stimmung des Status von Fachsprachen und
54. Fachsprachen 537

die damit verbundenen Beschreibungen ihrer die besondere kommunikative Funktion bei
Spezifik ausgefallen sein mögen, gemeinsam der Lösung spezifischer Aufgaben mit spezifi-
ist ihnen die Zuweisung eines ausgeprägten schen Methoden des jeweiligen Fachgebietes
Sonderstatus. Besonderes aber ergibt sich zu verstehen.
gewöhnlich aus Vergleichen. Verglichen wur- Begrifflichkeit bedeutet, dass der Terminus
den Fachsprachen von Anfang an mit der Ge- sprachliches Zeichen für einen Begriff, also
meinsprache, was immer man darunter ver- für ein Grundelement rationalen Denkens,
standen haben mag: Umgangssprache, Litera- ist.
tursprache, allgemeinen bzw. durchschnitt- Die Exaktheit des Terminus ergibt sich aus
lichen Sprachbesitz, „Nichtfachsprache“ usw. seiner Definition oder Beschreibung, die die
Die Dichotomie Fachsprache/Gemeinsprache Abgrenzung gegenüber anderen Termini ge-
war lange Zeit ein zentrales Thema der währleistet.
Fachsprachenforschung. Konkrete Vergleiche Eindeutigkeit heißt, dass der Terminus als
scheiterten jedoch am Fehlen einer einheitli- Element der Terminologie einer Fachsprache
chen Definition des Phänomens ,Gemein- eine ganz bestimmte Erscheinung, einen ganz
sprache‘ und den damit verbundenen Ab- bestimmten Begriff bezeichnet. Eineindeutig-
grenzungsproblemen (vgl. Hoffmann 1987, keit ist die umkehrbare Zuordnung von Be-
48ff.; 1998d; Fluck 1991, 196ff.). Von gewis- zeichnendem und Bezeichnetem, d. h., der
sem sprachhistorischem Interesse mag ⫺ Terminus bezeichnet nur eine Erscheinung
nach der Erforschung der Prozesse der Ter- und diese Erscheinung hat nur diesen einen
minologisierung und Entterminologisierung Terminus als Benennung.
⫺ die Bereicherung der Lexik durch Fach- Mit Selbstdeutigkeit ist gemeint, dass der
wortschätze sein. Mit der Schwerpunktverla- Terminus keinen Kontext braucht, um ver-
gerung vom Terminus zum Text hat das standen zu werden. Seine Bedeutung ergibt
Thema jedoch an Attraktivität verloren. Eine sich aus dem Platz des Terminus im System
neue Dimension könnte sich eröffnen, wenn und seinen Relationen zu den anderen Ter-
es gelänge, dem relativ klar definierten Fach- mini […]
text mit seinen leicht fassbaren Fachtextsor- Die Forderung nach Knappheit ist gleich-
ten einen eben solchen gemeinsprachlichen bedeutend mit dem Streben nach Kürze auf
Text und die dazugehörigen Textsorten gegen- der Ausdrucksebene, nach Sprachökonomie“
überzustellen. (Hoffmann 1987, 163f.).
In der neueren Fachsprachenforschung
sind Charakterisierungen wie Anonymität,
2. Verwendungseigenschaften von Explizität u. a. hinzugekommen (vgl. von
Fachsprachen Hahn 1983, 113ff.), die sich eher auf die Syn-
tax beziehen. Es wird aber auch immer häufi-
Sieht man von der überholten, z. T. puristi- ger angemerkt, dass es sich bei all diesen Ver-
schen Denunziation der Fachsprachen als ver- wendungseigenschaften weniger um existente
derbter, fremdbestimmter, sinnverdunkelnder als vielmehr um zu postulierende Qualitäten
Sprachgebrauch, als „schlechter Stil“, „Fach- handelt. Insbesondere wird die früher ver-
chinesisch“, „Babuismus“, „Jargon“ usw. ab, pönte Vagheit (als Gegenpol zur Exaktheit)
dann werden ihnen überwiegend positive Ei- nicht nur toleriert, sondern als Voraussetzung
genschaften zugeschrieben und es wird der für den Fortschritt des wissenschaftlichen
Versuch unternommen, diese mit konkreten Denkens geradezu gefordert. Ähnliches gilt
sprachlichen Phänomenen zu belegen. So hat für die besonders von der Terminologienor-
schon die Funktionalstilistik den wissen- mung bekämpfte Polysemie, Synonymie und
schaftlichen Stil in Begriffen beschrieben wie Homonymie. (Näheres zum gesamten Pro-
Sachlichkeit, Objektivität, Logik; Exaktheit, blemkomplex s. Hoffmann/Kalverkämper/
Klarheit, Fasslichkeit; Kürze, Informations- Wiegand 1998, Kap. V). Der entscheidende
dichte u. ä. (vgl. Hoffmann 1987, 42). Aus der Mangel an den älteren Auffassungen über
Terminologiearbeit stammen Gütemerkmale Sprachverwendung waren ihre unzulässigen
wie Fachbezogenheit, Begrifflichkeit, Exakt- Verallgemeinerungen in Bezug auf Funktio-
heit, Eindeutigkeit, Eineindeutigkeit, Selbst- nalstile, Varietäten, Register und Subspra-
deutigkeit, Knappheit, stilistische Neutralität: chen, bei denen die innere Differenziertheit
„Unter Fachbezogenheit ist sowohl die Zu- der Fachsprachen nach vertikalen Schich-
gehörigkeit zu einer bestimmten Fachsprache ten, Textsorten, Sprachverwendungssituatio-
und ihrem terminologischen System als auch nen u.a. funktionalen und strukturellen As-
538 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

pekten übersehen oder zumindest vernachläs- Mittel verwendet und durch visuelle Mittel,
sigt wurde. wie Symbole, Formeln, Gleichungen, Gra-
Explizität z. B. mag in wissenschaftlichen phika und Abbildungen ergänzt sein kann“
Zeitschriftenaufsätzen und vor allem in Lehr- (Gläser 1990, 18).
büchern am Platze sein; in Lexikonartikeln, „Wir betrachten Fachtexte als ,Fachtexte-
Abstracts oder Fachgesprächen am Arbeits- in-Funktion‘. Darunter wollen wir komplexe
platz ist sie es nicht. Einheiten verstehen, die sich einerseits aus
sozialen, situativen und thematischen Fakto-
ren und andererseits aus den dadurch beding-
3. Systemeigenschaften von ten textstrukturellen, stilistischen und forma-
Fachsprachen len Merkmalen zusammensetzen. Diese Fach-
texte-in-Funktion sind folglich das Ergebnis
3.1. Textuelle Eigenschaften des funktionalen Zusammenspiels von Text-
Nachdem sich das Interesse der Fachspra- interna und Textexterna. Dabei werden die
chenforschung lange Zeit auf den Fachwort- Interaktionsbeziehungen zwischen den Kom-
schatz bzw. die Terminologie und auf einige munikationspartnern sowie der Fachlich-
andere grammatische und stilistische Be- keitsgrad der Darstellung auf sprachlich spe-
sonderheiten der Fachsprachen konzentriert zifische Weise im Fachtext zum Ausdruck ge-
hatte, setzte sich im Laufe der 80er Jahre bracht“ (Baumann 1992, 9).
endgültig die Erkenntnis durch, das sich Fachlichkeit und Fachlichkeitsgrad der
Wesen und Spezifik der Fachsprachen nur Texte sowie Fachsprachlichkeit sind mittler-
durch eine ganzheitliche, komplexe und diffe- weile zu zentralen Kategorien der Fachtext-
renzierte Analyse von Fachtexten unter- linguistik geworden. Dabei wurden im Rah-
schiedlichster Art ergründen lassen (vgl. z. B. men eines hoch komplexen Ansatzes acht Di-
Kalverkämper 1983; 1987; Hoffmann 1988). mensionen der Fachlichkeit von Texten be-
In der Folge etablierten sich Begriffe wie schrieben: eine interkulturelle, eine soziale,
strukturell-funktionale Einheit, (Fach-)Text- eine kognitive, eine inhaltlich-gegenständli-
in-Funktion, kommunikativ-pragmatische Ein- che, eine funktionale, eine textuelle, eine stili-
bettung, Handlungsorientiertheit und die stische und eine semantische (vgl. Baumann,
strengere Unterscheidung und gleichzeitige 1994, 67⫺135).
Beziehungsstiftung zwischen Textexterna und Die textuellen Eigenschaften von Fach-
Textinterna. Fachtexte werden zudem in drei sprachen werden vor allem an der Makro-
große situative Zusammenhänge eingeordnet: struktur, d. h. der Hierarchie oder zumindest
die fachinterne, die interfachliche und die der Abfolge von Teiltexten, und an der Kohä-
fachexterne Kommunikation. renz bzw. Kohäsion abgelesen, pragmatisch
Die fachtextlinguistische Sicht ist ⫺ mit am Referenzbezug auf Gegenstände des Fa-
unterschiedlichen Akzentsetzungen ⫺ in die ches, semantisch an Isotopieketten, Isotopie-
folgenden Definitionen eingegangen: strängen und semantischen Feldern, syntak-
„Der Fachtext ist Instrument und Resultat tisch an der Thema-Rhema-Gliederung (vgl.
der im Zusammenhang mit einer spezialisier- Hoffmann 1990, 10; 1998b).
ten gesellschaftlich-produktiven Tätigkeit Durch den Vergleich von Fachtexten im
ausgeübten sprachlich-kommunikativen Tä- Rahmen repräsentativer Korpusanalysen, in
tigkeit. Er bildet eine strukturell-funktionale dem weitere Merkmale berücksichtigt wer-
Einheit (Ganzheit) und besteht aus einer end- den, gelangt man zu einer relativ sicheren
lichen und geordneten Menge pragmatisch, Klassifikation von Fachtextsorten, die in vie-
semantisch und syntaktisch kohärenter Sätze lem praktische Erfahrungen mit verschiede-
(Texteme) oder satzwertiger Einheiten, die als nen Arten von Fachpublikationen bestätigt,
komplexe sprachliche Zeichen komplexen z. B. Monographien, Zeitschriftenaufsätze,
Aussagen im Bewusstsein des Menschen und Lexikonartikel, Rezensionen, Abstracts, Pa-
komplexen Sachverhalten in der objektiven tentschriften, Standards, Bedienungsanlei-
Realität entsprechen“ (Hoffmann 1988, 119, tungen, Beipackzettel u. a., gleichzeitig aber
126). „Als Ergebnis einer kommunikativen zu einer weiteren Differenzierung und zu ei-
Handlung ist der Fachtext eine zusammen- ner Korrelation mit der vertikalen Schich-
hängende, sachlogisch gegliederte und abge- tung der Fachsprachen führen kann (vgl.
schlossene komplexe sprachliche Äußerung, Möhn/Pelka 1984; Gläser 1990; Hoffmann
die einen tätigkeitsspezifischen Sachverhalt 1990a; Baumann 1992). Ein wichtiger Aus-
widerspiegelt, situativ adäquate sprachliche gangspunkt ist hier die Unterscheidung von
54. Fachsprachen 539

dominanten Textfunktionen, wie deskriptive, 1984, 14⫺19; Buhlmann/Fearns 1987, 24⫺49;


instruktive und direktive Funktion, und ihren Hoffmann 1987, 124⫺182; Fluck 1991, 47⫺
Kombinationen. Zur Definition von Fach- 55).
textsorten s. Gläser (1990, 29); Hoffmann Dabei stehen neben der Wortbildung fol-
(1990a, 11); zu ihrer Typologie s. Göpferich gende Aspekte im Vordergrund: Terminolo-
(1995). gisierung/Entterminologisierung, Verhältnis
zum Wortschatz der Gemeinsprache, Interna-
3.2. Lexikalisch-semantische Eigenschaften tionalisierung; Wortlänge, Häufigkeit der
Ergeben sich Makrostruktur und Kohärenz Wortarten, Umfang der Fachwortschätze;
in erster Linie aus der kommunikativen Herkunft der Fachwortschätze; Gütemerk-
Funktion von Fachtexten, so steht die Fach- male, Probleme der Polysemie, Synonymie
lexik, insb. die Terminologie, für die Gegen- und Vagheit; Auswahl für Zwecke der Ausbil-
stände des Faches sowie für die Fachlichkeit dung. Im Laufe der Zeit wurde die isolierte Be-
seiner Texte und mit ihr wird ein wesentlicher trachtung der Fachlexik überwunden. Das
Teil der kognitiven Funktion der Fachspra- kommt in der folgenden Formulierung zum
chen realisiert. Deshalb wurden an ihr des Ausdruck:
Öfteren der Fachlichkeitsgrad und die Fach- „Zum Fachwortschatz im weiteren Sinne
sprachlichkeit überhaupt beschrieben (vgl. gehören alle lexikalischen Einheiten in Fach-
Baumann 1994, 42f., 131ff.). In älteren Un- texten, da sie direkt oder indirekt zur fachbe-
tersuchungen überwog das Bestreben, Fach- zogenen Kommunikation beitragen. Der
wortschätze aus Fachtexten zu isolieren und Fachwortschatz im engeren Sinne bildet ein
nach unterschiedlichen Gesichtspunkten zu Subsystem des lexikalischen Gesamtsystems
ordnen. Solche Gesichtspunkte waren z. B. bzw. eine Teilmenge des Gesamtwortschatzes
die Produktivität der Wortbildung (Deriva- einer Sprache. Er wird gewöhnlich dem allge-
tion, Komposition, Konfigierung), die Ver- meinen Wortschatz gegenübergestellt oder in
wendungshäufigkeit von Einzelwörtern und bezug auf seine Austauschbeziehungen mit
ganzen Wortklassen, die Gruppierung zu se- ihm untersucht. Im Vordergrund stehen dabei
mantischen Feldern, die Zuordnung von Be- Prozesse der semantischen Einengung bzw.
nennungssystemen zu Begriffssystemen und Erweiterung, Erscheinungen der Polysemie,
nicht zuletzt die Aufnahme in Fachwörterbü- Homonymie und Synonymie, Strukturen und
cher. Sie entsprachen den Interessen einzelner Mittel der Wortbildung u. ä.
wissenschaftlicher Disziplinen wie Lexikolo- Bei einer sehr engen Grenzziehung fallen
gie und Morphologie, Sprachstatistik, lexi- Fachwortschatz und Terminologie zusam-
kalische Semantik, Terminologiearbeit, Lexi- men. Es gibt aber auch Versuche, innerhalb
kographie und wurden später in der Fach- des Fachwortschatzes zwischen (a) Fachter-
sprachenforschung zusammengeführt. Ange- minologie und (b) nichtterminologischem
wandt wurden sowohl das semasiologische fachlichem Wortschatz oder zwischen (a) Ter-
als auch das onomasiologische Prinzip. Ne- mini, (b) Halbtermini und (c) Fachjargonis-
ben der Analyse der formalen Konstituenten men zu unterscheiden. Dabei werden als Ter-
stand gelegentlich die Segmentierung in se- mini nur die Wörter anerkannt, deren Inhalt
mantische Komponenten. durch eine Festsetzungsdefinition bestimmt
Als Ergebnisse lexikalisch-semantischer ist. Daneben stehen nicht definierte Halbter-
Untersuchungen liegen vor: Übersichten über mini, die aber das Denotat ausreichend genau
die in den Fachsprachen besonders produkti- bezeichnen, und Fachjargonismen, die keinen
ven Suffixe und Wortbildungsmodelle; Häu- Anspruch auf Genauigkeit erheben. Von den
figkeitswörterbücher und -listen für einzelne im Fachtext enthaltenen lexikalischen Einhei-
Fächer und ganze Fächerkomplexe; themati- ten geht die Dreiteilung in (a) allgemeinen,
sche Wortlisten und teilweise hierarchisie- (b) allgemeinwissenschaftlichen und (c) spezi-
rende Darstellungen semantischer Felder; ellen Fachwortschatz aus; zum speziellen
Fachthesauri; Fachwörterbücher usw. Fach- Fachwortschatz gehört dann auch die Termi-
wortschätze bzw. Fachterminologien und ihre nologie“ (Hoffmann 1988, 118).
Eigenschaften sind zusammenfassend und Im Fachwortschatz dominieren die Sub-
verallgemeinernd in allen einzelsprachlichen stantive und Adjektive (Verben und andere
und übereinzelsprachlichen Fachsprachenmo- Wortarten sind weniger zahlreich vertreten),
nographien beschrieben worden (Drozd/Sei- weil sie die ganze Vielfalt der Gegenstände
bicke 1973, 129⫺167; Reinhardt 1978, 18⫺ und Prozesse zu benennen haben, auf die die
178; von Hahn 1983, 83⫺111; Möhn/Pelka fachliche Tätigkeit gerichtet ist. Sie machen
540 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

im Durchschnitt 60% der Lexik eines Fach- gorienwechsel im Vordergrund. Absonderung


textes aus. Zur Terminologie werden oft oder Isolierung deuten auf sprachliches
nur Substantive, gegebenenfalls determiniert Gruppenverhalten hin.
durch Adjektive, gezählt, obwohl auch an Ins Auge springen folgende Eigenschaften
fachsprachlichen Verben eine Tendenz zur von Sätzen und ihren Konstituenten: (a) die
Terminologisierung zu beobachten ist. durch starke Attribuierung und Adverbiali-
Wie für die Terminologie, so gilt auch für sierung gedehnte Satzlänge; (b) die hohe
den Fachwortschatz insgesamt, dass er sich Komplexität der einfachen stark erweiterten
vor allem durch (a) Entlehnung, (b) Lehn- Sätze und Satzgefüge; (c) die Expandierung
übersetzung, (c) Metaphorik und Metonymie, der Subjekt- und Prädikatgruppe; (d) die
(d) definitorische Einengung oder Erweite- Häufigkeit von attributiven und adverbialen
rung und (e) Verfahren der Wortbildung Nebensätzen; (e) die Dominanz von Aussage-
ständig auffüllt. Er ist stark von Internatio- sätzen; (f) die Textsortenabhängigkeit der
nalismen durchsetzt und enthält eine große Thema-Rhema-Gliederung mit Auswirkun-
Zahl von Komposita und komplexen Wort- gen auf die Satzgliedfolge und die thema-
gruppenbenennungen, aber auch Abbreviatu- tische Progression; (g) die gezielte Ausschöp-
ren. Die für den Terminus gültigen Güte- fung der Fügungspotenzen (Valenz); (h) die
merkmale werden hier weniger streng ge- Tendenz zur syntaktischen Kompression
handhabt. mit unterschiedlichen Kompressionsstufen;
In der neueren Fachsprachenforschung (i) die Deagentivierung sowie die Verwen-
sind vor allem drei Tendenzen zu erkennen: dung allgemein persönlicher und unpersönli-
(a) die Ablösung hierarchischer terminologi- cher Konstruktionen; (k) die Bevorzugung von
scher Systeme durch semantische Netze Funktionsverbgefügen. Näheres s. Hoffmann
(Fraas 1988), (b) die Analyse der Exteriorisie- (1998c).
rung von Fachthesauren in Fachtexten (z. B. Bei alledem ist allerdings zu berücksichti-
Hoffmann 1990b; 1993) und die Untersu- gen, dass diese Eigenschaften je nach Fach-
chung der vertikalen Wortschatzvariation textsorte und Funktion variieren. So kenn-
(z. B. Wichter 1994). Sie bereichern die Fach- zeichnet der komplexe hypotaktische Aussa-
lexikologie durch kognitive, textuelle und gesatz zwar wissenschaftliche und technische
kommunikative Betrachtungsweisen. Nähe- Texte mit deskriptiver oder instruktiver
res s. Fraas (1998). Funktion, z. B. Zeitschriftenaufsätze; in di-
3.3. Syntaktische Eigenschaften rektiven Texten, z. B. Bedienungsanleitungen,
sind hingegen auch Aufforderungssätze stark
In der Grammatik gibt es keine Teil- oder vertreten. Explizität durch Expandierung des
Subsysteme und auch keine allgemeine Er- Satzes und seiner Glieder ist nicht typisch für
weiterung durch die Fachkommunikation. Standards, Beipackzettel oder Abstracts. An-
Zu beobachten ist eher eine Einschränkung onymisierung durch unpersönliche Kon-
im Gebrauch der syntaktischen und morpho- struktionen passt nicht zu Forschungsberich-
logischen Mittel bei grundsätzlicher Beach- ten und Gutachten.
tung des normativen Regelwerkes. In der Eventuelle morphologische Besonderhei-
Fachsprachenforschung begegnet man dafür ten der Fachsprachen, die stark einzelsprach-
Bezeichnungen wie Selektion/Selektivität, lich geprägt sind, wenn sie bestimmte gram-
Funktionswandel, aber auch Absonderung, matische Kategorien repräsentieren, lassen
Isolierung. Ist von Selektion die Rede, dann sich mittelbar aus den syntaktischen Eigen-
denkt man nicht nur an die Auswahl be- schaften von Fachtexten ableiten; andere er-
stimmter Konstruktionen und Formen aus ei- geben sich aus der Textsortenfunktion, z. B.
ner größeren Menge im Sprachsystem ange- die Häufigkeit von Modus, Tempus und Per-
legter Möglichkeiten bei der Abfassung von son.
Fachtexten, sondern zugleich an auffällige
Häufigkeiten in der Fachkommunikation. Es
handelt sich also um ein überwiegend quanti- 4. Didaktisierung von Fachsprachen
tatives Merkmal, das allerdings oft funktio-
nal zu interpretieren ist, z. B. als Ausdruck Die Ergebnisse der Fachsprachenforschung
der unter 2. dargestellten Gütemerkmale. werden auf ganz unterschiedlichen Gebieten
Beim Gebrauch des Terminus Funktionswan- genutzt (vgl. Hoffmann 1988, 178⫺216). Ei-
del steht die qualitative Veränderung der nes davon ist die Aus- und Weiterbildung in
(grammatischen) Bedeutung oder ein Kate- Muttersprache und Fremdsprachen. Für
54. Fachsprachen 541

Deutsch als Fremdsprache ist ⫺ im Gegen- (Makrostruktur, Kohärenz; Syntax, Lexik


satz zu Deutsch als Muttersprache ⫺ die Di- u. a.), sondern zunehmend auch die Textex-
daktisierung der Fachsprachen in Theorie terna (Kommunikationspartner, -situation,
und Praxis schon weit fortgeschritten. Das -gegenstand) berücksichtigt. Darüber hinaus
erklärte Ziel ist die sprachliche Handlungsfä- tritt neben den Vergleich von Ausgangs- und
higkeit im Fach (Buhlmann/Fearns 1987, 9, Zielsprache der Vergleich der soziokulturel-
87⫺97), d. h. die Fähigkeit, in seinem Fach len Umfelder von Fachkommunikation (In-
der Berufs- oder Ausbildungssituation ent- terkulturalität). Bei den Fächern verlagert
sprechend angemessen zu kommunizieren sich das Interesse allmählich von den Natur-
(kommunikative Kompetenz). Der Zugang wissenschaften und der Technik auf die Gei-
zu dieser Fähigkeit führt über die Aneignung stes- und Sozialwissenschaften, noch mehr
fachlicher Begriffs- und Benennungssysteme aber zur Wirtschaft und hier zur Unterneh-
in Verbindung mit fachlichen Denk- und Mit- menskommunikation. Dort gewinnen neben
teilungsstrukturen, ergänzt durch den Erwerb schriftlichen Fachtexten die mündlichen Fach-
fachübergreifender sprachlicher Mittel, ohne texte (z. B. Verkaufsgespräche, Vertragsver-
die Fachkommunikation nicht auskommen handlungen) an Bedeutung. Das Spektrum
kann. der Fachsprachenausbildung wird also immer
Die Fachsprachenausbildung steht also breiter und in diesem Zusammenhang auch die
der Fachausbildung sehr nahe oder wird mit Forderung nach einer theoretisch fundierten
ihr kombiniert. Doch während der Fach- Fachsprachendidaktik lauter. Sie wird in eine
unterricht als erfahrungsbezogen, system-, interdisziplinäre Konzeption neben der Fach-
problem-, prozess- und verfahrensorientiert sprachenlinguistik Erkenntnisse der Soziolin-
sowie einem beträchtlichen Stoffzwang unter- guistik, Pädagogik, Psychologie, Linguodi-
worfen charakterisiert wird, ist der Fachspra- daktik und Methodik einzubeziehen haben.
chenunterricht element- und textstrukturbe- Vielversprechende Ansätze dazu liegen vor.
zogen, auf die Entwicklung von Arbeitsstra- Näheres s. Buhlmann/Fearns (1987); Schröder
tegien abgestellt; er bildet eine Art Brücke (1988); Monteiro (1990); Fluck (1992); Hoff-
zwischen allgemeinsprachlichem Unterricht mann/Kalverkämper/Wiegand (1998, Kap.
und Fachunterricht (vgl. Buhlmann/Fearns XIII). Der wichtigste Partner für die Fach-
1987, 83ff.). sprachendidaktik wird aber immer die Fach-
Im Rahmen der Ziel-Stoff-Methoden-Re- sprachenlinguistik bleiben, weil sie den Stoff,
lation hat der Bezug zum Fach in der Fach- d. h. die Substanz der Fachsprachenausbil-
sprachenausbildung zunächst zu einer Über- dung von der Fachlexik bis hin zu den Verwen-
betonung der Terminologien als Benennungs- dungs- und Systemeigenschaften von Fachtex-
systeme für Begriffssysteme geführt. Mit der ten zu Tage fördert.
kommunikativ-pragmatischen Wende in der
Linguistik der 70er Jahre, der Weitung des
Blickes vom Systemaspekt auf den Tätigkeits- 5. Verweise
aspekt, der Hinwendung der Fachsprachen-
forschung zu komplexeren Einheiten wie Satz Da in diesem Artikel mit dem Blick auf die
und besonders Text, der stärkeren Berück- Gesamtthematik des Bandes nur ausgewählte
sichtigung der inneren Differenziertheit der Aspekte der Analyse und Beschreibung von
Fachsprachen (vertikale Schichtung; Fach- Fachsprachen behandelt werden konnten,
textsorten), insbesondere aber auch der Neu- sollen am Schluss einige Hinweise auf wei-
orientierung des Fremdsprachenunterrichts tere Informationsmöglichkeiten stehen. Den
vom (linguistischen) Wissen über Sprache gegenwärtig umfassendsten Überblick über
zum (kommunikativen) Umgang mit Sprache Fachsprachenforschung und Terminologie-
hat sich dann eine deutliche Schwerpunktver- wissenschaft mit dem Anspruch auf die Wei-
lagerung zur Rezeption und Produktion von terentwicklung der Fachsprachentheorie bie-
Fachtexten vollzogen. „Einig sind sich die ten Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand (1998);
Fachsprachenlinguisten und -didaktiker in- durch Vielseitigkeit und Interdisziplinarität
zwischen darin, daß sich diese komplexen zeichnet sich Kalverkämper (1985ff.) aus; in-
Fachsprachen in ebenso komplexen Fachtex- teressante Beiträge sind auch in Bungarten
ten realisieren, so daß der Fachtext zuneh- (1992ff.; 1993) enthalten; das Schwergewicht
mend Gegenstand der Forschung und Ver- auf das Englische legen Gläser (1991ff.) und
mittlung wurde“ (Fluck 1992, 9, 114⫺125). Sager/Dungworth/McDonald (1980), auf das
Dabei werden nicht nur die Textinterna Französische Kocourek (1992); zur Termino-
542 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

logiewissenschaft empfiehlt sich Felber/Budin Buhlmann, Rosemarie; Anneliese Fearns (1987):


(1989); fortlaufend den aktuellen Stand ver- Handbuch des Fachsprachenunterrichts. Unter be-
folgt die Zeitschrift Fachsprache (Wien sonderer Berücksichtigung naturwissenschaftlich-
technischer Fachsprachen. Berlin etc. (Fremdspra-
1979ff.), in der auch regelmäßig Fortsetzun- chenunterricht in Theorie und Praxis).
gen einer Leipziger kleinen Bibliographie fach-
sprachlicher Untersuchungen erscheinen; eine Bungarten, Theo (Hg.) (1992ff.): Hamburger Arbei-
ten zur Fachsprachenforschung. Tostedt.
wichtige Bibliographie zum fachsprachlichen
Fremdsprachenunterricht stammt von Yzer- ⫺ (Hg.) (1993): Fachsprachentheorie. 3 Bde. To-
stedt.
mann/Beier (1989); eine Bibliographie der Bi-
bliographien zur Fachsprachenforschung fin- Drozd, Lubomir; Wilfried Seibicke (1973): Deut-
det sich in Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand sche Fach- und Wissenschaftssprache. Wiesbaden.
2. Aufl. 1982.
(1998). Objektsprachliche Beispiele für die
Verwendungs- und besonders für die System- Felber, Helmut; Gerhard Budin (1989): Terminolo-
gie in Theorie und Praxis. Tübingen (Forum für
eigenschaften von Fachsprachen, für die hier Fachsprachen-Forschung 9).
leider kein Platz war, finden sich in den Arti-
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54. Fachsprachen 543

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544 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

55. Geistes- und sozialwissenschaftliche Fachtexte

1. Vorbemerkungen tur deutet in der Regel darauf hin, dass Un-


2. Begriffsbestimmung terschiede im Vergleich zu den naturwissen-
3. Charakteristika geistes- und schaftlichen Disziplinen herausgestellt wer-
sozialwissenschaftlicher Fachtexte den sollen. In seinem Aufsatz „Wissenschafts-
4. Literatur in Auswahl
sprache, Sprachkultur und die Einheit der
Wissenschaften“ (1995) greift Weinrich die
1. Vorbemerkungen Gegenüberstellung von Naturwissenschaft
und Geisteswissenschaft auf, die auf der
Zielsetzung fachbezogener Sprachausbildung These Snows von den zwei Kulturen beruht,
ist die Befähigung zur sprachlichen Hand- und setzt sich mit dieser These und ihrer wis-
lungsfähigkeit im Fach. senschaftssprachlichen Variante auseinander,
Einhergehend mit der textlinguistischen d.h. mit der bei vielen Wissenschaftlern ver-
Orientierung der Fachsprachenforschung wer- breiteten Meinung, dass es in den Naturwis-
den auch in der fachbezogenen Fremdspra- senschaften „nur auf die Sache und nicht auf
chenausbildung zunehmend textorientierte die Sprache ankomme“, während andere
Konzepte vertreten. Fachtexte bilden die Wissenschaften (die Geisteswissenschaften)
Arbeitsgrundlage des Unterrichts. Ziel ist, die „von ihrer Konstitution her sprachlich ver-
entsprechenden Sprachmittel in ihrer fach- faßt sind, so daß sie von ihrer Sprachform
wie situationsspezifischen kommunikativen nicht abgelöst werden können“ (Weinrich
Funktion zu vermitteln und beim Lerner 1995, 157). Ausgehend von der heute allge-
Textmuster aufzubauen, um ihm das Erken- mein anerkannten Auffassung, dass Wissen-
nen und das Darstellen von Fachinformation schaftssprachforschung nicht als Wortfor-
zu erleichtern (vgl. Fluck 1992, 114ff.). Auf- schung ⫺ d. h. Beschäftigung mit der Termi-
gabe der Fachsprachendidaktik ist es, Texte nologie allein ⫺ betrieben werden dürfe, son-
und Textsorten hinsichtlich ihrer Eignung für dern als Text- und Pragmalinguistik, arbeitet
die Ziele fachbezogener Fremdsprachenaus- Weinrich heraus, „daß ein je nach Fächern un-
bildung zu beurteilen. Aufgabe der Fachspra- terschiedlich bedingtes, jedoch im wesentli-
chenlinguistik ist es, funktionale wie sprach- chen einheitlich strukturiertes Kommunika-
lich-strukturelle Textmerkmale zu beschrei- tionsverhalten, das die Wissenschaft als ein
ben. Auf Grund der hohen Relevanz für den Gemeinschaftsunternehmen charakterisiert“,
fachbezogenen Fremdsprachenunterricht ist vorliege (Weinrich 1995, 171). Dass neben
für bestimmte fachliche Bereiche ⫺ so z. B. dem Aspekt der Einheit der Wissenschaft auch
für naturwissenschaftlich-technische Texte der Aspekt der Verschiedenheit der zahlrei-
(vgl. Art. 56) ⫺ eine gute Forschungsgrund- chen Wissenschaften existiert, begründet
lage zu verzeichnen. Der Bereich der Geistes- Weinrich (1988, 165ff.) damit, dass ein we-
und Sozialwissenschaften dagegen ist wenig sentlicher Unterschied zwischen den Natur-
erschlossen. Neben spezifischen Analysen wissenschaften und den Geisteswissenschaf-
zu einzelnen geistes- und sozialwissenschaft- ten darin bestehe, dass sie sich an unter-
lichen Fachsprachen finden sich vor allem schiedlichen Leitgattungen orientieren. Wäh-
in fachtextlinguistisch orientierten Untersu- rend für die naturwissenschaftlichen Diszipli-
chungen vergleichende Aussagen über Unter- nen der in einer Fachzeitschrift publizierte
schiede zwischen naturwissenschaftlichen bzw. Originalaufsatz als Leitgattung anzusehen
naturwissenschaftlich-technischen Fachtexten sei, habe die Publikationsform ,Aufsatz‘ für
und geistes- und sozialwissenschaftlichen Tex- die Geisteswissenschaften an Bedeutung ver-
ten. Die folgenden Darlegungen sollen die loren. Die Leitgattung der Geisteswissen-
Spezifika geistes- und sozialwissenschaftlicher schaften sei die Monographie in Buchform,
Texte unter dem vergleichenden Aspekt auf- da es in den geisteswissenschaftlichen Diszi-
zeigen. plinen keine klaren Forschungsfronten gebe
und die historische Dimension nicht vernach-
2. Begriffsbestimmung lässigt werden könne. Weinrich sieht dies als
Auswirkungen des Komplexitätszuwachses
Die Verwendung des Begriffspaares Geistes- des Systems Wissenschaft und weist in einer
und Sozialwissenschaften in der fach- und vergleichenden Analyse nach, „daß die gei-
wissenschaftssprachlichen Forschungslitera- steswissenschaftliche Monographie durchaus
55. Geistes- und sozialwissenschaftliche Fachtexte 545

die gleichen Strukturmerkmale erkennen 3. Charakteristika geistes- und


läßt“ wie der naturwissenschaftliche Aufsatz sozialwissenschaftlicher Fachtexte
(Weinrich 1995, 170).
Der Begriffsumfang der Oberbegriffe ,Gei- 3.1. Textuelle Merkmale
steswissenschaften‘ bzw. ,Sozialwissenschaf-
Da sich fachliches Handeln durch eine ausge-
ten‘ ist unscharf, ja umstritten ist, welche Ein-
prägte Systematik von anderen Formen
zeldisziplinen jeweils unter diesen Benennun-
menschlichen Handelns unterscheidet, ist ein
gen zusammengefasst werden. In der fach-
hoher Grad von Textdurchgliederung allge-
sprachlichen Literatur wird diese Unschärfe
mein ein charakteristisches Merkmal für
durchaus vermerkt. So macht Knobloch, der
Fachtexte (Möhn/Pelka 1984, 22). Analysen
sich mit „geisteswissenschaftlichen Grundbe-
griffen“ auseinandersetzt, darauf aufmerk- wissenschaftlicher Texte haben besonders in
sam, dass er „geisteswissenschaftlich“ als „va- Bezug auf dieses Merkmal erhebliche Unter-
gen Sammelnamen für die Disziplinen, die ih- schiede zwischen Texten naturwissenschaft-
ren Gegenstandsbereich abstraktiv aus dem lich-technischer Disziplinen und Texten gei-
Objektivbereich der menschlichen Handlun- stes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen
gen im weitesten Sinn gewinnen“, versteht festgestellt. Dies gilt vor allem für die Text-
(Knobloch 1989, 121). Ickler schlägt in seiner sorte ,wissenschaftlicher Aufsatz‘. Aufsätze
Erörterung von Sprachproblemen der Geistes- naturwissenschaftlicher Fächer unterliegen
wissenschaft vor, darunter solche zu fassen, einer mit der Abfolge Forschungsgegen-
„die es mit der Interpretation zeichenhaften stand⫺Methode⫺Ergebnisse⫺Diskussion⫺
menschlichen Verhaltens und seiner Spuren zu Schlussfolgerung strengen Konvention (vgl.
tun haben“ (Ickler 1997, 267). Weinrich 1995, 159ff., Gläser 1998, 483). Für
Die wissenschaftstheoretische Diskussion Zeitschriftenaufsätze der Geistes- und Sozial-
in Bezug auf Begriffsinhalt und Begriffsum- wissenschaften gelten keine vergleichbaren
fang des Begriffes ,Sozialwissenschaften‘ ist Konventionen, auch wenn sich einzelne
ein aktueller Gegenstand sozialwissenschaft- Autoren an der Textgestaltung naturwissen-
licher Publikationen (vgl. Dahlberg 1996; Bu- schaftlicher Zeitschriftenaufsätze orientieren
din 1993). Budin, der sich mit sozialwissen- (Gläser 1998, 483). In geisteswissenschaftli-
schaftlicher Begriffsbildung auseinandersetzt, chen Aufsätzen dienen aussagekräftige Zwi-
schlägt vor, Sozialwissenschaften als jene schentitel als wichtige makrostrukturelle Re-
Wissenschaftsgebiete anzusehen, „die Bezie- zeptionshilfen (Dietz 1998, 622). In Bezug
hungen zwischen und Handlungen, Einstel- auf den wissenschaftlichen Aufsatz in Fach-
lungen etc. von Menschen untersuchen“ (Bu- zeitschriften ist auf seine unterschiedliche
din 1993, 4). Als Beispiel für die unterschied- Funktion in den Wissenschaftsdisziplinen
liche Bestimmung des Begriffsumfangs von hinzuweisen. Während der Originalaufsatz
Sozialwissenschaften führt Budin zwei der als Leitgattung der modernen Naturwissen-
sozialwissenschaftlichen Literatur entnom- schaften anzusehen ist, hat in den Geisteswis-
mene Klassifikationen an: Nach Opp werden senschaften die Monographie diese Funktion
folgende Fächer als sozialwissenschaftliche übernommen (Weinrich 1995, 167; vgl. 2.).
angesehen: Psychologie, Sozialpsychologie, Den hohen Stellenwert, der einem strengen
Wirtschaftswissenschaften, Soziologie, Ge- Textaufbau in den Naturwissenschaften bei-
schichtswissenschaft, Kriminologie, Kultur- gemessen wird, zeigt auch eine Untersuchung
anthropologie und Pädagogik. In einer Publi- zur Textsorte ,wissenschaftliches Zeitschrif-
kation von Ohly werden dagegen folgende tenabstract‘. Eine vergleichende Analyse von
Disziplinen genannt: Soziologie, Psychologie, Zeitschriftenabstracts der Fächer Sprachwis-
Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, senschaft, Betriebswirtschaft und Metall-
Pädagogik, Kommunikationswissenschaft, an- kunde ergab, dass der Textaufbau der Ab-
dere (darunter wird z. B. Soziolinguistik ge- stracts aus der Zeitschrift für Metallkunde
fasst) (zit. nach Budin 1993, 4). den höchsten Grad an Standardisierung und
Auf Grund der Unschärfe der Benennun- unpersönlicher Gestaltung aufweist (Fluck
gen Geistes- und Sozialwissenschaften emp- 1988, 80).
fiehlt es sich, bei der Übernahme von Aussa- Die von Weinrich (1995, 166) konstatier-
gen über Charakteristika geistes- und sozial- ten Unterschiede im Kommunikationsverhal-
wissenschaftlicher Fachsprachen die den Un- ten von Naturwissenschaften und Geisteswis-
tersuchungen zu Grunde liegenden Textkor- senschaften zeigen sich auch in Untersuchun-
pora zu beachten. gen zur Titelgebung in wissenschaftlichen
546 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

Texten (vgl. Dietz 1998). Titel spielen neben zieht sich dabei auf die von Möhn/Pelka
Abstracts eine wichtige Rolle bei der Bewälti- (1984, 22) genannten Merkmale wie hoher
gung der wissenschaftlichen Publikationsflut. Grad der Textgliederung, besondere Kohä-
Dietz (1998, 619) stellt fest, dass der Einsatz renzsignale, besondere Bedeutung typogra-
der Informationstechnologie (automatische phischer Mittel und Verwendung außer-
Erstellung von Keyword-Registern) Einfluss sprachlicher Mittel ⫺ auf die analysierten so-
auf das Titelbewusstsein naturwissenschaftli- zialwissenschaftlichen Fachtexte nur bedingt
cher Autoren hat, und schreibt weiter, dass zutreffen. Schröder formuliert, dass in sozial-
„sich für die im Schnitt weniger effiziente Er- wissenschaftlichen Fachtexten textuelle Merk-
faßbarkeit von geistes- und sozialwissen- male erscheinen, die sonst als nicht typisch für
schaftlichen Titeln in Datenbanken folgende Fachtexte betrachtet werden:
Gründe ergeben: a) der Mangel an Titeln mit
So zeichnen sich sozialwissenschaftliche FT biswei-
aussagekräftigen Titel-Keywords …, b) man- len durch eine sehr hohe Redundanz aus; das „hed-
gelnde Terminologiestandardisierung, c) die ging“ spielt fast immer eine große Rolle; Kohärenz
Schwierigkeit, fachspezifische Negativ- oder erfolgt nicht nur über sprachliche Mittel, sondern
Stoplisten für die automatische Selektion von vor allem über den Inhalt. Anders als in den Natur-
Keywords zu erstellen sowie d) das Problem wissenschaften gibt es in den Sozialwissenschaften
der Übersetzbarkeit von geisteswissenschaft- auch keinen feststellbaren Zusammenhang zwi-
lichen Titeln zum Zwecke der Aufnahme in schen Sachverhalten, Textsorten und Textstruktu-
die überwiegend anglophonen Datenbank- ren, der sich in festen Textablaufschemata äußern
systeme“. Als Beispiele für vorwiegend in gei- würde. Textstrukturen werden komplex durch
Sachverhalt, Paradigma, Forschungs- und Argu-
stes- und sozialwissenschaftlichen Texten auf- mentationsmethode, die Kommunikationssituation
tretende Titelgebungsverfahren nennt Dietz und die Textsorte determiniert, wobei der konkret-
(1998, 619f.) Titel in Frageform, Wieder- historische Hintergrund (Kultur und Gesellschaft)
holungsstrukturen in Titeln, Verfahren zur eine bedeutende Rolle spielt (Schröder 1988, 52).
einprägsamen Veranschaulichung eines be-
stimmten Aspektes des Titels (Wiederho- Im Folgenden sollen einige weitere Detailer-
lungsstrukturen auf der Ebene von Lauten gebnisse der Analyse Schröders (1988, 52ff.)
oder Lexemen), die Herstellung von Inter- genannt werden. Die Analysen der verwende-
textualität durch die Aufnahme von Zitaten ten Kommunikationsverfahren ergab, dass
und das Spiel mit Mehrdeutigkeit, geringer im Vergleich zu den Naturwissenschaften die
Determiniertheit, Widersprüchlichkeit und Kommunikationsverfahren Explizieren, Ein-
Metaphorik auf der semantischen Ebene. An- wenden, Widerlegen und Bewerten „relativ
dererseits sind beispielsweise Angaben über häufiger“ und Behaupten und Vermuten „so-
die Methode vorwiegend in Titeln naturwis- gar fast ausschließlich“ in sozialwissenschaft-
senschaftlicher Disziplinen sowie in Titeln lichen Texten vorkommen dürften. Hinsicht-
empirisch ausgerichteter sozialwissenschaft- lich der Darstellungsarten zeigt sich eindeutig
licher Fächer anzutreffen. Unterschiede zwi- die Dominanz erörternder Textteile. Berich-
schen geistes- und sozialwissenschaftlichen tende und beschreibende Textteile sind in ar-
Titeln und Titeln in naturwissenschaftlichen gumentative Zusammenhänge eingegliedert.
Fächern konnten auch in der Titellänge und Die Untersuchung der Textkohärenz weist als
in der Verteilung sprachlicher Informations- auffällige Erscheinung aus, dass in sozialwis-
einheiten festgestellt werden. senschaftlichen Texten neben Pronominalisie-
Speziell zur Spezifik sozialwissenschaft- rung und Wiederholung auch Paraphrasie-
licher Fachtexte liegt eine umfassende Unter- rung und Synonymie als Mittel der Textrefe-
suchung von Schröder (1988) vor. Das der renz genutzt werden. Detaillierte Analyse-
Analyse von Schröder zu Grunde liegende ergebnisse werden auch zur Texteinbettung,
Textkorpus umfasst fast ausschließlich Texte zur logischen Gliederung von Texten und zur
aus den nicht-empirischen Sozialwissenschaf- Thema-Rhema-Gliederung vorgelegt.
ten und zeichnet sich durch einen hohen Spe-
zialisierungsgrad aus. Die Textauszüge stam- 3.2. Der Fachwortschatz
men hauptsächlich aus Monographien, Zeit- Die terminologische Situation in den Geistes-
schriftenartikeln und Studienbüchern (Schrö- und Sozialwissenschaften wird vielfach als
der 1988, 43f.). Bei der Beschreibung der tex- unbefriedigend empfunden. Insbesondere in
tuellen Merkmale kommt Schröder (1988, 48) den Sozialwissenschaften wird ungerechtfer-
zu dem Schluss, dass die allgemeinen textuel- tigter „Wildwuchs“ beklagt. Nach Dahlberg
len Merkmale von Fachtexten ⫺ Schröder be- (1996, 10) findet man in fast allen Einleitun-
55. Geistes- und sozialwissenschaftliche Fachtexte 547

gen sozialwissenschaftlicher Wörterbücher steht darin, dass sie häufig durch Terminolo-
Klagen über den terminologischen Zustand, gisierung gemeinsprachlicher Wörter entstan-
so z. B. über die Flut von Begriffsneuschöp- den sind. Knobloch (1989, 113) weist darauf
fungen, Begriffserfindungen und -uminter- hin, dass Fachwörter wie Denken, Entwick-
pretationen. Lepenies stellt fest, dass der Ver- lung, Wort, Sinn, Gesellschaft ein „Doppelle-
wissenschaftlichungsprozess in den Sozialwis- ben“ führen: als Teil der Gemeinsprache und
senschaften zur Herausbildung eines Jargons, der Fachsprachen. In diesem Zusammenhang
„d. h. einer weniger von der Sache als von der erwähnt Knobloch auch die „notorische
Taktik des akademischen Überlebenskampfes Unterbestimmtheit“ geisteswissenschaftlicher
geprägten Terminologie“ führte (Lepenies Grundbegriffe.
1986, 125). Endruweit charakterisiert den in In der von Schröder (1988) vorgelegten
den Sozialwissenschaften herrschenden radi- Untersuchung sozialwissenschaftlicher Fach-
kalen Individualismus: texte (zum Textkorpus vgl. 3.1.) werden auch
Selbst lehrbuchartige Darstellungen der Grundbe-
lexikalische Besonderheiten herausgearbeitet.
griffe der Soziologie bringen nicht etwa systemati- Schröder (1988, 67) verweist darauf, dass Po-
sche Übersichten über bisherige Richtungen der lysemie und Synonymie in sozialwissen-
Begriffsbildungen oder gar quantitative Tendenz- schaftlichen Texten ⫺ bedingt durch die Viel-
darstellungen, schließen sich selten einer eingeführ- zahl der miteinander konkurrierenden Para-
ten Disziplin an, sondern vergrößern den meistens digmen ⫺ auftreten könnnen. Weiterhin wer-
amorph gelassenen Haufen vorfindlicher Begriffs- den Aussagen zum Fachwortanteil getroffen.
bestimmungen durch ein eigenes Elaborat, dessen Seine Analyse ergab, dass in sozialwissen-
komparative Qualität unerörtert bleibt. (Endru- schaftlichen Fachtexten im Vergleich zu na-
weit 1996, 91)
turwissenschaftlichen und technischen Texten
Die in den Geistes- und Sozialwissenschaften der Fachwortanteil wesentlich geringer ist.
geprägten Termini zeichnen sich durch ein So wurde ein durchschnittlicher Anteil der
hohes Maß an Theorieabhängigkeit aus. Bu- Fachwörter von 12,7% am Gesamtwort-
din schlägt beispielsweise für eine termino- schatz ermittelt. Eine Analyse der Frequenz
logische Erfassung sozialwissenschaftlicher des Gesamtwortschatzes ergab, dass von den
Termini vor, dass in einem terminologischen häufigsten Wörtern nur ein sehr kleiner Teil
Eintrag die Quellenangabe „durch die An- Fachwörter sind. Dabei wurde als Fachwort
gabe der Theorie (oder auch Ideologiesystem, gezählt, was von mehreren befragten Exper-
Denktradition oder einfach Sichtweise), in ten übereinstimmend als Fachwort angesehen
der der jeweilige Begriff verwendet wird“, er- wurde (z. B. Gesellschaft, sozial, Gebrauchs-
gänzt werden sollte (Budin 1993, 183). wert, Widerspruch). Unter den Wortarten wa-
Auf die Schulenbildung innerhalb der Lite- ren über 90,2% der Fachwörter Substantive
raturwissenschaft, die zum Ausbau des Wort- und 9,8% Adjektive. Terminologisierte Ver-
schatzes beigetragen hat, geht Gardt (1998, ben wurden nicht festgestellt. Ein Problem
1356) ausführlich ein. Untersuchungen zur lin- sozialwissenschaftlicher Texte ist nach Schrö-
guistischen Fachsprache (Busse 1989; Gnutz- der, dass neben den Fachwörtern fachüber-
mann 1996) arbeiten ebenfalls die starke Theo- greifender Wortschatz auftritt. Dazu zählen
rieabhängigkeit linguistischer Termini heraus. Wörter wie z. B. Begriff, Ausdruck, Wort, Mit-
Busse (1989, 27) stellt fest, dass sich die tel, die nicht zu den Fachwörtern gehören,
Sprachwissenschaft „als Konglomerat kon- aber auch nicht in der allgemeinsprachlichen
kurrierender, auf unterschiedlichen bis ge- Bedeutung gebraucht werden. Weiterhin zeigt
gensätzlichen philosophischen, wissenschafts- sich, dass die Anteile der Fachlexik an den
theoretischen oder forschungsgeschichtlichen einzelnen Texten ⫺ offenbar in Abhängigkeit
Voraussetzungen beruhender Theorien, Mo- von der Textsorte ⫺ zum Teil extrem vonein-
delle und Erkenntnisziele“ darstellt. Die Folge ander abweichen.
sind ein widersprüchliches Fachvokabular
und konkurrierende Termini. Die Existenz 3.3. Morphologische und syntaktische
unterschiedlicher wissenschaftlicher Kon- Merkmale
zepte und, daraus resultierend, unterschied- In der von Schröder (1988) durchgeführten
licher Benennungen ist allerdings auch in an- Analyse sozialwissenschaftlicher Texte wur-
deren Wissenschaftsdisziplinen anzutreffen den auch Funktionen und Frequenzen einzel-
(vgl. Wiese 1990, 1678ff.). ner morphologischer und syntaktischer Mit-
Ein weiteres Merkmal von Fachwörtern in tel beschrieben und mit vorliegenden Analy-
den Geistes- und Sozialwissenschaften be- sen wissenschaftlicher Texte verglichen (ins-
548 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

besondere mit denen von Beneš (1981) vorge- Budin, Gerhard (1993): Wie (un)verständlich ist
legten Aussagen zur formalen Struktur wis- das Soziologendeutsch? Begriffliche und textuelle
senschaftlicher Fachsprachen). Beim Verbge- Strukturen in den Sozialwissenschaften. Frankfurt
a. M. etc. (Werkstattreihe Deutsch am Fremdspra-
brauch zeigt sich, dass der Anteil des Verbs
che 42).
in sozialwissenschaftlichen Texten geringer ist
(10,2% gegenüber 17,3% bei Beneš), wobei Bungarten, Theo (Hg.) (1981): Wissenschafts-
sprache. München.
Textsortenunterschiede (zwischen Abstract
und Lehr- und Studienbuch) erheblich sind. Busse, Dietrich (1989): Sprachwissenschaftliche
Terminologie. Verständlichkeits- und Vermittlungs-
Die zwölf häufigsten Verben decken bereits
probleme der linguistischen Fachsprache. In: Mut-
die Hälfte aller als Verb vorkommenden tersprache 99, 27⫺38.
Wortformen ab. Es sind dies Verben wie sein,
Dahlberg, Ingetraut (1996): Zur ,Begriffskultur‘ in
werden, haben, können, müssen, lassen, sollen, den Sozialwissenschaften: Lassen sich ihre Pro-
geben u. a. Übereinstimmung mit den Aussa- bleme lösen? In: Ethik und Sozialwissenschaften 7,
gen der fachsprachlichen Morphologie be- 1, 3⫺13.
steht im Hinblick auf die Dominanz des Indi- Dietz, Gunther (1998): Titel in wissenschaftlichen
kativs und des zeitlosen Präsens sowie der Texten. In: Hoffmann; Kalverkämper; Wiegand
Bevorzugung der 3. Person beim Verb. Beson- (Hg.), 617⫺624.
derheiten zeigen sich beim Gebrauch des Pas- Endruweit, Günter (1996): Probleme sozialwissen-
sivs. In sozialwissenschaftlichen Texten liegt schaftlicher Begriffsbildung. In: Ethik und Sozial-
der Passivanteil nur bei 14,8% und damit we- wissenschaften 7, 1, 85⫺91.
sentlich niedriger als in technischen Fachtex- Fluck, Hans-Rüdiger (1988): Zur Analyse und Ver-
ten. Auch ein geringerer Anteil des Konjunk- mittlung der Textsorte ,Abstract‘. In: Claus Gnutz-
tivs ist zu verzeichnen (Schröder 1988, 62ff.). mann (Hg.): Fachbezogener Fremdsprachenunter-
Auf der Ebene der Syntax stellt Schröder richt. (Forum für Fachsprachen-Forschung 6),
(1988, 66f.) im Vergleich zu den Ergebnissen 67⫺90.
von Beneš kaum Besonderheiten fest. Auch ⫺ (1992): Didaktik der Fachsprachen. Aufgaben und
in sozialwissenschaftlichen Fachtexten domi- Arbeitsfelder, Konzepte und Perspektiven im Sprach-
niere der einfache Hauptsatz, und unter den bereich Deutsch. Tübingen (Forum für Fachspra-
Nebensätzen sei der Relativsatz am stärksten chen-Forschung 16).
vertreten. Den als charakteristische Merkmale Gardt, Andreas (1998): Die Fachsprache der Lite-
von Fachtexten genannten Merkmalen Nomi- raturwissenschaft im 20. Jahrhundert. In: Hoff-
mann; Kalverkämper; Wiegand (Hg.), 1355⫺1362.
nalstil und Attribuierungstendenz komme in
sozialwissenschaftlichen Texten die gleiche Gläser, Rosemarie (1998): Fachtextsorten der Wis-
Bedeutung wie in den anderen fachlichen senschaftssprachen I: der wissenschaftliche Zeit-
schriftenaufsatz. In: Hoffmann; Kalverkämper;
Kommunikationsbereichen zu. Besonderhei- Wiegand (Hg.), 482⫺488.
ten werden lediglich im Bereich der Satzlängen
Gnutzmann, Claus (1996): Linguistische Fachspra-
festgestellt. Gegenüber den Ergebnissen von
che und wissenschaftsgeschichtlicher Kontext.
Beneš werden für sozialwissenschaftliche Dargestellt am amerikanischen Strukturalismus
Texte überdurchschnittliche Satzlängen regi- und seinen Weiterentwicklungen. In: Fachsprache
striert. 18, 1⫺2, 2⫺9.
Die Aussagen über einen hohen Grad an Hoffmann, Lothar; Hartwig Kalverkämper; Her-
Komplexität für geistes- und sozialwissen- bert Ernst Wiegand (Hg.) (1998): Fachsprachen. Ein
schaftliche Texte werden auch durch einen internationales Handbuch zur Fachsprachenfor-
von Schefe durchgeführten Vergleich zwi- schung und Terminologiewissenschaft. Halbbd. 1,
schen literaturwissenschaftlichen, medizini- Berlin etc. (HSK 14.1.).
schen und betriebswirtschaftlichen Fachtex- Ickler, Theodor (1997): Die Disziplinierung der
ten gestützt. Schefe (1975) stellt fest, dass lite- Sprache. Fachsprachen in unserer Zeit. Tübingen
raturwissenschaftliche Texte den höchsten (Forum für Fachsprachen-Forschung 33).
Grad an syntaktischer Komplexität aufwei- Knobloch, Clemens (1989): Geisteswissenschaftli-
sen. che Grundbegriffe als Problem der Fachsprachen-
forschung. In: Special Language ⫺ Fachsprache 11,
3⫺4, 113⫺126.
4. Literatur in Auswahl Lepenies, Wolf (1986): Die Notwendigkeit des Jar-
gons ⫺ Zur Fachsprache der Soziologie. In: Hart-
Beneš, Eduard (1981): Die formale Struktur der wig Kalverkämper; Harald Weinrich (Hg.):
wissenschaftlichen Fachsprachen in syntaktischer Deutsch als Wissenschaftssprache. Tübingen (Fo-
Sicht. In: Theo Bungarten (Hg.), 185⫺212. rum für Fachsprachenforschung 3), 124⫺127.
56. Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte 549

Möhn, Dieter; Roland Pelka (1984): Fachsprachen. Weinrich, Harald (1988): Sprache und Wissen-
Eine Einführung. Tübingen (Germanistische Ar- schaft. In: Harald Weinrich: Wege der Sprachkul-
beitshefte 30). tur. 2. Aufl. München, 42⫺60.
Schefe, Peter (1975): Statistische syntaktische Ana- ⫺ (1989): Formen der Wissenschaftssprache. In:
lysen von Fachsprachen mit Hilfe elektronischer Re- Jahrbuch 1988 der Akademie der Wissenschaften zu
chenanlagen am Beispiel der medizinischen, betriebs- Berlin, 119⫺158.
wirtschaftlichen und literaturwissenschaftlichen ⫺ (1995): Wissenschaftssprache, Sprachkultur und
Fachsprache im Deutschen. Göppingen (Göppinger die Einheit der Wissenschaften. In: Heinz L. Kret-
Arbeiten zur Germanistik 165). zenbacher; Harald Weinrich (Hg.): Linguistik der
Wissenschaftssprache. Berlin (Akademie der Wis-
Schröder, Hartmut (1987): Aspekte sozialwissen-
senschaften zu Berlin: Forschungsbericht 10),
schaftlicher Fachtexte. Ein Beitrag zur Fachtextlin- 155⫺174.
guistik. Hamburg (Papiere zur Textlinguistik 60).
Wiese, Ingrid (1990): Fachsprachliche Normungs-
⫺ (1988): Aspekte einer Didaktik. Methodik des prozesse. In: Werner Bahner; Joachim Schildt; Die-
fachbezogenen Fremdsprachenunterrichts (Deutsch ter Viehweger: Proceedings of the Fourteenth Inter-
als Fremdsprache). Unter besonderer Berücksichti- national Congress of Linguistics. Berlin 1987. Ber-
gung sozialwissenschaftlicher Fachtexte. Frankfurt lin, 1678⫺1681.
a. M. etc. (Werkstattreihe Deutsch als Fremdspra-
che 20). Ingrid Wiese, Leipzig (Deutschland)

56. Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte

1. Zur Rolle von Sprache/Sprachausbildung in fachliche Bedeutungsgehalte mitzuteilen und


Naturwissenschaften und Technik zu tradieren in schriftlicher wie auch in
2. Sprachstrukturelle Eigenschaften mündlicher Form. Die Darstellung dieser
naturwissenschaftlicher/technischer Texte
Fachinhalte im Hinblick auf ihre Anwendung
3. Textsorten- und Diskursmerkmale
4. Literatur in Auswahl und Verwertung erfolgt in der Form, dass
komplexe und abstrakte wissenschaftlich-
technische Sachverhalte und/oder eher kon-
1. Zur Rolle von Sprache/ krete technologische Grundverfahren, Ar-
Sprachausbildung in beitsmethoden, Wirkungsprinzipien, techni-
sche Abläufe, Funktionen, Prozesse usw. sy-
Naturwissenschaften und Technik
stematisch beschrieben werden. Nach Bach-
Mehr denn je besteht heute auf Grund sich mann wird gegenüber dieser Zielvorstellung
rasch vervielfachender Fachinformation so- aus Sicht der übersetzerischen Praxis aller-
wie beständig wachsender internationaler dings immer wieder beklagt, „daß die meisten
Austausch- und Kooperationsbeziehungen technischen Fachtexte schlecht, d. h. ungenau
auf den Gebieten Wissenschaft und Technik und nicht selten fehlerhaft geschrieben sind“
ein insgesamt großer fach- und berufsbezoge- (1992, 145).
ner Sprach- und damit Ausbildungsbedarf im Die aktive Verwendung von Fachsprache
Deutsch als Fremdsprache- und Deutsch als und der Umgang mit Fachtexten gehören
Zweitsprache-Bereich. Waren in früherer Zeit somit zu den Schlüsselqualifikationen verbal-
Naturwissenschaften und Technik relativ feste gesteuerter Interaktion in fachsprachlichen
Begriffe im Wissenschaftsbetrieb, so verbin- Kommunikations- und Ausbildungssituatio-
den sich damit heute kaum noch konkrete nen (Fluck 1992, 1996, 1998; Hoffmann/Kal-
Aussagen, sondern die Vorstellung einer Viel- verkämper/Wiegand 1998). Lag der Deutsch
zahl mehr oder weniger zusammenhängender als Fremdsprache-Ausbildungsschwerpunkt
Disziplinen und Teildisziplinen mit unter- bis in die 50er Jahre bei den naturwissenschaft-
schiedlichem Theorie- und Praxisbezug. Ih- lich-technischen Fachsprachen im Studien-
ren spezialisierten Beschäftigungen und Ar- und Wissenschaftsbereich, so erweiterte sich
beitsweisen gemeinsam ist der Begriff der das Ausbildungsspektrum danach auch ver-
Fachinformation, d. h. die Notwendigkeit, stärkt auf die praktische technische Berufs-
550 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

ausbildung im Rahmen beginnender interna- Vorbereitung zur Bewältigung von Fachstu-


tionaler Kooperationen und entwicklungs- dien in einer Fremdsprache. Dazu sind die
politischer Maßnahmen (vgl. etwa die Pro- Vermittlung von allgemeinen Studientechni-
gramme der Carl Duisberg-Gesellschaft, ken und eine breite, fächerübergreifende
Köln). Mit der wachsenden Bedeutung der na- Kommunikationsfähigkeit notwendig. Diese
turwissenschaftlich-technischen Fachüberset- Vorbereitung vermittelt z. B. Kenntnisse und
zungen im 20. Jh. kamen in den vergangenen Fertigkeiten im Hinblick auf studienrelevante
Jahrzehnten der Einbezug entsprechender Kommunikationsverfahren (wie Definieren
fachsprachlicher Strukturen und Aspekte in oder Zusammenfassen), auf die Mitschrift
die Übersetzerausbildung sowie die inzwi- und Wiedergabe wesentlicher Vorlesungsin-
schen in Sprachmittler- und Sprachdaten- halte oder auf den Umgang mit Fachlexika.
verarbeitungs-Ausbildungsprogrammen inte- Für den Fachsprachenbedarf im Kontext na-
grierte Terminologieausbildung hinzu. turwissenschaftlich-technisch geprägten be-
Außer in naturwissenschafts- und technik- ruflichen Lernens ist neben der Beherrschung
bezogenen Terminologieinventaren und Ter- funktionaler Sprechtätigkeiten ferner die
minologieverwaltungssystemen sind die ange- Kenntnis von Fachwortschätzen, ihren Struk-
führten Verwendungszusammenhänge in je- turen und Bildungsweisen relevant. Entschei-
der Form sprachlichen und fachlichen Han- dend dabei ist, dass im Sinne der modernen
delns interdependent und äußern sich in auf Fachsprachenlinguistik Fachsprache ganz-
konkrete fachliche Inhalte bezogenen Text- heitlich begriffen wird als die ,Sprache im
sorten und Kommunikationsformen, die als Fach‘. Damit wird die Hinführung in die
spezifische Ausprägungen sowohl wissen- Denk-, Sprach- und Handlungssysteme einzel-
schaftlicher, institutioneller, technisierter als ner Fächer generelle fachsprachendidaktische
auch gruppenbezogener Kommunikations- Zielsetzung.
weisen angesehen werden können. Insofern Der Zugang und die Anwendung, d. h. das
bilden Textsorten- und Sprachhandlungswis- Verstehen von Fachsprache und der Umgang
sen für die angesprochenen Kommunika- mit ihr, sind jedoch immer nur auf einen Aus-
tionsbereiche eine wichtige Basis für die Ver-
schnitt begrenzt. Selbst die einzelfachbezo-
mittlung von Kenntnissen über Textkonven-
gene Kommunikation, so sie sich denn deut-
tionen mit Blick auf den Erwerb fremd-
lich abgrenzen und vollständig beschreiben
sprachlicher Textproduktions- und -rezep-
ließe, kann im Unterricht nur ausschnitthaft
tionsstrategien (vgl. dazu die Beschreibungen
und exemplarisch erarbeitet werden. Von da-
ausgewählter technischer und wissenschaftli-
cher Fachsprachen in den Kapiteln XV/XVI her muss sich der fachsprachliche Unterricht
des Handbuchs Fachsprachen. Languages for zunächst einmal thematisch⫺fachlich be-
Special Purposes, von Hoffmann/Kalverkäm- schränken. Dabei stehen neben diffusen Groß-
per/Wiegand (1998)). bereichen wie Technik oder Wissenschaft zu-
Wenn auch nicht zu allen Fachwissen- nehmend eingeschränktere, genauer umris-
schaften linguistische Untersuchungen vorlie- sene Teilbereiche wie Maschinenbau, Nuklear-
gen, so ergeben sich doch auf Grund über- medizin, Betontechnologie, dazu Spezialge-
greifender Merkmale bei der Realisierung biete in einzelnen Fächern und Berufen.
von Fachkommunikation adressaten- und fä- Arbeitsgrundlage ist deshalb immer der
cherbezogene Vermittlungstypen, die sich in spezifische naturwissenschaftlich-technische
der fachkommunikativen Diversifikation der Fachtext, dessen Auswahl oder Konstruktion
Kurse und Lehrmaterialien niederschlagen, sich nach den konkreten Ausbildungszielen
z. B. Bausteine Fachdeutsch für Wissenschaft- und berufsspezifischen Bedürfnissen richten
ler: Informatik, Heidelberg 1991 (Lesekurs sollte. Deshalb müssen Fachsprachenfor-
zur Erschließung von Hauptinformationen schung und Fachsprachendidaktik zusam-
im Text) oder Praxishilfen für die Bildungsar- menarbeiten, um zu ermitteln, welche kon-
beit mit AussiedlerInnen. Arbeitsbuch Maschi- kreten (und typischen) Texte und Textsorten
nen- und Gerätetechnik, Werkstoffprüfung, für den Erwerb bestimmter Fertigkeiten und
Dortmund 1993 (Stützkurse, Berufsschulun- in bestimmten Ausbildungssituationen einzu-
terricht und fachpraktische Unterweisung). setzen sind. Denn nur an repräsentativen und
Im Bereich der wissenschaftlichen, auch adressatengerechten Texten lassen sich fach-
der naturwissenschaftlich-technischen Aus- spezifische Arbeitsformen bewusstmachen,
bildung, geht es dabei um die sprachliche Informationen begrifflich erfassen und die si-
56. Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte 551

tuations-adäquaten sprachlichen Handlungs- dings verlor auf der einen Seite mit dem Per-
muster vermitteln, die für die jeweils ange- spektivenwechsel der Fachsprachenforschung
strebte Tätigkeit sowie den Sprach- und Wis- vom Terminus zum Text und einhergehend
senserwerb grundlegend sind. mit der zunehmenden Einsicht in die prinzipi-
Vorarbeiten dazu liefert die aktuelle Fach- elle Differenziertheit von Fachsprachen auf
sprachenforschung (s. Fluck 1998) durch die allen linguistischen Ebenen die Fachlexik seit
Erarbeitung und Bereitstellung von technik- den 80er Jahren vorübergehend an Interesse.
und wissenschaftsbezogenen Fachtextcor- Auf der anderen Seite eröffneten sich auch
pora (vgl. Hoberg 1994, 333ff.) sowie durch neue Sichtweisen, insbesondere im Hinblick
Analysen und Beschreibungen von schrift- auf die Vorstellung vom Fachwort als hoch-
lichen wie mündlichen Fachtexten in ihrer kondensiertem Text, auf die Repräsentation,
kommunikationsspezifischen Funktion und das Textbildungspotential und die Verständ-
Situation sowie in ihrer Verwendung sprach- lichkeit von Fachlexik, auf die Objektorien-
licher und textueller Mittel (Textmuster). Be- tierung der Terminologie sowie die Wissens-
sondere Beachtung im Hinblick auf beruf- organisation und Wissensverwaltung durch
liche Verwendungssituationen verdient hier die Verknüpfung von fachlichen und fach-
künftig der mündliche Fachtext, der mit di- sprachlichen, in Begriffen und Benennungen
daktischer Zielsetzung erst allmählich umfas- festgelegten Wissensstrukturen (Picht 1993;
sender untersucht wird. Als Beispiel zu nen- Jahr 1993; Budin 1995).
nen ist die ausländischen Studenten in Generell wird der Fachbezug des Fach-
Deutschland immer wieder Schwierigkeiten wortes dadurch gesichert, dass sein Inhalt
bereitende universitäre Fachvorlesung, die fachspezifisch festgelegt wird, z. B. bleichen
erst jetzt z. B. im ingenieurwissenschaftlichen ,chemische Zerstörung von Farbstoffen in
Bereich linguistisch und didaktisch umfassen- Textilfasern, wodurch die Fasern (bzw. die aus
der untersucht und beschrieben wurde (Mon- ihnen hergestellten Textilwaren) reinweiß wer-
teiro/Rösler 1993; Steinmüller 1995). den‘. Diese inhaltliche Festlegung ist in natur-
wissenschaftlich-technischen Texten von un-
terschiedlicher Strenge, denn die Merkmale
2. Sprachstrukturelle Eigenschaften der Exaktheit, Eindeutigkeit und die anderen
naturwissenschaftlicher/technischer genannten Fachworteigenschaften sind in den
Texte einzelnen Fächern, Textsorten und Verwen-
dungssituationen unterschiedlich ausgeprägt.
2.1. Lexik/Morphologie Die strengste Form der facheigenen inhalt-
Fachwörter (auch Benennung, Bezeichnung, lichen Festlegung in Naturwissenschaft und
Fachausdruck oder Terminus) sind nach allge- Technik ist die Definition. Bedeutungsmäßig
meiner Anschauung von besonderer Wichtig- festgelegte, d. h. definierte Fachwörter, wer-
keit für die naturwissenschaftlich-technischen den teilweise auch als Termini bezeichnet.
Fachsprachen, da sie ⫺ neben graphischen Ihre Aufgabe besteht darin, einen im betref-
Darstellungen ⫺ die Hauptinformationen der fenden Fach exakt definierten Begriff oder
fachlichen Kommunikation tragen und fach- Gegenstand möglichst eindeutig und ein-
liche Bedeutungs- und Wissenschaftsstruktu- namig zu bezeichnen. Dieses Ideal ist aber
ren abbilden. Gegenüber den gemeinsprach- durch die Polysemie vieler Fachwörter auch
lichen Wörtern zeichen sich diese Fachwörter im naturwissenschaftlich-technischen Bereich
vor allem durch ihren fachbezogenen Inhalt nicht in jedem Fall zu erreichen. Deshalb
und ihre weitgehende Kontextautonomie aus. wird in vielen naturwissenschaftlich-techni-
Als weitere Eigenschaften werden in der Lite- schen Fachbereichen versucht, durch Nor-
ratur die Tendenz zu Exaktheit, Eindeutig- mung des Fachwortschatzes (Standardisie-
keit, Begrifflichkeit, Systematik, stilistische rung) eigene Terminologien aufzubauen, z. B.
Neutralität und Ausdrucksökonomie genannt in Form der VDI- oder DIN-Normen.
(vgl. Hoffmann 1976, 308f.). Diese Merkmale Außer durch ihren fachbezogenen Inhalt
bzw. Idealvorstellungen wurden allerdings in unterscheiden sich Fachwörter von gemein-
jüngster Zeit mehrfach einer kritischen Be- sprachlichen Wörtern vielfach zusätzlich
trachtung unterzogen ⫺ mit dem Ergebnis, durch eine abweichende Wortform, z. B. Sie-
dass sie relativiert und kontextbezogen diffe- mens-Martin-Verfahren, Drei-Wege-Kat[aly-
renziert werden müssen (z. B. Berck 1986; sator], DIN A4-Vorlage. Hierzu zählen auch
Kretzenbacher 1991/92; Roelcke 1995). Aller- die von der Gemeinsprache abweichenden
552 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

Mehrzahlformen wie fachsprachlich Muttern übersteigt. D. h. Aufmerksamkeit verdient


(z. B. Sechskant-, Kreuzloch-, Zweiloch-, Nut-, auch der sogenannte allgemeinwissenschaft-
Überwurfmutter) vs. Mütter oder fachsprach- liche Wortschatz, wie ihn Erk (1972/85) um-
lich Stäube (gemeinsprachlich ohne Plural- fassend ermittelt hat.
form). Über den Anteil der einzelnen Wortarten
Innerhalb eines technischen oder naturwis- liegen für die einzelnen Fachbereiche keine
senschaftlichen Fachgebietes erfolgt die gesicherten Daten vor, doch steht aufgrund
Kommunikation immer bezogen auf die Si- von Einzeluntersuchungen fest, dass Sub-
tuation und die Erfordernisse einzelner An- stantive mit rund zwei Drittel aller Stichwör-
wendungsbereiche. Von daher lässt sich der ter und finite Verben mit etwa 10% vertreten
Fachwortschatz auch nach den verschiedenen sind (z. B. Beneš 1981, 192f. und Auswertung
Anwendungssituationen und Kommunika- von Seminararbeiten), d. h. in diesem Bereich
tionsbereichen differenzieren. Eine solche eine relativ hohe textuelle Fachsprachlichkeit
Differenzierung kann zum Beispiel in der besteht. Von großer Bedeutung sind auch die
Verwendung von Kurzformen (z. B. Kat < Wortklassen Adverb, Präposition, Konjunk-
Katalysator) oder in Mehrfachbenennungen tion, Pronomen, Artikel und Partikel.
für denselben Gegenstand innerhalb eines Im Bereich der Wortbildung zeigt die Sich-
Fachbereichs zum Ausdruck kommen, z. B. tung der Ergebnisse von älteren und neueren
gilt in der Textilfertigung für ,textiles Ge- Einzeluntersuchungen (z. B. Reinhardt 1975;
webe‘ qualitativ: Ware, quantitativ: Stück, Spiegel 1979; Zhu 1987; Zhang 1990; Eydam
produktionstechnisch: [Web-]Erzeugnis, Mu- 1992), dass im naturwissenschaftlich-techni-
ster usw. schen Bereich einige Möglichkeiten nicht
Allgemein lässt sich feststellen, dass gegen- (mehr) oder nur selten genutzt werden (z. B.
über der Wissenschaftssprache in der Sprache die Verkleinerungssuffixe -chen und -lein oder
der technischen Praxis die Zahl streng defi- die gemeinsprachlich produktive Substantiv-
nierter Fachwörter abnimmt, da diese Art des ableitung auf -i vom Typ Abi, Krimi usw.), be-
Sprachgebrauchs stärker situativ eingebettet stimmte typische Wortbildungsmuster dage-
ist. Dieser unmittelbare Situationsbezug gen nahezu regelhaft wiederkehren oder be-
(z. B. an einer Maschine, vor einem Zeichen- sonders produktiv sind (z. B. sogenannte Bin-
brett, in einer bestimmten Institution oder destrichwörter, Wortgruppenbildungen oder
Betriebsabteilung) erlaubt u. a. emotionale -ung-Derivate).
Komponenten, wie sie in metaphorischen Als allgemein wichtige produktive Bil-
Fachwortbildungen zum Ausdruck kommen dungsmöglichkeiten gelten in Naturwissen-
(z. B. Fliegende Akzente ,nachträglich über ei- schaft und Technik:
nem Buchstaben per Fotosatz erzeugter Ak- • Fachbezogene Verwendung gemeinsprach-
zent‘) oder in Kurzformen (z. B. Stein < Bau- licher Wörter (Metaphorik, Metonymie,
stein) und gemeinsprachlichen Umschreibun- definitorische Festlegung)
gen (z. B. schneller Brüter ,best. Atomreaktor- • Verwendung von Wortelementen aus ande-
typ‘). Die Doppelterminologie, d. h. sprachli- ren Sprachen (Entlehnung, Lehnüberset-
che Dubletten mit unterschiedlicher Zugehö- zung)
rigkeit zu fachsprachlichen Registern und zu- • Ableitung
meist unterschiedlichen Kontextumgebungen • Bildung von Mehrwortbenennungen (Zu-
(Entrophierung vs. Überdüngung) ist eine vor sammensetzung, Wortgruppe)
allem in Vermittlungstexten häufiger anzu- • Kürzungsverfahren
treffende Erscheinung (vgl. Thurmair 1995,
247ff.). Die Nutzung und Überführung bereits vor-
Verschiedentlich wurde ermittelt, dass in handener Lexeme in den Fachwortschatz, die
einem technischen Text der Anteil der allge- sich oft von Form- oder Funktionsähnlich-
meinwissenschaftlichen und speziellen Lexik keiten der Gegenstände und Vorgänge leiten
(darunter sind sachbezogene Wörter und lassen, spielt in allen Disziplinen von (Na-
Fachwörter zu verstehen bzw. Termini ,nied- tur-)Wissenschaft und Technik eine wichtige
riger‘ und ,höherer‘ Ordnung, d. h. eine Ter- Rolle. Dabei sind drei Hauptverfahren zu un-
minologie ⫺ bezogen auf Fachlichkeit, Be- terscheiden: metaphorischer Gebrauch, Me-
deutungstiefe und Grad der Festlegung ⫺ im tonymie und definitorische Festlegung durch
weiteren oder im engeren Sinne) normaler- Bedeutungsverengung oder -erweiterung. Bei
weise 30% des Gesamtwortschatzes nicht diesen Verfahren kann ein Lexem in mehre-
56. Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte 553

ren Fachsprachen zugleich auftreten, auch Feststellungsdefinition wurden im na-


kann es durch seine Bildhaftigkeit störende turwissenschaftlich-technischen Bereich viele
Assoziationen auslösen oder keine Eindeutig- Grundbegriffe mit einer Benennung versehen,
keit und Durchsichtigkeit erzielen. Deshalb z. B. in der Elektrotechnik Strom, in der Phy-
werden solche Bildungen von Seiten der Ter- sik Zeit, im Bauwesen Brücke, in der Mathe-
minologienormierung nicht geschätzt, doch matik Zahl. Ausschlaggebend für diese Termi-
wurde den Fachsprachen durch diese Verfah- nologisierung eines allgemeinsprachlichen
ren ein beachtliches Reservoir zur Deckung Wortes sind dabei jeweils der fachwissen-
ihres Benennungsbedarfs erschlossen. schaftliche Entwicklungsstand und die fachsy-
Um neue Gegenstände und fachliche Er- stematische Bedeutungszuordnung (vgl. z. B.
scheinungen zu benennen, spielt so die Meta- zur Begriffsbildung und zum Begriffslernen
phorik auch in den technischen Fachsprachen aus dem Schulbereich: Eine Bewegung heißt
eine wichtige Rolle. Je nach Art des der Me- gleichförmig, wenn sich die Geschwindigkeit
tapher zugrundeliegenden Vergleichs lassen nicht ändert. Eine Bewegung heißt beschleu-
sich hier Form-, Funktions-, Bewegungs-, La- nigt, wenn sich die Geschwindigkeit ändert und
gemetaphern usw. unterscheiden oder Diffe- aus dem Praxisbereich: Beim Löten werden me-
renzierungen nach Entlehnungssphäre und tallische Werkstoffe durch ein Lot verbunden.
Analogieart treffen (vgl. Brand 1995, 9ff.). Es entsteht eine unlösbare stoffschlüssige Ver-
Viele dieser bildhaft-anschaulichen Be- bindung).
zeichnungen beziehen sich auf den Bereich des Die Tatsache der Nutzung allgemeiner Ter-
tierischen oder menschlichen Körpers, z. B. mini in spezialisierter Bedeutung in verschie-
Horn, Schnabel; Arm, Knie, Lippe, Kopf (z. B. denen Disziplinen eines Faches verursacht ge-
Schraubenkopf) [Metallverarbeitung]; Elefan- legentlich Polysemie von Fachbezeichnun-
tenrüssel, Fliegenkopf, Hasenohr, Schwalben- gen. So ist z. B. die Bezeichnung Kanal Fach-
schwanz [Schriftsetzersprache]. In geringerem wort der Rundfunktechnik (,bestimmter Fre-
Maße werden auch Tiernamen terminologi- quenzbereich eines Senders‘) und der Infor-
siert (z. B. Frosch, Hahn, Hund, Schnecke). Der matik (,Funktionseinheit, die einen Datenweg
Bildgehalt solcher metaphorischer Bezeich- zwischen einem Steuerwerk und dem Zentral-
nungen verblasst allerdings mit zunehmendem speicher herstellt‘); das Lexem Frosch findet
Gebrauch und die expressiv-emotionalen sich u. a. im Bergbau, in der Textiltechnik, im
Konnotationen gehen zurück (z. B. Brems- Hoch- und Tiefbau sowie in der Elektro-,
trommel, Materialfluss oder Datennetz). Fertigungs- und Drucktechnik. Diese Polyse-
Die Metonymie ist neben der Metaphorik mie wirkt sich in der fachlichen Kommunika-
ein weiteres produktives Mittel zur Bildung tion allerdings kaum störend aus, da den ein-
von Fachbezeichnungen. Produktiv in den zelnen Bezeichnungen entweder attributive
naturwissenschaftlich-technischen Fachspra- oder definitorische Erläuterungen hinzuge-
chen ist insbesondere die Übertragung der Na- fügt werden (z. B. elektrischer Strom) oder
men von Personen auf ihre Entdeckungen, Er- der Kontext Klarheit schafft.
findungen oder technische Verfahren, ohne Ein wesentlicher Teil auch des naturwis-
dass zunächst eine Änderung der Lautform er- senschaftlich-technischen Wortschatzes wird
folgt. Syntaktisch-morphologisch handelt es mit Wortelementen aus fremden Sprachen ge-
sich um einen Wechsel der Wortart (soge- bildet, insbesondere aus dem Lateinischen
nannte Konversion, Nullableitung). Dies be- und Griechischen. Dies gilt nicht nur für ,tra-
deutet, dass die konvertierten Wörter die mor- ditionelle‘ Fächer wie Chemie, Physik oder
phologisch-syntaktischen Funktionen der Medizin, sondern auch für die jüngeren wie
neuen Wortart übernehmen und Zusammen- z. B. Elektrotechnik, Informatik oder Um-
setzungen, Ableitungen und Präfigierungen welttechnik. Durch den Prozess der Interna-
ermöglichen (z. B. Bessemerverfahren, Diesel- tionalisierung der Wissenschaften nimmt die-
motor, Einsteinium [chem. Element nach A. ser Anteil sogar zu. Eine repräsentative Stich-
Einstein], Kilowatt, Vickershärte, Wankelmo- probe für den Bereich der Fachsprache der
tor; voltaisch, dieseln, mendeln, röntgen). Elektrotechnik ergab für das Technik-Wörter-
Hauptmethode aber, um vorhandene Le- buch Elektrotechnik (1967/72) einen Anteil
xeme in den deutschen Fachwortschatz zu von 70,8% internationaler Wortbildungsele-
überführen, ist gerade im naturwissenschaft- mente an allen verzeichneten Termini (Herms
lich-technischen Bereich die definitorische 1978, 66). Reinhardt u. a. (1992) nennen für
Festlegung. Durch eine solche Nominal- oder die deutsche Fachsprache der Technik rund
554 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

500 lateinische und griechische Stammele- Ausdruck ,(Zahnrad) vor dem Einbau leicht
mente, die in technischen Fachwörtern begeg- einfetten‘, umformen ersetzt ,Stoffeigenschaf-
nen, und führen in Form einer Liste rund 90 ten ändern durch Biegen, Schmieden, Ziehen,
fremde Präfixe und Halbpräfixe sowie etwa 60 Walzen‘, verschneiden/Verschnitt ,etwas falsch
fremde Suffixe und deren Schreibvarianten schneiden bzw. fehlerhaft geschnittenes Teil‘,
auf (z. B. anti-, pro-; -är, -ion, -tor usw.). Hinzu zwischenglühen ersetzt ,(ein Werkstück) zwi-
kommen Fachwortübernahmen aus fremden schen zwei Arbeitsvorgängen glühen‘ (vgl.
Sprachen ⫺ heute vor allem aus dem Engli- Spiegel 1979, 28). Und mit Hilfe von Parti-
schen ⫺, die mit technischen Neuerungen oder keln lassen sich technische Vorgänge abstufen
wissenschaftlichen Entdeckungen aus anderen und in ihrer Bedeutung differenzieren, z. B.
Ländern übernommen werden (auch in Norm- vorwärmen ,vorbereitendes Wärmen‘ ⫺ aus-
entwürfe und Normen) und teilweise als Lehn- wärmen ,Wärmen bis zu einem bestimmten
wörter, teils als Fremdwörter weiterleben (z. B. Grad‘. Hier spielen auch fremde Präfixe und
Chip, Computer, Installation, Migrations-Pills, Partikeln, vor allem im Wissenschaftsbereich,
,Faserknötchen‘, User-Interface). eine große Rolle (z. B. destabilisieren, extra-
Bedeutsam in allen Fachsprachen ist auch hieren, translozieren, vgl. detaillierter Rein-
die Wortableitung. So erreichen in wissen- hardt/Köhler/Neubert 1992).
schaftlich-technischen Texten bestimmte Suf- Deutsche Präfixe und Partikeln lassen sich
fixe eine hohe Frequenz und zeigen eine hohe gelegentlich mit fremden austauschen (inter-
Produktivität wie -er, -ung, -heit, -keit sowie molekular ⫺ zwischenmolekular), durchge-
die fremden Suffixe -ion, -ie, tät u. a. hende Konkurrenzen lassen sich jedoch nicht
Unter den Adjektivsuffixen in wissen- nachweisen. Im Bereich Ökotechnik sind
schaftlichen Texten besonders produktiv sind u. a. folgende neue Bildungsmittel produktiv:
z. B. im Erkschen Korpus (1972) ⫺ nach ih- freundlich (umwelt-, reparaturfreundlich), Alt-
rer Reihenfolge ⫺ (1) -isch, (2) -lich, (3) -ig, (Altöl, Altglas, Altstoffe) sowie Mehrweg-
(4) -bar, (5) -los, (6) -haft, (7) -weise und (8) (Mehrwegflasche, Mehrwegsteige, Mehrweg-
-mäßig. Dazu als fremde Suffixe (1) -al, (2) system) und das gegensätzliche Einweg- (Ein-
-iv, (3) -ell, (4) -ent und (5) -är (Mentrup wegflasche) (Toschi 1994, 109f.); selten be-
1978, 66). Im technischen Bereich spielen die gegnen dagegen Ableitungen auf -e vom Typ
Suffixe -bar, -haft, -lich und -sam sowie -los Wichte f.
und -frei eine bedeutende Rolle (vgl. die VDI- Sehr produktiv im Deutschen und sehr häu-
Richtlinien 2270/1963 und 2273/1965). Be- fig in der naturwissenschaftlich-technischen
achtenswert ist in diesem Zusammenhang Fachsprache verwendet wird das Mittel der
noch die Fähigkeit verschiedener Suffixbil- Wortzusammensetzung. Dabei gilt im nomi-
dungen terminologische Oppositionen zu nalen Bereich das Kompositum als das meist-
bilden wie Rohteil/Halbfertigteil/Fertigteil, genutzte Wortbildungsprinzip, wobei am häu-
sauerstoffreich vs. sauerstoffarm, lösbar (was figsten zweigliedrige Komposita auftreten
gelöst werden kann) vs. löslich (was sich löst) (Ischreyt 1965, 177ff.; Herzog 1969, 2; Spiegel
oder zur sog. technischen Graduation beizu- 1979, 26). In aktuellen Untersuchungen diver-
tragen (z. B. fest ⫺ hochfest, genau ⫺ passge- ser technischer Fachbereiche im Rahmen stu-
nau). dentischer Seminararbeiten (TUD) lagen die
Produktive und semantisch weitgehend ermittelten Werte bei 50 bis 80%, wie der
neutrale Suffixe zur Bildung von Verben folgende Auszug aus der Wortliste (Abb. 56.1)
sind -en (faxen) sowie die Suffixerweiterung eines Lehrbuchtextes (1987) für die Grund-
-ieren (formatieren) und die Suffixelemente stufe im Bereich Installation/Metallbau ver-
-isieren und fizieren (automatisieren, kristalli- deutlicht (die Zahlen geben die Frequenzen im
sieren, elektrifizieren, klassifizieren). Text an).
Präfix- und Partikelbildungen sind vor Die Zusammensetzung wird in der Fach-
allem für den verbalen technischen Wort- sprache der Naturwissenschaft und Technik
schatz kennzeichnend und weisen dort eine deshalb gerne verwendet, da man mit ihrer
hohe Frequenz auf (z. B. an-, ein-, durch-, Hilfe neben differenzierenden Aussagen auch
zer-, absägen). Ihre Leistung besteht in der sprachökonomische Ziele (d. h. möglichst
Differenzierung und Verdeutlichung von Vor- viele Informationen mit möglichst wenigen
gängen; außerdem haben sie eine große Worten zu vermitteln sowie die Übersicht-
sprachökonomische Wirkung, indem sie die lichkeit der Darstellung) erreichen kann. Ei-
Satzmodelle vereinfachen. Zum Beispiel er- nerseits wird der sonst durch längere und um-
setzt (Zahnrad) anfetten den sprachlichen ständlichere Konstruktionen (z. B. präposi-
56. Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte 555

1 Metallrohren 3 Rohrenden 1 Verbinden


1 Mit 1 Rohrinnere 2 Verbindung
1 Muffen 1 Rohrinnern 1 Verbindungen
2 Möglichkeit 1 Rückstände 2 Verbindungsstelle
3 Nach 1 Scheinwerfereinsätzen 2 Verbindungsstellen
1 Nacharbeit 2 Schmelztemperatur 1 Verbindungstelle [sic]
1 Nachteile 2 Schmelztemperaturen 1 Verbindungstellen [sic]
1 Naht 1 Schmirgelleinen 1 Vergleich
1 Neben 1 Schweißbrenner 1 Vor
1 Ob 2 Schweißen 1 Vorzüge
1 Oxidschichten 1 Schwerkraft 1 Wann
1 Pinsel 1 Silberlot 2 Warmwasserinstallation
1 Prinzip 1 Spalt 1 Warmwasserleitungen
1 Profile 1 Spenglerei 1 Was
2 Propan-Luft-Brenner 1 Spülen 6 Weichlöten
1 Rauchwölkchen 1 Stahlblechen 1 Werkstoff
1 Reihenfolge 1 Stahlwolle 2 Werkstoffe
1 Richtig 1 Teile 6 Werkstücke
1 Rohrbürste 1 Temperaturbeständigkeit 1 Werkstücken
1 Rohre 1 Titanzinkblechen
3 Rohrende 1 Unterlage

Abb. 56.1: Produktivität der Wortzusammensetzung im Bereich Naturwissenschaften/Technik (Grundstufe


Installation/Metallbau).

tionale Fügungen, Attribute, Appositionen, gedämpfte Bauweise, selbstbohrende Blech-


Relativsätze usw.) zu umschreibende Begriff schraube (vgl. Zhang 1990). Zu erwähnen sind
durch die Zusammensetzung in einer Benen- in diesem Zusammenhang die für den techni-
nung ökonomisch zusammengefasst, ande- schen Bereich typischen mit Gerundiv (wie
rerseits wird die Flektion für die nominalen querliegend und selbstbohrend) oder mit Parti-
Komposita vereinfacht. Denn es wird nur zipien gebildeten zusammengesetzten Adjek-
noch der zweite Bestandteil des Komposi- tive (wie die produktiven Partizipialbildungen
tums flektiert, so dass diese Art der Mehr- vom Typ -gesteuert [computergesteuert, signal-
wortbenennung auch dann noch eher sprach- gesteuert usw.], spiralverzahnt, wendelgenutet
ökonomisch ist, wenn sie sich von der Wort- oder rollennahtgeschweißt).
gruppe im äußeren Umfang kaum unter- Neben der Extension im Wortschatz hat
scheidet (vgl. Spiegel 1979, 27). auch die Verkürzung der sprachlichen Aus-
In der naturwissenschaftlich-technischen drucksformen bzw. der Wörter in unserem
Fachsprache treten neben zweigliedrigen auch wissenschaftlich-technischen Zeitalter bei dem
relativ oft drei- und mehrgliedrige Komposita großen Bedarf an neuen Wörtern eine früher
auf. Diese vielgliedrigen Zusammensetzungen
unbekannte Dimension angenommen. Ins-
wie Drehstromkurzschlussläufermotor, Loch-
besondere in den wissenschaftlich-technischen
kartenziehkartei, Spannungs-Dehnungs-Dia-
gramm zählen zu den auffälligen Kennzeichen Fachsprachen stellt die Verkürzung der
der technischen Fachsprachen. Überlange sprachlichen Ausdrucksformen als Folge der
Fachwörter (z. B. 2-C-Vierzylinder-Verbund- Tendenz zur Vereinfachung und Sprachöko-
Heißdampf-Schnellzuglokomotive, Schmalrol- nomie ein produktives und aktives Wortbil-
len - Glühband - Längsbrenn - Schneidmaschine) dungsverfahren dar. Zu unterscheiden sind
sind jedoch selten. hier zwei grundlegende Kürzungsverfahren,
Im Deutschen sind daneben auch Wort- die man als mechanische Kürzung (z. B. D/A-
gruppen mit Terminuscharakter vorhanden. Wandler < Digital-Analog-Wandler, Frästisch
Darunter versteht man mindestens zwei ge- < Fräsmaschinentisch, LKW < Lastkraftwa-
trennt geschriebene, aber syntaktisch verbun- gen) und als semantische Kürzung (z. B. Rech-
dene Wörter, z. B. Härteprüfung nach Rock- ner < Rechenanlage-/-maschine) bezeichnen
well, höhenverstellbares Lenkrad, schall- kann.
556 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

Gezielte Terminologiearbeit ist dann not- und Nebenordnung (wie natürliche/künstliche


wendig, wenn die fachliche Verständigung Werkstoffe) unterscheiden. Dagegen sind on-
fachintern, interfachlich und international tologische Beziehungen zwischen Begriffen
gesichert werden soll. Sie besteht in der Be- mittelbar und bestehen zwischen den Indivi-
standsaufnahme, Vereinheitlichung und Wei- duen, die unter die entsprechenden Begriffe
terentwicklung der Fachwortschätze. Die ver- fallen. Sie drücken räumliche oder zeitliche
bindliche Festlegung oder Empfehlung von Berührung und ursächliche Zusammenhänge
Fachbezeichnungen für bestimmte Gegen- aus. Dabei gibt es Bestandsbeziehungen zwi-
stände, wissenschaftlich-technische Sachver- schen zwei und mehr Begriffen mit Bestands-
halte und Verfahren erfolgt in Normblättern, unterordnung (z. B. Typendrucker, Parallel-
die von verschiedenen Institutionen (DIN, drucker) oder Bestandsnebenordnung (z. B.
ISO) erarbeitet werden. Typenkettendrucker, Typenwalzendrucker). Die
Die Normblätter folgen bestimmten Benen- Einordnung von Begriffen in die beiden ge-
nungsgrundsätzen, wie sie in den Normblät- nannten Begriffssysteme ist charakteristisch
tern „Begriffe und Benennungen. Allgemeine für die Denk- und Darstellungsweise natur-
Grundsätze“ (DIN 2330/1979) oder „Princi- wissenschaftlich-technischer Fächer. Diese ist
ples and Methods of Terminology“ (ISO 704/ teilweise kulturspezifisch ausgeprägt, so dass
1987) vorliegen. Diese Grundsätze beruhen es bei der Festlegung von Merkmalshierar-
auf der Vorstellung, dass der Sprache als ei- chien zu semantischen Abweichungen zwi-
nem System von Benennungen ein System von schen Benennungen der Zielsprache und der
Begriffen zugrunde liegt. Diesem Begriffs- Ausgangssprache kommen kann, z. B. bei der
system wird dann ein Benennungssystem zu- Merkmalsbestimmung und -zuordnung von
geordnet, wie das folgende Beispiel (Abb. Hartpapier und Leiterplatte im Deutschen
56.2) zur Einteilung der Werkstoffe zeigt: und Chinesischen (Abb. 56.3).

Einteilung der Werkstoffe

Werkstoffe

Metalle Verbundstoffe* Nichtmetalle

Eisenmetalle Nichteisenmetalle natürliche künstliche


Werkstoffe Werkstoffe

Stahl Gußwerkstoffe Leichtmetalle Schwermetalle

Baustahl Gußeisen z.B. z.B. z.B. z.B.


Werkzeugstahl Stahlguß Aluminium Gold Stein Kunststoff

* Verbund(werk)stoffe bestehen aus mehreren Einzel(werk)stoffen mit ihren unterschiedlichen Eigenschaften.


Verbund(werk)stoffe sind z.B. Beton, Hartmetall.

Abb. 56.2: Begriffssystematik und Benennungssystem (Werkstoffe).

Die hier verdeutlichte systematische Dimen- Wegen der großen Bedeutung systematischer
sion der Fachlexik beruht auf logischen und Gliederungen dieser Art stehen daher der Be-
ontologischen Begriffsbeziehungen. Die logi- griff „Begriff“, die Bildung und Ordnung von
schen Beziehungen zwischen den Begriffen Begriffen sowie die Definition und Defini-
sind unmittelbar und bestehen im Grad tionsverfahren an erster Stelle der Grund-
und der Ähnlichkeit. Dabei lassen sich Un- sätze zur praxisbezogenen Terminologiear-
terordnung (wie Metalle, Nichteisenmetalle) beit.
56. Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte 557

Deutsch Chinesisch
Einschränkende Merkmale
Leiterplatte ↔ yin shua dian lu ban ( )
(Bestandsteil) \ (Herstellungsverfahren)
Einschränkende Merkmale
Hartpapier ↔ jiao zhi ban ( )
(Physikalische Eigenschaft) \ (Material)

Abb. 56.3: Kulturspezifisch geprägte Bestimmung und Zuordnung von Begriffsmerkmalen (deutsch-chine-
sisch).

2.2. Syntax einer Reduktion der gemeinsprachlichen syn-


Zwar kann man nicht generell von einer eige- taktischen Mittel führen.
nen fachsprachlichen Syntax sprechen, doch Es wäre allerdings falsch, ein zu einheitli-
führen die bisherigen Forschungsergebnisse ches Bild der Syntax in Fachtexten zu entwer-
zu dem Schluss, dass sich die syntaktischen fen, denn die Sprache der Technik oder der
Mittel in technischen und naturwissenschaft- Naturwissenschaften oder den naturwissen-
lichen Fachtexten in ihrer Frequenz und Ver- schaftlich-technischen Fachtext gibt es nicht,
wendungsweise von der Sprachverwendung wie zahlreiche Einzeldarstellungen und ver-
in nicht-fachbezogener Kommunikation teil- gleichende Untersuchungen gezeigt haben
weise erheblich unterscheiden und in einem (z. B. Hoffmann 1976; Schwanzer 1981; Ey-
relativ geschlossenen System zusammenfas- dam 1992; Göpferich 1995a).
sen lassen. Neben fachlich bedingte Unterschiede tre-
Dies gilt insbesondere für die bisher am ten textsortenbedingte Unterschiede in der
ausführlichsten untersuchte schriftliche Kom- syntaktischen Gestaltung von Fachtexten.
munikation im theoretisch-fachlichen Bereich Fachzeitschriften für Physik und Chemie un-
wissenschaftlicher Fachsprachen, für die in- terscheiden sich z. B. in der Komplexität prä-
zwischen eine eigene Grammatik für den Ler- positionaler Wortgruppen mit einem Verbal-
nenden vorgelegt wurde (Fuhr 1989). Hier substantiv als Kern nach Zahl und Art der
begegnen nicht nur gemeinsame Merkmale in nachgestellten Attribute von entsprechenden
den verschiedenen wissenschaftlichen und Lehrtexten, chemiebezogene Labordiskurse
technischen Disziplinen (vgl. z. B. Beneš von Versuchanleitungen im Einsatz und der
1981, 187ff.), sondern es konnten auch weitge- Handlungsqualität der Passivverwendung
hende syntaktisch-stilistische Gemeinsamkei- (Chen 1995). Hinzu treten Unterschiede zwi-
ten und Übereinstimmungen zwischen den schen schriftlicher und mündlicher fachbezo-
verschiedenen nationalsprachlichen Wissen- gener Kommunikation, die erst allmählich er-
schaftssprachen (Englisch, Französisch, Rus- forscht werden (vgl. Lenz 1989, Munsberg
sisch u. a.) festgestellt werden. Genannt seien 1994).
die Vorliebe für Nominalisierungen, verbun- Typisch für viele naturwissenschaftlich-
den mit der Verwendung bedeutungsarmer technische Texte ist eine starke Verkürzung
oder bedeutungsgeminderter Verben und be- der Satzlänge, die aus der Neigung zur Kom-
stimmter syntaktische Strukturwörter. Außer- primierung der Darstellung resultiert (z. B.
dem ist auf die Bevorzugung von Passiv-, Par- Ausdruck eines Relativsatzes durch eine Zu-
tizipial- und Infinitivkonstruktionen hinzu- sammensetzung, Realisierung einer sonst
weisen, um Zeit, Ursache, Mittel, Bedingun- durch einen Nebensatz formulierten Aussage
gen, Ziel und Folge auszudrücken (z. B. Stein durch eine präpositionale Wortgruppe; vgl.
1993; Baakes 1994; Chen 1995). Beneš 1981, 189f.; Möslein 1981, 303ff.).
Die genannten Tendenzen beruhen auf der Mit der Satzverkürzung verbunden ist ein
Sachbezogenheit und dem Bestreben nach Rückgang der Satzgefüge, die in der heutigen
Klarheit und Ökonomie, die Merkmale aller Wissenschaftssprache einen durchschnitt-
naturwissenschaftlich-technischen Fachtexte lichen Anteil von weniger als 40% einnehmen.
sind. Diese drücken sich außer in verschiede- Üblicherweise enthält ein Satzgefüge nur
nen Formen der Entpersönlichung (vgl. Kre- 1⫺2 Nebensätze, die überwiegend paratak-
sta 1995) z. B. noch in der starken Nutzung tisch miteinander verbunden sind.
von Attribuierungsmöglichkeiten aus, die zu Auffällig ist die Häufigkeit des einfachen
geradlinigen Satzstrukturen und insgesamt zu Satzes mit ca. 40⫺50%. Er wird jedoch ge-
558 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

kennzeichnet durch starke Erweiterungen und men, nämlich vorwiegend auf die gegen-
Auffüllungen, die dem Bestreben der fach- standsbezogene und neutrale 3. Pers. Singu-
sprachlichen Kommunikation nach Deutlich- lar und Plural, während die anderen Perso-
keit und Ökonomie entgegenkommen. In der nalformen ⫺ auch aus Gründen der Redun-
Wissenschaftssprache dominiert der vollstän- danz ⫺ selten oder nie auftreten.
dige Satz mit einem finiten Verb gegenüber el- In Bezug auf Tempus, Modus und Genus
liptischen Satzgebilden, die vor allem in be- gelten folgende Analyseergebnisse: In der na-
stimmten Textsorten wie Laborberichten auf- turwissenschaftlich-technischen Kommuni-
treten (vgl. Beneš 1981, 191). Bei den Satzar- kation wird das Präsens bevorzugt, weil zu-
ten dominiert der Aussagesatz, während Fra- meist allgemeingültige Sachverhalte ausge-
ge-, Ausrufe- und Befehlssatz dagegen höchst drückt werden, die an keine objektive Zeit ge-
selten und zudem nur mit eingeschränkten bunden sind. Der Gebrauch des Präteritums
Funktionen vorkommen (z. B. Fragesatz als ist dagegen von der Fachtextsorte und dem
Themaformulierung oder rhetorische Frage). jeweiligen Fachgebiet abhängig. Beim Kon-
Erwähnenswert ist in diesem Zusammen- junktivgebrauch lassen sich nicht nur quanti-
hang, dass naturwissenschaftlich-technische tative, sondern auch qualitative Einschrän-
Fachtexte auch in Bezug auf die Valenzstruk- kungen beobachten. Hochfrequent und ein
tur charakteristische Merkmale aufweisen ebenso unentbehrliches wie funktionsge-
(z. B. höhere Ausnutzung der Fähigkeit des rechtes Ausdrucksmittel der deutschen Fach-
finiten Verbs, obligatorische und fakultative sprache sind die Passivfügungen in techni-
Ergänzungen an sich zu binden). Insgesamt schen Texten, da hier gegenüber gemein-
lässt sich feststellen, dass in wissenschaftlich- sprachlichen Texten der Gegenstand, das Ziel
technischen Fachtexten gegenüber der Ge- oder das Ergebnis einer Handlung im Vorder-
meinsprache eine Tendenz zur Reduktion grund stehen (Entpersönlichung, Verallge-
und damit zur Vereinheitlichung der Verbva- meinerung).
lenz besteht. Dies bedeutet für den Satzbau, Während beim Vorgangspassiv ein Prozess
dass man häufig gleiche oder ähnliche Satz- im Mittelpunkt steht, ermöglicht das Zu-
strukturen findet, die auf einer begrenzten standspassiv die Darstellung eines erreichten
Zahl produktiver Satzbaupläne beruhen (vgl. Zustandes bzw. eines Prozessresultats.
Fluck u. a. 1997, 85f.). Neben der Hervorhebung der Zielgröße ei-
Als weiteres syntaktisch-stilistisches Merk- ner Handlung kommen die Funktionen des
mal in naturwissenschaftlich-technischen Passivs den sprachlichen Bedürfnissen der
Fachtexten gelten der Rückgang der Verben Wissenschaftler und Techniker noch auf an-
und die Bevorzugung der Substantive. Unter dere Weise entgegen. Passivfügungen in der
semantischem Aspekt dominieren die bedeu- Fachkommunikation erlauben:
tungsschwachen Verben wie zeigen, liegen, • Darstellung der Allgemeingültigkeit
machen usw. • Betonung des sinntragenden Verbs
Bedeutungsschwache Verben sind vorwie- • Auslassen des Urhebers (des Agens)
gend sog. Funktionsverben, die mit einer No- • Differenzierte Darstellung des Handlungs-
minal- oder Präpositionalphrase ein Funk- trägers, der Methode und des Mittels
tionsverbgefüge bilden. Diese weisen in der • Betonung einer bestimmten Handlungs-
naturwissenschaftlich-technischen Fachspra- qualität (z. B. Kommentieren, Akzentuie-
che spezifische Leistungen auf: Sie dienen der rung einzelner Tätigkeitsphasen)
Entpersönlichung und der Ausdifferenzie- • Ausgleich eines unvollkommenen Wortart-
rung der Aktionsarten (z. B. inchoativ, dura- wechsels
tiv, resultativ). Um der Monotonie passivischer Satzkon-
Auffälliges Charakteristikum der natur- struktionen zu entgehen (wenngleich die Form
wissenschaftlich-technischen Fachsprache ist der Wiederholung in den Bereichen Syntax
auch die Häufung von Nominalisierungen und Terminologie in Fachtexten einen von der
(z. B. Verbalabstrakta wie Substantive auf Gemeinsprache abweichenden stilistischen
-ung, substantivierte Infinitive, nominale Stellenwert besitzt), werden gern passivische
Gruppen: die Bohrung, das Einlesen, Isola- Ausdrucksmittel wie Fügungen mit man,
tionsversagen, beim Erhitzen). Funktionsverbgefüge, Infinitivkonstruktio-
Wegen der Besonderheit der naturwissen- nen oder Reflexivfügungen als Ersatzformen
schaftlich-technischen Kommunikation be- eingesetzt (PVC kann man verformen, PVC
schränken sich die verschiedenen Verbalkate- kann verformt werden, PVC lässt sich verfor-
gorien in den Fachtexten auf bestimmte For- men, PVC ist verformbar).
56. Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte 559

Im Hinblick auf den Ausdruck von Modali- Für die naturwissenschaftlich-technische


tätstypen wie Gewissheit, Ungewissheit, Ver- Sprache sind außerdem noch mit Blick auf
mutung, Bedingtheit, Notwendigkeit, Forde- den Aufbau des Einzelsatzes folgende spezifi-
rung, Möglichkeit oder Unmöglichkeit domi- sche Merkmale bestimmend:
niert in naturwissenschaftlich-technischen
Texten der Indikativ. Hinter der meist allge- ⫺ häufiges Vorkommen freier Umstandsan-
meingültigen Darstellung gesetzmäßig ablau- gaben, die oft Mittel/Urheber, Zeit, Raum
fender Prozesse oder der exakten Beschrei- oder Art und Weise bezeichnen;
bung von Gegenständen, Zuständen u. ä. tritt ⫺ häufiger Einsatz sogenannter sekundärer
die persönliche Stellungnahme zurück und Präpositionen (z. B. angesichts, hinsicht-
entsprechend werden die Konjunktivanteile lich, ungeachtet) oder Präpositionalfügun-
und der Anteil des Imperativs reduziert. gen (z. B. auf Grund, mit Hilfe, im Hinblick
In naturwissenschaftlich-technischen Tex- auf), die der semantischen Differenzie-
ten wird der Konjunktiv relativ häufig in der rung dienen;
Zitation und zum Ausdruck der Subjektivität ⫺ Bildung von nominalen Gruppen mit
im Nebensatz gebraucht. Außerdem wird der Hilfe von Präpositionen (am häufigsten
Konjunktiv I häufig in Verbindung mit dem bei, durch, zu, nach und mit), die Neben-
Pronomen man in Gebrauchsanweisungen, sätze ersetzen;
mathematischen Aufgaben usw. etwa zum ⫺ zwischen den nominalen Gruppen (Prä-
Ausdruck einer Aufforderung verwendet: positionalgruppe) und den Nebensätzen
Man berechne die Lösungen der Gleichung … (Konjunktionen) lassen sich durch Para-
Ein spezifischer Konjunktivgebrauch in der phrasierung feste Beziehungen ableiten
Mathematik erfolgt bei Setzungen (x sei eine (Möslein 1981, 290). Dabei führt der Ge-
natürliche Zahl) und bei der Angabe von An- brauch von Präpositionalgruppen zu einer
nahmen/Voraussetzungen (Sei i > 0 vorgege- teilweise extremen syntaktischen Kom-
ben. d bezeichne die Zahl mit …). primierung und Informationsverdichtung
Im Unterschied dazu wird der Konjunktiv (z. B. „Hilfsbremsanlage Ermöglicht es
II mathematisch zur Darstellung von Kon- dem Fahrzeugführer, abstufbar die Ge-
traposition (Muster: Ist A, so ist auch B. schwindigkeit oder die Geschwindigkeits-
Denn: Wäre B, so wäre auch A.) und indi- änderung eines Fahrzeugs bei einer Stö-
rektem Schluss verwendet (Muster: A gilt rung in der Betriebsbremsanlage zu ver-
nicht. Denn: Wäre A, so auch B. Aber B gilt ringern oder das Fahrzeug zum Stillstand
nicht). Im wissenschaftlich-technischen Be- zu bringen“).
reich dient er der Kennzeichnung eines nicht ⫺ Tendenz zur Vervielfachung und Reihung
vorhandenen oder unrealisierbaren Sachver- der Satzglieder, oft in Form einer Aufzäh-
haltes (z. B. Die Kühlflüssigkeit träte durch die lung, die zur übersichtlichen Darstellung
Öffnung D in den Kolbeninnenraum ein.), dient. Als lexikalische Gliederungs- und
während er im Konditionalsatz häufig un- Verknüpfungsmittel dienen Ziffern (1 …
mögliche oder unerwünschte Sachverhalte 2 …) oder Zahlwörter (erstens, zweitens
ausdrückt (z. B. Wenn die Temperatur den …), Buchstaben (a … b …) und Doppel-
Punkt A überschritte, träte eine [uner- konjunktionen (einerseits ⫺ andererseits;
wünschte] Veränderung der Werkstoffeigen- wenn ⫺ dann).
schaften ein.). ⫺ Erweiterung des Einzelsatzes durch zahl-
Zur Kennzeichnung der Modalität wer- reiche Einschübe (Parenthesen), die
den in der naturwissenschaftlich-technischen gleichfalls zur syntaktischen Komprimie-
Kommunikation außerdem lexikalische Mit- rung und zur Informationsverdichtung
tel verwendet, vor allem Modalpartikeln beitragen. Solche Parenthesen, die gra-
(vielleicht, angeblich usw.), Präpositional- phisch durch Klammern, Gedankenstri-
gruppen (z. B. meiner Auffassung nach), Ad- che u. a. gezeichnet sind, enthalten Text-
jektive mit modaler Bedeutung (z. B. möglich, verweise oder bilden eine Art Kommentie-
notwendig), Ausdrücke in Satzform (z. B. man rung des vorangehenden Textes.
vermutet, dass …), Wortbildungsmittel wie ⫺ weitere Auffüllung des Einzelsatzes durch
das Suffix -bar (z. B. spanend bearbeitbar Attribute und Appositionen, wobei die
,kann zerspant werden‘) und Attribute mit Möglichkeiten der Attribuierung äußerst
modalem Charakter (z. B. dehnbare Werk- vielfältig sind.
stoffe). Neben ihrer modalen Komponente
enthalten auch diese Mittel teilweise Mög- Als wesentliches Kennzeichen des fach-
lichkeiten zur syntaktischen Komprimierung. sprachlichen Satzbaus wird in diesem Zusam-
560 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

menhang die strenge Thema-Rhema-Gliede- bestimmte Textsortenverwendung für ein-


rung angesehen, d. h. eine solche Anordnung zelne Ingenieurgruppen als typisch anzusehen
der Satzglieder, dass ihr Mitteilungswert ist ⫺ je nach deren Aufgabenstellung und
zum Satzende hin ansteigt (auch funktionale Einsatzgebieten. So ergeben sich z. B. aus der
Satzperspektive genannt). Diese objektive Sicht des Maschinenbaus folgende primäre
Thema-Rhema-Abfolge äußert sich in der Zusammenhänge zwischen Arbeitsgebieten
Wortfolge, z. B. in der Ausklammerung oder und der Produktion/Rezeption relevanter
in der Verlegung des Subjekts zum Satzende schriftgebundener Fachtextsorten:
hin, und ist mitverantwortlich für die Wahl
z. B. der nominalen Ausdrucksweise, des Pas- Forschungs- ⫺ (Versuchs)-Protokoll
sivs und des erweiterten Partizipialattributs ingenieur ⫺ (Labor-)Bericht
(vgl. z. B. Chen 1995). Damit verbunden ist
Konstruktions- ⫺ Beschreibung
die große Zahl anaphorischer Elemente am
ingenieur ⫺ (Konstruktions-)Katalog
Beginn fachsprachlicher Sätze, die den
⫺ Gebrauchsanweisung
thema-rhema-orientierten Textaufbau mitbe-
stimmen. Als wichtige satzübergreifende all- Patentingenieur ⫺ Tabellenwerk/DIN-Norm
gemeine Merkmale, die der kommunikativen ⫺ Patentschrift
Gliederung dienen, sind noch die Genauig- ⫺ Antrag
keit und Vollständigkeit der fachsprachlichen Sicherheits- ⫺ Vorschrift
Äußerung und ihrer thematischen Fixierung ingenieur ⫺ Verordnung
zu nennen. ⫺ Gutachten
Betriebs-/Ferti- ⫺ Verordnung
3. Textsorten- und Diskursmerkmale gungsingenieur ⫺ Anleitung
⫺ Beschreibung
Für zahlreiche einzelne Fachtextsorten zeich- Montage- ⫺ Handbuch
nen sich inzwischen spezifische ,Textbau- ingenieur ⫺ Anleitung
pläne‘ ab, die für den fachorientierten Fremd- ⫺ Beschreibung
sprachenunterricht relevant sind. Entspre- Vertriebs- ⫺ Prospekt
chende text- und pragmalinguistisch orien- ingenieur ⫺ technischer Werbetext
tierte Arbeiten liegen vor z. B. für [auch] ⫺ Katalog
naturwissenschaftlich-technische ,Abstracts‘ ⫺ (Vertrag)
von wissenschaftlichen Zeitschriftenaufsätzen
(vgl. Fluck 1988, Kretzenbacher 1991; Olden- Verwaltungs- ⫺ Katalog
burg 1992) und für technische Instruktions- ingenieur ⫺ Vordruck/Formular
texte (vgl. Liang 1988, Krings 1996). Abge- Abb. 56.4: Arbeitsgebiete und Textsortenvorkom-
schlossen oder in Arbeit sind weitere, noch men im Bauingenieurwesen.
stärker empirisch fundierte und an repräsen-
tativeren Textcorpora vorgenommene Analy- Bezogen auf entsprechende Studientexte des
sen, die sich u. a. auf die Zusammenhänge Faches (hier entsprechend dem Studienauf-
zwischen semantischer und thematischer bau an der TU Darmstadt), ließen sich dann,
Textstruktur sowie auf die Beziehungen zwi- je nach Schwierigkeitsgrad und Spezialisie-
schen fachlichen Kommunikationsinhalten rungsstufe, z. B. zunächst folgende Klassifi-
und -abläufen sowie ihrer fachsprachlichen kationen vornehmen:
Realisierung in Texten und Diskursen konzen-
trieren, auch in interkultureller und didakti-
scher Perspektive (z. B. Hoberg 1994; Muns- Schwierigkeitsgrad Spezialisierungsstufe
berg 1994; Steinmüller 1995). Dabei wurde
wiederholt festgestellt, dass bei bestimmten Stufe Stufe
Textsorten mit soziokulturell determinierten 1 Texte aus dem Grundfachstudium
unterschiedlichen Informationsanforderun- (A-Bereich) 1 Einführungstexte
gen und Darstellungskonventionen (z. B. ter- 2 Texte aus dem Hauptfachstudium
minologische Isotopien oder Teiltextstruktu- (B-Bereich) 2 Grundlagentexte
rierungen bei Bedienungs- und Montageanlei- 3 Texte aus dem Vertiefungsstadium
tungen) zu rechnen ist. (C-Bereich) 3 Vertiefungstexte
Im Rahmen des Darmstädter Projekts
„Textdatenbank Deutsch ⫺ Chinesisch“ wur- Abb. 56.5: Möglichkeit studienbezogener Fachtext-
de u. a. festgestellt, dass im Deutschen eine klassifikation.
56. Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte 561

Eine weitere Unterteilung müsste dann ent- Technik, Abgrenzungen nur insoweit sinnvoll
sprechend den Textsorten erfolgen, hier bezo- leisten können, als sie pragmatisch orientierte
gen auf die studienrelevanten Hauptlehr- Zielsetzungen haben, d. h. z. B. fächer-, insti-
werke wie Lehrbuch, Handbuch, Fachbuch, tutions-, ausbildungs- oder tätigkeitsbezogen
Skript, Lexikon, Fachzeitschrift(enartikel) angelegt sind. Daher ist die weitere Erarbei-
oder Gesetzestext/Vertrag. Dabei ist zu be- tung von Textsortenschemata aus der Sicht
achten, dass viele Lehrwerke multifunktional z. B. der einzelnen Sachfächer, der Linguistik
angelegt sind und außer als sachinformieren- oder der (Fremd-)Sprach(en)didaktik ebenso
des Lehrbuch insbesondere auch als Arbeits- wünschenswert wie die weitere Verfolgung in-
und Übungsbuch, Materialsammlung, Merk- tegrativer und mehrdimensionaler Ansätze.
heft und Nachschlagewerk konzipiert sind Durch zahlreiche textuelle Berührungen und
(vgl. Bleichroth 1991, 308). Überschneidungen werden eindeutige Zuord-
Für den Ingenieur im Beruf, den Fachwis- nungen des einzelnen Textexemplars nach wie
senschaftler sowie für den naturwissenschaft- vor schwierig bleiben.
lich-technischen Übersetzer kämen weitere Dennoch ist festzuhalten, dass wir es ge-
Fachtexttypen hinzu, wie sie sich aus den rade in den naturwissenschaftlich-techni-
vorgenannten beruflich-institutionellen Zu- schen Fächern häufig mit relativ klar ab-
sammenhängen ableiten lassen. Auf dieses grenzbaren Fachtextsorten zu tun haben.
breitere Textsortenspektrum zielt mit Blick Dies zeigt sich teilweise schon in expliziten
auf eine übersetzungsbezogene Textdaten- Textbezeichnungen wie Laborbericht, Ver-
bank der typologische Entwurf von Göpfe- suchsprotokoll oder Konstruktionskatalog, die
rich (1995b, 20), der auch als Ablaufschema auf spezifische Tätigkeitsfelder und fachliche
der entsprechenden Datenbankstruktur für Handlungsmuster verweisen. Außerdem ha-
Textsorten aus den Naturwissenschaften und ben vorliegende Untersuchungen ergeben,
der Technik zu sehen ist (Abb. 56.6). dass wir es im Bereich von Naturwissenschaft
Unsere Beispiele zeigen, dass Texttypolo- und Technik mit formal meist streng geglie-
gien, auch im Bereich Naturwissenschaft und derten Texten zu tun haben, entsprechend

Abb. 56.6: Fachtexttypologie und zugleich Menühierarchie in einer Datenbank für Textsorten aus den Natur-
wissenschaften und der Technik (Göpferich 1995b, 20).
562 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

dem jeweiligen fachlichen Bemühen um in- zu ermöglichen (z. B. bei der Formulierung
haltliche Systematik und Differenzierung (vgl. von ,Abstracts‘). Insofern ist ein bestimmtes
z. B. Weich- vs. Hartlötung und die dazugehö- handlungs- und auch interkulturell orientier-
rigen Einzelverfahren wie Kolben-, Flamm-, tes Textsortenwissen für den Deutsch als
Tauch-, Ofen-, Induktionslöten). Diese gedank- Fremdsprache-Lerner im naturwissenschaft-
liche Gliederung führt zu einer relativ sicher lich-technischen Bereich nicht nur hilfreich,
vorhersagbaren Abfolge und Präsentation von sondern für eine optimale Textrezeption und
Fachinformationen in naturwissenschaftlich- -produktion unverzichtbar.
technischen Texten bzw. einzelnen Textsorten,
so dass z. B. ein Fachübersetzer oder Fremd-
sprachenlehrer hier bei seiner Arbeit gewinn- 4. Literatur in Auswahl
bringend auf in Datenbanken gespeicherte re- Baakes, Klaus (1994): Key Issues of Syntax in the
präsentative Textsortenexemplare, textsorten- Special Languages of Science and Technology. Eng-
spezifische Textversatzstücke und textogra- lish⫺German. Heidelberg.
phische Glossare zurückgreifen kann (vgl. Bachmann, Roland (1992): Übersetzen technischer
u. a. Hoberg 1994, 333ff.; Göpferich 1995b, Fachtexte. Was muß man können? Wie kann man
17ff.). es lernen? Ein Beitrag aus praktischer und didakti-
Generell äußert sich der jeweilige Fachstil scher Sicht. In: Lebende Sprachen 37, 4, 145⫺151.
in einer Vielzahl von meist auf Teilaspekte Becker, Thomas u. a. (Hg.) (1990): Sprache und
bezogenen Textabschnitten (Absätze), in be- Technik: verständliches Gestalten technischer Fach-
stimmten Signalwörtern für logische Opera- texte. Aachen.
tionen (wie durch, damit, bevor, Je … desto; Beneš, Eduard (1981): Die formale Struktur der
Wenn … dann; Ist … nicht …, so …), in spezi- wissenschaftlichen Fachsprachen in syntaktischer
fischen Verweisformen und Gliederungssi- Hinsicht. In: Theo Bungarten (Hg.): Wissenschafts-
sprache. München, 185⫺212.
gnalen wie Ziffernangaben, Einsatz von typo-
graphischen Mitteln wie Unterstreichung, Berck, Heidi (1986): Begriffe im Biologieunterricht:
Fettdruck usw. sowie in Text-Bild-Arrange- Versuch einer Entwirrung am Beispiel Sachkunde.
Köln (Didaktik der Naturwissenschaften 10).
ments mit häufigem Gebrauch von (nonver-
balen oder spracharmen) Abbildungen, Dia- Bleichroth, Wolfgang u. a. (1991): Fachdidaktik
Physik. Köln.
grammen, Tabellen, Bau- und Schaltplänen,
Werkzeichnungen, Photos usw., die den Brand, Kaspar (1995): Gänsefüßchen und Elefan-
Fachmann oft schneller, präziser und ohne tenrüssel. Zur Metaphorik in der Fachsprache der
Schriftsetzer. In: Fachsprache 17, 1⫺2, 2⫺16.
verbale Redundanz über technische oder wis-
senschaftlich-technische Sachverhalte infor- Brünner, Gisela (1993): Mündliche Kommunika-
mieren als der dazugehörige Text. Dabei er- tion in Fach und Beruf. In: Theo Bungarten (Hg.):
Fachsprachentheorie. Bd. 2. Tostedt, 730⫺771.
fordert das Verstehen technischer oder physi-
kalischer Abläufe vom Textrezipienten sehr Budin, Gerhard (1995): Wissensorganisation und
häufig, „daß er sich einen ,gedanklichen Terminologie. Zur Komplexität und Dynamik wis-
senschaftlicher Informations- und Kommunikations-
Film‘ vom Ablauf macht, den er dann in sei- prozesse. Tübingen (FFF; 28).
ner Vorstellung abspult“ (Leisen 1994, 199),
Buhlmann, Rosemarie; Anneliese Fearns (1987):
und zwar abhängig vom jeweiligen fachlichen
Handbuch des Fachsprachenunterrichts. Unter be-
Erkenntnisinteresse und der tradierten Fach- sonderer Berücksichtigung naturwissenschaftlich-
methodik. Besonders hoch (50% und mehr) technischer Fachsprachen. Berlin etc.
ist der Anteil graphischer Darstellungen in
Bundesminister für Bildung und Wissenschaft
praxisnah gestalteten Lehrbüchern (wie z. B. (Hg.) (1987): Handreichung Fachsprache in der Be-
den Grund- und Fachstufenlehrwerken Tech- rufsausbildung ausländischer Jugendlicher. Bonn.
nologie für Installation und Metallbau, Han- [2. Aufl. Bonn 1992]
nover 1987 oder Technologie für Sanitärin- Bungarten, Theo (Hg.) (1994): Technische Kommu-
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Verbunden ist diese Textgestaltung mit Chen, Shing-lung (1995): Pragmatik des Passivs in
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strukturen, die sich aus der Fachtradition etc. (Arbeiten zur Sprachanalyse; 23).
heraus entwickelt haben und teilweise sogar Clyne, Michael (1993): Pragmatik, Textstruktur
⫺ auch auf internationaler Ebene ⫺ zwin- und kulturelle Werte. Eine interkulturelle Perspek-
gend vorgeschrieben sind, um eine möglichst tive. In: Hartmut Schröder (Hg.): Fachtextpragma-
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57. Texte in Medizin-orientierter Kommunikation 565

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nikation. Kongreßbeiträge zur 24. Jahrestagung der Groos; 42).
Gesellschaft für Angewandte Linguistik GAL e. V., Zhu, Jianhua (1987): Morphologie, Semantik und
Frankfurt a. M. etc. (Forum Angewandte Lingui- Funktion fachsprachlicher Komposita. Analyse von
stik; 27), 109⫺111. Fachtexten der Silikattechnik. Heidelberg (Samm-
Zhang, Dingxiang (1990): Komplexe lexikalische lung Groos; 31).
Einheiten in Fachsprachen. Eine Untersuchung am
Beispiel der Fachsprachen der Umformtechnik und Hans-Rüdiger Fluck, Bochum (Deutschland)

57. Texte in Medizin-orientierter Kommunikation

1. Handlungs- und Kommunikationsraum ⫺ 1.1. Wer ,sagt‘ … wo … womit was (über


Kommunikationskreise: Prinzip 1 was) … zu wem … wozu …? ⫺
2. Existenzweisen von Sprache: Prinzip 2 sprachliche, kommunikative Handlung
3. Sprache in ihrer Struktur: Prinzip 3
4. Sprachliches als Zeichen in Funktionen: Prinzip 1: Etwas ,sagen‘ als sprachliche, be-
Prinzip 4 dingt kommunikative Handlung wird hier
5. Reaktionen ⫺ mit welchem Effekt? mit Hilfe der pragmatische W-Kette und
6. Literatur in Auswahl durch die spezifische Konkretisierung ihrer
anaphorischen Kategorien beschrieben: Wer
1. Handlungs- und (1) ,sagt‘ (2) wann (3) wo (4) warum (5) wie
(6) womit (7) was (über was) (8) zu wem (9)
Kommunikationsraum ⫺ wozu (10) mit welchem Effekt (11)? „Die
Kommunikationskreise: Prinzip 1 deutsche Umgangssprache hat den wissen-
Mit Medizin(-orientiert) in Opposition etwa schaftlichen Terminus ,Handlung‘ vorbereitet
zu Technik ist der Gegenstandsbereich dieses und nahegelegt“. (Bühler 1933/1969, 59;
Artikels abgegrenzt. Dabei geht es um Texte, Hoffmann 1997, 95), was auch für die prag-
um Produkte sprachlicher Handlungen, mit matische W-Kette gilt.
denen in der Regel auf Kommunikation ab- Mit Blick auf die Partnerkonstellation, die
gezielt und diese zumeist auch erreicht wird. Handlungsträger (Position wer (1) und zu
Über den Fachbereich der Medizin, seine wem (9) in der W-Kette) und ihren Status
Fachtexte hinaus werden Texte auch anderer (Experte oder Laie), unterscheide ich fünf Ty-
Bereiche einbezogen, etwa des politischen Be- pen von Kommunikationskreisen (⫽ KK).
reichs, der öffentlichen Berichterstattung und Subtypen ergeben sich durch Differenzierung
Diskussion sowie des privaten Gesprächs, so- der Rolle (etwa als Wissenschaftler oder Arzt)
fern Medizinisches mit angesprochen ist. und, im Wirkungszusammenhang damit, bei
Der Bereich der Medizin wird, je nach An- weiteren Positionen, etwa bei Position wo (4),
satz, in 25 bis 60 Teilbereiche unterteilt, klassi- wozu (10); womit (7) repräsentiert die Texte.
fiziert in theoretische (wie Physiologie, Anato- (1) Anders als z. B. Löning 1981, Hoffmann
mie, Pharmakologie) und in praktische (wie 1997 (C2 vs. C3) sehe ich Mündlichkeit bzw.
Allgemeinmedizin, Chirurgie, Homöopathie). Schriftlichkeit nicht als primäres Kriterium
Die Teilbereiche sowie die mit der Medizin the- der Unterscheidung an. Die Grenzen sind un-
matisch verflochtenen Ausschnitte anderer klarer, als dies Paar suggeriert; den (so Götze/
Bereiche und der Alltagswelt (⫽ verfl. B) be- Helbig/Henrici u.a. 1995, 76) „Textsorten der
trachte ich als Sektoren im Medizin-orientier- gesprochenen und geschriebenen Sprache“,
ten Handlungsraum. Der Typologisierung von speziell den beiden ,Sprachen‘, lässt sich
Kommunikationssituationen dient das erste schwerlich eine Größe etwa im Sprach-
von vier Prinzipien; diese verstanden als „Leit- system zuordnen.
sätze über die Sprache“, über sprachliche (2) Besprechungen u. ä. werden nur dann
Handlungen, sowie als „die spezifischen Vor- angeführt, wenn sie in einem KK eine zen-
aussetzungen der Sprachforschung“ (Bühler trale Form der Kommunikation darstellen.
1934/1965, XXII; 1), der Sprachhandlungs- (3) Die Einrichtung der KK ist natürlich
forschung. nicht einfach so vom Himmel gefallen; sie
566 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

knüpft an viele Beiträge zur sog. vertikalen führender Arzneimittel (etwa nach der Zahl
bzw. horizontalen Gliederung, Schichtung an der verkauften Packungen); Ärztemuster
(vgl. u. a. Gläser 1990, 8 ff.), vor allem an die von Arzneimitteln mit Packungsbeilage,
Vorstellung ,fachintern ⫺ interfachlich ⫺ Aufschriften auf Behältnissen, äußeren
fachextern‘ (Möhn/Pelka 1984). Viele dieser Umhüllungen; Gesprächsbeiträge, etwa
Modelle erscheinen nicht nur mir (vgl. Fluck „Mitteilungen von Angehörigen der Heilbe-
1996, 16 ff.) allerdings als recht nebulös; nicht rufe über Nebenwirkungen […] bei Arznei-
selten sind Kategorien wie Fachsprache, mitteln“, die der Pharmaberater „dem Auf-
-texte, Stil, Ziel, Sprachsystem, -verwendung traggeber […] schriftlich mitzuteilen“ hat
nicht klar unterschieden und bleiben merk- (AMG 1976 § 76)
würdig diffus (vgl. dazu ausführlich Men- wozu (10) Vermittlung, Austausch von arz-
trup 1988). neimittelbezogenen Fachkenntnissen; Or-
ganisation, Steuerung von Handlungen
1.2. Kommunikationskreis 1 (KK1): (i. S. der Werbung; vgl. 4.2. (5.1)) im Rah-
bereichimmanent men des Umgangs mit Arneimitteln
wer (1) Experte (med) ⫺ zu wem (9) Ex-
KK1.4 wer (1) und zu wem (9) Experten als
perte (med)
Arzt, Heilpraktiker, Krankenschwester,
KK1.1 wer (1) und zu wem (9) Experten als Arzthelferin, Masseur (vgl. Lalouschek/
Wissenschaftler Menz 1990 in Ehlich/Koerfer/Redder u. a.;
wo (4) Forschung: Forschungsinstitutionen, Burg; Lalouschek/Menz/Wodak)
Hochschule Medizinische Fakultät; Ta- wo (4) Praxis: Krankenhaus, (Gemeinschafts)-
gungen, Kongresse praxis, ,mobile Ambulanzstätten‘ (Not-
womit (7) wissenschaftliche Literatur; Vor- arzt-, Unfallwagen- -hubschrauber); Bera-
träge, Referate, Skripte, Mitschriften; No- tungsstellen; Besprechungen
menklaturen womit (7) Behandlungs-, Labor-, Operations-
wozu (10) Vertiefung, Vermittlung, Aus- berichte, Krankenkarten, -blätter; Gutach-
tausch von Fachwissen mit breit gestreuter ten, Bitte um Stellungnahme dazu, Stel-
fachspezifischer Thematik im Prozess wis- lungnahme; Gesprächsbeiträge (Anwei-
senschaftlicher Erkenntnisgewinnung sungen, Fragen etwa bezüglich der Durch-
führung einer Operation)
KK1.2 wer (1) Experte als Unterrichtender
wozu (10) Vermittlung, Austausch von pa-
⫺ zu wem (9) Experten als Auszubildende
tient-, krankheitsbezogenen Fachkenntnis-
(Medizinstudenten, Krankenschwestern,
sen; Organisation, Steuerung von Hand-
Arzthelferinnen, Masseure; Löning 1981,
lungen im Zusammenhang der prakti-
„Halbfachmann“)
schen Behandlung
wo (4) Lehre: Hochschule Medizinische Fa-
kultät; Veranstaltungen wie Vorlesungen, 1.3. Kommunikationskreis 2 (KK2):
Seminare, Pflichtfach „Medizinische Ter- interdisziplinär (bereicheübergreifend)
minologie“; Ausbildungsstätten, -kurse für wer (1) und zu wem (9) Experten (med/verfl.
Krankenschwestern usw. B): Schnittbereich von Medizin und Aus-
womit (7) unterrichtliche Werke; Vorlesun- schnitten anderer Bereiche, die thematisch
gen, Referate, Skripte, Mitschriften; Dis- miteinander verflochten sind
sertationen, Habilitationsschriften wo (4) interdisziplinärer Kommunikations-
wozu (10) Vermittlung, Austausch von Fach- raum: politische, juristische Institutionen
wissen mit breit gestreuter fachspezifischer (Bundesgesundheitsministerium; Europä-
Thematik im Verlauf der beruflichen Aus-, ische Union, Weltgesundheitsorganisation
Weiterbildung (WHO); Gerichte); Verhandlungen, Pro-
KK1.3 wer (1) Experte als ,Pharmakundiger‘, zesse; (pharmazeutische) Industrie; Asseku-
Pharmaberater ⫺ zu wem (9) Experte als ranz, Krankenkassen, -versicherungen;
Arzt, Heilpraktiker, Krankenschwester, Kassenärztliche Verrechnungsstellen; Lin-
Arzthelferin, Masseur; Apotheker guistik, Übersetzungswissenschaft
wo (4) pharmazeutische Industrie; Standesor- womit (7.1.) Gesetze (AMG 1976, HWG
ganisationen der Ärzte, Apotheker; Kran- 1978); EU-Richtlinien, WHO-Texte; Bei-
kenhaus, (Gemeinschafts)praxis; Apo- träge in Verhandlungen, Urteile; Kloesel/
theke; Gespräche Cyran 1982, Müller-Römer 1978
womit (7) Rote Liste (Verzeichnis von Fertig- wozu (10.1.) Festlegung, Steuerung von
arzneimitteln; auch als CD-ROM); Listen Handlungen im Rahmen der insbesondere
57. Texte in Medizin-orientierter Kommunikation 567

politischen, legislativen, judikativen, exe- dungsinstitutionen (Volkshochschule), -ver-


kutiven Organisation, Regelung anstaltungen, -kurse
womit (7.2.) gemäß dem AMG 1976 Anträge womit (7.1.) populärwissenschaftliche Litera-
der pharmazeutischen Industrie auf Zulas- tur, Risikofaktor Medizin 1997; (Informa-
sung von Arzneimitteln mit Packungsbei- tions-, Werbe-)Schriften; Kommentare, fe-
lage, Aufschriften auf Behältnissen, äuße- ste Sparten in Zeitungen, Zeitschriften
ren Umhüllungen; Anträge (Ärzte J Kas- („Sprechstunde“, „Die Krankheiten des
sen), Rechnungen (J Kassenärztliche Ver- Alltags“); Leserbriefe; Rundfunk-, Fern-
rechnungstelle J Patient), Geldüberwei- sehsendungen (Gesundheitsmagazine), Hö-
sungen; Bescheide reranrufe, Fernseh-, Beischaltungen‘; Vor-
wozu (10.2.) Organisation, Steuerung von träge, Referate, Skripte, Mitschriften
Handlungen bei der Umsetzung der gesetz- (Mentrup 1994), Medizinwörterbücher für
lichen Rahmenbedingungen Laien, Ausschnitte in allgemeinsprach-
womit (7.3.) Medizinwörterbücher für Exper- lichen Wörterbüchern, Lexika
ten (Mentrup 1984/1988, Schuldt 1992;
Häufig sind Passagen, Einsprengsel über me-
Redder/Wiese 1994); Übersetzungen
dizinische Aspekte eingebettet in Artikel, de-
wozu (10.3.) Vertiefung, Vermittlung, Aus-
ren Thema anderen Bereichen zuzuordnen ist
tausch von Fachwissen mit breit gestreuter
wie Politik (Parteiauseinandersetzungen über
interdisziplinärer Thematik im Prozess
die ,Gesundheitsreform‘), Sport (Sportlerver-
wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung
letzungen, Doping), Landwirtschaft (,Rinder-
1.4. Kommunikationskreis 3 (KK3): wahnsinn‘), Biotechnologie vs. Ethik (Klo-
bereichüberschreitend nen), Staatshaushalt vs. Soziales vs. EU (Ziga-
rettensteuer, Raucherausgrenzung, Warnun-
wer (1) Experte (med/verfl. B) ⫺ zu wem (9)
gen auf Packungen); Berichte über die ,Gro-
Laien, Öffentlichkeit: Überschreiten des
ßen‘ dieser Welt (Papst Johannes Paul II.; Ro-
Bereichshorizonts (med/verfl. B) in Rich-
man Herzog; Steffi Graf, Vater Peter; Harald
tung auf die Laien, Öffentlichkeit
Juhnke).
KK3.1 wer (1) Experte (med/verfl. B) ⫺ zu
wozu (10.1.) Vermittlung von laienbezogenen
wem (9) Laien als Verbraucher
Fachkenntnissen, Informationen mit breit
wo (4) Öffentlichkeit der Verbraucher, allge-
gestreuter alltagswelt,relevanter‘ Thematik
meiner Geschäftsverkehr
und vielfältigen, mit Themen anderer Be-
womit (7) Packungsbeilagen, Aufschriften
reiche verflochtenen Aspekten im Rahmen
auf Behältnissen, äußeren Umhüllungen;
des öffentlichen Informierens, der allge-
Medi-Cards; Broschüren, Erhebungsbö-
meinen (Weiter-)Bildung
gen, Anträge der Kranken-, Unfall-, Le-
womit (7.2.) Romane, Erzählungen, Theater-
bensversicherungen, Policen; Arzneimittel-
stücke, Opern, Biographien, Filme, Serien
anzeigen ⫺ auch als Fernsehspots („Zu Ri-
(Gustafsson: Der Tod eines Bienenzüch-
siken und Nebenwirkungen lesen Sie die
ters; Fallada: Der Trinker; Kafka: Ein
Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt
Landarzt; Camus: Die Pest, Belagerungs-
oder Apotheker.“; schriftlich und gespro-
zustand; Puccini: La Boehème; Fernseh-
chen); Aufschriften auf Zigarettenschach-
serie: Für alle Fälle Stefanie).
teln („Die EU-Gesundheitsminister: […]“),
wozu (10.2.) Darstellung, Vermittlung des Er-
Flaschenetiketten, Verpackungen von Le-
lebens, der Sicht (s)einer Krankheit; Mo-
bens-, Reinigungsmitteln
dell zur Deutung gesellschaftlicher Zu-
wozu (10) Vermittlung von verbraucherbe-
stände; Schilderung (s)eines Lebens, der
zogenen Fachkenntnissen; Organisation,
(vorgeblichen) Verhältnisse im Handlungs-
Steuerung von Handlungen (i. S. der Wer-
raum, auch als Unterhaltung
bung; vgl. 4.2. (5.1)) im Rahmen des Um-
gangs mit Arznei- u. a. -mitteln 1.5. Kommunikationskreis 4 (KK4):
KK3.2 wer (1) Experte (med/verfl. B), auch alltagswelt- bzw. bereichübergreifend
als (Fach-)Journalist (Löning 1981, „Laie wer (1) Laie als Kranker, Patient ⫺ zu wem (9)
(als Journalist)“), -Lehrer, -Linguist, -Au- Experte (med) als Arzt, Heilpraktiker,
tor, Professioneller ⫺ zu wem (9) Laien als Krankenschwester, Arzthelferin, Masseur;
Interessierte, Betroffene Apotheker: Schnittbereich von Alltags-
wo (4) Öffentlichkeit der Interessierten, all- welt und Fachbereich; institutionalisierter
gemeiner ,Bildungsverkehr‘: Medien, Bil- Wechsel der Kommunikationsrollen, des
568 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

fachlichen Status, der Alltags- bzw. Exper- Handlungen in segmentierten Schritten


tenlogik (vgl. u. v. a. Goltz 1969; Lörcher zusammenzustellen (Handlungscorpus), die
1983; Löning 1985; Löning/Sager 1986; Eh- Texte in Sequenzen dem kommunikativen
lich/Koerfer/Redder u. a. 1990; Lalou- Ablauf gemäß ,aufzufädeln‘ (Textcorpus)
schek/Menz/Wodak 1990; Löning/Har- und, unter Einbezug aller Positionen der W-
tung/Knapheide 1990; Löning/Rehbein Kette, insgesamt den Wirkungszusammen-
1993; Redder/Wiese 1994; Rehbein/Löning hang darzustellen; etwa den vom Patienten
1995) initiierten Arztbesuch: Eröffnungsphase
wo (4) Praxis: (Gemeinschafts)praxis, Kran- (Aufrufen, Begrüßung) ⫺ Eröffnung des Dia-
kenhaus, ,mobile Ambulanzstätten‘; Apo- logteils ⫺ Dialog [Anamnese ⫺ Diagnose ⫺
theke; Beratungsstellen, Gespräche Therapie; WM] ⫺ Beendigungsphase (in
womit (7) Gesprächsbeiträge des Patienten, KK4; Löning 1985, 57ff.; zum klinischen All-
Arztes usw.; Fragebögen, Einträge der Pa- tag vgl. Burg 1990).
tientenantworten; Anamnese-, Diagnose- Die Zuordnung der Texte zu den Kommu-
notizen, -berichte, Therapieanweisungen; nikationskreisen gemäß Prinzip 1 als dem
Rezepte (J Patient J Apotheke); Ein-, Grundprinzip stellt eine grundlegende Klassi-
Überweisungen (J Patient J Facharzt); fizierung dar. Die drei Subprinzipien, bezo-
Gesundheitszeugnisse (J Patient J Versi- gen auf die (was (über was))-Position (8) in
cherung); Rechnungen (J Patient J Kran- der W-Kette, betreffen die Sprache hinsicht-
kenversicherungen), Geldüberweisungen: lich ihrer Existenzweisen (Prinzip 2), ihrer
Termineinträge Struktur (Prinzip 3) sowie Sprachliches als
wozu (10) Vermittlung, Austausch von Erfah- Zeichen in Funktionen (Prinzip 4).
rungen des Patienten bezüglich seiner
Befindlichkeiten, Krankheiten bzw. von
Fachkenntnissen des Arztes usw. im Zuge 2. Existenzweisen von Sprache:
der Anamnese, Diagnose; Organisation, Prinzip 2
Steuerung von Handlungen im Zuge der
Therapie 2.1. Sprachverwendung, -verkehr;
Sprachkompetenz, -system
1.6. Kommunikationskreis 5 (KK5): In Anlehnung insbesondere an Polenz
alltagsweltimmanent (1982a; b) unterscheide ich „objektsprach-
wer (1) und zu wem (9) Laien lich-funktionell“, bezogen auf den Einzelnen
wo (4) alltagsweltlicher Lebensraum: Fami- (individuell): Sprachverwendung (realisiert)
lien-, Stammtisch- u. a. Gespräche und Sprachkompetenz (virtuell); bezogen auf
womit (7) Gesprächsbeiträge eine Gruppe (sozial): Sprachverkehr (reali-
wozu (10) Vermittlung, Austausch der Erfah- siert) und Sprachsystem (virtuell); zudem ver-
rungen bezüglich der Befindlichkeiten, schiedene Subsysteme und, über Polenz hin-
Krankheiten aus, Subkompetenzen (Diasystem bzw. -kom-
Ein Beispiel: In Gruppen werden oft leichtere petenz): Standardsprache, Umgangssprache,
Krankheiten (etwa Verdauungsstörungen) funktional/sozial: Fachsprachen, Gruppen-
eher beiläufig zwischen anderen Themen ein- sprachen bzw. Funktiolekte, Soziolekte; Fach-
geflochten und eher amüsant behandelt; im umgangssprachen; regional: Dialekte bzw.
Zweiergespräch schwere Krankheiten (etwa Regiolekte, Mundarten.
Alkoholismus) ausführlicher, ernster bespro-
2.2. Sprachbrauch, -norm; Sprachgesetz
chen (Inken Keim, IDS).
Mit „Sprachgebrauch“ und „Sprachnorm“
1.7. Rückblick ⫺ Überleitung richtet Polenz, „metasprachlich-institutiona-
Die Menge und Vielfalt der bei der womit (7)- lisiert“, zwei Teilbereiche des Sprachsystems
Position in Auswahl angeführten Texte ist be- ein. Über Polenz hinaus unterscheide ich als
achtlich. Im medizin-orientierten Handlungs- dritten Bereich das ,Sprachgesetz‘ und be-
und Kommunikationsraum geht es um eine trachte die Trias zudem in individueller Aus-
breit gestreute Thematik mit vielen Aspekten, prägung auch als Teilbereiche der Sprach-
die für den Einzelnen wie für die Allgemein- kompetenz, insgesamt mit einem sich stei-
heit existenziell zentral und deren Behand- gernden Grad an Geltung, Restriktivität.
lung zum (Über-)Leben notwendig ist. Sprachbrauch: deskriptiv metasprachlich ver-
Für eine umfassende Untersuchung böte standen als ,normal, üblich, bekannt, geläu-
sich an, in jedem Kommunikationskreis die fig‘; Sprachnorm: präskriptiv … als ,ge-
57. Texte in Medizin-orientierter Kommunikation 569

normt, korrekt, vornehm, gut‘; Sprachgesetz: [nicht nur; WM] weitergegeben“ (Hoffmann
sanktioniert … als ,amtlich normiert, per Er- 1997, 92), sondern auch veränderten Sicht-
lass allein richtig‘. weisen und Sachverhalten angepasst werden.

2.3. Textsortenbeispiele 3. Sprache in ihrer Struktur: Prinzip 3


Texte sind der Sprachverwendung (individu-
ell) bzw. dem Sprachverkehr (sozial) zuzu- 3.1. Laute/Buchstaben, Wörter, Sätze, Texte
ordnen. Beobachtbare Regularitäten, in Re- In Anlehnung an viele Darstellungen werden
geln gefasst, verweisen auf die Sprachkompe- unterschieden: Phonem/Graphem, Wort (le-
tenz (individuell) bzw. das Sprachsystem (so- xikalische Einheit), Satz und Text.
zial). Bezogen auf diese (virtuell) spreche ich 3.2. Textsortenbeispiele
von Grammatik bzw. von Wortschatz; bezo- Die hier angeführten, in Analysen (s. 4.2. (5)
gen auf jene (realisiert), mangels eines treffen- die Literatur) festgestellten realisiert-gram-
deren Ausdrucks, von ,Realisiert-Grammati- matischen Regularitäten verweisen, als Re-
schem‘ bzw. von Vokabular. geln gefasst, auf die Grammatik der Standard-
Kennzeichnen lassen sich Textsorten in sprache; allenfalls ihre Frequenz ist ein spezi-
verschiedener Hinsicht: fisches Merkmal allerdings nicht der Fach-
syntax oder -sprache, wie es nicht selten
(1) Zum Textsortenmerkmal Anteil an heißt, sondern Fach-orientierter Texte.
Wortschätzen verschiedener Subsprachen s. Kennzeichnen lassen sich Textsorten in
4.2. (5). verschiedener Hinsicht:
(2) Bezogen auf den Grad der Geltung, Re-
(1) Die Zahl der Graphemfolgen, Lemmata
striktivität sind u. a. anzuführen (i) gemäß und Belege ist in Packungsbeilagen (in KK1.3,
dem Sprachgesetz: AMG 1976, HWG 1978 KK2 womit (7.2.), KK3.1) größer als in der
(in KK2 womit (7.1.)) mit ihren Richtlinien Roten Liste (in KK1.3). Hingegen sind in die-
u. a. für die Gestaltung von Packungsbeila- ser Schemata, Zahlen, Abkürzungen, Sym-
gen (in KK1.3, KK2 womit (7.2.), KK3.1); bole, prozentual bezogen auf die Zahl der
Textsortenmerkmal legislativ, das auch Ge- Graphemfolgen usw., häufiger als in jenen;
brauchsanleitungen für Haushaltsgeräte oder ähnlich auch in wissenschaftlicher Literatur
der neuen amtlichen Rechtschreibung zuzu- (in KK1.1, 1.2) gegenüber populärwissen-
ordnen ist; (ii) gemäß der Sprachnorm: inter- schaftlicher (in KK3.2 womit (7.1.)). Textsor-
national vereinbarte Nomenklaturen (in tenmerkmal Ausführlichkeit, Redundanz (vs.
KK1.1), Pflichtfach „Medizinische Termino- Kompaktheit) bzw. Formalisierung.
logie“ (Auswahl aus dem Fachwortschatz, (2) Die Zahl (artikelloser) Substantive (Adje-
kiv-, Verbableitungen) sowie (attributiver) Ad-
1975 auf ca. 500 000 Termini geschätzt, für
jektive (hierzu vgl. Olszewska in Redder/Wiese
das Studium; in KK1.2); Textsortenmerkmal 1994) und Partizipien ist, etwa im Verhältnis
normativ; (iii) gemäß dem Sprachbrauch: zu Verben, in wissenschaftlicher Literatur grö-
Textsorten aus verschiedenen KK (wie man ßer als in populärwissenschaftlicher. Hingegen
so redet oder schreibt); Textsortenmerkmal ist in dieser und in Packungsbeilagen die Zahl
von der Situation abhängig (usuativ). der Konjunktionen, Satzgefüge und Schach-
(3) Beispiele für Textsortenentwicklungen telsätze größer als in jener bzw. in der Roten
sind u. a. (i) die anatomische Nomenklatur: Liste (mehr Kurzsätze; Zusammensetzungen,
1895 in Basel international festgelegt; 1936 in erweiterte Nominalphasen). Textsortenmerk-
Jena, 1955 in Paris, seither alle 5 Jahre über- mal sind der Anteil an bestimmten Wortarten
arbeitet; (ii) AMG 1976, Vorläufer 1961, bzw. die syntaktische Breite. Für Gesprächs-
beiträge von Patienten, Laien (in KK4, 5) sind
1941, 1901; (iii) Packungsbeilagen (mit Ände-
Anakoluthe, Wiederholungen u. ä. typisch.
rung des Geltungsgrades, der Restriktivität; Textsortenmerkmal ist die syntaktische Form.
vgl. ii): 1901, 1941 nicht erwähnt; 1961 ange-
führt, aber nicht vorgeschrieben; zunächst als
freiwilliger Service der pharmazeutischen In- 4. Sprachliches als Zeichen in
dustrie üblich (usuativ), 1973/74 für deren Funktionen: Prinzip 4
Mitgliedsfirmen verbindlich (normativ), 1976 Gemeint ist: Sprachliches als Zeichen in un-
obligatorisch (legislativ): „Traditionsketten, terschiedlichen Funktionen für etwas ande-
in denen kulturelles Wissen, technisches res, Außersprachliches bzw. metasprachlich
Know-how und historische Erfahrungen, für Basissprachliches.
570 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

4.1. kognitive, dispositive, illokutive (3) themabezogen, sachgesteuert; inhaltlich


Signalfunktion speziell(er als Gruppe 2); qualitativ durch
In Anlehnung insbesondere an Polenz (1974; Fachsprache, auch als Ausdruck des Exper-
1982a) unterscheide ich vier Funktionen: (i) tenhabitus: (i) (mehrgliedrige) Termini (fach-
kognitiv: Jemand teilt jemandem mit, was er spezifische Schreibung); terminologisch fest-
wahrnimmt, empfindet, meint usw.; Proposi- gelegt im Bestreben nach inhaltlicher Eindeu-
tion: Referenz Prädikation (arzt arzneimittel tigkeit; z. T. normativ bzw. legislativ (Coma
jemandem verschreiben). Zudem bringt er zur hepaticum, Bacillus botulinus, Carcinoma ade-
Sprache: (ii) dispositiv: die Einstellung zum nomatosum, Tuba uterina, Diabetes mellitus;
Ausgesagten, seine Sichtweise (Leider vs. Nierenbeckenentzündung; Harnruhr, Vagina,
glücklicherweise hat er … verschrieben.); (iii) Uterus, harnpflichtig; Gebrauchsinformation,
illokutiv: die Art der sprachlichen Handlung Anwendungsgebiete); (ii) (verkürzte) Trivial-
(Warum hat er … verschrieben?); (iv) Signal- bezeichnungen (allgemeine Schreibung), in-
funktion: die wertende Einschätzung seiner haltlich allgemeiner als Subgruppe i (Bazillus,
selbst bzw. anderer Personen oder Dinge (Der Karzinom, Tube, Diabetes); (iii) qualifikativ
Kurpfuscher hat mir armer Sau diese Chemie- durch Fachumgangssprache (der Magen auf
bombe verpasst.). Zimmer 13, i. v. spritzen, wir machen Blutzuk-
ker).
4.2. Textsortenbeispiele (4) Ausdrücke aus Wortschätzen verflochte-
Kennzeichnen lassen sich Textsorten in ver- ner Bereiche, qualifikativ durch Fachsprache
schiedener Hinsicht. (titrieren; Chemie).
Dazu werden, der Themabezogenheit und (5) Die unterschiedlichen Anteile an Sub-
Fachsprachlichkeit gemäß, vier Gruppen le- gruppen der Wortschätze verschiedener Sub-
xikalischer Einheiten unterschieden und, der sprachen, die unterschiedliche Zusammenset-
Subsprachenzugehörigkeit und den Funktio- zung der Mischvokabulare der Textsorten die-
nen gemäß, unter Einbezug von Textsorten- nen zusammen mit bestimmten Textmerkma-
merkmalen subklassifiziert. Der generellen, len ihrer Kennzeichnung (vgl. Goltz 1969;
unten vorausgesetzten kognitiven Funktion Hoffmann 1975; Schefe 1975; Löning 1981;
entspricht als Textsortenmerkmal informativ. Lörcher 1983; Meyer 1996; Thiel/Tom 1996).
(1) nicht spezifisch themabezogen, sachge- (5.1) Bestimmten Textsorten lassen sich
steuert (Meyer 1996, „nicht fachgebunden“); schon intuitiv einzelne Merkmale (vgl. Sub-
generell verwendbar; (i) Standardsprache gruppe 1iii) zuordnen, so etwa (i) quästitiv,
(gleichzeitig, unzerkaut schlucken, Vielzahl); assertiv, direktiv: Fragen, Antworten, Anwei-
darunter Ausdrücke (ii) für Dispositionen, sungen bei der Aus-, Weiterbildung (in KK
Textsortenmerkmal modifiziert (wissen, nicht 1.2), in Praxisgesprächen zwischen Arzt und
glauben; Modal(itäts)verben, Konjunktivfor- Personal (in KK1.4) bzw. zwischen Arzt und
men) und (iii) für Illokutionen, Textsorten- Patient (in KK4; vgl. Rehbein, ten Have in
merkmal assertiv (Antworten, Bestätigen), Löning/Rehbein 1993; Rehbein, Redder in
quästitiv (Fragen), direktiv (Anweisungen), Redder/Wiese 1994); Sparten, Sendungen wie
persuasiv (Überreden) (Satzzeichen, Intona- „Sprechstunde“ (in KK3.2 womit (7.1.); vgl.
tion; sagen, fragen, täglich 3 ⫻ einnehmen!; Partheymüller in Redder/Wiese 1994); (ii)
i. S. der Werbung ein weltweit anerkanntes persuasiv: werbende Gesprächsbeiträge des
Hausmittel); mit Wertungssignalen, Textsor- Pharmaberaters (in KK1.3); Broschüren der
tenmerkmal qualifikativ, (iv) durch Bedeu- Krankenkassen, -versicherungen; Arzneimit-
tung (schädlich) bzw. (v) durch Umgangs- telanzeigen (in KK3.1).
sprache (jemanden erwischen). (5.2) Gruppe 3 mit den Subgruppen i und
(2) themabezogen, sachgesteuert; inhaltlich iii ist (wie auch Gruppe 4) die Domäne der
allgemeiner, in anderen Bereichen eher ver- Experten. Der abnehmende Anteil speziell an
wendbar als Gruppe 3; oft zu deren Erklä- Termini (Subgruppe i), prozentual bezogen
rung gebraucht: (i) Standardsprache (Arzt, auf die Zahl der Graphemfolgen usw., ergibt
Körper, Atem; Durchfall; Bazillen, Koma, folgende Skala: (Anteil in) Nomenklaturen
Bandscheibe; Herzerkrankung, Kopfschmer- (in KK1.1) > (größer als in) Medizinwörter-
zen); qualitativ (ii) durch Bedeutung (Übel- bücher(n) für den Experten (in KK2 womit
keit, wundes Gefühl) bzw. (iii) durch Um- (7.3.)) > Rote Liste (in KK1.3) > Packungs-
gangssprache (meine Pumpe; das Dingsda, es beilagen (in KK1.3, KK2 womit (7.2.),
flimmert; Pillendreher, Waschzettel (abwer- KK3.1) > wissenschaftliche (in KK1.1, 1.2)
tend)). > populärwissenschaftliche Literatur (in
57. Texte in Medizin-orientierter Kommunikation 571

KK3.2 womit (7.1.)) > Gesprächsbeiträge Textsortenmerkmal legislativ, direktiv; auch


des Arztes usw. > des Patienten (in KK4), persuasiv (seit Jahrzehnten bewährt).
der Laien (in KK5). Hingegen ist der Anteil (5.6) In Gesprächsbeiträgen von Patienten,
an der Standardsprache (Subgruppe 2i, 1i) in Laien kommt (i) in unbestimmten Ausdrük-
Packungsbeilagen und populärwissenschaftli- ken (irgendwie, so; es hat mich erwischt, etwas
cher Literatur größer als in der Roten Liste mit sich herumschleppen, da muss man halt
bzw. in wissenschaftlicher Literatur. Beispiele durch); (ii) in dispositiven, illokutiven (Vorbe-
fachumgangssprachlicher Ausdrücke (Sub- halts-)Ausdrücken (ich weiß auch net, es
gruppe 3iii) sind Textsorten aus der Praxis (in könnte sein, ich denke vielleicht, ich möchte
KK1.4), Gesprächsbeiträge des Arztes usw. sagen; ach Gott, was ist jetzt?); (iii) in empha-
(in KK4). tischen Verstärkungen (fürchterlich, unheim-
(5.3) Vor allem die oft regional eingefärbte lich, wahnsinnig; komische Stiche; so furcht-
Umgangs- (Subgruppe 1v, 2iii) und auch Stan- bar, elend, schockierend; dermaßen; Textmerk-
dardsprache (Subgruppe 1i⫺iv) ist die Do- mal emotiv; hierzu vgl. Fiehler in Ehlich/
mäne der Laien (Gesprächsbeiträge in KK4, Koerfer/Redder u. a. 1990) und (iv) in all-
KK5; vgl. unten (5.6)). Patienten, vor allem tagsweltlicher Bildhaftigkeit (das kribbelt und
mit längerer Krankheits- und Behandlungser- rast, es flimmert; so’n wundes Gefühl, schwin-
fahrung, verwenden zudem übernommene gender Zustand; es ist, als ob oder wie
Ausdrücke wie Blutdruck, Angina (pectoris), wenn …) die Vorstellung von der Krankheit
Polyathrose, Blutzuckertest, Magenschleim- als dem Fremden, Unerklärbaren, Angstein-
hautentzündung, diabetische Stoffwechsellage flößenden vielfältig zur Sprache: alltagswelt-
(Subgruppe 2i; 3i, ii); diese sind jedoch aus ih- lich geprägtes Erleben dessen, was der Arzt
ren fachsystematischen Bezügen herausgelöst, als Symptome diagnostiziert; Krankheit als
in eine andere syntagmatische Umgebung ein- etwas, das kommt, jemanden befällt, wieder
gepasst und stehen zu der sonst homogenen geht.
Sprechlage als ,Fremdelemente‘ in Kontrast.
Beobachtet wurde: Ein wiederholt gebrauch- 5. Reaktionen ⫺ mit welchem Effekt?
ter Fachterminus wird gegenüber der durch-
gängig regionalen durch Standardaussprache Die Kennzeichnung von Textsorten mithilfe
besonders markiert. Vom Arzt gebrauchte vorgestellter Kriterien gemäß Prinzip 2 bis 4
Termini (Nitropräparat, Isoket retard) werden führte kaleidoskopartig zu unterschiedlichen
von Patienten durch Verkürzung (Nitro) oder Grupp(ierung)en von Textsorten aus den ver-
durch paraphrasierende Alternation (rote schiedensten KK. Für eine Gesamtdarstel-
Kapseln, meine Tabletten, das Dingsda) an das lung böte sich an, mit einem solchen Inventar
Laiensystem angepasst; hingegen Patienten- jede Textsorte zu kennzeichnen. Die Kombi-
äußerungen vom Arzt in das Expertensystem nation der je spezifischen Textmerkmale er-
transformiert (vgl. weiterhin Löning, Wiese gäbe eine Gesamtkennzeichnung der einzel-
in Redder/Wiese 1994). nen Textsorte, der Vergleich der Ausprägun-
(5.4) Die Zahl der Modal(itäts)verben und gen ließe unterschiedliche Muster erkennen.
Konjunktivformen (Subgruppe 1ii), Textsor- Wissenschaftliche Bücher, Aufsätze, Nomen-
tenmerkmal modifiziert, ist in Packungsbeila- klaturen und andere Texte im oder aus dem
gen und in populärwissenschaftlicher Litera- Bereich bezeichne ich als Basistexte; Meta-
tur größer als in der Roten Liste bzw. als in texte für oder über den Bereich sind etwa
wissenschaftlicher Literatur; die Zahl impera- AMG 1976, HWG 1978; Meta-Metatexte
tivischer Konstruktionen, Textsortenmerk- etwa Arbeiten über das AMG (Kloesel/Cyran
mal direktiv, ist in Packungsbeilagen größer 1982; Müller-Römer 1978). Analog: Patient-
als in der Roten Liste. Arzt-Gespräche ⫺ interdisziplinäre Untersu-
(5.5) In Packungsbeilagen wird mit disposi- chungen darüber (s. 1.5. die Literatur) ⫺
tiven, illokutiven Ausdrücken (Subgruppe 1ii, Konzepte für einschlägige Gesprächstrai-
iii) ein Geflecht von Bedingtheiten, Restrik- ningsprogramme (vgl. Novak/Wimmer-Pu-
tionen, Potenzialitäten, Unbestimmbarkeiten chinger in Ehlich/Koerfer/Redder u. a. 1990;
zur Sprache gebracht, die als nicht beeinfluss- Menz, Lalouschek in Redder/Wiese 1994; La-
bar erscheinen: externe Instanzen. Die louschek 1995): Abhängigkeitsfolgen, Erzeu-
Fremdbestimmung und -steuerung geht aus gungs-, Wirkungszusammenhänge zwischen
von der Sache (therapeutische Notwendigkeit), KK und (zwischen) Textsorten.
u. a. vom Arzt (vorschreiben, verordnen) und/ Texte mit der Kennzeichnung Meta- lassen
oder vom Gesetzgeber (bestimmungsgemäß); sich als reaktive Texte bezeichnen. Häufig sind
572 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

Auffälligkeiten, Missstände u. ä. im Hand- Götze, Lutz; Gerhard Helbig; Gert Henrici u. a.


lungsraum der Auslöser für Problematisierun- (1995): Handbuch Deutsch als Fremdsprache. In:
gen (Bittere Pillen 1983, Risikofaktor Medizin DaF 32/2, 67⫺81.
1997), wobei die negative Wertung oft in Titeln Hoffmann, Lothar (Hg.) (1975): Fachsprachen und
oder in Ausdrücken wie (Halb-)Gott im wei- Sprachstatistik. Beiträge zur angewandten Sprach-
ßen Kittel, Chemiebombe, medizinisches Ver- wissenschaft. Berlin (Sammlung Akademie-Verlag
41).
suchskaninchen zur Sprache kommt. Ziel der
Kritik sind oft auch laienadressierte Texte: ⫺; Hartwig Kalverkämper; Herbert Ernst Wiegand
(Hg.) (1998): Fachsprachen Languages for special
Gesprächsbeiträge des Arztes, Packungsbei-
purposes. Ein Internationales Handbuch zur Fach-
lagen. Deren Verstehen ist für Laien (über- sprachenforschung. An International Handbook of
lebens)notwendig, wird aber u. a. durch die Special-Language and Terminology Research. Ber-
im Dienste einer fachlogisch präzisen Dar- lin/New York.
stellung verwendeten Fachtermini, durch die Hoffmann, Ludger (1997): C1 Sprache und Illoku-
für Laien ,schweren‘ Wörter, erschwert oder tion; C2 Diskurs und Mündlichkeit; C3 Text und
nahezu unmöglich gemacht, was sich in Schriftlichkeit. In: Gisela Zifonun; Ludger Hoff-
Kennzeichnungen wie Fachchinesisch, Fachla- mann; Bruno Strecker u. a. (Hg.) (1997): Gramma-
tein, Fachkauderwelsch Luft verschafft. Der tik der deutschen Sprache. Berlin.
Arzt mag durch Umschreibungen i. S. der HWG (1978): Gesetz über die Werbung auf dem
Alltagslogik bzw. durch Transformation von Gebiete des Heilwesens. In: Kloesel/Cyran 1982,
Patientenäußerungen in sein Expertensystem B 3.7.
aus diesem Dilemma einen Ausweg zu finden Kloesel, Arno; Walter Cyran (Hg.) (1982): Arznei-
suchen. Doch bei den Packungsbeilagen ist mittelrecht […] Kommentar. Bearb. v. Karl Feiden;
dieser Weg grundsätzlich versperrt. Die im Hermann Pabel. 3. völlig neu bearb. Aufl. Stutt-
AMG 1976 festgeschriebenen zwei Forderun- gart.
gen, nämlich sachgebotene Genauigkeit ei- Lalouschek, Joanna (1995): Ärztliche Gesprächs-
nerseits und Verständlichkeit für Laien ande- ausbildung. Eine diskursanalytische Studie zu For-
rerseits, sind miteinander unvereinbar. Das men des ärztlichen Gesprächs. Opladen.
Dilemma ist nicht aufhebbar. ⫺; Florian Menz; Ruth Wodak (1990): Gespräche
zwischen Ärzten, Schwestern und Patienten. Tübin-
gen (Kommunikation und Institution 20).
6. Literatur in Auswahl Löning, Petra (1981): Zur medizinischen Fachspra-
che. Stilistische Gliederung und Textanalysen. In:
Generell verweise ich auf Mentrup 1988, auf die
Muttersprache 91 (1981), 79⫺92.
dort verarbeitete und zum Teil kritisch diskutierte
umfangreiche Literatur. ⫺ (1985): Das Arzt-Patienten-Gespräch. Gesprächs-
analyse eines Fachkommunikationstyps. Bern. (Ar-
AMG (1976): Gesetz zur Neuordnung des Arznei-
beiten zur Sprachanalyse 3).
mittelrechts. In: Kloesel/Cyran 1982, A 2.0.
⫺; Jochen Rehbein (Hg.) (1993): Arzt-Patienten-
Bittere Pillen (1983): Bittere Pillen. Nutzen und Ri-
Kommunikation. Analysen zu einem interdisziplinä-
siken der Arzneimittel. Ein kritischer Ratgeber. Be-
ren Problem. Berlin.
arb. v. Langbein, Kurt; Hans-Peter Martin; Peter
Sichrowsky u. a. Köln. ⫺; Sven Frederik Sager (Hg.) (1985): Kommunika-
tionsanalysen ärztlicher Gespräche. Ein Hamburger
Bühler, Karl (1933/1969): Die Axiomatik der
workshop. Hamburg.
Sprachwissenschaften (1933). Einleitung und Kom-
mentar v. E. Ströker. Frankfurt a. M. ⫺; Marion Hartung; Claus Knapheide u. a. (1990):
Bibiographie zur Arzt-Patienten-Kommunikation.
⫺ (1934/1965): Sprachtheorie (1934). 2. unv. Aufl.
Hamburg (Arbeitspapier 6 des DFG-Projekts
Stuttgart.
Sprachliche Verständigungsprozesse in der Arzt-Pa-
Burg, Engelina von (1990): Die schriftliche Arbeits- tienten-Kommunikation).
sprache der Medizin. Eine linguistische Untersu-
Lörcher, Helga (1983): Gesprächsanalytische Unter-
chung am Beispiel der Krankengeschichte. Bern etc.
suchungen zur Arzt-Patienten-Kommunikation. Tü-
Ehlich, Konrad; Armin Koerfer; Angelika Redder bingen (Linguistische Arbeiten 136).
u. a. (Hg.) (1990): Medizinische und therapeutische
Mentrup, Wolfgang (1984): Ödem ⫺ Diuretikum
Kommunikation. Diskursanalytische Untersuchun-
⫺ Natrium. Zu Bedeutungserklärungen in einspra-
gen. Opladen.
chigen Wörterbüchern. In: Klaus Oehler (Hg.)
Fluck, Hans-Rüdiger (1996): Fachsprachen. Einfüh- (1984): Zeichen und Realität. Akten des 3. Semioti-
rung und Bibliographie. 5. Aufl. Tübingen. schen Colloquiums 1981. Tübingen, 605⫺616.
Gläser, Rosemarie (1990): Fachtextsorten im Engli- ⫺ (1988): Zur Pragmatik einer Lexikographie.
schen. Tübingen (FFF 13). Handlungsausschnitt ⫺ Sprachausschnitt ⫺ Wörter-
Goltz, Dietlinde (1969): Krankheit und Sprache. buchausschnitt. Auch zur Beschreibung schwerer
In: Sudhoffs Archiv 53 (1969), 225⫺269. Wörter in medizinischer Kommunikation. Am Bei-
58. Wirtschaftstexte 573

spiel fachexterner Anweisungstexte. Tübingen (For- Redder, Angelika; Ingrid Wiese (Hg.) (1994): Medi-
schungsberichte des Instituts für deutsche Sprache zinische Kommunikation. Diskurspraxis, Diskurs-
66.1, 66.2). ethik, Diskursanalyse. Opladen.
⫺ (1994): Fachchinesisch bei Arzneien. In: DAG Rehbein, Jochen; Petra Löning (1995): Sprachliche
Journal 456/47 (1994), 28. Verständigungsprobleme in der Arzt-Patienten-Kom-
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Meyer, Paul Georg (1996): Nicht fachgebundene sprächen in der Facharzt-Praxis. Hamburg (Arbei-
Lexik in Wissenschaftstexten. Versuch einer Klassi- ten zur Mehrsprachigkeit 53).
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Schefe, Peter (1975): Statistische syntaktische Ana-
Müller-Römer, Dietrich (1978): Arzneimittelrecht lyse von Fachsprachen mit Hilfe elektronischer Re-
von A⫺Z. Handbuch für die pharmazeutische Pra- chenanlagen am Beispiel der medizinischen Fach-
xis. Neu-Isenburg/München. sprache im Deutschen. Göppingen.
Polenz, Peter von (1974): Idiolektale und soziolek- Schuldt, Janina (1992): Den Patienten informieren.
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⫺ (1982a): Sprachnorm, Sprachnormung, Sprach- Thiel, Gisela; Gisela Tome (1996): Beobachtungen
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stik. Darmstadt, 373⫺384. Französisch) an wissenschaftsjournalistischen Auf-
sätzen im medizinisch-naturwissenschaftlichen The-
⫺ (1982b): Sprachkritik und Sprachnormenkritik. menbereich. In: Fachsprache 18 (1996), 27⫺35.
In: Hans-Jürgen Heringer (Hg.) (1982): Holzfeuer
im hölzernen Ofen. Tübingen, 70⫺93. Wolfgang Mentrup, Mannheim (Deutschland)

58. Wirtschaftstexte

1. Einleitung Zugriff allmählich ein erkenntniskritisches


2. Das Problemfeld ,Wirtschaftstexte‘ Verständnis im Umgang mit ,Wirtschaftstex-
3. Linguistische Zugriffe auf den Gegenstand ten‘ entwickelt (3.). Sodann wird die Frage
,Wirtschaftstexte‘
4. Die Erkundung und Erprobung von
behandelt, weshalb die Beobachtung münd-
Wirtschaftskommunikation im Unterricht licher und schriftlicher Wirtschaftskommuni-
5. Ausblick kation im Unterricht auf die Erkundung und
6. Literatur in Auswahl Erprobung authentischer Kommunikation
hinausläuft (4.). Den Abschluss bildet ein
Ausblick auf Forschungsdesiderata, wie sie
1. Einleitung sich aus einer kommunikationstheoretischen
Wirtschaft ist überall und deshalb gibt es Sicht auf das Problemfeld ,Wirtschaftstexte‘
auch überall Texte, die auf die eine oder an- ergeben (5.).
dere Weise mit ihr zu tun haben. Diese Fest-
stellung setzt ein modernes Verständnis von 2. Das Problemfeld ,Wirtschaftstexte‘
Wirtschaft voraus, das in der europäischen
Geschichte erst relativ spät ausgebildet wur- Will man angeben, von welchem Standpunkt
de (Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand 1998). aus eine systematische Darstellung der rele-
Da also der analytische Zugriff auf ,Wirt- vanten Zugriffe auf den Gegenstand ,Wirt-
schaftstexte‘ historisch bedingt ist, werden schaftstexte‘ unternommen werden kann,
zunächst die Vorverständnisse ermittelt, die so empfiehlt sich eine begriffsgeschichtliche
heute die Beschäftigung mit ,Wirtschaft‘ und Rekonstruktion der beiden Teile dieses No-
mit ,Wirtschaftstexten‘ steuern (2.). Danach minalkompositums. Diese Bedeutungsge-
geht es darum, inwieweit der linguistische schichte liefert erste Aufschlüsse, weshalb
574 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

Ausdrücke wie ,Wirtschaft‘ oder ,Geld‘ und durch „Volkswirtschaftslehre“ ersetzt wird.
,Satz‘ oder ,Text‘, die im Alltag mit großer Mit der Gründung der ersten Handelshoch-
Selbstverständlichkeit verwendet werden, in schulen im Jahre 1898 (Leipzig, St. Gallen,
den Bezugsdisziplinen des Fremdsprachenun- Aachen, Wien) erhält die „Betriebswirt-
terrichts oft höchst umstrittene Leitvokabeln schaftslehre“ disziplinäre Eigenständigkeit
sind. (vgl. die relevanten Einträge in Albert/Born/
Ernst u. a. 1977⫺1983 und in Dichtl/Issing
2.1. Zum Begriff ,Wirtschaft‘ 1987). Bezüglich der Linguistik ist zu beach-
In der abendländischen Geschichte verweisen ten, dass sich die Wirtschaftswissenschaften
Titel wie das deutschsprachige Wort „Wirt- von Beginn an als „Handlungswissenschaft“
schaft“ zwar stets auf eine „planmäßige Tä- etabliert haben. Sie sind bestrebt wirtschaftli-
tigkeit“, doch hat sich die Bedeutung, dass es che Handlungszusammenhänge zu verstehen,
sich dabei vornehmlich um die „Erzeugung, um in sie einzugreifen.
Verteilung u. Verwendung von Gütern“ (Wah-
rig 1984, 1760) handelt, erst nach und nach 2.2. Zum Begriff ,Text‘
eingebürgert. Zunächst ist es die seit dem Im Anschluss an die soeben erwähnten Ein-
16. Jh. aufkommende Hausväterliteratur, die sichten kann man in historisch-systemati-
die Entlehnung „Ökonomie“ durch das Wort scher Absicht einerseits zwischen der vorwis-
„Wirtschaft verdeutscht, ohne jedoch schon senschaftlichen und der wissenschaftlichen
eine Ablösung vom alteuropäischen Öko- Beschäftigung mit dem Objekt „Text“, ande-
nomik-Begriff herbeizuführen (Burkhardt; rerseits jedoch auch zwischen den Eigenhei-
Spahn; Oexle 1992, 511ff.). Dieser war einer- ten verschiedener Zugriffe auf diesen Gegen-
seits geprägt durch den Ordo-Gedanken, stand unterscheiden. Zu trennen sind vor-
der auf die Harmonie des auf ständischer und außerphilologische Zugriffe, wie man sie
Ungleichheit beruhenden Hausverbandes (oi- im Alltag oder etwa in Theologie und Juris-
kos) setzte. Andererseits blieb Autarkie das prudenz kannte und kennt, von philologi-
oberste Ziel der Verwaltung des agraradligen schen Zugriffen. Wissenschaftsgeschichtlich
Hauses, weshalb eine „richtige Haushal- ist besonders an den Konstitutionsprozess
tung“ Lehrgegenstand der antiken Ökono- der Neuphilologien im 19. Jh. zu erinnern, da
mik wurde, die Gewinnstreben noch scharf dort die Gründe dafür zu finden sind, wes-
verurteilte (Chrematistik). Gleichwohl lässt halb man die Beschäftigung mit eher profa-
sich bereits ab dem 11. und 12. Jh. ein ausgie- nen Textsorten nicht für opportun hielt
biges Nachdenken über Markt und Handel, (Fohrmann/Voßkamp 1994). Die Modernisie-
eine positive Bewertung des Kaufmanns so- rung der Sprachwissenschaft setzt mit der
wie das Aufkommen einer Kaufmannslitera- Umstellung von der Diachronie auf die Syn-
tur feststellen. Erst im 18. Jh. bricht das chronie ein und führt zur Beschäftigung mit
Nachdenken über wirtschaftliche Zusammen- dem „Text“ bzw. mit der „Textsorte“ (Heine-
hänge dem Übergang von der alteuropäi- mann/Viehweger 1991). Bei der Arbeit am
schen „Hauswirtschaft“ auf eine „Marktwirt- „Text“ als der größten satzüberschreitenden
schaft“, deren Gewinnstreben nicht mehr Analyseeinheit kann man eine textinterne
zu bremsen ist, vollends die Bahn. Geschult Perspektive, der es um Fragen von Textstruk-
am merkantilistischen und kameralistischen tur oder von Referenzbeziehungen geht, von
Wirtschaftsdenken der Territorialstaaten sind einer textexternen Perspektive trennen, die
es zunächst die französische Physiokratie und eher auf „Einsichten in die Regelhaftigkeit
dann die angelsächsische Klassik, die mit von Textbildung (Textkonstitution) und Text-
„Boden“ und mit „Arbeit“ Produktionsfak- verstehen (Textrezeption)“ (Brinker 1985, 8)
toren entdecken, die in Konzepte der „Ver- abzielt. Beide Perspektiven kann man wie-
mehrung“ von Reichtum eingearbeitet wer- derum aufeinander beziehen und beobachten,
den. Im Kern erkannt wird somit die Auto- dass gegenwärtig mit Nachdruck die Erfor-
nomie der „Wirtschaft“ in einer arbeitsteili- schung schriftlicher und mündlicher Kom-
gen Gesellschaft, und ihre besondere Funk- munikation gefordert wird.
tion wird darin gesehen „zukunftsstabile Vor-
sorge mit je gegenwärtigen Verteilungen“ zu 2.3. Disziplinäre Zugriffe auf den
verknüpfen (Luhmann 1989, 64). Indem diese Gegenstand ,Wirtschaftstexte‘
Erkenntnis durchgesetzt wird, beginnt auch Betreibt man Begriffsgeschichte als Ge-
die theoretische Selbstbeschreibung der ,Wirt- schichte des versprachlichten Wissens, so
schaft‘. Zunächst geschieht dies unter dem stößt man auf das Problem, dass nicht er-
Titel der „Nationalökonomie“, der später kennbar ist, was Wirtschaft und Text ,an
58. Wirtschaftstexte 575

sich‘ sind, sondern allenfalls, unter welchen gisch-lexikologische Arbeiten enthält, die sich
Bedingungen und mit welchen Folgen Wissen an der historischen Methode der Vergleichen-
über die so bezeichneten Phänomene erzeugt den Sprachwissenschaft des 19. Jh.s orientie-
und verwendet wird. Man findet also keine ren. Zentrales Klassifikationsprinzip ist die
allgemeingültige Definition von ,Wirtschafts- Ermittlung des formalen Unterschieds zwi-
texte‘, wohl aber Hinweise, wie man sich in schen wirtschaftssprachlichem Terminus und
diesem Problemfeld orientieren kann. Hierzu ,gemeinsprachlichem‘ Wort. Jedoch erfährt
gehört, dass man nicht trennscharf zwischen man nicht nur, dass Deutschland das wahre
Wirtschaftstexten und benachbarten Textsor- „Dollarland“ sei, weil „Dollar“ von „Taler“
ten, jedoch zwischen Zugriffen auf diese abgeleitet ist, sondern ebenso, wie man das
randunscharfen Textsorten in Alltag, Beruf Verhältnis von „Handels-Hochschule und
und Wissenschaft unterscheiden kann Sprachwissenschaft“ oder von „Sprache und
(Hundt 1995). Die Vielfalt zwingt ferner zum Wirtschaftswissenschaft“ betrachten sollte.
Nachdenken darüber, worin der Erkenntnis- Die Aufgabe der „Sprachwissenschaft auf der
gewinn der Linguistik im Verhältnis zur Wirt- Handels-Hochschule“ erkannte Messing
schaftswissenschaft besteht. Die Antwort auf darin, „als Wissenschaft von der National-
diese Frage ist wiederum von fundamentaler kultur der Völker“ (1932, 116) der „Völker-
Bedeutung für den Unterricht, da stets zu verständigung und darüber hinaus der Selbst-
entscheiden ist, an welchen Vorgaben aus All- erkenntnis“ (1932, 6) zu dienen. Ähnlich wie
tag, Beruf oder Wissenschaft man sich orien- die Ansprüche des Prager Germanisten Hugo
tieren muss, wenn im Unterricht die Bewäl- Siebenschein (1936) führte diese Auffassung
tigung unterrichtsexterner Kommunikation zu einer Überfülle an Forschungsgegenstän-
eingeübt werden soll. Diese Probleme sind in- den, die nicht mehr methodisch kontrolliert
des nicht neu. Aufgeworfen wurden sie be- zu bewältigen war.
reits um 1920 an den europäischen Handels- Eine systematische Kritik der diachronen
hochschulen, wo man sie nicht länger philo- Spielart von Wirtschaftslinguistik wurde von
logisch, sondern im Grunde bereits im Sinne Mitarbeitern der Prager Handelshochschule
der angewandten Sprachwissenschaft zu be- erarbeitet, die die Beschäftigung mit jeder Art
antworten versuchte. von ,Fachsprache‘ auf rein linguistische, be-
sonders auf strukturelle und funktionale
3. Linguistische Zugriffe auf den Grundlagen zu stellen suchten. Ihnen zufolge
bildet die „Wirtschaftslinguistik“ ein eigen-
Gegenstand ,Wirtschaftstexte‘ ständiges Fach, das nach einer Erklärung
Die linguistische Analyse von Wirtschaftstex- „der Sprache der gegenwärtigen wirtschaftli-
ten wird inzwischen gern als Erkenntnispro- chen Tätigkeiten in ihrem gesamten Ausmaß“
zess beschrieben, der geradlinig vom Termi- strebt (Vancura 1936, 161; m. Ü., E. R.). Pro-
nus zur Fachsprache und von dort über den grammatisch wird gefordert, dass man weder
Fachtext zur Fachkommunikation fortge- nur mit Termini durchsetztes Sprachmaterial
schritten ist. Dennoch ist nicht zu übersehen, noch bloß einzelne Wörter oder Phrasen un-
dass die Geschichte der Auseinandersetzung tersuchen soll, sondern dass in Wort und
mit diesem Gegenstand sehr kontrovers und Schrift allein „die Gesamtheit des sprachli-
diskontinuierlich verlaufen ist und dass auch chen Materials, das dem Zweck geschäftli-
in der Gegenwart nicht immer Einhelligkeit cher und wirtschaftlicher Tätigkeiten dient“,
darüber besteht, wie man sich ihm in Wissen- Ausgangspunkt der Erforschung von „Wirt-
schaft und Praxis am besten nähert. schaftssprache“ sein kann (Vancura 1936,
162; m. Ü., E. R.). Einerseits ist bemerkens-
3.1. Frühe Forschungsansätze wert, dass Sprache im Kern bereits als Mittel
Obwohl Wirtschaftstexte zu den ältesten be- der Kommunikation begriffen wird. Die
legten Textsorten der Menschheit gehören, Lehre von der Funktionalstilistik sieht, dass
und obwohl man bereits in der mittelalterli- die (National-)Sprache im Handlungsvollzug
chen Schreibschule lernte, wie man rechtlich polyfunktional und polykontextural genutzt
verbindliche Geschäftstexte aufsetzt, hat man wird. Andererseits ist jedoch nicht zu überse-
doch erst zu Beginn des 20. Jh.s damit begon- hen, dass das Programm noch zwischen einer
nen, das Phänomen ,Wirtschaftssprache‘ sys- Untersuchung der Rolle sprachlicher Ele-
tematisch zu untersuchen. Als repräsentativer mente in der Kommunikation und einer Ana-
Überblick über den Stand der frühen For- lyse des Stellenwerts dieser Elemente im
schung gilt Messings Band „Zur Wirtschafts- Sprachsystem, also zwischen Kommunika-
Linguistik“ (1932), der großenteils etymolo- tions- und Systemlinguistik schwankt.
576 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

Mit dem Einmarsch der deutschen Trup- Eine vergleichbare Terminologiearbeit erfor-
pen in die Tschechoslowakei fanden diese Ar- dert z. B. die Sprachnormung, wie sie in den
beiten ein vorläufiges Ende. Bislang ist man ehemals sozialistischen Staaten durch die An-
sich einig, dass es nach dem Krieg lange dau- passung an den marktwirtschaftlichen Wort-
erte, bevor man in Ost und West wieder zum schatz ausgelöst wurde.
Reflexionsniveau der Prager aufschließen
konnte (Drozd/Seibicke 1973, Kap. I). 3.3. Morphologie und Syntax
3.2. Terminologie In diesem Bereich liegen sehr viele Arbeiten
vor (Ohnacker 1992), an denen sich in der
Studien zur Wirtschaftsterminologie liegen Regel übereinstimmende Kritiken entzünden.
nur vereinzelt vor. Erwähnenswert ist etwa Sie setzen an dem Punkt ein, dass reine
die Arbeit von Kutzelnigg (1965), in der ver- Formkriterien nicht genügen, um zu entschei-
sucht wird, nach dem Vorbild der Biologie, den, ob es sich bei einem Ausdruck wie „selb-
Waren bzw. Kategorien von Waren begriffs-
ständige Arbeit“ um einen Ausdruck der Ge-
systematisch zu ordnen. Weit stärkere Beach-
mein- oder der Wirtschaftssprache handelt.
tung findet die Terminologiearbeit dagegen
bei der Erstellung von mehrsprachigen Fach- In die formale Analyse von Wirtschaftstext-
wörterbüchern. Dabei stellt sich heraus, dass qualitäten schleichen sich so unbemerkt se-
Termini nicht rein ausdrucksseitig, sondern mantische Urteile ein. Ferner wird der Vor-
nur relativ zum Inhalt weiterer Begriffe des- wurf erhoben, dass Frequenzanalytiker meist
selben Systems erfassbar sind. Dies veran- fachttexttypologisch naiv vorgehen, da sie
schaulicht ein Vergleich der Organbezeich- einschlägige Pressetexte als repräsentativ für
nung von deutscher AG und finnischer Oy. die Wirtschaftssprache ansehen und sich da-
In der Übersicht befinden sich links oben die her meist auf Börsenberichte verlegen. Neben
Begriffe der AG, rechts oben ihre finnischen dem allgemeinen Theoriedefizit wird außer-
Entsprechungen. Rechts unten befinden sich dem beanstandet, dass nur Einzelphänomene
die (möglichen) Begriffe der finnischen Oy, aufgegriffen werden und dass Befunde zwar
links unten ihre deutschen Äquivalente ⫺ fachttexttypisch, aber nicht wirtschaftstextty-
und zwar: ohne Klammern die völligen Ent- pisch ausfallen.
sprechungen, in runden Klammern die par- Dennoch kann man auf zwei Arbeiten hin-
tiellen Entsprechungen und in eckigen Klam- weisen, denen im Bereich von Morphologie
mern Vorschläge, durch welche Ausdrücke und Syntax Mustergültigkeit zukommt. Die
die terminologischen Lücken, die durch Fra- erste konzentriert sich auf die „wissenschaft-
gezeichen gekennzeichnet sind, geschlossen liche Fachsprache der Wirtschaft“, indem sie
werden könnten (nach Stagneth 1994, 203): ein Textkorpus von 2000 Sätzen analysiert,
die aus den Werken von 50 deutschsprachi-
deutsche AG finnische gen Autoren stammen (de Cort/Hessmann
Entsprechungen 1977/1978/1979). Diese Studie stellt sich wie-
der dem Vorkriegsauftrag, syntaktische Er-
Hauptversammlung yhtiökokous
kenntnisse für den Fachfremdsprachenunter-
Aufsichtsrat hallintoneuvosto richt zu ermitteln. Im Einzelnen untersucht
Vorstand hallitus oder werden die Frequenz von Satzgliedern im
johtokunta Einzelsatz, die Arten der hypotaktischen und
parataktischen Satzverbindung, die Frequenz
deutsche finnische Oy und Bildung des Passivs, die Arten und Fre-
Entsprechungen quenzen der erweiterten Attribute, die Häu-
figkeit von Fügungen mit „zu (⫹ Artikel)
Hauptversammlung yhtiökokous ⫹ Subst. auf -ung“ u. ä. m. Nach Art dieser
?[Verwaltungsrat] hallintoneuvosto Analysen fallen die didaktischen Hinweise
(nur in manchen aus: Demnach „täte[n]“ Lehrer „klug daran“
Gesellschaften) solche Texte heranzuziehen, die bevorzugt
(Aufsichtsrat) hallitus/ „Einzelsätze oder einfache Gefüge“ verwen-
hallintoneuvosto den. Da ferner „82 v. H. aller Attributsätze
?[Geschäftsführender toimitusjohtaja durch Relativpronomen eingeleitet werden“,
Direktor] muss der Leser die „Bezugswörter erkennen“
Vorstand johtokunta oder lernen, was heißt, dass er „auch wissen
hallitus [muss], dass sich die Kongruenz zwischen
Pronomen und Bezugswort auf Genus und
58. Wirtschaftstexte 577

Numerus beschränkt“ (de Cort/Hessmann wirtschaftlichen Verhältnisse einer Gesell-


1979, 93). schaft zu verschleiern. Selbst wenn man dies
Im Rahmen der zweiten Arbeit wurde auf zurückweist, kann man von der inzwischen
der Grundlage eines Textkorpus von 251 000 üblichen Auszeichnung von Lebensmittelwa-
Wörtern nachgewiesen, dass die relative Fre- ren mit Herstellungs- und Verfallsdatum so-
quenz von Partizipialattributen „fachtextspe- wie mit Angaben zu Gewicht, Inhalt und
zifisch“ ist, da sie „über 6mal so groß wie in Herkunft doch ersehen, wie die sprachkriti-
den Nicht-Fachtexten“ ist (Kvam 1986, 111). sche Aufdeckung manipulativer Strategien
Insgesamt führte der Vergleich der wirt- zur Aufklärung und zum Schutz von Ver-
schaftssprachlichen Textklassen „interne Fach- brauchern genutzt wird.
texte“, „externe Fachtexte“ und „Nicht-Fach- Eine konstruktive Metaphernkritik kann
texte“ zur Erhärtung der These, dass der ferner zeigen, dass der Gebrauch von Meta-
„syntaktische Unterschied zwischen Fachtex- phern sogar erkenntnisstiftend wirkt. Bei der
ten und Nicht-Fachtexten quantitativer Art Vereinfachung komplexer Sachverhaltsdar-
[ist]“ (Kvam 1986, 112). Diesem Befund zu- stellungen greift man auf analoge Beispiele
folge bleibt es eine offene Frage, ob man mit aus Bereichen wie Sport und Spiel zurück,
der syntaktischen Beschreibung zugleich um das Verstehen unvertrauter Inhalte zu er-
auch die definierenden Merkmale eines Fach- leichtern. Weiter werden Metaphern verwen-
textes oder einer Fachtextsorte erfassen kann. det, um Gedanken auszudrücken, für die
noch keine festen sprachlichen Prägungen
3.4. Semantik zur Verfügung stehen. Daraus folgt, dass die
Mittelbar sind Fragen der Bedeutung sprach- „erkannten Gegenstände immer nur über ihre
licher Ausdrücke stets von sprachpflegeri- sprachlichen Fassungen zugänglich [sind] und
schen Arbeiten angesprochen worden, die von diesen her erschlossen [werden]“ (Kroe-
sich sprachpuristisch, sprachkritisch oder ber-Riel 1969, 194). Demzufolge dienen Meta-
ideologiekritisch mit der Sprache in Wirt- phern nicht nur der Verschleierung, denn sie
schaftstexten auseinandersetzen. Anders als sind die besonderen „Mittel, mit denen man
sprachpuristische Bestrebungen, die z. B. den abstrakte Konzepte (wie Markt, Geld, Zins
Fremdwortgebrauch kategorisch ablehnen, etc.) erst konstruieren und be-greifen kann“,
kreisen sprachkritische Arbeiten meist um wie man am „uneigentlichen“ oder „metapho-
das Problem, wie die Verständigung zwischen rischen Sprechen“ z. B. in der „Geldtheorie“
den Wirtschaftsfachleuten und der breiten ersehen kann (Hundt 1995, 283).
Leserschaft verbessert werden kann (Klein/
Meißner 1999). Kritik ruft der Gebrauch des 3.5. Textanalyse
Autorenplurals „wir“ genauso hervor wie die Textlinguistischen Beschreibungsansätzen geht
Verwendung des Kollektivsingulars, wenn es um die Ermittlung der Charakteristika von
z. B. in der Presse statt vom „Wirtschafts- Textganzheiten. Durchgesetzt haben sich vor
minister“ von „Berlin“ die Rede ist. Fast allem Ansätze, die einen Text bzw. das Exem-
schon traditionell ist die Kritik des Ge- plar einer Textsorte gleichsam als die Fortset-
brauchs von Passivformen und anderer agens- zung einer praktischen Handlung mit den
abgewandter Konstruktionen, die in Formu- Mitteln der Sprache zu sehen und zu be-
lierungen wie „Mein Geld arbeitet genauso schreiben versuchen. Im Ergebnis führt dies
hart wie ich“ gipfeln. In diesem Komparativ- zur Auffassung vom Text als einer sprachli-
satz wird je nach Verständnis entweder der chen Handlung, dessen Struktur funktional be-
abstrakte Begriff „Geld“ oder das konkrete dingt ist. Einfaches Beispiel sind Gebrauchs-
Zahlungsmittel „Geld“ in die Subjektstelle anweisungen, in denen Handhabe-Verben
des Handlungsverbs „arbeiten“ geschoben. und Richtungsangaben vorkommen. Im Kern
Das eigentliche Agens, also der sich mit „ich“ sind solche Handlungstexte so gehalten, dass
bezeichnende Sprecher, ist nur über das Pos- sie den Leser dazu anhalten, Schritt um
sessivpronomen „mein“ bestimmbar, z. B. Schritt die Handlungen auszuführen, die not-
durch Rückführung auf den Aktivsatz „Ich wendig sind, um etwa die Einzelteile eines
arbeite mit meinem Geld“. Der entpersonali- Fleischwolfs zu einem funktionstüchtigen
sierte Ausdruck „mein Geld arbeitet“ spielt Küchengerät zu montieren. Im Anschluss an
schon in den Metaphernbereich hinein. Die solche Ansätze hat man festgestellt, dass man
Ideologiekritik hat den Metapherngebrauch zwar die ideale Abfolge der Teilschritte ermit-
in der Wirtschaftspresse pauschal unter den teln kann, dass ihr in Textexemplaren aber
Verdacht gestellt, die wahren Urheber der nicht umstandslos gefolgt wird. In kontrasti-
578 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

ver Sicht scheint etwa das „deutsche Adver- „Bezugszeichenzeile […]


bialsystem wegen seiner differenzierten gram- Betreff: Mängelrüge
matischen und semantischen Struktur“ dafür Inhalt:
verantwortlich zu sein, dass Anweisungen in
1. Anrede
deutscher Sprache expliziter als im Engli-
2. Empfangsbestätigung der Sendung
schen oder Französischen ausfallen (Saile
3. Schilderung der Sachmängel
1984, 236). So haben bereits erste kulturkon-
4. Gewährleistungsansprüche
trastive Textanalysen auf das Problem auf-
5. Verbindlicher Schluss
merksam gemacht, dass Instruktionsstile
6. „Gruß“ (Gönner/Lind 1990, 86)
nicht nur interkulturell, sondern auch intra-
kulturell stark variieren können, weil sie kon- Liegen Musterbeschreibungen von Textsor-
textspezifisch gebraucht werden. ten vor, kann die Sprachverwendungsfor-
Vor allem sprechakttheoretisch inspirierte schung auch empirisch ermitteln, welche
Ansätze haben sich bemüht, den Zusam- Rolle Musterwissen bei der Produktion und
menhang zwischen außersprachlichen Hand- Rezeption eines Textes in verschiedenen Kon-
lungsbedingungen und den ihnen entspre- texten spielt und inwiefern die ungleiche Ver-
chenden Möglichkeiten des sprachlichen teilung dieses Musterwissens in der Kommu-
Ausdrucks in Texten offenzulegen. Ein Pro- nikation zwischen Experten und Laien Ver-
blem dieser Untersuchungen kann darin gese- ständigungsprobleme auslöst. Ähnlich kann
hen werden, dass das theoretische Interesse man vorgehen, wenn man die Herstellung
die konkrete Bestimmung von Fachtextspezi- von neuartigen Texten in neuartigen Situatio-
fika an den Rand drängt. Dies führt u. U. nen untersucht, wofür die Textarbeit im
dazu, dass man die „Funktions- und Organi- „Wirtschafts- und Sozialausschuss“ der Eu-
sationsprinzipien komplexer Äußerungsfol- ropäischen Union ein aufschlussreiches Bei-
gen“ auch im Rahmen „einer handlungs- spiel ist. Im Rückgriff auf Methoden der em-
orientierten Texttheorie“ faktisch nicht „ein- pirischen Sozialforschung kann man einer-
gehender“ „beschreiben“ und „erklären“ seits untersuchen, welche kommunikativen
kann (Brandt/Koch/Motsch u. a. 1983, 105), Routinen Ausschussmitglieder ausbilden, um
wenn man von diesem Handlungszusammen- die für sie oft ungewohnte mehrsprachige Ar-
hang in der Analyse wieder abstrahiert. So beitssituation zu bewältigen und andererseits,
kann man z. B. den Geschäftsbrief als kom- wie im Zuge dieses multilingualen und multi-
plexe sprachliche Handlung auffassen, die in kulturellen Normalisierungsprozesses Texte
kleinere Einheiten, etwa in ,konstitutive‘, ,de- abgestufter Rechtsverbindlichkeit ausgehan-
klarative‘, ,kognitive‘ und ,interaktionelle delt werden. Eine solche Vorgehensweise ge-
Teilhandlungen‘ zerlegbar ist (Koch 1986). währt Einblicke in den Zusammenhang zwi-
Selbst wenn man diesen Kategorien zahlrei- schen der Genese eines Textes und dem Text
che Formulierungsbeispiele zuordnet und sie als fertigem Produkt, dessen sprachliche
sprechhandlungsgrammatisch erläutert, legt Merkmale man wieder systematisch hinsicht-
man dennoch nicht das Kompositionsprinzip lich „Stilistik“, „Metaphorik“ und „Phraseo-
der sprachlichen Handlung ,Geschäftsbrief‘ logie“ oder „Mehrfachadressierung“ und
frei. Dies gelingt erst in dem Maße, wie man „Argumentationsmuster“ beschreiben kann
der Entstehung des kaufmännischen Schrift- (Born/Schütte 1995). Diese ,Eurotext‘-Studie
verkehrs nachgeht. So kann eine Textsorten- kann auch als ein Beispiel dafür gelten, wie
geschichte zeigen, dass etwa die „Mängel- die übliche textzentrierte Analyse durch eine
rüge“ (Reklamation) sowohl Ergebnis als Analyse der Erstellung von textsortenspezi-
auch probates Mittel der Regulierung eines fischen Exemplaren ergänzt werden kann.
bestimmten „betriebswirtschaftlich-rechtli-
che[n] Sachverhalt[es] ist (Gönner/Lind 1990, 3.6. Wirtschaftsdeutsch
86). Erst nachdem man die Mängelrüge als Der Begriff ,Wirtschaftsdeutsch‘ steht für ein
juristischen Schritt innerhalb einer Problem- relativ unübersichtliches Feld, auf dem im
lösungsprozedur erkennt, kann man die not- letzten Jahrzehnt eine Fülle völlig unter-
wendigen Bestandteile, ihre Abfolge im Text schiedlicher Arbeiten erschienen sind, die je-
sowie den sprachlichen Formulierungsspiel- doch über ein gemeinsames Merkmal verfü-
raum bestimmen. Ergebnis der Recherche gen: Immer geht es um Praxisprobleme (vgl.
kann dann sein, dass der „Brieftext“ z. B. der Picht 1989; Müller 1991). Daher werden
deutschen „Mängelrüge“ die folgende „Glie- „Wirtschaftstexte“ vor allem unter dem
derung“ aufweist: Aspekt betrachtet, was man im mutter- oder
58. Wirtschaftstexte 579

fremdsprachlichen Unterricht tun kann, um tersucht worden ist (Ehnert 2000). Dass die-
Lernende auf den außerunterrichtlichen Um- ser Befund im Grunde auch auf die intrakul-
gang mit ihnen vorzubereiten. Im Bereich turelle Wirtschaftskommunikation zutrifft,
Deutsch als Fremdsprache kann man ein- kann man Arbeiten entnehmen, die unter
schlägige Arbeiten danach einteilen, inwie- dem Titel „Betriebslinguistik“ erschienen
weit sie sich auf eine der vier Grundfertigkei- sind (Klein/Pouradier/Wagner 1991; Feld-
ten beziehen, die man im modernen Fremd- busch/Pogarell/Weiß 1991). Teils explizit be-
sprachenunterricht übt. So trifft man vor rufen sich diese Arbeiten auf die Programma-
allem auf Leseanleitungen, die nicht nur tik der frühen Forschungsansätze (3.1.) und
mit Textsortentypologien aufwarten, sondern fordern erneut den Dialog von Wirtschaft(s-
auch in verschiedene Lesestile einführen wissenschaften) und Linguistik (Becker-
(Herrmann 1990). Schreibanleitungen kon- Mrotzek/Doppler 1999).
zentrieren sich in der Regel allein auf die Ge-
schäftskorrespondenz, wenn man von Hin-
weisen zur unterrichtsinternen Textproduk- 4. Die Erkundung und Erprobung
tion absieht. Zum Hörverstehen liegen dage- von Wirtschaftskommunikation im
gen nur sehr wenige Arbeiten vor (Grütz Unterricht
1994), und die ebenfalls recht seltenen
Sprechanleitungen greifen meist auf Vorbil- Aus der Sicht der Unterrichtspraxis scheint
der aus der praktischen Rhetorik zurück und dieser geforderte Dialog dann besonders aus-
beachten daher kaum das Gespräch (Keim sichtsreich zu sein, wenn sich auch die Teil-
1994). disziplinen der Linguistik wie zuvor die Wirt-
Obwohl Verschiedenartigkeit des Ansatzes schaftswissenschaft als „Handlungswissen-
das hervorragende Merkmal der Arbeiten im schaft“ begreifen. Denn gleich, ob es sich um
Bereich Wirtschaftsdeutsch ist, kann man den studien- oder den berufsbezogenen Un-
feststellen, dass sie für die Ausformulierung terricht handelt, stets geht es darum, im Un-
von zwei alternativen Unterrichtsmodellen terricht auf außerunterrichtliche Kommuni-
herangezogen werden. Das erste Modell kation vorzubereiten. Die Erforschung von
wurde von Buhlmann & Fearns (1987, 1989ff.) Wirtschaftskommunikation erfordert also
für den studienvorbereitenden Unterricht ent- eine Ablösung des textzentrierten Blicks,
wickelt und ist durch eine strikte Ausrichtung wenn man tatsächlich die Prozesse der Pro-
auf die „Systematik des Faches“ gekenn- duktion und Rezeption von Exemplaren ei-
zeichnet. Im Kern zielt dieses Modell darauf ner Textsorte in den Griff bekommen will.
ab, dass Kursteilnehmer sich die Fachbegriffe Ein solches Unterfangen läuft im Kern auf
des universitären Grundstudiums aneignen eine Handlungsschemaanalyse hinaus. Diese
und die stilistischen Eigenschaften von Lehr- setzt mit der Beobachtung ein, dass Beteiligte
buchtexten erkennen und reproduzieren ler- typische Aufgaben durch eine typische kom-
nen. Dagegen setzt das von Bolten (1991, munikative Schrittfolge bewältigen. Führt
1993ff.) entwickelte Modell in erster Linie man etwa an Verkaufsgesprächen Korpus-
auf wirtschaftsberufliche Kommunikation, analysen durch, so kann man feststellen, dass
weshalb Kursteilnehmer wirtschaftliche Be- sie im Prinzip über die folgenden Schritte ab-
lange vor allem aus Unternehmenssicht ken- gewickelt werden:
nen lernen. (1.) Ermittlung des Kaufwunsches
Trotz größerer Unterschiede ist beiden An- (2.) Unterbreitung des Angebotes
sätzen gemein, dass sie die Kursteilnehmer (3.) Durchführung der Verkaufshandlung
auf eine nachhaltige Beschäftigung mit dem
deutschen Wirtschaftssystem verpflichten. Die Handlungsschemaanalyse ermittelt zu-
Modelle, die die Außenperspektive und somit nächst einmal die unverzichtbaren Bestand-
die internationale oder die interkulturelle teile eines Gesprächstyps. Alsdann beobach-
Kommunikation zum Ausgangspunkt des tet sie, dass Beteiligte an Verkaufsgesprächen
Unterrichts machen, sind (in Deutschland) bestimmte Rollen einnehmen, weshalb es
bisher nicht ausgearbeitet worden (Kühn z. B. Verkäufern obliegt, den Kaufwunsch des
1996). Dies liegt größtenteils daran, dass man Kunden zu ermitteln und ihm die gewünsch-
im Wirtschaftsdeutschunterricht auf be- ten Dienstleistungen oder Waren vorzufüh-
währte fremdsprachenunterrichtliche Metho- ren. Schließlich stellt sie fest, dass in authenti-
den baut, da die interkulturelle Wirtschafts- schen Verkaufsgesprächen die konstitutiven
kommunikation bisher kaum empirisch un- Bestandteile des Handlungsschemas über un-
580 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

terschiedliche Teilschritte abgewickelt wer- Kommunikationsproblemen begriffen. Dies


den. So können Kunden bereits mit präzisen aber bedeutet, dass man in den Gebrauch ⫺
Kaufwünschen aufwarten und Verkäufer also in die Produktion und Rezeption ⫺ von
können noch nach dem Aushändigen der Exemplaren einer Fachtextsorte eingewiesen
Ware wichtige Produktinformationen geben. wird und werden muss. Deshalb müssen auch
Insgesamt belegen empirische Analysen, dass Linguisten zwischen ihrer externen Beobach-
Beteiligte auf gesprächstypspezifisches Wis- tersicht und der Sicht der beobachteten Wirt-
sen zurückgreifen, um den Gesprächsablauf schaftssubjekte unterscheiden, wenn sie etwa
zu steuern. Sprachlich kommt dies z. B. funktionalstilistische Aussagen über be-
durch die Verwendung von Gliederungssi- stimmte ,Wirtschaftstexte‘ treffen wollen. In-
gnalen zum Ausdruck, im Falle von Missver- zwischen mehren sich die Hinweise, dass die
ständnissen aber auch dadurch, dass man linguistischen Beschreibungsprobleme nicht
sich explizit verdeutlicht, in welcher Phase mit den Kommunikationsproblemen der Be-
des Gespräches man sich gerade befindet. obachteten identisch sind. Trägt man dieser
Interessant ist nun zu sehen, dass das tat- Sachlage Rechnung, dann ergeben sich fol-
sächlich vorhandene gesprächstypspezifische gende Desiderate der Forschung:
Wissen im Rahmen der sprachlichen und ⫺ Produktanalysen sind durch Prozessana-
kommunikativen Schulung übersehen wird. lysen zu ergänzen und zu relativieren. Ne-
So wurde der Nachweis erbracht, dass sich ben der Erstellung synchroner Typologien
am Verkaufsverhalten von Buchhändlerinnen und der synchronen Beschreibung von
nichts änderte, obwohl sie in ihrer Buchhand- Textsorten und Gesprächstypen erfordert
lung ein Kommunikationstraining absolviert dies die Erarbeitung von Textsorten- und
hatten (Brons-Albert 1995a, b). Dass sich Gesprächstypgeschichten
kontinuierliche Übungen kontraproduktiv ⫺ Die Verwendungsforschung ist aufgefor-
auswirken, trifft auch auf andere Bereiche dert, empirisch jene Zusammenhänge auf-
des muttersprachlichen Kommunikations- zudecken, in denen linguistisches Fachwis-
trainings (Fiehler/Sucharowski 1992) sowie sen erzeugt, an interessierte Umwelten ab-
auf die kommunikativen Übungen im Wirt- gegeben und von diesen weiter verarbei-
schaftsdeutschunterricht zu (Reuter 1997). tet wird.
Diese Probleme rühren zum einen daher, dass ⫺ Der Wirtschaftsdeutschunterricht ist dar-
man sich an den normativen, jedoch laienlin- aufhin zu prüfen, in welchem Maße er sich
guistischen Modellen der praktischen Rheto- mit realer Wirtschaftskommunikation be-
rik orientiert, und zum andern daher, dass schäftigt. So gilt es zu ermitteln, wie im
man völlig unterschätzt, was es bedeutet, in Unterricht die Simulation realer Wirt-
Unterricht und Schulung authentische Kom- schaftskommunikation vorbereitet,
munikation zu simulieren. Als Lösung bietet durchgeführt und ausgewertet wird bzw.
sich an, Fälle bereichsspezifischer Wirt- werden kann.
schaftskommunikation in Alltag, Beruf und
Wissenschaft zu erheben, sie zu analysieren Indem sich der Wirtschaftsdeutschunterricht
und für die Darbietung im Unterricht aufzu- und seine Bezugsdisziplinen auf diese For-
bereiten. An die Darbietung schlösse sich die schungen einlassen, leiten sie einen Blick-
Erkundung, Erprobung und Auswertung wechsel ein, der der Umstellung der Optik
ausgewählter Formen bereichsspezifischer von der „Hauswirtschaft“ auf die „Markt-
Wirtschaftskommunikation an. wirtschaft“ in den Wirtschaftswissenschaften
gleichkommt.

5. Ausblick
6. Literatur in Auswahl
Zusammenfassend kann man feststellen, dass
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die Auseinandersetzung mit dem Forschungs- (Hg.) (1977⫺1983): Handwörterbuch der Wirt-
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bislang vor allem Produktanalysen und nicht ten. 10 Bände).
Prozessanalysen im Vordergrund des Interes- Becker-Mrotzek, Michael; Christine Doppler (Hg.)
ses standen. Dies ändert sich gegenwärtig. (1999): Medium Sprache im Beruf. Eine Aufgabe für
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58. Wirtschaftstexte 581

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59. Juristische Fachtexte

1. Forschungslage: Rechtslinguistik und richtssprache (Dölle 1949). Podlech (1975)


juristische Fachsprachendidaktik unterteilt die Rechtssprache in eine Norm-
2. Juristische Fachtexte: Textsortenprobleme sprache (Sprache der Rechtsvorschriften),
3. Juristische Fachtexte in Lehrwerken für
Rechtfertigungssprache (Sprache der gericht-
Deutsch als Fremdsprache: Gängige Praxis
und didaktisch-methodische Folgerungen
lichen Entscheidung) und in eine dogmati-
4. Literatur in Auswahl sche Sprache (Sprache der Rechtswissen-
schaften). Die differenzierteste Taxonomie
findet sich bei Otto (1981), der die Rechts-
1. Forschungslage: Rechtslinguistik und Verwaltungssprache funktional differen-
und juristische ziert in Gesetzessprache, Urteils- und Be-
Fachsprachendidaktik scheidssprache, Wissenschafts- und Gutach-
tersprache, Sprache des behördlichen Schrift-
Fachsprachliche Kommunikationskonstella- verkehrs und Verwaltungsjargon. Solche
tionen werden gemeinhin im Hinblick auf Schichtenmodellierungen haben eher heuristi-
ihre vertikale Schichtung beschrieben: In Ab- schen Erkenntniswert, denn fachsprachliche
hängigkeit von Interessen und Zielvorstellun- Kommunikationskonstellationen lassen sich
gen der Kommunikationspartner sowie den wegen ihrer prinzipiellen Differenziertheit
Besonderheiten der Kommunikationssitua- nicht in ein solches Schema pressen (vgl.
tion werden Fachsprachen differenziert in Fluck 1996, 16ff.): Einerseits zementiert eine
eine Theorie- oder Wissenschaftssprache, solche Schichtung die Vorstellung, die Lexik
eine fachliche Umgangssprache und in eine sei das entscheidende Kriterium zur Kenn-
Werkstatt- oder Verteilersprache (vgl. zeichnung von Fachsprachen, andererseits
Ischreyt 1965; Hahn 1980, 391ff.). Ähnliche suggeriert diese Differenzierung, es gäbe die
Schichtenmodelle existieren auch für die Fachsprache eines bestimmten Faches. Gegen
Rechtssprache. Es wird funktionalstilistisch das Schichtenmodell spricht schließlich die
differenziert in Gesetzessprache und Juristen- Feststellung, dass der juristische Sprachge-
sprache (Gizbert-Studnicki 1984) oder in brauch institutionell bestimmt ist. Interessant
Amtssprache, Wissenschaftssprache und Ge- ist in diesem Zusammenhang Paroussis (1995)
59. Juristische Fachtexte 583

Konzept der „institutionellen Epistemologie anerkannten Rechtfertigungsgrundes) bzw.


des Rechts“, deren Basis der „juristische Dis- von Partizipialkonstruktionen (z. B. Sie war
kurs“ bildet. Die funktionalstilistischen Be- nicht dazu bestimmt und geeignet, einen über
schreibungsmodelle müssen mittlerweile als den geprüften Inhalt der in ihr enthaltenen Ein-
überholt angesehen werden, denn „es gibt zelurkunden hinausgehenden, für sich beste-
nicht die Fachsprache eines Faches, sondern henden Gedankeninhalt zu beweisen), (i) an
nur fachsprachliche Textsorten“ (Spillner langen Hypotaxen („Nach § 24 II entfällt
1983, 26). Nach Fluck (1992, 9; vgl. auch seine Bestrafung wegen Beihilfe zum versuch-
Beier/Möhn 1981, 122) sind sich mittlerweile ten Diebstahl nur, wenn er dadurch zugleich die
Fachsprachenlinguisten und -didaktiker darin Vollendung der begonnenen Tat verhindert
einig, dass sich die „komplexen Fachsprachen (§ 24 II 1) oder wenn er sich durch Einwir-
in ebenso komplexen Fachtexten realisieren, kung auf die Mitbeteiligten, durch Warnung
so dass der Fachtext zunehmend Gegenstand des Betroffenen, durch Anruf bei der Polizei
der Forschung und Vermittlung wurde.“ usw. freiwillig und ernsthaft um die Verhinde-
Betrachtet man auf dieser Folie Untersu- rung der Vollendung bemüht, falls ,die Tat‘
chungen zur Rechtssprache, so lässt sich Fol- (gemeint ist: die in ihren wesentlichen Grund-
gendes festhalten: zügen identisch bleibende Tat) unabhängig von
seinem früheren Tatbeitrag zu Ende geführt
(1) Rechtslinguistische Untersuchungen sind wird (z. B. in der Weise, daß die am Tatort an-
fast ausschließlich bezogen auf Fragen der wesenden Mitbeteiligten nach Rücknahme des
Verständlichkeit der Rechtssprache. Verstän- Nachschlüssels kurzerhand die Tür zum Wa-
digungsprobleme können dabei auftreten renlager aufbrechen und den geplanten Dieb-
zwischen Fachleuten und Laien (z. B. Rich- stahl bewerkstelligen; vgl. § 24 II 2“). (Wes-
tern und Angeklagten) oder aber ⫺ unter in- sels 1989, 200), (j) an der besonderen Meta-
tersprachlichen und interkulturellem Aspekt phorik (Leihmutter, Rechte erwachsen und
⫺ auch zwischen Fachleuten mit verschiede- erlöschen), (k) an der Ideologiegebundenheit
nen Nationalsprachen und Rechtssystemen juristischer Sprache (z. B. Scheinpräzision
(vgl. zur ethnologischen Rechtsforschung rechtssprachlicher Begriffe (z. B. durch „Wert-
Willems 1961; Zeitschrift für vergleichende wörter“ wie betrügerisch, gewissenlos, Rein-
Rechtswissenschaften 1878ff.; vgl. zur Über- heit und Gesundheit des Geschlechtslebens;
setzungsproblematik bes. Mincke 1991). vgl. dazu Clauss 1974; Oksaar 1967, 118f.))
(2) Sprachliche Verständigungsschwierig- oder (1) bei Übersetzungen an den „hard
keiten werden festgemacht (a) an der juristi- words“ (z. B. deutsch Kultur vs. englisch cul-
schen Terminologie (z. B. dolus directus, dolus ture) (vgl. zu solchen Kennzeichen der juristi-
eventualis), (b) an der semantischen Umdeu- schen Sprache Günther 1891; Oksaar 1967;
tung alltagssprachlicher Lexeme als termini Daum 1981; Oksaar 1989, 277ff.; Wasser-
technici (z. B. Besitzer, Eigentümer, Absicht), mann 1990).
(c) an differenzierten semantischen Unter- (3) Wegen solcher vermeintlicher fachspra-
schieden (z. B. Raub vs. Ausführung des chenlexikalischer, -grammatischer, -syntakti-
Raubs; Rat geben vs. raten), (d) an semanti- scher und -stilistischer Verständigungsschwie-
schen Mehrdeutigkeiten (z. B. große Straf- rigkeiten wird ⫺ besonders auch von Juristen
rechtskommission: Ist die Zahl der Mitglieder ⫺ der Vorschlag gemacht, Jurastudierende
oder die Bedeutung der Kommission groß?), und angehende Juristen über Lehrbücher und
(e) am Nominalstil (z. B. Inbrandsetzung, Gel- die Juristenausbildung sprachkritisch auszu-
tendmachung, Unbrauchbarmachung, (f) an bilden: Sie sollen vom abstrakten und komple-
der Personifizierung abstrakter Sachverhalte xen Stil weg zu einem eher situationsbezogen,
(z. B. von Rechtsstellungen: Erblasser, Ge- expliziten „Anreihungsstil“ angeleitet werden
samtschuldner, Wiederbeklagter), (g) an (Seibert 1977, 153; vgl. auch Paul 1983).
grammatischen Inkorrektheiten (z. B. an der (4) Kommunikationsanalysen vor Gericht
inkorrekten Attribuierung: vorläufige Voll- haben ergeben, dass es zwischen Gericht,
streckbarkeitserklärung eines Urteils statt Er- Staatsanwaltschaft, Verteidigung und den
klärung der vorläufigen Vollstreckbarkeit eines nicht juristisch vorgebildeten Verfahrensbe-
Urteils; oder Oxymora: dienende Grund- teiligten (Laien) zu erheblichen „Verständi-
stücke, kalte Aussperrung), (h) an der Anhäu- gungsproblemen“, „Verständnis- und Ver-
fung von Genitiven (z. B. Als Erlaubnistatbe- ständigungsdefiziten“ (Ermert 1983, 12f.),
standsirrtum bezeichnet man die irrige An- „Verständlichkeitshindernissen“ (Herberger
nahme der sachlichen Voraussetzungen eines 1983, 23), „Verständigungsbarrieren“, „Kom-
584 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

munikationsstörungen“ (Wassermann 1983, „die Kenntnis intertextueller Verknüpfungen


53ff.) kommt (vgl. auch Radtke 1981). Zur zwischen Normtexten [d. h. Gesetzestexten]
Eindämmung und Beseitigung dieser Kom- voraus, sei es zwischen besonderem und all-
munikationsstörungen wird von juristischer gemeinem Teil des StGB, sei es zwischen
Seite eine „bürgerfreundliche Justiz“ (Ermert StGB und anderen Rechtsgebieten, wie dem
1983), eine „Justiz mit menschlichem Ant- BGB. Wissen über die ,Bedeutungen‘ von
litz“, „eine Kultur der Gerichtsverhandlung“ Normtexten ist das Wissen über vielfältige
(Wassermann 1983, 47 u. 52) gefordert, die und komplexe rechtsdogmatische Wissens-
durch Kooperativität, Sachlichkeit, geringe rahmen und die Relationen, die sie verknüp-
Distanziertheit und sprachliche Verständlich- fen. Aus dieser Perspektive ist die vermeintli-
keit gekennzeichnet ist (vgl. Wassermann che Beziehung des Wortlauts des Strafgesetz-
1983, 48ff.); zur Umsetzung dieser Forderun- buches zur Gemeinsprache eine rechtstheo-
gen wird eine sprachkritische Ausbildung der retische Fiktion.“ Verständlichkeit ist also
Rechtsreferendare gefordert (vgl. z. B. Paul kein rein sprachliches Problem. Nach Busse
1983). Rechtslinguistische Vorschläge zielen (1992, 39) geht es beim Verstehen juristischer
darauf ab, Teile des Gerichtsverfahrens neu Texte nicht um ein „Verständlich-Machen“
zu gestalten (vgl. z. B. Hoffmann 1983; Hoff- (vgl. Biere 1989) oder Interpretieren der Ge-
mann 1989), Fachsprache in Laiensprache zu setzestexte im philologischen Sinne. Verste-
„übersetzen“ (vgl. Soeffner 1983; Kallmeyer hen juristischer Texte und Textsorten ist nach
1983) oder juristische Texte verständlicher zu Busse (1992, 40) „Arbeiten mit Texten“ (vgl.
formulieren (vgl. z. B. Huth 1983; Stickel auch Busse 1993, 228ff.; zur Verstehenspro-
1983). blematik juristischer Texte vgl. auch Müller
Vergleicht man die juristischen und rechtslin- 1989).
guistischen Untersuchungen mit den Ergeb- (c) Juristische Sprache ist Sprache in Institu-
nissen der allgemeinen Fachsprachenfor- tionen. Es gilt daher die institutionsspezi-
schung, so bleibt Folgendes festzuhalten: fischen Denkmuster, Wissensrahmen und
Kommunikationsformen zu explizieren. Hier-
(a) Das Verständlichkeitsdilemma zwischen aus ergeben sich interkulturelle Unterschiede:
Juristen und Laien ist aus juristischer wie In der englischen Rechtsprechung urteilen die
rechtslinguistischer Perspektive vor allem Richter nach analogen Fällen und nach dem
wortsemantisch und grammatisch-syntak- Sinn des Gesetzes, in der deutschen spielt da-
tisch bedingt. Aufgelistet werden einzelne, gegen die Institutionalisierung geltender
verständnisstörende Missgriffe. Bei der Be- Normtextinterpretationen eine große Rolle.
schäftigung mit diesen Einzelaspekten wird
die Hauptsache vergessen, nämlich dass der Aus den Ergebnissen und Problemen der bis-
Text als Ganzes der Verständigung dient und herigen juristischen und rechtslinguistischen
damit in den Mittelpunkt rechtslinguistischer Forschung lassen sich folgende Konsequen-
Untersuchungen zu stellen ist. zen für einen juristischen Fremdsprachenun-
(b) Der Aspekt der Verständlichkeit wird in terricht ziehen:
der bisherigen Forschung eng an eine Rück-
bindung der juristischen Fachsprache an die (1) Ziele und Inhalte des fachbezogenen
Gemeinsprache geknüpft: Der Gesetzestext Fremdsprachenunterrichts müssen auf die
soll für den Laien verständlich und durch- Voraussetzungen und Bedürfnisse der Ler-
schaubar sein: Dies scheint im Sinne der In- nenden ausgerichtet sein. In der studienbezo-
formationsvermittlung durch die Überset- genen juristischen Fachsprachenausbildung
zung bzw. Übertragung von Fachsprache in kann bei den Deutschlernenden entweder
Gemeinsprache gewährleistet (vgl. Oksaar eine juristische Fachkompetenz vorausgesetzt
1967; Wassermann (1981, 259) schlägt für werden (Studienabschluss im Heimatland)
Gesetzestexte, die sich an den Bürger wen- oder aber die Deutschlernenden beabsichti-
den, eine zweite, gemeinsprachliche Fassung, gen, ihr juristisches Fachstudium durch einen
sog. „Volksausgaben“ vor; vgl. auch Paul Auslandsaufenthalt in Deutschland zu vertie-
1983, 129ff.). Busse (1992, 189) interpretiert fen. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass
die Forderung nach Allgemeinverständlich- die Deutschlernenden sowohl eine juristische
keit juristischer Texte „als völlige Verken- Fachkompetenz in ihrer Muttersprache als
nung der Komplexität des Rechtssystems und auch im Deutschen besitzen und über (teil-
seiner Fachlichkeit“, denn das Verständnis weise unterschiedliche) allgemeine Sprach-
juristischer Texte setzt nach Busse (1992, 189) kenntnisse verfügen. In der universitären ju-
59. Juristische Fachtexte 585

ristischen Fremdsprachenausbildung werden gung juristischer, allgemein fachsprachlicher


die Deutschlernenden dabei mit der juristi- wie spezieller textlinguistischer Erkenntnisse.
schen Fachsprache im Sinne der Theorie- und Der juristischen Fachsprachenmethodik ob-
Wissenschaftssprache konfrontiert. Für die liegt dann die methodische Umsetzung dieser
(in der Regel) nicht juristisch ausgebildeten textsortenspezifischen Sprachverwendung in
Fachsprachenlehrer bedeutet dies, dass sie die fünf Fertigkeitsbereiche. Gegenstand des
sich sowohl mit juristischen als auch mit juristischen Fachsprachenunterrichts müssen
rechtslinguistischen Kenntnissen und Proble- also authentische juristische Fachtexte bzw.
men vertraut machen müssen. Dies erfordert Fachtextsorten sein. Textsorten werden als
⫺ besonders in der universitären Weiterbil- „didaktische Chance“ für die Fachsprachen-
dung von Deutschlehrern ⫺ eine „exemplari- vermittlung angesehen (Fearns 1996). Dies
sche Verzahnung von Fach- und Sprachaus- schließt eine isolierte Behandlung von ver-
bildung“ (Fluck 1992, 241). Schließlich wen- meintlich allgemeinen oder speziellen sprach-
det sich der juristische Fachsprachenunter- lichen Besonderheiten von Fachsprachen
richt auch an Übersetzer, die in die Lage ver- (z. B. Passivkonstruktionen und -ersatzfor-
setzt werden müssen, juristische Fachtexte men, Partizipialattribute, Funktionsverbge-
von ihrer Muttersprache ins Deutsche oder füge; vgl. beispielsweise Gutterer/Latour 1986)
vom Deutschen in ihre Muttersprache über- oder textsorteninadäquate Aufgabenstellun-
setzen zu können und dabei interkulturell be- gen zu fachlichen Textsorten (z. B. Zusam-
dingte juristische wie sprachliche Interferen- menfassung eines Gesetzeskommentars vgl.
zen und Besonderheiten zu erfassen und zu beispielsweise Jung 1994, 74f.) ebenso aus
berücksichtigen. wie die Behandlung „adaptierter Texte“ (vgl.
(2) Ziel des juristischen Fachsprachenunter- Jung 1994, 19) oder populärer (vgl. Gries-
richts ist die Ausbildung einer rezeptiven wie bach/Schulz 1973, 142f.) bzw. populärwissen-
produktiven Sprachkompetenz, die der Be- schaftlicher (vgl. dazu kritisch Buhlmann/
wältigung juristisch relevanter Kommunika- Fearns 1987, 51ff.; vgl. auch Fluck 1992,
tionssituationen dient. Dabei lassen sich fünf 115f.).
Hauptfertigkeiten unterscheiden: (1) Lese- (4) Da das Verstehen juristischer Texte und
verstehen verschiedenartiger Textsorten (z. B. Textsorten nicht mit ihrer Übertragung in die
Gesetzestexte, Gesetzeskommentare), (2) Hör- Allgemeinsprache gleichzusetzen ist, darf die
verstehen juristisch relevanter Hörtextsorten Methodik des juristischen Fachsprachen-
(z. B. juristische Vorlesung, Plädoyers vor unterrichts nicht ausschließlich auf reine
Gericht), (3) Verfassen juristischer Texte Transformationsübungen bezogen sein: Aktiv-
(z. B. juristische Hausarbeiten und Klausu- Passiv-Transformationen, Umformulierung
ren, juristische Gutachten, juristische Schrift- von Passivkonstruktionen in so genannte Pas-
sätze) und/oder produktiver Umgang mit siv-Ersatzformen, Nominalisierung von Ver-
juristischen Schriftstücken (z. B. Formulare), balkonstruktionen oder Verbalisierung von
(4) Ausbildung der mündlichen Sprachkom- Nominalkonstruktionen oder Umformung
petenz (z. B. juristisches Seminargespräch, von Gliedsätzen in Präpositionalphrasen
Plädoyer) und (5) Hin- und Herübersetzung oder umgekehrt. Solche Übungen werden zu-
von Gesetzestexten, Schriftsätzen und Schrift- dem oft isoliert durchgeführt und suggerieren
stücken (z. B. Urteilsbegründungen, Verträge). die semantische Identität der Aussagen nach
Die Gewichtung dieser verschiedenen Fertig- dem Motto: „Eine mündliche Verhandlung
keiten und Schwerpunktsetzungen innerhalb ist eine Verhandlung, die mündlich ist“ (Jung
einzelner Fertigkeitsbereiche erfolgt adressa- 1994, 101). Durch solche Übungen wird nicht
ten- und berufszielspezifisch. deutlich, dass die juristischen Kommunika-
(3) Da jegliche Fachsprachenarbeit als Ar- tionsformen zum institutionellen Sprachge-
beit mit fachsprachlichen Texten bzw. Text- brauch zu rechnen sind. Dieser spezielle
sorten aufgefasst werden muss, müssen diese Sprachgebrauch ist durch die „Eigenständig-
auch Ausgangs- und Zielpunkt des juristi- keit der rechtlich-institutionellen Wirklich-
schen Fachsprachenunterrichts sein. Aufgabe keitskonstruktion“ bestimmt, „die gegenüber
der juristischen Fachsprachendidaktik ist es den Wirklichkeitsformen der Alltagswelt
daher, fach- und adressatenspezifisch wich- bedeutende Unterschiede aufweist“ (Busse
tige Textsorten und Texte zusammenzustellen 1992, 319). Eine Wette ist beispielsweise keine
sowie ihre typischen und besonderen fachli- „Abmachung zwischen zwei Personen, nach
chen wie sprachlichen Eigenschaften heraus- welcher derjenige, der mit seiner Behauptung
zuarbeiten. Dies impliziert eine Berücksichti- Recht behält, vom anderen etw. (z. B. Geld)
586 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

bekommt“ (Duden 1996, 1735), sondern ein lang noch nicht vor. Lediglich in der Arbeit
Vertrag. Früchte sind Erzeugnisse einer Sache, von Busse (1992) werden Gesetzestexte bzw.
zu denen nicht nur Äpfel und Birnen, sondern juristische Kommentare textlinguistisch ana-
u. a. auch Milch, Kälber, Sand, Kies oder Mi- lysiert und beschrieben. Nützlich scheint eine
neralwasser gehören. Für Hruschka (1972, 66) Differenzierung juristischer Texte nach Text-
werden Rechtsphänomene „zur Sprache ge- funktionen. Bei der Bestimmung der Text-
bracht“. Dabei kann bei brisanteren juristi- funktionen ist dabei zu berücksichtigen, dass
schen Begriffen (z. B. Gewalt) eine positivisti- sich diese nicht allein oder vordergründig aus
sche juristische Begriffsauslegung die „Aus- den jeweiligen sprachlichen Formulierungen
dehnung der Staatsgewalt zur Sprachgewalt“ ableiten lassen, sondern vor allem erst aus ih-
herbeiführen (vgl. zu diesem sprachkritischen rer Rolle im institutionellen Handlungszusam-
Ansatz Wimmer 1998; Wimmer/Christensen menhang. Danach lassen sich folgende Text-
1989, 38). klassen bzw. Textsorten unterscheiden:
Nach Busse (1992, Kap. 4 und 5) besteht die (a) Juristische Normtexte. Zu den juristi-
juristische Textarbeit gerade darin, dass für schen Normtexten zählen Textsorten wie Ge-
einen konkreten „Fall“ der Alltagswelt die setze, Verordnungen, Vorschriften, Bestim-
für seine rechtliche Lösung notwendigen ju- mungen, Erlasse, Anordnungen, Verfügun-
ristischen Texte (Gesetzestexte, Kommentare gen, Befehle, Verbote usw. Diese institutions-
usw.) erschlossen werden (Ist bei einem Ge- gebundenen Textsorten sind Grundlage und
brauchtwagenkauf der Käufer nach dem recht- Orientierungspunkt juristischer Entscheidun-
lichen Bezugsrahmen Privatperson oder Kauf- gen (vgl. zur Bedeutungsproblematik der
mann?) Durch diese Zuordnung einzelner Normtexte aus juristischer und linguistischer
Fallbeispiele unter die juristisch relevanten Sicht Müller (1989)). Busse (1992, 263) kenn-
Texte bzw. Textsorten wird eine juristisch- zeichnet die Normtexte als „situationslos“ in-
institutionelle Wirklichkeit konstruiert, die sofern, als den in ihnen „typisierten Inhalten
rezeptiv unter Einbezug juristisch-institutio- keine konkreten Situationen im alltagswelt-
neller Prozeduren und Wissensrahmen re- lichen Sinne entsprechen, da Normtexte ja auf
konstruiert werden kann. Die Übertragung eine Vielzahl von unterschiedlichen Lebenssi-
juristischer Texte in eine allgemeinverständ- tuationen zugeschnitten sein müssen.“ Trotz
liche Textfassung wird dem juristisch-institu- ihres normierenden, regulierenden oder teils
tionell gebundenen Textverstehen damit nicht bindenden Charakters lässt sich für diese ver-
gerecht. Die Didaktik und Methodik des ju- schiedenen juristischen Normtexte keine all-
ristischen Fachsprachenunterrichts darf so- gemeinverbindliche Textfunktion zuordnen.
mit nicht auf die alltagssprachliche Wort- Juristische Normtexte sind „mehrfachadres-
oder Satz-Paraphrasierung juristischer Texte siert“ (vgl. dazu Kühn 1995): „Gegenüber den
beschränkt bleiben, denn im juristischen In- Bürgern durch ihre letztlich immer gesell-
terpretieren ist „anders als im philologischen, schaftsregulativ gemeinte Zielrichtung und
nicht die Fähigkeit, eine passende Paraphrase Begründung; gegenüber den an der Rechts-
des interpretierenden Textes angeben zu kön- verwirklichung arbeitenden Institutionen
nen, das Kriterium des richtigen ,Verstehens‘, (Rechtsprechung, Behörden) als unmittelbar
sondern das aus der Interpretation des Tex- wirksame Verhaltensanweisungen“ (Busse
tes folgende ,richtige‘, (angemessene, akzep- 1992, 116f.; zur Adressatenproblematik aus
tierte) Handeln, d. h. die aus einem Text ab- juristischer Sicht vgl. Krüger 1969; Engberg
geleitete rechtliche Entscheidung“ (Busse 1992, 167 f.). Da Gesetze immer wieder auf die
1992, 269). (sich wandelnden) gesellschaftlichen Lebens-
verhältnisse hin ausgelegt und angewendet
2. Juristische Fachtexte: werden müssen, stehen sie untereinander und
Textsortenprobleme mit anderen juristischen Texten (z. B. Kom-
mentaren) in Verbindung (vgl. (b)).
Aufgrund der rechtslinguistischen Grundla- (b) Juristische Auslegungstexte. Zu den ju-
gen und der didaktisch-methodischen Folge- ristischen Auslegungstexten zählen Kommen-
rungen muss jeglicher juristischer Fachspra- tare, Gutachten, wissenschaftliche Fachauf-
chenunterricht auf juristisch relevante Texte sätze. Die Bearbeitung eines Entscheidungs-
bzw. Textsorten bezogen sein. Textsortenbezo- falls erfordert in der Praxis der Rechtspre-
gene rechtslinguistische Untersuchungen zu chung neben der Berücksichtigung der
wichtigen juristischen Textsorten liegen bis- Normtexte auf der Basis des juristischen Wis-
59. Juristische Fachtexte 587

sensrahmens den Einbezug weiterer Texte, menhang von „interinstitutioneller Wirklich-


die mit diesen entweder explizit oder durch keitskonstruktion.“
die juristische Textarbeit in Verbindung ste-
Selbstverständlich unterscheiden sich die ein-
hen bzw. gebracht werden. Ein juristischer
zelnen Textsorten in den verschiedenen Text-
Auslegungspunkt enthält „das gesamte rele- klassen (a)⫺(d) wiederum voneinander: Ty-
vante juristische Wissen zur Anwendbarkeit pisch für Urteile ist die Abfolge Ergebnis⫺
und deren Bedingungen des kommentierten Begründung, für Gutachten ist die Reihen-
Paragraphen. […] Dadurch entsteht ein kom- folge Begründung⫺Gutachten textsortenspe-
plexes Netz von Wissensbezügen, welches, da zifisch. Juristen unterscheiden daher sinnvol-
diese sämtlich eine Textgrundlage haben, lerweise den „Urteilsstil“ vom „Gutachter-
auch als Netz intertextueller Bezüge aufge- stil“ (vgl. Braunschneider 1993, 31ff.).
faßt werden kann“ (Busse 1992, 125). En- Eine solche Differenzierung juristischer
gisch (1977, 64) beschreibt diese juristische Textklassen bzw. Textsorten lässt sich gut zur
Textarbeit als „Herstellen von Obersätzen“: Darstellung der juristischen Rechtspre-
Aus den juristischen Obersätzen wird die chungspraxis nutzen: Die juristische Ausle-
Strafbarkeit des Angeschuldigten abgeleitet, gung von Gesetzestexten ist eine Arbeit mit
wobei nach Engisch (1977, 65) davon auszu- Texten. Ausgehend von einem konkreten
gehen ist, „daß die juristischen Obersätze aus „Fall“ (juristischer Sachverhaltstext) werden
dem ganzen Gesetz, ja darüber hinaus auch die zu seiner rechtlichen Lösung notwendigen
unter Zuhilfenahme anderer Gesetze aufzu- Gesetzestexte (juristische Normtexte) er-
bauen sind.“ schlossen. Die juristische Textarbeit besteht
Auslegungstexte gehören damit zum Refe- nun darin, auf der Grundlage der juristischen
renz- und Kohärenzbereich von Normtexten Wissensrahmen rechtsrelevante Auslegungs-
(vgl. dazu Busse 1992, 259ff.; Jeand’Heur texte (z. B. Kommentare) auszuwählen und
1989). Eine besondere Art von Auslegungs- für den juristischen Argumentationszusam-
text ist der Lehrbuchtext, der modellartig die menhang zu nutzen. Erst aus dieser intertex-
juristische Textarbeit illustriert. tuellen Arbeit ergibt sich der Entscheidungs-
text, z. B. das Urteil. Die juristische Tätigkeit
(c) Juristische Entscheidungstexte. Zu den besteht also „in der Herstellung einer Vielfalt
juristischen Entscheidungstexten zählen vor komplexer Textbezüge und Bezugsrahmen auf
allem Urteile, Plädoyers, Gutachten, „Fall“- juristische Wissensrahmen“ (Busse 1992, 328).
Lösungen. Diese Entscheidungstexte entste- Die didaktisch-methodischen Konsequenzen
hen durch die juristische Textarbeit: Zur Ent- liegen auf der Hand: Der Fachsprachenunter-
scheidung eines Sachverhalts sind unter Um- richt für Jurastudierende darf weder auf iso-
ständen mehrere Normtexte und entspre- lierte wortsemantische und/oder gramma-
chende Interpretationstexte heranzuziehen. tisch-syntaktische Einzelaspekte noch auf das
Aus dieser Arbeit mit Texten ergibt sich der epistemische Verstehen juristischer Texte be-
Entscheidungstext. Entscheidungstexte kön- schränkt bleiben. Ziel ist vielmehr die metho-
nen wiederum als Interpretationstexte ge- disch aufbereitete intertextuelle Arbeit mit den
nutzt werden. juristisch relevanten Textsorten zum Zwecke
(d) Juristische Sachverhaltstexte. Schilde- der juristischen Entscheidungsfindung.
rungen eines Klienten oder Klägers, Zeugen- Mit der dominierenden textlinguistischen
aussagen, Tatsachenberichte, Fallbeschrei- Orientierung der juristischen Fachsprachen-
bungen, Polizeiprotokolle. Juristische Sach- arbeit rücken auch zwangsläufig Probleme
verhaltsschilderungen enthalten ⫺ wenn sie der Textanalyse in den Mittelpunkt des di-
von Laien stammen ⫺ einerseits eine Fülle daktisch-methodischen Interesses. Eine diffe-
rechtlich irrelevanter Informationen, ande- renzierte Analyse juristischer Textsorten steht
rerseits aber auch juristisch relevante Tatbe- noch aus, so dass man in der unterrichtlichen
standsmerkmale, an die bestimmte Rechtsfol- Praxis auf die eigenständige Analyse juris-
gen geknüpft sind. Juristische Sachverhalts- tisch relevanter Texte bzw. Textsorten ange-
texte, die von Mitgliedern juristischer Institu- wiesen ist. Nach dem bisherigen Stand der
tionen verfasst werden (z. B. von Polizisten, textanalytischen Forschung sollten Texte und
Staatsanwälten, Verteidigern), sind unter in- Textsorten auf drei Ebenen beschrieben wer-
den (vgl. auch Brinker 1990):
stitutionell vordefinierten Aspekten formu-
liert und aufbereitet (vgl. Busse 1992, 304ff.). (1) Formale Textorganisation. Auf der
Busse (1992, 319) spricht in diesem Zusam- Ebene der formalen Textorganisation geht es
588 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

um die Gliederung und Verlaufsstruktur von bei ist davon auszugehen, dass es eher „einfa-
Texten. Texte sind durch Organisationsmar- che“ Handlungsmuster (z. B. DEFINIE-
ker gegliedert, um den Leser-Hörer zu orien- REN) gibt, in die keine weiteren Handlungs-
tieren und zu lenken. Dies betrifft z. B. in muster eingebettet sind. Solche einfachen
Gutachten vor allem die zeitliche Abfolge Muster können unterschieden werden von
von Textteilen und -abschnitten (Einleitungs- komplexeren (z. B. ARGUMENTIEREN),
marker: nun, jetzt, zunächst; Beendigungs- die in weitere, untergeordnete Handlungsmu-
marker: abschließend, Sequenzmarker: einer- ster zerlegbar sind. Zwischen dem komplexen
seits … andererseits usw.). Hinzu kommen Handlungsmuster und dem untergeordneten
können (metasprachliche) Mittel zur Ver- besteht eine instrumentale indem-Beziehung
ständnissicherung und Memorierung (Zu- (z. B. ARGUMENTIEREN, indem BEI-
sammenfassend muss festgestellt werden …), SPIELE GENANNT werden). Weiterhin
zur Aufmerksamkeitssteuerung (In diesem muss berücksichtigt werden, dass für be-
Zusammenhang will ich ausdrücklich betonen, stimmte Texte und Textsorten Handlungs-
dass …), zur Profilgebung (Auf die Frage … mustersequenzen typisch sind, z. B. für juris-
muss genauer eingegangen werden), zur Per- tische Auslegungstexte: BEDINGUNG⫺
spektivierung (Zeuge X hat ausgesagt, dass FOLGE oder URSACHE⫺WIRKUNG.
…) usw. Schließlich ist zu bedenken, dass die verschie-
(2) Themenentfaltung und -behandlung. denen Handlungsmuster sprachlich verschie-
Die Entfaltung eines Großthemas in Teilthe- denartig formuliert sein können. Becker
men oder ganz allgemein der Wechsel von ei- (1986, 137) hat für den Bereich naturwissen-
nem Thema zum anderen ist ebenfalls text- schaftlich-technischer Fachsprache verschie-
sortentypisch. Es lassen sich unterscheiden: denartige Musterformulierungen herausgear-
Themeneinleitungen (zunächst möchte ich X beitet (URSACHE-WIRKUNG: X verursacht
schildern), Themenabschlüsse (abschließend Y, Y ist durch X bedingt, Y beruht auf X), Hon-
möchte ich Y erwähnen), Themenüberleitun- nef-Becker (1992, 64) illustriert Formu-
gen (Strittig ist weiterhin …), Themenpräzi- lierungsvarianten mathematischer Textbau-
sierungen (In diesem Zusammenhang ist be- steine (DEFINITIONEN: Jede G, die die Ei-
sonders hinzuweisen auf …), Themenrück- genschaft E besitzt, bezeichnet man als D; Sei
blenden (Dabei sind wir wiederum bei Punkt die Eigenschaft E erfüllt, dann heißt G D; Eine
X angelangt).
D ist eine G, wobei die Eigenschaft E gilt). Auch
(3) Textsortenkonstitutive Sprachhandlungs-
bei den juristischen Sprachhandlungsmustern
muster. Textsortenkonstitutive Handlungs-
muss von typischen Formulierungen ausge-
muster stellen den zentralen Bereich des
gangen werden. So finden sich in DEFINI-
Sprachhandelns dar. Mit ihnen wird realisiert,
was eine bestimmte Textsorte eigentlich erst TIONEN juristischer Fachwörterbücher bei-
konstituiert. Sie sind vor allem textsorten- spielsweise folgende Formulierungsvarianten:
konstitutiv, d. h. sie bewirken die funktionalen (a) Gleichsetzungen der scholastischen Form
Unterschiede und Besonderheiten von definitio fit per genus proximum et differentiam
Textsorten. DEFINIEREN, BEGRÜNDEN, specificam (mit rechtserweitertem Definiens:
VERALLGEMEINERN, EINSCHRÄN- Arbeitsrecht ist das Sonderrecht der Arbeitneh-
KEN, DIFFERENZIEREN, VERGLEI- mer; mit linkserweitertem Definiens: die
CHEN sind Beispiele für solche Handlungs- pflichtwidrige Vernachlässigung der im Ver-
muster. Für bestimmte juristische Textsorten kehr erforderlichen Sorgfalt; mit links-/rechts-
sind bestimmte Handlungsmuster und erweitertem Definiens: Schlusserbe ist der
Musterabfolgen typisch. So enthalten Fach- durch gemeinschaftliches Testament einge-
wörterbuchartikel beispielsweise vor allem setzte Erbe des zuletzt verstorbenen Ehegat-
deklarative Handlungsmuster (z. B. BENEN- ten); (b) Gleichsetzungen mit spezifizierenden
NEN (Von X wird dann gesprochen, wenn …), Einschränkungen (Schlüssiges Handeln oder
DEFINIEREN (X ist Y), KLASSIFIZIE- konkludentes H. ist ein Verhalten, das eine
REN (Der Begriff X wird in zwei verschiede- Zielsetzung nicht unmittelbar durch eine aus-
nen Bedeutungen gebraucht)), während in drückliche Erklärung, sondern nur mittelbar
Strafgesetzen eher direktive Handlungsmus- aus anderen Gründen erkennen lässt), (c) ein-
ter anzutreffen sind (z. B. GEBIETEN, VER- geschränkte Gleichsetzungen (Urlaub des Be-
BIETEN, ERLAUBEN, ANORDNEN: X amten, Urlaub im beamtenrechtlichen Sinn ist
ist zu unterlassen; Verboten ist, …; Y darf Z; das vom Dienstvorgesetzten genehmigte oder
X soll Y auf … hinweisen) und kommissive kraft Gesetzes angeordnete Fernbleiben vom
(z. B. DROHEN: Wer …, wird bestraft). Da- Dienst), (d) Einordnungen (Arbeitsschutz.
59. Juristische Fachtexte 589

Das Recht des Arbeitsschutzes umfasst alle Lehrprogrammen für den universitären Un-
Normen, die dem Arbeitgeber, ausnahmsweise terricht ist recht schmal (vgl. Abrahámová
auch dem Arbeitnehmer, öffentlich-rechtliche 1997; Jung 1994; Kühn 1992). Wissenschafts-
Pflichten zum Schutz der Arbeitnehmer aufer- orientierte Lehrwerke für Deutsch als Fremd-
legt), Einordnungen mit Einschränkungen/ sprache enthalten gelegentlich einige Texte
Bedingungen/Voraussetzungen (Schlüssigkeit und Übungsaufgaben für Juristen. Vereinzelt
für eine Klage oder einen Antrag liegt dann finden sich in der didaktisch-methodischen
vor, wenn die vom Kläger oder Antragsteller Diskussion Ansätze einer textsortenbezoge-
vorgetragenen Tatsachen den Antrag rechtfer- nen Spracharbeit (vgl. Stock 1985). Beurteilt
tigen, sofern man sie als unstreitig ansieht), (e) man auf der skizzierten rechtslinguistischen
Angabe von Regelungen (unter Angabe von si- Basis (vgl. Kap. 1. und 2.) die bisherigen di-
tuativen Bedingungen/Einschränkungen/Vor- daktisch-methodischen Ansätze, so lässt sich
aussetzungen (Schlechtwettergeld wird in Be- Folgendes feststellen:
trieben des Baugewerbes gewährt, wenn in der
Schlechtwetterzeit aus Witterungsgründen an (1) In wissenschaftsorientierten Lehrwerken
einem Arbeitstag mindestens 1 Arbeitsstunde oder juristischen Lehrprogrammen für
ausfällt und das Arbeitsverhältnis nicht gekün- Deutsch als Fremdsprache werden gelegent-
digt werden kann; Arbeitsstättenverordnung. lich juristische Fachtexte herangezogen und
Die A. vom 20. 3. 1975 (BGBl. I 729) m. Änd. behandelt. Die unterrichtliche Behandlung
regelt einheitlich die Anforderungen an Ar- zielt dabei ab auf die Vermittlung grammatisch
beitsstätten im Interesse des Arbeits- und Be- oder semantisch-syntaktisch korrekter For-
triebsschutzes), (f) Angabe von beispiel- oder mulierungen der juristische Fachsprache: So
fallbezogenen Entscheidungen (Schlägerei. müssen beispielsweise in Gesetzesparagra-
Schon die bloße Beteiligung an einer S. kann phen fehlende Präpositionen oder in Wortbil-
strafbar sein, auch wenn dem Beteiligten nicht dungskonstruktionen alternative Morpheme
nachzuweisen ist, dass er einen anderen kör- ergänzt werden („Aus dem BGB, § 854 I der
perlich verletzt hat). Selbstverständlich sind Besitz einer Sache wird … die Erlangung der
diese Formulierungsvarianten abhängig vom tatsächlichen Gewalt … die Sache erworben“
juristischen Status des jeweiligen Definien- (Schade 1982, 108); „Ergänzen Sie -bar oder
dum. Begriffe, die sich auf Gesetze oder Ver- -lich. Achten Sie auf Adjektivendungen. a) Be-
ordnungen (z. B. X regelt Y, X ist von Y erlas- sitz ist nur die tatsäch … Sachherrschaft“
sen, X wurde zum Schutz/wegen Y erlassen) be- (Jung 1994, 148)), oder aber die Aufgabe be-
ziehen, werden anders definiert als solche, die steht darin, auf der Basis eines Lehrbuchtextes
justiziable Handlungen (z. B. Raub, Verfüh- in einen Lückentext die entsprechenden se-
rung, Sachbeschädigung; X begeht, wer …, X mantisch-syntaktischen Kollokationen einzu-
liegt dann vor, … X setzt Y voraus) oder ju- setzen („Nach Abschluß des Vorverfahrens ent-
ristische Verfahrensabläufe (z. B. Prüfung, scheidet der Staatsanwalt, ob Anklage … wer-
Schlichtung, Einspruch; X ist eine Handlung/ den muß“ (Raab/Seibel 1978, 148)). Solche
ein Verfahren, welches/das …) betreffen. Übungen sind nur vordergründig textorien-
tiert, denn die Texte dienen nur der Einübung
Die Didaktik und Methodik des juristischen formaler Fertigkeiten. Es handelt sich ledig-
Fremdsprachenunterrichts muss nun bei der lich um Einsetzungs- und Kontrollübungen,
unterrichtlichen Behandlung von juristischen
die nicht auf das Textverstehen hin ausgerich-
Texten und Textsorten darauf abzielen, solche
tet sind. Solche Übungen sind aus rechtslin-
typischen und textsortenspezifischen Hand-
guistischer und verstehenstheoretischer Per-
lungsmuster herauszuarbeiten. Erst auf dieser
spektive unbrauchbar.
Basis ist eine intertextuelle Arbeit möglich
(2) In Lehrwerken DaF finden sich auch ju-
und sinnvoll.
ristische Texte, die nicht ergänzt, sondern
durch Transformationsübungen bearbeitet
3. Juristische Fachtexte in Lehrwerken werden sollen (vgl. z. B. Wege, Lehrbuch
für Deutsch als Fremdsprache: 1992, 137; Raab/Seibel 1978, 145). Die unter-
Gängige Praxis und didaktisch- richtliche Behandlung dieser Fachtexte ist da-
methodische Folgerungen bei häufig ebenfalls auf die Vermittlung for-
maler, besonders grammatischer Kenntnisse
In der Unterrichtspraxis werden die rechtslin- eingeschränkt: Beliebt sind beispielsweise
guistischen Grundlagen bislang kaum reflek- Transformationsübungen im Bereich der Mo-
tiert. Das Angebot an speziellen juristischen dalität wie z. B. die Umformulierung von
590 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

Konstruktionen mit haben ⫹ Infinitiv (zu) Themen, die ganz allgemein für wissen-
und sein ⫹ Infinitiv (zu) in müssen-Kon- schaftssprachliche Texte angenommen wer-
struktionen oder umgekehrt. Beispiel (Wege, den (vgl. Gutterer/Latour 1986). Damit wird
Arbeitsbuch 1992, 164): nicht deutlich, welche grammatisch-syntakti-
schen Fragestellungen für bestimmte Texte
„Der Arbeitgeber muß die Unterrichtsstunden
und Textsorten typisch sind. Eine solche
auf die Arbeitszeit anrechnen.
Grammatikarbeit ist zudem keine Arbeit mit
Der Arbeitgeber hat
juristischen Texten ⫺ häufig handelt es sich
Die Unterrichtsstunden sind “.
sogar um isolierte Sätze, die lediglich thema-
Hierbei handelt es sich um isolierte Transfor- tisch auf einen Ausgangstext bezogen sind.
mationsübungen, die den Lernenden die se- Solche grammatischen Übungen sind jedoch
mantische Gleichsetzung der verschiedenen vor allem Selbstzweck, da sie nicht auf das
grammatischen Formulierungen suggeriert Textverstehen funktionalisiert sind. Transfor-
(vgl. dagegen die „Semantik der Rechtssatz- mationsübungen sind nur dann sinnvoll,
modi“ bei Lampe 1970, 35ff.). Gelegentlich wenn durch die Umformulierung elliptische,
werden ⫺ aus rechtslinguistischer Perspek- komprimierte oder implikative Textinhalte
tive völlig falsche ⫺ funktionalstilistische An- unter Heranziehung des juristischen Wissens-
gaben gegeben („Die Konstruktionen mit rahmens und/oder juristischer Auslegungs-
müssen sind jedoch etwas umgangssprach- texte explizit gemacht werden können (vgl.
licher“ (Wege, Arbeitsbuch 1992, 164)). Zu- dazu allgemein von Polenz 1985, 23ff.; für die
dem wird nicht deutlich, welche Formulie- juristische Textarbeit vgl. Kühn 1992, 94). So
rungen für welche juristischen Textsorten ty- ist es beispielsweise wenig sinnvoll, konjunk-
pisch sind. Solche Übungsformen entspre- tionale Nebensätze durch Präpositionalphra-
chen auch in keiner Weise dem institutionel- sen zu ersetzen (vgl. z. B. Jung 1994, 85), da
len Sprachgebrauch der Juristen. Busse Präpositionen häufig polysem und semantisch
(1992, 102ff. u. 112ff.) hat herausgearbeitet, oft viel ungenauer sind als Konjunktionen
dass in Gesetzestexten bei müssen-Konstruk- oder Konjunktionaladverbien. Reine Trans-
tionen ⫺ adressiert an die rechtsunterworfe- formationsübungen („Eine Hauptverhandlung
nen Bürger ⫺ direktive Sprachhandlungen kann nicht stattfinden, ohne daß ein Eröff-
(BEFEHL, ANORDNUNG, AUFFORDE- nungsbeschluß vorliegt“ J Ohne Eröffnungsbe-
RUNG) im Vordergrund stehen (z. B. Fuß- schluß kann keine Hauptverhandlung stattfin-
gänger müssen die Gehwege benutzen), wäh- den; vgl. Jung 1994, 94) sind nur formal und
rend die Ist-zu-Formulierungen benutzt wer- tragen nichts zum Textverständnis bei; sinn-
den, „um Richtern oder anderen Rechtsan- voller wäre hier eine Auflösung der syntakti-
wendern (Verordnungsgeber, Verwaltungsbe- schen Nominalisierungen (Hauptverhandlung,
hörden) Anweisungen zur Anwendung ge- Eröffnungsbeschluss) (vgl. dazu von Polenz
setzlicher Bestimmungen zu geben“ (Busse 1985, 33). Von Polenz (1985, 29ff.) gibt in ei-
1992, 112f.; z. B. Der Jagdschein ist zu versa- nem historischen Textvergleich zwischen den
gen, wenn …). Ähnliches gilt auch für Aktiv- Zehn Geboten und den Grundrechten eine
Passiv-Transformationen („Die Gerichte spre- Vielzahl von Hinweisen und Beispielen für die
chen in etwa 85% der Fälle eine Geldstrafe aus. Explizitheit und Komprimiertheit juristischer
J In etwa 85% der Fälle wird eine Geldstrafe Texte.
ausgesprochen“. (Raab/Seidel 1978, 139)), da (3) In Lehrwerken wird die Aufgabe ge-
der Aktiv-Satz in erster Linie richteradres- stellt, juristische Begriffe, Sätze oder Texte se-
siert zu interpretieren ist (vgl. auch Busse mantisch zu paraphrasieren. Beispiel (Schu-
1992, 115). Grammatisch-syntaktische Trans- mann 1996, 229):
formationsübungen (Umformulierung von
Gliedsätzen in Präpositionalphrasen, Nomi- „§ 14 Ausländergesetz
nalisierung verbalisierter Ausdrücke, Trans- Formen Sie die Sätze schriftlich um. Benutzen
formation von Adjektivattributen in Relativ- Sie dabei nebenstehendes Vokabular:
sätze, Umwandlung eines Relativsatzes in ein Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abge-
Partizipialattribut, Übertragung der direkten schoben werden, in dem sein Leben oder seine
Rede in die indirekte Rede usw. vgl. z. B. die Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staats-
Grammatikübungen bei Jung 1994) zählen angehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer
bei der unterrichtlichen Behandlung juristi- bestimmten sozialen Gruppe oder wegen sei-
scher Texte zu den Standardaufgaben; es han- ner politischen Überzeugung bedroht ist.
delt sich dabei um diejenigen grammatischen Dies gilt nicht für einen Ausländer, der aus
59. Juristische Fachtexte 591

schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr schen Lehrprogrammen gezielte Fragen zum
für die Sicherheit anzusehen ist oder eine Ge- Leseverstehen gestellt. Bei den Fragen zum
fahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er Leseverstehen lassen sich zwei Typen unter-
wegen eines besonders schweren Verbrechens scheiden:
rechtskräftig verurteilt wurde.“ (a) Fachbezogene Fragestellungen (z. B.
Dieses didaktisch-methodische Vorgehen ent- Welcher strafrechtliche Zusammenhang be-
spricht der naiven Vorstellung, die Bedeutun- steht zwischen Ursache und Erfolg?) setzen in
gen juristischer Texte ließen sich dadurch er- erster Linie Fachwissen, fachliche Denk-
klären, dass man sie in die Alltagssprache strukturen und Arbeitsstrategien voraus. Ju-
„übersetzt“. Durch solche Übungen wird ge- ristische Fachlehrbücher (z. B. Braunschnei-
rade der besondere juristisch-institutionelle der 1993), aber auch die wenigen juristischen
Sprachgebrauch verwischt: Religion ist nicht Lehrwerke des Deutschen als Fremdsprache
gleich Glaube, denn zur Religionsfreiheit ge- enthalten ausschließlich (z. B. Abrahámová
hört „die Freiheit des Glaubens und die Frei- 1997) oder überwiegend (z. B. Jung 1994)
heit des religiösen und weltanschaulichen Be- fachbezogene Aufgaben zum Textverständ-
kenntnisses“ (Kaller 1996, 279). Mit dem nis.
Rechtsbegriff Gefahr für die Allgemeinheit (b) Fachsprachenbezogene Aufgaben (z. B.
statt gefährlich sein werden im Gesetzestext Der Gesetzestext enthält eine Reihe von Bedin-
die Bedingungen für das Vorliegen einer Ge- gungen, die gegeben sein müssen, wenn ein
fahr der Allgemeinheit betont und nicht die Bauherr Einfamilienhäuser absetzen möchte.
Zuerkennung einer Eigenschaft: Die Gefahr Markieren Sie diese Bedingungen mit einem
der Allgemeinheit „liegt dann vor, wenn bei Textmarker; vgl. z. B. Kühn 1992, 84ff.) sind
dem konkreten Vorfall nicht nur eine Behin- stärker textbezogen und zielen darauf ab,
derung erfolgte, sondern der Eintritt des rechtsrelevante Aussagen unter Zuhilfe-
Schadens wahrscheinlich war“ (Kaller 1996, nahme der juristischen Fachkompetenz text-
138). Schwerverbrecher ist kein Rechtsbegriff: analytisch, d. h. textpragmatisch zu erschlie-
Derjenige, der wegen eines besonders schweren ßen. Diese textpragmatische Analyse bezieht
Verbrechens verurteilt wird, hat eine rechts- sich dabei auf (1) die formale Textorganisa-
widrige Tat nach § 12 (1) begangen, für die ⫺ tion (z. B. Texte gliedern und strukturieren,
im Gegensatz zum Vergehen ⫺ ein bestimmtes Vor- und Rückverweise erkennen), (2) die
Strafmaß gilt. Bei einem „besonders schweren Themenbehandlung und -entfaltung (z. B.
Verbrechen“ sind zudem „die äußeren und Überschriften Textabschnitten zuordnen;
inneren Tatumstände unter Heranziehung Textabschnitte zusammenfassen, Textinhalte
sämtlicher hierfür belangreicher Umstände schematisieren und strukturieren sowie (3)
gegeneinander abzuwägen“ (Schönke/Schrö- auf die textsortentypischen Handlungsmuster
der 1997, 606). Dies kann „schon“ vorliegen (z. B. Bedingungen und Voraussetzungen her-
„bei erheblicher Ausnutzung einer besonderen ausarbeiten, Begründungen erkennen, Ein-
beruflichen Stellung zur Tat“ oder auf Grund schränkungen oder Verallgemeinerungen be-
einer „außergewöhnlichen Hartnäckigkeit stimmen, Bedingungen und Folgen auf-
und Stärke des verbrecherischen Willens“ einander beziehen) (vgl. zu diesem textprag-
(Schönke/Schröder 1997, 606). Besonders matischen Ansatz Kühn 1992). Der Nachteil
schwere Verbrechen werden schweren und rein fachbezogener Fragestellungen ist die
minder schweren Verbrechen gegenüberge- Nichtberücksichtigung sprachlicher Fähig-
stellt: Bei Ausländern „können tatauslösende keiten der Lernenden, der Vorteil der fach-
gesellschaftlich-kulturelle Auffassungen der sprachlich orientierten Fragestellungen liegt
Heimat trotz ihres Widerspruchs zu inländi- in der Kongruenz von Fach- und Sprachhan-
schen Wertvorstellungen die Schuld mindern deln; gelegentlich weisen die juristischen
und zur Annahme eines minder schweren Fal- Fachlehrbücher (vgl. z. B. Braunschneider
les führen“ (Schönke/Schröder 1997, 607f.). 1993, 8 oder 33ff.) eine größere fachspra-
Die Art der Aufgaben verdeutlichen noch- chendidaktische Orientierung auf als die ju-
mals die Notwendigkeit, zum Verstehen ju- ristischen Lehrwerke Deutsch als Fremdspra-
ristischer Normtexte entsprechende Aus- che (vgl. z. B. Abrahámová 1997).
legungstexte (z. B. Fachwörterbuchartikel,
(5) Flucks (1992, 120) Feststellung, dass der
Kommentare, Fachaufsätze) heranzuziehen.
schriftlich fixierte Fachtext „im Vordergrund
(4) Neben Einsatz-, Transformations- und des didaktischen Interesses“ steht, trifft be-
Paraphrasierungsübungen werden in juristi- sonders auf die Lehrwerke für Jurastudie-
592 VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen

rende zu. Eine Zusammenstellung juristischer worfen wird. Zur Lösung dieses Problems
Hörtexte sowie entsprechende Übungen feh- müssen anschließend rechtsrelevante Ausle-
len völlig und sind ein dringendes didakti- gungstexte herangezogen werden, in denen
sches Bedürfnis: Das Lehrbuch „Deutsche die Voraussetzungen zur Problemlösung dis-
Juristen im Gespräch“ (Shaw 1994) enthält kutiert und aufgezeigt werden. Die Lösung in
keine juristischen Hörtextsorten, sondern In- Form von juristischen Entscheidungstexten
terviews mit Juristen. Das Lese- und Arbeits- ergibt sich dabei aus dem Vergleich der Vor-
buch „Rechtswissenschaft“ (Jung 1994, 190) aussetzungen mit dem Sachverhalt. Erst
enthält Schriftsprachentexte (z. B. Zeitungs- durch diesen textanalytischen Dreischritt
meldungen, -berichte, Lehrbuchtexte), die als (Problem ⫺ Lösungsvoraussetzungen ⫺ Ver-
„Hörtexte“ (z. B. als Vorträge oder Vorlesun- gleich zwischen Problem und Lösungsvor-
gen) präsentiert werden; auch die Aufgaben- aussetzungen) stellt sich unter Berücksichti-
stellungen sind nicht auf spezifische Hörtext- gung juristischer Denk- und Wissensrahmen
sorten bezogen (Stereotyp-Frage: Fassen Sie das juristische Textverständnis ein. Die dabei
die wesentlichen Punkte des Inhalts zusam- gestellten Aufgaben und Übungen zum Text-
men; vgl. Jung 1994, 34, 50 oder 94; vgl. zur verstehen, aber auch die zur Grammatik, Se-
Hörtextsorte Vortrag/Vorlesung Kühn 1996). mantik und Syntax, müssen auf die intertex-
In anderen Lehrwerken finden sich eher amü- tuelle Arbeit funktionalisiert sein. Die juristi-
sant anmutende Vorstellungen über juristi- schen Fachlehrbücher enthalten zwar diesen
sche Hörtext(sorten) und deren didaktisch- Dreischritt, es fehlt jedoch eine fachsprachen-
methodische Verarbeitung: „Spielen Sie eine didaktische und -methodische Orientierung.
Gerichtsverhandlung. Sie brauchen einen An- Entsprechende fachsprachenjuristische Lehr-
geklagten (z. B. einen mutmaßlichen Ein- bücher und -materialien sind nach wie vor
brecher, Mörder, Erpresser, Flugzeugentfüh- ein Desiderat.
rer) …“ (Stalb 1988, 132). Die Fixierung auf
die Analyse von Schriftsprachentexten und
deren Bearbeitung führt in juristischen Lehr- 4. Literatur in Auswahl
programmen für Deutsch als Fremdsprache
auch zur völligen Vernachlässigung von 4.1. Sekundärliteratur
Übungsaufgaben, die sich auf das Verfahren Reitemeier, Ulrich (1985): Studien zur juristischen
schriftlicher Texte bzw. Textsorten oder aber Kommunikation. Eine kommentierte Bibliographie.
auf die Ausbildung der mündlichen Sprach- Tübingen (Forschungsberichte des Instituts für
kompetenz beziehen (vgl. allgemein zur Di- deutsche Sprache 56).
daktisierung der gesprochenen Wissenschafts- Becker, Norbert (1986): Die grammatisch-logi-
sprache Beneš 1982). Erste Anregungen und schen Beziehungen als didaktischer Ansatz für den
Hilfestellungen für die sprachdidaktische Ar- fachsprachlichen Unterricht. In: Fachsprache 7,
beit können hier beispielsweise juristische For- 123⫺140.
mularbücher (vgl. z. B. Albrecht/Barthelmess/ Beier, Rudolf; Dieter Möhn (1981): Vorüberlegun-
Bauer 1994; Michel 1987), juristische Lehr- gen zu einem ,Hamburger Gutachten‘. In: Fach-
und Prüfungsbücher (vgl. z. B. Anders/Gehle sprache 3, 112⫺150.
1991) oder Anleitungen zum Verfassen von Beneš, Eduard (1982): Zur Didaktisierung der ge-
Hausarbeiten und Klausuren (vgl. Braun- sprochenen Wissenschaftssprache. In: Fachsprache
schneider 1993) liefern. 4, 11⫺17.
(6) In bisherigen Lehrwerken und Lehrpro- Biere, Bernd U. (1989): Verständlich-Machen. Tü-
grammen wird aber nicht mit juristischen bingen.
Texten gearbeitet. Die Arbeit an Texten ist Brinker, Klaus (1990): Textanalytische Vorausset-
nicht auf das Textverstehen hin funktionali- zungen forensisch-linguistischer Gutachten. In:
siert; dies gilt im Besonderen für die Aufga- Kniffka (Hg.), 115⫺123.
ben zur Grammatik, Wortbildung, Wortver- Buhlmann, Rosemarie; Anneliese Fearns (1987):
knüpfung oder zur Syntax. Eine Arbeit mit Handbuch des Fachsprachenunterrichts. Unter be-
Texten, die erst das institutionenspezifische, sonderer Berücksichtigung naturwissenschaftlich-
juristische Textverstehen garantiert, ist eher technischer Fachsprachen. Berlin etc. (Fachspra-
selten. Eine solche Arbeit mit juristischen chen in Theorie und Unterricht).
Texten lässt sich modellhaft als Dreischritt Busse, Dietrich (1992): Recht als Text. Linguisti-
skizzieren: Ausgangspunkt sind konkrete sche Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer
Sachverhaltsdarstellungen („Fälle“), in denen gesellschaftlichen Institution. Tübingen (Reihe Ger-
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59. Juristische Fachtexte 593

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bertus Bauer (1994): Das Rechtsformularbuch. 13.
völlig neubearb. Aufl. Köln. Peter Kühn, Trier (Deutschland)
VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I:
Begriffe und Konzepte

60. Lehren und Lernen

1. Vorbemerkungen zur Lage der Die Erforschung von Lehr- und Lernpro-
fremdsprachenlehr- und lernbezogenen zessen hat theoretische und praktische Ziele:
Forschung es geht darum zu ermitteln, welche Faktoren
2. Zu den Gegenständen der an diesen Prozessen beteiligt sind, wie diese
Fremdsprachenforschung
3. Begriffliches zum Thema ,Lehren und
miteinander interagieren und welche prakti-
Lernen‘ schen Konsequenzen daraus zu ziehen sind.
4. Ziele des Lehrens und Lernens fremder Die Empirie ist der Schlüssel für eine gewinn-
Sprachen bringende Integration von Theorie und Pra-
5. Verschiedene Perspektiven auf den Lehr-/ xis. Insbesondere wichtig ist hier die Forde-
Lernprozess rung nach einer spezifischen Empirie, näm-
6. Interdependenz zwischen Lehrzielen, lich einer fremdsprachenerwerbsspezifischen
Lehrinhalten und Lehrverfahren (vgl. dazu die Ausführungen der Arbeits-
7. Vorteile unterrichtlichen Lehrens und gruppe Fremdsprachenerwerb Bielefeld 1996).
Lernens
Eine solche Forschung sollte stets von Pro-
8. Zur Rolle der Interaktion beim Lernen und
Lehren fremder Sprachen blemen und Fragestellungen ausgehen, die
9. Zusammenfassung der fremdsprachenunterrichtlichen Praxis
10. Literatur in Auswahl selbst entstammen. Die von ihr ausgehenden
und in sie zurückwirkenden Impulse spielen
für die Fremdsprachenforschung eine beson-
1. Vorbemerkungen zur Lage der dere Rolle, denn dieser „ ,Praxiseffekt‘ ist als
fremdsprachenlehr- und Maßstab für die Effektivität bzw. Förderungs-
-lernbezogenen Forschung würdigkeit unserer Forschungen aus gesell-
schaftlicher Sicht“ (Edmondson 1996, 54) zu
Auf Grund generell veränderter „Rahmen- sehen. Ganz ähnlich beschreibt Gnutzmann
und Finanzbedingungen“ ist in der For- die Rolle der Fremdsprachendidaktik, näm-
schung ein verstärkter Legitimationsdruck lich als „eine der Praxis verpflichtete Wissen-
entstanden, der auch die Disziplinen betrifft, schaft“ (…) [die] von der Praxis ihre Legi-
die sich mit der Erforschung des Lehrens und timation bezieht“ (Gnutzmann 1996, 64).
Lernens fremder Sprachen befassen (i.e. An- Gleichzeitig machen Vertreter der o. g. Diszi-
gewandte Linguistik, Fremdsprachendidak- plinen aber auch keinen Hehl daraus, dass
tik, Sprachlehr-/-lernforschung, Zweitspra- der Einfluss der fremdsprachendidaktischen
chenerwerbsforschung). Sie sind daher aufge- und spracherwerblichen Forschung auf die
fordert, darüber nachzudenken, welche Er- Praxis häufig nur sehr gering ist (vgl. dazu
gebnisse und Erträge ihre bisherige Arbeit er- v. a. Edmondson 1996; List 1996; Vollmer
bracht hat. Besonders krass wird die Dring- 1996). Die Fremdsprachenforschung betreibt
lichkeit, mit der die Fremdsprachenfachdi- Grundlagenforschung für die Didaktik und
daktik bzw. die Fremdsprachenlehr- und damit für die Praxis des Fremdsprachenleh-
-lernforschung ,gute‘ Forschung zu leisten rens und -lernens; da es sich bei ihrem Gegen-
habe, von Bleyhl formuliert: „Angesichts der stand um Erwerbs- und Lernprozesse han-
gegenwärtigen Lage an den Universitäten ist delt, kann es sich nur um längerfristig ange-
es unabdingbar, dass Überzeugendes in der legte Untersuchungen handeln, aus denen
Disziplin geleistet wird, da andernfalls die nicht immer unmittelbare Didaktisierungen
Disziplin die Chance ihrer Daseinsberechti- resultieren können; gerade diese Tatsache
gung verwirkt“ (Bleyhl 1996, 19). stößt bei Vertretern der Praxis häufig auf Un-
596 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

verständnis und führt zu Irritationen im Ver- len Fremdsprachenunterricht interdependent


hältnis zwischen Theoretikern, Empirikern und ohne den jeweils anderen nicht denkbar.
und Praktikern. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass
Generell besteht Konsens darüber, dass es eine getrennte Betrachtung dieser Prozesse
an der Zeit ist, diese Situation konstruktiv zu künstlich ist und nur mit forschungsökono-
verändern, z. B. indem man eine stärkere In- mischen Argumenten zu rechtfertigen ist,
tegration von Theorie, Empirie und Praxis nicht aber mit inhaltlich-theoretischen, insb.
betreibt. In Bezug auf eine zu verändernde nicht mit spracherwerbstheoretischen.
Forschungspraxis der Sprachlehrforschung Die Segmentierung des komplexen Phäno-
macht Krumm beispielsweise die folgende mens ,(Fremde) Sprache lehren und lernen‘ in
Anmerkung: „Für die Sprachlehrforschung seine einzelnen Komponenten ergibt die For-
gewinnen dabei die Sichtweisen der beteilig- schungsbereiche ,(Fremde) Sprache‘, ,Lernen‘
ten Lehrer und Schüler, ihre subjektiven und ,Lehren‘ und macht die Interdisziplinari-
Theorien und Situationsinterpretationen an tät deutlich, die der Fremdsprachenforschung
Gewicht. Die Forschung ist auf ihre Aus- inhärent ist. Da die muttersprachliche Kom-
künfte und Mitarbeit angewiesen, wenn sie petenz allein nicht ausreicht, um eine Sprache
verstehen will, was im Unterricht passiert“ aus unterrichten zu können, bedarf es einer
(Krumm 1995, 478f.). Nur durch die Einbe- gezielten Ausbildung, die Wissen und Kön-
ziehung der Lehrenden und der Lernenden, nen in Bezug auf die genannten Bereiche um-
ihrer Selbstbeobachtungen und Interpretatio- fasst.
nen des Unterrichtsgeschehens scheint Er- Die (fremde) Sprache stellt ein zentrales
kenntnisfortschritt möglich. Es „müssen die Element des Lehr- und Lernprozesses dar. Sie
reichhaltigen Erfahrungen und Einsichten, ist nicht nur das Ziel der fremdsprachenun-
die von Lehrenden und Lernenden aus der terrichtlichen Aktivitäten, sondern auch das
unterrichtlichen Praxis gewonnen worden Medium der Interaktion. Während die Erfor-
sind, als relevante empirische Daten und em- schung des Fremdsprachenunterrichts an-
pirisch fundierte Hypothesen mitberücksich- fangs ausschließlich auf die Steuerung des
tigt werden. Es ist weiterhin notwendig, dass Lernens durch den Lehrenden und somit auf
Lehrer und Lerner in den Forschungsprozess den ,Input‘ beschränkt war, rückte mit der
explizit miteinbezogen werden“ (Edmond- Orientierung auf die Lernenden zunehmend
son/House 1993, 313). Allerdings sollte hier der ,Intake‘ und schließlich der ,Output‘ in
zumindest angemerkt werden, dass die Be- den Fokus. Eine alle genannten Aspekte um-
reitschaft der Beteiligten sich in den For- fassende und zugleich miteinander integrie-
schungsprozess einzubringen, sich beobach- rende Sichtweise fokussiert die Interaktion
ten und befragen zu lassen, nicht so ohne zwischen Input, Intake und Output und da-
weiteres vorausgesetzt werden kann; sie zu mit auch die Interaktion zwischen den am Er-
erwirken und damit die Akzeptanz von For- werbsprozess Beteiligten. In der Interaktion
schung in der Praxis zu sichern, macht eine manifestieren sich die beobachtbaren Merk-
intensive und zugleich sensible Vorbereitung male des Lehrens und Lernens. Für House
empirischer Forschung erforderlich. besteht der Zweck von Interaktionsanalysen
dann auch darin, „Korrelationen zwischen
Lernprozessen im Fremdsprachenunterricht,
2. Zu den Gegenständen der Lehrstrategien und unterrichtlichen Hand-
Fremdsprachenforschung lungsmustern zu entdecken“ (House 1995,
480). Die fremdsprachenunterrichtliche In-
Was ist Lernen und was ist Lehren? Wie in- teraktion und ihre Untersuchung stellt somit
teragieren diese beiden Prozesse miteinander die zentrale Schnittstelle für den hier betrach-
und wie kann diese Beziehung expliziert wer- teten Gegenstand ,Lehren und Lernen‘ dar.
den? Das Ziel der Fremdsprachenforschung Von besonderer Relevanz erscheint ferner
ist einerseits die Beschreibung und Erklärung Wissen über die Vorgänge beim Spracherwerb
des Fremdsprachenerwerbs ⫺ d. h. die Ge- und die Faktoren, die ihn beeinflussen (vgl.
winnung von Erkenntnissen über Lernpro- dazu auch Knapp/Knapp-Potthoff 1982, 14).
zesse ⫺ und andererseits die Entwicklung Solches Wissen ist erforderlich, damit Leh-
von Konzepten zur Optimierung dieses Pro- rende ihr didaktisches Handeln problematisie-
zesses ⫺ d. h. Verbesserung des Lehrens zum ren und begründen können, denn um erfolg-
Zwecke der Verbesserung des Lernens. Beide reich lehren zu können, muss man wissen, wie
Aspekte sind in Bezug auf den institutionel- gelernt wird.
60. Lehren und Lernen 597

Der Lehrprozess ist immer in irgendeiner können und dieser Erwerb steuerbar ist. Auf
Weise von den Annahmen und Erkenntnissen Grund der Beobachtung, dass es nur recht
über die Beschaffenheit und den Verlauf des wenigen Lernenden gelingt, auf der Basis von
Lernprozesses beeinflusst und spiegelt sich in Unterricht in einer fremden Sprache eine
den jeweils als optimal angenommenen Lehr- flüssige Sprechkompetenz zu erwerben,
verfahren wider, oder wie Brown es be- könnten allerdings Zweifel an der Effektivität
schreibt: „Your understanding of how the lehrerseitiger Steuerungsversuche im Hin-
learner learns will determine your philosophy blick auf lernerseitigen Fremdsprachener-
of education, your teaching style, your ap- werb aufkommen lassen. Worin könnte also
proach, methods and classroom techniques“ der Sinn bzw. der Nutzen fremdsprachenun-
(Brown 1987, 7). terrichtlichen Lehrens bestehen? Vollmer gibt
in diesem Zusammenhang eine Minimaldefi-
nition von ,Lehren‘, indem er feststellt, dass
3. Begriffliches zum Thema ,Lehren es ganz allgemein dazu dient, „die Qualität
und Lernen‘ und Quantität des Kontakts mit der Fremd-
sprache für den einzelnen Lerner sicherzustel-
Auch wenn abgesicherte Begriffsdefinitionen len“ (Vollmer 1996, 146). Hier ist also eine
häufig erst am Ende der Erforschung des je- Hauptfunktion des Lehrens angesprochen
weiligen Konzepts oder Gegenstands formu- nämlich die Schaffung bzw. Bereitstellung
liert werden können, ist zwecks einer mögli- von sprachlichem Input.
chen Operationalisierung zumindest der Ver-
such einer Bestimmung von Nutzen. Alle Hy- 3.1. Lernen und Lehren: Definitionsversuche
pothesen und Theorien über das Lehren und Doyé (1995) unternimmt den Versuch, sich
das Lernen unterliegen dem Einfluss gesell- einer Definition des Begriffspaares ,Lehren
schaftlicher, wissenschaftlicher und technolo- und Lernen‘ anzunähern. Während er Lernen
gischer Entwicklungen. Bleyhls Forderung in ⫺ relativ vage und allgemein ⫺ als internal
Bezug auf die Forschung und ihre konzeptio- ablaufenden, nicht beobachtbaren Prozess
nellen Überlegungen lautet dementspre- der Änderung von Verhaltensdispositionen
chend, dass sie sowohl dem „Weltverständnis bezeichnet (Doyé 1996, 161), stellt Lehren für
wie dem Menschenbild der Zeit“ (Bleyhl ihn die Gesamtheit der Aktionen dar, die in
1996, 25) gerecht werden müssen. Dies impli- der Absicht unternommen werden, das Ler-
ziert eine Kontextualisierung des Untersu- nen von Menschen zu steuern. Spätestens
chungsgegenstandes, d. h. dass bei dessen Be- hier wird deutlich, dass eine Definition von
schreibung und Erklärung auch Forschungs- ,Lehren‘ ohne die Verwendung des Begriffs
ergebnisse der relevanten Bezugsdisziplinen ,Lernen‘ nicht auskommt. Somit setzt eine
(wie z. B. die Kognitionswissenschaften oder Theorie des Lehrens eine Theorie des Ler-
die Neurobiologie) mitberücksichtigt werden nens voraus.
müssen. So wurde lange Zeit die Frage „Do Eine Reihe von Prozessen, die während des
learners actually learn what they are taught?“ Lernvorgangs vonstatten gehen, sind unbe-
(Ellis 1996, 565) überhaupt nicht ernsthaft wusst und auch unabhängig vom Willen des
gestellt, weil man davon ausging, dass es sich Lernenden. Dies hat durchaus positive Konse-
beim Lehren und Lernen um sozusagen spie- quenzen für das Lernen, denn gerade die Tat-
gelbildlich verlaufende, strikt lineare und da- sache, „dass wichtige und komplexe Prozesse
mit kausal aufeinander bezogene Vorgänge nicht-bewußt ablaufen, macht sie zuverlässi-
handelt. ger und störungsresistenter“ (Bleyhl 1996, 26).
Es ist eine bekannte Tatsache, dass L2-Er- Eine mögliche Konsequenz aus dieser Er-
werb ⫺ ebenso wie der L1-Erwerb ⫺ prinzi- kenntnis könnte eine Relativierung der Rolle
piell auch ohne Beeinflussung von außen ⫺ sein, die dem Bewusstsein bei Informations-
d. h. ohne explizite Vermittlung ⫺ erfolgen verarbeitungsprozessen zugeschrieben wird.
kann. Dass Sprachen (er)lernbar sind, wissen Daraus resultiert wiederum eine Relativierung
wir also. Ob sie aber auch lehrbar sind ⫺ und der Möglichkeit, solche Prozesse mittels Akti-
wenn ja, wie ⫺ darüber besteht bisher kein vitäten steuern zu können, die sich gezielt an
Konsens. Die Tatsache allerdings, dass das Bewusstsein richten. Damit einher geht
Fremdsprachenunterricht stattfindet und be- die Ablehnung der Annahme einer klaren
stimmte Lehr- und Lernziele festgelegt wer- und strikt sequentiell verlaufenden Beziehung
den, beruht auf der Annahme und dem An- zwischen Lehren und Lernen, denn: „Diese
spruch, dass Fremdsprachen gelehrt werden laufende Rückbezüglichkeit, Rückkoppelung
598 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

und Überprüfung innerhalb eines komple- der intensiven Beschäftigung mit dem lernen-
xen, vernetzten Systems, dieses schwer zu be- den Individuum (vgl. in diesem Zusammen-
schreibende nichtlineare Zusammenspiel von hang z. B. die Untersuchungen von Lern-
Zufall und Notwendigkeit bewirken, dass das stilen, -einstellungen und -strategien z. B. in
traditionelle Modell des Schritt-für-Schritt- Art. 78 und 70); ferner resultiert sie aus der
Voranschreitens beim Sprachlernprozess un- Berücksichtigung und Einbeziehung von em-
angebracht ist“ (Bleyhl 1996, 23). Lernen ist pirisch gewonnenen Ergebnissen anderer Dis-
also ein nichtlinearer, dynamischer Prozeß, ziplinen wie z. B. der Kognitions- und Neu-
dem Lehrende in der Vermittlungssituation ropsychologie, in denen von der Selbstorga-
dadurch gerecht werden können, dass sie ihm nisation mentaler Prozesse und der individu-
keine Progression ,aufzwingen‘, die er eigent- ellen Konstruktion von Wissen ausgegangen
lich nicht hätte. Dazu gehört bsw. auch die wird. Aus der Gedächtnispsychologie wissen
Berücksichtigung dessen, was Bleyhl die Ur- wir, dass die Lern-, Behaltens- und Anwen-
Strategie des Spracherwerbs nennt, nämlich: dungsleistung bei selbständiger, eigenverant-
„Warte ab und hör zu“ (Bleyhl 1996, 24). Ab- wortlicher Erarbeitung und Aneignung von
geleitet ist diese Maxime u. a. von Beobach- Wissen höher ist als bei dessen kleinschritti-
tungen beim Erstsprachenerwerb und der ger und fremdbestimmter Aufbereitung (vgl.
Tatsache, dass die Rezeptionsfähigkeit die dazu z. B. die Ausführungen in Elbers 1995).
Produktionsfähigkeit in der Regel übersteigt.
Eine mögliche lernerzentrierte und von ei- 4.2. Mikro-Ziele
ner konstruktivistischen Sichtweise inspi- Wichtig für die Bestimmung dessen, was das
rierte Definition von Lernen lautet dann etwa Lehren von Fremdsprachen umfassen soll, ist
so: Lernen ist nicht das Ergebnis der Instruk- das jeweilige Ziel, dass erreicht werden soll.
tion durch den Lehrenden, sondern Lernen Geht es in erster Linie um Verständigung,
ist das Ergebnis der Konstruktion durch den oder spielen die grammatische Korrektheit
Lernenden. Wichtig für Lehrende ist in die- und die Flüssigkeit der Sprachverarbeitung
sem Zusammenhang die Anerkennung der die Hauptrolle? Eine in diesem Zusammen-
Tatsache, dass es sich beim Lernprozess um hang wichtige und viel diskutierte Frage lau-
einen von ihnen zwar beeinflussbaren, nicht tet: unterscheiden sich die Lernprozesse da-
aber unmittelbar steuerbaren Vorgang han- nach, ob es sich um gesteuerten oder unge-
delt; zumindest aber muss das Ergebnis des steuerten Erwerb handelt? Die Beantwortung
Lernprozesses nicht in einem direkten Kau- dieser Fragen hängt eng mit dem jeweiligen
salverhältnis zu einer vorangegangenen In- Lernkontext (z. B. DaF vs. DaZ), der Lerner-
struktion stehen. So ließe sich auch der indi- gruppe und ihren Bedürfnissen zusammen.
viduell verschiedene Lernerfolg verschiedener Somit sind die Lernerfolge in unterschiedli-
Lerner bei demselben Lehrenden, demselben chen Lernkontexten möglicherweise mehr
Lehrstoff und demselben Unterricht erklä- von unterschiedlichen Lehr- und Lernzielen
ren. und weniger von unterschiedlichen Prozessen
abhängig. Es findet häufig eine Gleichsetzung
von Kontexten und Prozessen statt, die auf
4. Ziele des Lehrens und Lernens der Annahme beruht, dass in unterrichtlichen
fremder Sprachen Situationen in erster Linie bewusst gelernt
wird, während außerunterrichtliche Lernsi-
4.1. Makro-Ziele tuationen eher den unbewussten Spracher-
Seit einiger Zeit gibt es verstärkt die Forde- werb fördern, was u. a. zu der Einschätzung
rung nach mehr Lernerautonomie. Die für führt, dass Lernprozesse eher mit einer
unsere Informationsgesellschaft charakteri- Fremdsprache, Erwerbsprozesse eher mit ei-
stische Fülle an schnell veraltendem Fakten- ner Zweitsprache assoziiert werden (vgl. dazu
wissen und die damit verbundene Erkenntnis, Edmondson/House 1993, 12; für eine zusam-
dass Lernen ein lebenslanger Prozess ist, menfassende Skizzierung der Unterscheidung
macht die Fähigkeit zum flexiblen, selbstver- nach DaF und DaZ, der Begrifflichkeit und
antwortlichen Umgang mit einer sich per- der damit verbundenen Probleme, vgl. auch
manent verändernden Umwelt im weitesten Knapp-Potthoff/Knapp 1982). Hier stellt sich
Sinne erforderlich. also die Frage, ob unterschiedliche Lern-
Die Forderung nach einer stärkeren bzw. Erwerbskontexte auch unterschiedliche
Selbstverantwortung der Lernenden für ihren Lern- bzw. Erwerbsprozesse involvieren, die
eigenen Lernprozess ist auch das Ergebnis dementsprechend theoretisch anders zu mo-
60. Lehren und Lernen 599

dellieren sind ⫺ z. B. in Form einer fremd- 5. Verschiedene Perspektiven auf den


sprachen-unterrichtsspezifischen Lerntheorie Lehr-/Lernprozess
⫺ oder ob unabhängig von der Situation, in
der das Lernen stattfindet, dennoch dieselben Die am Fremdsprachenerwerbsprozess Betei-
Prozesse ablaufen (vgl. in diesem Zusammen- ligten (also Lehrende und Lernende) haben
hang die für die erste Annahme sprechenden subjektive Theorien darüber, wie Lehren und
Forschungsergebnisse von Paradis 1994). Lernen ,funktionieren‘ (vgl. v. a. Grotjahn
Der Zweitsprachenkontext wird also als 1991). Solche Theorien beruhen auf Alltags-
der natürliche, ungesteuerte betrachtet und erfahrungen und eigenem unterrichtlichen
deshalb häufig mit dem L1-Erwerbskontext Handeln. Ihre Erforschung ist v. a. deshalb
in Verbindung gebracht. In Bezug auf den interessant und relevant, weil sie einen hand-
L1-Erwerb muss allerdings auch angemerkt lungsstruktierenden Einfluss auf den Verlauf
werden, dass auch dieser nicht immer so ,un- des fremdsprachenunterrichtlichen Gesche-
gesteuert‘ verläuft, wie es häufig angenom- hens und damit auch auf den spracherwerb-
men wird; d. h. auch hier finden Lehrprozesse lichen Prozess ausüben.
statt, z. B. in Form von Korrekturen, Auffor- Die subjektiven Theorien manifestieren
derungen zur Selbstkorrektur, Aufforderung sich u. a. im sprachlichen Verhalten und zeigen
zur Wiederholung bzw. Sprachproduktion sich in der Lehrendensprache z. B. in Form
allgemein. Ferner kommt es auch beim L1- von Vereinfachungen, die die Lehrenden des-
Erwerb zu ⫺ selbst-initiierten ⫺ Sprechübun- halb vornehmen, weil sie annehmen, dass sie
gen und pattern drills, indem der kindliche von den Lernenden auf diese Weise leichter
Sprecher durch ständiges Wiederholen das verstanden werden bzw. deren Spracherwerbs-
Sprechen übt und somit automatisiert. Da- prozesse erleichtern. Auch das Bemühen,
rüber hinaus finden beim L1-Erwerb auch wohlgeformte Sätze zu produzieren, diese
sprachliche interaktionelle Anpassungen von deutlich und langsam zu artikulieren, redun-
Seiten der „Experten“ statt (vgl. dazu die Be- dant zu sprechen, wenige Pronomen, eine un-
griffe motherese oder caretaker speech); all markierte Wortstellung und restringiertes
diese Merkmale und Verhaltensweisen sind Vokabular zu verwenden (vgl. dazu House
charakteristisch für Lehrsituationen. Insofern 1995, 483), ist als Hilfestellung für ein besse-
ist die traditionell gemachte Unterscheidung res Verständnis intendiert. Allerdings sind
zwischen Lehren und Lernen unzutreffend, empirische Belege für eine positive Korrela-
derzufolge „Erstsprachenerwerb“ als Spra- tion zwischen dieser Art der Input-Manipula-
chenlernen und Zweitsprachenerwerb vorwie- tion durch die Lehrenden und dem L2-Er-
gend als Sprachenlehren thematisiert“ (Kohn werb insgesamt noch eher rar: besseres Ver-
1990, 7) wurde. Die Lernzielbestimmung ist ständnis allein muss nicht notwendigerweise
von dem jeweiligen Kontext abhängig, in dem Spracherwerb zur Folge haben.
gelehrt und gelernt wird. So ist bspw. der schu- Einerseits verändern sich im Laufe der Zeit
lische Fremdsprachenunterricht ⫺ wie der ge- die verschiedenen Variablen/Faktoren, die
samte schulische bzw. institutionalisierte Un- am fremdsprachenunterrichtlichen Lehr-/Lern-
terricht überhaupt ⫺ bestimmten Reglements prozess beteiligt sind. Es verändern sich aber
unterworfen, die keinerlei spracherwerbstheo- andererseits auch ⫺ z. B. durch neue Unter-
retische Gründe oder Bezüge haben (vgl. z. B. suchungsverfahren und -technologien ⫺ die
Anzahl und Dauer der Unterrichtseinheiten, Erkenntnisse über diese Variablen/Faktoren.
Prüfungen und Notengebung). So haben sich z. B. die Lernenden und die ih-
Mit der Unterscheidung ,Lernen vs. Er- nen eigenen Merkmale in den vergangenen
werben‘ sind eine Reihe weiterer dichoto- 15⫺20 Jahren zu einem zentralen For-
misch konstruierter Begriffspaare verbunden schungsgegenstand entwickelt; sie werden in-
wie z.B. ,gesteuert vs. natürlich‘, ,explizit vs. zwischen mehr als Subjekt ihres Lernprozes-
implizit‘ oder ,bewusst vs. unbewusst‘, die ses (⫽ Lernen als Ergebnis eines Konstruk-
mindestens ebenso umstritten sind wie das tionsprozesses) denn als Objekt eines Lern-
oben genannte Oppositionspaar. Das Aufstel- prozesses (⫽ Lernen als Ergebnis eines In-
len von Dichotomien verführt leicht dazu, struktionsprozesses) gesehen.
,entweder-oder-Zuordnungen‘ vorzunehmen, Eine Möglichkeit, den fremdsprachener-
anstatt den Vorteil auszunutzen, den solche werbsspezifischen Konstruktionsprozess des
Dichotomien bieten, nämlich auf das zwi- Spracherwerbs zu untersuchen und zu Er-
schen den extremen Polen befindliche Konti- kenntnissen bezüglich individueller und uni-
nuum abzuheben und von einem ,mehr-oder- verseller Mechanismen zu gelangen, ist die
weniger-Zutreffen‘ zu sprechen. Beobachtung, Erfassung und Analyse lerner-
600 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

sprachlichen Verhaltens. Insb. der Vergleich angenommenen Lehrzielen, -inhalten und


möglichst vieler verschiedener L2-Lerner- -verfahren abgegangen. Die veränderte Sicht
sprachen bietet die Möglichkeit „Aufschluß auf die Lehrinhalte ist auch bestimmt von der
über die Universalität und Relativität lerner- Erkenntnis über die Kulturgeprägtheit bzw.
sprachlicher Systeme und Spracherwerbspro- -spezifik von Diskursen und deren Auswir-
zesse“ (Kasper 1995, 267) zu erhalten. Die kung auf Kommunikationsprozesse mit der
Erforschung der Lernersprache hat gezeigt, Konsequenz, dass in jüngster Zeit verstärkt
dass sie ⫺ wie jedes andere natürliche die Forderung nach dem Lehrziel „Interkul-
Sprachsystem auch ⫺ eine gewisse Regelhaf- turelles Lernen“ erhoben wird (vgl. dazu z. B.
tigkeit und Systematizität aufweist. Im Un- House 1996).
terschied zu einzelsprachlichen Sprachsy- Welche Lehrmethoden und ⫺ damit un-
stemen gibt es ⫺ nach Sprachstand ⫺ unter- mittelbar verbunden ⫺ welche Lehrverfahren
schiedliche Grade der Stabilität bzw. Variabi- und Sozialformen gewählt werden, hängt
lität des Lernersprachsystems. Generell gilt es ebenfalls davon ab, welche Annahmen über
als dynamisch, offen und dementsprechend den Prozess des Lernens bestehen und welche
,anfällig‘. Lerner konstruieren dieses Sprach- Lehr- und Lernziele festgelegt worden sind.
system auf der Basis ihres sprachbezogenen
Der Unterrichtsform des allein vom Lehren-
Vorwissens und -könnens (z. B. in Bezug auf
den geplanten und gesteuerten ,Frontalun-
die L1 und jede andere zuvor oder gleichzei-
tige erworbene Sprache). terrichts‘ z. B. liegt die Annahme zugrunde,
Dass Lernen weder der spiegelbildliche Pro- dass imitativ-reaktives Lernerverhalten dem
zess zum Lehren ist noch als gleichbedeutend Spracherwerb am förderlichsten ist. Das pri-
mit ,Aufnahme und Wiedergabe von Lehr- märe Lehrziel ist in diesem Fall offenbar der
stoff‘ gesehen werden kann, wurde bereits an- Aufbau eines bestimmten Wissensrepertoires,
gemerkt, wird aber im vorliegenden Zusam- da auf die Vermittlung von Faktenwissen und
menhang noch einmal daran erkennbar, dass die Betonung sprachlicher Korrektheit ge-
Lerner sprachlichen Output produzieren, der setzt wird und dem spontanen Sprechen (also
in der geäußerten Form nicht im Input vorge- dem Sprachkönnen) nur ein relativ geringer
kommen sein kann. Nachdem die Erforschung Stellenwert eingeräumt wird.
der Lernersprache lange Zeit in der punktuel- Im Unterschied dazu zeichnet sich eine an
len Sammlung und Analyse von ,Fehlern‘ be- dem Lernziel ,kommunikative Kompetenz‘
standen hatte, ging man im Laufe der Zeit zu orientierte Didaktik durch folgende Charak-
einer ganzheitlichen Betrachtung der Lerner- teristika aus:
sprache über. Dem zu Grunde liegt die Er- ⫺ Insgesamt geht es eher um funktionale
kenntnis, dass sich die „Regelhaftigkeit der und nicht so sehr um strukturelle Katego-
Lernersprache (…) übergreifend auf alle ler- rien.
nersprachlichen Sätze, ungeachtet ihrer Ein- ⫺ Die zu erreichende sprachliche Kompe-
teilung in richtige und falsche Sätze“ (Kohn tenz zeichnet sich eher durch ihre Authen-
1990, 12) erstreckt. Das Fehler,system‘ ist also
tizität und ihre kommunikative Angemes-
ebenso dynamisch und variabel wie die übrige
senheit als durch ihre Systematizität und
Lernersprache. Um es auf eine knappe Formel
zu bringen: je stabiler das jeweilige Lerner- grammatische Korrektheit aus.
sprachsystem, desto weniger Lernen findet ⫺ Es geht primär um die Fähigkeit, eigene
statt. Die Gründe für eine solche Stabilität kön- Redeabsichten zu verwirklichen. Dabei
nen vielfältig sein: so kann der Lernende sein spielt die Toleranz gegenüber Fehlern eine
lernersprachliches System als ausreichend für größere Rolle als das Beharren auf gram-
seine sprachlichen Ziele und Zwecke betrach- matische Korrektheit.
ten oder es kann auf Grund eines Mangels an ⫺ Die Aktualität und Lebensnähe der jewei-
relevantem Input zu keinen weiteren Konstruk- ligen Unterrichtsthemen wird als zentral
tionsprozessen und damit zu keiner Weiterent- für die Realisierung eigener Redeabsich-
wicklung der Lernersprache kommen. ten betrachtet.
Es ist zu erwarten, dass die genannten Merk-
6. Interdependenz zwischen male insgesamt eine höhere Motivation und
Lehrzielen, Lehrinhalten und damit verbunden eine größere Lernlust und
-bereitschaft und auch eine positive Einstel-
Lehrverfahren
lung dem Lernen im Allgemeinen und der L2
Auf Grund einer zunehmenden Lernerorien- im Besonderen gegenüber bewirken und da-
tierung ist man in der Zwischenzeit von mit insgesamt auch einen größeren Lerner-
adressatenunabhängigen, als universal gültig folg zur Folge haben.
60. Lehren und Lernen 601

7. Vorteile unterrichtlichen Lehrens dabei gleichzeitig ein Gefühl der Sicherheit


und Lernens hinsichtlich der Abrufbarkeit und Verwen-
dung L2-sprachlicher Ausdrucksmittel zu
Hinsichtlich des Umgangs mit dem Phäno- vermitteln.
men der Faktorenkomplexion schlagen Ed- Als nächstes nennen die beiden Autoren
mondson/House eine differenzierte Gewich- das ,kommunikative Feedback‘. Dazu zählen
tung der Faktoren in Bezug auf ihre Beschaf- sowohl Korrektur- als auch Bewertungsmaß-
fenheit und ihre Auswirkungen vor, halten es nahmen von Seiten der Lehrenden, deren
jedoch für schwierig, „eine Art ,Bedeutungs- Funktion als nützliche Information für die
hierarchie‘ für die verschiedenen mitwirken- Selbsteinschätzung des jeweiligen L2-Niveaus
den Faktoren zu erarbeiten“ (Edmondson/ gesehen werden kann (vgl. Knapp/Knapp-
House 1993, 26). Allerdings lassen sich den- Potthoff 1982, 154f.).
noch zumindest einige Mindestvoraussetzun- Was die Korrektur fehlerhafter Lerneräu-
gen ⫺ d. h. Basisfaktoren ⫺ für einen erfolg- ßerungen betrifft, so ist folgendes dazu zu sa-
reichen Lehr-/Lernprozess bestimmen. Dazu gen: Lernen ist die allmähliche Entwicklung
gehören zunächst einmal die Motivation, einer Fähigkeit. Bis zu welchem Grad diese
überhaupt lernen zu wollen, der (lehrer)- Fähigkeit entwickelt wird, spielt für den
sprachliche Input und der lernersprachliche Lernprozess an sich keine Rolle. Wichtig ist
Output. Beim unterrichtlichen Fremdspra- lediglich, dass es sich um einen dynamischen
chenlernen sind diese Mindestbedingungen Prozess handelt, also einen, der nicht not-
häufig nicht gegeben. So kann im Hinblick wendigerweise linear fortschreitet, sondern
auf die Motivation nicht unbedingt davon durch Restrukturierungen oder Sprünge, aber
ausgegangen werden, dass sie von vornherein auch Stillstände und sogar Rückschritte ge-
und uneingeschränkt vorhanden ist. Auch der kennzeichnet ist. So gesehen stellen fehler-
sprachliche Input ist nicht per se gegeben, son- hafte sprachliche Äußerungen Indikatoren
dern muss bereitgestellt werden, ebenso wie für Hypothesentest- und Konstruktionspro-
Anlässe zur Produktion von lernersprach- zesse dar. Lehrende haben verschiedene Mög-
lichem Output geschaffen werden müssen. lichkeiten, auf solche lernersprachlichen Test-
Darüber hinaus weist der Fremdsprachen- prozesse zu reagieren. Das Feedback kann ⫺
unterricht im allgemeinen eine Reihe von ebenso wie auch in L1-sprachlicher Lerner-
Ausgangsbedingungen auf, die zunächst ein- produktion ⫺ aus Null-Reaktion, Reparatur
mal als ungünstig erscheinen. Da ist zum Ei- oder Korrektur bestehen. Unterschiedliche
nen die relativ kurze Unterrichts- bzw. Lehr-/ Lehrmethoden, die ⫺ wie wir oben gesehen
Lernzeit und zum Anderen das personelle haben ⫺ kontextabhängig sind und mit un-
Zahlenverhältnis, das sich umgekehrt pro- terschiedlichen Lernzielvorgaben verknüpft
portional zu dem verhält, das man in ,natürli- sind, implizieren dementsprechend unter-
chen‘ Spracherwerbssituationen (i.e. im Ziel- schiedliche Umgangsweisen mit Fehlern, weil
sprachenland) vorfindet. Knapp/Knapp-Pott- sie diesen Abweichungen von der Zielsprache
hoff (1982) verkehren diese scheinbar ungün- unterschiedliche Stellenwerte zuweisen.
stingen Bedingungen in ihr Gegenteil und Eine weitere Möglichkeit, die Lehrende
tragen eine Liste von positiven Funktionen haben, um die Lernenden bei ihrem Lernpro-
und auch Vorteilen zusammen, die unter- zess zu unterstützen, besteht darin, ihnen
richtliche Lehr-/Lernsituationen im Unter- Verfahren zur leichteren Aufnahme und Ver-
schied zu außerunterrichtlichen haben bzw. arbeitung sprachlicher Inputs anzubieten und
haben können. zwar in Form von Visualisierungen, explizi-
Da ist zunächst einmal die ,Strukturierung ten Regelformulierungen und auch der geziel-
und Steuerung der Input-Präsentation‘, also ten Verwendung der Muttersprache. Alle
die Auswahl und Aufbereitung von L2- diese Verfahren dienen der Vereindeutigung
sprachlichem Material durch den Lehrenden. und können den Hypothesenbildungsprozess
Dabei geht es darum, den zweitsprachlichen der Lernenden positiv beeinflussen bzw. be-
Input so zu organisieren, dass dem Lerner schleunigen.
möglichst gute Hilfen für das Erkennen von Ein weiterer Vorteil gegenüber außerunter-
Regelmäßigkeiten der L2 gegeben werden, richtlichen Lernsituationen besteht in der
die einen möglichst umwegfreien Ablauf sei- Möglichkeit, den Lernenden effektive Lern-
ner lernersprachlichen Hypothesenbildungen und Kommunikationsstrategien anzubieten:
in Richtung auf die Zielsprache erlauben“ „Fremdsprachenlehren als Unterstützung des
(Knapp/Knapp-Potthoff 1982, 172) und ihm Fremdsprachenlernvorgangs kann auch be-
602 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

deuten, unabhängig von bestimmten sprachli- Henrici 1995). Die Hauptfunktion der Ver-
chen Inhalten die Lern- und Kommunika- wendung von Sprache allgemein und damit
tionsweisen von Lernern günstig zu beeinflus- auch die einer L2 liegt in der Kommunika-
sen und die Lernfähigkeiten des Lerners zu tion, zu der der Fremdsprachenunterricht
aktivieren. Diese Art der Steuerung hat den aber allererst befähigen muss. Sowohl der In-
Vorteil, dass sie auch außerhalb des Unter- put als auch das Feedback auf lernersprach-
richts selbst wirksam bleibt und den Lerner lichen Output kann Sprachlernprozesse aus-
beim Spracherwerb unterstützen kann, der lösen oder gar beschleunigen. Verschiedene
neben oder nach dem Unterricht stattfindet“ Forschungsergebnisse deuten darauf hin,
(Knapp/Knapp-Potthoff 1982, 155). Persön- dass der unmittelbaren Notwendigkeit zu
lichkeitspsychologisch betrachtet kann die kommunizieren, eine wichtige Rolle für den
unterrichtliche Vermittlung bestimmter Stra- Erwerbsprozess zukommt (vgl. dazu das
tegien helfen, Stress und Angst beim Lernen Konzept des ,pushed output‘ von Swain/Lap-
abzubauen und damit der Vorbereitung auf kin 1995). Ein Vorteil, den die Notwendigkeit
selbständiges, außerinstitutionelles Lernen zu zu sprachlicher Produktion mit sich bringt,
dienen. Wenn ein Ziel des Fremdsprachenun- ist die fokussierte Aufmerksamkeit auf Seiten
terrichts der Erwerb kommunikativer und in- des Lernenden, die letztlich positive Auswir-
teraktioneller Kompetenz sein soll, die sich kungen auf den Erwerb hat (vgl. dazu z. B.
nicht nur in rein formal-sprachlichen Fertig- Elbers 1995). Auch dem interaktiv ausgehan-
keiten, sondern auch in pragmatisch ange- delten Input wird eine tendenziell günstige
messener Handlungsfähigkeit manifestiert, Wirkung auf den Erwerb zugesprochen, weil
dann spielt auch die Vermittlung von Strate- Lernende auf diese Weise die Möglichkeit ha-
gien zum Zweck der Förderung des autono- ben, die von ihnen gebildeten Hypothesen zu
men Lernens eine entscheidende Rolle. testen und ein Feedback darauf zu erhalten.
Lehren, so wie es hier beschrieben und illu- Unterrichtskommunikation per se zeichnet
striert wird, ist also weniger ein Instruktions- sich durch eine Asymmetrie hinsichtlich der
verhalten als vielmehr eine beratende Unter- Rollenverteilung der beteiligten Personen
stützung von Lernenden bei ihrem Wissens- aus. Fremdsprachenunterrichtliche Kommu-
konstruktions- und Automatisierungsprozess nikation hat darüber hinaus eine spezifische
in Richtung auf ein Sprachkönnen. Auch Qualität, da nicht nur die inhaltliche, son-
wenn es nicht möglich ist, eine Sprache zu dern auch die formale ⫺ also das Medium
lehren, so gibt es dennoch zahlreiche Verfah- betreffende ⫺ Expertise und Kontrolle beim
ren, das Lernen dieser Sprache zu ermögli- Lehrenden liegt. Die Rolle von Lehrenden
chen. Was gelehrt werden kann, ist die Gram- muss sich jedoch nicht der von Input- und
matik einer Sprache ⫺ also das sog. deklara- Feedback-Lieferanten erschöpfen. Sie kön-
tive Wissen. Hierbei handelt es sich allerdings nen Sprechanlässe schaffen und für Sprech-
lediglich um metasprachliches Wissen, und möglichkeiten sorgen, die die Lernenden in
dieses Wissen führt nicht automatisch zur die Lage versetzen, selbst initiativ zu werden
Sprachbeherrschung. Für L2-Lerner kann ein und dabei auf Sprechverhaltensweisen zu ver-
solches Wissen solange nützlich sein, wie sie zichten, die zwar typisch für die unterricht-
die L2 noch nicht beherrschen. Kompetente liche Kommunikation sind, in natürlichen Si-
Sprecher ⫺ seien es L1- oder L2-Sprecher ⫺ tuationen jedoch häufig nur eine untergeord-
benötigen dieses Wissen über Sprache in der nete Rolle spielen, wie z. B. das Sprechen in
Regel jedoch nicht, um angemessen rezipie- vollständigen Sätzen.
ren oder produzieren zu können.

9. Zusammenfassung
8. Zur Rolle der Interaktion beim
Lernen und Lehren fremder Spätestens die Erkenntnis, dass das, was ge-
Sprachen lehrt wird, nicht notwendigerweise auch ge-
lernt werden muss ⫺ dass also Input nicht
Die Rolle der sozialen Umwelt und der Inter- automatisch zu Intake führt ⫺ und die Beob-
aktion ist im Hinblick auf den L1-Erwerb achtung, dass es der Lernerkontrolle obliegt,
längst als zentral für sein Zustandekommen was wann und wie gelernt wird, hat eine zu-
anerkannt. Inzwischen wird der Interaktion nehmende Wahrnehmung des Lernenden als
auch in Bezug auf den L2-Erwerb ein wichti- Subjekt seines Lernprozesses bewirkt. Im
ger Stellenwert eingeräumt (vgl. dazu z. B. Unterschied zum lehrerzentrierten Unterricht
60. Lehren und Lernen 603

rücken damit die Selbststeuerung und Selbst- Interaktion zentral für den Lernerfolg ist und
verantwortung der Lernenden ins Zentrum dass die Befähigung zum Weiterlernen außer-
der Beobachtung. Ein Ziel von Fremdspra- halb des Unterrichts ⫺ z. B. in Form von Stra-
chenunterricht ist die Ermöglichung bzw. Er- tegienvermittlung ⫺ gefördert werden sollte,
leichterung des Erlernens fremder Sprachen. ist eine zunehmende Beteiligung der Lernen-
Dies geschieht u. a. durch die Schaffung von den an der didaktischen Planung des Fremd-
möglichst günstigen Bedingungen. Es ist in- sprachenunterrichts, um eine selbstverant-
zwischen empirisch nachgewiesen, dass der wortliche und handlungsaktive Lehr-/Lern-si-
Erwerbsverlauf nach individuellen und sozia- tuation zu schaffen. Generell ist ein Umdenk-
len Faktoren variiert, von denen einige wie ungsprozess erforderlich, als Folge dessen das
z. B. die Motivation durch den Fremdspra- Lernen fremder Sprachen in der zuvor be-
chenunterricht beeinflussbar sind. Andere schriebenen Weise als ein dynamischer, nicht
Faktoren hingegen sind derart in der Persön- strikt linearer, rückgekoppelter Konstruk-
lichkeit des lernenden Individuums verhaftet, tionsprozess betrachtet wird, der durch das
dass eine Beeinflussung von außen nicht Lehren zwar positiv beeinflusst, nicht aber ge-
möglich ist (z. B. der Lernertyp). Im Hinblick zielt gesteuert werden kann.
auf die Berücksichtigung solcher Faktoren rät
Kasper, „den Fremdsprachenunterricht so zu
gestalten, dass Lerner mit unterschiedlichen
10. Literatur in Auswahl
Merkmalsprofilen Gelegenheit finden, ihre be- Arbeitsgruppe Fremdsprachenerwerb Bielefeld
vorzugten Herangehensweisen an Lernauf- (1996): Fremdsprachenerwerbsspezifische For-
gaben anzuwenden und alternative Lernstile schung. Aber wie? Theoretische und methodologi-
zu erproben“ (Kasper 1995, 469), d. h. der sche Überlegungen (I und II). In: Deutsch als
Unterricht muss den Lernenden angepasst Fremdsprache 3, 144⫺155 & 4, 200⫺210.
werden und nicht umgekehrt (vgl. dazu auch Bausch, Karl-Richard; Herbert Christ; Hans-Jür-
Knapp/Knapp-Potthoff 1982, 183). Ihre Be- gen Krumm (Hg.) (1995): Handbuch Fremdspra-
trachtungen zum Verhältnis von Lehrme- chenunterricht. 3. Auflage. Tübingen & Basel.
thoden und Lernerfolg fassen Edmondson/ Bausch, Karl-Richard; Herbert Christ; Frank G.
House folgendermaßen zusammen: „Der Königs; Hans Jürgen Krumm (Hg.) (1996): Erfor-
schung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen.
Lernerfolg und die Qualität der Lehre sind
Zwischenbilanz und Perspektiven. Arbeitspapiere
nicht entscheidend von der im Unterricht der 16. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des
verwendeten Sprachlehrmethode abhängig. Fremdsprachenunterrichts. Tübingen.
Die Suche nach der ,besten‘ Lehrmethode ist ⫺; ⫺; Hans-Jürgen Krumm (1995): Das Lehren
sinnlos, sowohl in der Forschung als auch in und Lernen von fremden Sprachen: Wissenschafts-
der unterrichtlichen Praxis“ (Edmondson/ konzepte im internationalen Vergleich. In: Bausch
House 1993, 309). Auch Krumm macht in u. a., 13⫺23.
seiner zusammenfassenden Darstellung der ⫺ (1996): Sprachlehrforschung: Eine Zwischenbi-
aktuellen Forschungslage darauf aufmerk- lanz. In: Bausch u. a., 9⫺18.
sam, dass es kein bestimmtes Lehrer- bzw. Bleyhl, Werner (1996): Fremdsprachenfachdidak-
Lehrverhalten gibt, das an sich ,gut‘ oder tik/Sprachlehr- und -lernforschung als wissenschaft-
,schlecht‘ ist, sondern „daß vielmehr die An- liche Disziplin: Zwischenbilanz 1996. In: Bausch
gemessenheit des Lehrverhaltens in einer je- u. a., 19⫺30.
weiligen Unterrichtssituation und mit einer Brown, Douglas H. (1987): Principles of language
spezifischen Teilnehmergruppe den Aus- learning and teaching. 2. Aufl., Englewood Cliffs
schlag“ (Krumm 1995, 476) gibt. N. J.
Der Rolle der Lehrmethode stellen Ed- Doyé, Peter (1995): Lehr- und Lernziele. In:
mondson/House die Rolle der Unterrichtsin- Bausch u. a., 161⫺166.
teraktion gegenüber: „Die Natur der Interak- Edmondson, Willis; Juliane House (1993): Einfüh-
tion im Fremdsprachenunterricht ist für den rung in die Sprachlehrforschung. Tübingen/Basel.
Lehr- und Lernerfolg des Unterrichts höchst- ⫺ (1996): Rückblick: plus ça change, plus c’est la
wahrscheinlich entscheidend; die Erforschung même chose? In: Bausch u. a., 53⫺59.
dieser Interaktion stellt somit eine wesentliche Elbers, Loekie (1995): Productions as a source of
Aufgabe für die Sprachlehrforschung dar. Wie input for analysis: evidence from the developmen-
Lehrer ihre eigene Rolle konzipieren und reali- tal course of word-blend. In: Journal of Child Lan-
sieren, ist daher von zentraler Bedeutung“ guage 22, 47⫺71.
(Edmondson/House 1993, 310). Eine mögli- Ellis, Rod (1996): The study of second language ac-
che Konsequenz aus der Beobachtung, dass quisition. Oxford.
604 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

Gnutzmann, Claus (1996): Fremdsprachen und Krumm, Hans-Jürgen (1995): Der Fremdsprachen-
Fremdsprachenunterricht in der Praxis: Nicht ohne lehrer. In: Bausch u. a., 475⫺480.
Politik! Aber ohne Fremdsprachendidaktik? In: List, Gudula (1996): Von den Schwierigkeiten der
Bausch u. a., 60⫺67. Sprachlehrforschung in der ,interkulturellen Her-
Grotjahn, Rüdiger (1991): The research pro- ausforderung‘. In: Bausch u. a., 111⫺115.
gramme subjective theories. A new approach in sec-
ond language research. In: Studies in Second Lan- Long, Michael (1983): Native speaker/non-native
speaker conversation in the second language class-
guage Acquisition 13, 187⫺214.
room. In: Clarke, M.; J. Handscombe (Hg.) On
Henrici, Gert (1995): Spracherwerb durch Interak- TESOL ’82: Pacific perspectives on language learn-
tion? Eine Einführung in die fremdsprachener- ing and teaching. Washington, D. C.: TESOL,
werbsspezifische Diskursanalyse. Baltmannsweiler. 207⫺225.
House, Juliane (1995): Interaktion. In: Bausch McLaughlin, Barry (1987): Theory of second lan-
u. a., 480⫺484.
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⫺ (1996): Fremdsprachenlehren und -lernen in For-
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perspektiven. In: Bausch u. a., 80⫺88. implicit and explicit memory: Implications for bi-
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Selinker, Larry (1972): Interlanguage. In: IRAL 10,
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Knapp-Potthoff, Annelie; Karlfried Knapp (1982):
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in die Didaktik der Fremdsprachensprachen vom output and the cognitive processes they generate: a
Standpunkt der Zweitsprachenerwerbsforschung. step towards second language learning. In: Applied
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Kohn, Kurt (1990): Dimensionen lernersprachlicher Vollmer, Helmut J. (1996): Zum Stand der Erfor-
Performanz. Tübingen. schung des Fremdsprachenerwerbs in der Bundes-
Königs, Frank G. (1995): Die Dichotomie Lernen/ republik Deutschland ⫺ Fokus: Der Lerner. In:
Erwerben. In: Bausch u. a., 428⫺431. Bausch u. a., 144⫺158.
⫺ (1995): Fehlerkorrektur. In: Bausch u. a., 268⫺
272. Karin Aguado, Bielefeld (Deutschland)

61. Typen und Konzepte des Spracherwerbs

1. Einleitung kundig für den Bereich des lexikalischen Er-


2. Komponenten des Spracherwerbs werbs: neue Wörter oder auch nur neue Ge-
3. Der Prozess des Spracherwerbs brauchweisen bekannter Wörter lernt man
4. Die wesentlichen Theorien das ganze Leben. Es gilt aber durchaus auch
5. Abschließende Bemerkung
6. Literatur in Auswahl
für strukturelle Eigenschaften, etwa aus der
Syntax oder der Morphologie. Selbst Acht-
bis Zehnjährige beherrschen manche Kon-
1. Einleitung struktionen ihrer Sprache noch nicht. Den-
noch: mit der Pubertät ist dieser Teil des Erst-
Zu den verschiedenen Gaben, mit denen die spracherwerbs im Wesentlichen abgeschlos-
List der Natur den Menschen bedacht hat, sen, und das Ergebnis ist in aller Regel eine
zählt auch die Fähigkeit, eine Sprache zu er- ,perfekte‘ Beherrschung der Sprache. Mit
lernen und zu gebrauchen: ein jeder eignet „perfekt“ ist hier nicht gemeint, dass das
sich als Kind eine Sprache, die Mutterspra- Sprachvermögen schon seinen denkbaren
che, an und macht bald mit unterschiedli- Höhepunkt erreicht hätte; nicht jeder Deut-
chem Glück und Geschick Gebrauch von ihr. sche schreibt mit vierzehn Jahren wie Goethe
Zwar ist dieser Prozess nicht, wie gelegentlich mit vierzig; gemeint ist, dass ein jeder nor-
angenommen wird, schnell und mühelos. Er male Mensch etwa mit der Pubertät über eine
erstreckt sich über viele Jahre. Dies ist offen- Sprachbeherrschung verfügt, die sich von je-
61. Typen und Konzepte des Spracherwerbs 605

ner seiner sozialen Umgebung nicht auffällig bei Kindern, die mit geringer zeitlicher Ver-
unterscheidet. In diesem Sinne ist also die zögerung eine zweite Sprache lernen, weil
Sprachbeherrschung eines Hilfsarbeiters mit ihre soziale Umgebung dies erfordert, oder
einem Wortschatz von 500 aktiv gebrauchten beim Spracherwerb ausländischer Arbeiter
Wörtern und schlichter, aber klarer Syntax im Erwachsenenalter. Er kann aber auch das
,perfekt‘, nicht hingegen die Sprachbeherr- Produkt einer systematischen Intervention,
schung eines ausländischen Goetheforschers also des Sprachunterrichts, sein, und je nach
mit 5000 aktiv gebrauchten Wörtern und Art dieses Unterrichts wiederum sehr unter-
höchst komplexer, wenn auch bisweilen fal- schiedliche Formen annehmen. Dementspre-
scher Syntax und merklichem Akzent. In ei- chend spricht man von ungesteuertem und ge-
nem Satz: der Erstspracherwerb ist ein natür- steuertem Zweitspracherwerb; für letzten sagt
licher Prozess, er wird nicht systematisch und man oft auch Fremdspracherwerb. Je nach
planvoll von außen gesteuert, dauert recht Alter und nach Art des Unterrichts gibt es
lange und führt in der Regel zur ,perfekten‘ hier wiederum sehr unterschiedliche Unter-
Beherrschung der zu lernenden Sprache. formen. Wenn man daher von „Typen“ des
Die meisten lernen eine zweite, viele eine Spracherwerbs redet, so muss man sich vor
dritte oder vierte Sprache. Verlauf und Augen halten, dass es sich um ein reiches
Endergebnis des Zweitspracherwerbs (oder Spektrum von Erscheinungsformen handelt,
„Mehrspracherwerbs“) sind, verglichen mit die gleitend ineinander übergehen und unter
dem Erstspracherwerb, relativ uneinheitlich. denen die eine oder andere besonders häufig,
Dafür sind viele Faktoren verantwortlich, aus praktischen Gründen besonders wichtig
von denen zwei besonders wichtig sind: Alter oder unter wissenschaftlichen Gesichtspunk-
und Art des Erwerbs variieren beträchtlich. ten besonders aufschlussreich ist. Drei in die-
Der Erstspracherwerb setzt praktisch mit der sem Sinne ,typische‘ Exponenten sind
Geburt ein (es gibt sogar Vorstellungen, dass
⫺ der monolinguale Erstspracherwerb; er
schon pränatale Einflüsse eine Rolle spielen).
ist insofern von besonderer Bedeutung, weil
Der Zweitspracherwerb beginnt zu sehr un-
jeder normale Mensch eine erste Sprache
terschiedlichen Zeitpunkten. Zum Ersten ist
lernt; so liegt denn die Annahme nahe, dass
möglich, dass von Anfang an zwei Sprachen
er am reinsten die naturgegebenen Gesetz-
gelernt werden ⫺ ein Fall, den man sinn-
lichkeiten des menschlichen Sprachvermö-
vollerweise nicht als ,Zweitspracherwerb‘,
gens widerspiegelt;
sondern als ,bilingualen Erstspracherwerb‘
⫺ der ungesteuerte Zweitspracherwerb im
bezeichnet (Meisel 1994). Eine zweite Sprache
Erwachsenenalter, wie wir ihn bei ausländi-
kann aber zu jedem beliebigen späteren Zeit-
schen Arbeitern beobachten; nicht jeder lernt
punkt hinzutreten, im frühen Kindesalter,
im Erwachsenenalter eine zweite Sprache,
wenn kaum die ersten Strukturen der Mutter-
und insofern ist die Form des Spracherwerbs
sprache vorhanden sind, bis zum fortge-
weniger „natürlich“; sie ist es aber insofern,
schrittenen Erwachsenenalter, in dem das
als sie ganz von naturgegebenem Umgang
Lernvermögen nicht nur für die Sprache nach
mit neuem sprachlichem Material bestimmt
allgemeiner Erfahrung nachgelassen hat: der
ist und nicht zugleich die Auswirkungen einer
Übergang ist daher gleitend. Das Lernalter
gezielten, mehr oder minder sinnvollen In-
führt, so sollte man zumindest annehmen, zu
tervention ⫺ eben des Unterrichts ⫺ reflek-
verschiedenen Formen des Zweitspracher-
tiert;
werbs. Ebenso wichtig ist aber die besondere
⫺ der traditionelle grammatikorientierte
Art des Erwerbs. Der Erstspracherwerb er-
Fremdspracherwerb in der Schule, wie wir ihn
folgt in der alltäglichen Kommunikation,
in besonders ausgeprägter Form im klassi-
ohne systematisch steuernde Intervention
schen Lateinunterricht finden; kein Mensch
von außen. Kinder haben zwar ein außeror-
lernt von Natur aus eine Sprache auf diese
dentlich feines Ohr für sprachliche Eigen-
Weise; aber er kann sie auf diese Weise ler-
schaften, aber sie sind gegenüber korrigieren-
nen, und in vielen Fällen, wie eben im Latein-
den Einflüssen auf ihre Art zu reden zumin-
unterricht, ist es sogar die einzige Möglich-
dest bis ins Schulalter sehr widerborstig. Sie
keit.
verlassen sich nicht nur in dieser Hinsicht lie-
ber auf das, was sie selber hören, als auf das, Diese drei Ausprägungen des Spracherwerbs
was man sie heißt. Der Zweitspracherwerb haben charakteristische Gemeinsamkeiten
kann in derselben Weise, nämlich in der all- und Verschiedenheiten, unter denen die fol-
täglichen Kommunikation, erfolgen ⫺ etwa genden besonders augenfällig sind:
606 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

A. Zweitspracherwerb und Fremdspracher- Unterschiedlichkeit im Einzelnen müssen je-


werb ist gemeinsam, dass (a) der Lerner be- doch immer drei Komponenten gegeben sein.
reits eine Sprache beherrscht, (b) er im Alter Der Lerner muß über ein bestimmtes, im Ge-
vorangeschritten ist, und (c) das Ergebnis in hirn gespeichertes Sprachlernvermögen verfü-
aller Regel nicht, wie beim Erstspracherwerb, gen, das wiederum ein Teil seines angebore-
eine ,perfekte‘ Beherrschung der zu lernenden nen und im Laufe des Lebens entfalteten
Sprache ist (obwohl dies auch wiederum Sprachvermögens ist. Für Letzteres sage ich
nicht ausgeschlossen ist). hier mit einem hässlichen, aber in der For-
B. Erstspracherwerb und Zweitspracher- schung gängigen Wort Sprachverarbeiter
werb sind gleichsam „natürliche“ Prozesse, (,language processor‘); das Sprachlernvermö-
d. h. sie beruhen auf den uns von der Natur gen ist nichts als die Anwendung des Sprach-
gegebenen Mechanismen der Sprachverarbei- verarbeiters auf neues Material. Zweitens
tung und den Prinzipien, die sie steuern. Der muss der Lerner Zugang zu diesem neuen
Fremdspracherwerb ist demgegenüber ein Material, also zu Äußerungen der zu lernen-
Versuch, auf diesen Prozess auf Grund gewis- den Sprache haben; diesen Input kann er auf
ser Überlegungen oder auch praktischer Er- unterschiedliche Weise erlangen, und die un-
fahrungen steuernd von außen einzuwirken, terschiedliche Form des Zugangs spielt für
um ihn so zu optimieren. Verlauf und Endresultat des Erwerbsprozes-
C. Der Erstspracherwerb ist nur eine Kom- ses eine wesentliche Rolle. Drittens muss es
ponente in der gesamten kognitiven und so- einen besonderen Grund, ein Motiv, einen
zialen Entwicklung des Kindes; bei Zweit- Antrieb geben, den Sprachverarbeiter auf den
spracherwerb wie bei Fremdspracherwerb ist ihm zugänglichen Input anzuwenden; dieser
diese Entwicklung hingegen in wesentlichen Antrieb ist bei Erstspracherwerb, Zweit-
Teilen abgeschlossen. spracherwerb und Fremdspracherwerb sehr
unterschiedlich, und auch dies hat Konse-
Nun sind, wie gesagt, diese drei Formen Ex- quenzen für den Erwerbsprozess.
tremfälle, zwischen denen es zahlreiche Zwi-
schenstufen gibt ⫺ etwa den bilingualen Erst- 2.1. Der Sprachverarbeiter
spracherwerb (weltweit gesehen vielleicht so- Wir alle werden mit der Fähigkeit geboren,
gar der häufigere Fall als der monolinguale eine Sprache zu lernen und zu gebrauchen.
Erstspracherwerb), den Zweitspracherwerb Ob diese Fähigkeit bereits bei der Geburt voll
im Kindesalter, den Fremdspracherwerb im ausgebildet ist, ist offen: das menschliche
kommunikativ orientierten, vielleicht gar Hirn erfährt in den ersten zwei bis vier Le-
monolingualen Unterricht, usw. usw. Ein bensjahren zahlreiche massive Veränderun-
weiterer Grenzfall ist der „Wiedererwerb“ ei- gen, und es mag sein, dass diese Veränderun-
ner Sprache, die einmal gelernt worden war, gen auch den Sprachverarbeiter, oder zumin-
dann aber mehr oder minder vergessen dest Teile davon, betreffen. Man muss daher
wurde. das speziesspezifische angeborene Sprachver-
Es ist nach all dem kein Zufall, dass es in mögen scharf trennen vom Lernvermögen zu
der Forschung keine einheitliche Terminolo- einem bestimmten Zeitpunkt, sei es in der
gie für die verschiedenen Formen des Sprach- Kindheit, im Jugendalter oder als Erwachse-
erwerbs gibt. Sinnvoller als der Versuch, feste ner. Wie der „Sprachverarbeiter“ eines Men-
„Typen“ voneinander abzugrenzen, ist daher schen in einem bestimmten Alter funktio-
die Frage, welche Züge den unterschiedlichen niert, hängt von zweierlei ab, nämlich (a) von
Formen des Spracherwerbs gemeinsam sind gewissen biologischen Determinanten, und
und in welchen sie sich unterscheiden. Dies (b) von dem gesamten Wissen, über das der
wollen wir im folgenden Abschnitt systema- Lerner zu dieser Zeit verfügt.
tisch betrachten.
2.1.1. Biologische Determinanten
2. Komponenten des Spracherwerbs Hierzu zählen zum einen einige periphere Or-
gane, insbesondere der Artikulationsapparat
Der Spracherwerb gleich welcher Art ist im- vom Kehlkopf bis zu den Lippen und der ge-
mer ein sehr komplexer Prozess, der sich samte Gehörtrakt (bzw., bei geschriebener
beim Kind wie beim Erwachsenen über viele Sprache, das Sehvermögen). Zum andern hat
Jahre erstreckt und dessen Verlauf wie dessen man einige Teile der zentralen Verarbeitung
Endergebnis von einer Reihe von interagie- im Gehirn hierhin zu stellen, also höhere
renden Faktoren bestimmt wird. Bei aller Aspekte der Wahrnehmung, Gedächtnis,
61. Typen und Konzepte des Spracherwerbs 607

Kognition, vielleicht auch ⫺ wie von man- Wissen. Zu diesem Wissen zählt zum ersten
chen Sprachtheoretikern angenommen ⫺ ein das gesamte Welt- und Faktenwissen des Ler-
eigenes „Sprachmodul“, d. h. ein ausschließ- ners zum jeweiligen Zeitpunkt. Dieses Wissen
lich für die Sprache verantwortliches Teil in erlaubt ihm überhaupt erst, bestimmte Ele-
der Kortex. Hierfür gibt es allerdings bislang mente des Schallstroms, der ihm aus seiner
wenig empirische Belege, und es ist sicherlich sozialen Umgebung entgegentönt, in kleinere
ökonomischer, wenn man ohne eine solche Segmente aufzubrechen und diese mit einer
Annahme auszukommen versucht. Deutung zu versehen. Zum zweiten zählt
Beide Arten biologischer Determinanten dazu seine mehr oder minder begrenzte
sind dem Menschen angeboren; beide verän- Kenntnis der zu lernenden Sprache (der Ziel-
dern sich im Laufe des Lebens in gewissen sprache) zum gegebenen Zeitpunkt. Der
Grenzen, und solche Veränderungen sind si- Spracherwerb ist immer ein kumulativer Pro-
cher von großer Bedeutung für den unter- zess, bei dem Wissen auf Grund bereits vor-
schiedlichen Verlauf des Spracherwerbs in handenen Wissens aufgebaut wird. Drittens
verschiedenen Lebensaltern. Möglicherweise schließlich zählt beim gesteuerten wie beim
erklären sie sogar den oben erwähnten zen- ungesteuerten Zweitspracherwerb, nicht aber
tralen Umstand, dass der Erwerb einer zwei- beim Erstspracherwerb, auch die Kenntnis
ten Sprache im Erwachsenenalter selten zu der Erstsprache (oder auch mehrerer bereits
perfekter Beherrschung führt. Viele naturge- beherrschter Sprachen) zum jeweils vorhan-
gebene biologische Prozesse, von der Prä- denen Wissen.
gung der Graugänse auf ihre „Mutter“ bis Dieser letzte Umstand ist die Ursache für
auf die Fähigkeit, ein Kind zu gebären, sind eines der wichtigsten Konzepte des Zweit-
auf eine bestimmte Spanne, eine „kritische spracherwerbs ⫺ den Transfer. Wenn man be-
Periode“, beschränkt. Der Biologe Eric Len- reits eine Sprache kennt, so werden die Ei-
neberg (1967) hat auch für den Spracherwerb gentümlichkeiten der neuen Sprache im
eine solche kritische Periode postuliert, die Lichte der bereits vorhandenen Sprachkennt-
etwa bis zur Pubertät reicht; danach kann auf nisse wahrgenommen und interpretiert. Für
Grund von Veränderungen in dem Kortex das Verständnis des Transfer ist wesentlich,
zwar immer noch eine Sprache gelernt wer- dass es sich nicht etwa um eine Beziehung
den, aber nur in jenem Sinne, in dem man zwischen zwei „Sprachsystemen“ handelt,
sich auch Kenntnisse über die Algebra oder sondern um eine Interferenz zwischen ver-
die großen Schlachten der Geschichte aneig- schiedenen Wissenskomponenten des Lerners
net. Diese in der Erwerbsforschung oft unbe- zu einem gegebenen Zeitpunkt: das, was er
sehen geglaubte Theorie hat den bestechen- zu dieser Zeit von der Ausgangssprache
den Charme einfacher Erklärungen, freilich weiss, wirkt sich auf das aus, was er zu dieser
auch den Mangel, dass alle bekannten Verän- Zeit von der Zielsprache weiss oder vielmehr
derungen im Hirn des Kindes wesentlich frü- zu wissen glaubt. Deshalb ist auch die soge-
her liegen ⫺ etwa bis zum Abschluss des vier- nannte „kontrastive Linguistik“ nur von be-
ten Lebensjahres; Kinder im Alter von acht grenztem Nutzen für eine Erklärung des
oder zehn Jahren haben aber in der Regel kei- Transfers, denn sie vergleicht im allgemeinen
nerlei Probleme, eine weitere Sprache perfekt sprachliche Systeme oder Teile davon, nicht
zu lernen. Dies spricht nicht gegen die Rele- aber das jeweils verfügbare Wissen eines Ler-
vanz von biologischen Veränderungen für nenden (vgl. Art. 16; 18; 19).
das Erlernen einer Sprache, wohl aber gegen Wie in allen Fällen, in denen vorhandenes
die einfache Vorstellung einer „kritischen Pe- Wissen den Aufbau neuen Wissens beein-
riode“ (für eine Würdigung und einen Über- flusst, in der Wissenschaft wie im Leben,
blick über die verschiedenen Alterseffekte kann dieser Einfluss positiv oder negativ sein;
siehe Singleton 1989). dementsprechend spricht man von positivem
wie von negativem Transfer. Dabei ist sehr
2.1.2. Verfügbares Wissen wohl möglich, dass ein Transfer, der ur-
Die biologischen Determinanten setzen sprünglich das Lernen erleichtert hat, auf die
gleichsam den Rahmen, innerhalb dessen sich Dauer negative Wirkungen zeitigt. Um es an
der Spracherwerb vollziehen kann. Dieser einem Punkt zu illustrieren: Die Art und
Prozess ist aber nicht momentan, er dauert Weise, wie die Erstsprache bestimmte inhalt-
lange Zeit ⫺ in der Regel viele Jahre ⫺, und liche Bereiche, etwa den Ausdruck des Rau-
in dieser Zeit verändert sich fortwährend das mes und der Zeit, strukturiert, wird, sofern
dem Lerner jeweils zu Verfügung stehende gewisse Ähnlichkeiten vorliegen, auf die
608 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

Zweitsprache übertragen; dies macht das schaften. Es ist dem einzelnen nicht angebo-
Lernen zunächst leichter, hat aber unter Um- ren, Mopan oder Twi zu lernen. Dass sich der
ständen zur Folge, dass die feineren Unter- Lerner eine bestimmte Sprache mit all ihren
schiede nicht bemerkt werden. Ein Deut- strukturellen Besonderheiten aneignet, liegt
scher, der Englisch lernt, hat zunächst weni- daran, dass die soziale Umwelt des Lerners
ger Schwierigkeiten mit dem englischen pre- diese Sprache spricht und sie als Input für
sent-perfect als ein Chinese: he has sung und seinen Sprachverarbeiter zugänglich macht.
er hat gesungen sind sehr ähnlich; im Chinesi- Wie wird dem Lerner die Sprache der so-
schen gibt es keine vergleichbare Markierung zialen Umgebung zugänglich? Er versteht
der Temporalität durch eine periphrastische diese Sprache ja noch nicht, er hat, mit dem
Konstruktion. Auf der anderen Seite ist eben heiligen Thomas von Aquin zu reden, von der
diese Ähnlichkeit zugleich ein Grund dafür, Rede nur den flatus vocis, aus dem er einen
daß die tatsächlich bestehenden subtilen Un- gewissen Sinn zu machen versuchen muss. Er
terschiede nicht wahrgenommen werden; des- sieht sich in der Lage eines Menschen, der
halb wird der Lerner durch den zunächst ein- sich plötzlich in eine Welt versetzt findet, in
mal positiven Transfer verführt, diese Unter- der alle um ihn herum nur Malayalam reden.
schiede vielleicht nie zu lernen ⫺ jedenfalls Anders gesagt: Der Input besteht zunächst
wenn er nicht ausdrücklich darauf aufmerk- einmal aus unanalysierten Schallwellen, die
sam gemacht wird. Diesen gleichzeitig er- das Ohr des Lerners treffen, also nichts, was
leichternden und hemmenden Einfluss der bereits in Phoneme, Wörter, Sätze zerlegt
Erstsprachkenntnisse finden wir auch in an- wäre. Den Schallstrom in kleinere Einheiten
deren Bereichen, beispielsweise in der Phono- aufzubrechen und diese mit einem bestimm-
logie. So zeigt sich, daß spanischsprachige ten Sinn zu versehen, ist die erste Aufgabe des
Arbeiter, die in der alltäglichen Kommunika- Lerners, und wenn er dazu nur die Schallwel-
tion Deutsch lernen, zunächst wesentlich len zur Verfügung hätte, dann wäre sie nicht
mehr Schwierigkeiten mit dem Konsonantis- zu lösen. Wenn man einen Lerner Tage, Wo-
mus, insbesondere mit den Konsonantenver- chen, ja Jahre in ein Zimmer einsperren und
bindungen, haben als mit dem Vokalismus; mit Inuktitut beschallen würde, so würde er
dies erklärt sich leicht durch den Einfluss der es doch nicht lernen. Man benötigt dazu auch
Erstsprache. Nach einer Weile kehrt sich die- die gesamte begleitende Information, Gesten,
ses Verhältnis jedoch um ⫺ Konsonanten Handlungen, den ganzen situativen Kontext,
und Konsonantenverbindungen werden be- mit dessen Hilfe es möglich ist, einzelne Teile
herrscht, der Vokalismus bleibt stehen, eben aus dem Schallstrom herauszubrechen und
wegen der relativen Ähnlichkeit (Tropf 1983). sinnvoll zu interpretieren. Mit anderen Wor-
Dies erklärt zumindest teilweise eine der auf- ten, der Input besteht eigentlich aus zwei pa-
fälligsten Eigenschaften des Zweitspracher- rallelen Informationsquellen ⫺ dem Schall-
werbs ⫺ die Fossilierung. Der Lerner macht strom und der gesamten situativen Parallelin-
in bestimmten Bereichen keinerlei Fort- formation. An diesen kann der Sprachverar-
schritte mehr, er ist nicht mehr aufnahmebe- beiter ansetzen, um das Analyseproblem des
reit für neuen Input bestimmter Art, obwohl Spracherwerbs zu lösen. Dabei spielt nun das
seine Sprache von der seiner sozialen Umge- gesamte jeweils verfügbare Wissen eine we-
bung noch weit entfernt ist. Es kann dies aber sentliche Rolle, insbesondere Kenntnis der
nicht die einzige Erklärung dafür sein, dass strukturellen Regularitäten einer bereits vor-
nur der Erstspracherwerb in der Regel zu handenen Sprache, die den Lerner bei der
perfekter Beherrschung führt: Im Fremdspra- Lösung des Analyseproblems leiten und eben
cherwerb wird der Lerner nämlich ausdrück- auch fehlleiten können. Dies gilt in gleicher
lich auf diese Unterschiede hingewiesen, und Weise für den Erstspracherwerb wie für den
dennoch ist er oft nicht in der Lage, sie sich ungesteuerten Zweitspracherwerb: Säugling
zu eigen zu machen (Überblicke über den ge- wie Erwachsener hören zunächst nur blah-
genwärtigen Stand der Transferforschung ge- blahblah in einem sozialen Kontext, und sie
ben Kellerman und Sharwood-Smith 1986; müssen ersteres mit Hilfe des letzteren deu-
Odlin 1989; Ellis 1994, 299⫺346). ten. Wie dies im Einzelnen geschieht, was
also die natürlichen Gesetzlichkeiten des
2.2. Der Input menschlichen Spracherwerbs sind, lässt sich
Der Sprachverarbeiter ist bei Geburt bei al- nur empirisch klären.
len Menschen gleich ⫺ im Rahmen der Beim gesteuerten Zweitspracherwerb ist
Schwankungsbreite aller angeborenen Eigen- dies in einem wesentlichen Punkt anders: die
61. Typen und Konzepte des Spracherwerbs 609

zu lernende Sprache wird dem Sprachverar- wusst gelerntes Wissen, sofern genügend Zeit
beiter zu großen Teilen nicht direkt zugäng- vorhanden ist, das unbewusst erworbene
lich gemacht, sondern in Form einer linguisti- Wissen wie eine Überwachungsinstanz, ein
schen Beschreibung. Es wird gesagt, die „Monitor“ steuert (zusammenfassend darge-
strukturellen Gesetzlichkeiten einer Sprache stellt in Krashen 1981). Dies ist aber eher eine
sind so und so, eigne sie dir an! Das Sprach- schöne Metapher, die suggestiv beschreibt,
lernvermögen muss sich nicht dem Material wie man in einem gegebenen Fall bei der Pro-
selbst, sondern mit einer bestimmten Aufbe- duktion von Äußerungen in der Zweitsprache
reitung dieses Materials auseinandersetzen. vorgeht; aber sie sagt wenig über die Gesetz-
Darauf ist der menschliche Sprachverar- lichkeiten, nach denen sich der Erwerbspro-
beiter, so wie er sich im Laufe der Jahrtau- zess entfaltet. Die „Monitortheorie“ hat in
sende, vielleicht Jahrhunderttausende entwik- der Sprachlehrforschung einen ganz erstaun-
kelt hat, nicht zugeschnitten. Das besagt kei- lichen Widerhall gefunden, allerdings mehr
neswegs, dass das Ergebnis des Fremdspra- im Sinne eines deklamatorischen Überbaus;
cherwerbs ein schlechteres sein müßte (in der für die konkrete Anwendung oder gar für die
Praxis ist oft das Gegenteil der Fall). Es be- empirische Erforschung des Spracherwerbs
sagt aber wohl, dass die Gesetzlichkeiten, die ist sie zu wenig konkret, so dass sie hier kaum
den Prozess des Fremdspracherwerbs kenn- eine Rolle gespielt hat.
zeichnen, teilweise andere sind als beim Es ist eine interessante und bislang wenig
Zweitspracherwerb: Sie resultieren aus dem studierte Frage, was passiert, wenn Beschrei-
Versuch, in einen natürlichen, durch be- bungswissen ⫺ also das, was man dem Ler-
stimmte Charakteristika gekennzeichneten ner im Unterricht als Regel vorgegeben hat
Prozess von außen her steuernd einzugreifen. ⫺ und induktiv abgeleitetes Eigenwissen über
Die Folge ist, dass der gesteuerte Zweit- die Zweitsprache in Widerstreit geraten. Eine
spracherwerb durch die Interaktion dreier der wenigen Untersuchungen zu dieser Frage,
Formen sprachlichen Wissens gekennzeichnet Carroll u. a. (1982) zeigt, dass dieser Konflikt
ist. Dies sind: bei Sprechern unterschiedlicher Herkunft, in
diesem Falle Amerikanern und Japanern, un-
(a) Das intuitive Wissen über die strukturel-
terschiedlich aufgelöst werden kann: letztere
len Eigenschaften der Erstsprache (oder auch
gewichten das Beschreibungswissen wesent-
mehrerer bereits beherrschter Sprachen).
lich höher als erstere, ein Umstand, der sich
(b) Das „intuitive“, d. h. durch die üblichen
im Korrekturverhalten deutlich niederschlägt.
Prozesse des Spracherwerbs zustandegekom-
Sie sind, um so etwas anders zu formulieren,
mene partielle Wissen über die Zweitsprache;
Interferenzen aus dem Beschreibungswissen
selbst bei ausgeprägt grammatischem Unter-
eher zugänglich als die Amerikaner, weil sie
richt muss sich der Lerner ja auch mit dem
offenbar eine andere Einstellung dazu haben,
Material selbst (hier oft in seiner geschriebe-
was eigentlich gelernt werden soll. Dies
nen Form) auseinandersetzen. Dieses Wissen
bringt uns auf die letzte Komponente, die bei
kann man das (intuitive) Eigenwissen des
jedem Spracherwerb unabdinglich ist ⫺ den
Lerners nennen ⫺ das, was er selbst intuitiv
spezifischen Antrieb, der den Lerner veran-
aus dem ihm zugänglichen Input abgeleitet
lasst, seinen Sprachverarbeiter auf einen be-
hat.
stimmten Input anzuwenden.
(c) das Beschreibungswissen über die Zweit-
sprache, d. h. jene partielle Kenntnis der 2.3. Antrieb
Zweitsprache, die auf Grund metalinguisti-
Es gibt verschiedene, zumeist Hand in Hand
scher Beschreibung dieser Zweitsprache zu-
gehende Gründe, aus denen man eine Spra-
standegekommen ist und das dem Lernenden
che lernen kann. Der wichtigste ist ohne
durch den Unterricht oder durch Lehrbücher
Zweifel die soziale Integration. Ein Kind
nahegebracht worden ist.
muss eine bestimmte soziale Identität erwer-
Sprechen und Verstehen eines Fremdsprach- ben, und dazu muss es die Sprache seiner so-
Lerners zu einem gegebenen Zeitpunkt wer- zialen Umgebung exakt reproduzieren. Es
den daher nicht von einem einheitlichen, zu- muss sich daher im sprachlichen (wie im son-
grundeliegenden Wissen bestimmt, sondern stigen) Verhalten auch bestimmte Gewohn-
von einer eigentümlichen Mischform mit drei heiten zu eigen machen, deren Sinn es nicht
Anteilen in variierender Gewichtung. Wie sieht, weil sie keinen haben ⫺ im Deutschen
diese zusammenwirken, ist unklar. Auf Kra- beispielsweise die Genusunterscheidung, den
shen geht die Vorstellung zurück, dass be- Unterschied zwischen starken und schwachen
610 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

Verben oder eine bestimmte Aussprache- hinlänglich bekannt; woraus sie diese Wir-
weise, etwa ein stimmhaftes /s/ im Silbenan- kung auf die Sprachverarbeitung ⫺ also ei-
laut. Ein Kind, das das /s/ in allen Positionen nen psychischen Prozess, der sich irgendwo
gleich ausspräche, konsequent bei allen Ob- in unserem Hirn abspielt ⫺ beziehen, ist
jekten den Artikel „das“ verwendete und allerdings gänzlich ungeklärt (vgl. neuerdings
„laufte“ und „schwimmte“ statt „lief“ und jedoch Pulvermüller und Schumann 1994).
„schwamm“ sagen würde, wäre im Grunde
viel logischer und vernünftiger als seine so-
ziale Umgebung ⫺ aber es wäre in dieser 3. Der Prozess des Spracherwerbs
Umwelt ein Außenseiter. Es tut daher gut
Keine unter den vielen Formen des Spracher-
daran, alle Ungereimtheiten, sprachliche und
werbs ist abrupt: es handelt sich stets um ei-
sonstige, im Verhalten der sozialen Umge-
nen langwierigen, graduellen Prozess, der be-
bung getreulich mitzumachen. Diese Not-
stimmten, in Grenzen variablen Gesetzlich-
wendigkeit entfällt bei dem zweiten wesentli-
keiten folgt. Dies ist offenkundig; aber es
chen Grund, eine Sprache zu lernen ⫺ den
wird in der Forschung nicht immer ernst ge-
kommunikativen Bedürfnissen. Man kann
nommen. In einer der einflussreichsten Rich-
keine soziale Integration anstreben, ohne
auch bestimmte kommunikative Bedürfnisse tungen der Spracherwerbsforschung, der na-
verwirklichen zu wollen; deshalb schließt der tivistischen Theorie der generativen Gram-
erste Grund den zweiten in einer bestimmten matik, wird sogar ausdrücklich vom Ent-
Ausprägung ein; aber umgekehrt will nicht je- wicklungscharakter abstrahiert ⫺ nicht weil
der, der spanische Handelskorrespondenz man ihn bestreiten würde, sondern weil, so
lernt, auch ein Spanier werden. Die kommu- die Annahme, er für das Verständnis des Er-
nikativen Bedürfnisse können sehr unter- werbs nicht wesentlich ist. Aber auch andere
schiedlich sein, und dies wirkt sich in aller Betrachtungsweisen versuchen in der Praxis
Regel auf Verlauf und Endzustand des Er- selten, die innere Logik der Entwicklung auf-
werbsprozesses aus. Ein ausländischer Arbei- zuklären; wir kommen darauf in Ab-
ter, der für einige Zeit nach Deutschland schnitt 4. zurück.
kommt, will in bestimmten Grenzen andere Wie jeder Prozess ist auch dieser durch
verstehen und sich selbst verständlich ma- drei Faktoren gekennzeichnet: Anfangszu-
chen können; aber er muss nicht den Ein- stand, Endzustand und Verlauf. Bei letzteren
druck erwecken wollen, er wäre ein Hiesiger. ist es sinnvoll, zwischen Tempo und Struktur
Wenn ihm dies auch noch gelingt, so mag das zu unterscheiden. Mit Struktur des Verlaufs
mancherlei Vorteile haben; aber es ist nicht ist gemeint, in welcher Abfolge welche struk-
einfach zu erreichen, und es ist vielleicht gar turellen Eigenschaften aus dem Input heraus-
bedrohlich für die eigene soziale Identität. gearbeitet werden, mit Tempo des Verlaufs die
Soziale Integration und kommunikative unter Umständen wechselnde Geschwindig-
Bedürfnisse sind sicher die wichtigsten natür- keit, mit der dies geschieht. Der Anfangszu-
lichen Antriebsfaktoren im Spracherwerb. Sie stand ist einfach das Wissen, über das der
spielen hingegen im schulischen Fremdspra- Lerner zu Beginn des Lernprozesses verfügt
chenerwerb zumeist eine untergeordnete (siehe oben Abschnitt 2.1.2.), und das ist, was
Rolle. Latein lernt man, weil es zu einer be- die spezifischen Eigenschaften der Ziel-
stimmten Vorstellung von Bildung gehört, sprache angeht, zunächst einmal null. Den-
und selbst der Englischunterricht auf dem noch mag der Lerner auch zu Beginn schon
Gymnasium ist nicht vornehmlich durch die einiges über die Zielsprache wissen ⫺ näm-
kommunikativen Bedürfnisse der Schüler lich all jenes, was allen Sprachen gemeinsam
motiviert. Auf diesen Antriebsfaktor, sich ist („Universalien“) sowie all das, was Ziel-
eine Sprache anzueignen, ist das menschliche sprache und bereits beherrschte Sprachen ge-
Sprachvermögen von Natur aus nicht ange- meinsam haben. Über das Tempo des Ver-
legt, und deshalb bedarf es in diesem Falle laufs ist außer anekdotischen Beobachtungen
gewöhnlich zusätzlicher Motivationen; dazu wenig bekannt. Wir gehen deshalb im Fol-
zählt beispielsweise der Druck der Noten, genden nur auf Struktur des Verlaufs und
aber auch eine bestimmte emotionale Einstel- Endzustand ein.
lung zum Gegenstand, die der Lehrer mit
Glück und Geschick erzeugen kann. Die po- 3.1. Struktur des Verlaufs
sitive, manchmal auch negative Wirkung sol- Bei allen Formen des ungesteuerten Erwerbs,
cher affektiver Faktoren im Spracherwerb ist also beim Erstspracherwerb wie beim Zweit-
61. Typen und Konzepte des Spracherwerbs 611

spracherwerb im sozialen Kontext, ergibt sich wicht ihm zukommt ⫺ ob, etwas zugespitzt
die Struktur des Verlaufs daraus, wie es dem formuliert, die Lerner wegen oder trotz des
Sprachverarbeiter gelingt, den Input in ele- Unterrichts Fortschritte machen. Allgemeine
mentare Einheiten aufzubrechen, diese in ih- Aussagen sind schon deshalb problematisch,
rer Funktion zu deuten und die Regeln zu weil Art und relatives Gewicht dessen, was
entschlüsseln, nach denen sie sich zu komple- dem Lerner in Form von Beschreibungswis-
xeren Einheiten verbinden lassen. Alles, was sen vermittelt wird, je nach Art des Unter-
dem Lerner dazu zur Verfügung steht, ist richts erheblich schwanken. Sie verbieten sich
seine biologisch gegebene Lernfähigkeit, sein aber auch deshalb, weil wir die Gesetzlichkei-
Ausgangswissen sowie die beiden Kompo- ten des ungesteuerten Spracherwerbs, in die
nenten des Inputs ⫺ der Schallstrom und die der Unterricht optimierend zu intervenieren
parallele situative Information. Gehen alle sucht, allenfalls in Ansätzen kennen.
Lerner diese Aufgabe in gleicher Weise an?
Das ist, wie schon die Alltagserfahrung zeigt, 3.2. Endzustand
offenkundig nicht der Fall; es gibt eine ge- Der Spracherwerb ist abgeschlossen, wenn
wisse Variabilität im ungesteuerten Spracher- der Lerner die Gesetzlichkeiten der Ziel-
werb. Die Frage ist bloß, wie weit sie geht sprache beherrscht. Dies ist beim Erstsprach-
und wovon sie abhängt. Beliebig kann sie je- erwerb wie beim ungesteuerten Zweitsprach-
denfalls nicht sein. Dies ergibt sich allein erwerb die Sprache der sozialen Umgebung,
schon daraus, dass der Erwerb mancher Ei- die den Input liefert; bei gesteuertem Sprach-
genschaften das Vorhandensein anderer vor- erwerb ist es eine normative Beschreibung,
aussetzt. In den meisten Sprachen hängt die die die Lehrenden für besonders wünschens-
Grundwortstellung im Satz vor allem von der wert halten („King’s English“, das Französi-
Position der Finitheitsmarkierung, und damit sche, so wie es in Grevisse und Petit Robert
des finiten Verbs, ab. Im Deutschen steht die beschrieben ist, usw.). Beim Erstsprach-
finite Komponente des Verbs im Hauptsatz erwerb wird das Ziel gewöhnlich erreicht;
normalerweise an zweiter Stelle, die infinite jede Abweichung davon gilt als pathologisch.
Komponente an letzter (Heute HAT er eine Beim Zweitspracherwerb im Erwachsenenal-
Rede gehalten). Wenn finite und infinite Kom- ter wird es hingegen in aller Regel verfehlt:
ponente zu einer morphologischen Form ver- der Erwerbsprozess kommt schon früher zum
schmolzen sind, dann ist die Stellung der fini- Stillstand, er fossiliert auf irgendeiner Stufe,
ten Komponente maßgeblich (Heute hält er die der Zielsprache mehr oder minder nahe-
eine Rede). Um diese (hier vereinfacht darge- kommt. Wie erklärt sich dieser Unterschied?
stellte) Grundregel der deutschen Syntax aus Art und Menge des Inputs können nicht,
dem Input abzuleiten, muss der Lerner wis- oder jedenfalls nicht allein, verantwortlich
sen, wie die Finitheit im Deutschen markiert sein, denn Kinder und ungesteuert lernende
wird. Dies geschieht durch eine bestimmte Erwachsene haben im Wesentlichen denselben
Art der Verbflexion (hat, hält), also durch Input. Umgekehrt ist der Input bei gesteuer-
eine morphologische Markierung. Diese wie- tem und bei ungesteuertem Zweitspracher-
derum kann er erst erkennen, wenn er zumin- werb sehr verschieden, in beiden Fällen aber
dest bestimmte Grundzüge der deutschen ist Fossilierung der Normalfall. Die Fossilie-
Phonologie gelernt hat, beispielsweise dass rung korreliert jedoch offensichtlich mit dem
/a:/ und /æ:/ phonologisch distinkt sind. Sol- Alter. Das deutet darauf, dass altersbedingte
che und ähnliche Abhängigkeiten schränken Veränderungen im Sprachverarbeiter verant-
die Struktur des Verlaufs ein. Aber sie lassen wortlich sind. Dies können Veränderungen in
immer noch ein erhebliches Spektrum mögli- den biologischen Gegebenheiten (den betei-
cher Entwicklungen zu, über die es nach wie ligten Teilen der Hirnrinde oder in den peri-
vor mehr Spekulationen als empirisch gut ge- pheren Organen) sein, oder aber Unter-
sicherte Erkenntnisse gibt. schiede im jeweils verfügbaren Wissen, und
Im durch Unterricht gesteuerten Spracher- hier ist der wesentliche Faktor das Vorhan-
werb hängt der Verlauf des Prozesses nun densein einer oder mehrerer anderer Spra-
außerdem davon ab, in welcher Weise die chen. Beide Möglichkeiten sind sehr plausi-
strukturellen Eigenschaften der Zielsprache bel, und wir haben sie oben unter den Stich-
präsentiert werden ⫺ vom „Curriculum“. wörtern „kritische Periode“ und „(negativer)
Dieser Faktor setzt die im ungesteuerten Er- Transfer“ bereits angesprochen. Beide aber
werb wirksamen Lernprozesse sicher nicht können nicht erklären, weshalb Kinder vor
außer Kraft; aber es ist unklar, welches Ge- der Pubertät, etwa im Alter von acht Jahren,
612 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

gewöhnlich keine Fossilierung zeigen: sie ha- Die Suche nach den Gesetzlichkeiten des
ben kein Problem, eine zweite oder dritte Zweitspracherwerbs ist demgegenüber relativ
Sprache ,perfekt‘ zu lernen (McLaughlin jung; sie setzt vor etwa dreißig Jahren ein und
1978). Die Kinder ausländischer Arbeiter hat drei wesentliche Inspirationsquellen; dies
sind ein bekanntes Beispiel. Möglicherweise ist zum Einen der Fremdsprachunterricht
liegt der Hauptgrund für die Fossilierung da- und die Beobachtungen, die dabei über die
her in der unterschiedlichen Form des An- Lernschwierigkeiten der Schüler gemacht
triebs, insbesondere zwischen dem unbewuss- worden sind, zum Zweiten die Forschung
ten Wunsch nach sozialer Integration, der zum Erstspracherwerb, und zum Dritten je-
perfekte Nachahmung verlangt, und anderen ner Teil der Linguistik, der sich empirisch
Motivationen, etwa dem Wunsch, sich zu be- und theoretisch mit Problemen der sprachli-
grenzten Zwecken verständlich zu machen chen Variabilität befasst ⫺ Dialektologie,
oder aber das Abitur zu bestehen. Dies Pidginforschung, Soziolinguistik. Anfänglich
schließt nicht aus, dass auch andere Faktoren über diese Quellen vermittelt, dann auch di-
wirksam sind; schließlich lässt das Lernver- rekt gehen in die Zweitspracherwerbsfor-
mögen mit zunehmendem Alter nicht nur in schung seither wiederum die jeweils modi-
Sachen Spracherwerb nach; aber das Gewicht schen Vorstellungen aus der Psychologie, der
verlagert sich etwas von biologischen auf so- theoretischen Linguistik und der Psycholin-
zialpsychologische Faktoren (Klein 1995). guistik ein.
Es gibt derzeit keine Theorie, die auch nur
annähernd in der Lage wäre, den verschiede-
4. Die wesentlichen Theorien
nen Formen des Spracherwerbs gerecht zu
Wenn sich das Interesse der Forschung einem werden. Dies liegt an der Fülle der Faktoren,
neuen Gebiet zuwendet, so lässt es sich ge- die darin eine Rolle spielen, und an der
wöhnlich von Methoden, Leitfragen und Schwierigkeit, einen so langwierigen und va-
theoretischen Überlegungen leiten, von de- riablen Prozess empirisch zu untersuchen; das
nen die Forscher meinen, dass sie sich in an- in den Abschnitten 2. und 3. Gesagte sollte
deren, verwandten Gebieten bewährt haben. dies deutlich gemacht haben. Dennoch haben
Die ernsthafte Erstspracherwerbsforschung sich kühne Forscher und Forscherinnen nicht
ist gut hundert Jahre alt, und sie ist aus der abhalten lassen, allgemeine Theorien des
Psychologie entstanden: Forscher wie Carl Spracherwerbs aufzustellen. Ihre Reichweite
Preyer, Wilhelm Wundt, Clara und William ist gewöhnlich sehr begrenzt, sowohl was die
Stern haben sich dafür interessiert, welche Zahl ihrer Anhänger angeht wie nach dem
Rolle die Sprache in der gesamten kognitiven Gegenstandsbereich, den sie tatsächlich ab-
und sozialen Entwicklung des Kindes spielt, decken. Im Folgenden konzentrieren wir uns,
und so ist denn in dieser Tradition die den Zielen dieses Handbuchs entsprechend,
Spracherwerbsforschung treu und brav und auf den Erwerb einer zweiten Sprache und
mit einiger Verzögerung den Mäandern der diskutieren kurz zwei solcher Theorien, die in
psychologischen Theoriebildung gefolgt. Ein der Vergangenheit eine wesentliche Rolle ge-
zweiter, diesmal von der strukturellen Lingui- spielt haben, und zwei weitere, die das Bild
stik inspirierter Traditionsstrang setzt vor der Forschung heute bestimmen (eine umfas-
sechzig Jahren mit Roman Jakobson ein; prä- sende Darstellung findet sich in Ellis 1994 so-
gend für diese linguistische Linie war vor wie, freilich stark aus amerikanischer Per-
allem Chomskys Vorstellung, wesentliche spektive, in Ritchie und Bathia 1996).
Elemente der Grammatik seien angeboren
(und folglich universal), weil nur so der 4.1. Identitätshypothese
leichte, schnelle und von den Unzulänglich- Am einfachsten wäre es, wenn alle Arten des
keiten des Inputs unabhängige Spracherwerb Spracherwerbs denselben Gesetzlichkeiten
des Kindes zu erklären sei. Diese „nativisti- folgen würden. Diese Auffassung ist in der
sche Theorie“ hat verschiedene Wandlungen Tat vertreten worden, allerdings stets bezo-
erfahren; für ihre heutige Form ist vor allem gen auf einige Einzelfälle, etwa die Reihen-
der Gedanke des „parameter setting“ bestim- folge, in der bestimmte Flexionsmorpheme
mend; wir kommen gleich darauf zurück (ei- im Englischen gelernt werden, oder den Er-
nen Überblick über die verschiedenen Theo- werb der Negation (siehe dazu zusammenfas-
rien des Erstspracherwerbs geben Slobin send Wode 1981). Insgesamt sind jedoch die
1985, Bd. 2, sowie Fletcher und MacWhin- Unterschiede zwischen den einzelnen Er-
ney 1995). werbsformen zu offensichtlich, als dass man
61. Typen und Konzepte des Spracherwerbs 613

eine solche Beobachtung verallgemeinern fenkundig von vielen anderen Faktoren ab,
könnte. Manche Formen zeichnen sich typi- etwa der Häufigkeit im Input, der kommuni-
scherweise durch Fossilierung aus, andere kativen Relevanz ⫺ ein türkischer Arbeiter
nicht, und zumal im gesteuerten Zweit- lernt nicht jene Wörter oder Konstruktionen
spracherwerb hängt die Struktur des Verlaufs zuerst, die dem Türkischen möglichst ähnlich
entscheidend von der Präsentation des Mate- sind, sondern jene, die er besonders dringend
rials ab; wenn das simple past nach dem past benötigt ⫺ oder auch den in Abschnitt 3.1.
progressive gelehrt wird, kann jenes nicht zu- beschriebenen Abhängigkeiten zwischen struk-
erst auftauchen. All dies schließt freilich nicht turellen Eigenschaften. All dies besagt nicht,
aus, dass es allgemeine Prinzipien des dass kontrastive Aspekte keinerlei Rolle im
Spracherwerbs gibt; diese müssen aber auf ei- Zweitspracherwerb spielen; aber sie sind nur
ner relativ abstrakten Ebene liegen, wie dies ein Faktor unter vielen, und wahrscheinlich
beispielsweise in der Theorie des „parameter kein besonders wichtiger.
setting“ angenommen wird. (vgl. Abschnitt
4.3.); nur ausnahmsweise äußern sie sich tat- 4.3. Universalgrammatik und „parameter
sächlich in identischem Verlauf, identischem setting“
Tempo und identischem Endzustand. In der Geschichte der Sprachwissenschaft,
sowohl der traditionellen wie der strukturel-
4.2. Kontrastivitätshypothese len, ist der Spracherwerb eine Randerschei-
Beim gesteuerten wie beim ungesteuerten nung. Ein hoher theoretischer Status kommt
Zweitspracherwerb muss man sich lediglich ihm jedoch in der Generativen Grammatik
jene strukturellen Eigenschaften aneignen, in Chomskys und seiner Schüler zu. Jedes Kind,
denen sich die zweite Sprache von der ersten so eine Annahme der generativen Gramma-
unterscheidet. Daraus kann man ableiten, tik, lernt normalerweise seine Muttersprache
dass ein Ausdrucksmittel, sei es ein Wort oder auch bei fehlerbehaftetem und unzulängli-
eine Konstruktion, um so schwieriger zu ler- chem Input schnell und mühelos bis zur „Per-
nen ist, je stärker die beiden beteiligten Spra- fektion“. Dies ist nicht durch einen indukti-
chen sich darin unterscheiden; möglicher- ven Lernprozess zu erklären; vielmehr muss
weise bestimmt der Grad der Kontrastivität ein wesentlicher Teil der Sprachbeherrschung
sogar Tempo und Struktur des Erwerbspro- angeboren sein und lediglich in den ersten
zesses. Dieser Gedanke hat zumindest eine er- Lebensjahren aktiviert werden. Da aber kei-
hebliche Anfangsplausibilität, und so ist er nem eine bestimmte Sprache angeboren ist,
denn seit den Fünfzigerjahren immer wieder ist der Kern der menschlichen Sprachfähig-
in verschiedenen Varianten vorgetragen wor- keit universal. Der eigentliche Gegenstand
den. Nicht zuletzt hat er den Anstoß zu einer der linguistischen Theorie ist daher die Uni-
Reihe von „kontrastiven Grammatiken“ ge- versalgrammatik.
geben. Ihr Nutzen für die Spracherwerbsfor- Diesen Gedanken hat Chomsky erstmals
schung ist allerdings sehr begrenzt. Das hat Mitte der Fünzigerjahre vorgetragen, und er
eine ganze Reihe von Gründen. Zum Ersten hat sich durch alle Wandlungen der generati-
kommt es für den Spracherwerb nicht darauf ven Grammatik erhalten. Er hatte allerdings
an, wo und wie sich zwei sprachliche Systeme lange den Status eines theoretischen Argu-
unter irgendeiner linguistischen Analyse un- ments, ohne irgendwelche Konsequenzen für
terscheiden, sondern darauf, was sich davon die tatsächliche Erforschung des Spracher-
im Wissen des Lerners zu einem gegebenen werbs. Erst zu Beginn der Achzigerjahre
Zeitpunkt widerspiegelt: der Lerner muss wurde er soweit konkretisiert, dass man ihn
nicht zwei Systeme zueinander in Bezug set- in konkrete empirische Forschungsprojekte
zen, sondern seine Repräsentation der Aus- ⫺ zunächst nur beim Kind, dann auch im
gangssprache zu seiner Deutung des Inputs. Zweitspracherwerb ⫺ ummünzen konnte.
Zum Zweiten ist ein massiver Unterschied ge- Entscheidend dafür war der Begriff des „Pa-
wöhnlich viel leichter zu erkennen als ein rameters“. Die Idee ist, sehr kurz gesagt, fol-
subtiler, und demnach sollte er auch leichter gende (vgl. Chomsky 1981). Die gesamte
zu lernen sein. Zum Dritten zählen zur Kompetenz eines erwachsenen Sprechers, der
Sprachbeherrschung sowohl Verstehen wie seine Sprache perfekt beherrscht, besteht aus
Produktion, und eine strukturelle Eigen- einem „Kern“ (core) und der „Peripherie“.
schaft mag leicht zu verstehen, aber schwer Letzteres sind alle idiosynkratischen Erschei-
zu produzieren sein, und umgekehrt. Zum nungen einer Sprache, also beispielsweise die
Vierten hängt die Struktur des Erwerbs of- besondere deutsche Form der Nominalfle-
614 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

xion oder die besondere Laut-Bedeutung- und ebenso muss die jeweils gültige Parame-
Zuordnung eines einzelnen deutschen Wor- trisierung aus dem Input abgeleitet werden.
tes; dass das Buch im Deutschen /bu:x/ heißt Das wirft zwei Fragen auf: Erstens, welche
und nicht beispielsweise /kni:ga/, dass der Eigenschaften zählen zur Peripherie, welche
Genitiv davon /bu:xes/ ist und nicht /ba:x/ ⫺ zum Kern, und zweitens, was innerhalb des
dies sind Idiosynkrasien des Deutschen. Der Kerns ist in welcher Weise parametrisiert?
Kern ist im Prinzip angeboren und universal; Die Antwort auf beide Fragen nimmt der
jedoch lässt die Universalgrammatik zu Be- Theorie viel von ihrem theoretischen Glanz.
ginn bestimmte Alternativen offen, die dann Aus dem Input gelernt werden muss auf jeden
einzelsprachlich unterschiedlich ausfallen. Fall der gesamte Wortschatz, ebenso die spe-
Ebendies sind die Parameter. Ein besonders zifische Form der verschiedenen morphologi-
einfaches Beispiel ist der „head parameter“: schen Teilsysteme, etwa die Nominalflexion,
jede Konstruktion hat einen „Kopf“ und ein ebenso das spezifische Phoneminventar, und
„Komplement“; in frisches Brot ist Brot der nicht zuletzt alle Idiosynkrasien der einzel-
Kopf und frisch das Komplement; in Brot es- sprachlichen Syntax ⫺ mit anderen Worten,
sen ist essen der Kopf und Brot das Komple- fast alles. Nicht gelernt werden muss, was
ment. Die Universalgrammatik lässt zu- universal ist, abgesehen von jenen Eigen-
nächst offen, ob das Komplement dem Kopf schaften, in denen die Universalgrammatik
folgt oder ihm vorausgeht: diese Eigenschaft parametrisiert ist. Was aber sind nun die ein-
ist parametrisiert, sie muss einzelsprachlich zelnen Parameter? Darüber gibt es in der ge-
unterschiedlich belegt werden. Die Attraktivi- nerativen Grammatik keinerlei Einigkeit; die
tät dieses Gedankens liegt nun darin, dass ein beiden oben Genannten haben in der Er-
einzelner Parameter oft eine ganze Reihe von werbsforschung eine große Rolle gespielt;
strukturellen Eigenschaften zusammenfasst. aber sie haben sich zum Einen empirisch
Ein gutes Beispiel ⫺ das demnach auch im nicht bestätigen lassen, und sie sind inzwi-
Spracherwerb am meisten untersucht wurde schen auch in der linguistischen Theorie
⫺ ist der „Pro-drop parameter“: manche selbst weithin aufgegeben. Dies macht es, bei
Sprachen, wie Deutsch, Englisch, Franzö- aller Attraktivität des Gedankens, sehr
sisch, haben ein obligatorisches Subjektpro- schwer, seinen empirischen Gehalt zu über-
nomen, während andere, wie Lateinisch, Ita- prüfen.
lienisch, Spanisch, es „auslassen“ können. Die Idee des Parametersetzens wurde zu-
Diese Eigenschaft des „pro-drop“ korreliert nächst nur für den Erstspracherwerb verfolgt
nun mit einer Reihe weiterer, insbesondere ei- (eine Übersicht geben Weissenborn, Good-
ner relativ reichen Verbalmorphologie, einer luck und Roeper 1992), und erst mit einiger
vergleichsweise freien Wortstellung sowie mit Verzögerung auf den Zweitspracherwerb
der Möglichkeit, Elemente aus bestimmten übertragen (White 1989; Epstein u. a. 1997).
Nebensätzen herauszubewegen (dem soge- Die Diskussion wurde dabei von zwei Fragen
nannten „that-trace effect“). Der Pro-drop bestimmt: (1) In welcher Weise können und
parameter besagt nun, das all diese Eigen- müssen Parameter „neugesetzt“ werden?
schaften davon abhängen, wie ein bestimm- Beim Erstspracherwerb sind die Parameter ja
tes abstraktes Element der Satzstruktur zunächst offen, und das Kind muss aus dem
(„AGR“) parametrisiert ist. Man beachte, Input ableiten, welche Parametrisierung für
dass die Auslassbarkeit des Subjektprono- seine Muttersprache gilt. Wird eine weitere
mens nicht der Parameter ist ⫺ sie ist eine Sprache gelernt, so gibt es zwei Möglichkei-
von verschiedenen strukturellen Konsequen- ten: entweder die bisherige Parametrisierung
zen einer bestimmten Parametrisierung. wirkt weiter, und der Lerner wird in seinem
Wenn der Parameter also erst einmal gesetzt Erwerb, sei es positiv, sei es negativ, davon
ist ⫺ und das kann der Lerner im Prinzip an beeinflusst, oder aber die Universalgramma-
Hand jeder seiner strukturellen Konsequen- tik wirkt so wie beim Kind, d. h. der Lerner
zen im Input lernen ⫺, dann folgen daraus geht den Input ganz neutral an. (2) Ist die
automatisch auch alle anderen strukturellen Universalgrammatik nur beim Kinde wirk-
Eigenschaften, darunter auch solche, die dem sam, oder ist sie auch noch für den erwachse-
Input vielleicht nur sehr schwer zu entneh- nen Zweitsprachlerner „zugänglich“? Diese
men sind. Frage ist mit der ersten verwandt; es ist aber
Der Spracherwerb hat demnach zwei nicht die gleiche, denn es könnte auch sein
Komponenten: alle Eigenschaften der Peri- (etwa im Sinne der Lennebergschen „kriti-
pherie müssen aus dem Input gelernt werden, schen Periode“), dass die Beschränkungen
61. Typen und Konzepte des Spracherwerbs 615

der Universalgrammatik im fortgeschrittenen unter Schlagwörtern wie „interlanguage“,


Alter überhaupt nicht mehr wirksam sind; „approximate systems“, „interim systems“
dann müsste es auch möglich sein, „unmögli- und ähnlichen aufgekommen. Diese zunächst
che Sprachen“ zu lernen, d. h. solche, die dem noch sehr vagen Vorstellungen sind in der
angeborenen menschlichen Sprachvermögen Folge in einer Reihe von empirischen Projek-
nicht entsprechen. Die letzte Frage ist bislang ten konkretisiert worden. Heute spricht man
nicht empirisch überprüft worden. Zur Ers- meist von „Lernervarietäten“, und die mei-
ten gibt es hingegen eine ganze Reihe von sten Untersuchungen zum Zweitspracher-
Untersuchungen; sie gelten durchweg sehr werb außerhalb des Unterrichts folgen dieser
fortgeschrittenen Lernern, die ihre Kennt- Betrachtungsweise (Meisel u. a. 1981; Perdue
nisse im Unterricht erworben haben, so dass 1983; Klein und Perdue 1992; Dietrich;
man hier sicher nicht das freie Wirken der na- Klein; Noyau 1995). Man kann die Grundge-
türlichen menschlichen Sprachverarbeitung danken in drei Punkten zusammenfassen:
misst. Die Ergebnisse sind kontrovers. Was
gezeigt werden konnte, ist das Weiterwirken A. Im Verlauf des Erwerbsprozesses durch-
bestimmter struktureller Eigenschaften der läuft der Lerner eine Reihe von Lernervarie-
Ausgangssprache, also etwa Auslassbarkeit täten. Sowohl die interne Organisation einer
und Nichtauslassbarkeit des Subjektprono- jeden solchen Varietät zu einem gegebenen
mens; dies ist aber auch durch einfachen Zeitpunkt wie auch der Übergang von einer
Transfer zu erklären (wie man ihn in diesem Varietät zur Folgenden sind durch eine inhä-
Modell bei der „Peripherie“ erwartet) und be- rente Systematik gekennzeichnet: eine Ler-
legt nicht unbedingt ein „Neusetzen“ eines nervarietät ist also ein eigenständiges, mit
ganzen Parameters, in dem ja viele solcher den angrenzenden Varietäten verwandtes
struktureller Erscheinungen gebündelt sind. sprachliches System.
B. Es gibt eine beschränkte Anzahl von Or-
4.4. Lernervarietäten ganisationsprinzipien, die sich in allen Ler-
Allen bisher diskutierten Theorien ist eigen, nervarietäten finden. Die Struktur einer be-
dass sie den Erwerbsprozess vorrangig unter stimmten Äußerung in einer Lernervarietät
dem Gesichtspunkt des verpassten Ziels be- ergibt sich aus dem Zusammenwirken dieser
trachten: es gibt einen Standard, den der Ler- Organisationsprinzipien. Ihr Zusammenspiel
ner erreicht haben sollte ⫺ nämlich die variiert in Abhängigkeit von verschiedenen
Zielsprache ⫺, und man bemisst den Erwerb Faktoren, beispielsweise der Ausgangssprache
daran, wo und warum er dieses Ziel (noch) des Lerners, der fortlaufenden Inputanalyse
verfehlt. Unter normativen Aspekten ist dies und anderen. Wenn der Lerner beispielsweise
eine höchst verständliche Betrachtungsweise, dem Input ein neues Element der Nominal-
und ein Lehrer ist gut beraten, sie einzuneh- morphologie „entrissen“ hat, so mag dies das
men. Sie hat auch den nicht zu unterschät- Gewicht der verschiedenen anderen Möglich-
zenden Vorzug der methodischen Einfach- keiten, ein nominales Argument zu markie-
heit: man ermittelt einfach die „Fehler“ des ren, ändern. Ein neues Morphem, eine neue
Lerners, d. h. seine Abweichungen vom Ziel, Konstruktion zu lernen, heißt bei dieser Be-
und versucht, ihr Zustandekommen zu erklä- trachtungsweise nicht, dass es dem Lerner ge-
ren. Dies erklärt den erstaunlichen Erfolg der lungen ist, einen weiteren Stein in das Puzzle
„Fehleranalyse“ (Corder 1981) bei der Erfor- „Zielsprache“ einzufügen, das er zusammen-
schung des gesteuerten Zweitspracherwerbs. legen muss. Vielmehr führt es zu einer oft mi-
Es ist aber wenig wahrscheinlich, dass man nimalen, bisweilen aber auch substantiellen
auf diese Weise versteht, was im Erwerbspro- Umorganisation der gesamten Varietät; dabei
zess eigentlich abläuft: dies wird davon be- gleicht sich die Balance der einzelnen Fakto-
stimmt, wie der Lerner gewisse Fertigkeiten ren allmählich jener an, die für die Zielvarie-
aus bestimmten Gründen auf einen bestimm- tät charakteristisch ist.
ten Input anwendet. Wenn man die imma- C. Lernervarietäten sind nicht unvollkom-
nente Gesetzlichkeit dieses Prozesses verste- mene Nachahmungen einer „eigentlichen
hen will, muss man den Lerner selbst in den Sprache“ ⫺ nämlich der Zielsprache ⫺, son-
Mittelpunkt rücken. Der Gedanke, dass die dern eigenständige, in sich fehlerfreie Sy-
Äußerungen eines Lerners zu irgendeinem steme, die sich durch ein besonderes lexikali-
Zeitpunkt nicht nur schlechte Nachahmun- sches Repertoire und besondere morphosyn-
gen sind, sondern ihre eigene Systematik auf- taktische Regularitäten auszeichnen. Voll ent-
weisen, ist erstmals Anfang der Siebzigerjahre wickelte Sprachen wie Deutsch, Englisch, La-
616 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

tein sind einfach Grenzfälle von Lernervarie- 6. Literatur in Auswahl


täten. Sie repräsentieren einen relativ stabilen
Zustand des Spracherwerbs ⫺ jenen Zustand, Carroll, Mary; Rainer Dietrich; Günther Storch
zu dem der Lerner mit seinem Erwerbspro- (1982): Learner Language and Control. Frankfurt.
zess aufhört, weil es zwischen seiner Varietät Chomsky, Noam (1981): Lectures on Government
und der Sprache seiner jeweiligen sozialen and Binding. Amsterdam.
Umgebung keinen wahrnehmbaren Unter- Corder, Pit (1981): Error Analysis and Interlan-
schied mehr gibt. guage. Oxford.
In dieser Betrachtungsweise sind alle Lerner- Dietrich, Rainer; Wolfgang Klein; Colette Noyau
varietäten, und darunter als Grenzfall auch (1995): Temporality in a Second Language. Amster-
dam.
die „eigentlichen“ Sprachen, Manifestationen
der menschlichen Sprachfähigkeit. Wenn man Epstein, Samual David; Susan Flynn; Gita Marto-
das Wesen dieser Fähigkeit verstehen will ⫺ hardjono (1997): Second Language Acquisition:
und ebendies ist das Ziel der Linguistik ⫺, Theoretical and Experimental Issues in Contempo-
rary Research. In: Behavioural and Brain Sciences
dann empfiehlt es sich, nicht unbedingt mit
19, 677⫺758.
den kompliziertesten Fällen, eben den voll
ausgebildeten Sprachen, zu beginnen und von Ellis, Rod (1994): The Study of Second Language
diesen auf die elementareren Manifestationen Acquisition. Oxford.
der menschlichen Sprachfähigkeit zurückzu- Eubank, Lynn (Hg.) (1991): Universal Grammar in
blicken. Die Spracherwerbsforschung ist keine the Second Language. Amsterdam.
Anwendung linguistischer oder psychologi- Fletcher, Paul; Brian MacWhinney (Hg.) (1995):
scher Einsichten und Begrifflichkeiten auf ei- The Handbook of Child Language. Oxford.
nen Randbereich ⫺ sie ist ein genuiner Beitrag Kellerman, Eric; Mike Sharwood-Smith (Hg.)
zur Erforschung der menschlichen Sprachfä- (1986): Crosslinguistic Influence in Second Lan-
higkeit. guage Acquisition. London.
Klein, Wolfgang (1995): Language Acquisition at
Different Ages. In: David Magnusson (Hg.): The
5. Abschließende Bemerkung Lifespan Development of Individuals. Cambridge.
244⫺264.
Die beiden heute vorherrschenden Paradig-
men nehmen viele Züge der älteren Theorie- ⫺; Clive Perdue (1992): Utterance Structure. Am-
debatte auf, beispielsweise die Idee der Pidgi- sterdam.
nisierung (Schumann 1978) in der Vorstel- ⫺; ⫺ (1997): The Basic Variety. In: Second Lan-
lung, dass Pidgins bestimmte elementare Ler- guage Research 13, 301⫺347.
nervarietäten sind, oder die Rolle der Kon- Krashen, Steve (1981): Second Language Acquisi-
trastivität in der Vorstellung, dass Parameter tion and Second Language Learning. Oxford.
neugesetzt werden müssen. Sie sind in vielen Lenneberg, Eric (1967): Biological Foundations of
Punkten gegensätzlich, aber nicht in jeder Language. New York.
Hinsicht unvereinbar (Eubank 1991). So be- MacLaughlin, Barry (1978): Second Language Ac-
wegen sich die Untersuchungen von Meisel quisition in Childhood. Hilldale/N. J.
und Mitarbeitern zu Erst- und Zweitsprach-
Meisel, Jürgen (Hg.) (1994): Bilingual First Lan-
erwerb im generativen Paradigma, aber sie
guage Acquisition. Amsterdam.
versuchen die Entwicklung verschiedener Va-
rietäten über einen längeren Zeitraum nach Meisel, Jürgen; Harald Clahsen; Manfred Piene-
ihrer internen Dynamik zu rekonstruieren mann (1981): On determining developmental stages
in natural second language acquisition. In: Studies
und zeigen insofern viele Berührungspunkte
in Second Language Acquisition 3, 109⫺135.
mit dem Lernervarietäten-Ansatz. Umge-
kehrt haben Klein und Perdue (1997) gezeigt, Odlin, Terence (1989): Language Transfer. Cam-
dass sich ihre Befunde über die „Grundvarie- bridge.
tät“ und ihren weiteren Ausbau im Sinne des Perdue, Clive (Hg.) (1993): Adult Language Acqui-
Minimalismus, der jüngsten Variante der ge- sition: Crosslinguistic Perspectives. Cambridge.
nerativen Grammatik, deuten lassen. Es ist (2 Bd.).
daher nicht ausgeschlossen, dass es in der Zu- Pulvermüller, Friedemann; John Schumann (1994):
kunft zu einer Konvergenz dieser beiden Neurological Mechanisms of Language Acquisi-
Richtungen und damit zu einer geschlosse- tion. In: Language Learning 44, 681⫺734.
nen, einheitlichen Theorie des Spracherwerbs Ritchie, William C.; Tej Bhatia (Hg.) (1996): Hand-
kommen wird. book of Second Language Acquisition. New York.
62. Deutsch als Fremdsprache ⫺ Deutsch als Zweitsprache 617

Schumann, John H. (1978): The pidginization pro- Weissenborn, Jürgen; Helen Goodluck; Tom Roe-
cess: a model for second language acquisition. per (Hg.) (1992): Theoretical Issues in Language Ac-
Rowley, MA. quisition. Hillsdale/N. J.
Singleton, David (1989): Language Acquisition: the White, Lydia (1989): Universal Grammar and Sec-
Age Factor. Clevedon. ond Language Acquisition. Amsterdam.
Slobin, Dan (Hg.) (1985): The Crosslinguistic Study
Wode, Henning (1981): Learning a Second Lan-
of Language Acquisition. New Jersey. (2 Bd.).
guage 1: An Integrated View. Tübingen.
Tropf, Herbert (1983): Variation in der Phonologie
des ungesteuerten Spracherwerbs. Phil. Diss.
(masch.), Universität Heidelberg. Wolfgang Klein, Nijmegen (Niederlande)

62. Deutsch als Fremdsprache ⫺ Deutsch als Zweitsprache

1. Anmerkungen zur Geschichte und zur belegt, dass bereits im deutschen Kaiserreich
Benennung des Faches eine aktive Sprachverbreitungspolitik für das
2. Differenzierungen zwischen DaF und DaZ Deutsche stattgefunden hat, die insb. über
⫺ Konsequenzen für die Forschung
das deutsche Auslandsschulwesen gefördert
3. Die Rolle der Muttersprache bei der
Sozialisation ausländischer Kinder wurde. Die staatliche Politik wurde dabei seit
4. Literatur in Auswahl Ende des 19. Jhs. durch private Initiativen
unterstützt, wobei insb. der 1881 gegründete
Allgemeine deutsche Schulverein zu nennen
1. Anmerkungen zur Geschichte und ist, der 1901 in Verein zur Pflege des Deutsch-
zur Benennung des Faches tums im Ausland (VDA) umbenannt wurde
und der neben den staatlichen Kulturvertre-
Die wissenschaftliche Etablierung des Faches
tungen der Bundesrepublik Deutschland
Deutsch als Fremdsprache (DaF) wird heute
auch heute noch eine aktive Rolle bei der
mit der Diskussion um die Einrichtung des
Vertretung der deutschen Sprache und Kultur
Heidelberger MA-Studiengangs „Deutsch als
im Ausland spielt. (Sprach- und kulturpoliti-
Fremdsprachenphilologie“ gleichgesetzt (vgl.
sche Maßnahmen im Ausland werden auch
Henrici/Koreik 1994, 3). Vorher existierte
noch in jüngster Zeit z. T. in Zusammenarbeit
DaF an den Hochschulen vor allem als
mit dem VDA abgewickelt.) Die Sprachver-
Sprachkursangebot für Deutschlernende an
den Universitäten in den „Lehrgebieten“ breitungspolitik des deutschen Kaiserreichs
DaF, die teilweise an die Akademischen Aus- wurde in der Zeit des Nationalsozialismus
landsämter, teilweise an die Germanistik an- fortgesetzt und ist auch in der auswärtigen
gegliedert waren. Daneben bestanden in der Kulturpolitik nach 1945 eine Konstante ge-
BRD Organisationen wie das Goethe-Institut blieben. Der finanzielle Aufwand zur Verbrei-
und der Deutsche Akademische Austausch- tung des Deutschen im Ausland stieg nach
dienst, in der DDR das Herder-Institut, die dem Weltkrieg II in der Bundesrepublik
sich um die Entwicklung von Sprachlehr- Deutschland kontinuierlich an, so dass der
und -lernmaterialien kümmerten, deren Tä- Druck, der gewünschten außenpolitischen
tigkeit aber in erster Linie auf eine Sprachver- Bedeutung des Deutschen auch ein akademi-
breitungspolitik des Deutschen im Ausland sches Fach DaF an die Seite zu stellen, wuchs.
gerichtet war (vgl. Art. 1; vgl. Ammon Diese Motivierung zur Einrichtung des Faches
1991, 524ff.). Das Fach DaF hat, wenn man wird von Harald Weinrich anlässlich der Jah-
der Geschichte des Sprachunterrichts nach- restagung DaF in Bonn 1977 deutlich ausge-
geht, durchaus auch Traditionen, die bisher sprochen: „Jeder weiß, dass eine Menge von
wenig aufgearbeitet sind (vgl. Glück 1989). Personen, die nur nach Millionen zu zählen ist,
Denn Deutsch wurde auch vor dem Welt- die deutsche Sprache als Fremdsprache und
krieg II gelehrt und gelernt, wobei expansio- im Medium dieser Sprache manches andere
nistische und kolonialistische Tendenzen zur von Deutschland lernt. (…) Wenn soviel
Verbreitung der deutschen Sprache und Kul- Deutsch als Fremdsprache und generell soviel
tur eine Rolle spielten. Ammon (1991, 529ff.) Deutsches als Fremdes in der Welt gelehrt
618 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

wird, dann muss dieser spezifische Vermitt- unterricht an Ausländer im Inland“, also
lungsprozess selber zum Gegenstand der DaF und DaZ zu unterscheiden, ohne dass er
Lehre und folglich auch der Forschung ge- den Begriff DaZ verwenden würde (Krumm
macht werden.“ (Weinrich 1978, 77) 1978). Diese Positionsbestimmung des Fa-
Schon damals werden unterschiedliche ches DaF hat sich weitgehend erhalten. Sie
Zielsetzungen innerhalb des Faches DaF findet sich mit kleinen Akzentverschiebungen
deutlich. Während es Hauptanliegen des Hei- auch bei Henrici wieder, der 1986 ein Stu-
delberger MA-Studiengangs war, ausländi- dienbuch für das „Fach Deutsch als Fremd-
sche Germanisten durch ein spezielles Stu- und Zweitsprache“ publiziert, später aber
dienangebot für ihre Tätigkeit als Dozenten (Henrici 1992; Henrici; Koreik 1994) beide
des Deutschen bzw. der germanistischen Lite- Teilbereiche wieder unter der gemeinsamen
ratur- oder Sprachwissenschaft an ihren Hei- Etikette DaF zusammenfasst. Das Zentrum
matuniversitäten zu qualifizieren, legte der von DaF bildet dabei für Henrici „die
durch Weinrich begründete Münchner Studi- Fremdsprachendidaktik, verstanden als Wis-
engang den Schwerpunkt auf die Ausbildung senschaft, die das Lehren und Lernen
deutscher Dozenten, die als Vertreter der fremder Sprachen theoretisch-empirisch er-
deutschen Sprache und Kultur ins Ausland forscht, praktisch erprobt und lehrt“ (Henrici
entsandt werden können. Damit sind zwei 1992, 273). Auch Glück (1991) unterscheidet
komplementäre Richtungen des Faches zwischen DaF und DaZ, wobei er als Grund-
Deutsch als Fremdsprache charakterisiert, lage beider die Linguistik, und nicht die
die ihre Legitimation bis heute aus den Zielen Sprachlehrforschung sieht.
der deutschen Sprachverbreitungspolitik als Die Konzeption des Faches DaF, wie sie
Teil der auswärtigen Kulturpolitik erhalten. von Weinrich (1978) vertreten wurde, stieß
Da das Studium der traditionellen Germa- bei den Vertretern der „Gastarbeiter-Linie“
nistik an deutschen Universitäten nicht die In- des Faches auf Kritik. So kritisiert Reich
halte bereithält, die aus der Perspektive eines (1980) in seinem Aufsatz „Deutschlehrer von
Faches DaF notwendig erscheinen, bedurfte Gastarbeiterkindern“, dass die Lehrerausbil-
es einer eigenen Konturierung des Faches. In- dung für Kinder von Gastarbeitern in
halte, die bei der Diskussion über die Etablie- Deutschland als eine der wichtigsten Aufga-
rung des Faches von Weinrich genannt wur- ben des Faches DaF von Weinrich nicht aus-
den, waren 1. Kontrastive Linguistik, 2. reichend berücksichtigt werde. Reich (1980)
Sprachnormenforschung, 3. Sprachlehrfor- gibt einen Überblick über den damaligen
schung, 4. Fachsprachenforschung, 5. Gastar- Stand der Ausbildungsmaßnahmen für Kin-
beiterlinguistik, 6. Deutsche Literatur als der ausländischer Herkunft. Reich verwendet
fremde Literatur, 7. Deutsche Landeskunde. den Begriff DaF im übrigen auch dann, wenn
⫺ Interessant erscheint rückblickend, dass er sich ausschließlich auf den Unterricht mit
Weinrich sowohl die Sprachlehrforschung als ausländischen Kindern bezieht (vgl. Reich
auch Deutsch als Zweitsprache (DaZ) in der 1982a; b). Bereits die seinerzeit geführte Dis-
Benennung ,Gastarbeiter-Linguistik‘ als Teil- kussion macht deutlich, dass die inhaltliche
bereiche des Faches DaF ansieht. Gerade Gestaltung des Faches DaF stark davon ab-
diese beiden Punkte werden von Krumm hängt, welcher gesellschaftliche Bedarf als
(1978) ganz anders verortet, indem er das Grundlage für den Lehr- und Forschungsbe-
Deutsche als Fremdsprache der Sprachlehr- trieb ins Auge gefasst wird. Der genannte
forschung zuordnet, deren Gegenstandsbe- Überblick von Reich (1980) zeigt auch, dass
reich der fremdsprachliche Lehr- und Lern- das Engagement für die Lehrerausbildung für
prozess selbst ist. Alle Formen des Lehrens ausländische Kinder vornehmlich von Vertre-
und Lernens des Deutschen als Nicht-Mut- tern in den Hochschulen gefordert wurde, die
tersprache fallen nach dieser Bestimmung in der Pädagogik (,Ausländerpädagogik‘) zuzu-
den Bereich der Sprachlehrforschung. Die rechnen sind. Die Heterogenität des Faches
Teildisziplin DaF schließt für Krumm den DaF speist sich damit aus den verschiedenen
„Deutschunterricht mit ausländischen Arbei- Entwicklungslinien des Faches und entspre-
tern“ und mit „Kindern von Ausländern“, chenden organisatorischen Einheiten, die sich
also DaZ, explizit ein. Die spezifischen den unterschiedlichen Aufgaben annehmen,
Adressaten, die Lernvoraussetzungen, die als da sind (vgl. Art. 5):
Lernbedingungen und die Lernsituation brin-
gen Krumm dazu, „zwischen einem Deutsch- 1. die Aufgabe, ausländischen Studierenden
unterricht im Ausland und dem Deutsch- deutsche Sprachkenntnisse zu vermitteln, die
62. Deutsch als Fremdsprache ⫺ Deutsch als Zweitsprache 619

nach Ablegen einer entsprechenden Sprach- zurühren. Denn für die Aussiedler als deut-
prüfung zur Aufnahme des Studiums an einer sche Staatsangehörige sollte die verlorenge-
deutschen Hochschule berechtigen; gangene ,Muttersprache‘ Deutsch weder
2. die Aufgabe, ausländische Germanisten ,Fremdsprache‘ sein, noch als ,Zweitsprache‘
aus deutschen Hochschulen adressatenge- bezeichnet werden wie bei den Arbeitsmi-
recht auszubilden; granten (vgl. Kultusminister des Landes
3. die Aufgabe, deutsche Germanisten für NRW 1978; Ministerium für Kultus und
den Unterricht des Deutschen als Fremdspra- Sport Baden-Württemberg 1989; Lewandow-
che im Ausland vorzubereiten; ski 1992). Eine generelle terminologische Un-
4. die Aufgabe, deutsche Germanisten und terscheidung zwischen Zweit- und Ziel-
Deutschlehrer für den schulischen Unterricht sprache hat sich allerdings nicht durchge-
mit ausländischen Kindern bzw. mit Kindern setzt.
nicht-deutscher Muttersprache sowie auf den Forschungsaktivitäten im Bereich DaZ
Sprachunterricht mit erwachsenen Auslän- sind, wie die obige Diskussion um die Ab-
dern bzw. mit Erwachsenen nicht-deutscher grenzung von DaF und DaZ zeigt, teilweise
Muttersprache in Institutionen der Erwachse- auch im Fach Pädagogik angesiedelt. Nach-
nenbildung vorzubereiten. dem sich in den 70er Jahren zunächst das
Fach „Ausländerpädagogik“ herausgebildet
Eine besondere Stellung zum Fach DaF hatte (vgl. Boos-Nünning 1992; Boos-Nün-
nimmt die von Alois Wierlacher (Bayreuth) ning u. a. 1984), setzt sich in den 80er Jahren
ins Leben gerufene ,Interkulturelle Germani- zunehmend der Begriff „Interkulturelle Erzie-
stik‘ ein (vgl. Wierlacher 1987). Zwar könnte hung“ durch. Auch hier werden Fragestellun-
man die ,Interkulturelle Germanistik‘ dem gen des DaZ erörtert (vgl. Boos-Nünning
Fach DaF im Sinne einer Literaturvermitt- 1992; Nieke 1992; vgl. auch die von A. J. Tu-
lung im interkulturellen Kontext zurechnen, mat seit 1984 im Schneider-Verlag, Balt-
Wierlacher grenzt sich jedoch explizit vom mannsweiler, herausgegebene Reihe „Inter-
Fach DaF ab und möchte die ,Interkulturelle kulturelle Erziehung in Praxis und Theorie“).
Germanistik‘ als eigenes ,Fach‘ begründen.
Die von Wierlacher vorgestellten Konzeptio-
nen fügen sich in der Tat schlecht mit den 2. Differenzierungen zwischen
Vorstellungen von interkulturellem Lernen Deutsch als Fremdsprache und
zusammen, wie sie sonst im Fach DaF und
Deutsch als Zweitsprache ⫺
DaZ vertreten werden. Die ,Interkulturelle
Germanistik‘ wird deshalb im folgenden Konsequenzen in der Forschung
nicht weiter berücksichtigt. (Zur Kritik an
Auch wenn Sprachlehrforschung und Fremd-
der ,Interkulturellen Germanistik‘ vgl. Zim-
sprachendidaktik ein gemeinsames Dach für
mermann 1989; Henrici 1990).
die Richtungen DaF und DaZ bilden, gibt es
Wissenschaftler, die sich seit den 70er Jah-
doch Unterschiede, welche die Inhalte der
ren der oben unter Punkt (4) genannten Auf-
beiden Ausrichtungen wesentlich bestimmen.
gabe zuwandten, verwendeten zur Abgren-
zung von den tradtionellen Aufgaben des Fa- 1. Die Spracherwerbssituation: DaF-Lerner
ches Deutsch als Fremdsprache den Begriff im Ausland, aber auch ausländische Studien-
Deutsch als Zweitsprache. Bereits 1974 er- bewerber, die nach Deutschland kommen,
scheint eine Monographie von G. Mahler mit erlernen das Deutsche überwiegend gesteuert.
dem Titel „Zweitsprache Deutsch⫺Die Schul- Dagegen dominieren bei den Arbeitsmigran-
bildung der Kinder ausländischer Arbeitneh- ten und ihren Kindern die ungesteuerten
mer“, Meyer-Ingwersen u. a. (1977) sprechen Erwerbssituationen. ⫺ Verschiedene sozial-
in ihrer Monographie „Zur Sprachentwick- psychologische Faktoren, unter denen der
lung türkischer Schüler in der Bundesre- Sprachkontakt mit Deutschen, Bindungen an
publik Deutschland“ von der „Didaktik des das Aufnahmeland und Zukunftspläne die
Deutschen als Zweitsprache“. Seitdem ist der wichtigsten darstellen (vgl. Clahsen u. a.
Begriff in der wissenschaftlichen Diskussion 1983), beeinflussen Spracherwerb und Sprach-
des Faches fest etabliert. Ende der 70er Jahre kompetenz der Zweitsprachenlerner.
taucht der Begriff „Deutsch als Zielsprache“ 2. Die Schichtzugehörigkeit: Die DaF-Ler-
auf; er wurde kreiert, um den Spracherwerb ner gehören meist der Mittel- und Ober-
der Spätaussiedler benennen zu können, schicht der Herkunftsländer an; sie haben
ohne sprachpolitische Empfindlichkeiten an- eine abgeschlossene Schulbildung, haben auf
620 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

der Schule bereits eine Fremdsprache gelernt in gewisser Weise als Ergänzung der Arbeiten
und sind von ihrer Sozialisation her auf ein gelten, die zur Erarbeitung der Themen- und
Studium im Ausland vorbereitet. ⫺ Die DaZ- Situationslisten des Zertifikats Deutsch als
Lerner stammen in der Regel aus den unteren Fremdsprache (vgl. Das Zertifikat Deutsch
sozialen Schichten der Herkunftsländer, viele als Fremdsprache 1972; Hüllen u. a. (Hg.)
erwachsene Lerner sind im Herkunftsland 1977) führten.
nur einige Jahre zur Schule gegangen, man- 2. Im Projekt „Lehrschwierigkeiten im Fach
che sind Analphabeten. ⫺ Die beiden Grup- ,Deutsch als Fremdsprache‘ “ wurden im Rah-
pen sind deshalb nicht nur in ihrem Bildungs- men einer Fragebogenaktion bei DaF-Leh-
niveau, sondern auch in ihren Lerngewohn- rern an Goethe-Instituten im In- und Ausland
heiten sehr unterschiedlich. entsprechende Daten erhoben (Götze u. a.
3. Die sprachliche Sozialisation: Auf Grund 1979). Als wichtigste Ergebnisse hielten die
der Sozialisationsbedingungen im Aufnahme- Autoren fest, dass interlinguale Fehlerur-
land verfügen die Kinder der Arbeitsmigran- sachen im DaF-Unterricht überschätzt wür-
ten z. T. weder über altersgemäße Kenntnisse den und dass die Kenntnis der Regeln und der
in ihrer Herkunftssprache, noch in der Zweit- Gebrauchsnormen der deutschen Sprache
sprache Deutsch. Während im Unterricht unter den Lehrern des Goethe-Instituts nicht
DaF altersgemäße Muttersprachenkenntnisse ausreichend sei. Die Autoren fordern die
vorausgesetzt werden und ggf. darauf zu- Durchführung von Lehrerfortbildungen (Ko-
rückgegriffen werden kann, müssen im Un- ordinierungsgremium 1983, 159ff.).
terricht DaZ mit ausländischen Kindern be-
sondere Maßnahmen ergriffen werden, um Drei Projekte bezogen sich auf Fragestellun-
muttersprachliche und zweitsprachliche Ent- gen von DaZ:
wicklung aufeinander zu beziehen. 1. An der Universität Essen wurde der Bi-
Diese unterschiedlichen Voraussetzungen der lingualismus türkischer und griechischer Kin-
Adressaten von DaF und DaZ spiegeln sich der untersucht. Das Projekt schloss metho-
auch in den Forschungsaktivitäten in beiden disch zunächst an die Untersuchung der
Teilbereichen wider. Die Forschung wurde sprachlichen Fähigkeiten jugoslawischer
dabei besonders durch den von der Deut- Schüler (Stölting u. a. 1980) an. Der Schwer-
schen Forschungsgemeinschaft im Jahr 1973 punkt der Projekte lag auf der Alphabetisie-
gebildeten und bis 1981 geförderten Schwer- rung in der Zweitsprache Deutsch und der
punkt „Sprachlehrforschung“ stimuliert. Die Förderung des Wortschatzerwerbs. Um die
im Schwerpunkt geförderten Projekte sollen Alphabetisierung zu verbessern, wurden die
wegen ihrer charakteristischen Fragestellun- typischen Schreibfehler der Kinder doku-
gen in der Forschung der Bereiche DaF und mentiert und analysiert. Zur Vermittlung des
DaZ kurz vorgestellt werden. Wortschatzes wurde der Wortschatz der Lehr-
Im Bereich DaF wurden zwei Projekte ge- bücher und der Wortschatz, der von den Leh-
fördert, die beide im Goethe-Institut angesie- rern im Klassengespräch verwendet wurde,
delt waren: analysiert (vgl. Koordinierungsgremium 1983,
1. Im Projekt „Entwicklung von Lern- und 97⫺101; Meyer-Ingwersen u. a. 1977). Der
Lehrverfahren sowie von Lern- und Lehrma- größte Teil der Kinder waren damals sog.
terialien zur gesprochenen Sprache von DaF- Seiteneinsteiger, d. h. Kinder, die bereits im
Lehrerstudenten“ sollte die Deutschlehrer- Herkunftsland in der Muttersprache beschult
ausbildung für die Sek. I an den Pädagogi- waren. Es ergab sich deshalb aus Sicht der
schen Hochschulen der Niederlande verbes- Projekte schon bald die Forderung, Fortbil-
sert werden. Zu diesem Zweck wurde ein Ka- dungsprogramme für deutsche Lehrer von
talog adressatenspezifischer Themen, Situa- Ausländerkindern zu entwickeln, wobei Kennt-
tionen und sog. Konfliktsituationen erstellt. nisse in der Herkunftssprache der Migranten-
Durch eine reflektierte Entwicklung der kinder, insb. in der Herkunftssprache Tür-
Sprechfertigkeit sollte zugleich eine Lehr- kisch, gefordert wurden. So entstanden adres-
kompetenz bei ausländischen DaF-Studenten satenspezifische Lehrerfortbildungsmateria-
aufgebaut werden. Die für die Niederlande lien und Herkunftssprachenkurse (vgl. z. B.
entwickelten Vorschläge sollten Modellcha- Meyer-Ingwersen; Neumann 1982; Benholz
rakter für den DaF-Unterricht im Ausland u. a. 1987; Lehrerfortbildung NRW 1982ff.;
haben (Koordinierungsgremium 1983, 139). vgl. auch bibliografische Hinweise zur Lehrer-
Die im Projekt geleisteten Arbeiten können fortbildung bei Boos-Nünning (Hg.) 1990).
62. Deutsch als Fremdsprache ⫺ Deutsch als Zweitsprache 621

2. Die Frage, unter welchen Bedingungen Deutschkurse des Sprachverbandes bis


ausländische Arbeitnehmer Deutsch lernen heute nur Lehrwerke zugelassen, wenn sie
und welche Mitteilungsbedürfnisse zwischen auf der Kriterienliste, die vom Sprachver-
ausländischen und deutschen Arbeitern be- band weiterentwickelt wurde (vgl. Paleit
stehen, untersuchten Barkowski u. a. in dem 1990; Paleit 1997), positiv beurteilt wurden.
Projekt „Theorie und Praxis des Fremd- 3. Das dritte große Projekt im Bereich
sprachenerwerbs ⫺ Deutsch für ausländi- DaZ, das im DGF Schwerpunkt „Sprach-
sche Arbeiter“ (vgl. Koordinierungsgremium lehrforschung“ gefördert wurde, war das Hei-
1983, 130). Auf der Grundlage eines Korpus delberger Projekt „Pidgin-Deutsch“ (Koordi-
von ca. 150 Stunden Unterrichtsmitschnitten nierungsgremium 1983, 140ff.; Heidelberger
entwickelten sie Ansätze einer pädagogischen Forschungsprojekt 1976; Klein 1984). In die-
Grammatik für den Unterricht mit ausländi- sem Projekt wurden mit teilnehmender Beob-
schen Arbeitnehmern (vgl. Barkowski u. a. achtung und linguistischen Interviews von 48
1980a). Wichtig erscheint in diesem Zusam- erwachsenen Ausländern Sprachdaten und
menhang, dass es in dem Projekt nicht ge- Sozialdaten erhoben. Obwohl die Zielstellung
lang, Aussagen darüber zu machen, ob durch des Projekts auf praktische Anwendung im
einen veränderten Unterricht die Lücke zwi- Unterricht DaZ ausgerichtet war ⫺ es sollte
schen der Lernsituation im Klassenraum und das Erlernen des Deutschen durch ausländi-
der „Anwendung des Gelernten außerhalb sche Arbeiter untersucht und auf dieser
der Unterrichtssituation“ verringert werden Grundlage Vorschläge für die Verbesserung
konnte (Koordinierungsgremium 1983, 132). des Unterrichts gemacht werden ⫺, haben die
Um Entscheidungshilfen für den Einsatz von Ergebnisse in dieser Hinsicht nur wenig prak-
geeigneten Lehrwerken für den Unterricht tische Bedeutung erlangt. Die Bedeutung ist
mit ausländischen Arbeitern bereitzustellen, eher darin zu sehen, dass die Diskussion um
wurden in dem Projekt Beurteilungskriterien Spracherwerbssequenzen und die soziolingui-
entwickelt und auf dieser Grundlage ein Gut- stischen Faktoren, die Spracherwerb beein-
achten zu ausgewählten Lehrwerken publi- flussen, durch dieses Projekt in das Fach DaZ
ziert (Barkowski u. a. 1980b). Die von den hineingetragen wurden. Auf den Erfahrungen
Autoren im Unterschied zur Beurteilung von des Heidelberger Projekts aufbauend konn-
Lehrwerken für DaF (vgl. Engel u. a. 1977; ten im Wuppertaler ZISA-Projekt Spracher-
1979) für die spezifische Adressatengruppe werbssequenzen herausgearbeitet werden, die
herausgearbeiteten Kriterien waren: bei der Erstellung von Lehr- und Lernmate-
1. Darstellung und Verarbeitung des Kultur- rial heute beachtet werden (vgl. Clahsen u. a.
und Identitätskonflikts, 1983) (vgl. auch IX).
2. Angemessenheit der sprachlichen Hand-
lungen und des Informationsmaterials an Vergleicht man die Projekte in den beiden
die Alltagswirklichkeit des ausländischen Teilbereichen DaF und DaZ, so lässt sich fol-
Arbeiters, gendes feststellen: Die Projekte im Bereich
3. Umgangssprachlichkeit und Orientierung DaF haben ⫺ entsprechend den Interessen
an den Verbalisierungsbedürfnissen der des Goethe-Instituts ⫺ eher universellen
Lernenden, Charakter, d. h. es wird eine Übertragbarkeit
4. Berücksichtigung und Verarbeitung der auf das Lernen von DaF im globalen Maß-
spezifischen Spracherwerbsbedingungen stab angestrebt. Die DaZ-Projekte unter-
der ausländischen Arbeiter, scheiden dagegen deutlich zwischen Kindern
5. Angemessenheit der Lehrmethode an die und Erwachsenen und berücksichtigen sozial-
Lernerfahrungen erwachsener Lerner, psychologische Faktoren sowie die Her-
6. Künstlerisch-ästhetische Verarbeitung der kunftssprache und -kultur in ihren Analysen
Sprachlernsituation, in starkem Maße. Die genannten Projekte im
7. Kurs- und lernorganisatorische Rahmen- Bereich DaZ haben der Forschung wichtige
bedingungen des Lehrwerks (Barkowski Impulse gegeben, die bis in die heutige Zeit
u. a. 1980b) (vgl. auch XIV). ⫺ Das Projekt nachwirken (vgl. Kutsch/Desgranges 1985;
war eng mit der Arbeit des 1974 auf Ini- Antos 1988). Ein Überblick über die wichtig-
tiative des Bundesministeriums für Arbeit sten Arbeiten im Bereich DaZ bis 1984 lässt
und Sozialordnung und der Bundesanstalt sich mit der Bibliografie von Boos-Nünning
für Arbeit gegründeten „Sprachverbands (1990) gewinnen.
Deutsch für ausländische Arbeitnehmer Verursacht durch den Zuzug von Spätaus-
e. V.“ verknüpft. So werden z. B. für die siedlern aus Polen Ende der 70er Jahre und
622 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

aus den Ländern der ehemaligen Sowjet- nolingualen vergleichbare Handlungskompe-


union seit Ende der 80er Jahre wendet sich tenz erreichen soll?
die Forschung im Bereich DaZ Fragestellun- 2. Wie wird muttersprachliches und zweit-
gen der sprachlichen Integration dieser neuen sprachliches Lernen curricular umgesetzt?
Migrantengruppen zu. Eine Übersicht über Dabei ist offensichtlich, dass die curriculare
diesbezügliche Forschungsprojekte wurde in Organisation eigentlich in Abhängigkeit von
Heft 1, 1995 der Zeitschrift Deutsch lernen der Antwort auf die erste, entwicklungspsy-
gegeben. (Vgl. Baur u. a. 1999). chologische Frage vorgenommen werden
Die Wirkung der im DFG-Schwerpunkt müsste.
„Sprachlehrforschung“ geförderten DaF-
Projekte auf die Entwicklung des Faches ist Dies ist jedoch in der bildungspolitischen
weniger deutlich auszumachen. Im Bereich Realität selten der Fall ⫺ politische Zielset-
DaF ist insgesamt ein sehr breites und hete- zungen dominieren die organisatorischen
rogenes Forschungsspektrum vertreten. Ver- Maßnahmen, ohne auf Erkenntnisse aus der
suche, die Vielfältigkeit der Forschungen und Bilingualismusforschung (vgl. Art. 63) Rück-
Methoden zu ordnen und wertvolle biblio- sicht zu nehmen. Die Diskussion um den
graphische Hinweise finden sich bei Henrici muttersprachlichen Unterricht für Auslän-
(1986); Glück (1991); Henrici/Koreik (1994); derkinder in der Bundesrepublik zeigt, dass
Rösler (1994) und Dittmar/Rost-Roth (1995). es insb. darum geht, welche Bedeutung man
der sog. Interdependenzhypothese zuweist.
Die insb. von Cummins (1979; 1984) in zahl-
3. Die Rolle der Muttersprache bei reichen Publikationen bekannt gemachte In-
der Sozialisation ausländischer terdependenzhypothese besagt, dass sich die
Kinder kognitive Entwicklung des Individuums auf
der Basis der Muttersprache vollzieht und dass
In den Untersuchungen zur Sprachentwick- die Muttersprache unter zweisprachigen So-
lung der Kinder ausländischer Arbeitnehmer zialisationsbedingungen bis zu einem gewissen
war schon früh auf das Problem der Zwei- Niveau vorrangig vor der Zweitsprache geför-
sprachigkeit und auf die Notwendigkeit der dert werden muss (erstes Schwellenniveau),
Förderung der Muttersprache aufmerksam wenn negative Auswirkungen auf die kogni-
gemacht worden (vgl. Meyer-Ingwersen u. a. tive Entwicklung vermieden werden sollen.
1977; Stölting u. a. 1980). Auffallend ist, dass Wenn sich die Muttersprache voll entwickeln
der wichtigste Faktor, durch den sich die Mi- kann, und auch Lese- und Schreibfertigkeiten
grantenkinder am deutlichsten von den mo- in der Muttersprache ausgebildet werden
nolingualen Kindern unterscheiden, nämlich (zweites Schwellenniveau), ergeben sich kog-
die Muttersprache, nur selten in wissen- nitive Vorteile für bilingual sozialisierte Indivi-
schaftliche Untersuchungen zur sprachlichen duen. Ausgangspunkt für die Interdependenz-
Sozialisation der Ausländerkinder einge- hypothese bildete die UNESCO-Unter-
schlossen wurde. Mit Ausnahme der Arbeit suchung von Skutnabb-Kangas/Toukomaa
von Stölting u. a. (1980) gibt es bis in die 80er (1976), bei der die Autoren die Sprach- und
Jahre keine größere und systematische Un- Schulentwicklung von 351 finnischen Kin-
tersuchung in der Bundesrepublik Deutsch- dern in Schweden untersuchten. Sie stellten
land, die die sprachliche Entwicklung in der fest, dass die Entwicklung in der Zweit-
Erstsprache bzw. Muttersprache und der sprache (Schwedisch) mit der Kenntnis der
Zweitsprache zueinander in Beziehung set- Muttersprache (Finnisch) korrelierte: Die
zen würde. Kinder, die eine normale muttersprachliche
Dies ist um so erstaunlicher, als in der Dis- Entwicklung bis zu einem Durchschnittsalter
kussion um eine angemessene Sozialisation von 9½ Jahren nicht durchlaufen konnten,
von Migrantenkindern das Verhältnis von deren muttersprachliche Kompetenz also im
muttersprachlicher und zweitsprachlicher Vergleich zur finnischen Normpopulation
Entwicklung eines der Kernthemen ist, das mangelhaft ausgebildet war, erreichten auch
auch weitreichende unterrichtsorganisatori- die schlechtesten Werte der Sprachbeherr-
sche Folgen hat. Die entscheidenden Fragen schung in der Zweitsprache, und zwar unab-
sind: hängig von der Aufenthaltsdauer im Aufnah-
1. Welche Rolle spielt die Muttersprache für meland. Mit anderen Worten, die Defizite in
die Sozialisation eines Individuums, das in ei- der muttersprachlichen Entwicklung schie-
ner zweiten Sprache und Kultur eine den Mo- nen sich auf die Entwicklung der Zweit-
62. Deutsch als Fremdsprache ⫺ Deutsch als Zweitsprache 623

sprache auszuwirken und konnten auch nicht und dass Sprachförderungsmaßnahmen als
durch den Faktor ,Zeit‘ kompensiert werden. dauerhafte Aufgabe der Aufnahmeländer ver-
Den finnischen Kindern, die im Alter um standen werden müssen und sich nicht auf die
10 Jahre nach Schweden einwanderten, also Zeit der Primarstufe beschränken ließen.
das erste Schwellenniveau bereits überschrit- Dazu bedürfe es auch einer qualifizierten
ten hatten, eröffneten sich nach den Daten Lehrerausbildung für Kinder ausländischer
der Studie die besten Chancen für einen er- Arbeitnehmer. Mit der Veröffentlichung des
folgreichen Zweitsprachenerwerb und damit „Memorandums zum Muttersprachlichen Un-
für das Erreichen normaler Schulleistungen terricht“ (1983) durch einen Arbeitskreis, an
im schwedischen Schulsystem, was den in dem u. a. die Kirchen, Verbände ausländi-
jüngerem Alter eingewanderten Kindern ver- scher Arbeitnehmer, Vertreter der Botschaf-
sagt blieb. Wieder anders verlief die Entwick- ten der Herkunftsländer und deutsche Lin-
lung bei den mit 12 Jahren eingewanderten guisten beteiligt waren, erreichte die Diskus-
Kindern: Ihre Sprachentwicklung verlief et- sion um eine zweisprachige schulische
was langsamer als die der 10jährigen, er- Sozialisation der Migrantenkinder einen Hö-
reichte aber ebenfalls das Durchschnittsni- hepunkt. (Vgl. auch die Dokumentation in
veau monolingualer Schweden. Skutnabb- BAGIV 1985, wo das Memorandum erneut
Kangas/Toukomaa (1976) schließen daraus, veröffentlicht wurde.) Das Memorandum
dass die sprachliche Entwicklung in der Mut- folgt unter Berufung auf Wygotski (1934) im
tersprache und die allgemeine kognitive Ent- Wesentlichen der Interdependenzhypothese
wicklung in einer Wechselbeziehung zueinan- und stellt fest, dass die volle Entfaltung der
der stehen und dass die Muttersprachenent- Muttersprache Vorbedingung des Schuler-
wicklung bis zur Phase des abstrakten Den- folgs ausländischer Kinder sei. Die schulische
kens (nach Piaget) durchlaufen sein muss, um Sozialisation der ausländischen Kinder
eine ungestörte kognitive Entfaltung in allen müsse deshalb konsequent in eine bilinguale
Bereichen zu gewährleisten. Zu beachten ist und bikulturelle Sozialisation eingebettet
bei der Entwicklung in der Zweitsprache, werden. Die Autoren schlagen vor, dass aus-
dass es Latenzzeiten von bis zu 6 Jahren ge- ländische Kinder in sprachhomogenen Klas-
ben kann. Skutnabb-Kangas (1981, 84) kriti- sen zusammengefasst werden sollen und nicht
siert, dass viele Untersuchungen zu kurzat- nur muttersprachlicher Unterricht, sondern
mig angelegt sind, indem sie die Effekte von auch Fachunterricht in den Herkunftsspra-
bestimmten didaktischen Interventionen un- chen (und nachfolgend der Zweitsprache
mittelbar nachgewiesen sehen wollen. Auf Deutsch) erteilt wird.
Grund der alarmierenden Daten der Studie Diese Position wird von Götze (1983) und
setzen sich Skutnabb-Kangas und Cummins Liebe-Harkort (1983) kritisiert. Götze be-
seitdem für einen konsequenten mutter- hauptet, dass man auf Grund der Sozialisa-
sprachlichen Unterricht ein (vgl. Toukooma/ tionsbedingungen ausländischer Kinder in
Skutnabb-Kangas 1977; Skutnabb-Kangas der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr
1981; Cummins 1984; Skutnabb-Kangas/ davon ausgehen dürfe, dass die schulische
Cummins 1988). Unklarheiten in der Interde- Sozialisation notwendigerweise in der Mut-
pendenzhypothese diskutiert Noack (1987). tersprache erfolgen müsse, die Zweitsprache
Eine ausführliche zusammenfassende Dar- Deutsch würde für die Entwicklung von
stellung der Probleme und Chancen bei der Sprache und Denken der Migrantenkinder
bilingualen Entwicklung des Kindes geben zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die so-
Fthenakis u. a. (1985). ziolinguistischen Bedingungen für die Entste-
Unter dem Eindruck der internationalen hung von Zweisprachigkeit hält Götze in der
Forschungslage und den beobachteten Pro- deutschen Gesellschaft für nicht gegeben. Er
blemen ausländischer Kinder an deutschen bezweifelt, dass ein bilingualer Unterricht in
Schulen wurden Förderungsmaßnahmen für der Bundesrepublik in absehbarer Zeit über-
ausländische Kinder unter besonderer Be- haupt realisierbar sei. Schließlich hält er es
rücksichtigung der Muttersprache immer für die Integration für schädlich, die Schüler
nachdrücklicher gefordert. Boos-Nünning in bilingualen Unterrichtsphasen von ande-
u. a. (1983) analysieren europäische Modell- ren, deutschen und ausländischen, Schülern
versuche zur sprachlichen Integration von abzutrennen. Liebe-Harkort sieht, im Gegen-
Gastarbeiterkindern und machen darauf auf- satz zu Götze, die Einbeziehung der Mutter-
merksam, dass der muttersprachliche Unter- sprache der Migrantenkinder als eine grund-
richt verstärkt und verbessert werden muss legende Bedingung an, um eine erfolgreiche
624 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

Beschulung zu gewährleisten. Die schulisch gangsvoraussetzungen im Deutschen am


vermittelte Lesefertigkeit in der Mutterspra- Ende des Untersuchungszeitraums weiterhin
che hält er für wichtig, damit die schriftlichen die besseren Deutschkenntnisse hatten. Aus
Medien des Herkunftslandes zu einer Erwei- diesem vorhersehbaren Ergebnis leitet sie die
terung der Weltsicht beitragen können. Ge- kurzschlüssige Empfehlung ab, dass ausländi-
fahren sieht Liebe-Harkort darin, dass das sche Eltern mit ihren Kindern Deutsch spre-
Memorandum zur Segregation ausländischer chen sollten, um deren Bildungschancen im
Schüler missbraucht werden könnte, indem deutschen Schulsystem zu verbessern. Röhr-
ausländische Kinder in eigenen Klassen zu- Sendlmeier ignorierte damit die Bilingualis-
sammengefasst werden und minderwertige musforschung, die langfristige Maßnahmen
Schulabschlüsse erhalten, wie das im „Bayri- und Beobachtungen für unabdingbar hält,
schen Modell“ der Fall sei. (Zur Kritik am und leistete den Kräften in der Politik Vor-
Bayrischen Modell vgl. Boos-Nünning 1981; schub, die eine Assimilation der ausländi-
zur Zweisprachigkeit von Migrantenkindern schen Kinder durch Submersion (Verdrän-
vgl. Graf 1987; eine Übersicht über Beschu- gung der Muttersprache durch die Zweit-
lungsmodelle in der Bundesrepublik Deutsch- sprache) für richtig halten. Entscheidend ist,
land geben Thürmann 1992 und Reich/Hienz welches Spracherwerbsniveau längerfristig
de Albentiis 1998). erreicht wird. In neueren Untersuchungen
Die Diskussion um die Rolle der Mutter- von Hepsöyler/Liebe-Harkort (1991) und
sprache bei der schulischen Sozialisation aus- Baur/Meder (1992) wird die Abhängigkeit
ländischer Kinder wurde zu Beginn der 80er der zweitsprachlichen Entwicklung ausländi-
Jahre auf der Basis von Untersuchungen ge- scher Kinder in der Bundesrepublik Deutsch-
führt, die nicht in der Bundesrepublik land von ihren Kenntnissen in der Mutter-
Deutschland durchgeführt worden waren. Es sprache bestätigt (vgl. auch Müller 1997).
wurden Zweifel geäußert, ob die UNESCO- Hepsöyler/Liebe-Harkort (1991) unter-
Studie von Skutnabb-Kangas/Toukooma und suchten das Sprachvermögen türkischer
die Interdependenz-Hypothese in ihrer Aus- Schulanfänger (N ⫽ 60) in der Mutterspra-
sage verallgemeinerbar waren. Lediglich Stöl- che und der Zweitsprache Deutsch. Die
ting (1980) hatte auf der Grundlage von sprachlichen Daten wurden elizitiert, indem
Daten aus den frühen 70er Jahren in seiner von den Versuchsleitern im Einzelgespräch
Untersuchung bereits auf die Gefahr einer mit den Schülern dieselbe Bildgeschichte auf
,doppelseitigen Halbsprachigkeit‘ (Semilin- Türkisch und auf Deutsch wiedergegeben
gualismus) aufmerksam gemacht, wenn die wurde. Die Interviews wurden transkribiert
Muttersprache der Migrantenkinder nicht und in Bezug auf Wortschatz und Gramma-
ausreichend gefördert wird. In einem Modell- tik analysiert. Um die Sprachkenntnisse der
versuch an Berliner Gesamtschulen zeigte türkischen Kinder mit monolingualen deut-
sich eine auffällige Parallele zu den schwedi- schen Schülern vergleichen zu können, wur-
schen Untersuchungen: Bei türkischen Kin- den entsprechende Sprachaufnahmen von 15
dern, die in der Türkei gute Muttersprachen- deutschen Kindern analysiert. Die Autoren
kenntnisse bis zum Alter von etwa 10 Jahren kommen zu dem Ergebnis, dass die Sprach-
erworben hatten, verlief die Sprachentwick- kompetenz im Deutschen nur rudimentär ist
lung im Deutschen besser als bei den in und Schulversagen der türkischen Kinder
Deutschland aufgewachsenen Kindern, die vorhersehbar ist, wenn die Muttersprache bei
häufig Defizite in beiden Sprachen aufwiesen der schulischen Sozialisation nicht angemes-
(Steinmüller 1987): Auch Rehbein (1982; sen berücksichtigt wird. Die Muttersprache
1987) stützt mit qualitativen Analysen die stelle bei der Mehrheit der türkischen Kin-
Annahme der Interdependenzhypothese. Er dern ein stabiles Fundament für die Ausbil-
stellt fest, dass die Muttersprache der Mi- dung einer altersgemäßen kognitiven Ent-
grantenkinder in den Unterrichtsprozess ein- wicklung und den Aufbau einer zweisprachi-
geschlossen werden muss. ⫺ Eine Studie von gen Erziehung dar.
Röhr-Sendlmeier (1985) wies scheinbar einen Baur/Meder (1992) überprüften die Inter-
anderen Weg: Ohne Berücksichtigung der dependenzhypothese, indem sie die schriftli-
Zweisprachigkeit der Kinder untersuchte chen Leistungen von 383 jugoslawischen und
Röhr-Sendlmeier den Zuwachs von Deutsch- 372 türkischen Schülern in den Klassenstufen
kenntnissen türkischer Erstklässler in einem 5⫺10 in der Muttersprache und in der
Abstand von 9 Monaten und stellte fest, dass Zweitsprache Deutsch mittels eines C-Tests
die Kinder mit besseren sprachlichen Ein- auswerteten. Die Interdependenzhypothese
62. Deutsch als Fremdsprache ⫺ Deutsch als Zweitsprache 625

konnte dabei eindeutig bestätigt werden, d. h. dem Ziel, Lernstrategien auch lehren zu kön-
die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ein nen (vgl. Rampillon/Zimmermann 1997; No-
Schüler mit guten Muttersprachenkenntnissen dari 1994).
gute Deutschkenntnisse und mit schlechten 4. Die Erforschung der Möglichkeiten, wie
Muttersprachenkenntnissen auch schlechte die sprachliche Integration von Migranten
Deutschkenntnisse hat, erwies sich in beiden durch die Vermittlung von spezifischen Fä-
Sprachgruppen als hochsignifikant. In dersel- higkeiten, Fertigkeiten und Kenntnissen in
ben Untersuchung konnte auch gezeigt wer- der Lehrerausbildung generell und in der
den, dass die Schüler, die mehr Deutsch in ih- Deutschlehrerausbildung im Besonderen ver-
ren Familien sprachen, in den höheren Klas- bessert werden kann (vgl. z. B. Landesinstitut
sen keine besseren Sprachkenntnisse im Deut- 1987; Henrici/Riemer 1994).
schen mehr aufwiesen als die Schüler, die im 5. Die Erforschung von Kulturkontakt auf
Elternhaus die Muttersprache verwendeten der Ebene sprachlicher Interaktion und auf
und daher die Muttersprache auch besser be- der Ebene der Sprachrezeption. Hierzu gehört
herrschten. Die Pflege der Muttersprache in einerseits die Erforschung von kommunikati-
den Familien steht nach diesen Ergebnissen ven Stilen und Kommunikationsstrategien im
dem Erwerb guter Deutschkenntnisse nicht Deutschen als lingua franca bei der Kommuni-
entgegen. kation zwischen Angehörigen verschiedener
Mrazović/Stölting (1989) kommen in einer Kulturen und bei der Kommunikation zwi-
Untersuchung zum Wortschatz von (ehe- schen Muttersprachlern und Nicht-Mutter-
mals) jugoslawischen Kindern in der Mutter- sprachlern (vgl. Clyne 1994). Auf der anderen
sprache und im Deutschen zu dem Ergebnis, Seite bedarf es der Erforschung kulturspezi-
dass der deutsche Wortschatz bei den jugo- fischer Verarbeitungsmechanismen bei der Re-
slawischen Schülern zwar der präferierte sei, zeption von Texten bei Angehörigen verschie-
dass aber die Muttersprache einen eigenen dener Kulturen. Dazu ist auch die Verarbei-
Wert behielte und weniger subordiniert sei, tung von literarischen Texten im Rahmen von
als dies von den Ergebnissen her vermutet Lehr- und Lernprozessen Aufmerksamkeit zu
werden könne. Das Deutsche und die Mut- schenken, wie es im schulischen Kontext als
tersprache verteilen sich nach dieser Untersu- Ansatz interkulturellen Lernens gefordert
chung auf verschiedene Domänen. Das Ver- wird (vgl. z. B. Rösch 1993).
hältnis der Sprachen zueinander kann dabei
sehr individuell ausgeprägt sein. Die im
schulischen Kontext besser erworbene deut- 4. Literatur in Auswahl
sche Sprache bildet teilweise die Basis zum Ammon, Ulrich (1991): Die internationale Stellung
Erwerb muttersprachlicher Äquivalente. Un- der deutschen Sprache. Berlin/New York.
terschiede im Niveau der Wortschatz- und Antos, Gerd (Hg.) (1988): „Ich kann ja Deutsch!“
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lieren in dieser Studie stark mit den Bildungs- von Kindern ausländischer Arbeiter. Tübingen.
interessen des Elternhauses.
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63. Bilingualismus ⫺ Mehrsprachigkeit

1. Definitionen den wir es auch akzeptieren, wenn er mit Ak-


2. Formen von Zweisprachigkeit zent spräche? Und weiter: Mit welcher
3. Formen zweitsprachlicher Kompetenz Gruppe von deutschen Muttersprachlern
4. Interdependenz in der Entwicklung würden wir einen solchen Sprecher verglei-
5. Mehrsprachigkeit
6. Literatur in Auswahl
chen wollen? Mit Hannoveranern, weil sie
angeblich das beste Deutsch sprechen, oder
eher mit Bonnern/Berlinern, weil dort die po-
1. Definitionen litische Macht zu Hause ist und Sprache „ge-
prägt“ wird?
Ab wann kann man sagen, dass jemand zwei- Eine Gegenposition lautet: Bilinguale sind
oder mehrsprachig ist? Wo liegen die Gren- Individuen, die in einer fremden Sprache
zen der Mehrsprachigkeit? Jede Sprache weist vollständige und sinnvolle Äußerungen pro-
bekanntlich zahlreiche Subsysteme auf. Diese duzieren können (vgl. Haugen 1953, 7). Auf
Varietäten unterscheiden sich z. B. je nach Grund dieser Definition wäre die Mehrheit
Region (Dialekte), sozialer Schicht (Sozio- der Weltbevölkerung zwei- oder mehrspra-
lekt) und Zeit (Sprache einer Epoche oder chig. Eine solche minimalistische Definition
Generation). Die Fähigkeit zur Nutzung dürfte genauso unbefriedigend sein wie die
sprachlicher Varietäten kann auch als „innere oben angeführte maximalistische Position.
Mehrsprachigkeit“ (Wandruszka) bezeichnet Die typischen Fälle, denen wir im Alltag be-
werden. Da jeder Monolinguale sprachliche gegnen, scheinen irgendwo dazwischen zu lie-
Varietäten zu gebrauchen vermag, folgt dar- gen. Wir wollen hier deshalb eine vorläufige
aus, dass er ⫺ zumindest in Ansätzen ⫺ Definition geben, die unten präzisiert wer-
mehrsprachig ist bzw. über ein Potential zur den soll:
Entwicklung von Mehrsprachigkeit verfügt. Zweisprachigkeit ist die Fähigkeit zum
Man hat vorgeschlagen, jemanden dann alternierenden Gebrauch zweier Sprachen.
als zweisprachig zu bezeichnen, wenn er eine Analog dazu lässt sich Mehrsprachigkeit als
fremde Sprache so perfekt beherrscht, wie ein
alternierender Gebrauch mehrerer (d. h. min-
Muttersprachler (vgl. Bloomfield 1935, 55f.).
destens dreier) Sprachen bestimmen.
Eine solche Definition würde die Menge
zweisprachiger Individuen extrem einschrän-
ken. Dabei sind die Kriterien aber keineswegs 2. Formen von Zweisprachigkeit
so klar, wie sie auf den ersten Blick erschei-
nen mögen. Wann würden wir z. B. sagen, Zweisprachige Individuen lassen sich grob in
dass jemand Deutsch perfekt spricht? Sollte drei (bzw. vier) Gruppen einteilen, in solche,
seine Aussprache von der eines Mutter- die zwei Sprachen sehr gut beherrschen
sprachlers ununterscheidbar sein oder wür- (Typ 1: balanciert Bilinguale), solche, die ihre
63. Bilingualismus ⫺ Mehrsprachigkeit 629

zweite Sprache weniger gut beherrschen als geschränkte Ausdrucksmöglichkeiten verfü-


ihre Erst- bzw. Muttersprache (Typ 2: Bilin- gen. Auch eine schwache Sprache kann flüs-
gualismus mit Dominanz der Erstsprache), sig gesprochen werden. Sie wird meist be-
solche, die ihre Zweitsprache besser beherr- wusster gehandhabt, und ihr Gebrauch wird
schen als ihre Erstsprache (Typ 3: Bilingualis- darum auch als anstrengender empfunden.
mus mit Dominanz der Zweitsprache) und Normale Zweisprachige können sich mit
schließlich solche, die nur über sehr begrenzte Hilfe ihrer zweiten Sprache mehr oder weni-
Fertigkeiten in ihrer Zweitsprache verfügen ger gut verständigen. Sie haben mit dem Er-
(Typ 4: Semilinguale). lernen ihrer zweiten Sprache in der Regel
nach dem vierten Lebensjahr begonnen
2.1. Balanciert Zweisprachige (nachzeitiger Zweitspracherwerb). Wurden
Zu dieser Gruppe gehören Menschen, die so- ihre Aneignungsprozesse zusätzlich durch
zusagen über zwei Erstsprachen verfügen. Sie formale Unterweisungen unterstützt, spricht
können jederzeit von einer Sprache in die an- man auch vom sekundären Bilingualismus
dere wechseln, ohne an Ausdrucksgrenzen zu (Baetens Beardsmore 1982, 8). Zu diesem
stoßen. Man nennt sie darum auch balan- Typ gehören z. B. Friesen in Schleswig-Hol-
cierte Zweisprachige. Solche Individuen ha- stein, für die Friesisch Erst- und Deutsch
ben in der Regel ihre beiden Sprachen unter Zweitsprache ist, oder Sinti und Roma, die
günstigen Bedingungen erworben, entweder zu Hause Romani sprechen. Ihre Kinder ler-
zu Hause (d. h. Vater und Mutter haben un- nen in Nachbarschaft und Schule Deutsch,
terschiedliche Erstsprachen gesprochen) oder sprechen in der Familie aber weiterhin ihre
in ihrer Umgebung, z. B. beim Spielen mit Erstsprache.
Gleichaltrigen. Wenn zwei Sprachen gleich- Da die Beherrschung einer Sprache jedoch
zeitig (d. h. während der ersten vier Lebens- ⫺ ähnlich wie die Beherrschung eines Musik-
jahre) erworben werden, spricht man auch instruments ⫺ nichts ist, was einmal gelernt
vom primären Bilingualismus. Allerdings gibt und dann für immer beherrscht wird, können
es auch Fälle, wo Lerner sich eine Zweit- sich die Verhältnisse auch ändern, ja sogar
sprache erst nach ihrem vierten Lebensjahr umkehren. Äußere Bedingungen (z. B. politi-
aneignen und dennoch in der Zweitsprache sche Umwälzungen/Migration) oder innere
eine muttersprachähnliche Kompetenz ent- (z. B. Karriereplanung/Partnerwahl) können
wickeln, so dass wir auch sie zu den balan- dazu beitragen, dass Fertigkeiten in einer
ciert Zweisprachigen rechnen können. Zu zweiten Sprache weiterentwickelt werden und
diesen Ausnahmeerscheinungen gehörte z. B. die ursprünglich starke Sprache vernachläs-
Elias Canetti, der erst mit acht Jahren sigt wird, so dass sie allmählich weniger gut
Deutsch als Drittsprache zu lernen begann, beherrscht wird (vgl. Stölting u. a. 1980, 185).
oder Adalbert von Chamisso, der sich dem In Extremfällen kommt es zu einem Sprach-
Deutschen erst mit 14 Jahren zuwandte. Bi- wechsel, d. h. die Zweitsprache wird zur star-
linguale Schulen oder Eliteschulen (z. B. Eu- ken und die Erstsprache zur schwachen Spra-
ropaschulen) können die Entwicklung einer che. Solche Prozesse lassen sich vor allem bei
hohen Kompetenz in einer Zweitsprache be- Kindern von Immigranten (z. B. Türken, Ita-
günstigen. liener) beobachten, aber auch bei älteren Zu-
wanderern (z. B. Jugendlichen und jungen
2.2. Normale Zweisprachige Erwachsenen).
Nicht alle Individuen, die wir auf Grund ei- Neben einem solchen generellen Funk-
nes ersten Eindrucks für balanciert zweispra- tionswechsel der beiden Sprachen kann man
chig halten, sind jedoch in diesem Sinne zwei- auch beobachten, dass Sprachen in Abhän-
sprachig. Viele entpuppen sich bei einer ge- gigkeit von Konventionen, Themen oder Per-
naueren Überprüfung als normale Zweispra- sonen gewechselt (bzw. gewählt) werden (vgl.
chige. Solche Personen verfügen über eine Spolsky 1988, 109ff.), so wie z. B. Monolin-
dominante Sprache, in der sie sich differen- guale je nach Gesprächspartner und/oder Ge-
ziert auszudrücken vermögen. Die dominante sprächssituation zwischen Dialekt-, Soziolekt
Sprache (auch „Denksprache“) wird auch als und Hochsprache variieren. In städtischen
starke Sprache bezeichnet (vgl. Kielhöfer/Jo- Regionen, in denen Menschen mit unter-
nekeit 1983, 12f.). Bei den meisten Menschen schiedlichen Sprachen immer wieder aufein-
ist das die Erst- oder Muttersprache. Im Un- ander treffen, lassen sich solche bedarfsorien-
terschied dazu gilt ihre Zweitsprache als tierten Sprachwechsel nicht nur zu Beginn
schwache Sprache, weil sie in ihr nur über ein- von Gesprächen, sondern auch in Gesprä-
630 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

chen, ja sogar in einzelnen Sprecheräußerun- sprache mit den Fertigkeiten gleichaltriger


gen beobachten. Man nennt dieses Phänomen monolingualer Kinder, fallen Unterschiede
Kodewechsel. Auf Grund von Untersuchun- z. B. im Bereich von Wortschatz oder Syntax
gen wissen wir, dass sich hinter Kodewech- auf. Der Wortschatz in der schwachen Sprache
seln meist Optimierungsversuche verbergen, ist in der Regel weniger entwickelt als bei ver-
d. h. Versuche, sich genauer und ökonomi- gleichbaren monolingualen Kindern, und
scher auszudrücken. Kodewechsel können auch die verwendeten syntaktischen Struktu-
allerdings auch durch bestimmte Wörter oder ren sind zumeist weniger komplex. Würde man
Konstruktionstypen ausgelöst oder aus jedoch alle Wörter, über die ein zweisprachig
sprachmodischen Gründen eingesetzt wer- aufwachsendes Kind in seinen beiden Spra-
den. chen verfügt, zusammenzählen, so würde man
feststellen, dass zweisprachige Kinder ge-
2.3. Semilingualismus wöhnlich über mehr Wörter verfügen als
Neben balanciert Zweisprachigen und nor- gleichaltrige monolinguale Kinder. Anders
malen Zweisprachigen gibt es auch Lerner, formuliert: Wer einen zweisprachig aufwach-
die sich in ihrer zweiten Sprache mehr senden Schüler auf Grund der Leistungen in
schlecht als recht verständigen können und seiner schwachen Sprache (Deutsch) beurteilt
darum verstärkt körpersprachliche Mittel zur und die Fertigkeiten in seiner starken Sprache
Verständigungssicherung einsetzen müssen. vernachlässigt, wird ein verzerrtes Bild vom
Sie sollen hier als „Halbsprachige“ (Semilin- Entwicklungsstand und der Leistungsfähig-
guale) bezeichnet werden (vgl. Baker 1993, 9). keit eines solchen Schülers erhalten. Wird nun
Wir können auch sagen: Halbsprachigkeit ist ein Schüler als „doppelseitig halbsprachig“
das Gegenteil von balancierter Zweisprachig- eingestuft, begünstigt diese Kategorisierung
keit. Solche Kinder verfügen in keiner der spezifische Erwartungshaltungen. Es können
von ihnen gelernten Sprachen über eine dadurch „selbsterfüllende Prophezeihungen“
altersgemässe Sprachkompetenz. Sie werden in Gang gesetzt werden. Kurz: Aussagen wie
darum auch als doppelseitig halbsprachig be- „X ist doppelseitig halbsprachig“ sollten ver-
zeichnet, eine Bezeichnung, die ungenau und mieden werden, weil Kinder sich entwickeln,
⫺ wie wir sehen werden ⫺ irreführend ist. wenn sie Anregungen erhalten. Cook hat den
Beobachtungen zur Halbsprachigkeit sind Begriff Multi-Kompetenz geprägt, womit sie
allerdings nicht neu. So berichtete Bloomfield sowohl auf Kenntnisse und Fertigkeiten in der
bereits in den dreißiger Jahren: Erst- als auch in der Zweitsprache verweist. Zu
Recht betont sie, dass es unfair ist, Menschen
„Weißer Donner, ein Mann in den Vierzigern, spricht
mit einer solchen Multi-Kompetenz wie „ge-
weniger Englisch als Menomini, was ein hartes Ur-
teil ist, weil sein Menomini fürchterlich ist. (…) scheiterte Monolinguale“ zu behandeln (vgl.
Man könnte sagen, daß er keine Sprache auf tolera- Cook 1995, 95).
ble Weise spricht.“

(Zitiert nach Skutnabb-Kangas 1983, 250) 3. Formen zweitsprachlicher


Ähnliche Beobachtungen hat Hymes bei Kompetenz
Quechua-Indianern gemacht. Sie gaben ihr
Quechua auf, bevor sie richtig Spanisch ge- 3.1. Teilbereiche
lernt hatten (vgl. Hymes 1974, 72). Bei normalen Zweisprachigen lassen sich im
Auch in der Bundesrepublik wurde über Bereich der vier Grundfertigkeiten (Hörver-
„eine eingeschränkte Beherrschung beider So- stehen, Sprechen, Lesen und Schreiben) ge-
zialisationssprachen“ bei Kindern von Immi- wöhnlich unterschiedliche Beherrschungen
granten berichtet (vgl. Stölting u. a. 1980, 11). nachweisen. Mängel fallen z. B. in ihren
Es wurden dafür Bezeichnungen wie Analpha- schriftlichen Texten auf, etwa im Bereich der
betismus in zwei Sprachen oder doppelseitige Wortbildung, wenn mögliche, aber unge-
Halbsprachigkeit geprägt. Beide Ausdrücke bräuchliche Bildungen wie unausreichend ver-
werden meist abwertend gebraucht. Wer so ka- wendet oder gebräuchliche Wörter in einen
tegorisiert wird, gilt sowohl in seiner Erst- als falschen Kontext eingesetzt werden (z. B. Be-
auch in seiner Zweitsprachkompetenz als ein- lichtung statt Lichtverhältnisse), wenn Wörter
geschränkt und defizitär. Wodurch können verkürzt und vereinfacht werden (z. B. gleich-
solche Eindrücke entstehen? rechtig statt gleichberechtigt). Nun hängt jede
Vergleicht man die Fertigkeiten eines bilin- der vier Grundfertigkeiten von Teilfertigkei-
gual aufwachsenden Kindes in seiner Zweit- ten ab, die ihrerseits wiederum unterschied-
63. Bilingualismus ⫺ Mehrsprachigkeit 631

lich entwickelt sein können. So wird bsw. das Individuen, die fähig sind, Äußerungen, die
Hörverstehen in einer fremden Sprache einer- in einer fremden Sprache gemacht werden, zu
seits von Fähigkeiten zur Lautdiskriminie- verstehen, oder Texte, die in dieser Sprache
rung bestimmt, andererseits aber auch vom verfasst wurden, zu lesen. Diese Sonderform
Wortschatzumfang und dem dazugehörigen eines funktionalen Bilingualismus wird auch
Bedeutungs- und Begriffsnetz. Hinzu kom- als rezeptiver Bilingualismus bezeichnet. So
men Kenntnisse und Fertigkeiten im gram- gibt es z. B. in ländlichen Regionen Süd-
matischen Bereich (z. B. Wortbildung, Fle- deutschlands (etwa der Pfalz oder in Bayern)
xion, Syntax) sowie Kenntnisse im pragmati- Dialektsprecher, die die Hochsprache zwar
schen und stilistischen Bereich. Je nach der verstehen und lesen, nicht aber sprechen kön-
Entwicklung dieser Teilfertigkeiten werden nen. Ähnliches gilt für die skandinavischen
die Hörverstehensleistungen eines Lerners Länder. Dort kann ein Däne mit einem Nor-
besser oder schlechter sein. weger Dänisch sprechen und wird verstanden
Normale Zweisprachige gebrauchen ihre und der Norweger kann in seiner Varietät
beiden Sprachen in unterschiedlichen Situa- antworten.
tionen und zu unterschiedlichen Zwecken. Der Gegenbegriff dazu, der mündliche
Man spricht auch von funktionalem Bilingua- (u. U. auch schriftliche) Fertigkeiten ein-
lismus (vgl. Baetens Beardsmore 1982, 12). schließt, ist produktiver Bilingualismus. Diese
Nehmen wir z. B. einen Grundschüler mit Unterscheidung ist vor allem im Hinblick auf
türkischer Erstsprache (bzw. Muttersprache). Mehrsprachigkeit von Bedeutung, weil Mehr-
Er kann am Ende des ersten Schuljahrs ge- sprachige nicht alle ihre fremden Sprachen
sprochenes Türkisch (seine Familiensprache) auch produktiv beherrschen müssen. Unsere
gut und Deutsch ausreichend verstehen, sich Definition von Zweisprachigkeit kann nun
auf Türkisch fließend, auf Deutsch noch et- erweitert und präzisiert werden: Ein alternie-
was stockend ausdrücken, hat auf Deutsch render Gebrauch zweier Sprachen setzt nicht
relativ flüssig zu lesen gelernt, erhielt keine voraus, dass beide Sprachen auch produktiv
Unterweisung im Türkischen und kann daher beherrscht werden. Es genügt, wenn eine
nur seinen Namen und einige wenige Wörter fremde Sprache verstanden wird. Dies gilt
auf Türkisch lesen, kann auf Deutsch etwa insbesondere für Mehrsprachigkeit.
das schreiben, was seine Klassenkameraden
auch gelernt haben, ist hingegen nicht in der 3.3. BICS und CALP
Lage, mehr als seinen Namen auf Türkisch Nach allem was wir wissen, entwickeln sich
zu schreiben, weil eine Alphabetisierung auf Fertigkeiten im Bereich der Aussprache rela-
Türkisch nicht erfolgte. Um nun die sprachli- tiv unabhängig von solchen in den Bereichen
chen Voraussetzungen dieses Schülers ge- Semantik und Grammatik. Kindern fällt die
nauer bestimmen und ihn angemessen för- Aneignung der Aussprache einer fremden
dern zu können, müsste man aber nicht nur Sprache in der Regel leichter als älteren Ler-
wissen, über welche Grundfertigkeiten (Hö- nern. Wegen ihrer korrekten Aussprache und
ren, Sprechen, Lesen, Schreiben) er in beiden ihrer sprachlichen Flüssigkeit werden sie in
Sprachen verfügt, man müsste auch heraus- ihrem sprachlichen Leistungsvermögen oft
finden, wie die dazugehörigen Fertigkeiten in überschätzt. Tatsächlich lassen diese beiden
den entsprechenden Teilbereichen (phoneti- Indikatoren jedoch keine Rückschlüsse auf
sche, graphemische, morpho-syntaktische, le- den Sprachstand eines Lerners in den übrigen
xikalische, semantische und textuell-stilisti- Bereichen (z. B. Hörverstehen oder Lesever-
sche Ebene) beherrscht werden. Mit anderen stehen) zu. Wenn nun so überschätzte Kinder
Worten: In jeder Sprache müssten über zwan- z. B. Schwierigkeiten mit dem Lesen haben,
zig verschiedene Teilaspekte erfasst werden. liegt die (falsche!) Vermutung nahe, dass sie
entweder dumm oder faul sind. Tatsächlich
3.2. Rezeptive und produktive hat Leseverstehen aber sehr viel mit Wort-
Zweisprachigkeit schatzumfang und Weltwissen zu tun. Und es
Wenn wir sagen, dass jemand eine fremde bestehe ein nachweislicher Zusammenhang
Sprache gebrauchen kann, so impliziert dies zwischen dem Leseverstehen eines Schülers
immer auch Sprechfertigkeiten. Auf Grund und dem sozioökonomischen Status seiner
unserer Alltagsvorstellungen würden wir ei- Familie. Auch scheint es Zusammenhänge
nen Menschen, der sich in einer fremden zwischen diesen Fertigkeiten, der syntakti-
Sprache nicht auszudrücken vermag, kaum schen Reife eines Individuums und seiner Be-
als zweisprachig bezeichnen. Es gibt jedoch herrschung von Synonymen im Bereich des
632 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

Wortschatzes zu geben. Aus solchen u. ä. lichen) Formen (CALP) kann dagegen vier
Gründen wurde vorgeschlagen, zwei Kompe- bis sieben Jahre in Anspruch nehmen (vgl.
tenzbereiche zu unterscheiden (vgl. Cum- Skutnabb-Kangas 1983, 112f.). Während die-
mins 1984, 11ff.): ser Zeit besteht die Gefahr, dass der Sprach-
entwicklungsstand eines Lerners falsch einge-
1. Sprachliche Grundfertigkeiten im inter-
schätzt wird.
personalen Bereich (basic interpersonal
Cummins Konstrukt (BICS und CALP)
communicative skills kurz: BICS) und
besitzt Plausibilität. Die Unterscheidung
2. die Fähigkeit, kognitiv anspruchsvollere
deckt sich weitgehend mit den Ergebnissen
und kontextreduzierte Texte zu verarbei-
von Biber (1986). Auch gibt es neuere Unter-
ten (cognitive/academic language profi-
suchungsergebnisse, die Cummins Konzep-
ciency kurz: CALP).
tion zu bestätigen scheinen (vgl. Daller 1995).
Es wird davon ausgegangen, dass sich BICS in
jeder Sprache relativ unabhängig entwickelt,
während die Entwicklung von CALP in einer 4. Interdependenz in der Entwicklung
Zweitsprache eine entwickelte Erstsprache
4.1. Additiver Bilingualismus
voraussetzt. Mit anderen Worten: Kognitive
und schriftsprachliche Fertigkeiten können Wer eine zweite Sprache lernt, ohne seine er-
aus der Erstsprache in die Zweitsprache trans- ste zu vernachlässigen, fügt seinen Aus-
feriert werden, während die Entwicklung von drucks- und Interaktionsmöglichkeiten etwas
Fertigkeiten im interaktiven Bereich sowohl in hinzu, erweitert also nicht nur seine sprachli-
der Erst- als auch in der Zweitsprache stärker chen, sondern auch seine kognitiven und so-
von Persönlichkeitsmerkmalen abzuhängen zialen Potentiale. Mit anderen Worten: Wenn
scheint (vgl. Cummins 1991a, 78). Hinter die- ein Lerner Instruktionen in einer Sprache X
ser Unterscheidung stehen folgende Überle- erhält und auf Grund dieser Instruktionen in
gungen: dieser Sprache Fertigkeiten entwickelt, so
Wenn wir uns mit jemandem verständigen, wird er diese Fertigkeiten auch auf eine
so tun wir dies gewöhnlich eingebettet in einen Sprache Y übertragen können, vorausgesetzt,
Kontext. Vieles von dem, was gesagt wird, er hat ausreichenden Sprachkontakt (in
lässt sich in solchen Fällen erraten. Im Unter- Schule oder Umfeld) mit Y und verfügt über
schied dazu sind z. B. schriftliche Texte weitge- eine angemessene Motivation. Entwickelt er
hend dekontextualisiert. Mit anderen Worten: in beiden Sprachen ein hohes Niveau, so
Der Kontext kann nicht mehr über visuelle kann das entstehen, was auch als additiver Bi-
Stimuli (z. B. vorausgegangene Handlungen lingualismus bezeichnet wird. Diese Zwei-
oder situative Gegebenheiten) erraten werden. sprachigkeit wirkt sich positiv auf das ge-
Er lässt sich nur noch über sprachliche Hin- samte Leistungsvermögen eines Menschen
weise im Text entschlüsseln. Natürlich gibt es aus. Additiven Bilingualismus finden wir vor
auch da Unterschiede, z. B. Erzähltexte, die allem dort, wo zwei Sprachen in einer Gesell-
leichter erschließbar sind, und Texte, in denen schaft hohes Ansehen genießen.
eher abstrakte und theoretische Überlegungen
4.2. Subtraktiver Bilingualismus
dargestellt werden. Kurz: Auch schriftliche
Texte können mehr oder weniger dekontext- Wird die Erstsprache hingegen während der
ualisiert sein. Minoritätenkinder, so Cummins Aneignung einer fremden Sprache vernach-
Argumentation, scheitern in Schulen und lässigt oder gar verdrängt, so kann sich dies
Hochschulen häufig, weil nicht rechtzeitig er- (vor allem bei Kindern) auf die Aneignung
kannt wird, dass sie in ihrer Zweitsprache der Zweitsprache negativ auswirken. Eine
zwar über kommunikative Grundfertigkeiten solche Form der Zweisprachigkeit finden wir
(BICS), nicht aber über die sprachlichen Mit- häufiger bei Angehörigen von Minoritäten.
tel (CALP) verfügen, die notwendig wären, Nehmen wir einmal an, eine Minoritäten-
um einem Fachunterricht in der fremden Spra- sprache habe nur eine geringe Verbreitung
che folgen oder Fachtexte erschließen zu (z. B. Kurdisch oder Albanisch) oder würde
können. von einer Mehrheit der Deutschen mit negati-
Erfahrungsgemäß lassen sich Grundfertig- ven Assoziationen belegt (z. B. Romani, die
keiten für den interpersonalen Bereich Sprache der Sinti und Roma). Unter solchen
(BICS) in einer fremden Sprache in ein bis Voraussetzungen könnte die Weiterentwick-
zwei Jahren entwickeln. Die Entwicklung von lung oder der Erhalt der Erstsprache gefähr-
komplexeren (insbesondere schriftsprach- det sein, könnte es zu einer Verdrängung der
63. Bilingualismus ⫺ Mehrsprachigkeit 633

starken Sprache durch die schwache kom- gelten (z. B. Deutschland oder England), es
men, wie in dem oben zitierten Fall der Que- de facto aber längst nicht mehr sind, andere,
chua-Indianer. Ein Sprachwechsel ist immer die offiziell bilingual sind (z. B. Kanada mit
mit Stress und einer großen emotioanlen Ver- Englisch und Französisch), in denen daneben
unsicherung verbunden. Da von der Erst- aber viele Minoritätensprachen gesprochen
sprache auch Impulse auf die kognitive und werden, und schließlich Länder wie die
emotionale Entwicklung ausgehen und der Schweiz, wo Deutsch, Französisch, Italie-
nachzeitige Erwerb einer Zweitsprache ab- nisch und Rätoromanisch nationale Spra-
hängig ist vom Entwicklungsstand in der chen sind.
Erstsprache, kann sich ein solcher Sprach- Während in Deutschland ca. 60% der Be-
wechsel bei Kindern negativ auf den weiteren völkerung als monolingual gelten und in
Entwicklungsverlauf auswirken. Aber auch England gar 74%, sprechen in Dänemark nur
dann, wenn kein sichtbarer Sprachwechsel 40% keine Fremdsprache und in den Nieder-
stattfindet, besteht die Gefahr, dass die Ver- landen sind es sogar nur 28% (vgl. Finken-
nachlässigung der Erstsprache negative Kon- staedt/Schröder 1990, 18). Wie sieht es dem-
sequenzen hat. Kurz: Es kann dann das entste- gegenüber in der viersprachigen Schweiz aus?
hen, was auch als subtraktiver Bilingualismus [2 steht für gut zweisprachig, 3 für gut drei-
bezeichnet wird. Statt⫺wie im Falle des additi- sprachig]
ven Bilingualismus⫺zu bereichern, wirkt die
Zweisprachigkeit dann eher als Lernhindernis. Bevölkerungsanteil 2 3
Ob wir es mit einer additiven oder einer
subtraktiven Zweisprachigkeit zu tun haben, Erstspr. Dt. 70% 35% 19%
können wir daran erkennen, wie die beiden Erstspr. Frz. 18% 42% 19%
Sprachen eingesetzt werden. Während im Erstspr. It. 12% 60% 33%
Falle des additiven Bilingualismus beide
Sprachen zumeist komplementär (bzw. funk- Die Tabelle zeigt, dass 70% der Schweizer Be-
tional) gebraucht werden, treten beim sub- völkerung deutschsprachig sind, 35% davon
traktiven Bilingualismus beide Sprachen in sind zwei- und 19% dreisprachig. Sie zeigt
Konkurrenz zueinander. In Deutschland wer- auch, dass die italienischsprachigen und fran-
den z. B. türkische Kinder in der Schule ihre zösischsprachigen Minoritäten eher zwei
Erstsprache sprechen, wenn sie sich mit tür- (oder drei) Sprachen lernen als Angehörige
kischen Mitschülern verständigen wollen, an- der deutschsprachigen Majorität.
dererseits die Majoritätssprache (Deutsch) im Da es in der Schweiz so gut wie keine Bin-
Umgang mit deutschen Lehrkräften und an- nenmigration gibt (vgl. 96% der Deutsch-
deren Mitschülern gebrauchen. Angenom- sprachigen leben in der deutschsprachigen
men, ein türkischer Schüler hat keine Gele- Region, 92% der Französischsprachigen in
genheit, seine Erstsprache zu entwickeln, z. B. der französischsprachigen Region und 79%
weil beide Eltern arbeiten oder weil er ver- der Italienischsprachigen in der italienisch-
sucht, sich zu assimilieren und darum den sprachigen Region), fehlen natürliche Anreize
Gebrauch seiner Erstsprache vermeidet. In zur Entwicklung und Pflege von Mehrspra-
einem solchen Falle würden Voraussetzungen chigkeit. Wir haben es hier darum mit einer
für einen subtraktiven Bilingualismus beste- gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit zu tun,
hen. Als Folge davon könnten Identitätspro- die auf dem Prinzip eines territorialen Mono-
bleme auftreten, die wiederum die Bewälti- lingualismus basiert.
gung von Lernaufgaben erschweren würden. Komplizierter sind die Verhältnisse in Län-
dern wie Ghana oder Indien, wo wir es mit
gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit und re-
5. Mehrsprachigkeit gionaler Vielsprachigkeit zu tun haben. In
Ghana werden beispielsweise 45 Sprachen ge-
5.1. Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit sprochen, zwölf davon sind offizielle Spra-
Auf der Erde gibt es ca. 5000 Sprachen und chen, die auch in der Schule vermittelt wer-
etwa 200 Länder. Daraus folgt, dass in vielen den, fünf überregionale Verkehrssprachen
Ländern mehr als eine Sprache gesprochen (Akan, Ewe, Waale, Hausa und Englisch).
wird. Monolinguale Länder mit einer homo- Der größte Teil der Bevölkerung ist zwei-
genen Bevölkerung wie Island oder die Mon- oder dreisprachig. Menschen, die nicht in ih-
golei gehören zweifellos zu den Ausnahmen. rer Heimatregion leben, sprechen meist noch
Es gibt Länder, die offiziell als einsprachig eine weitere regionale Sprache, die sie z. B.
634 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

auf dem Markt benötigen. Jeder, der Englisch 5.2. Individuelle Mehrsprachigkeit
kann, ist zumindest zwei-, meist aber drei- Es gibt viele Gründe, sich Sprachen anzueig-
oder gar viersprachig (vgl. Kropp Dakubu nen oder erworbene Sprachen zu bewahren.
1994, 1434f.). Berufliche Anforderungen können dafür ge-
Ähnliches gilt für Indien (vgl. Kachru nauso ausschlaggebend sein wie ein Umzug
1992, 182ff.). Dort gibt es schätzungsweise in eine anderssprachige Region. Die Aneig-
1600 Sprachen, 15 davon sind nationale nung einer neuen Sprache kann durch
Sprachen und zwei überregionale Verkehrs- Lebensumstände (Flucht, Vertreibung) er-
sprachen (Hindi und Englisch). In Indien gilt zwungen werden. Sprachen können aber
darum für Sprachen die Formel 3 ⫾ 1. Mit auch aus religiösen Gründen gelernt oder ge-
anderen Worten: Es gibt Gebiete, in denen pflegt werden (vgl. z. B. Arabisch, Latein,
Hindi und Englisch ausreichen (d. h. 3 ⫺ 1), Sanskrit oder Pali). Und da Sprachen immer
es gibt aber auch Regionen (z. B. in Südin- auch ein Identitätskennzeichen sind, bemü-
dien), wo neben lokalen Sprachen (z. B. Te- hen sich viele Menschen um den Erhalt ihrer
lugu oder Kannada) zunächst lokale Bil- Erstsprache, auch wenn die Gebrauchsmö-
dungs- und Verkehrssprachen (z. B. Tamil glichkeiten dieser Sprache eingeschränkt
oder Maharati) gelernt werden, ehe mit Hindi sind. Schließlich gibt es Lebensformen, die
oder Englisch begonnen wird. Dort gilt also die Entstehung von Mehrsprachigkeit gera-
die Formal 3 ⫹ 1. dezu erzwingen. Bei den Vaupé-Indianern,
Welche Auswirkungen hat die Mehrspra- die im nordwestlichen Amazonas-Gebiet le-
chigkeit auf die ökonomische Entwicklung ei- ben, dürfen bsw. Frauen nur Männer heira-
nes Landes? Mehrsprachige Länder sind ten, wenn diese eine andere Sprache sprechen
meist „jüngere“ Länder, in denen sprachliche als sie selbst. Es wird berichtet, dass jedes
Rationalisierungsprozesse noch nicht so wir- Mitglied mindestens drei Sprachen fließend
ken konnten, wie z. B. in Frankreich. Dort spricht, viele sogar vier oder fünf Sprachen
hat es immerhin mehr als zweihundert Jahre beherrschen und einige bis zu zehn Sprachen
gedauert, bis die Varietät der Ile-de-France verstehen können (vgl. Jackson 1974, 53f.).
überregional durchgesetzt werden konnte. Daraus können wir schließen, dass Mehr-
Andererseits zeigt uns das Beispiel Schweiz, sprachigkeit ein natürliches Phänomen ist.
dass eine mehrsprachige Bevölkerung kein Doch wie viele Sprachen können maximal ge-
Hindernis für eine positive ökonomische Ent- lernt werden?
Wir alle kennen Menschen, die über eine
wicklung sein muss. Kurz: Mehrsprachigkeit
besondere Begabung zum Sprachenlernen
bedeutet nicht notwendig politische Instabili-
verfügen, so wie Heinrich Schliemann, der
tät.
die ersten Ausgrabungen in Troja leitete. Von
Kontakte zwischen verschiedenen ethni-
ihm wird berichtet, dass er 19 Sprachen ge-
schen Gruppen begünstigen die Entstehung sprochen habe, darunter so „exotische“ wie
von natürlicher Zwei- und Mehrsprachigkeit Türkisch, Arabisch, Persisch und Hebräisch.
insbesondere dann, wenn es sich bei den be- Er veröffentlichte Bücher und Aufsätze in
teiligten Sprachen um hochbewertete Spra- englischer, französischer, italienischer, russi-
chen handelt. Dagegen werden die Sprachen scher sowie neugriechischer Sprache (vgl.
von Minderheiten von Majoritätsangehöri- Scherer 1992).
gen nur selten gelernt, während Majoritäts- Andere mussten auf Grund ihrer Lebens-
angehörige umgekehrt (und selbstverständ- umstände verschiedene Sprachen erlernen. So
lich) davon ausgehen, dass Minoritätsange- wird über Kolumbus erzählt, dass seine erste
hörige ihre Sprache lernen. Durch diese Sprache Genuesisch war, „ein Dialekt, der
Asymmetrie, die immer auch Ausdruck eines noch heute nicht standardisiert ist. Er lernte
Machtgefälles ist, können die Sprachen von Geschäftsbriefe in Latein zu schreiben, (…)
Minoritäten (in Deutschland z. B. Friesisch heiratete eine Portugiesin und vergaß wahr-
oder Sorbisch) in ihrem Bestand bedroht scheinlich das Italienische fast ganz. Er sprach
werden. Dennoch dürften sich im 21. Jh. Portugiesisch, schrieb aber nie ein Wort in die-
sprachliche Rationalisierungsprozesse auf de- ser Sprache. Während seiner neun Jahre in
mokratischem Wege kaum mehr durchsetzen Lissabon gewöhnte er sich an, in Spanisch zu
lassen, weshalb zu erwarten ist, dass ein ver- schreiben. (…) Kolumbus schrieb also zwei
einigtes Europa ein vielsprachiges Europa Sprachen, die er nicht sprach, und er sprach
sein wird. mehrere andere. Dergleichen schien für ihn und
63. Bilingualismus ⫺ Mehrsprachigkeit 635

seine Zeitgenossen nicht weiter problema- und Erarbeitung eines Grundwortschatzes


tisch.“ (Illich 1982, 19/20) fallen.
Mehrsprachige beherrschen nur in Aus- Was für die lexikalische Ebene nachgewie-
nahmefällen (z. B. als Simultandolmetscher) sen wurde, dürfte auch für den morphosyn-
alle ihre Sprachen auf gleichem Niveau. Nor- taktischen Bereich gelten: Ein Transfer von
male Mehrsprachige setzen ihre Sprachen zu- einer flektierenden SVO-Sprache (z. B. Pol-
meist (wie Zweisprachige) funktional ein. nisch) auf eine andere flektierende SVO-
Und wie bei diesen ist die Beherrschung ihrer Sprache (z. B. Deutsch) ist wahrscheinlich,
Sprachen auch dynamischen Veränderungen weil ähnliche Strukturen (z. B. Präpositional-
unterworfen. So berichtete ein amerikani- kasus) existieren. Mit einem Transfer von ei-
scher Kollege, der sich längere Zeit in der ner agglutinierenden SOV-Sprache (z. B. Tür-
Türkei aufgehalten hatte, dass er sich auf ei- kisch) auf eine flektierende SVO-Sprache
ner Deutschlandreise zu verständigen ver- kann hingegen kaum gerechnet werden, da
suchte und entsetzt feststellte, dass er unge- z. B. Präpositionen des Deutschen im Türki-
wollt Türkisch sprach (vgl. Selinker/Baum- schen mit Postpositionen oder Endungen
gartner-Cohen 1995, 115). Offenbar hatte die wiedergegeben werden müssen. Aus solchen
intensive Auseinandersetzung mit dem Türki- u. ä. Gründen wird im Allgemeinen mehr Zeit
schen dazu geführt, dass eine andere Sprache zur Aneignung entfernterer als zur Aneig-
(Deutsch), die bereits erlernt wurde, blockiert nung verwandter Sprachen benötigt. (vgl.
war. Dies gilt erfahrungsgemäß auch umge- dazu Apeltauer 1997, 75f.).
kehrt: Wer eine vernachlässigte Zweit- oder Aus Erfahrung wissen wir: Je besser eine
Drittsprache wieder aktiviert, wird beim spä- fremde Sprache beherrscht wird, desto mehr
teren Wechsel in seine Viert- oder Fünftspra- Abläufe sind automatisiert, desto weniger
che anfangs ebenfalls mit Ausdrucksproble- Energie wird für eine bewusste Steuerung be-
men zu kämpfen haben. Auch kann man be- nötigt. Je geringer die Kenntnisse in der frem-
obachten, dass durch längeren Nichtge- den Sprache, desto mehr Bewusstheit und
brauch sprachliche Fertigkeiten verloren ge- Konzentration muss für die Verständigung
aufgewendet werden. Und noch etwas: Spra-
hen. Solche Verluste lassen sich in der Regel
chen, in denen jemand nur rudimentäre
zuerst bei den produktiven Fertigkeiten be-
Kenntnisse erworben hat, sind stärker vom
obachten (vgl. Cohen 1989), während rezep-
Vergessen bedroht als Sprachen, in denen so-
tive (Lesen, Hörverstehen) davon weniger be-
lide Grundkenntnisse entwickelt wurden, weil
troffen sind. Insgesamt lassen sich sprachli-
im letzteren Falle eine extensivere und mit
che Erosionserscheinungen aber auf allen
größeren Redundanzen versehene Einbettung
sprachlichen Ebenen nachweisen. Es kann in kognitive Strukturen erfolgt ist, so dass
sogar die Sprechflüssigkeit darunter leiden. diese Informationen gegen Vergessen besser
Allmählich macht sich dann wieder ein stär- geschützt sind (vgl. De Bot/Clyne 1989, 174).
ker werdender Akzent bemerkbar (vgl. De- Mit anderen Worten: Wenn Kenntnisse in
Bot/Clyne 1989, 168). zwei Sprachen bereits erarbeitet wurden, so
Umgekehrt können sich erlernte Sprachen begünstigen diese die Aneignung und „Ver-
aber auch gegenseitig stützen, so dass ein Ver- netzung“ einer weiteren fremden Sprache.
gessen erschwert wird. Und sie können das Man sagt, dass derjenige, der mehrere
Erlernen neuer (insbesondere verwandter) fremde Sprachen erlernt hat, auch das
Sprachen auch erleichtern (vgl. Krumm Fremdsprachen-Lernen gelernt hat. Diese
1990, 96ff.). Im lexikalischen Bereich lässt Aussage trifft sicherlich auf verwandte Spra-
sich dies z. B. an Hand von gleich oder ähn- chen zu. Wer Latein gelernt hat, der weiß
lich klingenden Wörtern nachweisen. Ähnlich schon viel über Italienisch und Spanisch und
klingende Wörter werden schneller gelernt als wird beide Sprachen daher auch leichter er-
Wörter, die fremd klingen. Untersuchungser- lernen. Wer aber Vietnamesisch oder Tür-
gebnisse zeigen zudem, dass selbst fremd kisch zu lernen versucht, wird feststellen, dass
klingende Wörter im Kontext von vertraut hierfür völlig andere Automatismen entwik-
klingenden rascher aufgenommen und ge- kelt werden müssen, so dass die Aneignungs-
speichert werden (vgl. dazu Ard/Homburg prozesse anfänglich eher Züge eines Erst-
1983, 62). Je mehr vertraut klingende (oder spracherwerbs annehmen werden. Dass selbst
vom Schriftbild her bekannte Wörter) wir da- unter solchen Bedingungen bereits erlernte
her in einer fremden Sprache auffinden kön- Sprachen hilfreich sein können, lässt sich
nen, desto leichter wird uns die Erschließung etwa an folgendem Beispiel verdeutlichen: ile
636 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

bedeutet im Türkischen mit, im Polnischen 1985; Möhle 1989; Cohen 1989; Jaspaert/Lem-
wie viel. Wer die Form einmal gelernt hat, mens 1990; Swain u. a. 1990; Khoo u. a. 1993;
muss bei der neuen Sprache also nur noch die Benoussan u. a. 1995). Sieht man einmal von
Bedeutungszuordnung erlernen, zweifellos einigen wenigen Fallstudien ab, so kann man
eine Erleichterung des Lernprozesses. Es gibt sagen, dass experimentelle und quasi-experi-
allerdings auch Fälle, wo eine vertraute Form mentelle Untersuchungen gegenwärtig über-
irritieren kann. So bedeutet inmek im Türki- wiegen. Daneben gibt es aber auch Befragun-
schen aussteigen. Es wird jedoch gerne mit gen unterschiedlicher Art (vgl. z. B. Hufeisen
einsteigen verwechselt. Solche Zusammen- 1991, 131f.). Im Zentrum des Interesses stehen
hänge sind gegenwärtig jedoch noch wenig gegenwärtig einerseits Sprachlernstrategien
erforscht. und Verarbeitungsprozesse von Anfängern
In Analogie zur Unterscheidung zwischen und Experten (vgl. Thomas 1985; Nation/
starker und schwacher Sprache wollen wir McLaughlin 1986; McLaughlin/Nayak 1989),
auch im Bereich der Mehrsprachigkeit von ei- andererseits Beeinflussungen von Produk-
ner starken und einer (bzw. mehreren) schwa- tionsprozessen durch zuvor gelernte Spra-
chen fremden Sprache(n) sprechen. Mehrspra- chen. Untersuchungen stützen sich dabei ent-
chige, die man nach ihren Sprachkenntnissen weder auf Testanalysen (vgl. z. B. Ahukanna
befragt, vermögen meist in diesem Sinne zu u. a. 1981; Mägiste 1984) bzw. auf eine Kombi-
differenzieren und benennen gewöhnlich ne- nation aus teilnehmender Beobachtung und
ben ihrer Erstsprache eine starke Fremdspra- Test (vgl. Jaspert/Lemmens 1990), oder auf
che und weitere schwache Sprachen, wie die eine Analyse von Beschreibungsaufgaben, die
folgenden Angaben ausländischer Studieren- unter kontrastiven Gesichtspunkten analy-
der zeigen. siert werden (vgl. z. B. Möhle 1989; Hufeisen
US-Amerik. Engl. ⫹⫹⫹, Norweg. ⫹, 1991). Einige Ergebnisse seien hier festgehal-
Deutsch ⫹⫹ ten:
Indien Telugu ⫹⫹, Tamil ⫹⫹⫹, ⫺ Multilinguale sind beim impliziten Lernen
Hindi ⫹⫹, Englisch ⫹⫹⫹, einer neuen Sprache sowohl Bilingualen
Deutsch ⫹⫹ als auch Monolingualen überlegen (vgl.
Ghana Akan ⫹⫹⫹, Ese ⫹⫹⫹, Eng- Nation/McLaughlin 1986).
lisch ⫹⫹⫹, Nzema ⫹⫹, ⫺ Multilinguale scheinen stärker zu abstra-
Fante ⫹⫹, Franz. ⫹, hieren und Muster leichter wiederzuerken-
Deutsch ⫹⫹
nen sowie auf Lernaufgaben flexibler zu
(Die Erstsprache ist jeweils durch Fettdruck reagieren und Gedächtnisstrategien effek-
hervorgehoben, die Reihenfolge entspricht tiver einsetzen zu können (McLaughlin/
der Reihenfolge des Erwerbs.) Nayak 1989).
Welche Sprachen entwickelt, gepflegt oder ⫺ zuvor gelernte Sprachen wirken sich auf
erhalten und welche vernachlässigt oder ver- neu zu lernende Sprachen besonders dann
gessen werden, darüber entscheidet der all- aus, wenn eine verwandtschaftliche Bezie-
tägliche Sprachenbedarf. Wer in einer mehr- hung zwischen diesen Sprachen besteht
sprachigen Umgebung wohnt (z. B. in Lon- (vgl. Möhle 1989).
don, Luxemburg oder in Ghana), wird von ⫺ in rezeptiven Bereich scheint der Einfluss
seinen Sprachkenntnissen häufiger Gebrauch der Erstsprache stärker zu sein als der zu-
machen können. Wer sich hingegen für ein vor gelernter Sprachen (vgl. Möhle 1989).
oder zwei Jahre in ein fremdes Land begibt ⫺ bereits die Beherrschung unterschiedlicher
und dort eine Sprache erlernt, wird nach sei- Schriftsysteme scheint sich auf die Aneig-
ner Rückkehr die gelernte Sprache in der Re- nung einer Drittsprache positiv auszuwir-
gel wieder vernachlässigen, sofern keine be- ken (vgl. Swain u. a. 1990; Thomas 1985).
ruflichen oder partnerschaftlichen Gründe zu
einem weiteren intensiven Gebrauch nötigen. Unklar ist gegenwärtig noch die Dynamik
der Einflüsse zwischen Sprachen, auch
5.3. Zur Forschungslage warum es unter bestimmten Bedingungen
Während der Zweitspracherwerb seit vielen z. B. zu einem Rückgang der Interferenzen
Jahrzehnten erforscht wird, hat die Erfor- kommt und in anderen Fällen zu einem An-
schung der Mehrsprachigkeit erst vor wenigen wachsen (vgl. Hufeisen 1991, 93f.). Die For-
Jahren begonnen (vgl. z. B. Ruke-Dravina schung steht zweifellos erst am Anfang eines
1967; Stedje 1976; Mägiste 1984; Thomas langen Weges.
63. Bilingualismus ⫺ Mehrsprachigkeit 637

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64. Theorie und Empirie

1. Wissenschaftsgeschichte und -theorie genstandes her dargelegt werden, empfiehlt


2. Reduktive und integrale Theorien sich eine kurze Rekonstruktion der diesbe-
3. Empirie züglich einschlägigen wissenschaftsgeschicht-
4. Literatur in Auswahl lichen Entwicklungen (vgl. Kap. II), beson-
ders der Gegenstandsbestimmungen (vgl.
1. Wissenschaftsgeschichte und Kap. I). Denn die Subsumierung dieses Arti-
-theorie kels unter das Kapitel Lernen: Begriffe und
Konzepte macht eine Präsupposition, die so
Ehe die in sich komplexen Kategorien Theo- selbstverständlich nicht ist.
rie und Empirie mit Bezug auf das Deutsche Deutsch als Fremdsprache ist keine Diszi-
als Fremdsprache von der Systematik des Ge- plin, sondern ein Fach, genauer: ein Teilfach
64. Theorie und Empirie 639

der Germanistik mit linguistischem Schwer- den Entwicklung relativ zu den traditionell
punkt ⫺ so lautet eine wissenschaftssystemati- mit einzelnen Sachaspekten befassten Theo-
sche Auffassung (Glück 1989), welcher die em- rien und Methoden. Voreilige Applikationen
phatische Betonung disziplinärer Eigenstän- sowie verkürzt rezipierte Versatzstücke lin-
digkeit, insbesondere in Form der Sprachlehr-/ guistischer Analysen begründeten regelrechte
Sprachlernforschung (Bausch u. a. 1986), ge- Konjunkturen mit parallelen Euphorien ver-
genübersteht ⫺ bei gleichzeitiger Proklama- sus Verwerfungen (vgl. Helbig 1994). Leicht
tion interdisziplinären Sachbezuges (Krumm entsteht der Eindruck eines emphatischen je-
1988) (vgl. Art. 1). Zentraler Gegenstand ist weiligen Neubeginns, der bereits gewonnene
hier das (institutionelle) Lehren und Lernen Erkenntnisse vorschnell hinter sich zu lassen
der deutschen Sprache als Fremdsprache, geneigt machen könnte.
dort die (fremde) deutsche Sprache in all ih- Angesichts der komplexen neuen Gegen-
ren Erscheinungsformen. Diese Divergenz ist standsstruktur scheint es unabdingbar, sie als
Ausdruck davon, dass die Wissenschaften für integrale Gesamtheit ernst zu nehmen und
eine komplexe praktische Aufgabenstruktur von da her analytische Differenzierungen zu
ihre Lösungs-Verantwortung zu übernehmen gewinnen. Insofern sind die Befassung mit
bereit sind und infolgedessen die neuen wie dem Deutschen als dem Anzueignenden, mit
auch ihre gewohnten Gegenstände von den dem Modus der Aneignung als unter Eigen-
gesellschaftlichen Bedürfnissen her in innova- Fremd-Perspektive stehend, mit der Aneig-
tiver Weise zu betrachten beginnen. So wer- nung als mentalem Prozess selbst und mit der
den des weiteren Disziplingrenzen ⫺ und interaktiven Vermitteltheit dieser Aneignung
seien es vergleichsweise kleine wie die zwi- in der außerinstitutionellen oder institutio-
schen Linguistik und Literaturwissenschaft nellen Praxis im eigenen oder im fremden
(Weinrich 1979, Krusche 2000) ⫺ perspekti- Land allesamt erforderlich ⫺ und allesamt
visch überschreitbar, besser: aufhebbar. Das im konkreten, funktionalen Bezug der Ge-
kann, ja muss auf die analytischen Katego- genstandsmomente aufeinander zu begreifen
rien und Methoden zurückwirken. (vgl. Rehbein/Schwerdtfeger 1986). Für den
Methodologisch bedeutet dies, dass die Sprachbegriff wie für den lern- oder Erwerbs-
wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht auf der begriff und den Lehr-Lern-Begriff sind dem-
Basis von Bedeutungspostulaten oder Defini- nach umfassende, integrale Bestimmungen
tionen gewonnen und dargestellt werden, wie vorzunehmen. Das geschieht leider nicht im-
dies für axiomatische Systeme wie die Mathe- mer. Vielmehr dominieren reduktionistische
matik oder die formale Logik geschieht, son- Konzeptionen. Dies hat nicht selten die
dern durch Kategorien, die ihre Präzision der Konsequenz, dass die von Henrici (1995: 12)
Rekonstruktion des Konkreten im Begriff hierarchisch differenzierten „Referenzwissen-
verdanken, welche einer reflektierten Empirie schaften“ in ihren Gegenstandsbestimmun-
verpflichtet ist (s. 3.); das Alltagswissen wie gen und Erkenntnissen kaum miteinander zu
das bereits bestehende wissenschaftliche Wis- vermitteln sind.
sen wird hierbei in Form einer hermeneuti-
schen Spirale ⫺ nicht eines Zirkels ⫺ kritisch 2.1. ,Sprache‘
einbezogen (Rehbein 1995). Einer so be- Hinsichtlich des Sprachbegriffs wird überwie-
stimmten Theorie eignet grundsätzlich eine gend ein Verständnis in Anspruch genom-
permanente, historisch-gesellschaftliche Ent- men, das zu Beginn des Jahrhunderts im
wicklungsdimension und eine ständige Offen- Wege einer methodischen Dezision durch F.
heit für Revisionen angesichts der konkreten de Saussure geprägt wurde: Sprache als Sy-
Realität. Damit werden auch die methodi- stem („la langue“; vgl. Kap. III). Dem steht
schen Dichotomien „deduktiv“ versus „in- ein Begriff von Sprache als einer ⫺ durchaus
duktiv“ und „quantitativ“ versus „qualitativ“ systematischen ⫺ Form des Handelns diame-
(aus fremdsprachendidaktischer Sicht Hart tral gegenüber (Ehlich 1996). Selbst wenn
u. a. 1987) als in ihren Isolationen falsche pragmatische Analysen, etwa von Sprech-
Alternative dialektisch aufhebbar (Ehlich handlungen, als Phänomene der Sprach-Ver-
1982). wendung in die Betrachtung aufgenommen
(vgl. Art. 20) und darauf bezogene Funktio-
2. Reduktive und integrale Theorien nen von Sprache thematisiert werden, bleibt
die reduktive Systemauffassung häufig
Ein junges Fach wie Deutsch als Fremdspra- präsupponiert, wenngleich der Blick von
che birgt neben der beschriebenen Chance Saussures zentralem Gegenstandsbereich der
zur Innovation die Gefahr einer nachlaufen- Sprachwissenschaft hin zum dichotomischen
640 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

Gegenpol, dem Sprachgebrauch („la parole“; sowie für eine sprachtypologisch reflektierte
vgl. Kap. IV), erweitert ist. Grammatik und kontrastive Sprachbetrachtung des Deut-
Semantik werden dann im Wesentlichen der schen.
System-Analyse überantwortet. Zudem füh-
ren sprachsystembasierte Analysen häufig 2.2. ,Lernen‘
dazu, entweder der Wortschatz- und Gram- Hinsichtlich des Lernbegriffs sind ebenfalls
matikvermittlung ⫺ möglicherweise mit Ein- divergente theoretische Bestimmungen zu
blendungen semantisierter Pragmatik ⫺ oder verzeichnen. Dabei ist zunächst zwischen ei-
der Vermittlung kommunikativer Fähigkei- nem weiten und einem engen Phänomenver-
ten Priorität einzuräumen. Pragmatik als ständnis zu differenzieren. Im weiten Sinne
Handlungstheorie von Sprache rekonstruiert wird mit Lernen die Ausbildung all jener Tä-
demgegenüber stets die Form und die Funk- tigkeiten erfasst, die nicht zur biologischen
tion gemeinsam sowie systematisch den men- Ausstattung des Menschen in der Weise gehö-
talen Bereich der beiden Interaktanten. Das ren, dass sie automatisch mit der Geburt ak-
Lehren und Lernen des Deutschen als tivierbar bzw. entwickelbar sind. Insofern hat
Fremdsprache wird dann nicht in unvermit- Lernen stets mit der Entfaltung von Fähig-
telte Lehr- und Lernziele und curriculare Sek- keiten, mehr noch mit Kenntnisgewinnung zu
tionen zerlegt, sondern das Ziel besteht darin, tun, um in der Wirklichkeit aktiv werden zu
in allen sprachlichen Dimensionen „fremd- können. In einem engeren Sinne wird Lernen
sprachlich handeln“ zu lernen. dem Erwerben kontrastiert (vgl. Kap. IX).
Mit Blick auf die Analyse des Erst- und Während ersteres die komplementäre Tätig-
Zweit-Spracherwerbs sind parallele Diver- keit zum Lehren, d. h. zum interaktiven Ver-
genzen zu verzeichnen (vgl. Kap. IX). Hier ist mitteln von Lerngegenständen durch einen
theoriegeschichtlich besonders von Interesse, Wissenden darstellt, ist letzteres rein von dem
wie ein anfänglich kritisierter Behaviorismus Individuum aus konzipiert, dessen Fähigkeit
in Form eines Neo-Behaviorismus reaktiviert erweitert wird, unter Absehung insbesondere
zu werden scheint, nämlich in der (gegenüber von institutioneller Lehre. Beide Termini prä-
LAD-basierten Anfängen avancierten) kogni- supponieren individuelle Aktanten in ihrer
tiven Sprach(erwerbs)theorie. Die Präsuppo- Vereinzelung. Demgegenüber erfasst ein drit-
sition eines Sprachsystems im Saussureschen ter Begriff, die Aneignung, die aktiv lernenden
Sinne ist vor allem in den meisten Behand- Aktanten als soziale Wesen und die Fähig-
lungen von Interferenz und Transfer unange- keitsgewinnung als auf historisch-gesellschaft-
tastet (vgl. Grießhaber 1990). lich geprägte und praktisch zu bewältigende
Die Grundkategorien in der semiotischen Wirklichkeit gerichtet, so dass auch das Ange-
und handlungstheoretischen Linguistik sind eignete selbst gesellschaftliche Qualität hat. Ist
different. Im einen Fall wird das (sprachliche) die historisch-gesellschaftliche Qualität des
Zeichen als Basiselement des Sprachsystems Denkens und Handelns von Menschen ⫺ im
betrachtet, im anderen Fall das Handeln, Unterschied zum Tier (vgl. die phylogeneti-
woraus das Zeichen ⫺ als zweckmäßiges Mit- sche Ableitung bei A. N. Leontjew 1973) ⫺
tel ⫺ systematisch abgeleitet werden kann. In erst einmal anerkannt, bedarf es keiner diesbe-
der durch Bühler (1934) für Deixeis angesto- züglich emphatischen Kategorisierung mehr.
ßenen Erkenntnis, dass bereits einzelne Le- Auch die Gegenüberstellung von Erwerben
xeme und sogar Morpheme (z. B. Temporal- und Lernen oder, vom Verlauf und dessen
morpheme) dem Vollzug von verbalen Hand- Phänographie her gefasst, zwischen „un-
lungen dienen, und nicht erst ganze Äußerun- gesteuertem“/„natürlichem“ und „gesteuer-
gen, erweist sich die semiotische Inhalts- tem“/„schulichem“ Fremdspracherwerb (vgl.
Frage nach dem Relat (Referenzobjekt) eines Art. 67) erweist sich als inadäquat, sobald all-
Zeichens als starre Dingfestmachung und gemein akzeptiert ist, dass sich Spracherwerb
stattdessen die Rekonstruktion mentaler Pro- generell im Wege der Interaktion vollzieht
zeduren von Sprecher und Hörer, die mittels (vgl. Art. 81). Curriculare Geplantheit und
dieser Ausdrücke vollzogen werden, als erfor- Methodik der Vermittlung beim schulischen
derlich. Die Instruktionssemantik Weinrichs Lernen wären dann reflektierte Verfahren, die
kann als Vorstufe einer handlungstheoreti- an Kenntnisse über das menschliche Lernen
schen Verflüssigung betrachtet werden. All produktiv anzuknüpfen haben ⫺ freilich unter
dies hat erhebliche Konsequenzen für die Be- den Bedingungen institutioneller Lehre (s.
deutungsanalyse und Bedeutungsvermittlung 2.3.).
64. Theorie und Empirie 641

Die gängigen Lerntheorien sind zwischen aktional (etwa durch das Vormachen einer
den Extremen behavioristischer und kogniti- Handlung) geschehen. Ein derartiger Lehr-
ver Konzeptionen angesiedelt. Kaum voran- Lern-Diskurs basiert, wie Ehlich (1981) ent-
getrieben werden die Forschungen, die auf faltet, mithin auf Freiwilligkeit und gegensei-
den entwicklungspsychologischen Grundla- tiger Anerkennung der Aktanten ⫺ beides
gen von Vygotskij in der sowjetischen Lern- verliert sich systematisch im institutionellen
theorie durchgeführt wurden (Galperin/ Unterrichtsdiskurs. Die außerinstitutionellen
Leontjew 1972; genauer 79). Die Kritische Handlungsformen des Wissenstransfers wer-
Psychologie (Holzkamp 1983) und die lingui- den modifiziert, ja zuweilen zerbrochen. Eh-
stische Tätigkeits- und Handlungstheorie ha- lich/Rehbein (1986) analysieren dies exempla-
ben daran angeknüpft (Geier u. a. 1974; Reh- risch für die Handlungsmuster Lehrerfrage
bein 1977), sind jedoch ⫺ nicht zuletzt in oder Regiefrage durch den Lehrer, Lehrer-
Folge veränderter politischer Bedingungen ⫺ vortrag (mit verteilten Rollen), Aufgabenstel-
für fremdsprachendidaktische Fragen wenig len/-lösen, Rätselraten in der Schule und Be-
rezipiert worden. Lediglich der Sprach- und gründen. Institution kann dann nicht länger
Entwicklungspsychologe Bruner (z. B. 1970) rein deskriptiv konzipiert werden (so in der
und der Lernpsychologe van Parreren (1966) avancierten ethnomethodologischen Konver-
haben eine etwas breitere Rezeption erfahren, sationsanalyse; fremdsprachdidaktisch bezo-
wenngleich kaum bezogen auf ihre unter- gen Bausch u. a. 1989), sondern wird als ge-
richtstheoretischen Überlegungen (Bruner sellschaftlicher Apparat erkennbar (wissen-
1965; van Parreren 1966). schaftshistorisch Ehlich/Rehbein 1979, theo-
retisch Koerfer 1994). Die Institution Schule
2.3. Institutionelles ,Lehren und Lernen‘ (ebenso wie die Institution Hochschule; z. B.
Der Begriff des Lehrens und Lernens kann, bei Boueke u. a. 1983) weist in unseren entwik-
genauerer Betrachtung, nicht unabhängig von kelten Gesellschaften die Qualität einer ver-
einem Institutionsbegriff diskutiert werden. sprachlichten Institution auf (vgl. Lauerbach
Häufig wird jedoch selbstverständlich davon 1989); Lehren und Lernen geschehen also we-
ausgegangen, dass die Tradierung gesell- sentlich durch sprachliche Handlungen ⫺ ein
schaftlichen Wissens von einem Wissenden an Umstand, der im Fremdsprachenunterricht
einen Nicht-Wissenden im Rahmen von Bil- zu einer Verschärfung des Vermittlungspro-
dungseinrichtungen erfolgt, typischerweise in blems führt.
Schulen. Insofern gilt dem ⫺ alltäglichen wie Die Grundlagenforschung zum sprachli-
wissenschaftlichen ⫺ common sense schuli- chen Handeln im Unterricht ist seit Beginn
sches bzw. unterrichtliches Lehren und Lernen der siebziger Jahre in den USA wie in Europa
als Lehren und Lernen par excellence. Dabei intensiv vorangetrieben worden (zu Ziel und
wird verkannt, dass dies ein historisch beson- Leistungsfähigkeit der innovativen Analyse-
derer, aus dem außerschulischen Lehr-Lern- verfahren vgl. Ehlich/Rehbein 1976, zum
Zusammenhang abgeleiteter Fall ist, welcher Forschungsstand nach dem ersten Dezen-
als solcher viele zum (Fremdsprachen-)Unter- nium Redder 1983). Dennoch scheint es, als
richt konstatierten Probleme systematisch wenn bezogen auf den Fremdsprachenunter-
zeitigt. richt eine Repetition der Forschungsentwick-
Ganze Phasen der Sozialisation vor und lung verzeichnet werden müsse ⫺ abgesehen
parallel zur Schule sind durch das Verhältnis von der vermittelnden Analyse durch Lör-
von Lehren und Lernen ausgezeichnet, und scher (1983). So setzt der ausführliche Über-
immer wieder sind in alltägliche Handlungs- blick von Henrici (1990) allein bei den Analy-
zusammenhänge Lehr-Lern-Sequenzen einge- sen zum fremdsprachlichen Unterrichtsdis-
lagert (z. B. in Sprachkontaktsituationen, kurs an, insbesondere bei den kanadischen
Dausendschön-Gay 1987). Gleichwohl beste- Studien von Chaudron (z. B. 1988), die sich
hen qualitative Unterschiede. Lehren und auf die Diskussion von ESL beziehen, und
Lernen außerhalb von Ausbildungsinstitutio- fügt die seitens der Englisch- und Franzö-
nen ist dadurch gekennzeichnet, dass der Ler- sischdidaktik sowie der Sprachlehrforschung
nende in einem bestimmten Handlungszu- in Europa unternommenen Forschungen er-
sammenhang eine Neugierde, ein Wissensbe- gänzend hinzu. Er diskutiert die unterschied-
dürfnis ausbildet und sich deshalb einem als lichen theoretisch-methodischen Konzeptio-
Wissenden anerkannten Interaktanten anver- nen, insbesondere ,Interaktionsanalyse‘ und
traut, so dass dieser seine Wissenslücke ,Diskursanalyse‘ ⫺ letzteres im Sinne einer
schließen kann. Dies mag verbal, aber auch deutschen Übersetzung der aus der Ethno-
642 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

graphie des Sprechens abgeleiteten und termi- die Sprachlehrforschung etablieren konnten
nologisch an Harris’ Distributionalismus an- (vgl. Kasper 1995). Die integrale Anlage der
knüpfenden amerikanischen discourse analy- funktional-pragmatischen Kommunikations-
sis (in diesem Sinne ist auch sein programma- analyse koppelt hingegen Interaktion ⫺ als
tischer Titel 1995a zu verstehen). wesentliche Erscheinungsweise menschlicher
Die Gemeinsamkeit der dort angesproche- Handlungen ⫺ nicht vom gesellschaftlichen
nen Theorien besteht darin, dass der Gegen- Begriff der Arbeit ab und gesteht insofern
stand wesentlich in seinen Erscheinungsfor- dem gegenüber Interaktion spezifischeren Be-
men ausgemacht wird, insbesondere also in griff der Kommunikation nicht eine soziale
der sprachlichen Oberfläche. Die Kategorie Fundierungskraft zu, wie Habermas ⫺ dem
der Interaktion (vgl. House 1989) soll demge- das Plädoyer für „kommunikative Kompe-
mäß gegenüber sprecher- und hörerindiffe- tenz“ als Lernziel zu verdanken ist ⫺ dies
renten Sprachtheorien (Strukturalismus, aber modelliert (Ehlich 1991); vielmehr wird, wie
auch Searles Sprechakttheorie) seit Goffman Ehlich im Überblick ausführt, gerade der sy-
und mit Hymes emphatisch den Umstand stematische Zusammenhang rekonstruiert,
hervorheben, dass sprachliche Kommunika- wird die Kategorie des ,Handlungsmusters‘
tion sich im Wechsel zwischen mehr als einem ⫺ im Unterschied zum oberflächenbezoge-
individuellen Aktanten realisiert. So wird der nen ,Handlungsschema‘ (neuerdings ebenfalls
Fokus insbesondere auf ein Phänomen ge- ,-muster‘) bei Kallmeyer u. a. ⫺ als histo-
richtet, welches den zentralen Gegenstand risch-gesellschaftlich bewährte Verknüpfung
der CA (Conversation Analysis) ausmacht, von Handlungswegen zur Befriedigung repe-
auf den ,turn‘ (Redebeitrag im Wechsel zwi- titiver Bedürfnisse in repetitiven Situationen
schen S und H), sowie auf lokal und indivi- gefasst, wobei die innere Struktur von Hand-
duell konstituierte Beeinflussungen des Ab- lungsmustern durch Zwecke bestimmt ist. Sy-
laufs der Interaktion. Beobachtbar und inso- stematisch und insofern sprachpsychologisch
fern im Rahmen der Theorie beschreibbar sind zudem mentale Tätigkeiten (wie Ein-
werden Konfigurationen von Abfolgen (se- schätzungen, Wissenskonsultierungen, Ent-
quences), die sich gegebenenfalls über mehr scheidungen und Bewertungen) in die Struk-
als einen turn-Wechsel (pair-Struktur) er- turanalyse der Muster einbezogen. Im Laufe
strecken, also eine Dreischrittigkeit (Mehan) der Sozialisation eignen sich die Gesell-
oder größere „Makro“-Struktur aufweisen, schaftsmitglieder ein Wissen darum („Mu-
was in der britischen discourse analysis nach sterwissen“) an ⫺ auch um schulspezifische
Möglichkeit in Konstituenzbeziehungen ge- Muster zur Bewältigung des Unterrichtsdis-
fasst wird (bes. Sinclair/Coulthard; vgl. Ed- kurses, was in kontrastiven Analysen zu be-
mondson 1981). Gemeinsam ist den ange- rücksichtigen wäre und gewiss einen Teil der
sprochenen Theorien des weiteren eine sog. „Lerngewohnheiten“ ausmacht.
grundsätzlich individualistische statt gesell- An zwei DaF-Unterrichtstranskripten dis-
schaftliche Basierung des menschlichen Han- kutiert Rodi (1994) exemplarisch die Konse-
delns und eine dezidierte (CA, ethnography quenzen, die sich für die Lernprozesse der
of speaking) oder weitgehende (deutsche Fremdsprachlerner ergeben, wenn die Lehrer
ethnomethodologische Konversationsanalyse von der Lehrerfrage im Unterschied zur Auf-
von Gülich, Kallmeyer, Kotschi, Quasthoff) gabenstellung Gebrauch machen. Die Diffe-
Ausblendung des mentalen Bereichs. Die Ge- renz ist in den mentalen Positionen der bei-
sellschaftlichkeit der Individuen wird durch den Handlungsmuster festzumachen. Zu-
Rollenkonzepte (Goffman) und den Bezug gleich wird deutlich, dass nicht jede Lehrer-
auf Konventionen, Normen, Maximen (Le- äußerung, die eine fragende Form aufweist,
wis, Grice) oder ⫺ zur Sicherung des gegen- illokutiv als L-Frage zu bestimmen ist. Die
seitigen Verstehens ⫺ durch Kontextualisie- Problematik der illokutiven Qualifizierung
rungshinweise (Gumperz) einzuholen ver- und Identifikation von Mustern ist seit den
sucht. Das systematisch ausgeblendete Men- sprechakttaxonomischen Anfängen der Ana-
tale wird akzidentiell eingeholt durch Kon- lyse von Unterrichtsdiskurs bekannt, aller-
zepte wie das Erfahrungswissen um Stan- dings methodisch ⫺ auch mit Blick auf die
dardformen oder Routinen sowie das „kogni- Kodierentscheidungen (cf. Rehbein/Maze-
tive“ Konzept der ,Strategie‘, das in Folge des land 1991) ⫺ noch wenig umgesetzt. In eini-
Fokusschwenks auf die Lernertätigkeiten und gen Projekten zum Fremdsprachenunterricht
deren prozessuale Entwicklung insbesondere (vgl. Henrici 1988; Hüllen 1990) versucht
Kasper (1981) und Færch/Kasper (1983) für man, im Wege detaillierter paraphrasierender
64. Theorie und Empirie 643

Ablaufbeschreibungen dieses Problem zu be- wird, der zwar sprachliche Kommunikation


arbeiten. Besondere Aufmerksamkeit gilt be- als Methode einsetzt, jedoch eine traditionelle
obachtbaren Korrekturen oder Reparaturen Gegenstandsvermittlung betreibt. Hinsicht-
(Henrici/Herlemann 1986; Rost 1989). Im lich des Unterrichtsdiskurses ist Kommuni-
Unterschied zu den handlungstheoretischen kativität nicht selten darauf zurückgefallen,
Analysen von Rehbein (1984), in denen de- dass den Lernern Anlässe und Möglichkeiten
tailliert die verschiedenen Reparaturformen, zur turn-Übernahme eingeräumt werden ⫺
diskursiven Plazierungen und mentalen Kon- undifferenziert nach dem sprachlichen Hand-
sequenzen für die Äußerungs-, propositionale lungsmuster und den ihm inhärenten kogniti-
und illokutive Planung fremdsprachlicher ven Möglichkeiten und Grenzen. Man
Äußerungen bei den Lernern aufgezeigt wer- könnte in dieser Zurücknahme eine Parallele
den, geht es bei diesen konversationsanalyti- zur Marginalisierung der Pragmatik in der
schen Bestimmungen stärker um die Modifi- Sprachwissenschaft sehen, noch bevor die
kationen im Ablauf des Unterrichtsdiskurses. Leistungsfähigkeit reflektiert entfaltet wer-
Ferner liegen eine Reihe von Untersuchungen den konnte. Die häufigsten kommunikativen
zu (Bedeutungs-)Erklärungen vor (Henrici/ Methoden sind Rollenspiel, (Theater-)Spiel
Herlemann 1987; Köster 1994). Sie wären vor (Wagner 1983) und ⫺ zur eigenen Unter-
dem Hintergrund der Einsichten in institu- richtsform verselbständigt ⫺ Konversation
tionsspezifische Modifikationen des Begrün- (Rost 1989). Im „Konversationsunterricht“
dens anstelle eines Erklärens (Ehlich/Rehbein wird jedoch nicht „Konversation“ getrieben
1986) sowie des Erläuterns (Bührig 1996) ⫺ dies steht nämlich in einem fundamentalen
weitergehend darauf zu befragen, inwieweit Widerspruch zur institutionellen Situation,
der Wissenstransfer im Unterrichtsdiskurs die durch die Freigabe des Propositionalen
die für Erklärungen notwendige Gesamt- keineswegs außer Kraft gesetzt ist, wie sich
struktur des lernerseitigen Wissens wie des bis in die sprachlichen Formulierungen hin-
Wissensgegenstandes analog zum außerschu- ein zeigen ließe (vgl. zum Modalverbge-
lischen Lehr-Lern-Diskurs systematisch ein- brauch, bes. in einer „Verfügungsstunde“,
beziehen kann oder nicht. Vor diesem Hinter- Redder 1984). Eine detailliertere Kenntnis
grund wären auch einige didaktische ⫺ nicht über die Differenzen und Differenzierungen
methodische ⫺ Fragen nach der Umsetzung der sprachlichen Handlungen bis zu den Be-
theoretischer, linguistischer Kenntnisse über wegungsformen der konzeptionellen Wider-
die fremde Sprache in die Praxis des Unter- sprüche steht noch aus; erst sie könnte aber
richtsdiskurses anzugehen. Bolte (1994) wid- die vermittlungsmethodischen Kapazitäten
met sich am Beispiel von Grammatikunter- und Grenzen erschließen. Für das Rollenspiel
richt den traditionell eingeschliffenen Verfah- haben die exemplarischen, am empirischen
rensweisen der Wissensvermittlung (z. B. Re- Vergleich mit der Realität von Bewerbungs-
ferenz auf Paradigmen), die für ein an Wissen gesprächen gewonnenen Analysen Grießha-
und Bedürfnis der Schüler adaptiertes diskur- bers (1987) didaktische und daraus folgende
sives Vorgehen blind machen. Sprachliches methodische Einsichten ermöglicht.
Handeln und mit ihm verknüpftes (fremd-
sprachliches) Lernen bzw. Anwenden von
Wissen „unterhalb“ des offiziellen Unter- 3. Empirie
richtsdiskurses diskutieren Götz (1994) und
Knapp-Potthoff (1994) ⫺ man könnte von ei- Für Wissenschaften zur Vermittlung einer
nem Implement des Lehr-Lern-Diskurses im Fremdsprache ist eine enge Wechselbezie-
Unterrichtsdiskurs sprechen. hung zwischen Praxis und Theorie charakte-
Sprache bzw. sprachlichem Handeln als ristisch. Daraus leitet sich wissenschaftsme-
Gegenstand und als Vermittlungsmedium im thodisch ein hoher Stellenwert empirischer
Unterrichtsdiskurs steht schließlich das Forschung ab (Bausch u. a. 1984; Hart u. a.
sprachliche Handeln als Methode zur Seite. 1987). Der Empiriebegriff kann nicht unab-
Die anfänglich euphorische Erkenntnis von hängig vom Theoriebegriff betrachtet werden
Sprache als einem Mittel des kommunikati- (s. 1.). Positivistische Theorien sind in ihren
ven Handelns wurde in ihrem Innovationspo- Grundverfahren deduktiv angelegt, so dass
tential wissenschaftsgeschichtlich über diese empirische Bezüge allenfalls illustrierenden
drei Dimensionen hin verschoben, so dass Charakter ⫺ Beispielcharakter im Sinne des
heute unter einem „kommunikativen Unter- Belegs, des Vor-Augen-Führens ⫺ gewinnen.
richt“ im Wesentlichen ein solcher verstanden Die Dialoganalyse (Hundsnurscher 1986)
644 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

geht beispielsweise so vor. Dementsprechend die zahlreichen Diskussionen dazu und kon-
wird eine theoretische Explikationskraft statt zentriere mich auf experimentelle und Feld-
vermeintlich „bloßer Beschreibungsadäquat- Forschung.
heit“ integraler Theorien beansprucht (vgl.
zur Lehrerfrage dialoganalytisch Bak 1996). 3.1. Experimentelle Forschung
Gegenpol ist der positivistische Empirismus, Sowohl im lernpsychologischen und sprach-
der einzig den beobachtbaren Daten („data“) erwerbsanalytischen Bereich als auch in der
wirkliche Dignität zugesteht und ⫺ formallo- Unterrichtsforschung (z. B. Chaudron 1988)
gisch in Protokollsätzen ⫺ der minutiösen werden gezielt Situationen hergestellt, um be-
Beschreibung oder dem close reading Er- stimmte Elemente des Gegenstandes bzw.
kenntniskraft beimisst. Die Ethnographie des der Gegenstandshandhabung durch die Ver-
Sprechens und die conversation analysis bzw. suchspersonen zu ermitteln. Die experimen-
Konversationsanalyse verfahren derart (zum tellen Settings differieren in Reflektiertheit
Verdacht von deren „geheimem Positivis- und Komplexion erheblich. Dennoch kann
mus“ s. Flader/von Trotha 1991). Die reflek- man allgemein sagen, dass die Zeit simpler
tierte Empirie, derer sich eine dialektisch-her- Labor-Empirie vorbei ist. Genauer: experi-
meneutisch verfahrende Theorie methodisch mentelle Prüfverfahren gewinnen in der
bedient, soll die Grundlage für wissenschaft- Fremdspracherwerbsanalyse zunehmend eine
liche Erkenntnisse bilden, indem diese aus ergänzende statt einer einzig grundlegenden
dem empirischen Material heraus gewonnen Funktion (vgl. Burmeister 1979). Begann
werden. Der Schritt vom Besonderen zum etwa Kasper (1981) noch mit künstlichen Set-
Allgemeinen wird im Wege der begrifflichen tings, werden heute zunächst Feldforschun-
Rekonstruktion vollzogen (s. 1.). gen bevorzugt, ehe dann wiederum an tradi-
In jedem Falle ist freilich zwischen For- tionell psychologische Verfahren wie die In-
schung und Darstellung zu unterscheiden. trospektion (Færch/Kasper 1987) oder das
Eine mit empirischen Beispielen reich ausge- laute Denken (Herrmann 1994) angeknüpft
stattete Darstellung ist nicht notwendig Aus- werden kann. Das Spektrum raffinierter Ex-
perimente reicht von stärker diskursanaly-
druck einer sorgfältigen analytischen Aus-
tisch reflektierten (z. B. Rehbein 1987) bis hin
wertung des Konkreten, wie umgekehrt eine
zu modernsten PC-gestützten Verfahren (Le-
empiriearme Darstellung sehr wohl das Er-
genhausen/Wolff 1990).
gebnis intensiver empirischer Analyse sein
Nicht experimentell, sondern eher im
mag. Die jeweilige Argumentation ist mithin
Übergang zur Feldforschung sind traditio-
genauer zu beachten. Zudem sind zu Zwe-
nelle Fragebogenerhebungen, Diskurs- oder
cken der Darstellung zuweilen die Abfolge Texterhebungen wie z. B. ⫺ leider häufig zu-
der Erkenntnisgewinnung am Konkreten so- vor oder in der Darstellung mehr oder min-
wie die Ausführlichkeit und Form der Zitie- der redigierte ⫺ Schüleraufsätze (Pommerin
rung empirischer Daten zu modifizieren. 1982) oder Bildverbalisierungen (Redder
Stets muss jedoch für die RezipientInnen eine 1985; Oomen-Welke 1987) und mehr oder
Überprüfung im Nachvollzug der Argumen- minder freie („narrative“) Interviews angesie-
tation gewährleistet sein, d. h. die Daten müs- delt (Projekt HDP 1977). Das daran anknüp-
sen vollständig und unredigiert zugänglich fende langjährige europäische Forschungs-
sein ⫺ ein Erfordernis, dem insbesondere bei projekt nutzte experimentelle Settings, Inter-
eher illustrierend verfahrender Empirie noch views und Feldforschungsmethoden parallel
keineswegs selbstverständlich nachgekom- (Perdue 1993).
men wird. Pro Fragestellung different sind Die Probleme der angeführten Verfahren
die Orte, an denen Empirie in die Analyse bestehen darin, dass die untersuchten Aktan-
eingeht ⫺ sowie schließlich die Art und Weise ten jeweils in eine Aufgabe-Lösungs-Konstel-
der empirischen Verfahren. Rückgebunden lation hineingestellt werden. Diese Hand-
sind sie alle an die Frage, wann eine empiri- lungsbedingungen mögen zwar mit solchen
sche Sättigung der theoretischen Aussagen schulischen fremdsprachlichen Handelns ver-
erreicht, wann also Generalisierbarkeit ge- gleichbar sein, nicht jedoch mit außerschu-
währleistet ist. Die Probleme der Empirie lischem Handeln. Zudem ist dem Experiment
stellen sich für die Fremdspracherwerbsfor- die Gefahr, dass lediglich eine Lösung abge-
schung nicht spezifisch, sondern für alle gei- liefert wird ⫺ und also die Lösungsbewer-
steswissenschaftlichen Disziplinen in ver- tung für den betreffenden Aktanten gleich-
gleichbarer Weise. Ich verweise deshalb auf gültig ist ⫺, systematisch inhärent, denn eher
64. Theorie und Empirie 645

zufällig und vereinzelt erfährt die „Versuchs- und Lörscher. Transkriptionen erfordern ei-
person“ die Auswertung des Experiments; die nen hohen Zeitaufwand, der neben Schwierig-
direkte Lösungsbewertung muss ihm gar keiten der Erschließung des Feldes zuweilen zu
meist vorenthalten werden. Dieser Umstand methodischen Kurzschlussversuchen verleitet.
spricht für einen behutsamen und sparsamen Für die Analyse des fremdsprachlichen
Umgang mit solchen Verfahren. Handelns in Lehr-Lern-Diskursen, Unter-
richtsdiskursen und sonstigen Diskursarten
3.2. Feldforschung ohne Lehr-Lern-Qualität dürfte sich eine der-
Die klassische Feldforschung besteht in teil- artige Empirie als unverzichtbar erweisen. Sie
nehmender Beobachtung. Das sog. Beobach- kann um einige weitere Verfahren, insbeson-
terparadox ist als resultierendes Problem viel- dere die Triangulation (Konfrontation der
diskutiert, faktisch jedoch selten derart aus- Beteiligten mit der Aufnahme bzw. dem
geprägt, dass sich empirische Feldforschung Transkript) vertieft werden. Darüber hinaus
⫺ es sei denn aus ethischen Gründen ⫺ ver- wird im Rahmen der Authentizitätsdiskus-
bieten oder selbst konterkarieren würde. sion auch für die praktische Rückkopplung
Häufiger besteht das Verfahren konkret eher in Form von Lehrmaterialien zunehmend
in dem einer beobachtenden Teilnahme; so eine empirisch fundierte Erstellung von Bei-
etwa zu Beginn des Heidelberger Forschungs- spielen für Mündlichkeit gefordert. Erste
projekts (1975) ⫺ leider ohne das hochinter- Nutzungen von Transkripten erfolgten z. B.
essante Material umfassend auszuwerten. im zweisprachigen Lehrwerk von Aksoy u. a.
Mit der Entwicklung technischer Aufzeich- (1992). Für die didaktische DaF-Ausbildung
nungsmedien wird das begleitende oder aus haben Henrici/Riemer (19962) auf Transkrip-
dem Gedächtnis erstellte Protokoll zuneh- tionen zurückgegriffen; Wiesmann (1999)
mend durch die Fixierung des authentischen analysiert Hochschulkommunikation und
Handelns auf Datenträgern abgelöst. So be- zieht Konsequenzen für ausländische Stu-
steht der Standard heutiger Feldforschung zu- dienbewerber. Zwar bewusst erstelltes, aber
meist in audio-visueller Aufzeichnung ⫺ ver- doch teilweise von authentischen Aktanten
deckt, offen oder nachträglich aufgedeckt ⫺ realisiertes Handeln im Umfeld von Restau-
und anschließender Transkription (Verschrif- rant und Hotel nutzt Braun (1993). Ein inter-
tung) der verbalen, nonverbalen und aktiona- kulturelles Training an Hand eines teilver-
len Handlungen. Dies gilt insgesamt für mo- deckt aufgenommenen Materials aus dem
derne Forschungen zum (fremd-)sprachlichen Auslandsamt schlagen Liedke u. a. (1999)
Handeln im Unterricht. Die Differenzen be- vor. Dies seien einige Beispiele, an denen
stehen in den Transkriptionsverfahren. Spe- auch der Weg von einer empirisch fundierten
ziell für Zwecke der Mehrpersonenkommuni- Theorie zurück zu einer empirienahen und re-
kation im Unterricht wurde Mitte der siebzi- flektierten Vermittlungs-Praxis verdeutlicht
ger Jahre das Verfahren der „halbinterpretati- werden kann.
ven Arbeitstranskription (HIAT)“ entwickelt
und für die Notation nonverbaler und para-
verbaler Informationen ausgebaut sowie für 4. Literatur in Auswahl
DOS- und Macintosh-Systeme technisiert Aksoy, Aydan u. a. (1992): Lehrbuch Deutsch für
(Ehlich 1993). Die papierene Form von z. B. Türken. Eine praktische Grammatik in zwei Spra-
Unterrichts-Transkripten (Redder 1982) kann chen. Hamburg.
heute durch CDs wieder in Originalton zu Ge- Bak, Yong-Ik (1996): Das Frage-Antwort-Sequenz-
hör gebracht werden (Redder/Ehlich 1994; muster in Unterrichtsgesprächen (Deutsch-Korea-
Wagener 1994 zum Dokumentationsstand nisch). Tübingen.
insgesamt). Die andere Transkriptionstradi- Bausch, K.-Richard u. a. (Hg.) (1984): Empirie und
tion rührt vor allem von der conversation ana- Fremdsprachenunterricht. Tübingen.
lysis und ihren meist zwei Aktanten umfassen-
Bolte, Henning (1994): Grammatikinstruktion im
den Interaktionen her und wird auf Bedürf- (kommunikativen) Fremdsprachenunterricht. Ut-
nisse der Mehrpersonenkommunikation hin recht.
modifiziert (s. die Diskussion in Edwards/
Boueke, Dietrich; Gert Henrici; Frieder Schülein
Lampert 1993). Auf dieser Grundlage sind die (1983): Handlungsfunktionen und Diskursgliede-
Transkripte zum Lernen einer Fremdsprache rung in selbständig arbeitenden studentischen
bzw. des Deutschen als Fremdsprache in den Lerngruppen. In: Konrad Ehlich; Jochen Rehbein
Bielefelder Forschungen erstellt (z. B. Henrici (Hg.): Kommunikation in Schule und Hochschule.
1995a). Eine Zwischenform wählen Hüllen Tübingen, 137⫺155.
646 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

Braun, Christine (1993): „Guten Tag! Sie wünschen terricht „Deutsch als Fremdsprache“. In: Angelika
bitte?“ Szenen aus Hotellerie, Gastronomie und Tou- Redder (Hg.): Diskursanalysen in praktischer Ab-
rismus. Arbeitsbuch ⫹ Videofilm. München. sicht. ⫽ OBST 49, 39⫺62.
Bruner, Jerome S. (1965): Toward a Theory of In- Grießhaber, Wilhelm (1987): Authentisches und zi-
struction. Cambridge/Mass. (dtsch. 1974, Düssel- tierendes Handeln. Bd. II: Rollenspiele im Sprach-
dorf). unterricht. Tübingen.
⫺ (1970): Der Prozeß der Erziehung. Düsseldorf. ⫺ (1990): Transfer, diskursanalytisch betrachtet.
Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Jena (2. Aufl. In: LB 129, 386⫺414.
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648 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

65. Deutsch als Tertiärsprache

1. Definition und Begründung des den Platz der L3 inne. Selbst in Ländern mit
Forschungsgegenstandes Englisch als L1 nimmt Deutsch ⫺ wenn eine
2. Zur Entwicklungsgeschichte des L3 überhaupt curricular vorgesehen ist ⫺
Forschungsgegenstandes meist den Rang der L3 ein, z. B. nach Spa-
3. Forschungsmethodische Fragen nisch (seit dem NAFTA-Zusammenschluss)
4. Unterrichtsdidaktische und -methodische
als immer häufiger gewählte L2 in den USA,
Fragen
5. Ausblick oder nach Französisch als L2 im englisch-
6. Literatur in Auswahl sprachigen Kanada oder in Großbritannien.
In den nordafrikanischen Ländern beispiels-
weise wird Deutsch als L3 häufig nach Fran-
1. Definition und Begründung des zösisch als L2 gelernt.
Forschungsgegenstandes Aus lerntheoretischer, kognitionspsycholo-
gischer und konstruktivistischer Sicht macht
Bei der Definition von Deutsch als Tertiär- es Sinn, deutlich zwischen dem Lernen einer
sprache gehen wir von folgenden Aspekten L2 und dem Lernen einer L3 oder L3 ⫹ n zu
aus: Deutsch ist bereits die dritte oder weitere unterscheiden. Wenn Lernende beginnen,
Sprache, die jemand spricht; jemand hat eine L2 zu lernen, müssen sie als völlig uner-
Deutsch strukturiert gelernt und nicht wie fahren im Hinblick auf das Fremdsprachen-
eine Muttersprache oder Zweitsprache er- lernen gelten. Bei Beginn des L3-Lernens
worben. Da die Aneignungstypen „lernen“ können sie jedoch als kompetentere Fremd-
und „erwerben“ sich durch zahlreiche externe sprachenlernende gelten, weil sie auf ihre Er-
Faktoren voneinander unterscheiden (z. B. fahrungen mit dem L2-Lernen zurückgreifen
auf wenige Stunden beschränkter Unterricht können. Sie sind älter, verfügen über mehr
mit Lehrwerken, expliziten Grammatikregeln Lebenserfahrung und Intellektualität, sie
und eher gestellten Kommunikationssituatio- kennen wahrscheinlich inzwischen ihren
nen vs. aneignen in einer Immersions(ähn- Lerntyp und nähern sich in dieser Weise dem
lichen)-Situation im Zielsprachenland), sollen neuen Gegenstand an. Möglicherweise haben
sie hier getrennt und als zwei eigenständige sie bereits Fremdsprachenlern- sowie Kom-
Unterformen von Sprachaneignung gesehen munikationsstrategien und subjektive Theo-
werden (vgl. Art. 55 und 78). Die folgenden rien über das Sprachenlernen (vgl. Kallen-
Aussagen beziehen sich folglich ausschließ- bach 1996; Mißler 1999) entwickelt, die ih-
lich auf den Aneignungstyp „lernen“. nen, besonders zu Beginn des Lernprozesses,
Als Erstsprache wird hier die Mutter- das Lernen erleichtern. L3-Lernende gehen
sprache (⫽ L1) verstanden. L2 ist die erste selbstsicherer als L2-Lernende an einen Text
Fremdsprache, die jemand lernt. Dies erfolgt heran. Sie schauen gezielt nach vertrauten
meist im Fremdsprachenunterricht in der Re- Strukturen und Worten, suchen nach Kogna-
ten, raten bei Neuem und Unbekanntem und
gelschule, und der Erstspracherwerb kann bei
versuchen, nicht jedes Detail zu verstehen,
Beginn des Fremdsprachenunterrichts als
sondern die Essenz, die Hauptaussagen des
weitgehend abgeschlossen gelten. Die Tertiär-
Textes zu erfassen. Sie kennen aber auch das
sprache ist mindestens die dritte Sprache,
Gefühl, etwas sagen zu wollen, ohne zu dem
d. h. die zweite Fremdsprache, die jemand Zeitpunkt über die sprachlichen Mittel dafür
lernt. Zu diesem Zeitpunkt ist die Person zu verfügen. Dank ihrer vorherigen Fremd-
älter und erfahrener als zum Zeitpunkt des sprachenlernerfahrung haben sie aber wahr-
Erlernens der ersten Fremdsprache. scheinlich inzwischen gelernt, mit dieser vor-
Deutsch als Fremdsprache ist eine typische übergehenden „Unzulänglichkeit“ souverä-
Tertiärsprache, da sie selten als L2 und oft ner und selbstsicherer umzugehen. So werden
oder häufig als L3 oder Lx (x ⱖ 3) gelernt mögliche Schwierigkeiten im Lernprozess
wird. D. h. die meisten Lernenden beginnen (z. B. Ambiguitäten oder Überforderung)
mit Deutsch, nachdem sie bereits eine andere antizipiert oder zumindest wiedererkannt
Fremdsprache gelernt haben. In vielen Fällen und von daher auch gelassener ertragen. Ins-
ist dies Englisch. Auch in Ländern, in denen gesamt ist ihr Lernen durch stärkere Syste-
bisher häufiger Deutsch als erste Fremdspra- matizität, Analysefähigkeit und dem Wunsch
che unterrichtet wurde, wie z. B. Ungarn, nach Bewusstmachung geprägt.
übernimmt seit Beginn der neunziger Jahre Der Schritt, eine weitere, d. h. dritte oder
Englisch die Rolle der L2 und hat Deutsch vierte usw. Fremdsprache zu lernen, ist nicht
65. Deutsch als Tertiärsprache 649

mehr so gravierend wie der von der ersten zur einer anderen Fremdsprache und zweitens
zweiten Fremdsprache (vgl. Hufeisen 1998, durch spezifische Fremdsprachenlernerfah-
163f.). Man kann dies folgendermaßen veran- rungen und -strategien, die nicht deckungs-
schaulichen: gleich mit allgemeinen Lebens- und Lerner-
fahrungen und Lernstrategien sind.
Universalien
Wenn wir hingegen den Fall einer L4 an-
Lernumwelt
nehmen, so erweitert sich der eben hinzuge-
kommene Bereich nicht so fundamental wie
L1 zwischen L2 und L3:

Abb. 65.1: Erwerb einer L1. Universalien

Je nach Qualität und Quantität von Input Lernumwelt


wird eine L1 erworben.
Lebens- und Lernerfahrungen
Universalien und Lernstrategien

Lernumwelt L1

Lebens- und Lernerfahrungen Fremdsprachenlern-


und Lernstrategien erfahrungen und
-strategien
L1
Wissen um den
L2 eigenen Lerntyp

Abb. 65.2: Lernen einer L2. L2


L3
Das Individuum bringt allgemeine Lebens- L4
und Lernerfahrungen und Strategien in den
Lernprozeß ein. L1 interagiert ⫺ positiv oder Abb. 65.4: Lernen einer L4.
auch negativ ⫺ in individuell unterschiedli-
chem Ausmaß mit dem L2-Lernprozess. Mit der L2 wird folglich ein Grundstein für
die allgemeine Mehrsprachigkeit gelegt, und
Universalien dies hat Folgen für das Sprachenlernen und
Sprachenlehren. Auf Grund der genannten
Lernumwelt Unterschiede zwischen dem Lernen einer L2
und dem Lernen einer L3 lässt sich die Eta-
Lebens- und Lernerfahrungen blierung des Forschungsgegenstandes des
und Lernstrategien
Deutschen als Tertiärsprache (als einer spe-
L1
zialisierten Unterform des Deutschen als
Fremdsprache allgemein) in Abgrenzung zu
Fremdsprachenlern- Deutsch als Zweitsprache ableiten.
erfahrungen und Insgesamt ist festzustellen, dass Tertiär-
-strategien sprachenforschung hauptsächlich in Europa,
Nordafrika und einigen asiatischen Ländern
Wissen um den betrieben wird, sehr viel weniger jedoch in
eigenen Lerntyp Nordamerika oder Australien. Dies mag zum
einen damit zusammenhängen, daß dort
L2 die Tertiärsprachenproblematik systematisch
nicht so häufig auftritt, zum anderen aber
L3 auch mit dem dort stark vertretenen psycho-
Abb. 65.3: Lernen einer L3. linguistischen Ansatz, der Mehrsprachigkeit
als ein allgemeines Konzept sieht, in dessen
Die Einflussfaktoren beim Lernen einer L3 Rahmen z. B. die Besonderheiten des „Ler-
sind nicht nur komplexer geworden, sondern nens“ und „Erwerbens“ nur marginal be-
unterscheiden sich auch qualitativ deutlich trachtet werden und zwischen Zwei- und
vom L2-Lernen, erstens durch die Kenntnis Dreisprachigkeit nicht unterschieden wird.
650 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

2. Zur Entwicklungsgeschichte des Bieritz (1974, 1⫺4), Hufeisen (1991, 97⫺


Forschungsgegenstandes 130), Müller (1993, 119 und 121f.) und Schild
(1993, 350 und 253). Auf struktureller, lexem-
In der Spracherwerbsforschung wurden ur- semantischer und pragmatischer Ebene gilt
sprünglich und gelegentlich auch heute noch dies besonders für verwandte Sprachen. All-
L3-spezifische Fragen einfach der L2-For- gemeine Fremdsprachlernerfahrungen und
schung subsumiert, weil davon ausgegangen Lernstrategien lassen sich aber auch auf den
wurde, daß kein Unterschied zwischen dem Lernprozess einer nichtverwandten Sprache
Lernen einer L2 und dem Lernen einer L3 anwenden.
oder auch jeder weiteren Fremdsprache Es ging also nicht mehr in erster Linie um
besteht. So verbergen sich hinter etlichen L2- die Interferenz, sondern um den positiven
Studien tatsächlich eigentlich L3- bzw. Transfer und vor allem die Einbeziehung von
L3 ⫹ n-Studien, z. B. Köhler (1975, 21) oder Lernerfahrungen und Lernweisen im Allge-
Faerch/Kasper (1986, 211). Erst praktische meinen, z. B. Zapp (1979, 9) und Zapp
Probleme im Schulalltag, wie Interferenzer- (1983, 194), und von Fremdsprachenlerner-
scheinungen zwischen den verschiedenen fahrungen im Speziellen, die über die Spra-
Fremdsprachen, lenkten das Augenmerk auf chenkompetenz per se hinausweisen. Dem
das Phänomen, dass nicht nur die Mutter- Lateinischen war von bildungsbürgerlichem
sprache (L1) mit anderen Sprachen (Lx) in- Volksmund dieser positive Effekt, zumindest
teragiert. Auch verschiedene Fremdsprachen für das Erlernen romanischer Sprachen, aber
(Lx und Ly) interagieren miteinander ⫺ oft auch für das Erlernen sprachlicher Struktu-
sogar unabhängig von der L1. Es zeigte sich, ren, logischer Einsicht und allgemeiner Lern-
dass Lernende z. B. im Französischunterricht fähigkeit schon sehr viel länger nachgesagt
in Deutschland Fehler produzierten, die of- worden. Die wissenschaftlich fundierte Über-
fenbar auf den Einfluss des Englischen als er- tragung dieser Erkenntnis auf moderne
ster Fremdsprache zurückgingen, nicht aber Fremdsprachen erfolgte jedoch erst viel spä-
durch den Einfluß des Deutschen als L1 er- ter.
klärt werden konnten. Bis dahin hatte die L1 Der Forschungsgegenstand L3 beginnt sich
als die einzige Interferenzfehlerquelle gegol- zu etablieren, L3-spezifische Forschungspro-
ten. Die ersten Arbeiten zu dem Phänomen jekte werden eingerichtet, z. B. Bahr/Bausch/
L3 entstanden so als eine Warnung für den Kleppin u. a. (1996, 15⫺33), Dissertationen
Fremdsprachenunterricht, die beiden Fremd-
geschrieben, Tagungen, Konferenzen und
sprachen sorgfältig getrennt voneinander zu
Symposien abgehalten, um dem Phänomen
lehren, eine der ersten bereits 1937 (Braun
auf die Spur zu kommen, und zahlreicher wer-
1937, 121). Eine größere Anzahl von Arbeiten
dende Veröffentlichungen dokumentieren den
zur selben Thematik entstand in den siebziger
Fortgang der Entwicklung, z. B. Hufeisen
Jahren, als von lernpsychologischer Seite eine
strenge Trennung der Sprachen voneinander (1993c, 15) und Bausch (1995, 449f.) und Huf-
als wichtig angenommen wurde, z. B. Hombit- eisen/Lindemann (1998). Erst in jüngster Zeit
zer (1971, 21 und 34), de Vriendt (1972, 49), und recht zögerlich erweiterte sich der For-
Ernst (1975, 88 und 97) und Lübke (1977, 96 schungsgegenstand L3 auch auf die Ziel-
und 100). Man sah diese Interaktion zwischen sprache Deutsch, z. B. Stedje (1976, 15f.),
den Sprachen ausschließlich als Interferenz- Welge (1987, 193f. und 201f.), Bauer (1989)
quelle an und empfahl deshalb, jeglichen Spra- und Bausch/Heid (1990, 11⫺18: „Zu den Be-
chenkontakt zu vermeiden. sonderheiten des Lehrens und Lernens von
Erst in den späten achtziger und frühen Deutsch als zweiter Fremdsprache“, Thesen
neunziger Jahren entdeckte man, dass diese und Empfehlungen eines Expertenkolloqui-
Interaktion zwischen den Sprachen nicht al- ums des Goethe-Instituts). Angesichts der
lein Fehler produziert und zu Interferenzen zahlreichen möglichen Sprachenkonstellatio-
führt, sondern auch Chancen bieten kann für nen vor Deutsch als L3 wird es umfangreiche
den Fremdsprachenunterricht. Man erkannte, Forschungen erfordern, um den Gegenstand
dass Lernende vorhandene, vorher erlangte angemessen zu beschreiben. Die bislang am
Kenntnisse und Fertigkeiten aus der und über häufigsten untersuchte Sprachenreihenfolge
die L2 auf den Lernprozeß, die Perzeption, ist X als L1, Englisch als L2 und Deutsch als
die Rezeption und die Produktion der L3 L3, und nur sehr wenige Arbeiten beschäftigen
übertragen können, um sie auf verschiedenen sich bisher mit X als L1, Französisch als L2
Ebenen zu erleichtern, z. B. Abel (1971, 356), und Deutsch als L3.
65. Deutsch als Tertiärsprache 651

3. Forschungsmethodische Fragen dien mit qualitativen Auswertungszielen wäre


wünschenswert.
Die meisten Arbeiten zu den Gebieten L3 all- Augenscheinlich entwickeln sich die euro-
gemein und Deutsch als Tertiärsprache sind päische und die nordamerikanische For-
in erster Linie Fehleranalysen, z. B. Hufeisen schung auf diesem Gebiet immer stärker aus-
(1993b) oder Vogel (1992), ein Umstand, der einander (vgl. Hufeisen 2000b). Während sich
sich einerseits aus der Genese des For- in Deutschland und Europa allgemein ein
schungsgegenstandes ⫺ erhöhte Aufmerk- Trend zu stark lernerbezogenen Daten, die
samkeit den Fehlern im schulischen und uni- von den Lernenden selbst geliefert werden,
versitären Unterricht gegenüber, die aus den also z. B. Lautes Denken oder Introspektion,
vorher gelernten Fremdsprachen resultieren abzeichnet, lehnt die nordamerikanische For-
⫺ erklären lässt, zum anderen aus der Tatsa- schung diese Daten als zu unzuverlässig und
che, dass der Forschungsgegenstand über- nicht valide ab und arbeitet nach wie vor
haupt erst einmal abgesteckt werden muss. stärker mit psycholinguistisch angelegten Er-
Dabei sind Fehleranalysen der Untersu- hebungen, aus denen z. B. Lernstrategien
chungstyp, der am einfachsten und schnell- oder Erkenntnisse über das Sprachenlernen
sten durchzuführen ist. In den meisten Fällen allgemein abgeleitet und deduziert werden.
werden die von ein oder zwei Probanden-
gruppen produzierten Daten in einer Quer-
schnittsuntersuchung analysiert. Dabei gibt 4. Unterrichtsdidaktische und
es verschiedene Varianten: Die Daten einer -methodische Fragen
Gruppe mit einer L1, einer L2 und einer ziel-
sprachlichen Sprache L3 werden mit Daten Die oben beschriebenen Sachverhalte werden
einer anderen Gruppe verglichen, bei der die sich in eigenen didaktischen und methodi-
L1 mit der L1 der ersten Gruppe identisch schen Konzepten niederschlagen müssen, da-
ist, für die aber die Zielsprache erst die erste zu z. B. Hufeisen (1994), Krumm (1995) und
Fremdsprache, also die L2 ist. Besonderes Neuner (1996). Vorbedingungen wie vorgän-
Augenmerk wird auf die Normabweichungen gige Sprachenkompetenzen bei Lernenden
gelegt, die durch die L2 entstehen. Ein ande- und Lehrenden sind zu klären, einzelne auf
rer Untersuchungstyp wählt eine größere die jeweilige Sprachenfolge abgestimmte Cur-
Gruppe mit unterschiedlichen L1, bei der je- ricula zu entwickeln, und möglicherweise ist
doch die L2 und die L3 gleich sind. Auf ein ganz neuer Typ von Fremdsprachenlehr-
Dauer ist dieser Methodenansatz jedoch un- werk zu kreieren, der die verschiedenen
befriedigend, weil er ausschließlich auf Pro- Fremdsprachen mehr miteinander verzahnt.
duktionsdaten basiert. Zwar muss es noch Es ist zu testen, ob die Zusammenarbeit der
eine Vielzahl von Fehleranalysen zu den ver- Fremdsprachenlehrenden einer Lerngruppe
schiedenen Sprachenkombinationen geben, gestärkt werden kann, ob sie phasenweise
aber eine Hinwendung zu Prozessdaten einer- vielleicht gemeinsam unterrichten, ob insge-
seits und lernerorientierten Daten anderer- samt beispielsweise im Anfangsunterricht die
seits ist wünschenswert, um dem Forschungs- vorher gelernte Fremdsprache den Status ei-
gegenstand ein noch schärferes Profil zu ver- ner Meta-/Erklärsprache (vgl. hierzu Hufei-
leihen. Dabei ist an Cloze Tests, Lernerbefra- sen 1993a, 169) bekommen kann. Ein Gym-
gungen (Interviews und Retrospektionen), nasium in Luxemburg beispielsweise erteilt
Introspektionen (z. B. Lerntagebücher) zu den Englischunterricht (die Lernenden sind
denken, weiterhin an Datenerhebungen zu diesem Zeitpunkt etwa 14 Jahre alt) auf
durch Lautes Denken und Akzeptabilitäts- Deutsch, den Italienischunterricht auf Fran-
beurteilungen. ⫺ Alle Verfahren kommen zösisch (die Lernenden sind zu diesem Zeit-
nicht umhin, die Lernprozesse aus den erho- punkt zirka 16 Jahre alt). Dies bedeutet ins-
benen Daten zu deduzieren, aber eine mehr- gesamt eine konsequenter multilingual ausge-
perspektivische Sicht, d. h. eine Kombination legte Fremdsprachen(aus)bildung als dies bis-
aus verschiedenen Erhebungstypen ermög- land noch der Fall ist. Dies gilt vor allem
licht eher eine valide Erklärung als allein auch für die Fremdsprachenlehrerausbil-
Fehleranalysen. dung, Fort- und Weiterbildung.
Zudem basieren die meisten vorliegenden Ganz konkret bedeutet dies aber auch,
Ergebnisse in erster Linie auf Querschnitts- dass die Fremdsprachenlehrenden voneinan-
untersuchungen mit quantitativen Aspekten. der zumindest wissen müssen, welche Inhalte
Eine größere Anzahl an longitudinalen Stu- auf welche Weise sie zu einem gegebenen
652 VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte

Zeitpunkt unterrichten. Sie sollten wenig- 5. Ausblick


stens über passive und rezeptive Fähigkeiten
und Fertigkeiten in den anderen unterrichte- Es ist wahrscheinlich, dass die Zahl der empiri-
ten Fremdsprachen verfügen. schen Untersuchungen zur Thematik L3 in
Ein weiterer wichtiger Punkt für die didak- den nächsten Jahren in erheblichem Maße zu-
tisch-methodische Planung des L3-Unter- nehmen werden, um die Spezifik noch stärker
richts ist das Alter der Lernenden. Wenn die herauszuarbeiten und vor allem von der allge-
Lernenden mit der L3 beginnen, sind die mei- meinen Zweit-, Fremdsprachen- und Sprach-
sten fast erwachsen. Die Lernweisen unter- erwerbsforschung abzugrenzen. Schwierigkei-
scheiden sich stark von denen von Kindern ten bei der Sichtung des Forschungsstandes
oder jüngeren Jugendlichen. Die Tertiärspra- werden sich aus den zahlreichen Möglichkei-
che wird bewusster, kognitiver und konstruk- ten zur Untersuchung von unterschiedlichen
tivistischer gelernt. Dies hat natürlich Folgen, Sprachenkonstellationen und den verschiede-
z. B. für die Grammatikprogression eines nen methodischen Zugriffsmöglichkeiten er-
Lehrwerkes, deren Verarbeitung stärker in geben. Diese werden eine Vergleichbarkeit der
die Verantwortung der Lernenden selbst ge- Ergebnisse weiter erschweren. Die L3-For-
stellt werden kann. Die Lernenden können schung allgemein und Deutsch als Tertiärspra-
sich mit selbstentdeckendem Lernen noch ak- che als ein Teilgebiet haben sich in den letzten
tiver in den Lernprozess einschalten. Sie kön- Jahren ihren Platz in der Forschungsland-
nen die fortlaufende Organisation und Reor- schaft gesichert und werden diese Position auf
ganisation von Wissen sicherer steuern. Grund der noch bestehenden Forschungsdesi-
Komplexere sprachliche Einheiten, wie z. B. derata ausbauen.
der Text, seine spezifische Struktur und
Funktion und seine systematische Zugehörig- 6. Literatur in Auswahl
keit zu einer bestimmten Textsorte kann in
den Vordergrund gerückt werden. Abel, Fritz (1971): Die Vermittlung passiver Spa-
In diesem Zusammenhang wird auch über nisch- und Italienischkenntnisse im Rahmen des
die Übersetzung nachgedacht werden müs- Französischunterrichts. In: DNS 70/20, 355⫺359.
sen: Inwiefern kann sie als interkulturelle Bahr, Andreas; Karl-Richard Bausch; Karin Klep-
Mittlerinstanz zwischen den Fremdsprachen pin; u. a. (1996): Forschungsgegenstand Tertiärspra-
chenunterricht. Ergebnisse und Perspektiven eines
Aufgaben bei der Bewusstmachung, Kontra- empirischen Projekts. Bochum. (Manuskripte zur
stierung und Kognitivierung übernehmen? Sprachlehrforschung 37).
Bei einer eventuellen Zusammenarbeit in den
Bauer, Hans (Hg.) (1989): Deutsch als zweite
Fremdsprachen bietet sich hier beispielsweise Fremdsprache in der gegenwärtigen japanischen Ge-
ein Vergleich der verschiedenen Realisationen sellschaft. München.
einer bestimmten Textsorte in den verschiede- Bausch, Karl-Richard (1995): Erwerb weiterer
nen Fremdsprachen an. Die Lernprogression Fremdsprachen im Sekundarschulalter. In: Karl-
kann möglicherweise sehr viel steiler angelegt Richard Bausch; Herbert Christ; Werner Hüllen;
werden als bisher. Insgesamt zeichnet sich der Hans-Jürgen Krumm (Hg.): Handbuch Fremdspra-
Lernprozess durch größere Systematizität chenunterricht. 2. Aufl. Tübingen, 446⫺451.
(ohne linguistische Vollständigkeit anzustre- ⫺; Manfred Heid (Hg.) (1990): Das Lehren und
ben), Bewusstmachung, Analyse und stärker Lernen von Deutsch als zweiter oder weiterer Fremd-
selbstgesteuertes Lernen aus. Die Inhalte der sprache: Spezifika, Probleme, Perspektiven. Bo-
Lehrwerke müssen sich sicher von denen für chum. (Manuskripte zur Sprachlehrforschung 32).
jüngere Lernende unterscheiden. Es geht Bieritz, Wulf Dieter (1974): Semantischer Transfer
nunmehr wahrscheinlich weniger um typisch auf verwandte Fremdsprachen. Die Bedeutungser-
jugendspezifische Themen, wie z. B. Informa- schließung der Inhaltswörter des spanischen Grund-
tionen über eine gleichaltrige peer-group im wortschatzes durch Schüler und Studenten mit latei-
nischen und französischen Vorkenntnissen. Bochum,
Zielsprachenland, sondern mehr um Fakten Ruhr-Universität (Manuskripte zur Sprachlehrfor-
und Wissenswertes des jeweiligen Landes. Es schung 6).
ist wahrscheinlich, dass die L3 in vielen Fäl-
Braun, Maximilian (1937): Beobachtungen zur
len nicht mehr zum Pflichtkanon der Bil- Frage der Mehrsprachigkeit. In: Göttingische Ge-
dungsinstitutionen gehört, sondern aus eige- lehrte Anzeigen 199, 115⫺130.
nem Antrieb heraus gelernt wird. Die Motive Ernst, Gerhard (1975): Zur Fehleranalyse in einer
(beruflicher, touristischer oder anderer Art) Spätfremdsprache. In: Werner Hüllen; Albert
mögen variieren, aber die Motivation ist si- Raasch; Franz Josef Zapp (Hg.): Lernzielbestim-
cher erheblich höher als zum Zeitpunkt des mung und Leistungsmessung im modernen Fremd-
Beginns des L2-Lernens. sprachenunterricht. Frankfurt/M., 84⫺104.
65. Deutsch als Tertiärsprache 653

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IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II:
Erklärungsansätze für den Zweitsprachenerwerb und das
Fremdsprachenlernen

66. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung I:


der behavioristische Ansatz

1. Einleitung fremdpsrachendidaktisch relevante Aspekte


2. Behavioristische Lerntheorie innerhalb der Linguistik bis zum Ende der
3. Die sog. Kontrastivhypothese ⫺ ihre 60er Jahre. Ihre Lerntheorie geht vom äußer-
Grundaussagen lich beobachtbaren Verhalten aus, was nach
4. Kritik an der Kontrastivhypothese dem englischen Wort „behavior“ der Theorie
5. Neuere modifizierende Entwicklungen im
Kontext der Kontrastivhypothese
ihre Bezeichnung gab. Diese Lerntheorie ver-
6. Didaktische Aspekte der zichtete somit auf kognitivistische bzw. men-
Kontrastivhypothese talistische Erklärungsmuster. Sie wurden als
7. Schlussbemerkungen theoretisch nicht erklärbar und empirisch
8. Literatur in Auswahl nicht beweisbar abgelehnt. Zentral wurde da-
bei der Begriff der „Gewohnheiten“ (engl.
habits) und Lernen galt als ein Prozess der
1. Einleitung Herausbildung von Gewohnheiten (engl. ha-
Es ist eine allgemeine Erfahrung, dass beim bit formation). Dieser Prozess erfolgt den be-
Erwerb einer zweiten Sprache die Ausgangs- havioristischen Lernpsychologen zufolge im
sprache einen spürbaren Einfluss ausübt. Wesentlichen durch Imitation und Verstär-
Dieser zeigt sich besonders deutlich in der kung (reinforcement), indem richtiges Ver-
Aussprache, aber auch in den Bereichen von halten belohnt und falsches Verhalten be-
Grammatik und Wortschatz einschließlich straft wird. Diese Theorie des Lernens wurde
auch auf den Erst- und Zweitspracherwerb
seiner Bedeutungsstrukturen. Diese vorwis-
übertragen, also als geeignet betrachtet, so-
senschaftliche Erfahrungstatsache führte zu
wohl das allgemeine Lernen als auch das Er-
Überlegungen und Überprüfungen auch von lernen von Sprachen zu erklären. Für den
wissenschaftlicher Seite. Die Annahme, dass Zweitspracherwerb und seine Erklärung be-
die Ausgangssprache der Lernenden den Er- deutete dieser Ansatz, dass mutter- bzw. erst-
werb einer zweiten Sprache maßgeblich steu- sprachliche Gewohnheiten auf die Fremd-
ert bzw. festlegt, lag also nahe. Forschungsge- bzw. Zweitsprache übertragen werden. Damit
schichtlich bildeten sich jedoch unteerschied- rückte auch der Begriff des Fehlers ins Blick-
liche Positionen heraus, was die Intensität feld, denn erstsprachliche Gewohnheiten wür-
des ausgangssprachlichen Einflusses betraf. den dort zu Fehlern führen, wo die Strukturen
Dabei lässt sich feststellen, dass nur zu Be- der Zweitsprache von den Strukturen der Erst-
ginn eine im engeren Sinne „deterministi- sprache abwichen und somit der Lerner neue
sche“ Position eingenommen wurde. Dies ge- Gewohnheiten erwerben müsste. Fehler in der
schah unter dem Einfluss der behavioristi- Zweitsprache konnten als falsches Verhalten
schen Lerntheorie. betrachtet werden. Auf der Grundlage der be-
havioristischen Lerntheorie wurde dann die
Kontrastivhypothese formuliert.
2. Behavioristische Lerntheorie
Die behavioristische Lerntheorie entstand in 3. Die sog. Kontrastivhypothese ⫺
den USA. Als Hauptvertreter gelten die Ihre Grundaussagen
Psychologen Watson (1924) und insbeson-
dere Skinner (1957). Sie beeinflussten stark Die Kontrastivhypothese als Zweitspracher-
die Diskussion um lernpsychologische und werbshypothese besteht aus zwei Kernaussa-
66. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung I 655

gen: Stimmen Ausgangs- und Zielsprache in Wert zu sein. Demnach lässt sich bestimmen,
Regeln und Strukturen überein, kann der welche der bereits vorliegenden Lernerfehler
Lerner seine muttersprachlich automatisier- auf Interferenz zurückzuführen sind. Auch
ten Gewohnheiten ohne Probleme analog auf auf Prognosen hinsichtlich schwieriger, weni-
die Ziel- bzw. Zweitsprache übertragen. Es ger schwieriger, leichterer oder völlig pro-
kommt dann zu positivem Transfer. Unter- blemloser Strukturbereiche und Regeln der
schiede zwischen Ausgangs- und Zielsprache Zweitsprache für den Lerner verzichtet die
führen hingegen zu negativem Transfer oder schwache Version der Kontrastivhypothese.
Interferenz. Der Lerner macht dann Fehler in Danach sind also Schwierigkeitshierarchien
der für ihn neuen Zweitsprache. Auf den Ge- ebenso wenig prognostizierbar wie einzelne
samtprozess des Zweitspracherwerbs bezogen Fehler von Zweitsprachlernern. Der Einfluss
erleichtert positiver Transfer das Erlernen, der Ausgangssprache wird dabei insgesamt
während negativer Transfer oder Interferenz relativiert. Forschungsgeschichtlich weist die
es erschwert. Ausgehend von diesen psycho- schwache Version der Kontrastivhypothese
logischen Überlegungen können systemati- bereits in die Richtung der sog. Fehlerana-
sche Vergleiche von Sprachen zeigen, in wel- lyse, die auf der Basis von größeren Korpora
chen Strukturbereichen es Übereinstimmun- Lernerfehler identifizieren und klassifizieren
gen und Unterschiede zwischen ihnen gibt soll, um Fehlertypologien aufstellen und Feh-
und damit Interferenz zu erwarten ist oder im ler erklären zu können. Interferenzbedingte
Falle von Übereinstimmung nicht zu erwar- Fehler stellen in der Fehleranalyse nur noch
ten ist. Somit kann und soll die kontrastive einen Teilaspekt dar.
Analyse als Teil der deskriptiven Linguistik
in den Dienst der Fremdsprachenvermittlung 3.2. Linguistische Aspekte der
gestellt werden. Fries (1945) und Lado (1957) Kontrastivhypothese
waren die Linguisten, die das Transferkon- Neben den lernpsychologischen Überlegun-
zept und die damit verbundenen Überlegun- gen des amerikanischen Behaviorismus tauch-
gen in dieser Weise entwickelten. Sie hatten ten zwei wichtige linguistische Aspekte im
also versucht, Lernpsychologie und linguisti- Rahmen der Kontrastivhypothese auf. Es ging
schen Strukturalismus direkt miteinander zu um die Frage der zu vergleichenden Bereiche,
verknüpfen. womit der deskriptive Aspekt in den Mittel-
punkt rückte. Der zweite, nicht minder wich-
3.1. Die zwei unterschiedlichen Versionen tige Aspekt betraf die Arten und die Grade
der Kontrastivhypothese bzw. Abstufungen der interlingualen Unter-
Die Verbindung von behavioristischer Lern- schiede.
psychologie und linguistischem Strukturalis- Auf der Grundlage strukturalistischer Vor-
mus führte zu der weiteren Annahme, dass stellungen kam es zu phonologischen und
Fehler bei Lernern völlig vorhersagbar sein syntaktischen Vergleichen des Englischen und
müssten. Automatisierte Gewohnheiten aus Spanischen (Stockwell/Bowen 1965; Stock-
der Muttersprache und Strukturunterschiede well/Bowen/Martin 1965), aber auch zu ana-
zwischen den beiden Sprachsystemen deter- logen Vergleichen zwischen Englisch und
minierten so sehr das Verhalten des Lerners, europäischen Sprachen, die in den USA als
dass seine Fehler immer interferenzbedingt Schulfremdsprachen gelehrt wurden, wie
seien und die Vorkommensbereiche sowie Deutsch und Italienisch (Moulton 1962; Kuf-
ihre Art prognostiziert werden könnten. Dar- ner 1962; Di Pietro 1966a; Di Pietro 1966b).
über hinaus gebe es für den Lerner Schwierig- Auch das Chinesische als nichteuropäische
keitshierarchien, die sich in Abhängigkeit von Sprache wurde phonologisch mit dem Engli-
den strukturellen Unterschieden zwischen schen und Spanischen kontrastiert (Reed/
den beiden Sprachsystemen genau vorherbe- Lado/Shen 1948). Die Tendenz, Laut- und
stimmen ließen. In Anlehnung an Wardhaugh Satzstruktur von Sprachen zu vergleichen,
(1970) bezeichnet man diese Überlegungen war also stark dominant, wobei auch distri-
und ihre Verbindung miteinander als die butionelle Unterschiede zwischen zwei Spra-
„starke Version“ der Kontrastivhypothese. chen stets in die kontrastive Analyse einbezo-
Diese Position wurde aber eher selten vertre- gen wurden. Diese Vergleiche erschienen
ten (vgl. Lee 1968, 180). sowohl fremdsprachenpädagogisch als auch
Die „schwache Version“ geht nicht von der linguistisch sinnvoll. Im Sinne der Kontra-
Prognostizierbarkeit der Fehler aus, sondern stivhypothese hielt man diese Bereiche für be-
beansprucht lediglich, von diagnostischem sonders interferenzanfällig. Dahinter stand
656 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

allerdings auch eine stark eingeschränkte die Kontrastivhypothese geltend, dass von in-
Auffassung von kontrastiver Sprachanalyse. terlingualen Differenzen in ihrer Abstufung
Lexikalisch-semantische und pragmatische auf Schwierigkeitsgrade beim Lernen ge-
Vergleiche rückten erst gar nicht ins Blickfeld, schlossen werden kann, was in der Praxis zur
da die amerikanische Linguistik ihren Gegen- Aufstellung von Schwierigkeitshierarchien
standsbereich bereits sehr früh erheblich ein- führen kann oder sogar sollte. Damit stellt
geschränkt hatte (Bloomfield 1933). Diese sie einen unmittelbaren Zusammenhang von
wissenschaftshistorische Tradition wirkte sich Lernpsychologie und Linguistik her. Lin-
bis zum Ende der 60er Jahre aus und wurde guistische Beschreibungskategorien erhalten
durch die Kontrastivhypothese und deren automatisch einen psychologischen Status.
lernpsychologische Voraussetzungen zusätz- Zwei Wirklichkeitsbereiche werden als im
lich unterstützt, da lautliche und satzstruktu- Wesentlichen identisch angesehen. Wurden in
relle Gewohnheiten von Lernern für das Amerika im Kontrastreichtum die Schwierig-
Transferkonzept besonders in Frage zu kom- keiten für den Lerner gesehen, so kam in Eu-
men schienen. ropa die Überlegung auf, dass Kontrastman-
Der zweite Aspekt betraf die Möglichkei- gel Fehler begünstige. Dies wurde so verstan-
ten, wie sich interlinguale Unterschiede zei- den, dass sich Sprachen in einem bestimmten
gen könnten. Der unproblematischste Fall Bereich sehr ähnlich sind, aber damit doch
für den Lerner wie für den analysierenden einen Unterschied aufweisen, der für Lerner
Linguisten war das völlige Fehlen einer inter- eher „versteckt“ auftritt.
lingualen Differenz. Die Sprachen stimmten Juhász (1970, 92f.) konnte auf Grund von
überein, und der Lerner konnte ihm vertraute eigenen empirischen Daten nachweisen, dass
Strukturen und Regeln auf die Zweitsprache gerade auch Ähnlichkeiten zwischen Erst-
übertragen. Damit wurden sprachliche Berei- und Zweitsprache zu Fehlern führen. Er be-
che postuliert, in denen es eigentlich gar nicht zog sich auf das sog. ranschburgsche Phäno-
zu Fehlern kommen konnte, zumindest in der men, wonach Lerner ihre Aufmerksamkeit
starken Version der Kontrastivhypothese. eher auf die Unterschiede richten und damit
Hinsichtlich der Unterschiede zwischen Spra- bei Kontrastmangel eine „homogene Hem-
chen ergeben sich eine Reihe von Möglichkei- mung“ eintritt. Mit dieser empirisch unter-
ten. So können zwei Elemente in der Erst- mauerten Überlegung, der zufolge gerade
sprache zu einem Element in der Zweit- große interlinguale Ähnlichkeiten von Ler-
sprache zusammenfallen (die sog. Konver- nern nicht genügend wahrgenommen werden
genz), was ebenfalls als unproblematisch für und somit durchaus lernrelevante Probleme
Lerner angesehen wurde. Eine wichtige Art darstellen, verblieb der ungarische Germanist
der interlingualen Differenz kann darin be- Juhász zwar im Bereich der Kontrastivhypo-
stehen, dass ein Element in der einen Sprache these, setzte aber innerhalb dieser einen
fehlt, während es in der anderen Sprache exi- neuen Akzent. Ein bis dahin vernachlässigtes
stiert. Darüber hinaus können Elemente in Lernproblem wurde zum Gegenstand der
beiden Sprachen vorhanden sein, aber eine sprachwissenschaftlichen und didaktischen
unterschiedliche Distribution aufweisen, was Reflexion.
am häufigsten, aber nicht ausschließlich in
den Lautbeständen von Sprachen anzutreffen
ist. Im Gegensatz zu dem oben beschriebenen 4. Kritik an der Kontrastivhypothese
Konvergenzphänomen steht das Divergenz-
phänomen, wenn nämlich die Zweitsprache Der Übergang von den 60er zu den 70er Jah-
eine Differenzierung kennt, die die Ausgangs- ren markierte zugleich auch einen tiefen Ein-
sprache des Lerners nicht hat. Einem Ele- schnitt in der Diskussion um die kontrastive
ment der Erstsprache entsprechen dann min- Erwerbshypothese. Nun traten sowohl in den
destens zwei Elemente der Zweitsprache. USA als auch in Europa Kritiker auf den
Wenn es gar mehr als zwei Elemente gibt, er- Plan. Dabei kristallisierten sich drei Schwer-
schwert das die Aufgabe des Lerners noch punkte der Kritik heraus. Diese sollen in den
mehr. Eine besonders markante Differenz ist folgenden Abschnitten behandelt werden.
dann gegeben, wenn eine Sprache etwas lexi-
kalisch ausdrückt, was die andere Sprache 4.1. Kritik aus empirischer Sicht
grammatisch wiedergibt, sich also die Wahl Da die kontrastive Erwerbshypothese Aussa-
der Mittel völlig unterscheidet. Bei diesen gen über lernertypische Fehler zu machen
hier aufgelisteten Unterschieden macht nun versuchte, konnte sie daher auch empirischen
66. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung I 657

Überprüfungen unterzogen werden. Es war nen begrenzten Einfluss auf den Zweitsprach-
nahe liegend, die Anzahl interferenzbedingter erwerb hat und in jedem Falle keinen maßgeb-
Fehler an der Gesamtmenge der von Lernern lichen Steuerungsfaktor darstellt, ohne sich
gemachten Fehler statistisch zu ermitteln. dabei allerdings den radikalen Schlussfolge-
Dieser wissenschaftsmethodische Ansatz do- rungen von Dulay und Burt anzuschließen.
minierte in den USA, was zur Folge hatte, Wode untersuchte den Lauterwerb des Engli-
dass die empirisch begründete Kritik dort zu- schen durch deutsche Kinder. Ihm zufolge gibt
erst wichtige und interessante Ergebnisse zei- es unbezweifelbare Belege für phonologischen
tigte. Im Laufe der 70er und 80er Jahre er- Transfer, die aber nicht den Gesamtprozess
folgten dann aber auch in Deutschland empi- bestimmen (vgl. Wode 1980, 136). Er stellt
rische Untersuchungen, die ebenfalls die auch fest, dass phonologische Fehlertypen
Kontrastivhypothese in ihren wesentlichen und Erwerbssequenzen zwischen gesteuertem
Punkten in Frage stellten, gestützt auf ent- und ungesteuertem Zweitspracherwerb über-
sprechende Datenbefunde. einstimmen (vgl. Wode 1980, 130f.). Bei einem
Eine Übersicht von Ellis über amerikani- Vergleich von Englischlernern mit verschiede-
sche Studien zeigt, dass der Anteil interfe- nen Ausgangssprachen ergibt sich ebenfalls
renzbedingter Fehler bei Lernern des Engli- ein hohes Maß an Übereinstimmung, wenn-
schen als Zweitsprache und mit sehr unter- gleich einzelne erstsprachbedingte Transfer-
schiedlichen Ausgangssprachen im Durch- phänomene zu beobachten sind (vgl. Wode
schnitt bei 33% liegt (vgl. Ellis 1985, 29). 1980, 132f.). Für den syntaktischen Bereich
Diese Werte stellen die Kontrastivhypothese liegen ebenfalls Forschungsergebnisse vor. Fe-
substantiell in Frage. Die schärfste Kritik lix untersuchte den ungesteuerten Syntaxer-
kam dabei von Dulay und Burt im Rahmen werb des Deutschen durch vier Kinder mit
ihrer Untersuchungen zum Morphemerwerb englischer Muttersprache. Deren Einfluss er-
des Englischen durch spanischsprachige Kin- wies sich als gering und als schwächer als der
der (vgl. Dulay/Burt 1973, 245f.). Eine An- muttersprachliche Einfluss beim Lauterwerb,
schlussuntersuchung derselben Autoren mit wie Felix mit Blick auf Wode feststellt (vgl. Fe-
Chinesisch als zusätzlicher Ausgangssprache lix 1978, 227). Wichtig ist auch die Erkenntnis,
im direkten Vergleich mit spanischsprachigen dass Transferphänomene in bestimmten Ent-
Kindern ergab für das Englische ganz ähn- wicklungsphasen des Zweitspracherwerbs eine
liche Ergebnisse (vgl. Dulay/Burt 1974, 37f.). größere Rolle spielen als in anderen, was sich
Besonders wichtig erschien den Autoren da- vor allem an Längsschnittdaten ablesen lässt.
bei die Tatsache der im Wesentlichen identi- In diesem Sinne fasst Wode die empirischen
schen Erwerbsreihenfolgen bzw. -sequenzen Forschungsergebnisse der 70er und 80er Jahre
der beiden ausgangssprachlich so verschiede- zu Transfer und Interferenz zusammen (vgl.
nen Lernergruppen. Sie übten einen beson- Wode 1988, 99). Damit erweisen diese sich als
ders starken Einfluss auf die Diskussion aus dynamische Größen, die im Laufe des
und trugen maßgeblich dazu bei, dass die Erwerbsprozesses Wandlungen unterworfen
Kontrastivhypothese in den 70er Jahren spe- sind. Zu ganz entsprechenden Ergebnissen
ziell in den USA gänzlich verworfen wurde kommt Kuhberg nach seiner Longitudinalda-
und der muttersprachliche Einfluss als tenanalyse zweier Kinder mit Türkisch und
äußerst gering beim Zweitspracherwerb ein- Polnisch als Ausgangssprachen insbes. hin-
gestuft wurde. Das Pendel schlug sozusagen sichtlich der Verbestellung und der tempusse-
in die entgegengesetzte Richtung aus. Mit mantischen Aspektualität (vgl. Kuhberg
dem Problem der stark festgelegten Erwerbs- 1987, 407f.; Kuhberg 1990, 25f.). Zugleich
sequenzen hatte sich die Fachdiskussion oh- zeigt sich auch bei seinen Daten, dass selbst die
nehin deutlich verlagert. Die Interessen- Summe der Interferenzen für den Gesamter-
schwerpunkte lagen nun nicht mehr beim werbsprozess keinen eigenständigen und do-
Aspekt der Kontrastivität und ihren sprach- minierenden Steuerungsfaktor darstellt wie
lernpsychologischen Konsequenzen. von der Kontrastivhypothese ursprünglich be-
Von eurpäischen Forschern ist diese Ent- hauptet, sondern vielmehr weitgehend aus-
wicklung natürlich mit Interesse registriert gangssprachenunabhängige Entwicklungs-
worden. Auch in Deutschland entstanden em- gesetzmäßigkeiten den Zweitspracherwerb
pirische Untersuchungen, wenngleich mit ausmachen (vgl. Kuhberg 1990, 42). Damit
nicht so ausgeprägter statistischer Orientie- kommt er bei tempusgrammatischen und tem-
rung wie in den USA. Sie bestätigten aber die pussemantischen Ausdrucksmitteln zu analo-
Erkenntnis, dass die Erstsprache durchaus ei- gen Resultaten wie Wode und Felix bei Phono-
658 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

logie und Syntax. Aufschlussreich sind auch betraf die Tatsache, dass sich Kontraste zwi-
Untersuchungen über erwachsene Lerner. So schen Sprachen nicht als Fehler des Lerners
zeigte sich beim ungesteuerten Deutscherwerb auswirken, sondern als Vermeidung (avoid-
von 45 italienischen, spanischen und portu- ance) von bestimmten zweitsprachlichen
giesischen Arbeitsmigranten für syntaktische Strukturen. Lernschwierigkeiten werden dann
Parameter wie Negation, Interrogation und gar nicht als Fehler manifest, verbergen sich
Verbstellung, dass sie bestimmte und typische vielmehr hinter durchaus korrekten Lerneräu-
Entwicklungsphasen durchlaufen, die nicht ßerungen (vgl. Schachter 1974, 205f.). Ein
auf der Grundlage interlingualer Kontrastivi- Beispiel dazu wäre etwa ein Lerner, der zwecks
tät erklärt werden können (vgl. Clahsen/Mei- Vermeidung des Konjunktivs auf die indirekte
sel/Pienemann 1983, 249f.). In einer weiteren Redewiedergabe verzichtet und sich stattdes-
Studie mit Querschnittdaten von zehn türki- sen der direkten Rede im Indikativ bedient.
schen Deutschlernern unterschiedlichen Be- Der vierte Einwand bezog sich auf die Tatsa-
herrschungsniveaus lassen sich beim Erwerb che, dass der Zweitsprachgebrauch eines Ler-
der Temporalität einzelne muttersprachliche ners bei unterschiedlichen kommunikativen
Einflüsse als Transferphänomene identifizie- Aufgaben und in verschiedenen Situationen
ren, insbes. wie bei den Längsschnittdaten variieren kann und als Folge davon auch sein
von Kuhberg: Versuche der Aspektmarkie- Fehlerverhalten (vgl. Tarone/Frauenfelder/Se-
rung bei deutschen Verben. Aber diese Trans- linker 1976, 93f.). Diese Überlegungen wiesen
fererscheinungen spielen im Gesamterwerbs- in die Richtung psycho-, sozio- und pragma-
prozess eine untergeordnete Rolle und steu- linguistischer Problemaspekte, die von der
ern ihn nicht (vgl. v. Stutterheim 1986, 346). Kontrastivhypothese gar nicht erfasst werden
Auch Erwachsene, bei denen man die Über- konnten. Sie offenbarten so zugleich den en-
tragung muttersprachlich erworbener und gen theoretischen Rahmen der Hypothese. Ein
verfestigter Regel- und Strukturgewohnhei- weiterer sehr grundsätzlicher Einwand hatte
ten noch eher erwarten könnte, tun dies nur mit dem statischen Interferenzbegriff zu tun.
in sehr begrenztem Maße. Darüber hinaus Er kann die Dynamik des auf die Zweitspra-
führten bei allen erwähnten Untersuchungen chennorm gerichteten Erwerbsprozesses we-
interlinguale Kontraste keineswegs automa- der theoretisch noch empirisch erfassen (vgl.
tisch zu Fehlern. Dies war ja ursprünglich ein Bausch 1973, 159f.). Wie unter 4.1. erwähnt,
weiterer Kerngedanke der Kontrastivhypo- konnte nach der primär theoretisch begründe-
these. Bei Erwachsenen wie auch bei Kindern ten Kritik von Bausch die völlige Unhaltbar-
konnte die Kontrastivhypothese als globale keit dieser statischen Betrachtungsweise auch
Zweitspracherwerbshypothese folglich empi- empirisch untermauert werden. Ein anderer
risch auf keinen Fall bestätigt werden. ganz wesentlicher Kritikpunkt kam von psy-
cholinguistischer Seite. Der Lerner verarbeitet
4.2. Kritik aus theoretischer Sicht nicht nur die beiden Sprachsysteme der Erst-
Der erste substantielle theoretische Einwand und Zweitsprache in ihrem Verhältnis zuei-
gegen die behavioristische Lerntheorie wurde nander, sondern auch die Elemente, Regeln
bereits Ende der 50er Jahre vorgetragen. und Strukturen innerhalb des Systems der
Chomsky (1959, 26f.) hat in seiner Auseinan- Zweitsprache. Innerzielsprachliche Regelfin-
dersetzung mit Skinner kritisiert, dass dieser dungs- und Strukturbildungsprozesse werden
tierisches Lernverhalten auf Menschen über- dabei im Gesamterwerbsprozess als klar domi-
trage und den Aspekt der Kreativität gerade nant gegenüber kontrastiv bedingten Übertra-
beim menschlichen Sprachenlernen völlig gungsmechanismen eingestuft. Daher ergeben
ausklammere. Ihm erschien Skinners Ansatz sich nicht nur interlingual, sondern auch intra-
viel zu mechanistisch und vereinfacht. Als lingual zu erklärende Fehler. Solche sog. intra-
„simplistisch“ galt Skinners Ansatz auch in ligualen Interferenzfehler sind die Folge der
psycholinguistischer Hinsicht. Die Gleichset- Übergeneralisierung einer bestimmten zweit-
zung von linguistischen Strukturunterschie- sprachlichen Regel. Sie können von der inter-
den und psycholinguistischen Prozessen wie lingual orientierten Kontrastivhypothese gar
Transfer und Interferenz in Verbindung mit nicht berücksichtigt und erklärt werden (vgl.
der Gleichung „sprachlicher Unterschied ⫽ Bausch/Kasper 1979, 7). Z. B. sind die Abwei-
Lernschwierigkeit“ könne der Komplexität chungen „habe gekommen“ und „kommte“ in
des Zweitspracherwerbs keineswegs gerecht einer Lernersprache überwiegend Ergebnisse
werden (vgl. Bausch/Kasper 1979, 6): Ein der Übergeneralisierung. Sie sind auch aus
dritter, auch empirisch erhärteter Einwand dem Erstspracherwerb bekannt, in dem inter-
66. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung I 659

lingualer Transfer nicht möglich ist. Nach die- dass er damit indirekt Hypothesen über Re-
sen sechs Einwänden, in deren Rahmen sozu- geln und Strukturen der zu erlernenden
sagen innerlinguistisch argumentiert wird, be- Fremdsprache aufstellt. Ein arbeitsökonomi-
trifft ein zusätzlicher Kritikpunkt die Unfä- scher und unterrichtspraktischer Gesichts-
higkeit der Kontrastivhypothese, außerlin- punkt rundete die Kritik ab: Angesichts des
guistische Variablen und ihren Einfluss auf geringen didaktischen Nutzens der Kontra-
Zweitspracherwerbsprozesse zu erklären. Un- stivhypothese schien es nicht sinnvoll, inten-
terschiedliche individuelle, soziale, ökonomi- sive kontrastive Analysen zwischen Mutter-
sche und kulturelle Voraussetzungen, die sich und Fremdsprache durchzuführen und im
in unterschiedlichen individual- und sozial- Unterricht Ansätze und Beschreibungen aus
psychologischen Einflussfaktoren widerspie- der kontrstiven Linguistik zu verwenden mit
geln, sind auch psycholinguistisch von Bedeu- der Gefahr, Fremdspachenlehrer und vor
tung, auch wenn das Wie ihres Einflusses nicht allem Lerner zu überfordern.
genau zu bestimmen ist. Sie beeinflussen in je-
dem Falle das Sprachverhalten und damit
auch das Fehlerverhalten von Lernern (vgl. 5. Neuere modifizierende
Clahsen/Meisel/Pienemann 1983, 258f.). Da- Entwicklungen im Kontext der
mit eng zusammen hängt auch das Problem Kontrastivhypothese
unterschiedlicher Erwerbskontexte („natür-
lich“ vs. unterrichtlich), das von der Kontra- Die forschungsgeschichtliche Entwicklung
stivhypothese ebenso wenig erfasst werden der 70er und 80er Jahre war zwar durch eine
kann (vgl. Henrici 1986, 98). starke Relativierung der kontrastiven Er-
Mit diesen sieben Haupteinwänden, wie sie werbshypothese gekennzeichnet, hatte jedoch
im Laufe der 70er und 80er Jahre vorgetra- nicht zu ihrer völligen Widerlegung und
gen wurden, erfuhr die Kontrastivhypothese Preisgabe in der psycholinguistischen und
auch theoretisch eine deutliche und for- fremdsprachendidaktischen Diskussion ge-
schungsgeschichtlich einschneidende Relati- führt. Dabei kristallisierten sich drei lingui-
vierung, die mit der empirischen Hand in stisch relevante Bereiche heraus. Im Rahmen
Hand ging. der Hypothese kam es zu interessanten Modi-
fikationen und Schwerpunktverschiebungen.
4.3. Kritik aus praktischer Sicht
5.1. Psycholinguistik
In praktischer Hinsicht ergaben sich drei
wichtige Kritikpunkte, die mit fremdspra- Im Kontext psycholinguistischer Überlegun-
chenpädagogischen Erfahrungen und Überle- gen erfolgten am Ende der 70er Jahre und zu
gungen in Zusammenhang standen. Analog Beginn der 80er Jahre Modifikationen mit
zu den wissenschaftlich-empirischen Befun- dem Ziel, über Transfer und Interferenz hin-
den, wonach der Anteil der Interferenzfehler aus auch andere Aspekte zu berücksichtigen.
wesentlich geringer war, stellten auch Fremd- So stellte Corder (1978) den Strategiebegriff
sprachenlehrer fest, dass viele Fehler nicht in den Mittelpunkt. Lerner verwenden Strate-
mit dem Einfluss der Muttersprache zu tun gien, um Situationen sprachlich zu bewälti-
hatten. Daraus resultierte die Überlegung, gen. Interferenz ist dann nicht immer das Er-
dass die Kontrastivhypothese didaktisch von gebnis eines unbewussten und mechanischen
geringerem Nutzen war, als sie vorgab. Zu- Vorgangs, sondern geschieht bewusst und
mindest schien sie ungeeignet zu sein, auf ih- kompensatorisch in Ermangelung der zweit-
rer Basis fremdsprachendidaktische Prozesse sprachlich normgerechten Realisierung, die
global zu steuern und Auskunft darüber ge- dem Lerner (noch) nicht verfügbar ist. Inter-
ben zu können, welchen Elementen, Regeln ferenz kann also eine Lernerstrategie sein
und Strukturen mehr Gewicht in der Vermitt- (vgl. Sridhar 1981, 235f.).
lung einzuräumen sei (vgl. Ellis 1985, 32). Ein anderer Neuansatz verknüpfte das
Dies hing vor allem mit ihrem so geringen Konzept von Transfer und Interferenz mit
prognostischen Wert zusammen. Der zweite dem Konzept der Spracherwerbsuniversa-
praktische Haupteinwand betraf ihre Einstel- lien, das bereits von Chomsky (1959) in sei-
lung gegenüber Fehlern von Fremdsprachen- ner Erwiderung auf Skinner entwickelt wor-
lernern. Sie wurde als zu negativ empfunden. den war. Demzufolge durchlaufen Zweitspra-
Praktiker hielten dem entgegen, dass Fehler chenlerner auf Grund angeborener, universell
auch von der Kreativität des Lerners im Um- gültiger kognitiver Verarbeitung von sprach-
gang mit den neuen Lernstoffen der Fremd- lichen Inputs den Erwerbs- bzw. Lernpro-
sprache zeugen würden und sogar zeigten, zess im Wesentlichen in übereinstimmender
660 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

Weise, wobei aber die Muttersprache die tischer Fragestellungen. Gerade Handlungs-
Dauer der so festgelegten Entwicklungspha- muster, die zugleich auch sprachliche Hand-
sen und -muster beeinflusst. Als dritter Fak- lungsmuster darstellen, wurden als transfer-
tor wirken dann noch Spezifika innerhalb der fähig und als mit dem behavioristischen
Zweitsprache (vgl. Gass 1980, 180). Gewohnheitsbegriff durchaus vereinbar be-
Eine weitere Fragestellung rückte erst in trachtet (vgl. Kasper 1981, 246f.). Realisierun-
den 80er Jahren stärker ins Blickfeld und gen von Sprechakten, Höflichkeit, Indirekt-
interessierte sich für den Zusammenhang heit, Gesprächseröffnungen und -beendigun-
von sprachtypologischen Unterschieden und gen unterscheiden sich interkulturell und da-
Zweitspracherwerbsprozessen. So konnte fest- mit auch interlingual (Kühlwein 1990, 24).
gestellt werden, dass arabische Lerner des Kotthoff (1989) wies konversationellen Trans-
Englischen nicht die VSO-Stellung ihrer Mut- fer von Deutschen in den USA und Günthner
tersprache mit SVO als Stellungsmuster über- (1993) bei chinesischen Deutschlernern nach.
trugen. Entsprechende Beobachtungen wur- Auch worüber man überhaupt spricht, wor-
den bei japanischen Englischlernern gemacht über man scherzt, wie man dies tut, wozu und
hinsichtlich des Nichttransfers der SOV-Stel- wie man Fragen stellt, wie man etwas hervor-
lung des Japanischen (vgl. Rutherford 1983, hebt und wie man seinen Wunsch nach sprach-
367). Bei türkischen Deutschlernern wurden licher Äußerung signalisiert, differiert von
Stellungsbesonderheiten teilweise transferiert Kultur zu Kultur und kann sich als pragmati-
und teilweise nicht (vgl. Kuhberg 1990, 35f.). scher Transfer manifestieren (vgl. Tannen
Das Phänomen des Nichttransfers im Kontext 1984, 189f.). All dies ist gerade im Hinblick
sprachtypologisch orientierter Überlegungen auf die Forderung nach kommunikativer
und Datenauswertungen führt auch zu der Kompetenz als oberstem Lernziel von unter-
Frage, ob es möglicherweise sprachliche Berei- richtspraktischem Nutzen.
che gibt, die gar nicht oder kaum transferier-
bar sind. Während in den phonologischen und 5.3. Kontrastive Textlinguistik
lexikalisch-semantischen Bereichen die Trans- Etwa seit der Mitte der 80er Jahre ist eine
ferierbarkeit wenig eingeschränkt ist, sie also Hinwendung der Textlinguistik zu kontrasti-
weitestgehend offen sind für Transfer, zeigen ven Fragestellungen zu beobachten. So stellte
sich Restriktionen für Transfer bzw. Trans- man fest, dass die Mittel der Textkohäsion in
ferierbarkeit in der Wortstellungssyntax und ihrer Auswahl, Frequenz und textsortenspezi-
insbes. in der Flexionsmorphologie (Wode fischen Verteilung zwischen Sprachen Unter-
1988, 257). Flexionsmorpheme scheinen dem- schiede aufweisen (vgl. Enkvist 1984, 48f.).
nach weit weniger transferanfällig zu sein Differenzen wies Clyne (1987) auch für die
als die Segmentalia und Suprasegmentalia Textorganisation von englischen und deut-
der Phonologie und das Lexikon. Eine wei- schen wissenschaftlichen Texten nach. Insge-
tere Einschränkung der Transfermöglichkei- samt zeichneten sich sowohl textgrammati-
ten wird im Zusammenhang mit Markiert- sche als auch textstrukturelle Unterschiede
heitsabstufungen gesehen. Danach werden ab, die größer waren als anfangs vermutet
phonologisch markiertere Elemente der Erst- und für die Zukunft die Überlegung plausibel
sprache ersetzt, was zu Aussprachefehlern erscheinen lassen, dass auch auf Textebene
führt. Hingegen geschieht dies nicht, wenn die mit Transfer zu rechnen ist. Textorganisatori-
Elemente der Zweitsprache unmarkiert sind sche Differenzen, die auf die Ausgangskultur
(vgl. Wode 1988, 206f.). Eckman (1977, 320f.) und -sprache der Schreiber zurückzuführen
hatte als erster die Überlegung, dass un- sind, konnte Bickes (1993) bei griechischen
terschiedliche Markiertheitsstufen zwischen
und deutschen Probanden nachweisen.
Sprachen unterschiedliche Lernschwierigkei-
ten zur Folge hätten und diese daher vor-
hersagbar seien. Dabei würden Bereiche der 6. Didaktische Aspekte der
Zweitsprache, die anders, aber weniger mar- Kontrastivhypothese
kiert sind als in der Erstsprache, keine Schwie-
rigkeiten bereiten. Auf Grund der verschiedenen Einwände gegen
die Kontrastivhypothese als Erwerbshypo-
5.2. Kontrastive Pragmatik these und insbes. in Folge des Nachweises der
Erst das Aufkommen und dann rasche Erstar- Unhaltbarkeit ihrer starken Version wird ihr
ken der Pragmalinguistik führte zu einer Er- didaktischer Nutzen als eher gering eingestuft.
weiterung und Verlagerung der Transferpro- Es besteht Konsens darin, dass sie auch bei
blematik in Richtung kommunikativ-pragma- ausgangssprachlich homogenen Lernergrup-
66. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung I 661

pen als Grundlage für eine globale Steuerung sätze als auch in didaktisch-unterrichtsprak-
der didaktischen Prozesse untauglich ist. Hier tische Planungsprozesse als untergeordnetes
sind die Prinzipien steigender Komplexität Teilelement integriert. Diese Entwicklung ist
und kommunikativer Relevanz klar überge- seit den 80er Jahren zu beobachten. Einigkeit
ordnet. Sie fungieren als eigenständige didak- besteht darin, dass sie keinen prognostischen
tische Einflussgrößen. Hinzu kommt, dass Anspruch erheben kann und sie in die als um-
Lernschwierigkeiten bzw. Schwierigkeitshier- fassender zu betrachtende Fehleranalyse dia-
archien nicht auf kontrastivem Wege hergelei- gnostisch einzubeziehen ist. Dabei können
tet werden können, womit eine Progression Fehler oft nicht bloß monokausal etwa als
auf kontrastiver Basis ausscheidet. Folge von Interferenz erklärt werden. Mehr-
Andererseits zeigt aber sowohl die unter- heitlich gibt es andere Einzelursachen oder
richtspraktische Erfahrung als auch die for- sogar einen Komplex von verschiedenen Ur-
schungshistorische Entwicklung seit dem Be- sachen. Systematische Schwierigkeitshierar-
ginn der 80er Jahre, dass die Kontrastivhypo- chien können aus interlingualen Kontrasten
these nicht völlig ohne didaktischen Nutzen nicht hergeleitet werden, wobei sich Ähnlich-
ist. So wird zumindest in Erwägung gezogen, keiten für den Lerner als größere Stolper-
sie in untergeordneter und selektiver Weise steine erwiesen haben als markante Kontra-
nutzbar zu machen. Pädagogische Gramma- ste. Hinzu kommt, dass bis heute der psycho-
tiken und Lehrerhandbücher sollten explizite linguistische Status der verschiedenen inter-
Hinweise auf mögliche interlinguale Pro- lingualen Kontrasttypen (vgl. 3.2.) nicht ge-
blembereiche enthalten und diese darüber klärt ist. Hinsichtlich der sprachlichen Struk-
hinaus in Lehrwerken durch Beispiele mit Er- turbereiche gelten inzwischen Phonologie,
klärungen und spezielle Übungen kognitiv Lexikon und Syntax als deutlich transferan-
bewusst gemacht werden (vgl. Marton 1981,
fälliger als Flexion und Wortbildung. Als
147f.). Dies wird auch von Autoren empfoh-
Forschungsdesiderat existiert m. E. noch im-
len, die sich dabei stärker auf vorherige feh-
lerempirische Untersuchungen stützen, so mer die Frage nach sprachtypologischen Un-
etwa von Pütz (1991, 252f.) für norwegische terschieden und deren Auswirkungen auf
Deutschlerner oder von Putzer (1994, 100f., Transfer und Transferierbarkeit. Die größte
210f. und 314f.) für Lerner mit Italienisch als Schwäche der kontrastiven Erwerbshypo-
Ausgangssprache. Letzterer plädiert dabei für these liegt in ihrer Nichtberücksichtigung der
einen sehr sparsamen Einsatz kontrastiver sozialpsychologischen und individuellen Ein-
Erklärungen durch den Lehrer, um die Ler- flussfaktoren auf Lernprozess und Fehlerver-
ner kognitiv und metasprachlich nicht zu halten und in ihrer „Blindheit“ gegenüber
überfordern (vgl. Putzer 1994, 197). Eine se- unterschiedlichen Erwerbskontexten. Daran
lektive Integration der Kontrastivhypothese wird sich auch in Zukunft nichts ändern, weil
in fremdsprachendidaktische Planungspro- diese außerlinguistischen Faktoren in ihr als
zesse könnte sich auch hinsichtlich der Frage nicht angelegt sind. Dafür zeichnet sich
sprachlichen Strukturebenen ergeben. Wie in besonders in den 90er Jahren in anderer Hin-
5.1. erwähnt, sind unterschiedliche Bereiche sicht eine interessante Entwicklung ab: Inter-
der Sprache unterschiedlich anfällig für (ne- kulturell bedingte Unterschiede in Pragmatik
gativen) Transfer. M. W. gibt es zu diesem und Textorganisation scheinen im Sinne der
Detailproblem z. Zt. aber noch keine didak- Kontrastivhypothese als Fehlerquellen von
tisch systematische Positionsfestlegung. Im Bedeutung und gleichzeitig lohnende Aufga-
sog. positiven Transfer wird im Allgemeinen ben für die zukünftige Forschung zu sein. In
nach wie vor eine lernpsychologische Chance didaktischer Hinsicht dürfte die Kontrastiv-
gesehen und der explizite Verweis auf Über- hypothese auch aus diesem Grund von
einstimmungen und interlinguale Struktur- punktuellem Nutzen sein. Für eine globale di-
analogien im Fremdsprachenunterricht zu- daktische Steuerung ist sie hingegen untaug-
mindest nicht ausgeschlossen. lich.

7. Schlussbemerkungen 8. Literatur in Auswahl


Die Kontrastivhypothese als Folge des beha- Bausch, Karl-Richard (1973): Kontrastive Lingui-
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67. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung II:


der kognitivistische und nativistische Ansatz

1. Vorbemerkung stivhypothese (behavioristischer Einfluss) z. B.


2. Das logische Problem des L1-Erwerbs Transfer aus der L1 eine zentrale Bedeutung
3. Die Universalgrammatik (UG) zugesprochen, so geriet dieser Faktor neben
4. UG und L2-Erwerb. Ein Vorläufer: die
anderen (wie etwa Motivation oder weiteren
Identitätshypothese
5. Das logische Problem des L2-Erwerbs affektiven und sozialen Faktoren) in kogniti-
6. Haben erwachsene L2-Lerner Zugang zur ven Erklärungsansätzen in den Hintergrund,
Universalgrammatik? die sich zunächst in der „Identitätshypo-
7. Schlussbemerkung these“ oder „L1 ⫽ L2-Hypothese“ äußerten.
8. Literatur in Auswahl In dieser Hypothese wird die Existenz univer-
seller, angeborener sprachspezifischer kogni-
tiver Erwerbsmechanismen ⫺ zunächst von
1. Vorbemerkung Chomsky als LAD („language acquisition
device“), später als UG („Universal Gram-
In Abkehr von behavioristischen Lerntheo- mar“) bezeichnet ⫺ angenommen, über die
rien betrachten kognitive Ansätze den Lerner in den unterschiedlichen Spracher-
Spracherwerb nicht als imitativen, sondern werbstypen (L1-Erwerb, ungesteuerter L2-
als kreativen Prozess und interessieren sich Erwerb und gesteuerter L2-Erwerb) gleicher-
für die ursächlichen, allerdings nicht beob- maßen verfügen und die zu vergleichbaren
achtbaren mentalen Strukturen und Prinzi- Lernprozessen und -abläufen führen, die sich
pien, die „black box“. Spracherwerb resul- z. B. in der Einhaltung von Erwerbssequen-
tiert danach aus dem Generieren und Testen zen (vgl. Art. 68) erkennen lassen. Dieser
von Hypothesen zur Beschaffenheit der Ziel- psycholinguistischen Theorie des Spracher-
sprache durch den Lernenden. Chomskys werbs und dabei insb. ihrer Relevanz für
(1959) berühmte Skinner-Rezension markiert den gesteuerten L2-Erwerb wurde von der
einen wichtigen Wendepunkt, dem die Ent- neu begründeten deutschen Sprachlehrfor-
wicklung einer bis heute sehr einflussreichen schung vehement v. a. mit dem Argument
und fortwährend weiterentwickelten lingui- widersprochen, dass die Multidimensionali-
stischen Theorie, der Generativen Gramma- tät des Fremdsprachenerwerbs („Faktoren-
tik (vgl. Chomsky 1965; 1981; 1986), folgte, komplexion“) nicht berücksichtigt werde
die eine universelle Erklärung des L1-Er- (vgl. Koordinierungsgremium Sprachlehrfor-
werbs beinhaltete und die in der Folge auch schung 1983). Die daraus entstandene Kon-
die Zweitsprachenerwerbsforschung beein- troverse zwischen der deutschen Zweitspra-
flusste und Ansätzen zur Erklärung des L2- chenerwerbsforschung und Sprachlehrfor-
Erwerbs eine grundsätzlich andere Ausrich- schung ist z. B. in den Beiträgen von Bausch/
tung verlieh. Wurde innerhalb der Kontra- Königs (1983); Felix/Hahn (1985); Wode
664 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

(1985) und Bausch/Königs (1985) dokumen- als Verursacher hierfür kann ausgeschlossen
tiert. werden. Des Weiteren spielen individuelle
In den letzten Jahren wich die Identitäts- Unterschiede wie etwa Intelligenz oder so-
hypothese Überlegungen, ob und inwieweit ziales Umfeld offensichtlich keine Rolle,
Lerner auf ihr angeborenes linguistisches der kindliche L1-Erwerb gelingt, abgesehen
Wissen ⫺ die Universalgrammatik ⫺ auch von pathologischen Einzelfällen, mit großer
während des L2-Erwerbs Zugang haben. Leichtigkeit.

2. Das logische Problem des 3. Die Universalgrammatik (UG)


L1-Erwerbs
Die nativistische Position löst dieses logische
Natürliche Sprachen verstehen und produzie- Problem in der Annahme angeborener men-
ren zu können, gilt als gattungsspezifische taler Fähigkeiten zum Spracherwerb, ge-
Fähigkeit des menschlichen Individuums. nauer: angeborenen linguistischen Wissens,
Dass Menschen allerdings den Erwerb dieser das bei vorhandenem sprachlichem Input ak-
sprachlichen Fähigkeiten zumindest für den tiviert wird und den Spracherwerb erst er-
L1-Erwerb gleichermaßen erfolgreich bewäl- möglicht. „Wissen“ ist innerhalb der deut-
tigen, wird häufig als „logisches Problem“ schen Sprache ein problematischer Terminus,
bezeichnet, mit dem eine Absage an die in den da sein semantisches Feld eine Relation zu
50er und 60er Jahren gängige behavioristische „Bewusstheit“ einschließt. Wissen innerhalb
Auffassung des Spracherwerbs verbunden ist. der Theorie der Generativen Grammatik be-
Zentral hierfür ist die Beobachtung, dass Kin- deutet allerdings stets „implizites“, unbe-
der linguistisches (implizites) Wissen erwer- wusstes Wissen, das auf der Performanz-
ben, das ihnen die Produktion (und Rezep- ebene, im Können, nur indirekt beobachtbar
tion) grammatisch akzeptabler Sätze und Äu- ist.
ßerungen erlaubt, die aber nicht allein dem Spezifikum dieses linguistischen Moduls,
sprachlichen Umfeld entstammen können das als Universalgrammatik (UG) bezeichnet
(⫽ „poverty of stimulus“-Argument). Induk- wird, ist seine Unabhängigkeit von anderen
tive Generalisierung scheidet als alleinige kognitiven Fähigkeiten wie etwa allgemeinen
Lernstrategie aus, denn: Das Umfeld liefert Problemlösungs- und Lernstrategien. Inhalt
dieses angeborenen Spracherwerbsmechanis-
(a) quantititiv ungenügenden Input, was
mus sind die sog. Prinzipien, die sprachuni-
Kinder nicht daran hindert, auch sprachliche
versell sind und als höchst abstrakte, unbe-
Strukturen zu erwerben, die im Input unter-
wusst im mentalen System repräsentierte
repräsentiert sind;
Kerngrammatik zu verstehen sind, die Ed-
(b) qualitativ ungenügenden Input, d. h.,
mondson (1999, 25) auch als „grammar of
Kinder entwickeln ein System von Regeln
enablement, not a grammar of proficiency“
und Prinzipien der Zielsprache, obwohl der
oder als „some inborn feeling about how lan-
Input diese nicht explizit liefert (Eltern lehren
guage can work“ beschreibt. Der Zugang zu
ihre Kinder gewöhnlich keine Grammatikre-
diesen genetisch angelegten Prinzipien wäh-
geln);
rend des Spracherwerbs führt dazu, daß
(c) fehlerhaften Input, aber Merkmale der
keine „wilde“, d. h. völlig unsystematische
gesprochenen Sprache (morphosyntaktische
Grammatik entwickelt wird. Verfügbar ist
Abweichungen, Abbrüche, Versprecher etc.)
vielmehr ein Wissen darüber, dass im System
beeinträchtigen den Spracherwerb nicht;
natürlicher Sprachen etwa Wortarten oder
(d) keine oder kaum negative Evidenz,
Wortstellungsregeln enthalten sind. Shar-
d. h., Kinder erhalten kaum oder keine exter-
wood Smith (1994, 144) beschreibt dies auch
nen Hilfen wie negatives Feedback zur
eingängig mit „UG ist not ,a‘ grammar but a
Zurückweisung grammatisch inakzeptabler
set of limits“. Als Beispiel für ein bekanntes
Konstruktionen bzw. scheinen gegen Fremd-
Prinzip soll hier das „Subjazenzprinzip“ (sub-
korrekturen resistent zu sein.
jacency) genannt werden, das die Möglichkei-
Ein weiteres L1-Erwerbsphänomen sind ten zur Bildung von Satzumstellungstrans-
sprachliche Entwicklungsstufen, die sprachli- formationen (in von Sprache zu Sprache un-
che Formen aufweisen, die nicht der ziel- terschiedlichem Ausmaß) einschränkt. Das
sprachlichen Norm entsprechen, aber den- durchgängig behandelte Beispiel sind inak-
noch systematischen Charakter haben. Input zeptable Transformationen von Sätzen mit
67. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung II 665

Fragepronomen, insb. das „wh movement“ mentale Ausstattung nicht nur den L1-, son-
im Englischen. Die Prinzipien der UG wer- dern auch den L2-Erwerb steuert. In der Tat
den ergänzt durch eine begrenzte Anzahl von ist dieses von der Fremdsprachenerwerbsfor-
sprachspezifischen Optionen, sog. Parameter. schung seit den 60er Jahren vielfach behaup-
Ein innerhalb der Generativen Grammatik tet, empirisch untersucht und zunächst als
bekannter Parameter ist der „Pro-Drop-Pa- „Identitätshypothese“ oder „L1 ⫽ L2-Hypo-
rameter“, der die Grammatikalität von Sät- these“ bekannt geworden. Erste ⫺ inzwischen
zen, in denen die Subjektposition unbesetzt sehr umstrittene ⫺ Evidenzen erbrachte mit
bleibt, z. B. im Italienischen, nicht beein- den bekannten produktorientierten Mor-
trächtigt, wohingegen dies normalerweise für phemstudien und Fehleranalysen das For-
das Deutsche nicht zutrifft (Jens liest, aber: scherteam Dulay und Burt (1974a; 1974b),
*liest). Die Festlegung auf einen Parameter, das zu dem Schluss kam, dass dem L1- und
die Parameterfixierung, erfolgt durch sprach- L2-Erwerb dieselben psycholinguistischen
spezifischen Input, den das sprachliche Um- Prozesse zu Grunde liegen und deshalb die
feld liefert, und stellt die eigentliche Lernauf- Kontrastivhypothese abzulehnen sei. Lerner
gabe dar: Der (hier noch: kindliche) Sprach- entwickeln danach mit Hilfe des fremd-
erwerber muss durch das Generieren und sprachlichen Inputs Hypothesen über die
Testen von Hypothesen lernen, wie in der je- Struktur der Zielsprache, die permanent mo-
weiligen Sprache die Prinzipien repräsentiert difiziert werden; diese Beschreibung des Er-
sind und welche Parameter zu beachten sind. werbsprozesses wurde als „creative construc-
Das Hypothesentesten ist hierbei weitgehend tion“ bekannt, was gleichermaßen die kogni-
als interner Prozess des Abgleichens der tive Leistung und die universelle Ausprägung
Sprachproduktion mit der Universalgram- des Spracherwerbs betont. Die von Dulay
matik aufzufassen, da negative Evidenz nur
und Burt propagierte starke Version der Iden-
selten vorliegt. Des weiteren besagt die Theo-
titätshypothese besagt, dass sowohl die Pro-
rie, dass nicht jeder Parameter durch die Ver-
arbeitung des Inputs fixiert wird, da durch zesse als auch die Produkte des L1- und L2-
den Erwerb eines Parameters gleichzeitig an- Erwerbs identisch seien, was man insb. durch
dere, die durch ihn impliziert sind, mitgelernt gleichförmige Erwerbsfolgen nachzuweisen
werden (z. B. ein Parameter zur Wortstellung suchte. Bereits in den 70er Jahren wurde
inklusive des Pro-Drop-Parameters). Dieses diese starke Version falsifiziert, da Vergleichs-
angenommene Potential der UG, bekannt als studien abweichende Erwerbssequenzen erga-
„Projektionshypothese“, reduziert die zu be- ben. Die schwache Version der Identitäts-
wältigende Lernaufgabe und löst gleichzeitig hypothese behauptet dagegen lediglich eine
das Problem der Unterdeterminiertheit des Ähnlichkeit zwischen L1- und L2-Erwerb.
verfügbaren Inputs. Nachgewiesene Ähnlichkeiten auf der Pro-
Demnach ist die UG als ein System von duktebene sind allerdings damit nicht aus-
Prinzipien und Parametern bezüglich des syn- schließlich auf angeborene sprachliche Fähig-
taktischen Systems natürlicher Sprachen zu keiten zurückzuführen, sondern auch mit der
beschreiben. Nicht jeder sprachliche Aspekt kreativen Entschlüsselung des zielsprach-
ist damit allerdings erfasst, mit fremdspra- lichen Systems inklusive der Verwendung vor-
chendidaktischen Augen gesehen eher nur ein handener Wissensbestände (z. B. L1-Wissen,
kleiner: Das Lexikon, weite Teile der Phono- bereits vorhandenes explizites oder implizites
logie und Flexionsmorphologie und, nicht zu L2-Wissen sowie Weltwissen) und allgemeiner
vergessen, Semantik und Pragmatik, müssen Lernstrategien zu erklären, was Ergebnisse
individuell und sprachspezifisch gelernt wer- der Lernersprachenforschung bestätigen (vgl.
den. Dennoch liefert die UG eine Erklärung Bausch/Kasper 1979; Ellis 1985).
für den L1-Erwerb als einen Lernprozess sui
generis und die Lösung seines logischen Pro-
blems (vgl. die Einführungen von Fanselow/ 5. Das logische Problem des
Felix 1987 und Cook 1988). L2-Erwerbs

4. UG und L2-Erwerb. Ein Vorläufer: Die in 2 aufgeführten Faktoren der Unterde-


terminiertheit des Inputs sind angesichts
die Identitätshypothese mancher Vagheiten und undifferenzierter
Akzeptiert man die Hypothese, dass Men- Spracherwerbskontexte nicht ohne Kritik ge-
schen angeborene Spracherwerbsfähigkeiten blieben (vgl. z. B. Wode 1988, 18ff.). Die
besitzen, liegt die Vermutung nahe, dass diese Identitätshypothese beruht v. a. auf dem Ver-
666 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

gleich zwischen dem L1-Erwerb und dem un- sung an das soziale Umfeld ist bei Erwachse-
gesteuerten Zweitsprachenerwerb und Er- nen fortgeschritten.
kenntnissen über deren ähnliche Erwerbsver- (e) Im Unterschied zu L1-Lernern haben
läufe. Durch den ursprünglichen Ausschluss L2-Lerner eher Zugang zu negativer Evidenz,
des gesteuerten Erwerbskontextes waren Ein- insb. im Kontext des gesteuerten L2-Erwerbs
flussnahmen externer Faktoren wie explizite (negatives Feedback durch den Lehrer; Kor-
grammatische Instruktion auszuschließen. rekturen), und schätzen diese als notwendig
Die aufgefundenen Ähnlichkeiten sind aller- oder zumindest nützlich ein. Qualität und
dings nicht unbedingt als Beleg für die Wirk- Quantität der negativen Evidenz variieren in-
samkeit der UG zu interpretieren; beobacht- nerhalb und zwischen den unterschiedlichen
bare identische oder vergleichbare Entwick- L2-Erwerbstypen, deshalb ist nicht auszu-
lungssequenzen auf der Ebene der lerner- schließen, dass wie im L1-Erwerb die positive
sprachlichen Performanz sind noch kein Be- Evidenz entscheidenden Anteil in der Unter-
weis für die Wirksamkeit angeborener menta- stützung des Hypothesengenerierens und -te-
ler Prinzipien (Edmondson 1999). Dennoch stens hat.
kann das „poverty of stimulus“-Argument (f) Fossilierung und Back-Sliding im Be-
auch auf die unterschiedlichen Kontexte des reich Grammatik sind bekannte Phänomene
L2-Erwerbs übertragen werden. Auch L2- in lernersprachlichen Entwicklungen, aber
Lerner kreieren lernersprachliche Produkte, für den L1-Erwerb unbelegt.
die nicht allein dem zielsprachlichen Umfeld (g) Im Unterschied zum L1-Erwerb spielen
entstammen können, die außerdem entwick- individuell unterschiedlich ausgeprägte Fak-
lungsspezifische Phänomene (Fehler) aufwei- toren wie z. B. Motivation, Einstellungen, so-
sen und keiner „wilden“ Grammatik ent- ziales Umfeld oder Lernstile und Einsatz von
stammen. Lernstrategien nachgewiesenermaßen eine
Die Unterschiede zwischen dem L1- und wichtige Rolle für erfolgreichen L2-Erwerb.
L2-Erwerb jedweden Typs sind jedoch offen- Nicht alle erwähnten Unterschiede sind als
sichtlich (vgl. auch Bley-Vroman 1989). Argumente wider die Wirksamkeit der UG
(a) Während Misserfolg im L1-Erwerb un- im L2-Erwerb zu interpretieren, da viele
wahrscheinlich ist, ist das Erlangen mutter- nicht die kerngrammatischen Belange der
sprachenähnlicher Fähigkeiten und Fertigkei- Zielsprache betreffen. Dennoch scheint die
ten in einer L2 für die meisten Fremdspra- Frage erlaubt, welche empirisch nachweisba-
chenlerner eine Illusion. Besonders proble- ren Unterschiede zwischen den unterschiedli-
matisch scheint der Erwerb der zielsprach- chen Spracherwerbstypen noch eine stärkere
lichen Aussprache zu sein, aber auch gram- oder schwächere oder gar keine Version der
matische Kernbereiche (wie etwa die Wort- L1 ⫽ L2-Hypothese logischerweise zulassen.
stellung im Deutschen) bleiben auch für viele Übersetzt man das logische Problem des L2-
weit fortgeschrittene L2-Lerner ein Problem. Erwerbs mit „Warum existiert individuelle
Das letztlich erreichbare fremdsprachliche Variation?“, so kann das nativistische Kon-
Leistungsniveau ist durch individuelle Varia- zept keine umfassende Antwort bieten. Ange-
tion gekennzeichnet. messener ist lediglich die Erwartung, Hin-
(b) Während es keine Belege dafür gibt, weise bezüglich der Existenz eines auch im
dass der L1-Erwerb in bestimmten Sprachen L2-Erwerb wirksamen angeborenen sprach-
schwieriger ist als in anderen, ist die Klage spezifischen Moduls zu erhalten.
von L2-Lernern alltäglich, dass bestimmte
Fremdsprachen schwieriger als andere seien. 6. Haben erwachsene L2-Lerner
(c) L2-Lerner verfügen bereits über ihre L1 Zugang zur Universalgrammatik?
und können ihr L1-Wissen bewusst oder un-
bewusst einsetzen. Seit den 80er Jahren sind empirische Untersu-
(d) Der Faktor Alter spielt eine wichtige chungen, die sich mit unterschiedlichen Prinzi-
Rolle (auch in der Annahme unterschiedli- pien der UG und Parameterfixierungen im L2-
cher Erfolgswahrscheinlichkeiten), erwach- Erwerb von Erwachsenen beschäftigen, Teil
sene L2-Lerner sind in ihrer allgemeinen kog- eines relevanten und kontrovers diskutierten
nitiven Entwicklung ausgereift, während bei Forschungsbereichs in der Fremdsprachen-
Kindern die Kerngrammatik erworben ist, erwerbsforschung (vgl. Cook 1988, 170ff.;
bevor die kognitive Ausreifung fortgeschrit- White 1989). Zur Lösung des logischen Pro-
ten bzw. abgeschlossen ist. Auch die Anpas- blems des L2-Erwerbs sind vier Erklärungsan-
67. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung II 667

sätze zu unterscheiden, die die Relevanz und (1986) stellt z. B. für den Pro-Drop-Parameter
den Anteil eines sich während des L2-Erwerbs fest, dass Lerner, deren L1 (hier: Spanisch ⫽
entfaltenden angeborenen Programms und ⫹ pro-drop) und L2 (hier: Englisch ⫽ ⫺ pro-
der allgemeinen intellektuellen Entwicklung drop) unterschiedliche Werte dieses Parame-
des Lerners unterschiedlich einschätzen. Die ters aufweisen, größere Schwierigkeiten ha-
Zuordbarkeit einzelner empirischer Studien ben, die Ungrammatikalität von fremdsprach-
zu den Ansätzen ist dabei sicherlich nicht ein- lichen Sätzen, bei denen das Subjekt getilgt
deutig. In einer Untersuchung von Bley-Vro- wurde, zu erkennen, wohingegen Lerner mit
man/Felix und Ioup (1988) wurde z. B. festge- hinsichtlich dieses Parameters äquivalenter L1
stellt, dass Lerner des Englischen über Wissen (hier: Französisch ⫽ ⫺ pro-drop) beim Gram-
bezüglich des Subjazenzprinzips verfügen, ob- matikalitätstest besser abschneiden.
wohl das „wh movement“ in ihrer L1 (hier:
Koreanisch) kaum ausgeprägt ist. Dies könnte 6.3. Konkurrierende kognitive Systeme
als Beleg für Position 6.1. interpretiert werden: Einen anderen Ansatz zur Lösung des logi-
Die UG ist verfügbar, da reiner Zufall ausge- schen Problems des L2-Erwerbs bietet Felix
schlossen werden konnte. Da Parameterfixie- (1982; 1985) in einer Kombination der Theo-
rung kein Untersuchungsgegenstand ist, wäre rien Chomskys und Piagets, der auch im-
auch eine Version von 6.2. (die Prinzipien sind stande ist, individuelle Unterschiede im Er-
verfügbar) denkbar. Eine andere Lesart, die folgsgrad des L2-Erwerbs jenseits des (indi-
erklärt, warum aber die getesteten Lerner im rekten) Einflusses der L1 zu erklären. Dieser
Vergleich zu Muttersprachlern im Test Ansatz ist auch als „competition model“
schlechter abschneiden, bietet Position 6.3. bekannt. Danach haben auch erwachsene
(UG wird blockiert). Lerner Zugang zur UG (hier als „language-
specific cognitive system“ ⫽ LSC bezeich-
6.1. Vollständiger Zugang net), diese wird in ihrer Wirksamkeit jedoch
Die Auffassung, auch erwachsene Lerner ver- durch einen „potenten Konkurrenten“ einge-
fügten über vollständigen Zugang zur UG, schränkt, nämlich durch die ausgereiften all-
entspricht einer starken Version der Identi- gemeinen kognitiven Fähigkeiten („problem-
tätshypothese. Danach sind alle UG-Prinzi- solving cognitive system“ ⫽ PSC), die „quasi
pien aktivierbar; L2-Parameter, die der L1 eine Art Bremsfunktion“ einnehmen (Felix
nicht entsprechen, können ohne den Einsatz 1982: 292). Dieses PSC würde zur Lösung
allgemeiner Lernstrategien neu fixiert wer- von Problemen ⫺ und als solche Aufgabe wird
den. Im Äquivalenzfall sei allerdings der der Spracherwerb vom mentalen System eines
Lernprozess vereinfacht, damit wird der L1 Erwachsenen aufgefasst ⫺ eingesetzt und
bzw. dem L1-Wissen ein bedeutsamer Ein- könnte nicht bewusst unterdrückt werden, ob-
fluss zugestanden, eine Relevanz des Faktors wohl es für den Spracherwerb weitgehend un-
Alter wird zurückgewiesen. Diese Position geeignet sei. Allenfalls der Umfang, in dem
wird von Flynn (1987) vertreten; in White das PSC die Aktivierung der LSC hemmt, sei
(1989), die verschiedene empirische Studien individuell unterschiedlich, ebenso der Ein-
zur Parameterneufixierung vorstellt, wird je- fluss externer Faktoren (etwa soziales Um-
doch deutlich, dass die Ergebnisse keineswegs feld oder Motivation) auf das PSC. Insbeson-
eindeutig sind und als Hinweise dafür inter- dere dem gesteuerten Fremdsprachenerwerb
pretierbar sind, dass eher einer abgeschwäch- wird relative Chancenlosigkeit nachgesagt,
ten Version der Hypothese zuzustimmen sei. da im Fremdsprachenunterricht insbesondere
das PSC stimuliert würde. Bley-Vroman
6.2. Teilweiser Zugang (1989, 60f.) gibt allerdings berechtigterweise
Nach dieser Auffassung (vertreten z. B. von zu bedenken, dass man die Hypothese der
Schachter 1988) sind lediglich die Prinzipien, konkurrierenden kognitiven Systeme auch so
nicht aber die Parameter zugänglich. Alterna- interpretieren könne, dass gute Problemlöser
tiv dazu wurde ermittelt, dass lediglich diejeni- oder gut motivierte Lerner folglich die
gen Prinzipien und Parameter, die während schlechteren Lerner seien und vice versa, was
des L1-Erwerbs aktiviert bzw. fixiert wurden, angesichts der Forschungslage zu individuel-
auch während des L2-Erwerbs wirksam wer- len Unterschieden abzulehnen sei. Auch die
den. Eine Neufixierung von Parametern ge- Falsifizierbarkeit der Hypothese scheint pro-
lingt nur (und möglicherweise für bestimmte blematisch zu sein: Wie kann der jeweilige
Strukturen der L2 nie vollständig) durch den Anteil von PSC und LSC nachvollziehbar
Einsatz allgemeiner Lernstrategien. White und valide aufgezeigt werden?
668 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

6.4. Kein Zugang Erwerb dieser Struktur dagegen nur mit


Mit der „Fundamental Difference“-Hypo- Schwierigkeiten und durchlaufen mehrere
these (Bley-Vroman 1989) wird die Auffas- Stadien (vgl. die Ergebnisse des ZISA-Pro-
sung vertreten, dass nach abgeschlossenem jekts; s. Art. 68), wobei lange Zeit (oder bei
L1-Erwerb die UG nicht mehr verfügbar ist Fossilierung endgültig) die Stellung des Verbs
⫺ also nicht einmal die Prinzipien der UG ⫺ in Postsubjektposition beibehalten wird. Ler-
und allgemeine Problemlösungs- und Lern- ner unterschiedlicher Erstsprachen produzie-
strategien verwendet werden. Daraus folgt, ren in frühen (vgl. a⫺b) und späten (vgl.
dass dem L1- und L2-Erwerb keinerlei identi- c⫺d) Erwerbsphasen Äußerungen wie die fol-
sche oder ähnliche Prinzipien zu Grunde lie- genden (entnommen aus Clahsen/Muysken
gen, die Spracherwerbstypen damit funda- 1986, 107ff.):
mental unterschiedlich sind. Die „Fundamen- (a) das er kaufen in de strass
tal Difference“-Hypothese markiert damit die (b) ein herr verkaufen blumen
Gegenposition zur Identitätshypothese. (c) er macht grammatik so dass wir kann
Ein Überblick von Clahsen und Muysken nicht verstehen
(1986) über mehrere empirische Studien zum (d) wenn sie will gehen
Erwerb der deutschen Wortstellung im kind-
lichen L1- und erwachsenen (ungesteuerten) Dieses lernersprachliche Phänomen erklären
L2-Erwerb, woraus einige Ergebnisse im fol- die Autoren mit Übergeneralisierung der ka-
genden exemplarisch dargestellt werden sol- nonischen Wortstellung ⫺ Transfer aus der
len, unterstützt diese Position. Die Autoren L1 wird mit dem Verweis auf Herkunftsspra-
können aufzeigen, dass Kinder das UG-Prin- chen, die nicht der SVO-Wortstellung ent-
zip des „move alpha“ (was in etwa soviel be- sprechen (hier: Türkisch), zurückgewiesen.
deutet wie „bewege irgendwas“) für den Er- L2-Lerner würden also nicht auf die UG re-
werb der deutschen Verbstellung in Haupt- kurrieren, sondern allgemeine Problemlö-
und Nebensätzen realisieren. Die folgenden sungsstrategien aktivieren. Über weitere Be-
Beispielsätze einer Implikationsskala (ent- lege für die „Fundamental Difference“-Hy-
nommen aus Clahsen/Muysken 1986, 98f.) pothese aus den Bereichen deutsche Konju-
zeigen, dass zunächst keine fixierte Verbstel- gation und Negation berichten Clahsen und
lung besteht, aber sowohl für finite als auch Muysken (1989).
infinite Verbformen die Endstellung vor-
herrscht, während das Prinzip der Verschie-
bung finiter Verbformen erst in späteren Sta- 7. Schlussbemerkung
dien erworben wird.
Im Vorangegangenen wurde kaum auf me-
Stadium 1: thodologische Aspekte der UG-Forschung
ich bau ein mast eingegangen. Dabei ist die Frage, welche em-
der teddy zu dick ist pirischen Daten Evidenzen für ein angebore-
ich schaufel haben nes sprachspezifisches mentales Modul er-
rausholt hier bringen können, ein noch nicht befriedigend
Stadium 2: gelöstes Problem. Neben der Analyse von
deckel drauftun einmalig oder longitudinal erhobenen Ler-
purzel pierkorb rausräum nerproduktdaten (wie etwa in Clahsen/Muys-
Stadium 3: ken 1986; 1989) wurden insb. sog. „Gramma-
die Schere hat Julia tikalitätsurteile“ eingeholt, bei denen die
ein Schiff muss du erst jetzt bauen Testpersonen Sätze der L1 oder L2 auf ihre
hab ein wurst mach grammatische Akzeptabilität einschätzen so-
len (z. B. in den im vorangegangenen ange-
Stadium 4: sprochenen Studien von White 1986 und
guck was ich in mein Tasche hab Bley-Vroman/Felix/Ioup 1988). Die Fähig-
ich will mal sehen ob das schwarz ist keit, Sätze z. B. der L1, die ein kompetenter
Beeindruckenderweise scheinen Kinder keine native speaker möglicherweise noch nie ge-
Probleme mit der finalen Position des finiten hört hat, auf ihre grammatische Richtigkeit
Verbs in komplexen Nebensatzkonstruktio- hin zu beurteilen (ohne dass hierfür explizites
nen zu haben. Die syntaktische Form ist zeit- grammatisches Wissen vorliegt), wird als Be-
gleich mit ihrem Auftreten in der kindlichen leg für die Existenz der UG bewertet. Welche
Sprache fehlerfrei. L2-Lerner bewältigen den kognitiven Fähigkeiten eine Testperson bei
67. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung II 669

dieser Aufgabe ⫺ und bes. wenn es sich um ⫺; ⫺ (1985): (Er-)Werben und (Er-)Lernen. Eine
fremdsprachliche Sätze handelt ⫺ einsetzt, ist Antwort auf zwei Antworten. In: Die Neueren
letztlich jedoch nicht überprüfbar; außer der Sprachen 84, 218⫺233.
UG wären andere denkbar: allgemeine Prob- Bley-Vroman, Robert (1989): What is the logical
lemlösungsstrategien, Weltwissen, L1-Wis- problem of foreign language learning? In: Susan
sen, vorhandenes explizites und implizites Gass; Jacquelyn Schachter (Hg.): Linguistic per-
spectives on second language acquisition. Cam-
L2-Wissen oder vielleicht auch Erfahrungen
bridge, 41⫺68.
mit anderen Fremdsprachen (vgl. auch Ellis
1991). Auch das Problem, wieviel individuelle ⫺; Sascha Felix; Georgette Ioup (1988): The acces-
sibility of Universal Grammar in adult language
Variation oder Variation innerhalb der Ver- learning. In: Second Language Research 4, 1⫺32.
suchsgruppen noch auf Zugang zur UG
Chomsky, Noam (1959): Review of „verbal behav-
schließen lässt, wird unterschiedlich gehand-
ior“ by B. F. Skinner. In: Language 35, 26⫺58.
habt.
Welche der im Vorangegangenen darge- ⫺ (1965): Aspects of the theory of syntax. Cam-
bridge.
stellten Positionen dem L2-Erwerb am besten
gerecht wird, ist momentan schwer einschätz- ⫺ (1981): Lectures on government and binding.
bar. Edmondson (1999, 51 ff.) diskutiert ei- Dordrecht.
nige UG-orientierte Studien und kommt zu ⫺ (1986): Knowledge of language: its nature, origin,
dem Schluss, dass Ergebnisse, die die Positio- and use. New York.
nen 6.1. bis 6.3. unterstützen, auch mit Ver- Clahsen, Harald; Pieter Muysken (1986): The
zicht auf die UG zu interpretieren seien. Aber availability of universal grammar to adult and
auch eine Favorisierung der „Fundamental child learners ⫺ a study of the acquisition of Ger-
man word order. In: Second Language Research 2,
Difference“-Hypothese muss nicht mit der ge- 93⫺119.
nerellen Absage an einen nativistischen Erklä-
⫺; ⫺ (1989): The UG paradox in L2 acquisition.
rungsansatz des L2-Erwerbs verbunden sein ⫺
In: Second Language Research 5, 1⫺29.
auch wenn stark ausgeprägte individuelle Un-
terschiede bestehen: Die Fähigkeit, in gewis- Cook, Vivian (1988): Chomsky’s Universal Gram-
mar. An introduction. Oxford (Applied Language
sem Umfang eine Fremdsprache zu erwerben, Studies).
ist ein menschliches Spezifikum und weist auf
Dulay, Heide; Marina Burt (1974a): Natural se-
eine bestimmte Ausstattung hin ⫺ die nicht
quences in child second language acquisition. In:
notwendigerweise sprachspezifischer Natur Language Learning 24, 37⫺53.
sein muss.
⫺; ⫺ (1974b): Errors and strategies in child second
Didaktische Empfehlungen aus den theo- language acquisition. In: TESOL Quarterly 8,
rieorientierten Forschungen zur Universal- 129⫺136.
grammatik abzuleiten, ist kaum möglich, da
Edmondson, Willis (1999): Twelve lectures on sec-
ihr Untersuchungsgegenstand (Kerngramma- ond language acquisition. Tübingen (Language in
tik) nur einem kleinen Teilbereich der fremd- Performance).
sprachenunterrichtlichen Wirklichkeit mit ih- Ellis, Rod (1985): The L1 ⫽ L2 hypothesis: a re-
ren weitgestreuten Lernzielen entspricht (vgl. consideration. In: System 13, 9⫺24.
auch Ellis 1995). Auch eine denkbare nega-
⫺ (1991): Grammaticality judgments and second
tive Empfehlung besäße kaum Innovations- language acquisition. In: Studies in Second Lan-
kraft: alle grammatischen Bereiche, die die guage Acquisition 13, 161⫺186.
Universalgrammatik (eventuell) steuert, zu ⫺ (1995): Appraising second language acquisition
vernachlässigen und den „Rest“ ins Zentrum theory in relation to language pedagogy. In: Guy
des Fremdsprachenunterrichts zu rücken. Cook; Barbara Seidlhofer (Hg.): Principle & prac-
tice in applied linguistics. Studies in honour of H. G.
Widdowson. Oxford.
8. Literatur in Auswahl Fanselow, Gisbert; Sascha Felix (1987): Sprach-
Bausch, K.-Richard; Gabriele Kasper (1979): Der theorie. Eine Einführung in die Generative Gramma-
Zweitsprachenerwerb: Möglichkeiten und Grenzen tik. Bd. 1: Grundlagen und Zielsetzungen, Bd. 2: Die
der „großen“ Hypothesen. In: Linguistische Be- Rektions- und Bindungstheorie. Tübingen/Basel.
richte 64, 3⫺35. Felix, Sascha (1982): Psycholinguistische Aspekte
des Zweitsprachenerwerbs. Tübingen.
⫺; Frank Königs (1983): ,Lernt‘ oder ,erwirbt‘ man
Fremdsprachen im Unterricht? Zum Verhältnis ⫺ (1985): More evidence on competing cognitive
von Sprachlehrforschung und Zweitsprachener- systems. In: Second Language Research 1, 47⫺72.
werbsforschung. In: Die Neueren Sprachen 82, ⫺; Angela Hahn (1985): Fremdsprachenunterricht
308⫺336. und Spracherwerbsforschung. Eine Antwort an
670 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

K.-R. Bausch und F. Königs. In: Die Neueren Spra- investigation of the pro-drop parameter. In: Vivian
chen 84, 191⫺206. Cook (Hg.): Experimental approaches to second
Flynn, Susann (1987): A parameter-setting model of language acquisition. Oxford u. a. (Language Tea-
L2 acquisition. Dordrecht. ching Methodology Series).
White, Lydia (1989): Universal Grammar and sec-
Koordinierungsgremium im DFG-Schwerpunkt
ond language acquisition. Amsterdam/Philadelphia
„Sprachlehrforschung“ (Hg.) (1983): Sprachlehr-
(Language Acquisition & Language Disorders).
und Sprachlernforschung: Begründung einer Diszi-
plin. Tübingen. Wode, Henning (1985): Die Revolution frißt ihre
Eltern. Eine Erwiderung auf Bausch/Königs
Schachter, Jacquelyn (1988): Second language ac- „ ,Lernt‘ oder ,erwirbt‘ man Fremdsprachen im
quisition and its relationship to Universal Gram- Unterricht? Zum Verhältnis von Sprachlehrfor-
mar. In: Applied Linguistics 9, 219⫺235. schung und Zweitsprachenerwerbsforschung“. In:
Sharwood Smith, Michael (1994): Second language Die Neueren Sprachen 84, 206⫺218.
learning: theoretical foundations. London/New ⫺ (1988): Einführung in die Psycholinguistik. Theo-
York (Applied Linguistics and Language Study). rien, Methoden, Ergebnisse. Ismaning.
White, Lydia (1986): Implications of parametric
variation for adult second language acquisition: an Claudia Riemer, Hamburg (Deutschland)

68. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung III:


der sequenzielle Ansatz

1. Einleitung des Verlaufs in eine Abfolge von zeitlich auf-


2. Die Erwerbssequenzhypothese einander folgenden Schritten einzuteilen.
3. Terminologie Derartige Aussagen zum Verlauf des Zweit-
4. Zwei Arten von Erwerbssequenz und zwei sprachenerwerbs sind in der Literatur allge-
Forschungsrichtungen
5. Vorbild L1-Forschung
genwärtig; überall, wo Spracherwerbsver-
6. Ziele läufe beschrieben werden, ist in irgendeiner
7. Illustrationsbeispiele Weise von aufeinander folgenden Phasen
8. Kritik oder Stadien die Rede. Nicht alle Studien je-
9. Sequenzieller Ansatz und doch, in denen Zweitsprachenerwerb in Form
Fremdsprachenunterricht: einer Abfolge von Stadien beschrieben wird,
Die Lehrbarkeitshypothese sind dem sequenziellen Ansatz zuzurechnen,
10. Literatur in Auswahl wie er im Titel genannt ist. Wie aus dem er-
sten Teil der Überschrift hervorgeht, wird es
hier um solche Studien gehen, in denen die
1. Einleitung gefundenen Abfolgen der Erwerbsschritte als
Aus welcher Sicht auch immer man Zweit- überindividuelle Gesetzmäßigkeiten interpre-
sprachenerwerb betrachtet, völlig unstrittig tiert werden. Die jeweils beschriebene sprach-
dürfte die Feststellung sein, dass die dabei in- liche Entwicklung der Lerner wird insofern
volvierten Vorgänge eine zeitliche Dimension als prädeterminiert betrachtet, als die postu-
besitzen. Sprachen bzw. sprachliche Sub- lierten Erwerbsabfolgen für alle Lerner Gül-
systeme werden nicht ,von heute auf morgen‘ tigkeit besitzen und für künftige vergleich-
erworben; spracherwerbliche Vorgänge zie- bare Fälle von Zweitsprachenerwerb vorher-
hen sich vielmehr über Wochen, Monate und sagbar sein sollen. Einem solchen Verständ-
Jahre hin. Insofern sind deskriptive Aussagen nis des Zweitsprachenerwerbs liegt die Er-
über den Erwerb bestimmter sprachlicher werbssequenzhypothese zu Grunde.
Teilbereiche stets (implizit oder explizit) Aus-
sagen über Erwerbsverläufe. Dies wiederum 2. Die Erwerbssequenzhypothese
impliziert ein sequenzielles Moment, denn um
Erwerbsverläufe überschaubar zu machen In ihrer einfachsten Form besagt die Er-
und Vergleiche zwischen Lernern zu ermögli- werbssequenzhypothese, dass beim Spracher-
chen, muss versucht werden, das Kontinuum werb eine geordnete Folge von Erwerbssta-
68. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung III 671

dien durchlaufen wird. Da der Erwerb einer des sequenziellen Ansatzes findet sich u. a. bei
Sprache ein äußerst komplexer Vorgang ist, Ellis (1994, 73), der deutlich zwischen order
bei dem sich gleichzeitig Entwicklungen in al- of acquisition und sequence of acquisition un-
len sprachlichen Teilbereichen (Lauterwerb, terscheidet und als Oberbegriff developmental
Erwerb des Flexionssystems, Syntaxerwerb, pattern verwendet.
Erwerb des Wortschatzes usw.) vollziehen,
können Erwerbssequenzen nur jeweils inner-
halb mehr oder weniger großer Subsysteme
4. Zwei Arten von Erwerbssequenzen
der Zielsprache postuliert werden. Ergebnisse und zwei Forschungsrichtungen
in Form von Erwerbssequenzen sind in erster 4.1. Der terminologischen Unterscheidung,
Linie in Studien zum Erwerb von Negation, die Ellis vornimmt, liegt die folgende konzep-
Fragebildung, grammatischen Morphemen tuelle Unterscheidung zugrunde:
sowie Wortstellungsregeln erarbeitet worden.
Des Weiteren ist im Rahmen des sequenziel- (a) Man kann den Erwerbsverlauf beschrei-
len Ansatzes der Erwerb von Relativsätzen, ben, indem man ermittelt, zu welchen Zeit-
modalen Hilfsverben, Pronominalsystemen punkten die Elemente eines bestimmten Teil-
u. a. analysiert worden. Prinzipiell sind keine bereichs der Zweitsprache zielgerecht be-
sprachlichen Teilbereiche von der Erwerbsse- herrscht werden. Will man die Frage nach
quenzhypothese ausgeschlossen. dem Erwerbsverlauf in diesem Sinne beant-
worten, so ist es erforderlich, auf der Basis
der erhobenen Daten bestimmte Zeitpunkte
3. Terminologie für den Erwerb einzelner Elemente (z. B. der
deutschen Personalpronomina) festzulegen.
Für die Abfolge von Schritten im Erwerb Aus der Chronologie der jeweiligen Erwerbs-
sprachlicher Teilbereiche werden in der zeitpunkte ergäbe sich dann etwa die Abfolge
deutschsprachigen Fachliteratur die Termini du vor ich vor er usw. Für diese Art von Er-
Reihenfolge und Sequenz verwendet, während werbsabfolge verwendet Ellis den Begriff or-
sich in der englischsprachigen Literatur dafür der of acquisition.
die Begriffe order und sequence finden. Das (b) Ebenso kann eine Beschreibung des Er-
Begriffspaar (Reihen-)Folge/Sequenz tritt werbsverlaufs darin bestehen, dass Aussagen
meist in Form von Komposita in Kombi- über die (teilweise fehlerhaften) Schritte auf
nation mit Entwicklung bzw. Erwerb auf dem Weg hin zur zielgerechten Beherrschung
(Erwerbsreihenfolge, Entwicklungsfolge, Er- eines sprachlichen Teilbereichs gemacht wer-
werbsfolge, Entwicklungssequenz, Erwerbsse- den. So können etwa die Stadien beschrieben
quenz). In der englischsprachigen Literatur werden, die ein Zweitsprachenlerner beim Er-
werden die Termini order und sequence mit werb einiger Grundregeln der deutschen Ne-
acquisition(al) bzw. development(al) kombi- gation durchläuft. Bei einer solchen Darstel-
niert (order of acquisition, acquisition order, lung des Erwerbsverlaufs werden in der
sequence of acquisition, sequence of develop- Chronologie nicht nur die Zeitpunkte des Er-
ment, developmental sequence). Daneben wer- werbs korrekter Negationsstrukturen berück-
den ⫺ innerhalb einer bestimmten Richtung sichtigt, sondern ebenso diejenigen nichtziel-
des sequenziellen Ansatzes (vgl. 7.) ⫺ die Be- gerechter Formen/Strukturen wie z. B. ich
griffe morpheme order und natural order ver- nein schlafen. Für eine Abfolge in diesem
wendet. Zur Bezeichnung der einzelnen Sinne verwendet Ellis den Terminus sequence
unterscheidbaren Phasen im Erwerbsverlauf of acquisition.
dient der Terminus Stadium (engl. stage), al-
lein oder in Zusammensetzungen wie Ent- 4.2. In allen Übersichtsdarstellungen zur
wicklungsstadium, Erwerbsstadium, develop- Zweitsprachenerwerbsforschung (z. B. Dulay/
mental stage, stage of development, acquisi- Burt/Krashen 1982; Ellis 1994; Klein 1984;
tional stage, stage of acquisition. Nicht selten Knapp-Potthoff/Knapp 1982; Larsen-Free-
werden die genannten Begriffe weitgehend man/Long 1991; Lightbown/Spada 1993;
synonym verwendet (z. B. Klein 1984, 37f.; Wode 1988) wird deutlich zwischen diesen
59; Lightbown/Spada 1993, 57), wobei je- beiden Konzeptionen von Erwerbssequenz
doch durchaus gesehen wird, dass die behan- unterschieden, auch wenn sich dies nicht im-
delten Reihenfolgen/Sequenzen unterschiedli- mer in einer konsistenten terminologischen
che Konzepte darstellen. Die erforderliche Unterscheidung spiegelt. Gelegentlich wer-
terminologische Differenzierung innerhalb den die Studien, die der einen oder der ande-
672 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

ren Konzeption zuzurechnen sind, zusam- mal not) steht in der Regel am Anfang, gele-
menfassend als Morphemstudien (die nach ei- gentlich auch am Ende, nie jedoch innerhalb
ner order of acquisition suchen) und Syntax- der Satzstruktur.
studien (die nach einer sequence of acquisition II. Einfügen von neg in S: Das Negations-
suchen) apostrophiert (z. B. Knapp-Potthoff/ element (jetzt auch in der Form can’t oder
Knapp 1982, 81ff.). Diese Unterscheidung don’t, die beide noch unanalysiert sind) steht
hat vorwiegend historische Gründe; es wäre zwischen dem (späteren) Subjekt und dem
allerdings ein Missverständnis anzunehmen, (späteren) Prädikat.
dass sich Morphologieerwerb nur mit dem III. Ausbildung von Aux: Die Regeln für
Order-Konzept und Syntaxerwerb nur mit den Gebrauch der Negation in Verbindung
dem Sequenz-Konzept erfassen lassen. So de- mit Hilfsverben sind erworben; Formen wie
monstrieren Wode u. a. (1978), dass im L2- don’t und can’t sind als bimorphematisch er-
Erwerb einzelner Morpheme des Englischen kannt.
auch Abfolgen im Sinne einer (development-
al) sequence erkennbar sind. Es ist jedoch zu- Brown untersucht u. a., in welcher Reihen-
treffend, dass Erwerbsverläufe im Sinne einer folge die drei Kinder 14 grammatische Mor-
order vornehmlich in den sog. morpheme-or- pheme des Englischen erwerben. Auf der
der-studies (vgl. vor allem Dulay/Burt 1973; Basis der drei individuellen, aber vergleichs-
1974; 1980) beschrieben worden sind, wäh- weise homogenen Erwerbsabfolgen wird eine
rend die größeren umfassenderen Projekte durchschnittliche Erwerbsabfolge ermittelt,
wie z. B. das Wuppertaler Projekt ZISA die folgendes Aussehen hat: 1. Present pro-
(Zweitspracherwerb italienischer, spanischer gressive; 2⫺3. in, on; 4. Plural; 5. Past irregu-
und portugiesischer Arbeiter; vgl. Clahsen/ lar; 6. Possessive; 7. Uncontractible copula;
Meisel/Pienemann 1983) und das Kieler Pro- 8. Articles; 9. Past regular; 10. Third person
jekt zum Spracherwerb (vgl. Wode 1981; regular; 11. Third person irregular; 12.
1988; Felix 1978; 1982) Erwerbsverläufe vor- Uncontractible auxiliary; 13. Contractible
wiegend in Form von sequences beschrieben copula; 14. Contractible auxiliary (Brown
haben. Im Folgenden benutzen wir als Kurz- 1973, 317). Diese Erwerbsabfolge bildet den
form zur Bezeichnung dieser beiden For- Ausgangspunkt für die Order-Forschung,
schungsrichtungen die Termini Order-For- während Erwerbsabfolgen der Art, wie sie
schung und Sequence-Forschung. Klima/Bellugi postulieren, der Sequence-For-
schung als Vorbild dienen.
5. Vorbild L1-Forschung
Beide Hauptströmungen innerhalb des se- 6. Ziele
quenziellen Ansatzes der L2-Forschung ha-
Ziel der Order-Forschung wie der Sequence-
ben sich in vielfacher Hinsicht am Vorbild
Forschung ist es, möglichst breite Evidenz für
entsprechender Untersuchungen in der L1-
eine universelle Gültigkeit der postulierten
Forschung orientiert. Hier sind in erster Linie
Erwerbsverläufe zu erbringen. Dabei lassen
die Studien von Klima/Bellugi (1966) sowie
sich verschiedene Stufen der universellen
von Brown (1973) zu nennen, in denen auf
der Basis von Longitudinaldaten der Erwerb Gültigkeit erkennen, je nachdem, ob die Un-
des Englischen als L1 durch drei amerikani- tersuchung unterschiedliche Lernergruppen,
sche Kinder beschrieben wird. Klima/Bellugi Erwerbstypen, Sprachen einbezieht (vgl.
untersuchen den Erwerb der Negation und Bahns/Burmeister 1987, 431ff.):
der Interrogation und beschreiben die Ent- (1) Gilt der beobachtete Erwerbsverlauf für
wicklungen in diesen Bereichen in Form von alle Lerner, die die fragliche Sprache als L2
spezifischen Regeln, die den negierten Äuße- erwerben, unabhängig von der jeweiligen L1,
rungen bzw. den Fragen der Kinder in jeweils vom Alter des Lerners, von der Art der Daten
drei Zeitabschnitten (,periods 1⫺3‘) zu sowie von der Art der Datenerhebung? Ver-
Grunde liegen. Wode (1974, 22f.) gibt den läuft also bspw. der L2-Erwerb der deutschen
L1-Erwerb der englischen Negation auf der Negation bei Kindern mit Italienisch als L1
Basis der Ergebnisse von Klima/Bellugi in genauso wie bei Erwachsenen mit Spanisch
Form der folgenden drei groben Erwerbssta- als L1?
dien wieder: (2) Lässt sich eine L2-Erwerbssequenz
I. Randstellung (Anfang oder Ende) von ebenso beobachten, wenn die fragliche Spra-
neg: Das Negationselement (meist no, manch- che als Erstsprache oder durch Fremdspra-
68. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung III 673

chenunterricht erworben wird? Lässt sich L1 untersucht werden (Dulay/Burt 1974), (b)
also bspw. im Bereich der deutschen Nega- erwachsene Lerner mit unterschiedlichen L1
tion stets der gleiche Erwerbsverlauf erken- untersucht werden (Bailey/Madden/Krashen
nen, unabhängig davon, ob es sich um den 1974), (c) Lerner untersucht werden, die Eng-
Erwerb des Deutschen als L1, als L2 oder um lisch durch Lehrverfahren erworben haben
Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht han- (Perkins/Larsen-Freeman 1975), (d) schriftli-
delt? che Daten (statt mündlicher) ausgewertet
(3) Wenn die Erwerbsverläufe in verschie- werden (Krashen et al. 1978). Die Ergebnisse
denen Sprachen miteinander verglichen wer- aller dieser und weiterer morpheme-order-
den sollen, so muss von den einzelnen kon- studies weisen eine so weitgehende Ähnlich-
kreten sprachlichen Elementen abstrahiert keit auf, dass Krashen (1982, 12) auf dieser
werden. Bestimmte Vertreter der Sequence- Basis seine natural-order-hypothesis entwik-
Forschung versuchen, auf diese Weise (mög- kelt.
lichst universell gültige) Erwerbsprinzipien zu Während die Order-Forschung durch die
entdecken (z. B. Wode 1981, 306ff.), die den weitgehende Beschränkung auf den L2-Er-
beobachteten Erwerbsverläufen zu Grunde werb grammatischer Morpheme des Engli-
liegen. Hier lässt sich fragen, ob die Erwerbs- schen vergleichsweise überschaubar ist, ist es
prinzipien, die dem Erwerb eines bestimmten nicht möglich, innerhalb des vorgegebenen
Strukturbereichs in einer bestimmten Spra- Rahmens einen Überblick über die Sequence-
che zu Grunde liegen, auch im Erwerb dessel- Forschung zu geben, da hier verschiedene
ben Strukturbereichs in einer anderen Spra- Strukturbereiche, Spracherwerbstypen und
che gelten. Verläuft also bspw. der Erwerb Sprachen involviert sind. Diese Breite in der
der Negation im Englischen genauso (d. h. Anlage der Sequence-Forschung soll stattdes-
nach den gleichen Erwerbsprinzipien) wie im sen am Beispiel des Kieler Projekts zum
Deutschen? Spracherwerb, das sich weitgehend auf die
Ermittlung von Erwerbs- bzw. Entwicklungs-
Während sich die Order-Forschung weitge- sequenzen konzentriert hat, kurz demon-
hend darauf beschränkt, universelle Erwerbs- striert werden.
sequenzen für die grammatischen Morpheme Der Schwerpunkt des Kieler Projektes
im Englischen zu belegen, geht die Sequence- liegt zweifellos in der Analyse und Beschrei-
Forschung mit der Einbeziehung weiterer bung des natürlichen L2-Erwerbs des Engli-
Strukturbereiche, anderer Spracherwerbsty- schen durch Kinder mit Deutsch als L1. Da-
pen sowie weiterer Sprachen deutlich darüber neben hat es aber diverse Teilprojekte gege-
hinaus. In diesem Unterschied dürfte auch ei- ben, die sich mit dem L1-Erwerb des Deut-
ner der Gründe dafür liegen, dass in den zu- schen (Wode 1976; 1977), dem L2-Erwerb des
sammenfassenden Darstellungen der Zweit- Deutschen durch Kinder mit Englisch als L1
sprachenerwerbsforschung rückblickend der (Felix 1978) sowie dem gesteuerten L2-Er-
Sequence-Forschung größere Bedeutung bei- werb des Englischen durch Kinder mit
gemessen wird als der Order-Forschung (z. B. Deutsch als L1 (Felix 1982; Felix/Hahn 1985)
Ellis 1994, 111). befasst haben. Bei den schwerpunktmäßig
unter Erwerbssequenzgesichtspunkten analy-
7. Illustrationsbeispiele sierten Strukturbereichen handelt es sich um
Interrogation und Negation. Einige Studien
Den Prototyp der Order-Forschung stellen gehen aber auch über die Syntaxebene hin-
die sog. morpheme-order-studies dar; hier aus, indem sie Erwerbssequenzen im seman-
handelt es sich um einen Untersuchungstyp, tisch-pragmatischen Bereich ermitteln: So be-
der insbes. in der ersten Hälfte der 70er Jahre schreibt Burmeister (1989) eine Abfolge im
in der nordamerikanischen Zweitsprachener- Erwerb von Sprechakten und Vogel (1989)
werbsforschung dominierend war. Ausge- versucht bei der Analyse des Erwerbs von
hend von Browns Ergebnissen versuchen zu- Tempus und Aspekt Erwerbssequenzen auf
nächst Dulay/Burt (1973) im L2-Erwerb des den Ebenen Morphologie, Semantik und
Englischen durch Kinder mit Spanisch als L1 Pragmatik zu korrelieren.
eine Erwerbsabfolge für eine Reihe von Als repräsentatives Beispiel für die Se-
grammatischen Morphemen zu ermitteln. Ihr quence-Forschung im Bereich Deutsch als
Ergebnis wird anschließend mit den Erwerbs- Zweitsprache sei das ZISA-Projekt (vgl. 4.2.)
abfolgen einer Serie anderer Studien vergli- angeführt. Seine Aufmerksamkeit gilt insbes.
chen, in denen (a) Kinder mit Chinesisch als dem Erwerb der deutschen Wortstellungsre-
674 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

geln. Die für diesen Aspekt ermittelte Er- schiedene Individuen sind vermutlich nie völ-
werbssequenz, die den Ausgangspunkt für lig identisch. Wie stark dürfen sich Lerner-
Pienemanns Lehrbarkeitshypothese (vgl. 9.) sprachen unterscheiden, damit man dennoch
darstellt, hat folgendes Aussehen: von (weitgehend) gleichen Erwerbsverläufen
sprechen kann?
(1) SVO (Die Lerner produzieren Sätze in
(4) die Variabilität in der Lernersprache des
der kanonischen Wortfolge Subjekt-Prädi-
einzelnen Lerners: Kein Lerner ist konsistent
kat-Objekt: Die Kinder spielen mi’m Ball.)
in der Anwendung von Lernersprachenre-
(2) ADV-VOR (Adverbien werden dem
geln. Wie kann festgestellt werden, wann der
Satz vorangestellt, ohne dass die zielsprach-
Lerner eine bestimmte Form/Struktur/Regel
liche Inversion zu finden ist: Da Kinder spie-
erworben hat? (Zum Problem eines Erwerbs-
len.)
kriteriums vgl. auch Bahns 1983);
(3) PARTIKEL (Die Lerner trennen Mo-
(5) die Forschungsmethodologie: An der
dal- und Vollverb durch einen Einschub. Das
Order-Forschung sind insbes. die Datenerhe-
Vollverb erscheint in finaler Stellung: Alle
bungsverfahren sowie die Art der statisti-
Kinder muss die Pause machen.)
schen Auswertung, an der Sequence-For-
(4) INVERSION (Das Subjekt folgt dem
schung die meist geringe Zahl der untersuch-
Verb, wenn der Satzanfang durch ein Ele-
ten Lerner sowie die mangelnde Durchschau-
ment besetzt ist, das nicht Subjekt ist: Dann
barkeit der Kriterien für die Abgrenzung der
hat sie wieder die Knochen gebringt.)
Stadien kritisiert worden.
(5) V-ENDE (Flektierte Verben erscheinen
in Nebensätzen am Satzende: … weil genau Trotz der teilweise massiven Kritik ist immer
inne Hand hat Unfall gekriegt.). wieder versucht worden, die Ergebnisse des
sequenziellen Ansatzes für den Fremdspra-
Erklärt wird diese Reihenfolge damit, dass chenunterricht fruchtbar zu machen.
die jeweils zu erlernenden Regeln an kogniti-
ver Komplexität zunehmen, d. h., dass die
entsprechenden Sprachstrukturen schwerer 9. Sequenzieller Ansatz und
zu verarbeiten sind. Fremdsprachenunterricht: Die
Lehrbarkeitshypothese
8. Kritik Die Ergebnisse der Order-Forschung sind ins-
bes. von Krashen in Form des Natural Ap-
Die dem sequenziellen Ansatz verpflichtete
proach in Empfehlungen für den Fremdspra-
Zweitsprachenerwerbsforschung ist in vielfa-
chenunterricht umgesetzt worden. Sucht man
cher Hinsicht kritisiert worden. Immer wie-
nach Anwendungsmöglichkeiten der Ergeb-
der genannte Problembereiche dieses For-
nisse der Sequence-Forschung auf den
schungsansatzes (vgl. Ellis 1994, 112ff.) be-
Fremdsprachenunterricht, so stellt sich die
treffen
Frage, ob und inwieweit die (internen) Er-
(1) den beschränkten Gegenstandsbereich: werbsmechanismen, wie sie sich in Form der
Auch wenn es vereinzelte Versuche gegeben festgestellten Sequenzen in natürlichen Er-
hat, Erwerbssequenzen in den Bereichen werbssituationen manifestieren, durch Lehr-
Phonologie, Lexikon, Pragmatik u. a. zu er- verfahren beeinflussbar sind.
mitteln, ist der sequenzielle Ansatz weitge- Die pauschale Empfehlung, die grammati-
hend auf die Erforschung des Erwerbs gram- sche Progression im Unterricht den Erwerbs-
matischer Strukturen beschränkt geblieben; sequenzen nachzubilden und Strukturen in
(2) die zweifelhafte Vergleichbarkeit der Er- der Reihenfolge zu lehren, in der sie (ohne
gebnisse der Einzelstudien: Wenn Lerner aus Lehrverfahren) gelernt werden, ist mit dem
unterschiedlichen Erwerbskontexten unter- Argument zurückgewiesen worden, dass die-
einander verglichen werden sollen, muss ge- ses Vorgehen auch das Lehren von nicht-ziel-
währleistet sein, dass sie ungefähr den glei- gerechten Strukturen implizieren würde, da
chen Entwicklungsstand erreicht haben. Es Erwerbssequenzen auch solche Strukturen
fehlt der Zweitsprachenerwerbsforschung berücksichtigen. Etwas differenzierte Überle-
aber bisher ein allgemein anerkanntes Mess- gungen zum Verhältnis von grammatischer
instrument zur Feststellung des sprachlichen Progression (Lehren) und Erwerbssequenzen
Entwicklungsstandes; (Lernen) finden sich u. a. bei Bahns (1989;
(3) die Variation im Erwerbsverlauf von 1990), Vogel (1991), Vogel/Bahns (1989) so-
Lerner zu Lerner: Erwerbsverläufe für ver- wie bei Pienemann (1984; 1989), dessen Ar-
68. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung III 675

beiten zur Beeinflussbarkeit der Zweitspra- ren nur dann zu einem positiven Resultat
chenerwerbsverläufe durch Lehrverfahren führen, wenn sie das jeweilige Stadium be-
zur sog. Lehrbarkeitshypothese geführt ha- rücksichtigen, in dem die Lerner sich befin-
ben. Diese Hypothese besagt, dass das Leh- den. Pienemann legt Wert auf die Feststel-
ren bestimmter grammatischer Strukturen lung, dass die Lehrbarkeitshypothese keine
erst dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn der neue Lehrmethode darstellt und deshalb
Lerner in seiner internen Sprachentwicklung auch die gängigen Methoden nicht in Frage
ein bestimmtes Stadium erreicht hat, das ge- stellt. Sie definiert nur die Grenzen, innerhalb
wissermaßen die Voraussetzung für die Auf- derer unterrichtliche Verfahren wirksam wer-
nahme und Verarbeitung der neuen Struktu- den können. Die Lehrbarkeitshypothese be-
r(en) darstellt. zieht sich auch nicht auf die ganze Komplexi-
Empirisch untermauert Pienemann (1984) tät des Erwerbsprozesses, sondern ist auf den
die Lehrbarkeitshypothese durch ein Unter- Erwerb bestimmter struktureller Merkmale
richtsexperiment mit 10 Kindern (7 bis von Sprachen beschränkt.
9 Jahre alt) mit Italienisch als Muttersprache, Ohne die Hypothese generell in Frage zu
die Deutsch als L2 erwerben. Pienemann ver- stellen, äußert Ellis (1992, 97) Bedenken, was
sucht herauszufinden, ob sich die Erwerbsse- die Umsetzung in die Praxis angeht. Er hält
quenz der deutschen Wortstellungsregeln, wie die Unterrichtenden für überfordert, wenn sie
sie durch Clahsen/Meisel/Pienemann (1983) möglichst oft den jeweiligen Entwicklungs-
ermittelt worden ist (vgl. 7.), durch Lehrver- stand der Lernersprache testen sollen, um
fahren beeinflussen lässt. Die Lerner befin- dann differenziert darauf eingehen zu kön-
den sich in unterschiedlichen Stadien, ohne nen.
jedoch mit dem Erwerb von INVERSION Während Pienemann praktisch eine per-
begonnen zu haben. Dies stellt er durch die manente Anpassung der Lehrprogression an
Analyse der Spontansprache der Kinder vor den Entwicklungsstand der Lerner fordert,
dem Experiment fest. In zwei Lehrsequenzen finden sich bei Bahns und Vogel weniger
wird versucht, den Lernern INVERSION weitreichende Forderungen: Bahns (1990)
beizubringen. Zwischen den Lehrsequenzen empfiehlt der Fremdsprachendidaktik, sich
wird ein Interview durchgeführt und die nur in solchen Bereichen der grammatischen
Spontansprache verdeckt aufgenommen. Pie- Progression an den Ergebnissen der Se-
nemann stellt fest, dass durch den Unterricht quence-Forschung zu orientieren, in denen
der Gebrauch von Inversionsstrukturen bei immer wieder Lernprobleme auftauchen; Vo-
allen Lernern zunimmt. Bei der Analyse der gel (1991) rät den Unterrichtspraktikern, Er-
Spontansprache wird jedoch ein Unterschied gebnisse der Sequence-Forschung zur Kennt-
zwischen den Lernern deutlich: Lerner, die nis zu nehmen, um daraus Einsichten in die
sich erst im Stadium 2 befinden (PARTIKEL Komplexität von Lernaufgaben zu gewinnen,
ist noch nicht erworben), produzieren IN- die aus linguistischen Beschreibungen der
VERSION nur in formelhaften Strukturen fraglichen Strukturbereiche nicht zu gewin-
wie Was soll ich tun?, d. h. in Sätzen, die in nen sind.
Übungen vorgekommen und auswendig ge-
lernt worden sind. In der Spontansprache 10. Literatur in Auswahl
dieser Lerner kommt INVERSION nicht vor.
Es ist sogar ein negativer Effekt feststellbar: Bahns, Jens (1983): On acquisitional criteria. In:
IRAL 21, 57⫺68.
Die vorher bereits häufig verwendete Struk-
tur ADV-VOR geht in der Spontansprache ⫺ (1989): Die Anwendung von Ergebnissen der
um 75% zurück, weil die Lerner aus Angst Zweitsprachenerwerbsforschung auf den Fremd-
sprachenunterricht: Grenzen und Möglichkeiten.
vor Fehlern jetzt diese Struktur vermeiden. In: Bernhard Kettemann u. a. (Hg.): Englisch als
Anders dagegen verhält es sich mit den Ler- Zweitsprache. Tübingen (Buchreihe zu den Arbei-
nern, in deren Spontansprache PARTIKEL ten aus Anglistik und Amerikanistik 2), 69⫺86.
schon auftreten. Hier ist ein positiver Effekt ⫺ (1990): Consultant, not initiator: the role of the
der Lehrverfahren feststellbar. Diese Lerner applied SLA researcher. In: English Language
beginnen nun mit der Verwendung von IN- Teaching Journal 44, 110⫺116.
VERSION in der Spontansprache in kreativ ⫺; Hartmut Burmeister (1987): Der Universalien-
gebildeten Sätzen wie Has du noch eine Bon- begriff in der Spracherwerbsforschung. In: LB 19,
bon? 429⫺448.
Nach Pienemann bestätigen diese Untersu- Bailey, Nathalie; Carolyn Madden; Stephen Kras-
chungsergebnisse die These, dass Lehrverfah- hen (1974): Is there a ,natural sequence‘ in adult
676 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

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69. Zweitsprachenerwerb als Lernaktivität I 677

69. Zweitsprachenerwerb als Lernaktivität I:


Lernersprache ⫺ Lernprozesse ⫺ Lernprobleme

1. Einleitung geregt werden können. Wir gehen deshalb


2. Aneignungsprozesse davon aus, dass sich beide Formen der Aneig-
3. Lernersprachen nung ⫺ je nach Lernkontext und Lernervor-
4. Lerneraktivitäten aussetzungen ⫺ ergänzen, d. h. also komple-
5. Merkmale von Lernersprachen
6. Fehler
mentäre Funktionen übernehmen.
7. Wörter
8. Formeln
9. Entwicklungssequenzen 2. Aneignungsprozesse
10. Literatur in Auswahl
Betreuungspersonen und Lehrkräfte können
Lerner anregen und motivieren, sie können
1. Einleitung sie ermutigen und ihnen Hilfen anbieten
(z. B. durch die Anpassung ihrer Ausdrucks-
Im Folgenden werden wir uns auf Lernerakti- weise an den Sprachstand eines Lerners,
vitäten bei der nachzeitigen Aneignung einer durch Fragestellungen, Hinweise oder Rück-
fremden Sprache konzentrieren und den Son- meldungen). Ausdrucksmöglichkeiten muss
derfall des gleichzeitigen Zweitspracherwerbs aber jeder Lerner selbst erschließen und er-
vernachlässigen. Unter Aneignung verstehen proben. Kurz: Die für die Aneignung der
wir dabei sowohl den Erwerb als auch das fremden Sprache erforderlichen Auswahl-
Lernen einer fremden Sprache. Im Bedarfs- und Lernprozesse müssen von jedem Lerner
falle werden wir zwischen Lernen (bzw. expli- selbst gesteuert werden.
zitem Lernen) und Erwerben (bzw. implizitem Im Allgemeinen wird unterschieden zwi-
Lernen) unterscheiden (vgl. Ellis 1994, 391). schen den Sprachdaten, mit denen ein Lerner
Unter explizitem Lernen verstehen wir dabei konfrontiert wird, dem sog. input und dem,
bewusstseinspflichtige Informationsverar- was davon aufgegriffen und verarbeitet wer-
beitung, d. h. also Verarbeitung, die Auf- den kann, dem intake. Diskutiert werden ge-
merksamkeit sowie bestimmte kognitive Vor- genwärtig weitere denkbare Zwischenstufen.
aussetzungen erfordert, über die i. d. R. Ju- So hat Gass (1988) z. B. vorgeschlagen, dass
gendliche und Erwachsene, in Ausnahmefäl- vor einer Verarbeitung (intake) Sprachdaten
len auch ältere Kinder verfügen. Implizites bemerkt (bzw. wahrgenommen) und verstan-
Lernen unterscheidet sich von dieser Form den werden müssten. Ihrer Auffassung nach
der Aneignung dadurch, dass es beiläufig er- genügt es nicht, wenn Sprachdaten nur be-
folgt, sozusagen am Rande anderer Aktivitä- merkt werden. Da aber auch Verstehen eine
ten, etwa beim Spielen. Folglich muss implizi- Sache des Grades ist, müsste der Vorschlag
tes Lernen (oder Erwerben) auch mit beiläu- von Gass weiter differenziert werden. Denn
figer Aufmerksamkeit auskommen. Die letz- Anfänger verstehen Äußerungen häufig nur
tere Form der Aneignung ist älteren Lernern bruchstückhaft (sog. Verstehensinseln) oder
zwar nicht verschlossen. Sie haben aber im nur in einem oberflächlichen Sinne, so dass
Laufe ihrer Entwicklung und Ausbildung ge- weiter unterschieden werden müsste zwischen
lernt, sich auf eine Sache zu konzentrieren, unvollständigem Verstehen (bzw. Teilverste-
so dass implizites Lernen dadurch behindert hen), oberflächlichem (d. h. Verstehen der
werden kann. Zweifellos ist implizites Lernen Grundbedeutung) und tieferem (bzw. ange-
die ursprünglichere (d. h. ältere) Form der In- messenem) Verstehen. Konkret bedeutet dies
formationsverarbeitung, die vor allem von z. B., dass Äußerungen, die von einem Anfän-
jüngeren und formal nicht geschulten Ler- ger nur fragmentarisch oder oberflächlich
nern bevorzugt wird. Dass aber auch ältere verstanden werden, mit Hilfe von zusätzlichen
Lerner auf diese Weise Informationen verar- Kenntnissen (Weltwissen und Wissen über die
beiten, dafür liefert uns die Werbung täglich Erstsprache oder auch über weitere Sprachen)
eindrucksvolle Beispiele. Auch wissen wir, sowie Schlussfolgerungen ergänzt und ange-
dass durch methodische Kunstgriffe (z. B. reichert werden müssen. Die für die Bedeu-
Sprachlernspiele) ältere Lerner bei der Aneig- tungsanreicherung erforderlichen Such- und
nung einer fremden Sprache wieder zu einem Bearbeitungsprozesse sind zeitaufwendig,
verstärkten Gebrauch impliziten Lernens an- weshalb Anfänger zum Verstehen bzw. Er-
678 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

schließen von Äußerungen erheblich mehr jahren erreicht. Es kommt dann häufig zur
Zeit benötigen als Fortgeschrittene. Erst viel Ausbildung eines Lernplateaus, das einen
später, wenn nicht mehr nur fragmentarisch Endpunkt in der Entwicklung markieren
verstanden wird und zudem für die Bearbei- kann. Manche Lerner überwinden diesen
tung Routinen ausgebildet wurden, kann Punkt jedoch und erreichen später in ihrer
schneller und angemessener reagiert werden. Fremdsprache eine nahezu muttersprachähn-
Bei der Analyse der zu lernenden Sprache liche Kompetenz. Andere begnügen sich mit
orientieren sich Lernende anfangs an ihrer dem einmal erreichten Sprachstand, wenn sie
Erstsprache (bzw. an den bereits erlernten damit ihre Bedürfnisse befriedigen können.
Sprachen) sowie an ihrem Weltwissen und Zusammenfassend kann man sagen, dass am
versuchen darauf aufbauend ein System zu Anfang ein Lerner über keine Ausdrucksfä-
entwickeln, das auch als Lernersprache (In- higkeiten in der fremden Sprache verfügt, im
terlanguage [Selinker 1972], Interimsprache Laufe der Aneignung seine Verstehens- und
[Raabe 1974], Übergangssystem [Corder Ausdrucksmöglichkeiten jedoch beständig er-
1967]) bezeichnet wird. Dieses System ent- weitert, bis er sich schließlich ⫺ für seine
steht jedoch nicht nur durch Orientierung an Zwecke ausreichend ⫺ verständigen kann.
der Erstsprache und durch Nachahmung von Die Entwicklung der dabei herausgebildeten
Gehörtem, sondern auch durch eigenständige Lernersprache verläuft jedoch nicht linear
Manipulationen des verarbeiteten Sprachma- von einem Ausgangs- zu einem Zielpunkt.
terials. Dabei werden z. T. völlig neue For- Vielmehr können wir ein wellenförmiges Auf-
men kreiert, und es werden Formen entdeckt, schaukeln beobachten, bei dem zeitweise ein
die zwar im Zielsprachsystem als Möglichkei- (oder einige wenige) Phänomene vom Lerner
ten existieren, von der Sprachgemeinschaft fokussiert und andere vernachlässigt werden.
jedoch nicht gebraucht (d. h. konventionali- Während die Entwicklung in dem fokussier-
siert) wurden, z. B. *uunhäufig. Man spricht ten Bereich vorangetrieben wird, kann sie in
deshalb auch von kreativer (Re-)Konstruk- den anderen stagnieren. Ja es kann sogar zur
tion des Zielsprachsystems. Wodurch unter- Rückbildung von Fertigkeiten kommen. Gibt
scheidet sich nun eine Lernersprache von es jedoch genügend Anreize zum Weiterler-
konventionalisierten Sprachen einer Sprach- nen, so werden Stagnation oder Rückbildung
gemeinschaft? schon bald überwunden. Welche Aktivitäten
müssen vom Lerner zum Aufbau eines Ler-
nersprachsystems entfaltet werden?
3. Lernersprachen
Es besteht heute weitgehend Einigkeit da- 4. Lerneraktivitäten
rüber, dass Lernersprachen
⫺ eigenständige, dynamische Systeme sind, Wer eine fremde Sprache zu lernen beginnt,
die wird sich plötzlich wieder in seine frühe
⫺ zielgerichtet entwickelt werden, wenn Ler- Kindheit zurückversetzt fühlen. Wie ein klei-
ner mit ausreichend Sprachdaten versorgt nes Kind nach Hilfen sucht, wenn es sich auf-
werden richtet und zu gehen beginnt, so wird der
⫺ auf einzelnen Entwicklungsstufen eine Lerner einer fremden Sprache nach Orientie-
große Variationsbreite aufweisen und rungshilfen und Kompensationsmöglichkei-
⫺ leicht störbar sind, d. h. Tendenzen zur ten suchen, um den angstbesetzten Zustand
Verfestigung (Fossilierung) oder gar zur einer Sprach- und Hilflosigkeit möglichst
Zurückbildung (back sliding) aufweisen. rasch zu überwinden. Gegenüber dem kleinen
Kind hat er allerdings Vorteile, weil er bereits
Eine Lernersprache ist also ein individuelles weiß, wie Sprache funktioniert, dass sie lern-
sprachliches System, das jeder Lerner entwi- bar ist und dass man sich notfalls auch mit
ckelt und das (im Idealfalle) nach einiger Zeit Händen und Füßen verständigen kann. Da
die Komplexität des Zielsprachsystems auf- letzteres bekanntlich aufwendig und missver-
weist. Doch in der Alltagswirklichkeit verliert ständlich ist, werden Lerner, die sich in einem
es meist vorher seine Dynamik, weil viele Lande aufhalten, in dem die Zielsprache ge-
Lerner ihre Bemühungen aufgeben, wenn sie sprochen wird, i. d. R. große Anstrengungen
sich einmal in einer fremden Sprache verstän- unternehmen, um in möglichst kurzer Zeit
digen können. Dieser Zeitpunkt wird etwa Grundfertigkeiten in der fremden Sprache zu
nach drei, zuweilen auch erst nach fünf Lern- entwickeln. Fremdsprachenlerner sind nicht
69. Zweitsprachenerwerb als Lernaktivität I 679

dem gleichen psychosozialen Druck ausge- eine besondere Funktion übernehmen. Denn
setzt. Ihre Aneignungsprozesse beanspruchen mit ihrer Hilfe lassen sich sprachliche Zusam-
daher gewöhnlich mehr Zeit. menhänge und neue Ausdrucksmöglichkeiten
Lerner müssen zur Aneignung einer frem- systematisch erschließen, wie folgendes Bei-
den Sprache im Wesentlichen vier Aufgaben spiel zeigt.
bewältigen (vgl. Klein 1984, 70ff.): Sie müs-
sen fremde Äußerungen analysieren (Analy- (1) ich will Ball
seproblem), sie wieder zusammensetzen und Zunächst wird diese Formel nur aufgegriffen,
selbst Äußerungen bilden (Syntheseproblem), d. h. als Ganzheit gespeichert und gebraucht.
herausfinden, welche Äußerungen sich wo Doch schon bald können wir beobachten,
einpassen lassen (Einbettungsproblem) und wie sie manipuliert wird. An Stelle von Ball
schließlich ihre Äußerungen mit gehörten werden dann andere Nomen, später auch Ad-
zielsprachlichen Äußerungen vergleichen verbien oder Pronomen eingesetzt.
(Vergleichsproblem).
Am Anfang steht das Analyseproblem. Äu- (2) ich will Auto
ßerungen werden zunächst nur als Begleitge- (3) ich will Löwe
räusche zu Handlungen und Gesten wahrge- (4) ich will da [gemeint: das da]
nommen. Erst wenn bestimmte Situationen So lassen sich z. B. Wortklassen oder Kollo-
mehrmals durchlebt wurden und dabei wie- kationen ermitteln. Das Beispiel zeigt, dass
derkehrende Handlungen beobachtet werden zur Bildung von Äußerungen nicht nur Ele-
konnten, wird es möglich, aus dem Geräu-
mente zusammengesetzt werden, sondern be-
schebrei bestimmte Höreindrücke herauszu-
reits an dieser Stelle auch Vergleichs- und
filtern und sie zu Gestalten (d. h. Elementen
Einbettungsprobleme gelöst werden müssen.
mit Rhythmus, Melodie, Akzent und Begren-
Aus Gründen der Darstellung soll aber so
zungen) zu verdichten. Das genaue Erfassen
verfahren werden, als ob sich diese Aufgaben
der Höreindrücke (Hör-Gestalten) kann
eine nach der anderen abarbeiten lassen wür-
durch Vorinformationen (in der Ausgangs-
den.
sprache), durch Vorstrukturierungen des
Die dritte Aufgabe besteht darin, selbstge-
Sprachmaterials und durch Verlangsamungen
bildete Äußerungsformen in Kontexte einzu-
bei der Artikulation beschleunigt werden. Ob
passen (Einbettungsproblem). Dazu muss sich
dadurch auch eine Automatisierung der Ver-
arbeitungsprozesse vorbereitet und begün- ein Sprecher an einem Thema, an vorausge-
stigt werden kann, ist unklar. henden Äußerungen eines Gesprächspartners
Nachdem „Gestalten“ erfasst wurden, sowie am jeweiligen Situationstyp orientie-
können auch Vermutungen über mögliche ren. Je geringer dabei die sprachlichen Fertig-
Bedeutungen angestellt und so Geräusche in keiten eines Lerners sind, desto stärker wird
Informationen verwandelt werden. M. a. W.: er auf Parallelinformationen und sein Welt-
Eine Folge von Schallwellen muss mit einem wissen angewiesen sein, je differenzierter
Komplex von Parallelinformationen ver- seine Fertigkeiten werden, desto weniger Zu-
knüpft und sinnvoll interpretiert werden. satzinformationen wird er benötigen.
Wann Äußerungen in einzelne Komponenten Bevor jedoch ein sehr hoher Sprachstand
zerlegt werden, hängt vom Lernertyp ab. Es erreicht wird, können sich bei Einbettungs-
gibt Lerner, die Wörter sammeln, andere versuchen viele Missverständnisse einschlei-
sammeln Fertigbauteile (Wendungen) und chen, sei es, weil kulturspezifische Interak-
wieder andere konzentrieren sich vor allem tionsmuster vom Lerner noch nicht richtig
auf grammatische Phänomene (d. h. auf die erfasst wurden (wenn z. B. beim Ansprechen
morphologische und syntaktische Ebene) die Einleitungsfloskel Entschuldigung oder
oder auf Interaktionen. Dementsprechend entschuldigen Sie bitte vergessen wird), sei es,
werden sich auch die jeweiligen Lernerspra- weil durch Lerneräußerungen ungewollt Irri-
chen im einen Bereich rascher, in anderen da- tationen beim Gesprächspartner ausgelöst
gegen langsamer entwickeln. werden (vgl. z. B. den Gebrauch von du statt
Wenn Äußerungen erfasst und analysiert sie bei der Anrede). Ähnliches gilt für die Ver-
wurden, muss das zweite Problem bewältigt wendung von kulturspezifischen Lexemen
werden: Äußerungen bzw. Bestandteile von (man denke etwa an gemütlich), insbesondere
Äußerungen müssen kombiniert und zu sinn- für Konnotationen oder übertragene Bedeu-
vollen Sequenzen zusammengesetzt werden tungen. Erst nach längeren und differenzier-
(Syntheseproblem). Dabei können Wendungen ten Interaktionserfahrungen wird ein ange-
680 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

messenes Erfassen solcher Zusammenhänge Jeder weiß, dass Gefühle das Verarbeiten
möglich. und Speichern von Informationen sowohl er-
Schließlich muss noch das Vergleichspro- leichtern als auch erschweren können. Im po-
blem gelöst werden. Da jeder Lerner ⫺ wie sitiven Falle können Emotionen Such- und
oben ausgeführt ⫺ seine Aneignungsprozesse Reaktionsprozesse durch vielfältige Vor- und
selbst steuert, muss er auch beständig eigene Rückblenden beschleunigen, weshalb ihnen,
Äußerungen mit Gehörtem vergleichen. Die- insbesondere bei Vergleichs-Prozessen, eine
ses Scannen, das entweder ein sorgfältiges besondere Bedeutung zukommen dürfte.
Überprüfen oder (häufiger) ein oberflächli- Nicht umsonst spricht der Volksmund vom
ches Überfliegen ist, in dessen Verlauf Äuße- Sprachgefühl, das man für eine fremde Spra-
rungen mit internalisierten Mustern vergli- che entwicklen müsse. Leider wissen wir
chen oder diese Muster erweitert oder modifi- gegenwärtig noch viel zu wenig über die len-
ziert und an gehörte Äußerungsformen ange- kende Funktion von Emotionen (vgl. Batta-
passt werden, dürfte zum Schwierigsten ge- cchi u. a. 1996, 45) oder das Ineinandergreifen
hören, was Lerner bei der Aneignung bewäl- von Kognition und Emotion bei der Aneig-
tigen müssen, weil gesprochene Sprache kom- nung fremder Sprachen.
plex und flüchtig ist. Hinzu kommt, dass die Analyse, Synthese, Einbettung und Ver-
„geistigen Instrumente“ zur Bearbeitung mo- gleiche werden manchmal besser und manch-
difiziert, z. T. sogar neu konzipiert werden mal schlechter gelingen, je nach dem, ob die
müssen. Zwar beginnen Lerner ihre Aufga- Zielsprache mit der Ausgangssprache (bzw.
ben (d. h. Analyse, Synthese, Einbettung und Erstsprache) verwandt ist oder nicht, ob ein
Vergleich) mit vertrauten Instrumenten (Be- Lerner über eine Sprachlernbegabung verfügt
griffen, Bedeutungen, Gefühlen etc.). Sie oder bereits auf Sprachlernerfahrungen mit
müssen diese aber im Verlaufe der Aneignung mehreren Sprachen zurückgreifen kann. All-
verändern, was etwa dem Bau eines Floßes gemein gilt: Das sprachliche System, das ein
aus einem Schiff während einer Überfahrt Lerner während der Aneignung entwickelt,
auf hoher See entspricht. M. a. W.: Es müssen wird anfangs in Anlehnung an die Erstspra-
nicht nur Höreindrücken Bedeutungen zuge- che konzipiert, ehe mit zunehmender Diffe-
ordnet werden, es müssen auch neue (oder renzierung auch Begriffe, Kollokationen und
zumindest modifizierte) Bedeutungen, Be- Konnotationen, Gesprächs- und Interak-
griffe, Konnotationen, Kollokationen sowie tionsmuster so verändert werden, dass sich
Gesprächs- und Interaktionsmuster erarbei- die Lernersprache immer deutlicher von der
tet werden. Darum reicht es letztlich nicht Erstsprache unterscheidet. Da sie sich über
aus, wenn Situationen und Äußerungen auf- lange Zeit (in den meisten Fällen sogar im-
einander bezogen und Schallwellen in klei- mer) auch von der Zielsprache unterscheidet,
nere Einheiten zerlegt und mit Parallelinfor- kann man sagen, dass sich das Lernersprach-
mationen verknüpft werden. Vielmehr muss system sowohl von der Erst- als auch von der
auch gelernt werden, dass zur fremden Spra- Zweitsprache unterscheidet. M. a. W.: Ler-
che andere Lebensformen, Erwartungen, Prä- nersprachen entstehen durch die Konfronta-
ferenzen, Stereotype, kurz: andere Interpreta- tion von (mindestens) zwei Sprachsystemen,
tionsrahmen gehören. Selbst vertraute Auslö- einer Ausgangs- und einer Zielsprache. Sie
ser für Emotionen müssen zuweilen modifi- sind jedoch von den beteiligten Sprachen re-
ziert werden, damit die Aneignung der frem- lativ unabhängig. Vor allem sind sie rasche-
den Sprache nicht emotionsbedingt erschwert ren Veränderungen unterworfen als konven-
oder gar blockiert wird. So haben bsw. deut- tionalisierte Sprachen. Man spricht deshalb
sche Studierende oft große Schwierigkeiten, auch von Übergangsstadien, die sich je nach
wenn sie beim Türkischlernen die typischen Häufigkeit und Intensität des Sprachkon-
Routineformeln gebrauchen sollen, weil ih- takts auf der Grundlage älterer Sprachstands-
nen diese „unehrlich“ erscheinen. Umgekehrt stadien entwickeln. Um eine Lernersprache
lässt sich unschwer vorstellen, mit welchen erfassen, beschreiben und sie in ihrer Dyna-
Unsicherheiten Lerner aus Kulturen zu mik verstehen zu können, müssten also ⫺ ge-
kämpfen haben, in denen ausführlichere und nau genommen ⫺ drei Sprachsysteme in ih-
blumigere Begrüßungsformeln gebräuchlich rem wechselseitigen Zusammenspiel erfasst
sind und die nun im Deutschen mit knappen und beschrieben werden: Ausgangs- und Ziel-
Formen in unvertrauten Interaktionszusam- sprache sowie das sich beständig verändernde
menhängen improvisieren müssen. Lernersprachsystem.
69. Zweitsprachenerwerb als Lernaktivität I 681

5. Merkmale von Lernersprachen system arbeitet und experimentiert. Wer sich


hingegen in extremer Weise um Fehlervermei-
Lernersprachen sind fragile Gebilde, die zu- dung bemüht, hindert sich selbst am Weiter-
nächst aus einfachen Elementen und Struktu- lernen. Lehrkräfte sollten deshalb darauf
ren (einer Art Basissystem, vgl. Perdue/Klein achten, dass möglichst nur in formbezogenen
1992) bestehen. Im Laufe der Zeit entwickeln Phasen korrigiert wird. Sie sollten Lerner zu
sich daraus ⫺ durch fortlaufende Differenzie- Selbstkorrekturen anregen und darauf ach-
rungen und Restrukturierungen ⫺ komplexe ten, zu welchem Typ ein Lerner gehört, über
Systeme, die eine größere Nähe zur Ziel- welches Selbstvertrauen er verfügt und über
sprache aufweisen. Anfangs wirken Lerner- welche Motivation, weil in Abhängigkeit da-
äußerungen oft wie extreme Vereinfachungen von Fremdkorrekturen leichter oder schwerer
oder Verkürzungen (Telegrammstil). Ein Be- verkraftet werden.
obachter kann dabei den Eindruck gewinnen, Fehler lassen sich grob in fünf Kategorien
dass Funktionsworte oder Endungen ausge- einteilen:
lassen werden. In Wirklichkeit sind Anfänger
jedoch mit der Verarbeitung komplexer ⫺ Interferenzfehler (vgl. auch Art. 66), d. h.
Sprachdaten überfordert. Sie konzentrieren sprachliche Abweichungen, die durch
sich deshalb auf Kernbestandteile (z. B. be- Transfer von der Ausgangs- in die Ziel-
tonte Inhaltswörter). Erst später berücksich- sprache entstehen, z. B. Er ging mit dem
tigen sie auch Endungen und Funktionswör- Zug. in Analogie zum türkischen trenle
ter und noch später Vorsilben und diskon- gitti
tinuierliche Elemente (z. B. getrennt ge- ⫺ Vereinfachungen z. B. im Bereich der
brauchte Vorsilben bei Verben). Die Annä- Wortbildung: Man darf nicht gegen die
herungsversuche an zielsprachliche Äuße- Sitte *stoßen. (statt verstoßen)
rungsformen werden auch als inkorrekte Äu- ⫺ Übergeneralisierungen: Er *singte. (statt
ßerungen oder Fehler bezeichnet. sang)
⫺ entwicklungsbedingte (intralinguale) Feh-
ler: Der Junge hat geschmeißt runter. (statt
6. Fehler runtergeschmissen)
Betrachtet man Fehler (vgl. Art. 101) von Neben solchen Fehlern treten (insbesondere
oben, d. h. von der angestrebten zielsprach- im Unterricht) auch induzierte Fehler auf,
lichen Norm aus, so handelt es sich immer d. h. Fehler, zu deren Produktion durch Lehr-
um sprachliche Mängel, z. B. Verkürzungen material, Übungsformen oder Äußerungen
oder Abweichungen. Betrachtet man sie hin- der Kontaktperson (bzw. Lehrkraft) angeregt
gegen von unten, d. h. vom System der Ler- wird. Solche Abweichungen (auch transfer of
nersprache aus, so wird deutlich, dass die training) sind kein Zeichen für Entwicklung,
meisten Fehler dadurch entstehen, dass Ler- sondern eher eines für Anpassung.
ner versuchen, Gehörtes nachzubilden oder Leider gibt es viele Fehler, die sich solchen
neue Ausdrucksmöglichkeiten zu erschließen klaren Zuordnungsversuchen entziehen. Neh-
oder zu erproben. Für Lehrkräfte ist dabei men wir bsw. die Schreibweise *shön. Sie
oft ärgerlich, dass Fehler oder Vereinfachun- könnte als Interferenzfehler klassifiziert wer-
gen auch in Bereichen auftreten können, die den, wenn Englisch die Erstsprache des Ler-
bereits relativ sicher beherrscht wurden. ners wäre. Was aber, wenn ein Lerner nie
Doch solche Fehler sind meist ein Zeichen Kontakt mit Englisch gehabt hat? Bsw. wird
dafür, dass gleichzeitig in anderen Bereichen diese Schreibweise auch von türkischen Schü-
neue Konstruktionen erprobt und dadurch lern produziert, in deren Erstsprache die
Verarbeitungskapazität absorbiert wird. Man Graphemkombination nicht existiert. Folg-
unterscheidet darum auch zwischen kommu- lich kann es sich bei ihrer Schreibweise um
nikativ bedingten Vereinfachungen (Vereinfa- keinen Interferenzfehler, sondern nur um ei-
chungen, die aus Gründen der Verständigung nen entwicklungsbedingten (bzw. intralingua-
vorgenommen werden) und elaborativen Ver- len) Fehler handeln. Ein solcher kann natür-
einfachungen. Letztere sind immer mit Ent- lich auch bei einem Lerner mit Englisch als
wicklungen (d. h. Elaborationen) in anderen Erstsprache nicht ausgeschlossen werden.
Bereichen der Lernersprache verbunden. Normalerweise beziehen wir Fehler auf be-
Man geht heute davon aus, dass Fehler stimmte Entwicklungsstufen, d. h. wir gehen
notwendige Zwischenschritte auf dem Weg zu davon aus, dass es sich um Abweichungen
einer zielsprachlichen Norm sind. Wer Fehler handelt, die typisch für eine Lernersprache
macht, zeigt, dass er mit seinem Sprach- bzw. einen Sprachstand sind (sog. Kompe-
682 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

tenzfehler). Fehler könnten aber auch bedingt keinen großen Wortschatz verfügt, wird er ⫺
sein durch bestimmte sprachliche oder situa- zur Überbrückung von Wortschatzlücken ⫺
tive Kontexte. Sie könnten auch auf Grund auch Umschreibungen verwenden, z. B. macht
von persönlichen Eigenheiten produziert so für stehen oder schnell gehen für laufen.
worden sein oder durch Unachtsamkeit, Mü- Manche dieser Paraphrasen werden automati-
digkeit oder Stress. In letzterem Falle würde siert und halten sich auch noch nach Überwin-
es sich um Performanzfehler handeln. Um dung dieser Phase. Unter ungünstigen Bedin-
das feststellen zu können, müssten mehrere gungen (z. B. Kommunikationszwang oder zu
Lerneräußerungen verglichen werden oder wenig Sprachkontakt) können sich solche
ein Lerner nachträglich befragt werden. Bei- Formen auch verfestigen (fossilieren).
des dürfte aus organisatorischen Gründen Je weiter die Lernersprache entwickelt wird,
nicht immer möglich sein. desto mehr markierte Wörter wie Rute (statt
Schließlich gibt es noch die sog. verdeckten Ding) oder drüberspringen (statt springen) wer-
Fehler, d. h. Äußerungen, die auf den ersten den in die Lernersprache übernommen. Doch
Blick korrekt erscheinen wie (1) der Gebrauch solcher Wörter kann täuschen,
weil sie oft über längere Zeit nur in einem ein-
(1) Habakuk springt auf den Tisch. geschränkten Sinne verwendet werden. Es
Erst wenn wir mehrere Äußerungen eines kann z. B. nur eine (Grund-)Bedeutung eines
Lerners vergleichen, können wir feststellen, Lexems bekannt sein. Es können Kenntnisse
daß er den als eine Art Einheitsform ge- der übertragenen Bedeutung des Lexems oder
braucht, was z. B. an Äußerungen wie (2) er- der damit verbundenen Konnotationen feh-
kennbar wird. len. Häufig arbeiten Lerner auch mit „Nähe-
rungswerten“ (d. h. ähnlichen, aber unge-
(2) *Habakuk sitzt auf den Tisch.
nauen Bedeutungen). Dann wird gemütlich
(2) könnte allerdings auch durch Lehreräuße- z. B. im Sinne von bequem oder angenehm ver-
rung wie standen und gebraucht. Es genügt also nicht,
wenn man zur Beurteilung einer Lernerspra-
(3) Habakuk, sitz auf den Tisch!
che die Anzahl gebrauchter Wörter ermittelt
induziert worden sein. Die Präpositional- oder das Verhältnis von Worttyp (type) zur
phrase auf den Tisch könnte zudem ein „Bau- Häufigkeit des Vorkommens (token) in einem
stein“ der Lernersprache sein. Aus all dem Text. Man muss auch wissen, welche Arten
folgt: von Wörtern wie gebraucht werden (vgl. dazu
auch Gass 1987; Nation/Carter 1989).
1. Fehler sollten eher als Anzeichen für Ent-
wicklung angesehen werden denn als Zei-
chen für einen Mangel. 8. Formeln
2. Fehler sollten nicht isoliert betrachtet wer-
den. Neben Paraphrasen gibt es auch Äußerun-
3. Auch eine systematische Fehleranalyse gen, die auf Grund von Sprechgeschwindig-
kann nur begrenzten Aufschluss über ei- keit und Intonation als Ganzheiten erkenn-
nen erreichten sprachlichen Entwicklungs- bar sind. Nehmen wir z. B.
stand (eine Lernersprache) geben. Bei der (1) mach mal das
Beurteilung sollten darum immer auch be- Grundschüler verwenden diesen Ausdruck
reits erreichte Ausdrucksmöglichkeiten ei- auch zur Realisierung globaler Anweisungen,
nes Lerners berücksichtigt werden. da er sich durch nonverbale Mittel unschwer
präzisieren lässt. Formeln werden von den
7. Wörter Lernern zunächst wie Ganzheiten (d. h. Ein-
zellexeme) behandelt. Doch bald schon wer-
Neben Fehlern fällt an Lernersprachen oft den sie auch verändert, z. B. verlängert. Aus
ein stereotyper Gebrauch von Lexemen auf. (1) werden dann Varianten wie:
Daneben werden während einer längeren
Phase vor allem Allerweltswörter verwendet, (2) mach mal das so [gemeint > so wie ich]
d. h. Wörter, die im Hinblick auf Gebrauchs- (3) mach mal das zwei [> entzwei]
kontexte oder Stilebenen keine Spezifizierun- (4) mach mal das da [> stell das dort hin]
gen aufweisen und die darum fast unbegrenzt Während sich Kinder mit solchen sprachli-
einsetzbar sind. Man nennt sie auch unmar- chen Versatzstücken behelfen, um Interaktio-
kierte Wörter. Dazu gehören etwa Ding, ma- nen zu eröffnen oder sie aufrecht zu erhalten,
chen oder springen. Solange ein Lerner über tendieren ältere Lerner auf Grund ihrer Le-
69. Zweitsprachenerwerb als Lernaktivität I 683

benserfahrungen und ihrer spezifischeren beitet, die sowohl in formellen als auch in in-
Kommunikationsbedürfnisse schon früh zur formellen Lernkontexten beobachtbar sind
Aneignung von Routineformeln, sei es, um (vgl. dazu Felix 1982; Weinert 1987; Eubank
Kontakt aufzunehmen, sei es, um zu Wort zu 1990; Sadownik/Vogel 1991).
kommen, das Wort zu behalten oder um Kon- 1. Stufe: Holophrastische Negation mit nein,
takte zu beenden (vgl. dazu z. B. Coulmas das sich auf eine vorausgehende Äußerung ei-
1981; Zöfgen 1992). Natürlich lässt sich for- nes Gesprächspartners bezieht. Daher auch
melhafter Sprachgebrauch auch bei Fortge- die Bezeichnung anaphorische Negation.
schrittenen nachweisen, u. a. auch in schrift- 2. Stufe: satzexterne Negation. Das Nega-
sprachlichen Produktionen. Neben Routine- tionselement wird vor der Äußerung plaziert,
formeln finden wir bei Fortgeschrittenen die negiert werden soll: Neg-X. Beispiel: nein
Redewendungen und Sprichwörter. Gerade helfen gemeint du sollst nicht helfen
ihr Gebrauch kann den Eindruck vermitteln, 3. Stufe: satzinterne Negation, d. h. X-Neg-
dass bereits ein hoher Sprachstand erreicht V-(Y). Beispiel: ich nein schlafen
wurde. Man sollte allerdings wissen, dass sich 4. Stufe: postverbale Negation mit nein und
der Gebrauch von Redewendungen und nicht, d. h. X-V-Neg-Y. Beispiel: du kannst
Sprichwörtern von Sprache zu Sprache und nicht das
von Kultur zu Kultur unterscheidet. So ver- 5. Stufe: Korrekte Form. Beispiel: du kannst
wendet man im Englischen z. B. mehr Routi- das nicht.
neformeln als im Deutschen (vgl. House 1979)
Für Lehrkräfte dürfte das Wissen um solche
und im Türkischen und Arabischen mehr Abfolgen nützlich sein, können sie doch
Sprichwörter. Es muss also damit gerechnet durch die Beachtung der jeweiligen Entwick-
werden, dass englische Lerner des Deutschen lungsstufe eine Unter- oder Überforderung
Routineformeln häufiger gebrauchen als ihrer Lerner vermeiden. Ob man aus den Er-
üblich und Lerner mit Türkisch oder Arabisch gebnissen allerdings weitergehende Schlüsse
als Erstsprache zu einem vermehrten Einsatz ziehen kann, wie dies Felix tut, der von einer
von Sprichwörtern tendieren. Daher sollte „rigide(n) Ordnung“ spricht, die „quer durch
nicht nur darauf geachtet werden, ob Wen- alle Sprachen, Erwerber und Erwerbstypen“
dungen oder Sprichwörter in der Lernerspra- (Felix 1982, 21) geht, erscheint eher fraglich
che schon vorhanden sind, sondern auch, ob (vgl. kritisch dazu Klein 1984, 107ff.). Bezo-
ihr Gebrauch mit den zielsprachlichen Kon- gen auf die Negation wissen wir z. B., dass
ventionen und den üblichen Gebrauchshäu- es Sprachen wie das Polnische gibt, die keine
figkeiten übereinstimmt. postverbale Negation kennen und dass nicht-
europäische Sprachen wie das Türkische im
9. Entwicklungssequenzen Bereich der Negation eine völlig andere Er-
werbsabfolge aufweisen. Es wäre daher zu er-
So wie sich Fehlerschwerpunkte im Laufe der warten, daß Lerner mit Polnisch oder Tür-
Entwicklung verlagern, der Wortbestand aus- kisch als Ausgangssprache länger zum
gebaut und der Gebrauch einzelner Wörter Durchlaufen der genannten Stufen brauchen
sich ändert, verändern sich auch Elemente als Lerner mit Englisch als Ausgangssprache.
und Strukturen im Bereich von Morphologie Vergleichende Untersuchungen dazu liegen
und Syntax. Die meisten Untersuchungen zu bislang nicht vor. Gegenwärtig wissen wir
Lernersprachen wurden in den letzten beiden auch nicht, ob es bei der Entwicklung Interde-
Bereichen durchgeführt, so dass heute relativ pendenzen zwischen unterschiedlichen Phäno-
genaue Beschreibungen über einzelne Ent- menen (z. B. Fragen und Negation) gibt. Die
wicklungsstufen vorliegen. Man spricht in Kenntnis solcher Zusammenhänge wäre für
diesem Zusammenhang auch von Abfolgen, die Beurteilung von Lernersprachen zweifellos
Erwerbssequenzen oder Erwerbsabfolgen. Da von Nutzen.
mit Erwerb aber eine bestimmte Form der
Aneignung assoziiert wird, wollen wir hier 10. Literatur in Auswahl
von Abfolgen oder Entwicklungsstufen spre-
Apeltauer, Ernst (1997): Grundlagen des Erst- und
chen. Eine solche Abfolge soll exemplarisch Fremdsprachenerwerbs. Kassel u. a.
am Beispiel der Negation erläutert werden.
Battacchi, Marco W.; Thomas Suslow; Margarita
Wie sehen die einzelnen Entwicklungs- Renna (1996): Emotion und Sprache. Zur Definition
schritte bei der Aneignung von Negations- der Emotion und ihren Beziehungen zu kognitiven
wörtern des Deutschen aus? In der Literatur Prozessen, dem Gedächtnis und der Sprache. Frank-
wurden vier (bzw. fünf) Stufen herausgear- furt/M. u. a.
684 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

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70. Zweitsprachenerwerb als Lernaktivität II:


Lernstrategien ⫺ Kommunikationsstrategien ⫺ Lerntechniken

1. Einleitung sektionelle Designs z. B. festgestellt, was gute


2. Kategorisierungen Lerner gemeinsam haben und worin gute
3. Konzepte und Definitionen Lerner sich von schwachen unterscheiden.
4. Strategien und Techniken und ihre Ob das für gute Lerner kennzeichnende Ver-
Effektivität
5. Das Unterrichten von Strategien und
halten auch tatsächlich für die besseren Lern-
Techniken ergebnisse verantwortlich ist, bleibt unge-
6. Literatur in Auswahl klärt, ebenso wie die Frage, in welcher Weise
dieses Verhalten dazu beiträgt, was dabei der
,wirksame Bestandteil‘ wäre und, wie sich das
1. Einleitung erklären ließe.
Die Validität der Datenerhebungsmetho-
Über das Thema Lernstragien und Lerntech- den kann oft in Frage gestellt werden. Um
niken ist im letzten Jahrzehnt sehr viel publi- das Verhalten der Lerner wahrnehmbar zu
ziert worden. Trotzdem zeigen die Ergebnisse machen, werden Verfahren angewandt, die so
viele Merkmale eines Wissenschaftsbereichs unterschiedlich sind (wie z. B. ,Fragebogen
in den Kinderschuhen. So herrscht Unklar- ausfüllen lassen‘ vs. ,observieren‘), dass die
heit und Uneinheitlichkeit in den Konzepten Ergebnisse eigentlich nicht miteinander ver-
und Definitionen (vgl. 3.), und eine (gemein- glichen werden dürfen. Dabei ist bei den mei-
same) theoretische Basis fehlt. Dies zeigt sich sten Methoden unklar, inwieweit das wahrge-
auch in den verwendeten Forschungsmetho- nommene Verhalten dem zugrundeliegenden
den und entsprechenden Typen von Ergebnis- Prozess entspricht. Hinzu kommt noch, dass
sen. In der Mehrheit geht es um ,Black-Box‘- viele der dazu angewandten Methoden, wie
Forschung. In der Regel wird durch cross- ,laut denken lassen‘, oder Interviews, durch
70. Zweitsprachenerwerb als Lernaktivität II 685

ihre Anwendung bei den untersuchten Ler- brücken. u. ä. Tarone (1980, 419) weist schon
nern zu einer Bewusstmachung führen, die un- darauf hin, dass es zwischen den beiden letzten
ter nicht-experimentellen Bedingungen nicht Kategorien Überschneidungen gibt, und fasst
stattgefunden hätte. Es gibt gute Gründe an- die beiden unter dem Namen ,Sprachge-
zunehmen, dass diese Bewusstmachung an brauchsstrategien‘ zusammen.
und für sich schon eine Lernstrategie ist (vgl. Im Nachfolgenden soll eine Beschränkung
5.3.), die dadurch, dass sie aufgerufen wird, die auf Strategien oder Techniken erfolgen, die
Ergebnisse erheblich beeinflusst. das Lernen erleichtern sollen. Auf ,Produk-
Schließlich lassen die Ergebnisse der ver- tionsstrategien‘ wird nicht weiter eingegan-
schiedenen Untersuchungen sich schlecht gen. Die Kommunikationsstrategien bilden
miteinander vergleichen, weil sie bei sehr un- einen Zweiffelsfall: Dieser Kategorie werden
terschiedlichen Gruppen von Versuchsperso- Verfahren zugeordnet wie ,Bedeutung erfra-
nen ausgeführt worden sind. Ellis (1994, 555) gen‘, ,Bedeutung ,aushandeln‘ [negotiation of
weist zurecht darauf hin, dass es nicht sehr meaning] oder ,aus dem Kontext ableiten‘, die
erstaunlich ist, dass gute erwachsene Lerner zum Lernen in der Form von Speicherungen
sich oft eher durch (meta)kognitive Verhal- neuer Kenntnisse beitragen (nämlich die Be-
tensweisen auszeichnen, während gute junge deutung des Erfragten, Ausgehandelten oder
Lerner öfter soziale Strategien anwenden. Erratenen) oder jedenfalls notwendige Bedin-
gungen zum Lernen schaffen. Das gilt na-
mentlich für die rezeptiven Varianten dieser
2. Kategorisierungen Kategorie. Deshalb sollen die produktiven
Kommunikationsstrategien weiter außer acht
2.1. Lern-, Kommunikations-
gelassen und die rezeptiven unter dem Aspekt
Produktionsstrategien
ihrer lernfördernden Funktion als ,indirekte‘,
Das Konzept ,Lernstrategie‘ wird in der Lite- ,soziale‘ Strategien besprochen werden (siehe
ratur unterschiedlich interpretiert und abge- 2.2. und 4.1.).
grenzt. Rubin (1975; 1987) beschränkt sich
ausdrücklich auf Strategien, die das Lernen 2.2. Chronologie, Direktheit,
direkt beeinflussen [,which (…) affect learn- Handlungsebene
ing directly‘]. Eine vergleichbar enge Ein- Lernstrategien werden in der Literatur unter-
schränkung finden wir bei u. a. O’Malley/ schiedlich kategorisiert. Rampillon (1985)
Chamot (1990); Rampillon (1985) und Wen- z. B. unterscheidet zwischen Verfahren, die
den (1991). Dagegen beziehen Oxford (1990), vorbereiten (wie: ein Wörterbuch bereitstel-
Cohen (1998) und Bimmel/Rampillon (2000) len), steuern (wie: Notizen anfertigen oder
auch sog. Kommunikationsstrategien mit ein, Visualisierungstechniken) und kontrollieren
Strategien, die es Fremdsprachen-Benutzern (wie: das selbst Ausführen von Verständnis-
erleichtern, trotz mangelhafter Sprachkennt- proben). Rubin (1981), Seliger (1984), Oxford
nisse ihre kommunikativen Ziele zu errei- (1990) und Bimmel/Rampillon (2000) unter-
chen. Sie werden deshalb oft ,Kompensa- scheiden zwischen direkten und indirekten
tionsstrategien‘ genannt. Es handelt sich da- Strategien. Bei ersteren werden (mentale)
bei um Verfahren wie ,aus dem Kontext ablei- Handlungen mit den zu lernenden Sprachele-
ten‘, ,zu der Muttersprache überwechseln‘, menten ausgeführt. In die zweite Kategorie
,um Hilfe bitten‘, ,um nähere Erklärung bit- gehören alle Handlungen, die dafür die Be-
ten‘, ,mimen‘, ,umschreiben‘, ,neue Wörter dingungen schaffen oder verbessern sollen.
erfinden‘, ,selber das Kommunikationsthema ,Wiederholen‘ oder ,Zuordnen‘ gehören zu
wählen‘ (worin man sich sprachlich auskennt), der ersten, ,Gelegenheiten suchen, wo man
oder einfach ,Kommunikation aus dem Wege die Fremdsprache verwenden kann‘, oder
gehen‘. Eine vergleichbar breite Interpretation ,sich entspannen‘ zu der zweiten. In dieser
finden wir z. B. bei Bialystok (1990) und Rich- zweiten Kategorie finden wir zwei Typen von
terich (1996). Manchmal werden Verfahren Handlungen grundverschiedener Natur. Sie
miteinbezogen, die Fremdsprachenbenutzern werden oft als soziale und affektive Strategien
helfen sollen, ihre linguistischen Kenntnisse so unterschieden. Beispiele ,sozialer Strategien‘
effizient und praktisch wie möglich einzuset- sind: ,Zusammenarbeit mit anderen Lernern
zen. Sie werden ,Produktionsstrategien‘ ge- suchen‘, ,um Erläuterung bitten‘, u. ä. ,Affek-
nannt. Beispiele wären: ,vorher üben‘, ,Verein- tive‘ Strategien sind z. B. Entspannungsübun-
fachung der geplanten Äußerung‘, ,Planung gen, Selbstmotivierungstechniken, Angstre-
der erwünschten Kommunikation‘, Esels- duziertechniken, usw.
686 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

Oft wird auch nach Handlungsebenen un- der den Terminus ,Strategie‘ reserviert für die
terschieden zwischen kognitiv und metakogni- Art und Weise, in der Sprachlerner Sprach-
tiv (oder regulativ). O’Malley/Chamot (1990, kenntnisse aufbauen (wie z. B. über die Ent-
229⫺231) definieren eine ,kognitive‘ Strategie wicklung einer ,Zwischensprache‘), während
als ,mentales Manipulieren oder Transfor- er für das, was wir hier Strategie nennen, die
mieren von Materialien oder Aufgaben mit Bezeichnung ,Taktik‘ verwendet.
dem Ziel die Verstehens-, Erwerbs- oder Be-
haltensleistung zu verbessern‘. Eine ,meta- 3.2. Aktivität vs. Plan
kognitive‘ Strategie bezieht sich auf Denken Ein weiteres Problem besteht in der Unklar-
oder Kenntnis in Bezug auf Lernprozesse, heit, ob eine Strategie eine wahrnehmbare
Lernplanung, Beaufsichtigung [,monitoring‘] Handlung ist oder ein Plan bzw. Verfahren.
des Lernens und dessen Auswertung nach Bei Oxford (1990) sind es deutlich konkrete
Ausführung der Aufgabe. Aktivitäten [,behaviours or actions‘]. Bei
Es ist klar, dass sich die verschiedenen Ka- O’Malley/Chamot (1990) wohl Verfahren
tegorisierungen überschneiden. Es ist auch [,ways of processing‘]. Oft bleibt diese Unter-
klar, dass innerhalb der vorgeschlagenen Ka- scheidung auch unklar: Rampillon (1995)
tegorisierungen die Unterschiede oft diffus und Cohen (1998) definieren Strategien als
sind. In der Literatur scheint sich die von Verfahren, behandeln sie in den konkreten
O’Malley/Chamot vorgeschlagene Dreitei- Beschreibungen jedoch eher als Aktivitäten.
lung durchzusetzen: (1) sozial/affektive, (2) Rubin (1987) schreibt lakonisch: „Lernstrate-
kognitive und (3) metakognitive Strategien. gien sind Strategien, die …“. Manchmal ist es
Trotz der festgestellten verbleibenden Un- beides zu gleicher Zeit, wie bei Weinstein/
klarheiten und der Kombination von zwei Mayer (1986), nach denen Lernstrategien
wesentlich unterschiedlichen Subkategorien „Aktivitäten und Gedanken“ [,behaviours and
in der ersten Kategorie soll im Nachfolgen- thoughts‘] sind. Eindeutig ist Garner (1987),
den diese Dreiteilung als Orientierung gelten. die auf die Herkunft des Wortes aus dem
griechischen Altertum hinweist, wo eine Stra-
tegie definiert ist als ein ,Plan von Handlun-
3. Konzepte und Definitionen gen, um ein, meist militärisches, Ziel zu errei-
chen‘. Ihr folgen Westhoff (1991) und Bim-
3.1. Strategien vs. Techniken
mel (1993). Bimmel/Rampillon (2000) um-
Für die hier behandelten Handlungen werden schreiben Strategie als „Plan“, Technik als
mehrere Bezeichnungen verwendet, die unter- „Fertigkeit“. Die Wörterbücher sind ziemlich
schiedlich definiert werden. Nach Dickinson eindeutig. Duden, Collins Cobuilt, Larousse,
(1992, 19) z. B. ist eine „Strategie (…) eine wie the Dictionary of Language Teaching &
Lerntechnik, die …“. Wenn Unterschiede ge- Applied Linguistics (Richards/Platt/Platt
macht werden, steht ,Strategie‘ oft für ein all- 1992) umschreiben ,Strategie‘ als ,Plan‘ im
gemeineres, höheres Abstraktions- oder Ag- Sinne Garners.
gregationsniveau, während ,Technik‘ sich Das Thema ist nicht unwichtig. Bei der
mehr auf konkretes, oft auch sichtbares, Umschreibung als (observierbarer) Aktivität
manchmal auch personengebundenes Lerner- ist ein wesentlicher Nachteil, dass man bei ei-
verhalten bezieht. Stern (1983) z. B. definiert ner wahrgenommenen Handlung oft nicht
Strategie als ,Methode‘ (,approach‘), wie z. B.: feststellen kann, welche Überlegungen oder
,eine aktive Vorgehensweise beim Lösen von welcher Plan ihr zu Grunde liegen. Was man
Problemen‘, während für ihn Techniken sieht, kann Zufall sein oder planmäßig, es
observierbare, spezifische Verhaltensweisen kann bewusst gesteuert oder automatisiert
sind, wie ,Verwendung eines Wörterbuchs‘. sein. Es ist nicht einmal sicher, ob derselben
Rampillon (1995) umschreibt Techniken als wahrgenommenen Aktivität bei derselben
einzelne, bewusst angewandte Verfahren. Person jedesmal derselbe Plan zugrunde liegt.
Strategien sind für sie dagegen eine Folge von ,Notizen anfertigen‘ z. B., kann eine Ausfüh-
Operationen, bei denen verschiedene Lern- rung eines Abstrahierungsplans, aber genau-
techniken zusammenwirken. In anderen Fäl- sogut ein Versuch sein, durch Assoziieren das
len aber, wie Oxford (1990); O’Malley/Cha- Wahrgenommene einzuprägen, es zu struktu-
mot (1990) und Wenden (1991), wird Strate- rieren oder es in übersichtliche Kategorien
gie genannt, was bei Rampillon und Stern einzuteilen; dabei geht es stets um Handlun-
,Technik‘ heißen würde. Fast das Umge- gen, die in der Literatur als unterschiedliche
kehrte lässt sich bei Seliger (1984) feststellen, Strategie-Typen nebeneinander genannt wer-
70. Zweitsprachenerwerb als Lernaktivität II 687

den (vgl. 4.2.). Im Nachfolgenden soll Lern- len‘, ,Ausführung beaufsichtigen‘ und ,Ergeb-
strategie definiert werden als ,Plan von (men- nisse auswerten‘ erfüllt. Man könnte deshalb
talen) Handlungen, um ein Lernziel zu errei- sagen, dass die Aktivitäten des Ausführenden
chen‘. Diese Definition hat noch einen weite- im ,kognitiven Bereich‘ liegen, die des Mana-
ren Vorteil. Sie erleichtert es, den Unter- gers im ,metakognitiven Bereich‘. Dies impli-
schied zwischen kognitiv und metakognitiv ziert, dass metakognitive Handlungen nicht
zu klären. neben-, sondern übergeordnet sind und die
kognitiven Strategien steuern. Anhand dieser
3.3. Kognitiv vs. Metakognitiv Beschreibung kann auch ein konkreterer Un-
Der Terminus ,metakognitiv‘ stammt von terschied zwischen Strategien und Techniken
Flavell (1971). Nach seiner Definition bezieht definiert werden. Aus ihr lassen sich zwei Ka-
sich ,Metakognition‘ auf „Kenntnisse über tegorien Lernhandlungen ableiten:
die eigenen kognitiven Prozesse, Produkte
oder alles, was damit verbunden [,related‘] 1. Kognitive Handlungen, die ohne meta-
ist“ (Flavell 1976, 232). O’Malley/Chamot’s kognitive Steuerung mehr oder weniger
Umschreibung (siehe 2.2.) scheint davon routinemäßig ausgeführt werden (keine
nicht weit entfernt zu sein. Bei Oxford jedoch zielorientierte Planung, usw.)
ist sie schon weniger klar: Erstens ordnet sie 2. Kognitive Handlungen mit metakogniti-
die metakognitiven Strategien auf gleicher ver Steuerung, die bewusst, zielorientiert
Ebene mit den affektiven und sozialen bei geplant, beaufsichtigt und ausgewertet
den indirekten Strategien ein. Zweitens defi- werden. Die ersteren können wir jetzt als
niert sie metakognitive Strategien zwar als ,Techniken‘ bezeichnen, letztere als ,Stra-
Handlungen [,actions‘], durch die Lerner „ih- tegien‘.
ren eigenen Lernprozess koordinieren“ kön-
nen, gibt als Beispiele dann aber auch an: 4. Strategien und Techniken und ihre
,sich konzentrieren‘ und ,Neues mit schon
Bekanntem zu kombinieren‘ (nach ihrer eige- Effektivität
nen Definition kognitive Handlungen) und 4.1. Affektive und soziale Strategien
,Übungsmöglichkeiten suchen‘, was in den
meisten anderen Quellen eindeutig zu den so- Nach Oxford (1990) gehört „die affektive
zialen Strategien gerechnet wird (Oxford Seite der Lerner wahrscheinlich zu den wich-
1990, 136). Auch O’Malley/Chamot sind in ih- tigsten, Erfolg oder Misslingen bedingenden
ren Konkretisierungen weniger eindeutig, als Einflüssen beim Lernen einer Fremdspra-
ihre Definition suggeriert: ,Metakognitiv‘ nen- che“. „Gute Lerner sind oft die besseren Be-
nen sie z. B. „die Planung [was tatsächlich me- herrscher [,control‘] ihrer Gefühle und Ein-
takognitiv ist, Anm. GW] und Wiederholung stellungen [,attitudes‘] in Bezug auf Lernen“.
[was m. E. nach der gegebenen Definition zum Das ist wichtig, weil „negative Gefühle Fort-
kognitiven Bereich gehört] von Sprachelemen- schritte hemmen, auch wenn alle ,technischen
ten …“ (O’Malley/Chamot 1990, 119). Bedingungen‘ erfüllt sind“ (Oxford 1990,
Sehr vielen Umschreibungen gemeinsam 149). Als Beispiele affektiver Handlungen
ist, dass beide Kategorien als nebengeordnet (vgl. auch Art. 74) finden wir in der Literatur
präsentiert werden, die als Alternative für eine Vielzahl von (oft der Yoga-Praxis entlie-
einander gelten können. Das kompliziert die henen) Lockerungs- und Entspannungsübun-
Sache, weil sie, wie in den Beispielen bei gen, um hemmende Ängste besser in den Griff
O’Malley/Chamot und Oxford klar wird, zu kriegen: Atemübungen, entspannende Mu-
manchmal zu überlappen scheinen. Das sik, entspannendes Gelächter, rhythmische
scheint vor allem ein Problem, wenn das Wiederholungen von gewissen Bewegungen
Konzept ,Strategie‘ als Aktivität definiert oder einsilbigen Wörtern (vgl. z. B. Schiller
wird. Die Umschreibung als Plan, wie in 3.2. 1993). Zu dieser Subkategorie gehören auch
vorgeschlagen, erleichtert es, eine Lösung zu die Strategien zur Selbstermutigung wie
finden. Diese Definition unterstellt nämlich ,Selbstbelohnung‘, das Kultivieren und Ver-
zwei Rollen: Die eine Rolle dessen, der den balisieren positiver Erfahrungen, systemati-
Plan ausführt (der wiederholt, zusammen- scher Vergleich von aktuellen mit früheren
fasst, kategorisiert, u. ä.). Die andere Rolle ist (etwa in einem Lerntagebuch festgehaltenen)
die des Planers, des ,Managers‘ dieses Prozes- Ergebnissen. Ellis (1995) bespricht die spar-
ses, der die vier klassischen Management- samen Forschungsergebnisse in diesem Be-
funktionen: ,Ziele bestimmen‘, ,Pläne erstel- reich und schlussfolgert, dass für die unter-
688 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

stellten positiven Effekte bis jetzt nur schwa- Kopplung von Lernzielen mit geeigneten
che empirische Evidenz gefunden werden Strategien wird erschwert durch das Fehlen
konnte. Die bezieht sich vor allem auf die be- einer eindeutigen Typologie von Strategien.
deutende Rolle der Motivation (vgl. auch Ox- Manchmal sind die Typen heterogen (vgl.
ford/Shearin 1994 und Dickinson 1995). ,markieren‘ vs. ,reflektieren‘), überschneiden
Zu den sozialen Strategien rechnet man sie sich (vgl. ,strukturieren‘ und ,schematisie-
Handlungen wie ,Zusammenarbeit mit ande- ren‘), beziehen sich auf ein sehr unterschiedli-
ren Lernern suchen‘, ,Kontaktmöglichkeiten ches Aggregationsniveau (vgl. sehr spezifisch
mit ,native speakers‘ suchen‘, ,um Erläute- konkret: ,substituieren‘ vs. sehr allgemein:
rung, Wiederholung, Beispiele bitten‘, ,Regel- ,analysieren‘). Manchmal sind die Bezeich-
mässig nachfragen, ob man richtig verstan- nungen auch mehrdeutig. Wie in 3.2. gezeigt
den hat‘, u. ä. Oxford (1990) rechnet dazu wurde, kann sich z. B. ,Notizen machen‘ auf
auch die Entwicklung und Anwendung eines eine Vielfalt von verschiedenen Lernhandlun-
interkulturellen Bewusstseins, das dazu bei- gen beziehen. Westhoff (1996) sucht Anhalts-
tragen kann, von dem Kontakt mit Mutter- punkte für die Klärung der Beziehung zwi-
sprachlern zu lernen. Zu der Effektivität die- schen Handlung und Effekt, indem er Hand-
ser Strategien bietet die Forschung als An- lungstypen nach Merkmalen ihrer unterlie-
haltspunkt nur, dass gute Lerner solches Ver- genden mentalen Handlungsstruktur in Ty-
halten verhältnismäßig öfter zeigen als pen zusammenzufassen versucht. Er nimmt
schwache und jüngere öfter als ältere. Dieser an, dass Lernergebnisse tiefer und anwendba-
Zusammenhang braucht aber nicht unbe- rer sind, je intensiver und variierter an den
dingt kausal zu sein. Merkmalen des zu lernenden mentalen Ob-
jektes ,gehandelt‘ worden ist. Er kommt da-
4.2. Kognitive Strategien bei zu Typologisierungen wie:
Bei Rampillon (1985; 1995), Weinstein/Mayer ⫺ Wiederholen. (Technisch ausgedrückt: ein
(1986), Ellis/Sindlair (1989), Müller/Werten- mentales Objekt, wie einen Begriff oder eine
schlag/Wolff (1989), Prokopp (1989), Sperber Vorstellung, aus dem Langzeitgedächtnis (wo
(1989), O’Malley/Chamot (1990), Oxford alles, was wir wissen, gespeichert ist) in das
(1990), Rug/Neumann/Tomaszewski (1991), Arbeitsgedächtnis holen (eine Art ,Werk-
Wenden (1991), Wenden/Rubin (1991), Wolff statt‘, wo Gedanken, Vorstellungen u. a. ,pro-
(1992), Ahrenholz/Ladenburger (1993), Sper- duziert‘ werden). Dadurch lernt man die spe-
ber (1993) und Bimmel/Rampillon (2000) zifischen Merkmale des betreffenden Objek-
u. a. werden mehr oder weniger ausführliche tes besser kennen und übt den Weg zu dessen
Auflistungen von als ,Strategie‘ oder ,Tech- Speicherplatz.
nik‘ genannten Lernhandlungen aus diesem ⫺ Ordnen. (Irgendeine Reihenfolge nach
Bereich präsentiert, meistens mit praktischen einem selbstgewählten Kriterium festlegen,
Beispielen illustriert. Informativ ist nament- wie: alphabetisch, nach Länge, chronolo-
lich Oxford (1990), deren Auflistungen sich gisch, zahlenmäßig, nach Relevanz für ein be-
durch fast erschöpfende Vollständigkeit wie stimmtes Thema, usw. Bei ,ordnen‘ wird mei-
auch durch oft schwer nachvollziehbare Ein- stens nur an einem einzigen Merkmal der zu
teilungssystematik auszeichnen. Ellis (1994) lernenden Objekte gehandelt.
bespricht verschiedene Forschungsergebnisse ⫺ Kategorisieren. (Elemente nach selbstge-
und schließt, dass es einen Zusammenhang wählten Kennzeichen gruppieren.) So kann
gibt zwischen bestimmten Strategie-Typen man z. B. die Vokabeln: Schlaf, hüpfen, Tisch-
und (1) Unterrichtszielen (wie Einprägen vs. bein, rennen, Schein, schwarz, Kühlschrank,
Anwenden können), (2) Aufgabentypen, oder springen, Armleuchter, sprinten, schnell, leich-
(3) gewissen Persönlichkeitsmerkmalen (wie ter einprägen, wenn man sie gruppiert als:
Alter); dass die Qualität der Ausführung, fle- Schlaf, Schein, schwarz, schnell; rennen, sprin-
xibler Einsatz und Zielgerechtheit wichtiger gen, hüpfen, sprinten; Kühlschrank, Tischbein,
sind als Frequenz; und dass Strategien wahr- Armleuchter. Bei vorgegebener Kategorisie-
scheinlich am effektivsten sind, wenn sie in rung (wie im Beispiel) handeln Lernende an
Kombination miteinander angewandt wer- einer beschränkten Zahl vorgegebener Krite-
den. Aus forschungstechnischen Gründen rien. Durch diese Art von Umschreiben kann
steht allerdings die Kausalität der in den Ex- hypothetisiert werden, dass selber eine Klas-
perimenten gefundenen Zusammenhänge in sifizierung entwerfen (wie z. B. bei ,neuord-
sehr vielen Fällen keineswegs fest. nen‘) wahrscheinlich effektiver ist, weil in die-
70. Zweitsprachenerwerb als Lernaktivität II 689

sem Fall an mehr Merkmalen des mentalen Planungsstrategien können sich beziehen auf:
Objektes gehandelt werden muss, um zum
⫺ Handlungsaspekte (Was mache ich in wel-
Kategorisieren brauchbare Merkmale zu se-
cher Reihenfolge?). Dies beinhaltet u. a.,
lektieren.
dass der mentale Manager versucht, die
⫺ Strukturieren. (Feststellen, aus was für
beste Strategie zu wählen. Das ist nicht
Bestandteilen sich etwas zusammensetzt und
immer dieselbe. Für das Lösen eines affek-
welche Beziehung zwischen diesen Bestand-
tiven Problems ist es eine andere als für
teilen besteht.) Die Umschreibung bietet eine eine Memorisieraufgabe oder das Lösen
mögliche Erklärung für die relativ große Ef- eines Grammatikproblems. Bei dieser
fektivität dieser Handlung: Es ist eine Dop- Wahl ist das zu Grunde liegende Hand-
pelhandlung, die aus zwei jede für sich schon lungsmuster der Strategie entscheidend.
effektiven Handlungen (,Kategorisieren‘ und Es hilft, wenn Lerner davon einige Kennt-
,Beziehung bestimmen‘) besteht. Beide setzen nis haben. Die Ausführung jeder Strategie
ziemlich intensives und komplexes Handeln setzt bestimmte Kenntnisse und Fertigkei-
an Merkmalen des zu lernenden Objektes ten voraus. Der ,Manager‘ muss entschei-
voraus. den, welche der in Betracht kommenden
⫺ Abstrahieren. (Spezifische Dinge auf ein Strategien dem Kenntnisstand und der
allgemeineres Niveau heben.) Dazu muss bei Fertigkeit der Lerner optimal entspricht.
mentalen Objekten identifiziert werden, wel- ⫺ Zeitaspekte (Wann und wie lange sollen
che ihrer Merkmale sie mit (Kategorien von) die Handlungen ausgeführt werden)
anderen Objekten gemeinsam haben, mit de- ⫺ Umgebungsaspekte (Einrichtung der Ar-
nen sie sich zu einer Kategorie höherer Ord- beitsumgebung, notwendige Hilfsmittel
nung zusammenfassen lassen. Das könnte wie Wörterbücher, Geräte, usw.)
z. T. den Lerneffekt von ,Notizen machen‘ er-
klären: Es bringt Leser oder Zuhörer dazu, Instrumente zur Beaufsichtigung sind z. B. re-
zusammenzufassen und abzuwägen. Dasselbe gelmäßige Überprüfungen während der Aus-
gilt für ,Zusammenfassen‘ überhaupt. führung der kognitiven Lernhandlungen, ob
Den in dieser Weise nach ihren zu Grunde ⫺ die Planung zeitlich und inhaltlich noch
liegenden Handlungsmustern (und dadurch stimmt oder gegebenenfalls besser ange-
nach ihrem Lernpotenzial) unterschiedenen passt werden kann,
Handlungstypen lassen sich die meisten der ⫺ richtig ist, was man tut,
in der Literatur erwähnten einzelnen Strate- ⫺ die kognitive Handlung so zweckmäßig ist
gien zuordnen. wie angenommen, u. ä.
Für die Auswertung ist es wichtig, dass festge-
4.3. Metakognitive Strategien stellt wird, in welcher Weise und an Hand
Metakognitive Strategien lassen sich nach von welchen Kriterien kontrolliert werden
den vier in 3.3. unterschiedenen Manage- kann, ob das Geplante erreicht ist. Um vor-
ment-Funktionen gliedern. Strikt genommen zubeugen, dass dies nachher nicht mehr fest-
gehören nur die Entscheidungen, Vorhaben stellbar ist, weil die dazu notwendige Infor-
und Kontrollen in diesen Bereich. Die Aus- mation unterwegs nicht eingesammelt wor-
führung selber ist kognitiv. Die Beispiele in den ist, empfiehlt es sich, die Auswertung, in-
der Literatur (u. a. O’Malley/Chamot 1990; klusive der Gewinnung der dazu notwendi-
Oxford 1990; Dickinson 1992) sind darin gen Information (wie ,auf Tonband aufneh-
nicht sehr konsequent (vgl. 2.2.). men‘) vor Anfang der Ausführung zu planen.
Zielsetzungsstrategien sind z. B.:
⫺ Das Ziel einer Aufgabe identifizieren. 5. Das Unterrichten von Strategien
⫺ Eigene Ziele mit Lernaufgaben formulie- und Techniken
ren.
⫺ Grobziele (etwa für ein Studienjahr) in 5.1. Affektive und Soziale Strategien und
Feinziele aufgliedern (etwa für eine Lek- Techniken
tion oder Lernaufgabe). Über die Unterrichtbarkeit sozialer und na-
⫺ Entscheiden, auf welche spezifischen mentlich affektiver Strategien ist sehr wenig
Aspekte einer Lernaufgabe man sich kon- bekannt. Diese Handlungen stehen oft im
zentriert und welche man eventuell igno- Konflikt mit der vorherrschenden Unter-
rieren kann. richtskultur. Zusammenarbeit wird zwar oft
690 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

als wertvoll gepredigt, aber Leistungen wer- einer Erklärung des Ziels, der Wirkung und
den individuell gemessen. In dem Zusammen- des Sinnes der zu übenden Strategie wesentli-
hang gilt Zusammenarbeit als Betrug. Schü- cher Bestandteil vieler didaktischer Vor-
ler machen einen besseren Eindruck, wenn sie schläge (vgl. auch Bimmel 1993, 8). Weiter
etwas wissen, als wenn sie durch dauerndes wird oft angenommen, dass Training effekti-
Nachfragen immer wieder zeigen, was sie ver ist, wenn es nicht isoliert, sondern im
nicht wissen. Dieser Umstand stimuliert nicht Fachunterricht integriert stattfindet. In der
die Anwendung sozialer Strategien. Dasselbe Literatur sind diverse Unterrichtsphasierun-
gilt für viele affektive Lernhandlungen. Keine gen zu finden. Eine Übersicht geben u. a.
Fehler machen wird belohnt, Fehler machen O’Malley/Chamot (1990). Resümierend lässt
bestraft, und dies alles in einem Klima dau- sich daraus folgende Phasierung ableiten:
ernder formeller oder informeller Leistungs-
messung. Da mag es nicht wundern, dass 1. Präsentation
Chamot u. a. (1988) feststellen, dass affektive ⫺ Erzählen, wozu man die Strategie anwen-
Strategien im regulären Unterricht selten den kann.
wahrgenommen werden. Eine Ausnahme bil- ⫺ Erzählen, wozu das nützlich ist.
det die Suggestopädie, die methodisch größ- ⫺ Ausführung beschreiben.
tenteils auf der Anwendung affektiver Tech- 2. Darstellung eines Modells
niken fußt.
⫺ Vormachen.
5.2. Kognitive Strategien und Techniken ⫺ Dabei als Dozent die eigenen Denkschritte
verbalisieren.
Es ist in den letzten Jahren eine Flut von
Trainings- und Übungsmaterialien erschie- 3. Üben lassen
nen. Erstaunlicherweise gibt es aber wenig ⫺ Schüler führen kooperative Lernaufgaben
Forschung zur Wirkung solcher Materialien. aus.
Die Ergebnisse der wenigen Studien (Cohen/ ⫺ Dozent leistet Hilfe, wenn es ohne nicht
Aphek (1980) und Bialystok (1983) über Vo- geht.
kabel lernen, O’Malley u. a. (1985) und Co-
hen (1998) über eine breitere Skala von Stra- 4. Erweiterung der Anwendungsmöglichkeiten
tegien) sind diffus und wenig überzeugend. ⫺ Extra Übungsstoff mit vergleichbaren Auf-
Weiter basiert so gut wie alles, was über die gaben anbieten.
Didaktik kognitiver Strategien geschrieben ⫺ Das Gelernte muss dabei erfolgreich ange-
worden ist, auf Erfahrung, Intuition, ,Com- wendet werden können.
mon sense‘ oder auf allgemeineren lerntheo-
retischen Prinzipien. Zusammenfassend 5. Auswertung
könnte man sagen: Man lernt solche Hand- ⫺ Lehrer gibt individuell und gruppenweise
lungen vor allem, indem man sie ausführt. Feedback.
Aufträge werden dabei als effektiver angese-
hen, wenn sie: 5.3. Metakognitive Strategien und
Techniken
1. Inhaltsbezug haben. (Die Lernaktivität Es scheint auf der Hand zu liegen, dass Ler-
soll eine Bedeutung haben und der Lerner nende ihr Repertoire im metakognitiven
muss sich auch dieser Bedeutung bewusst Bereich durch Ausführung vielfältiger kogniti-
sein.) ver Strategien entwickeln werden. Untersu-
2. möglichst viele Ähnlichkeiten aufweisen chungen zeigen jedoch jedesmal, dass kogni-
mit der Situation, in der das Gelernte spä- tive Lernstrategien, die an und für sich be-
ter angewandt werden soll. herrscht werden, in neuen Situationen ohne
3. den Lernenden das Gefühl vermitteln, ausdrückliche Anweisung des Lehrers selten
dass die Anwendung der Strategie das angewandt werden (vgl. Bimmel/Westhoff
Ausführen der Aufgabe erleichtert. 1995). Zu der Frage, ob und unter welchen Be-
Ziemlich allgemein wird angenommen, dass dingungen Strategietraining Wirkung zeigt,
Lernhandlungen im kognitiven Bereich weni- finden wir in der Literatur widersprüchliche
ger effektiv gelernt werden, wenn sie als Ergebnisse. Mulder (1996) gibt eine ausführ-
,Technik‘ geübt werden. Üben mit ,Strate- liche Übersicht. Ihr Vergleich der konkreten
gien‘ wird als vielversprechender angesehen. Lernaufgaben in den von ihr analysierten Trai-
Aus diesem Grund ist die Verdeutlichung der ningsprogrammen führt zu der Vermutung,
metakognitiven Steuerung, z. B. in der Form dass entscheidend ist, ob der Lernende sich
70. Zweitsprachenerwerb als Lernaktivität II 691

während des Lernprozesses die angewandte ten. Er muss sich darauf beschränken, als
Strategie bewusst gemacht hat. Mulders ei- ,Resonanzkörper‘ zu fungieren, mit dessen
gene experimentelle Ergebnisse bestätigen Hilfe Lernende ihre eigenen Urteile, Kom-
dies. Dabei fällt auf, dass Bewusstmachung in mentare und Tipps formulieren lernen. Vor-
der Form von mehr oder weniger offener Re- teil der obengenannten Fragen ist, dass sie
flexion (aufschreiben lassen, wie die Lerner immer gestellt werden können. Bei ihrer Be-
ihre Aufgabe angepackt haben) effektiver zu antwortung lernt man auch, wenn man keine
sein scheint als das Schritt für Schritt einüben Fehler gemacht hat.
lassen von vorgefertigten Vorgehensanleitun- Der Erwerb von Fertigkeiten im Umgang
gen (Heuristiken). mit metakognitiven Strategien verlangt Trai-
Eine solche Bewusstmachung kann implizit ning von allen Beteiligten. Unterrichtende
hervorgerufen werden z. B. durch ,zusam- werden üben müssen, so viel wie möglich zu-
menarbeiten lassen‘ mit der Aufgabe, sich rückzutreten und als Berater, die vor allem
durch Argumentation auf eine gemeinsame Möglichkeiten aufzeigen, dafür zu sorgen,
Lösung zu einigen. Dieses Überlegenmüssen dass dieser Bewusstmachungsprozess bei den
trägt wahrscheinlich mehr zum Lernergebnis Schülern so gut wie möglich verläuft. Die
bei als das Lösen der Aufgabe an und für Lerner werden üben müssen, die ,Manage-
sich. mentrollen‘ zu übernehmen. Das scheint
Eine andere Form impliziter Bewusstma- schwierig, aber die Praxis auf vielen Montes-
chung ist ,Schülertutoring‘. Dabei lässt man sori-Schulen zeigt, dass es zumindest bis zu
Schüler, die im Stoff schon ein Stück weiter einem bestimmten Grad möglich ist.
sind, weniger Fortgeschrittenen helfen. Der
Tutor lernt durch sein Nachdenken darüber,
wie er etwas erklären muss, wahrscheinlich 6. Literatur in Auswahl
mehr als sein Schüler, und zwar sowohl auf Ahrenholz, Bernd; Ursula Ladenburger (1993):
kognitivem als auch auf metakognitivem Ge- Brief an unsere Studenten. Nützliche Tips zum
biet. Thema. In: Fremdsprache Deutsch. 8, 19⫺24.
Eine explizite Art, Bewusstmachung herzu- Bialystok, Ellen (1983): Inferencing: testing the
stellen, ist: ,Rechenschaft ablegen lassen‘, ,hypothesis-testing‘ hypothesis. In: Herbert Seliger;
z. B. indem man erst gestattet, unzureichende J. Michael Long (Hg.): Classroom-oriented Re-
Tests zu wiederholen, nachdem Lerner aufge- search in Second Language Acquisition. Rowley,
schrieben haben, wie sie den mangelhaft aus- Mass.
geführten Test vorbereitet hatten, und was sie ⫺ (1990): Communication Strategies. Oxford.
nun bei dem zweiten Versuch anders machen Bimmel, Peter (1993): Lernstrategien im Deutsch-
wollen. Eine explizite Form von ,Bewusstma- unterricht. In: Fremdsprache Deutsch 8, 4⫺11.
chenlassen‘ ist auch das Führenlassen von ⫺; Ute Rampillon (2000): Lernerautonomie und
,Lerntagebüchern‘. In diesen ,Logbüchern‘ Lernstrategien. Fernstudieneinheit. München: Goe-
versuchen Lernende festzuhalten, wie sie ihre the-Institut.
Unterrichtsstoffe angepackt haben und was ⫺; Gerard Westhoff (1995): Lesestrategien: Trai-
dabei herauskam, z. B. an Hand der folgen- ning im Muttersprachenunterricht ⫺ Transfer zum
den fünf Fragen: Fremdsprachenunterricht. In: Swantje Ehlers
(Hg.): Lerntheorie ⫺ Tätigkeitstheorie ⫺ Fremd-
1. Was wolltest du (wie) erreichen? sprachenunterricht. München, 135⫺151.
2. Ist es gelungen?
3. Woher weißst du das? Chamot, Anna; Lisa Küpper; Maria Impink-Her-
nandez (1988): A Study of Learning Strategies in
4. Kannst du das erklären? Foreign Language Instruction: Findings of the Lon-
5. Was lernst du daraus für das nächste Mal? gitudinal Study. MacLean, Va.
In dieser Weise systematisch geführte Lern- Cohen, Andrew; Edna Aphek (1980): Retention of
tagebücher können auch ,Supervision‘ struk- second language vocabulary over time: investigat-
turieren. Supervision beinhaltet, dass ein ing the role of mnemonic associations. In: Sys-
,Supervisor‘, ohne den Inhalt des Lernprozes- tem 8, 221⫺235.
ses zu steuern (das müssen die Lernenden ⫺ (1998): Strategies in learning and using a second
selbst tun), hilft, systematisch Informationen language. London and New York.
über die Wirkungen, die das Handeln der Dickinson, Leslie (1992): Learner training for lan-
Schüler hervorruft, zu sammeln und zu ge- guage learning. Dublin.
brauchen. Dabei muss sich der Supervisor ⫺ (1995): Autonomy and Motivation. A Literature
Urteilen, Kommentaren oder Tipps enthal- Review. In: System 23/2, 165⫺174.
692 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

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71. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess I 693

71. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess I:


Neuropsychologische Ansätze

1. Vorbemerkung Befunde bisher keine Grundlage für verlässli-


2. Aphasien bei Mehrsprachigen che Aussagen zum Zweitsprachenerwerb ab.
3. Experimente zur Lateralität bei Einige vorläufige Schlussfolgerungen aus
Mehrsprachigen dem, was generell über die Entwicklung der
4. Untersuchungen über das Zusammenwirken
kortikaler und subkortikaler Strukturen bei
kindlichen Hirnfunktionen, über die in früher
Sprachleistungen Kindheit überschüssige Fülle nervlichen Po-
5. Schlussbemerkung tentials und über die Plastizität des kindli-
6. Literatur in Auswahl chen Hirns bekannt ist (vgl. Bates/Thal/Ja-
nowsky 1992), dürften allerdings auf Grund
der Literaturlage bereits zulässig sein. Etwa
1. Vorbemerkung die, dass die Konfrontation mit mehreren
Sprachen von Anfang an als solche keine
Zweimal ist in den vergangenen Jahrzehnten Überforderung der kindlichen Nervenorgani-
die Fremd- und Zweitsprachenforschung mit sation darstellt, und dass „Plastizität“ keine
besonderen Erwartungen an die Neuropsy- einheitliche Größe ist, sondern durchaus un-
chologie herangetreten: zuerst um die Wende terschiedliche Zeitpläne für vielfältige Teil-
zu den 70er Jahren, als Eric Lennebergs Buch prozesse maßgeblich zu sein scheinen. Es ist
über die „Biologischen Grundlagen der Spra- aber noch nicht abzusehen, dass sich solche
che“ (1972, Orig. 1967) eine naturwissen- Aussagen in naher Zukunft im Hinblick auf
schaftlich verankerte Entscheidungshilfe in Mehrsprachigkeit genauer präzisieren lassen,
der Diskussion um „kritische Perioden“ der nicht nur wegen der ethischen Gründe, die
Zweitsprachlernfähigkeit versprach. Und Zurückhaltung in der Forschung mit Kin-
dann ein Jahrzehnt später, als im Zuge der dern gebieten, sondern auch, weil die Er-
„split-brain“-Forschung (Gazzaniga 1970) kenntnislage im Feld der kindlichen Hirnlä-
die Spekulatioen über größere Anteile der sionen generell als noch recht ungesichert
rechten Hemisphäre an sprachlichen Leistun- gilt.
gen bei Frauen, in naturnahen Kulturen, und Hingegen erscheint es angebracht, hier über
eben auch bei Mehrsprachigen aufkam, was Untersuchungen zu berichten, die auf die Ana-
unmittelbar zu didaktischen Ratschlägen lyse des Zusammenwirkens kortikaler und
führte, in der Fremdsprachenlehre nun gezielt subkortikaler Hirnstrukturen bei Sprach-
die angeblich kreative, musikalische und leistungen zielen (Abschnitt 4.). Die Thematik
emotive „andere“ Hirnhälfte einzuspannen. ist innerhalb der neuropsychologischen Ge-
Diese zweite Diskussion muss in dem vor- dächtnisforschung wohl etabliert (vgl. Cros-
liegenden Beitrag behandelt werden (Ab- son 1992). Zwar wird die Frage der Mehrspra-
schnitt 3.). Sie hat immerhin quantitativ den chigkeit in diesem Zusammenhang erst seit
größten Teil der bisher erschienenen Litera- kurzem aufgebracht, allerdings, wie es scheint,
tur zum Thema Mehrsprachigkeit und Hirn- in für die Zukunft vielversprechender Weise.
organisation eingebracht, wenn daraus auch Schließlich sind die aphasischen Erkrankun-
überwiegend der Eindruck von Spekulation gen und die Verläufe ihrer Rückbildung bei
und Unübersichtlichkeit resultiert. Verzichtet Polyglotten ein Gegenstand, der in einem Be-
wird hier dagegen auf die Darstellung der Ar- richt wie diesem selbstredend eine Rolle spie-
beiten zu kindlichen Hirnläsionen, mit denen len muss, denn er bildet den klassischen
auf indirekte Weise vermeintliche Zeitgrenzen Ausgangspunkt für die neuropsychologische
für die Möglichkeit optimaler Bilingualität Beschäftigung mit Mehrsprachigkeit (Ab-
festgemacht werden sollten. Die Daten von schnitt 2.).
Basser (1962), auf die Lenneberg sich im We- Tatsächlich lassen sich Aspekte zum
sentlichen stützte, haben sich nicht als zuver- Thema Mehrsprachigkeit über eine Periode
lässig erwiesen (vgl. Kinsbourne/Hiscock von nahezu 100 Jahren Forschungsgeschichte
1977; Molfese/Betz 1989). Zwar stellt sich der Neurologie fast ausschließlich aus klini-
hiergegen die jüngere neurologische For- schen Berichten über Aphasiekranke beisteu-
schung zur kindlichen Hirnentwicklung als ern. Erst als ab den 60er Jahren unseres Jahr-
vielversprechend dar, aber sie gibt wegen hunderts die Neuro-Wissenschaften mit tech-
noch spärlicher Daten und widersprüchlicher nischen und methodischen Fortschritten auf-
694 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

zuwarten begannen, änderte sich die Situa- menwirken. Die Kompliziertheit dieser Vor-
tion: einmal, indem die experimentelle Psy- gänge lässt es allerdings immer noch nicht zu,
chologie in die Kooperation mit den medizi- wirklich letztgültige Beschreibungen und
nischen Fachwissenschaften eintrat, und zum Analysen vorzulegen (empfehlenswert zum
andern, hierdurch mit verursacht, indem ne- Stand der Forschung in Form einzelner Kurz-
ben Fallstudien über Hirnverletzungen auch referate: Blanken u. a. 1993; mustergültig die
vergleichende Arbeiten über Gruppen von Einführung von Kandel u. a., die 1996 in
Hirngeschädigten durchgeführt worden sind. deutscher Übersetzung erschienen ist).
Für die Diskussion um Zweitsprachenerwerb
und polyglotte Praxis schließlich wurde zu-
nehmend bedeutsam, dass solche Studien sich 2. Aphasien bei Mehrsprachigen
mit dem zunächst in der Klinik angewandten Im Jahre 1865 beschied der französische Arzt
methodischen Instrumentarium in der Folge und Anthropologe Paul Broca kurz und bün-
auch auf gesunde Vergleichsgruppen richte- dig: „… nous parlons avec l’hémisphère gau-
ten. Nicht zuletzt im Zuge der wissenschafts- che.“ (Broca 1865), nachdem er wiederum ei-
theoretischen Grundsatzdebatten über quan- nen Fall von Verstorbenen verzeichnet hatte,
titative und qualitative Forschung kam aller- die er zu Lebzeiten als Sprachkranke beob-
dings eine Rückbesinnung auf die Vorteile achten konnte, und deren Hirne beim Sezie-
gründlicher Einzelfallstudien zustande, ge- ren Beschädigungen in der linken Hemi-
rade auch im Feld der Neuropsychologie (Ca- sphäre zeigten, vor allem an der Stelle um
ramazza 1988), zusammen mit einer verstärk- den Fuß der linken dritten Stirnwindung, die
ten kritischen Reflexion auf die eher unöko- heute nach dem Entdecker „Broca-Zentrum“
logischen Konditionen, die quantitativ-expe- heißt. Bekanntlich wurde wenige Jahre später
rimentelle Vorgehensweisen notgedrungen die ergänzende Beobachtung hinzugefügt,
mit sich bringen. Hierin lag aber keineswegs
dass der hintere linke Kortex an der Sprach-
ein bloßer Rückgriff auf traditionelle Muster
verarbeitung nicht weniger beteiligt ist (Wer-
neurologischer Einzelfallarbeit. Denn neuere
nicke 1974). Seither ist die Führungsrolle der
Fallstudien verfolgen nicht mehr den ideo-
linken Hemisphäre für morpho-syntaktisch
graphischen, zuweilen anekdotischen Stil frü-
herer Berichte. Solche Untersuchungen kön- organisierte sprachliche Leistungen nie in
nen vielmehr ausgesprochen theoriegeleitet Frage gestellt worden, die längste Zeit auch
sein und liefern häufig an einem einzigen Fall nicht im Fall der Polyglotten. 1895 findet
mehr Entscheidungshilfen als manche Stu- sich, wiederum auf Grund der Beobachtung
dien, die mit beachtlichen Versuchspersonen- von Aphasien bei linken Hirnschäden, die
zahlen imponieren, jedoch in vieler Hinsicht erste Formulierung einer Regel für den Fall
nur unzureichende Bedingungskontrolle lei- prämorbider Mehrsprachigkeit; sie besagt,
sten können. Dank fortschreitender Theorie- dass bei der Rückbildung von Aphasien die
bildung, vor allem dank verfeinerter diagno- Muttersprache im Vorteil sei und weitere
stischer Möglichkeiten (vom EEG und evo- Sprachen sich erst nachrangig, nach Maß-
zierten Potentialen bis zu CT (Computer-) gabe ihrer Beherrschung vor der Krankheit,
und PET (Positronen-Emissions-Tomogra- besserten (Pitres 1895). In der Folgezeit er-
phie), die inzwischen unmittelbare Einblicke langten vor allem Berichte über jene Fälle po-
in die simultane Aktivität des gesamten lyglotter Aphasien Aufmerksamkeit, die sich
Hirns, nicht nur der kortikalen Rinde, mög- gegen diese Regel zu verhalten schienen. Ne-
lich machen), konnten allmählich vorwissen- ben dem Grad der unterschiedlichen Sprach-
schaftliche Phantasien über schlichte Zuord- beherrschung wurden in diesen Berichten
nungen von Lokalitäten im Hirn zu bestimm- z. B. die Einflüsse der affektiven Einstellung
ten Teilleistungen der Wahrnehmung und des zu den jeweiligen Sprachen, die prämorbide
Handelns ebenso verabschiedet werden wie Sprachkompetenz, oder Unterschiede in den
Erwartungen an wohlfeile neuropsychologi- Strukturen der beteiligten Sprachsysteme er-
sche Evidenz über räumlich-einkreisbare Ver- örtert, wenn dies auch wenig theoriegeleitet
antwortlichkeiten für solch globale Leistun- und durchweg in einem eher narrativen Duk-
gen wie Gedächtnis, Denken, Sprache oder tus geschehen ist (vgl. Leischner 1948).
Emotionen. Wenn sich heute etwas mit Be- Angesichts des Tatbestands, dass seit dem
stimmtheit sagen lässt, dann dass bei allen zweiten Weltkrieg die neurowissenschaftliche
psychischen Leistungen weit auseinanderlie- Forschung fast durchweg auf Englisch publi-
gende Funktionsräume des gesamten Hirns in ziert und die meisten Untersuchungen auch
unterschiedlichsten Konfigurationen zusam- an englischsprechenden Individuen durch-
71. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess I 695

geführt werden, müssten Aphasien bei Poly- händigen und auch dem größten Teil der
glotten im Prinzip ein höchst produktives Linkshändigen die linke Hälfte des Gehirns
Thema sein, denn sie können die meist still- für Sprache dominant ist, und zwar für die
schweigend vollzogene, jedoch problema- erste wie für weitere Sprachen; die Aussage
tische Annahme von Einsprachigkeit als gilt über menschliche Sprachen jedweden
Regelfall in Frage stellen. Leider erlauben Typs hinweg, dass sie auch für die visuell-
die Untersuchungsbefunde über polyglotte räumlich organisierten Gebärdensprachen
Aphasien auch in jüngerer Zeit wenig verall- der Gehörlosen zutrifft, haben Poizner/
gemeinerbare Aussagen. Ein Feld für syste- Klima/Bellugi in ihrem wichtigen Buch „Was
matische Gruppenvergleiche ist dies nie gewe- die Hände über das Gehirn verraten“ (1990,
sen, und die berichteten Fallstudien spiegeln Orig. 1987) überzeugend dargelegt.
hier noch immer eher die Aufmerksamkeit Mit dem Erscheinen des Buches von Al-
für exklusive Individuen mit besonders „in- bert und Obler „The Bilingual Brain“ (1978),
teressanter“ Sprachlernbiographie. Gleich- das mitten hinein in die „split-brain“-Aufre-
wohl erscheint die Bereitschaft ungebrochen, gung fiel, ist nun die These populär gemacht
„Regeln“ und „Muster“ zu formulieren, vor worden, dass Menschen, die mehrere Spra-
allem zur Frage der Rückbildung von Mut- chen beherrschen, sich im Punkt der Laterali-
ter- und Zweitsprachen bei Besserung der sierung von Monolingualen unterscheiden,
Aphasie. Paradis hat sich (1977) die Mühe indem sie eine weniger deutliche linke Domi-
gemacht, die bis dahin publizierten Fälle zu nanz aufweisen, zumindest für ihre zweiten
sichten, mit dem Ergebnis, dass sich weder und dritten Sprachen. Das Buch enthält eine
einheitliche Linien der Verknüpfung von Be- mächtige Materialfülle an referierter For-
dingungen des Zweitsprachenerwerbs mit schung und an Berichten über eigene Arbeit,
Formen der Restitution ergeben noch in den und zwar sowohl über Aphasien bei Mehr-
meisten Fallberichten überhaupt reine For- sprachigen wie über experimentelle Laterali-
men solcher Restitutionsmuster glaubhaft tätsuntersuchungen. Was die Aphasie anbe-
machen lassen. Zum gegenwärtigen Zeit- langt, so wird vor allem damit argumentiert,
punkt lässt sich jedenfalls aus den Befunden dass sich bei Polyglotten relativ mehr solche
über linkshirnig verursachte Aphasien bei Fälle nach rechtsseitigen Läsionen fänden als
Mehrsprachigkeit keine systematisch unter- bei Monolingualen. Galloway (1981) referiert
schiedliche Syndromatik für die Mutterspra- zum gleichen Gegenstand und wagt sich gar
che und eine oder mehr Zweitsprachen able- an die Veröffentlichung von Prozentzahlen,
sen, insofern sind von hierher auch keine Ar- was nicht korrekt ist, denn die „Gruppe“ der
gumente dafür zu gewinnen, dass mehrere polyglotten Aphasiefälle, die sie mit einer An-
Sprachen im linken Hirn eines Individuums zahl Monolingualer vergleicht, ist keineswegs
differente Organisationen besäßen. eine nach den Regeln von Experimenten ge-
Es ist gewiss korrekt und an der Zeit fest- zogene Stichprobe, sondern eine Auflistung
zustellen, dass die Aphasieforschung sich tra- der in der Literatur (mit sehr unterschiedlich
ditionellerweise nicht hinreichend dafür inter- genauen Angaben, stets jedoch als spektaku-
essiert hat, welche Beiträge die rechte Hirn- läre Fälle) berichteten Studien. Sieht man
hälfte zum Kommunikationsverhalten leistet. präziser hin, so sind Albert/Obler (1978), wie
Gut genug ist heute bekannt, dass ein intak- vielen anderen, Ungenauigkeiten und Missin-
tes rechtes Hirn auch für sprachliche Teillei- terpretationen unterlaufen, was allerdings
stungen sorgt, etwa für die Perzeption und nicht verhindert hat, dass die These über das
Produktion prosodischer Information (Joa- erhöhte Vorkommen gekreuzter Aphasie
nette u. a. 1990). Die Diagnose einer Aphasie nach rechten Läsionen bei Polyglotten sich in
geschieht aber immer noch entlang den klas- der Literatur der folgenden Jahre zur Be-
sisch-linguistischen Dimensionen von Phono- hauptung verfestigt hat. Es genügt hier, die
logie, Morphosyntax und Lexik. Welche sub- sorgfältige Besprechung und Bewertung von
tileren Störungen der sprachlichen Verständi- Solin (1989) zu empfehlen, in der die Dinge
gungsfähigkeit bei rechtshirnigen Läsionen zurechtgerückt worden sind.
beeinträchtigt werden, ist nicht Bestandteil
von Aphasieprüfungen, auch kaum Gegen- 3. Experimente zur Lateralität bei
stand von Therapiekonzepten. Das kann man Mehrsprachigen
beklagen und für die Zukunft einen erhöhten
Forschungsbedarf einfordern, jedoch wird Das weit über neurposychologische Fach-
mit solchen Feststellungen nicht die Erkennt- kreise hinausgehende Interesse an den Unter-
nis erschüttert, dass in aller Regel bei Rechts- schieden zwischen links und rechts im Hirn
696 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

kam als Folge der „split-brain“-Operationen tralateralen Seite stärker sind. Gibt man
der 60er Jahre zustande, mit denen Epilepsie- gleichzeitig über Kopfhörer unterschiedliche
kranken Erleichterung geschaffen werden Informationen (z. B. Wörter verschiedener
sollte (Gazzaniga 1970; Springer/Deutsch Sprachen oder unterschiedliche Geräusche)
1987). Man hat zu diesem Zweck bei den Pa- in beide Ohren und befragt die Versuchsper-
tienten Teile der Kommissurenbahnen zer- son nach ihren Wahrnehmungen, so treten in
trennt, die beide Hemisphären miteinander der Regel die als „Rechtsohreffekte“ bekann-
verbinden. Die Operation brachte überra- ten Bevorzugungen bei sprachlichen Infor-
schend wenig Veränderung im alltäglichen mationen und die „Linksohreffekte“ für Ge-
Verhalten dieser Menschen mit sich. Wer sich räusche auf; auch spontane Blickbewegungen
bewegen kann und nicht unter Zeitdruck sind zuweilen eingesetzt worden ⫺ angeblich
steht, bringt Informationen jeder Art zu bei- zielen sie nach links bei Aufgabenstellungen,
den Hemisphären, offenbar auch unter der die eher die rechte Hemisphäre ansprechen
Belastung eines so schweren Eingriffs. Unter und nach rechts im umgekehrten Fall; eine
Laborbedingungen jedoch, z. B. bei kurzfri- weitere Technik schließlich, mit der man
stigem Einblenden visueller Informationen Lateralitätsunterschiede nachzuweisen ver-
und gleichzeitiger Unterbindung von Blick- suchte, sind „dual task“-Aufgaben (man lässt
bewegungen, lässt sich feststellen, was eine z. B. eine Person etwas rezitieren, während sie
Hemisphäre alleine „kann“. Im Hinblick auf auf ihrem rechten oder linken Zeigefinger ei-
Sprachleistungen haben die zahlreichen Ex- nen Gegenstand balancieren muss ⫺ in der
perimente mit den wenigen verfügbaren klini- Annahme, dass die Beanspruchung der rech-
schen Versuchspersonen bestätigt, dass alle ten Hand wegen überkreuzter motorischer
produktiven und alle komplexeren rezeptiven Kontrolle dabei eher stört als die der linken).
Sprachleistungen durch die dominante Hirn- Die Reichweite und Mängel all dieser experi-
hälfte ermöglicht werden. Nur mit Hilfe non- mentellen Methoden, und vor allem die Ge-
verbaler Reaktionen kann die andere Hemi- fahren der Übereinterpretation der erzielten
sphäre bekunden, dass sie Informationen er- Ergebnisse hat unter anderen Zatorre (1989)
halten hat und wie sie damit umgeht. zusammengetragen (vgl. auch List 1995).
Das ist es aber nicht, was die Öffentlichkeit Auch die Zweitsprachenforschung ist von
in diesem Zusammenhang vorrangig interes- der Welle der Begeisterung über angeblich
siert hat. Vielmehr wurden in einem ausge- rechtshirnige Reserven und Lernpotentiale
sprochen anti-rationalen Affekt die Vorstel- ergriffen worden. In der Folge gab es eine
lungen vom kühlen Automaten im linken Vielzahl von Untersuchungen, in denen „Ein-
Hirn kreiert und von den ganzheitlichen, sprachige“ und „Mehrsprachige“ auf den
weiblichen, meditativen Qualitäten, die in der Grad ihrer Lateralisiertheit verglichen wur-
rechten Seite unseres Hirnes schlummern sol- den. Diese Arbeiten erscheinen im Rückblick
len (zum ideologischen Hintergrund vgl. List noch problematischer als die Inanspruch-
1990). In der Folge hat man die Techniken nahme der Aphasieforschung für eine nicht
der „split-brain“-Forschung auch in Experi- haltbare These über qualitative Unterschiede
menten mit hirngesunden Versuchspersonen bei Monolingualen und Polyglotten im Hin-
angewendet, denn unter strengen Bedingun- blick auf die Lateralität. Sie sind nämlich fol-
gen experimenteller Kontrolle kann man genreich für die Fremdsprachendidaktik ge-
auch im intakten Hirn verhindern, dass die wesen, oder haben jedenfalls dem Kommerz
Hemisphären Informationen an die andere um „Superlearning“ und „alternative Metho-
Seite vermitteln, was sie unter Alltagsbedin- den“ zugearbeitet, indem sie Unterrichtsstra-
gungen ständig tun. Solche Techniken sind tegien, die zum Teil ja sehr vernünftig sind
vor allem: Tachistoskopische Versuchsanord- (mehr Authentizität und Situativität, größe-
nungen, bei denen kurzfristige Einblendun- res Augenmerk auf Motivierung und kom-
gen von Stimuli (Bilder, gedruckte Wörter) munikative Funktionen), eine vermeintlich
nur auf das eine Gesichtsfeld beider Augen neurowissenschaftliche Fundierung vorge-
projiziert werden, wobei das linke Gesichts- spielt haben. Es sind die verschiedensten, ein-
feld die rechte Hemisphäre bedient, das ander zum Teil widersprechenden Thesen for-
rechte die linken primären optischen Felder muliert worden: Je bessere Kompetenzen Bi-
erreicht; dichotische Untersuchungen machen linguale in beiden Sprachen erreichen, desto
sich zunutze, dass jedes Ohr zwar Informa- weniger seien beide links lateralisiert ⫺ das
tionen in beide primären auditiven Felder lei- Lernen der Zweitsprache involviere stärker
tet, jedoch die Verbindungen zur jeweils kon- als das der ersten die rechte Hemisphäre ⫺
71. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess I 697

die zweite Sprache sei zunächst eher rechts, des Gedächtnisses gewidmet sind. Es sieht so
bei steigender Kompetenz stärker links late- aus, als intensivierten sich hier interdiszipli-
ralisiert ⫺ stärkere rechtshemisphärische La- näre Bezüge und Kooperationen zwischen
teralisierung gelte für Lernen von Zweitspra- der Neurologie und der Gedächtnispsycholo-
chen in informellen Kontexten, nicht aber in gie. Sie wirken vermehrt auch in das Gebiet
unterrichtlich gesteuerten ⫺ Zweitsprachen- der Sprachleistungen hinein, wo momentan
lernen in früherem Alter beanspruche eher die neurologische Aphasiologie mit der Lin-
die rechte, späteres Lernen eher die linke He- guistik und der Psychologie, die ja ihre eige-
misphäre. Aber auch die gegensätzliche These nen Theorienbildungen verfolgen, eher locke-
wurde vorgetragen. Sicher wäre es ungerecht, rer verbunden erscheint, als es zur Zeit der
die seriösen Intentionen dieser Untersuchun- intensiven Kooperation im Zeichen der Ge-
gen in Bausch und Bogen anzuzweifeln, auch nerativen Grammatik der Fall gewesen ist.
gibt es für manche der bearbeiteten Faktoren Das mag damit zusammenhängen, dass die
plausible Frageinteressen (die jedoch die Hirnforschung über das Gedächtnis, seit ih-
Neuropsychologie, zumindest solche Latera- rem Aufschwung in den 60er Jahren, ihre
litätsforschung, gar nicht nötig haben), jeden- Aufmerksamkeit nie allein auf die kortikale
falls ist es entschieden „genug“ (Paradis Rinde konzentrierte, sondern stets subkorti-
1990). Auch hier reicht aus, inzwischen ver- kale Strukturen gleichermaßen in ihr Inter-
fasste sorgfältig abwägende Übersichtsrefe- esse einbezogen hat, so dass sie eine unmittel-
rate und Reanalysen zu empfehlen: Mendel- bare Anknüpfungsmöglichkeit bietet für die
sohn 1988, Vaid/Hall 1991. Gerade die letz- in der Psychologie geleisteten Modellkon-
tere Arbeit, deren eine Autorin selbst intensiv struktionen über unterschiedliche und koope-
in dieser Forschung engagiert gewesen ist, rierende Gedächtnissysteme.
nimmt annähernd 60 Arbeiten genau unter Anregungen, die aus dieser interdisziplinä-
die Lupe und kommt zu dem Schluss, dass ren Kooperation verfügbar sind, werden in
nicht nur etwa die Hälfte der Arbeiten keine jüngster Zeit auch als erhellend für Zweit-
Lateralitätsunterschiede zwischen den unter- sprachenlernen und polyglotte Praxis beach-
suchten Monolingualen und Polyglotten auf- tet. Es mag bei noch vielen bestehenden Un-
zeigen konnte, sondern auch die andere sicherheiten verfrüht sein, dies vorauszusa-
Hälfte uneindeutige Befunde zeigt, indem die gen, aber immerhin ist möglich, dass die
Unterschiede gleich oft in die eine wie die an- Zweitsprachenforschung für ihre komplexen
dere Richtung gehen. Keine der genannten Fragestellungen über Lernformen, Lernalter,
Hypothesen lässt sich also in dem Maß als Lerninhalte und Zielerreichungen gerade von
bestärkt darstellen, dass es sinnvoll erschei- dieser, das Gedächtnis thematisierenden
nen könnte, Bedingungen des Zweitsprachen- Richtung der Neuropsychologie in naher Zu-
erwerbs weiter mit Hilfe von Lateralitätsex- kunft besonders profitieren kann. Wiederum
perimenten zu verfolgen. ist es Michel Paradis (1994), der den theoreti-
schen Zusammenhang als erster verständlich
gemacht hat. Sein Beitrag findet sich in einem
4. Untersuchungen über das Kompendium über „implizites und explizites
Zusammenwirken kortikaler und Lernen“; hiermit wird nur mit einem neuen
subkortikaler Strukturen bei Etikett etwas bezeichnet, das in der Gedächt-
Sprachleistungen nispsychologie schon andere Namen hatte:
„habits“ gegen „memory“, prozedurales ge-
Wie die Aphasien die klassische neuropsy- gen deklaratives, semantisches gegen episodi-
chologische Erkenntnisquelle über hirnfunk- sches Gedächtnis, usf. Es geht dabei immer
tionelle Grundlagen der Sprachleistungen um zwei qualitativ unterschiedliche Systeme,
darstellen, so liefern traditionell Amnesien von denen eines für unter Handlungsdruck
und Apraxien die wichtigsten Informationen entstandene automatisierte Gewohnheiten
über die zerebrale Basis von Wahrnehmung, und Fertigkeiten, das andere für unter Auf-
Lernen und Handeln, und zwar auf einer ge- merksamkeit angesammelte und willentlich
nerelleren, auch sprachliche Leistungen mit abrufbare Kenntnisse zuständig ist (Sherry/
einbegreifenden Ebene, zentriert um die Or- Schacter 1987, 446f.). Die klinische Neurolo-
ganisation des Gedächtnisses. Die Prominenz gie beschreibt ihrerseits, unter Berufung vor
des Themas spiegelt sich in den Bänden des allem auf amnestische Ausfälle nach lokali-
„Handbook of Neuropsychology“ (1988⫺ sierbaren Hirnschäden und auf Experimente
1995), von denen zahlreiche den Problemen mit Primaten, zwei unabhängige Systeme, die
698 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

beide sowohl auf der Aktivität kortikaler wie vermittelt) auch Bestandteil des expliziten
subkortikaler Strukturen beruhen (Mishkin/ Wissens von Muttersprachlern werden, nötig
Appenzeller 1987): Die Gedächtnisprozesse, ist dies für kompetente Sprachausübung
die sich auf die Verarbeitung und den Abruf aber nicht.
von Wissen (enzyklopädischem Wissen und Wenn fremde Sprachen über unterrichtliche
solchem über die eigene Biographie) richten, Erklärung gelernt werden, dann gehen phono-
erfordern die Zusammenarbeit von korti- logische und morphosyntaktische Regeln die-
kalen Projektionsarealen der sensorischen ser Sprachen in den Bestand des expliziten
Wahrnehmungsfelder und der motorischen Wissens ein und dieses kann dazu befähigen,
Rinde beider Hemisphären in Zusammenar- wohlgeformte Äußerungen zu konstruieren
beit mit den tiefer liegenden temporalen Be- und deren Korrektheit zu kontrollieren, wenn
reichen des limbischen Systems. Dieses Wis- auch mit gegenüber Muttersprachlern redu-
sen geht immer in bearbeiteter und bewerte- ziertem Tempo und meistens einem Klang,
ter Form in die kognitive Verfügung ein, es der die Muttersprache nicht verleugnen kann.
lässt sich aktivieren und unter der Regie des In automatische Verfügung, unter die Regie
linken Kortex und Subkortex als Antwort auf des impliziten Lernens, können fremdsprach-
die Frage „Was?“ auch formulieren. Implizi- liche Artikulationen durch außerunterricht-
tes Gedächtnis betrifft dagegen die Frage liche Praxis gelangen, im Umgang mit Men-
nach dem „Wie?“ von reflexbestimmten oder schen, die in dieser Sprache kommunizieren,
durch vielfältig wiederholte sensumotorische und dann auch nur unter der Bedingung,
Praxis eingeschliffenen Automastimen, die ih- dass es um Konzentration auf Inhalte und
rerseits nicht ohne weiteres deklarierbar, also Bedürfnisse geht, nicht auf Formen. Allein
in Worten beschreibbar sind. Kein Mensch die motivierte Praxis führt also zur Verbesse-
kann beispielweise sagen, wie er im Detail rung impliziter Kompetenz, während bewusst
seine komplizierte Artikulationsmotorik und eingesetztes Regelwissen mit dieser eher in
propriozeptive Rückmeldung beansprucht, Konflikt geraten kann. Das heißt nicht, dass
um auch nur ein einfaches Wort auszuspre- explizites Wissen nicht nützlich sei, aber ein
chen. Dieses letztere Gedächtnissystem wird Vertrauen darauf, dass ein einfacher Transfer
vom Diencephalon und dem Kleinhirn in Zu- von explizitem Wissen in automatische Verfü-
sammenarbeit mit der kortikalen Rinde ge- gung stattfinden kann, lässt sich beim gegen-
steuert. Implizites Lernen bestimmt die ersten wärtigen Kenntnisstand über die Neuropsy-
Lebensmonate und -jahre überwiegend, chologie des Gedächtnisses nicht bestärken.
bleibt aber lebenslang für neue Lernprozesse Die Erkenntnisse im Bereich der neuropsy-
zur Verfügung (auch bei Amnesien nach chologischen Forschung über das Gedächtnis
Schäden im medialen Temporalbereich, die werden weiter voranschreiten, und wenn
den Erwerb von neuem explizierbarem Wis- diese sich noch mehr als bisher dem Gegen-
sen verhindern können); explizites Lernen stand Sprache zuwendet, dann könnten man-
und die Etablierung der Abrufmöglichkeit che Erscheinungen im Bereich der Mehrspra-
von deklarativem Wissen beginnen sich ab chigkeit besser verständlich werden, z. B. zu-
dem zweiten Lebensjahr zu bilden und wach- nächst als paradox erscheinende (auch in der
sen beim gesunden Individuum lebenslang. älteren Literatur schon berichtete, jedoch
Beim Sprechen und Verstehen sind (wie bei dort funktional nicht aufgeklärte) Fälle von
allen höheren Funktionen) die Systeme auf- Aphasie, bei denen nach einer Verletzung tief
einander angewiesen: automatisch verfügbare im Hirn die weniger praktizierte Zweit-
grammatische Regelkompetenz, die Praxis sprache sich eher regeneriert, weil implizites
nicht bewusst gesteuerter sensumotorischer Wissen über die primäre Sprache schwerer
Verfertigung von phonologisch und morpho- zugänglich ist als das explizite Wissen über
syntaktisch stimmigen Äußerungen also, sind die zweite ⫺ ein Fallbericht (Aglioti/Fabbro
die Domäne des impliziten Systems, während 1993), in dem bildgebende Verfahren eine
wesentliche Anteile der Lexik, metasprach- Verletzung in den Basalganglien nachwei-
liche Aktionen, bewusst eingesetzte Rhetorik, sen konnten, liegt schon vor. In dem Zusam-
also die inhaltlich-pragmatischen Kompo- menhang kann auch verständlicher werden,
nenten von Sprechen und Verstehen, explizi- was die Aphasieforschung, insbesondere die
tes Wissen verlangen und Aufmerksamkeits- neuere Forschung über Agrammatismus (Frie-
zuwendung beanspruchen. Freilich können derici 1986; Rosenberg/Zurif/Brownwell u. a.
phonologische und grammatische Regeln der 1985), über die separate Störbarkeit von In-
primär erworbenen Sprache (nachträglich halts- und Funktionswörtern (also Semantik
71. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess I 699

und Grammatik) herausgebracht hat, oder kontext darüber, ob implizites Lernen die
was Untersuchungen mit evozierten Potentia- prozeduralen Automatismen für Phonologie
len über die Hirntätigkeit bei der on-line Ver- und Grammatik herzustellen vermag, die der
arbeitung von Sätzen erschließen (Neville/ Primärspracherwerb für die erste garantiert.
Mills/Lawson 1992). Und kürzlich ist im Rah- Definitive Aussagen darüber, ob und in wel-
men eines Untersuchungsprogramms des pro- cher Striktheit dafür Altersgrenzen gelten, wo
minenten Neurologischen Instituts der McGill diese Grenzen anzusetzen wären, und welche
Universität in Montreal mit PET-Untersu- hinzutretenden Bedingungen mit ins Spiel
chungen nachgewiesen worden, dass (in die- kommen, lassen sich von der Neuropsycholo-
sem Fall hirngesunde) Bilinguale bei der Auf- gie her (noch?) nicht verantworten. Wer eine
gabe, vorgegebene Wörter ihrer ersten und fremde Sprache so lernen will, dass sie oder
ihrer zweiten Sprache zu wiederholen, fast er als Fremde nicht zu erkennen sind, muss
identische Muster aktivieren, jedoch für die dorthin gehen, wo diese Sprache das füh-
Zweitsprache zusätzlich das tiefer im Hirn an- rende Kommunikationsmittel ist, und dies
gesiedelte linke Putamen engagiert ist (Klein/ (vielleicht?) möglichst früh in der Biographie,
Zatorre/Milner u. a. 1994). All dies sind Hin- jedenfalls mit ein paar Interessen mehr als
weise, jeder für sich genommen nur von be- nur dem Wunsch nach Sprachenlernen, vor
grenzter Aussagefähigkeit und im letzteren allem mit dem Interesse an sozialer Bindung.
Fall eine nur wenig lebensnahe Sprachleistung Dem Ausbau sprachlichen Wissens, der An-
betreffend, die sich jedoch in nächster Zeit reicherung des Wortschatzes, der vertieften
zum Nachweis darüber verdichten könnten, Kenntnis der mit anderen Sprachen ver-
dass gerade die vertikale Struktur des linken knüpften Geschichte und Kultur, damit auch
Hinrs für die Organisation mehrerer Sprachen den Dimensionen rückwirkender Erkenntnis
wichtig ist (Crosson 1992). Darüber hinaus über die eigene Sprache und Kultur, sind je-
lässt sich auch vermuten, dass mit neueren denfalls von unserer Nervenorganisation her
Untersuchungstechniken die rechte Hemi- keinerlei Grenzen gesetzt.
sphäre in einem ganz anderen Sinn als dem
in Abschnitt 3 dargestellten Versuchen, glo- 6. Literatur in Auswahl
bale Lateralitätsdifferenzen nachzuweisen, ins
Spiel gebracht werden kann. Es liegen näm- Aglioti, Salvatore; Franco Fabbro (1993): Parado-
lich, wie oben schon gesagt, überzeugende xical selective recovery in a bilingual aphasic fol-
systematische Zwischenbilanzen (Code 1987; lowing subcortical lesion. In: Cognitive Neuros-
Joanette/Goulet/Hannequin 1990) über die cience and Neuropsychology 4, 1359⫺1362.
Mitwirkung rechtshemisphärischer Aktivität Albert, Martin L.; Loraine K. Obler (1978): The
bei sprachlicher Kommunikation vor, die sich bilingual brain. Neuropsychological and neurolin-
guistic aspects of bilingualism. New York u. a.
vor allem auf die Übermittlung und Interpre-
tation non- und paraverbaler Anteile bezie- Basser, L. S. (1962): Hemiplegia of early onset and
hen. Solch Informationen wurden bisher fast the faculty of speech with special reference to the
effects of hemispherectomy. In: Brain 85, 427⫺460.
nur an Monolingualen erhoben, sehr plausibel
ist jedoch, dass während der Kommunikation Bates, Elizabeth; Donna Thal; Jeri S. Janowsky
in einer linguistisch weniger gut beherrschten (1992): Early language development and its neural
correlates. In: Sidney J. Segalowitz; I. Rapin (Hg.):
zweiten Sprache gerade solche Leistungen in
Handbook of Neuropsychology 7, 69⫺110.
kompensatorischer Funktion eine verstärkte
Rolle spielen, zumindest beim Verstehen. Blanken, Gerhard; Jürgen Dittmann; Hannelore
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der Muttersprache scheint zum Teil der Akti- Caramazza, Alfonso (1988): Methodological prob-
vität anderer cerebraler Konfigurationen zu lems in cognitive neuropsychology ⫽ Alfonso Ca-
gehorchen als die Übermittlung und das Ver- ramazza (Hg.): Cognitive Neuropsychology 5.
ständnis sprachlicher Inhalte und die Aus- Code, Chris (1987): Language, aphasia, and the
wahl der dabei eingesetzten lexikalischen Mit- right hemisphere. Chichester.
tel. Bei zweiten und dritten Sprachen ent- Crosson, Bruce (1992): Subcortical functions in lan-
scheidet offenbar maßgeblich der Erwerbs- guage and memory. New York/London.
700 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

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72. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess II 701

72. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess II:


Biologische und neurophysiologische Grundlagen

1. Einführung zifischen Sprache zu kommunizieren (vgl.


2. Biologische Grundlagen Savage-Rumbaugh/Rumbaugh 1986; Pepper-
3. Neurologische Modelle der Mehrsprachigkeit berg 1998).
4. Schlussfolgerungen und Ausblick
5. Literatur in Auswahl 2.2. Spracherwerb als biologischer
Reifungsvorgang
1. Einführung Für die Entschlüsselung des Zweitspracher-
werbs schien es zunächt unerlässlich zu be-
Seit Lennebergs (1967) Buch über die biologi- rücksichtigen, welche biologischen Voraus-
schen Grundlagen der Sprache sind inzwi- setzungen gegeben sind, wenn Erstspracher-
schen dreißig Jahre intensiver Forschung ver- werb einsetzt. Von Lenneberg (1967) stammt
gangen; insbesondere die Erkundung der neu- die Schlussfolgerung, vor dem zweiten Le-
rophysiologischen Korrelate der Sprachverar- bensjahr und nach der Pubertät sei ein Zweit-
beitung brachte entscheidende neue Erkennt- spracherwerb erschwert. Seine Begründung
nisse (Grosjean 1989; Vaid 1986). In den letz- rührt von seinen Analysen des Erstspracher-
ten zehn Jahren mehren sich die Studien über werbs: Vor dem zweiten Lebensjahr sind
die biologischen und neurophysiologischen sowohl das Zentralnervensystem als auch die
Grundlagen der Verarbeitung zweier und motorischen Funktionen zu unreif, um Spra-
mehrerer Sprachen (vgl. Brain und Language che zu produzieren, bereits zu Beginn der
1987⫺1996; Sonderheft 1989). Pubertät tritt ein Verlust an Flexibilität für
Im Folgenden wird versucht, die biologi- zerebrale Reorganisationen ein. Weiterhin
schen und neurophysiologischen Grundla- wird die sensible Periode für den Spracher-
gen, soweit sie für das Verständnis des Zweit- werb nach oben hin durch die Lateralisation
spracherwerbs bedeutsam sind, getrennt und der Hirnfunktionen begrenzt. Weil die dem
dem gegenwärtigen Forschungsstand ange- Spracherwerb zugrundeliegende kognitive
messen zu behandeln. Struktur in jedem Kind repliziert wird, und
weil es sprachliche Universalien gibt, kann je-
des Kind jede Sprache mit gleicher Leichtig-
2. Biologische Grundlagen keit erlernen.
2.1. Mehrsprachigkeit ⫺ keine biologisch Die Lokalisierung der grundlegenden
begründete Erscheinung Sprachfunktionen in der linken Hirnhälfte ist
bis zum 12. Lebensjahr weitgehend abge-
Zunächst ist festzustellen, dass subhumanen schlossen. Die Beantwortung der Frage nach
Spezies Sprache zugestanden werden kann, einer kritischen Periode für den Zweitsprach-
wenn nur die Kriterien entsprechend gewählt erwerb, insbesondere für die Aussprache,
werden (z. B. dass Sprache nicht notwendi- sollte nicht getrennt von anderen vergleich-
gerweise Lautsprache bedeuten muss oder baren perzeptuomotorischen Lernvorgängen
dass Sprachproduktion die unendliche Viel- betrachtet werden. Wenn es für perzeptuo-
falt von neu zusammengefügten Sprachele- motorische Fertigkeiten wie z. B. Klavierspie-
menten beinhaltet). Liebermann/Crelin/Klatt len eine kritische Lernperiode gibt, könnte
(1972) wiesen durch einen Vergleich der dies auch für den Zweitspracherwerb wahr-
Stimmtrakte verschieden alter Menschen, des scheinlich sein (vgl. Weber-Fox/Neville 1996).
Neanderthalers und des Schimpansen, auf Ein Vergleich des Spracherwerbs bei Schim-
grundlegende anatomische Unterschiede hin, pansen und Kindern klärt die Voraussetzun-
die eine differenzierte Lautproduktion des gen für Spracherwerb speziell und damit auch
Schimpansen unmöglich erscheinen lassen. für Symbolgebrauch im Allgemeinen. In Kom-
Die Sprache dient in erster Linie der artspe- munikationssituationen zwischen Mensch
zifischen Kommunikation und deshalb ist aus- und Schimpansen kann der Eindruck entste-
ser für den Menschen keine Spezies eindeutig hen, der Schimpanse verstünde gesprochene
belegt, dass unter natürlichen Kontextbedin- Sprache. Der Eindruck täuscht jedoch, das
gungen über Mehrsprachigkeit verfügt (erwor- Tier verwertet lediglich kontextuelle Hinweise
ben oder angeboren), um mit artverwandten für das Verständnis des Gesagten. Savage-
anderen Lebewesen in deren Sprache und Raumbaugh testete diese naive Annahme in
alternierend mit Artgenossen in der ortspe- kontrollierten Versuchen und stellte fest, dass
702 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

ihre Schimpansen die verbale Kommunika- ständigen Regionen des Zentralnervensy-


tion ohne Kontexthinweise nicht verstanden, stems die Einzelsprachsysteme getrennt akti-
wohl aber Aufforderungen in Form von bild- vieren. Mehrere Paradigmen bestimmen die
lichen Symbolen. Forschung:
Vorläuferfunktion für den Symbolgebrauch
nach Bates (1979) haben: Imitation, Werk- 3.1. Lateralität (Spezialisierung der linken
zeuggebrauch und kommunikative Absicht. und rechten Hemisphären)
Sie entfalten sich unabhängig voneinander, bis Bei monolingualen Sprechern überwiegt die
alle drei eine kritische Schwelle überschritten Sprachverarbeitung in der linken Hirnhälfte.
haben; erst dann ist Symbolgebrauch zu beob- Bei multilingualen Sprechern erscheint in ein-
achten und wahrscheinlich auch erst möglich. zelnen Untersuchungen die rechte Hirnhälfte
Premack (1976) argumentiert ähnlich, jedoch verstärkt in der Sprachverarbeitung aktiviert
sieht er ausschließlich kognitive Funktionen zu sein (vgl. Paradis 1990). Aber einige Un-
(zusammengefasst unter dem Begriff „Intelli- tersuchungen des Erstspracherwerbs mono-
genz“) als Voraussetzung für Symbolgebrauch lingualer und des Zweitspracherwerbs bilin-
an, d. h. hier: Erwerb einer nicht artspezi- gualer Sprecher erbrachten eine Gemeinsam-
fischen Zeichensprache bei subhumanen Pri- keit: die rechte Hirnhälfte nimmt Anteil an
maten. Ähnlich argumentiert Pepperberg der Sprachverarbeitung.
(1988; 1998) für Graupapageien Obler (1981) stellte in diesem Forschungs-
Da offensichtlich Zweit- und Mehrsprach- kontext die „Stufenhypothese“ auf: In rechts-
erwerb auch nach der Pubertät noch möglich händigen Personen ist die rechtsseitige Betei-
ist, besteht die Aufgabe der biologischen, ins- ligung stärker, so lange die zweite Sprache er-
besondere der neurophysiologischen For- worben wird. Bei dem Gebrauch der ersten
schung darin festzustellen, inwieweit doch Sprache ist beim gleichen Sprecher die Betei-
eine flexible Reorganisation der Hirnfunktio- ligung der linken Hemisphäre größer. Die Be-
nen im Erwachsenenalter möglich und wel- teiligung der rechten Hirnhälfte ist besonders
cher Art sie ist. ausgeprägt im frühen Stadium des Zweit-
Die Repräsentation von mehreren Spra- spracherwerbs; sie lässt nach mit wachsender
chen im Gehirn stellt die neurophysiologische Kompetenz in der zweiten Sprache.
Sprachforschung vor neue Fragestellungen. Die linksseitige Verarbeitung von Sprache
Wie bewältigen die für die Sprachverarbei- deutet auf eine sequentielle Analyse hin, die
tung zuständigen Zentren die Wahrnehmung unter bestimmten Bedingungen typisch für die
und Produktion von mehreren Sprachen? linke Hirnhälfte ist. Typisch für die rechte
Zahlreiche Einzelfragen warten in diesem Zu- Hirnhälfte scheint ein global-paralleler Verar-
sammenhang noch auf ihre Klärung: (1) Un- beitungsmodus zu sein (vgl. Witelson 1977).
ter welchen Umständen werden die Einzel- Unterstützende Befunde stammen haupt-
sprachen besser bzw. schneller gelernt; vor sächlich aus unterschiedlichen Lateralitäts-
allem ⫺ welche Rolle spielt das Alter beim nachweisen Bilingualer. Eine weitere Bestäti-
Mehrsprachenerwerb? (2) Welcher Art sind gung ergibt sich aus dem Befund, dass die
die Interaktionen zwischen den Sprachen; wie linksseitige Dominanz um so größer wird, je
wirken sich diese Interaktionen auf die Verar- ausgeglichener ein Bilingualer seine beiden
beitung mehrerer Sprachen aus? (3) Wie ver- Sprachen beherrscht. Der Nachweis dieser
teilen sich die Einzelfunktionen der Verarbei- Annahmen konnte in psychologischen Expe-
tung multipler Sprachen über die für Sprache rimenten verschiedentlich geführt werden
zuständigen Hirnareale. Ist die neuronale Or- (vgl. Hynd/Teeter/Stewart 1980; Vaid 1986).
ganisation der linguistischen Systeme bei mo- Die Erfassung linguistischer Einheiten er-
nolingualen teilweise oder gänzlich unter- folgte über die Aktivierung der linken Hirn-
schiedlich zu multilingualen Personen? hälfte, während die Verarbeitung sprachli-
Die folgenden Abschnitte fassen die zur cher Reize, die noch nicht linguistisch verar-
Zeit vorgegebenen Antworten auf die einzel- beitet werden, über die rechte Hälfte im glo-
nen Fragen zusammen. bal-parallelen Modus beobachtet wurde.
Die neurophysiologischen Untersuchun-
3. Neurologische Modelle der gen beziehen fast ausschließlich Erwachsene
Mehrsprachigkeit ein. Es wird impliziert, dass die Vorgänge
altersunspezifisch sind. Jedoch haben Kinder,
Neurologische Modelle des Zweitspracher- wenn sie eine zweite Sprache lernen, ihren
werbs müssen erklären, inwieweit und auf Erstspracherwerb noch nicht abgeschlossen.
welche Weise die für Sprachverarbeitung zu- Die Befunde dazu sind noch widersprüchlich;
72. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess II 703

es ist noch nicht einmal geklärt, wann der bestimmen: Erlernen der Zweitsprache zwi-
Prozess der Lateralisation einsetzt, ob nicht schen 0⫺4, 5⫺8 und 9⫺12 Jahren ergab nicht
sogar eine genetische Verankerung anzuset- nur eine zunehmende Verminderung der
zen ist (vgl. Plomin/Ho 1991; Neville 1991). Linksdominanz, sondern auch insgesamt eine
Für die Widersprüche verantwortlich ge- Verlangsamung der Reaktionszeiten. Die La-
macht werden das Alter, in dem der Zweit- teralität für visuelle Zweitsprachverarbeitung
spracherwerb erfolgt und der Sprachkontext konnte weniger deutlich nachgewiesen wer-
der Testperson. Hiermit wird eine Hypothese den. Insgesamt befürworten die Ergebnisse
vorgetragen, die Lateralisierung als lernbe- einen sehr frühen Zweitspracherwerb; der bei
dingten neurologischen Prozeß auffasst. Sie sehr kleinen Kindern nur mögliche mündli-
wird kontrastiert mit einer genetischen che und natürliche Zweitspracherwerb beför-
Hypothese, die davon ausgeht, dass die Late- dert die dominant linksseitige Zweitsprach-
ralisierung von Geburt an vorprogrammiert verarbeitung, wie sie auch bei Monolingualen
ist (vgl. Wuillemin/Richardson/Lynch 1994). zu beobachten ist. Andere Faktoren wie
Wuillemin u. a. finden in der Literatur Stu- Sprachbeherrschung, Händigkeit, Länge des
dien, die jeweils die eine oder die andere Hy- Sprachgebrauchs (bzw. Erwerbsstadium) und
pothese bestätigen. Kritische Punkte für die Anzahl der vor der getesteten Sprache erwor-
Widersprüchlichkeiten sind vor allem die benen anderen Sprachen scheinen sich auf die
unterschiedlichen „frühen“ Zeitpunkte des Art der Lateralität nicht auszuwirken. Inter-
Zweitspracherwerbs; am gesichertsten er- aktionen einzelner Faktoren mit dem Ge-
scheint der Zeitpunkt vor der Pubertät. Aber schlecht des Kindes traten jedoch auf und be-
auch hier ist es noch notwendig, verschiedene stätigten damit die weniger ausgeprägte Do-
Altersvariationen in der Kindheit vorzuneh- minanz der linken Hirnhälfte bei weiblichen
men. Mit dem Alter ko-variierend sind (a) Personen auch in der Kindheit.
Sprachkompetenz, (b) Stadium des Spracher- Die Rolle des Gebrauchs von Sprachen
werbs, (c) Art des Erwerbs (in der Vorschul- lässt sich besser erfassen mit der Sprachverar-
fase in der Regel natürlicher Erwerb, später beitung von simultanen Übersetzern. Fabbro/
instruierter), (d) Art der Sprache (verwandt Gran/Gran (1991) untersuchten Studentinnen
oder einer anderen Sprachfamilie angehö- einer Übersetzerschule und ausgebildete Si-
rend) und (e) das Ausmaß der affektiven, multanübersetzerinnen (alle hatten ihre Zweit-
nicht-verbalen Kommunikation, die mit dem sprache nach dem 12. Lebensjahr gelernt). Die
Gebrauch der Sprache verbunden ist. Wie in Testpersonen sollten richtige Übersetzungen,
Übersetzungen mit entweder semantischen
monolingualen Studien auch, spielt schließ-
oder syntaktischen Fehlern von der Erstspra-
lich die Händigkeit eine entscheidende Rolle
che in die Zweitsprache und umgekehrt erken-
bei der Klassifikation in links- oder rechtssei-
nen. Die Erkennungsleistungen in L2 waren
tige Beteiligung der Hirnhälften. allgemein am besten, wenn die Sprachstimuli
Wie Galloway (1982) feststellte, erscheint linksohrig wahrgenommen wurden. Professio-
der Darbietungsmodus der Sprachreize ⫺ nelle Übersetzter erkannten semantische Feh-
mündlich oder schriftlich ⫺ für die Laterali- ler in L1 besser, wenn sie rechtsohrig dargebo-
tät wichtig zu sein. Galloway macht dafür die ten wurden, in L2 besser, wenn sie linksohrig
unterschiedliche Verarbeitungszeit der beiden dargeboten wurden.
Modi verantwortlich: Die Verarbeitungszei- Eine weitere, aufschlussreiche Studie
ten für mündlich dargebotene Reize sind kür- (Green u. a. 1990) mit professionellen Über-
zer und unterliegen möglicherweise sehr früh setzern und einer in relevanten Merkmalen an-
der Spezialisierung auf die linke Hirnhälfte, gepassten bilingualen Kontrollgruppe zeigte
unabhängig davon, ob es sich um die erste keine bedeutsamen Gruppenunterschiede. Es
oder weitere beherrschte Sprachen handelt. konnte jedoch ein Unterschied in der Laterali-
Die gleiche Spezialisierung ist für gut be- sierung zwischen Monolingualen einerseits
herrschtes schriftliches Sprachmaterial nur in und Bilingualen (Übersetzern und Nicht-
der Erstsprache zu beobachten, später er- Übersetzern) andererseits festgestellt werden,
lernte Schriftsprachen werden weitgehend wenn die Monolingualen paraphrasierten und
rechtsseitig verarbeitet, da es den kortikalen die Bilingualen simultan übersetzten (was ei-
Arealen dann an Plastizität mangelt. ner Paraphrasierung nahekommt). Monolin-
Wuillemin u. a. (1994) konnten in eigenen guale zeigten linksseitige Sprachverarbeitung
gut kontrollierten Experimenten die Hypo- (angezeigt durch Störungen des rechtshändi-
these stützen, dass bereits Altersunterschiede gen Fingerklopfens bei der Erledigung von
in der vorpubertären Kindheit die Lateralität Sprachaufgaben), während Bilinguale eher
für visuelle und auditive Sprachverarbeitung beidseitige Verarbeitung aufwiesen.
704 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

3.2. Sedierung von Hirnhälften N400 Komponente). Erst zehn Jahre später
Gesicherter als die Befunde zur Hemisphä- wurde das Problem systematischer angegan-
rendominanz erscheinen die Erkenntnisse gen. Ardal u. a. (1990) führten in einer umfas-
über die unterschiedliche Organisation der senderen Serie von Experimenten die Frage-
linken Hirnhälfte bei ein- und mehrsprachi- stellung weiter: Zunächst konnte eine ERP-
gen Personen. Die Befunde stammen aus Stu- Komponente herausgearbeitet werden, die
dien, in denen die Aktivität jeweils einer der auf unerwartete physikalische Ereignisse an-
beiden Hirnhälften gemindert wird, durch In- spricht (die positive Deflektion der P300, die
jektion von Sodium Amytal (einem Barbitu- nach etwa 300 msec zu beobachten ist); im
rat) in die rechte oder linke Karotide (Kopf- Unterschied dazu ist die N400 Deflektion bei
bzw. Halsschlagader). Die sedierte Hirnhälfte semantischen Abweichungen zu beobachten.
wird getestet. Handelte es sich dabei um die Die weiteren Untersuchungen erlauben, die
linke Hälfte, waren die Ausfälle bei der kritische neurophysiologische Reaktion zu
Sprachverarbeitung größer als bei der rech- verstehen als eine neuronale Antwort auf feh-
ten Hälfte. Spezifische Ausfälle bei Mehr- lende semantische Kongruenz oder Konsi-
sprachigen konnten nicht beobachtet werden. stenz und auf die Abwehr eines bahnenden
Diese Methode allein erscheint jedoch nicht semantischen Reizes (eines prime).
aussagekräftig zur Diagnose der Lateralität Weiterhin eignet sich die N400 Kompo-
bei Sprachverarbeitung, da nur Sprachpro- nente zur Erfassung unterschiedlicher Verar-
duktion getestet wird und die Behandlung beitungszeiten der verschiedenen Sprachen ei-
nur bei Personen mit Gehirndysfunktionali- nes Vielsprachigen und der unterschiedlichen
täten eingesetzt wird (vgl. Berthier u. a. 1990; Verarbeitungszeiten einer bestimmten Spra-
Paradis 1990). che bei Ein- bzw. Mehrsprachigen, ohne dass
motorische Anteile in den Zeiten enthalten
3.3. Cortexstimulation sind, wie z. B. bei lexikalischen Entscheidungs-
Patienten, die sich aus Krankheitsgründen ei- aufgaben. Die so gewonnenen Forschungser-
ner Hirnoperation unterziehen mussten, wur- gebnisse der ersten zehn Jahre lassen sich zu-
den an bestimmten Cortexstellen mittels Elek- sammenfassen zu der Erkenntnis, dass die
troden stimuliert, während sie Objekte be- Zweit- und Mehrsprachverarbeitung weniger
nannten (vgl. Rapport/Tan/Whitaker 1983). automatisiert und deshalb langsamer ist und
Es sprachen je nach Gebrauch von Erst- oder dass bei allen Sprachen Mehrsprachiger weni-
Zweitsprache (L1 oder L2) unterschiedliche, ger Automatisierung erreicht wird als bei Ein-
aber stark überlappende Bereiche an. Die Rei- sprachigen.
zung bestimmter Sprachareale interferierte Weitere Parameter der N400 Komponente
mit der Objektbenennung in beiden Sprachen, sind die Größe des Ausschlages und die Vertei-
andere mit Beeinträchtigung nur einer. L2- lung der ERP über den Cortex. Das größere
Areale scheinen ausgedehnter zu sein als L1- Ausmaß des ERP in der dominanten Sprache
Areale; abgesehen von den engumschriebenen eines Multilingualen könnte eine gründlichere
Aufgaben, ergeben sich hier konsistente Be- Stimulus-Verarbeitung indizieren. Die Lokali-
funde. sationsabweichungen in mehreren Sprachen
dürften schwieriger zu interpretieren sein. Es
3.4. Ableitung ereigniskorrelierter Potentiale gibt jedoch Hinweise, dass Bilinguale ihre Res-
(ERP) sourcen, insbesondere ihre Aufmerksamkeits-
Der Vorteil des Studiums bilingualer gegen- zuwendungen, anders organisieren als Mono-
über dem monolingualer Sprecher liegt in der linguale (Sussman/Franklin/Simon 1982). Die
Möglichkeit, Variationen des Zweitsprachbe- Folgen wären dann die Registrierung unter-
ginns und des Erst- und Zweitsprachge- schiedlicher Verarbeitungsareale.
brauchs in ihren neurophysiologischen Aus- Ardal u. a. bestätigten einerseits die unter-
wirkungen zu überprüfen. schiedlichen Verarbeitungszeiten für L1 und
Die Neurophysiologie der Sprachverarbei- L2 der Bilingualen und der korrespondieren-
tung ist ein relativ neues Forschungsfeld. Im den monolingualen L1-Gruppen. Die jeweils
Bereich der Untersuchung der Sprachverar- stärker automatisierte L1 zeigte früher den
beitung machten Kutas/Hillyard (1980) dar- Höhepunkt im ERP Ausschlag (zwischen 365
auf aufmerksam, dass Abweichungen von der und 438 msec); andererseits war der Aus-
gewohnten Semantik sich bei einem Sprecher schlag der N400 Komponente für Bilnguale
in einer negativen Deflektion bestimmter größer links parietal, für Monolinguale eher
ereigniskorrelierter Potentiale zeigten, die rechtsseitig. Ardal u. a. stellten fest, dass die
nach etwa 400 msec auftritt (der parietalen hohe Automatisierung durch häufigen Ge-
72. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess II 705

brauch beider Sprachen, die Unterschiede noch berichten, dass bei der Verarbeitung
zwischen L1 und L2 Verarbeitungszeiten ver- sehr unterschiedlicher Einzelsprachen (Chi-
wischen können. Das Alter des Zweitsprach- nesisch und Englisch) Bilinguale weniger
erwerbs spielte für die hier angesprochenen linksseitig lateralisiert sind als bei linguistisch
neurophysiologischen Befunde keine Rolle ähnlichen Sprachen ⫺ aber dies nur, wenn
(vgl. aber Neville 1991). kein auditiver Verarbeitungsmodus vorliegt,
wie z. B. bei Hynd/Teeter/Stewart (1980).
3.5. Präferenzen von Sinnesorganen
Die Kreuzung der aufsteigenden Sinnesbah-
nen für das rechts- und linksäugige Sehen 4. Schlussfolgerungen und Ausblick
und rechts- und linksohrige Hören wird in Die Frage nach der hemisphärischen Speziali-
zahlreichen Experimenten ausgenützt, um die sierung von Mehrsprachigen ist mit den gegen-
Aktivierung jeweils einer der beiden (kontra- wärtigen Untersuchungsmöglichkeiten beant-
lateralen) Hirnhälften zu erreichen. Die Prä- wortet. Es bleiben viele Widersprüche, die viel-
ferenz des rechten Auges oder Ohres zeigt leicht durch methodische, analytische und
eine linksseitige Hirnhälftendominanz an. auch begriffliche Schwächen hervorgerufen
Frühe Studien ergaben eine Präferenz des wurden.
rechten Ohres eher bei der Erstsprache. An- Die wichtigste Frage nach der Lokalisie-
dere Studien erbrachten keine Seitenpräfe- rung der Sprachen in der linken bzw. rechten
renz (z. B. Albanese 1985). McKeever u. a. Hirnhälfte erhielt eine vorläufige Antwort:
(1989) bezogen den Sprachkontext (Instruk- Getrennte Funktionszentren in der linken,
tionssprache) in die Versuchsanordnung mit aber Überlappungen in der rechten Hemi-
ein. Wurde die Instruktion in der dominanten sphäre. Aber auch andere methodische Zu-
Sprache gegeben, zeigte sich eine deutliche gänge als nur die kortikale Stimulation, aus
Dominanz in der Verarbeitung der rechtsoh- der diese Ergebnisse hervorgehen, sollten
rigen Sprachreize. Entsprach die Instruk- noch eingesetzt werden, ehe diese Ergebnisse
tionssprache der nicht-dominanten Sprache als endgültig betrachtet werden können (vgl.
eines Mehrsprachigen, zeigten sich durch Mendelsohn 1988).
Reizdarbietungen an beiden Ohren gleich Andere Fragestellungen ergeben sich, wenn
starke Effekte. der Zugang über die bekannten Funktionen
3.6. Rhythmisches Fingerklopfen anderer Gehirnstrukturen gesucht wird. Be-
sonders die Frontallappen und ihr Einfluss auf
Die Methode des rhythmischen Zeigefinger- die Regulation des Verhaltens könnten eine
klopfens der rechten oder linken Hand bei Rolle beim Sprachwechsel (Code-switching) in
Belastung der linken Hirnhälfte mit Sprach- Kommunikationssituationen spielen. Die neu-
aufgaben (z. B. Lesen) erfasst die Verlangsa- rophysiologische Steuerung von Überset-
mungsrate des Klopfens bei Mehrfachbela- zungen könnte ebenfalls über diese Areale lau-
stung. Sie erlaubt keine eindeutigen Aussagen fen. Weiterhin könnte die wahrscheinlich bila-
zur Beantwortung der vorliegenden Frage- terale Repräsentation für die unterschiedli-
stellungen (vgl. Hynd/Teeter/Stewart 1980; chen Sprachsysteme verschieden sein. Zusam-
Sussman/Franklin/Simon 1982). menfassend lässt sich formulieren, dass die
Die methodologische Kritik setzt an ver- Untersuchung der biologischen Grundlagen
schiedenen Punkten an: Auswahl der Stich- und der neurophysiologischen Funktionswei-
proben nach Alter, Geschlecht, Alter bei Be- sen der mehrsprachigen Aussagen über die all-
ginn des Zweitspracherwerbs, Sprachbeherr- gemeine Organisation linguistischer und neu-
schung, aktueller Gebrauch der Sprachen, rolinguistischer Teilsysteme erlauben wird.
natürlicher oder gesteuerter Zweitspracher-
werb. Wenig kontrolliert wird auch die Folge
des geringeren Gebrauchs und des späteren 5. Literatur in Auswahl
Lernzeitpunktes der Zweitsprache: In beiden Albanese, Jean-François (1985): Language laterali-
Fällen ist das sprachliche Testmaterial weni- zation in English-French bilinguals. In: Brain and
ger vertraut. Weiterhin könnten die Befunde Language 24, 284⫺296.
der größeren bilateralen Beteiligung der Ardal, Sten; Merlin W. Donald; Renata Meuter
Hirnhälften durch vermehrte Imagebildung u. a. (1990): Brain responses to semantic incon-
in der Muttersprache im Vergleich zur stärke- gruity in bilinguals. In: Brain and Language 39,
ren rein linguistischen Verarbeitung in der 187⫺205.
Zweitsprache zu erklären sein (vgl. Kins- Bates, Elizabeth (1979): The emergence of symbols,
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706 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

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73. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess III 707

73. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess III:


kognitive Faktoren

1. Vorbemerkung tive Lernerfaktoren mit Lernstrategien zu


2. Sprachlerneignung verbinden, wird in der aktuellen Strategien-
3. Extrovertiertheit/Introvertiertheit forschung erneut aufgenommen (vgl. Oxford
4. Risikobereitschaft 1990; Grotjahn 1998). Der didaktische An-
5. Ambiguitätstoleranz
6. Feldunabhängigkeit
satz der kompensatorischen Behandlung des
7. Empathie und Ego „schlechten“ Lerners erscheint aus heutiger
8. Lernertypen und Lernstile Sicht ⫺ auch angesichts der ungeklärten
9. Ausblick Lehrbarkeit von Lernstrategien ⫺ zweifel-
10. Literatur in Auswahl haft.
Die kognitiven Lernercharakteristiken wer-
fen eine Reihe von Klassifizierungsschwierig-
1. Vorbemerkung keiten auf. Probleme bereiten schon allein die
Gilt es, unterschiedlich erfolgreiche Fremd- Konstruktbeschreibungen, die oft vage blei-
sprachenerwerbsprozesse bei anscheinend ben und als Überlappungen bzw. Ergänzun-
gleichen externen Bedingungen zu erklären, gen anderer Variablen erscheinen. Häufig er-
so kennt der Volksmund zwei beliebte An- folgt eine Zuordnung der Einzelvariablen un-
sätze: Der eine benennt unterschiedlichen ter die wenig trennscharfen Rubriken „Per-
Fleiß, der andere unterschiedliche Begabung sönlichkeitsfaktoren“ und „kognitiver Stil“,
als Ursache; während die erste Ursachenzu- erstere versammelt Konstrukte wie etwa Ex-
schreibung dem erfolglosen Lerner noch trovertiertheit oder Risikobereitschaft, letz-
Möglichkeiten offen lässt, sein Lernziel zu er- tere umfasst Variablen, die die Wahrnehmung
reichen, so scheint die zweite mit Fatalismus und Verarbeitung von (auch fremdsprachli-
einherzugehen. Auch die Zweit- und Fremd- cher) Information betreffen wie bspw. die sog.
sprachenerwerbsforschung hat eine Reihe Feldunabhängigkeit. Die Klassifizierung der
von individuell variablen Lernercharakteristi- einzelnen Variablen ist sehr heterogen gehand-
ken im Unterschied zu affektiven oder sozia- habt worden (vgl. Skehan 1989, 100 ff; Lar-
len Faktoren (vgl. Art. 74, Art. 75) als relativ sen-Freeman/Long 1991, 184ff.; Edmondson/
stabile und kontextunabhängige behandelt. House 1993, 186ff.; Ellis 1994, 471ff.), zuwei-
Die häufig ursprünglich der Psychologie ent- len wird auf die Unterscheidung zwischen
stammenden Konstrukte werden als tief in Faktoren des kognitiven Stils und der Per-
der Persönlichkeit des Lernenden verwurzelte sönlichkeit ganz verzichtet (vgl. Gass/Selin-
Merkmale definiert, die durch die Ausbildung ker 1994, 260ff.; Riemer 1997, 54ff.).
spezifischer Lernstile den Erfolg im Fremd- Bereits an dieser Stelle sind einige metho-
sprachenlernen (mit-)bestimmen. Dem Fata- dologische Anmerkungen notwendig: Nahe-
lismus entgegengesetzt, wurde in den 70er zu alle Studien sind im Kontext des gesteuer-
Jahren, der Tradition von Defizit- und Kom- ten Fremdsprachenerwerbs angesiedelt. Ge-
pensationstheorien entsprechend, das Ideal- nerelle Effekte kognitiver Faktoren im unge-
bild des „good language learner“ (vgl. Rubin steuerten Zweitsprachenerwerb anzunehmen
1975; Stern 1975) entwickelt, von dessen Er- bleibt folglich spekulativ. Zwischen der De-
forschung man sich fremdsprachendidakti- finition bzw. Relevanzbegründung der kogni-
sche Hinweise erhoffte. Das bekannte „good tiven Konstrukte für die Fremdsprachen-
language learner“-Projekt formulierte als ge- erwerbsforschung und ihrer Operationali-
nerelles Erkenntnisinteresse: sierung muss unterschieden werden. Ange-
sichts der häufig unzureichend erscheinenden
„What makes good language learners tick? What ⫺ da genuin psychologischen und nicht-
do they do that poor learners don’t do? Could we fremdsprachenspezifischen ⫺ Instrumenta-
help the poor learners by teaching them some of rien scheinen Zweifel an der Gültigkeit der
the good learners’ tricks?“ (Naiman/Fröhlich/Stern
Interpretationen angebracht. Fast alle empi-
u. a. 1978, VII)
rischen Studien in diesem Bereich bedienen
Es lieferte als eines der ersten umfassenden sich eines prägnant quantitativ orientierten,
Forschungsprojekte empirische Befunde für hypothesentestenden Designs und fokussie-
eine Reihe von Faktoren, die im Folgenden ren fremdsprachliche Produkte und nicht
behandelt werden sollen; sein Ansatz, kogni- Prozesse; die Erhebung der kognitiven Varia-
708 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

blen basiert zumeist auf Self-report-Instru- hängigen Fähigkeiten definiert, als da wären:
mentarien, deren Glaubwürdigkeit generell phonologische Diskriminierungs- und Enko-
eingeschränkt ist. Die Dateninterpretation dierungsfähigkeit, grammatisches Einfüh-
stützt sich nahezu ausschließlich auf statisti- lungsvermögen, induktive Sprachlernfähig-
sche Signifikanztests, intervenierende Varia- keit und Gedächtnisleistung (insbes. Auswen-
blen werden in unterschiedlichem Umfang diglernen). Im Unterschied zu anderen Defi-
berücksichtigt. Dass man Darstellungsmän- nitionsansätzen (z. B. Pimsleur 1966) sind
gel, die den Nachvollzug der Studien er- nach Carrolls Auffassung Motivation und In-
schweren, feststellen muss (z. B. unzurei- telligenz nicht Bestandteile der Sprachlern-
chende Beschreibungen des Unterrichtskon- eignung. Über 40 neuentwickelte Tests wur-
texts und der verwendeten Instrumentarien), den an Lernern zu Beginn deren fremd-
ist kein Einzelfall. sprachlicher Ausbildung erprobt, fünf davon
Im Fach Deutsch als Fremdsprache ha- korrelierten am besten mit Ergebnissen der
ben die individuell variablen kognitiven Fak- Probanden in späteren Sprachleistungstests.
toren bisher wenig Aufmerksamkeit gefun- Diese fünf fremdsprachenspezifischen Tests
den. Zum überwiegenden Teil entstammen (Number Learning, Phonetic Script, Spelling
die empirischen Forschungen der US-ameri- Clues, Words in Sentences, Paired Asso-
kanischen und kanadischen Zweitsprachener- ciates) wurden von Carroll und Sapon (1959)
werbsforschung bzw. den Applied Lingui- als standardisierter „Modern Language Apti-
stics. tude Test“ (MLAT) veröffentlicht (und führ-
ten zur oben genannten Konstruktdefinition),
der seitdem als anerkannte Operationalisie-
2. Sprachlerneignung rung der Sprachlerneignung gilt, auch wenn
ihm zeitweise nachgesagt wurde, dass er zu
Bereits einige Zeit vor der Beachtung von
sehr dem Zeitgeist der audio-lingualen Me-
psychologischen Theorien der Persönlichkeit
thode verwandt sei. Nicht verschwiegen wer-
und des kognitiven Stils in der Fremdspra-
den sollte außerdem, dass der MLAT als Pro-
chenerwerbsforschung wurde der Frage nach-
gnosetest, genauer gesagt Selektions- und
gegangen, welche kognitiven Voraussetzun-
Einstufungstest, entwickelt wurde und sehr
gen von Lernern geeignete Parameter zur
lange Zeit unverändert blieb und nicht als In-
Prognose von Erfolg im Erlernen von Fremd-
strumentarium eines Erkenntnisinteresses,
sprachen sind. In der Erforschung individuel-
das tiefe Einblicke in individuelle Lernpro-
ler Unterschiede nimmt die sog. Sprachlern-
zesse ermitteln sollte, gedacht war. Erst Ske-
eignung („language aptitude“) eine Sonder-
han (1989; 1991) hat neuere Überlegungen
stellung ein. In vergleichsweise vielen Untersu-
zur Definition und Operationalisierung der
chungen ⫺ auch in solchen, in denen sie nicht
Sprachlerneignung angestellt und v. a. die
das eigentliche Erkenntnisinteresse darstellt
Aufnahme kommunikativer Fähigkeiten und
(z. B. in den Gardnerschen Motivations- und
die Berücksichtigung des ungesteuerten Er-
Einstellungsstudien; vgl. Art. 74) ⫺ wurde die
werbskontexts gefordert. Er berichtet von ei-
Sprachlerneignung als relevanter und von an-
genen Untersuchungen, in denen u. a. hin-
deren Variablen unabhängiger Einflussfaktor
sichtlich individueller Präferenzen für Kom-
für fremdsprachliche Leistungen ermittelt.
ponenten der Sprachlerneignung unterschied-
Häufig wird der Sprachlerneignung sogar
liche Lernerprofile ermittelt werden: Analyti-
nachgesagt, dass sie der beste Prädiktor für
sche Lerner erweisen sich dabei im Fremd-
fremdsprachlichen Erfolg sei (vgl. Skehan
sprachenerwerb als ähnlich erfolgreich wie
1989: 38; Gass/Selinker 1994, 247). Interes-
gedächtnisorientierte Lerner.
santerweise wird dieses Konstrukt seit den
70er Jahren kaum mehr isoliert erforscht; in
den zunehmend multivariat angeordneten 3. Extrovertiertheit/Introvertiertheit
Forschungsdesigns scheint die Messung der
Sprachlerneignung eine allgemein akzeptierte Ihrer sozialen Umwelt gegenüber aufge-
Routine zu sein (z. B. Ehrman/Oxford 1995). schlossene und kontaktfreudige (⫽ extrover-
Am bekanntesten wurde die Definition tierte) Lerner werden gern als die erfolgver-
und Operationalisierung von Carroll (vgl. sprechenderen Lerner eingeschätzt. So favo-
seine resümierenden Beiträge 1981 und 1990), risiert bspw. Seliger (1977) die „high input
der das Konstrukt „modern language apti- generators“ im Unterschied zu „low input
tude“ als Summe von vier voneinander unab- generators“, da sie aktiver an der Beschaf-
73. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess III 709

fung und Aushandlung von Input beteiligt ligung nicht automatisch mit Fremdspra-
seien. Auf ähnliche Weise beschreibt Hatch chenerwerb einhergeht, ist ebenso bei Day
(1974) mit dem Terminus „data gatherer“ (1984) nachzulesen. Riemer (1997) zeigt in
Lerner, die größere Mengen Input aufneh- drei Fallstudien, dass das Ausmaß der Unter-
men und interaktiv verarbeiten, während die richtsbeteiligung von einer Reihe unter-
„rule formers“ auf Korrektheit bedacht sind schiedlicher Faktoren (kognitiver, affektiver
und deshalb freies Sprechen vermeiden. Ru- und sozialer) bestimmt wird, die individuell
bin (1975) kommt zu dem Schluss, dass ex- stark variieren.
trovertierte Lerner leichter sprechen lernen.
Empirische Untersuchungen, die Extro-
vertiertheit/Introvertiertheit mit psychologi- 5. Ambiguitätstoleranz
schen Testinstrumentarien, bspw. mit dem
Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten
Eysenckschen Questionnaire, messen, kom-
⫺ wie sie etwa fremdsprachliche Systeme be-
men hinsichtlich der positiven Effekte dieses
reithalten ⫺ wahrnehmen und ertragen zu
Persönlichkeitsmerkmals zu disparaten Re-
können gilt als weiteres den Fremdsprachen-
sultaten. Naiman/Fröhlich/Stern u. a. (1978)
erwerb förderndes Persönlichkeitsmerkmal
ermitteln keine signifikanten Korrelationen
(vgl. Rubin 1975; Stern 1975). Naiman/Fröh-
mit fremdsprachlichen Leistungen. Busch
lich/Stern u. a. (1978) ermitteln positive Ef-
(1982) kommt zu dem Schluss, daß Extrover-
fekte dieser Variable auf fremdsprachliche
tiertheit nicht in jedem kulturellen Kontext
Leistungen insbes. jüngerer Schüler (8.
eine relevante Einflussgröße ist: In ihrer Stu-
Klasse) in einer Hörverstehensübung. Die
die über japanische Lerner korrelieren Extro-
Studie von Chapelle und Roberts (1986) ist
vertiertheit und Aussprachekompetenz signi-
eine der wenigen Versuche, die nicht den Ein-
fikant negativ, und introvertierte Lerner er-
fluss von Persönlichkeitsvariablen auf den
weisen sich als erfolgreicher in schriftlichen
(ausschließlich) gesteuerten Fremdsprachen-
Sprachtests, lediglich in einem mündlichen
erwerb untersuchen: Sie ist im Kontext des
Interview zeigen sich einige Vorzüge extro-
durch Fremdsprachenunterricht geförderten
vertierter Lerner.
Zweitsprachenerwerbs im Zielsprachenland
angesiedelt. Durch einen Vergleich der Leis-
4. Risikobereitschaft tungen in Sprachtests zu Beginn und gegen
Ende eines 7-wöchigen Intensivsprachkurses
Als Ergänzung zur Extrovertiertheit ist jene wird nachgewiesen, dass lediglich die letzte-
Persönlichkeitsdisposition aufzufassen, Risi- ren mit der Ambiguitätstoleranz signifikant
ken einzugehen. Als „good language learner“ korrelieren. Dies wird so interpretiert, dass
gelten nach Rubin (1975) risikobereite Ler- die ambiguitätstoleranten Lerner in höherem
ner, die sich aktiv am Fremdsprachenunter- Ausmaß vom Fremdsprachenunterricht pro-
richt beteiligen ⫺ im Unterschied zu Lernern, fitiert hätten.
die sensibel gegenüber Korrekturen reagieren Die Untersuchungen unterstützen die Auf-
und deshalb Beteiligungen vermeiden. Nai- fassung, dass die Ambiguitätstoleranz ⫺ ähn-
man/Fröhlich/Stern u. a. (1978) haben die lich wie Extrovertiertheit und Risikobereit-
Abwesenheit von Risikobereitschaft als „sen- schaft ⫺ eine relevante Einflussgröße im
sitivity to rejection“ bezeichnet. Die progno- Fremdsprachenerwerb ist, auch wenn die
stizierten negativen Effekte konnten mit Hilfe Signifikanztests keine Aussagen über die
eines Instrumentariums, das situationsspe- kausalen Beziehungen zulassen. Auf welche
zifisches Unbehagen (nicht fremdsprache- spezifische Weise sich diese Persönlichkeits-
nunterrichtsspezifisches!) misst, jedoch nicht merkmale jedoch in unterschiedlichen Wahr-
nachgewiesen werden. Ely (1986), der zu nehmungs- und Verarbeitungsprozessen des
Gunsten fremdsprachenspezifischer Instru- fremdsprachlichen Inputs äußern, ist nicht
mentarien auf den Einsatz psychologischer Gegenstand dieser ausschließlich produkt-
Tests verzichtet, ermittelt, dass in der Tat die orientierten Untersuchungen.
Risikobereitschaft von Lernern mit deren Be-
reitschaft, sich unaufgefordert am Unterricht
zu beteiligen, signifikant korreliert. Dass die 6. Feldunabhängigkeit
aktiveren Lerner aber auch gleichzeitig die
besseren Lerner sind, kann nur für den Kor- Die durch einen spezifischen Test nachweis-
rektheitsgrad der mündlichen Sprache festge- bar individuell unterschiedliche Fähigkeit, in
stellt werden. Dass stärkere Unterrichtsbetei- einem aus sich überlappenden geometrischen
710 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

Formen zusammengesetzten komplexen Bild den, konnte in keiner Studie nachgewiesen


Einzelfiguren zu isolieren (Hidden Figures werden.
Test, später Group Embedded Figures Test), Trotz der gesichert anmutenden Evidenz
konnte in vielen Untersuchungen mit fremd- des Faktors Feldunabhängigkeit sind die mit
sprachlichen Leistungen korreliert werden. diesem Konstrukt assoziierten Persönlich-
Welche kognitiven Charakteristiken oder keitsmerkmale deshalb allerdings noch nicht
kognitiven Stile mit diesem Test gemessen als für den Fremdsprachenerwerb relevant
werden, ist allerdings umstritten. Lange Zeit nachgewiesen. Intervenierende Effekte der
wurde ⫺ persönlichkeitspsychologischen For- unterschiedlichen Sprachtestverfahren sind
schungen folgend ⫺ davon ausgegangen, außerdem nicht auszuschließen. Weitere Pro-
dass damit der kognitive Stil eines Individu- bleme sind zu nennen: Was misst der Group-
ums, genauer gesagt die Disposition zur ana- Embedded-Figures-Test? Erfasst er einen
lytischen vs. der holistischen Wahrnehmung kognitiven Stil oder Intelligenz (vgl. Chapelle
von Einzelphänomenen bei der Lösung kom- 1988)? Ist es wirklich zulässig, bei schlechten
plexer Aufgaben ⫺ die sog. Feldunabhängig- Resultaten in einem Test, der ausschließlich
keit/Feldabhängigkeit ⫺, erfasst wird, die so- analytische Fähigkeiten elizitiert, auf Feldab-
ziale Korrelate besitzt: Feldabhängige Indivi- hängigkeit zu schließen (vgl. Chapelle/Ro-
duen werden als sozialer, kommunikativer berts 1986)? Chapelle/Green (1992) schlagen
und ihrem Umfeld gegenüber als sensibler vor, dass der GEFT die Fähigkeit des „cogni-
beschrieben, während feldunabhängigen grö- tive restructuring“, die als Komponente der
ßere Autonomie (auch gegenüber Lehrern Sprachlerneignung aufgefasst wird, misst und
und Zielsprachensprechern) und geringere nicht Persönlichkeitsdispositionen; Lernstile
sozialintegrative Kompetenzen zugewiesen seien besser durch die Untersuchung des
werden. Offensichtlich handelt es sich hier Strategieninventars von Lernern zu ermitteln.
um ein recht stabiles Persönlichkeitsmerkmal, Griffiths/Sheen (1992) bestreiten dagegen jeg-
das während des kognitiven Reifungsprozes- liche Bedeutung des Konstrukts für den
ses entwickelt und vom kulturellen Kontext Fremdsprachenerwerb. Messwerte im GEFT
und der Sozialisation beeinflusst wird; Han- seien als Indikatoren von Intelligenz, insbes.
sen (1984) weist z. B. nach, dass Feldunab- visuell-räumlicher Fähigkeiten, und nicht als
hängigkeit in höher technisierten und indu- Hinweise für kognitiven Stil zu interpretie-
strialisierten Kulturen stärker vertreten ist. ren. Darüber hinaus konstatieren sie eine
Feldabhängige Fremdsprachenlerner gelten allzu unreflektierte Adaption psychologischer
nach Naiman/Fröhlich/Stern u. a. (1978) als Theorien und Instrumentarien in der Fremd-
erfolgversprechender, da sie besser imstande sprachenerwerbsforschung, was in der Ant-
seien, relevante Stimuli im Input wahrzuneh- wort von Chapelle (1992) zurückgewiesen
men, während von weniger erfolgreichen Ler- wird. Die Kontroverse um das Konstrukt
nern angenommen wird, dass sie „will be Feldunabhängigkeit findet in der erneuten
distracted by irrelevant cues which produce Absage von Sheen (1993) an die Relevanz
an overall effect of noise“ (Naiman/Fröhlich/ dieser Forschungsausrichtung ihren vorläufi-
Stern u. a. 1978, 30). In der Tat werden in ih- gen Abschluss.
rer Studie bessere Leistungen von feldunab-
hängigen Lernern in Imitations- und
Hörverständnisübungen festgestellt. Im Ver- 7. Empathie und Ego
gleich zu anderen kognitiven Variablen wurde
der feldunabhängige Stil vielfach untersucht Dass Identitätskonzepte Relevanz für erfolg-
und mit unterschiedlichen fremdsprachlichen reichen Fremdsprachenerwerb besitzen, ist
Leistungen positiv korreliert. Genannt wer- eine Hypothese von Forschern, die psycho-
den können hier nur wenige Beispiele: Bes- und tiefenanalytische Konzepte in die Fremd-
sere Ergebnisse erzielten feldunabhängige sprachenerwerbsforschung integrieren. Mit
Lerner in Sprachtests zu unterschiedlichen dem Konstrukt Empathie haben sich Un-
Fertigkeiten und Fähigkeiten, auch im tersuchungen der Forschungsgruppe um
TOEFL, bei Chapelle/Roberts (1986) oder Guiora, die sich aus Psychologen, Psychia-
insbes. im Cloze-Test bei Stansfield/Hansen tern, Linguisten und Psycholinguisten zusam-
(1983). Die ursprünglich von der persönlich- mensetzte, bereits in den 70er Jahren ausein-
keitspsychologischen Theorie abgeleitete An- ander gesetzt. In Anlehnung an psychoanalyti-
nahme, dass feldabhängige Lerner bessere sche Ego- und Identitätstheorien inklusive der
kommunikative Fertigkeiten entwickeln wür- Annahme, dass der kognitive Reifungsprozess
73. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess III 711

mit einem Verlust an Flexibilität der „Ego- dass schwache Ego-Grenzen positiv mit
Grenzen“ einhergeht, wird Empathie als Ein- fremdsprachlichen Lese- und Schreibleistun-
fühlungsvermögen definiert, „to empathize gen korrelieren, während starke Ego-Gren-
with the thoughts and feelings of others (or to zen eher auf Lernschwierigkeiten hindeuten.
,put yourself in their shoes‘)“ (Guiora/Bran- Diese Ergebnisse gehen in ein Fremdspra-
non/Dull 1972, 115). Empathisch ist nach chenerwerbsmodell ein, in dem die Kausalität
dieser Auffassung also ein Lerner, der als Be- von Persönlichkeitsfaktoren auf die Entwick-
standteil seiner stabilen Persönlichkeitsstruk- lung von Orientierungen angenommen wird,
tur die Grenzen seines Egos flexibel handha- die sich dann in unterschiedlichen Lernstrate-
ben kann, was sich insbes. im Erwerb einer gien bzw. Lernerverhaltensweisen ausprägen
zielsprachenadäquaten Aussprache ablesen und schliesslich in das fremdsprachliche Pro-
lasse. Auch die empirischen Befunde über dukt münden.
diesen Faktor sind ohne Anmerkungen zu
den verschiedenen Operationalisierungsver-
suchen nicht sinnvoll darzustellen. Die einge- 8. Lernertypen und Lernstile
setzten Instrumentarien sind allesamt nicht
fremdsprachenspezifisch, und es bleibt frag- Im Vorangegangenen wurden individuell vari-
lich, ob sie tatsächlich imstande sind, die de- ierende kognitive Faktoren genannt, für deren
finierte Empathie zu messen. Der zunächst Wirksamkeit im Fremdsprachenerwerb zu-
eingesetzte Micro-Momentary-Expression- mindest eine gewisse positive empirische Evi-
Test, der die Fähigkeit elizitiert, Mimik wahr- denz vorliegt (vgl. auch die Beiträge in Reid
zunehmen, erbrachte Resultate, die signifi- 1995 und Duda/Riley 1990). Dies gilt nicht
kant positiv mit Ergebnissen eines Aus- oder nur eingeschränkt für eine Reihe weiterer
spracheauthentizitätstests korrelieren (vgl. Variablen, deren Effekte ungesichert sind. An-
Guiora/Brannon/Dull 1972). Die experimen- dere Konzepte wurden von Fremdsprachener-
telle Manipulation der Empathiefähigkeit mit werbstheorien abgeleitet, wie z. B. die bekann-
Hilfe von Alkohol und Valium erbrachte in ten Lernertypen Krashens (1981, 12ff.), der
Folgestudien (vgl. Guiora/Paluzny/Beit-Hal- zwischen „monitor overuser“, „underuser“
lahmi u. a. 1975; Guiora/Acton/Erard u. a. und „successful user“ unterscheidet.
1980) lediglich positive Effekte von geringen Außer der Feldunabhängigkeit wurden Va-
Alkoholgaben. Was in diesen Untersuchun- riablen des kognitiven Stils, wie etwa Reflek-
gen getestet wurde, ob kognitive Faktoren, tiertheit vs. Impulsivität und Bevorzugung
kulturelle Fertigkeiten, physiologische Reak- des auditiven vs. des visuellen Kanals bei
tionen oder anderes, bleibt letztlich un- der Informationsaufnahme (vgl. Larsen-Free-
geklärt. Auch Naiman/Fröhlich/Stern u. a. man/Long 1991, 195f.) bislang wenig er-
(1978) haben mittels eines Fragebogeninstru- forscht. Andere Variablen erwiesen sich in
mentariums keine aussagekräftigen Belege Stichprobenuntersuchungen als irrelevant, in
für die Wirksamkeit des Faktors Empathie Einzelfalluntersuchungen dagegen als geeig-
ermittelt. nete Erklärungsparameter. So konnte von
In den letzten Jahren wurde erneut der Naiman/Fröhlich/Stern u. a. (1978) die Nei-
Versuch unternommen, Theorien der Persön- gung von Lernern zu enger bzw. weiter Kate-
lichkeitspsychologie in ihrer Relevanz für den gorisierung nicht mit fremdsprachlichen Pro-
Fremdsprachenerwerb darzustellen. Ehrman dukten in Verbindung gebracht werden, ob-
(1993) subsumiert unter dem Persönlichkeits- wohl mit diesem Konstrukt die fremdspra-
merkmal „Ego-Grenzen“ die Variablen Em- chenspezifische Tendenz zur Unter- bzw.
pathie, Ambiguitätstoleranz und kognitive Übergeneralisierung assoziiert wurde. In sei-
Flexibilität in der Informationsverarbeitung ner Fallstudie über ein türkisches Migranten-
und integriert in ihre Überlegungen die tie- kind zeigt hingegen Apeltauer (1988) die Re-
fenpsychologische Unterscheidung zwischen levanz dieses Parameters für die Ausbildung
Denken und Fühlen in der Tradition C. G. eines individuellen Lernstils, der als hinder-
Jungs. Operationalisiert wird dieses Kon- lich für den Erwerb des Deutschen als Zweit-
strukt mit dem Hartmann Boundary Que- sprache nachgewiesen wird und unterschied-
stionnaire, der verschiedene nicht-fremdspra- liche Variablen umfasst (enge Kategorisie-
chenspezifische Subskalen (z. B. zu Sensibili- rung, Ambiguitätsintoleranz, Feldabhängig-
tät, Erfahrungen, Einstellungen, Träumen) keit). Dass die Auswirkungen isolierter Merk-
umfasst. Ermittelt wird für den Kontext des male des kognitiven Stils nicht auf monokau-
kommunikativen Fremdsprachenunterrichts, sale Weise und nicht ohne die Berücksichti-
712 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

gung weiterer Faktoren zu prognostizieren und Lernstile durch die Bildung homogener
sind, stellt Ellis (1989) fest. In zwei Fallstu- Lernergruppen schwer möglich ist. Auch feh-
dien zum gesteuerten Erwerb des Deutschen len angesichts der unterschiedlichen und sich
als Fremdsprache an einer englischen Univer- nicht auf einfache Weise ergänzenden Ablei-
sität wird zunächst die Effizienz des feldun- tungsmöglichkeiten von Lernertypen theore-
abhängigen Stils (gemessen mit dem GEFT) tisch und empirisch begründete Einsichten in
aufgezeigt. Der Lernstil einer weniger erfolg- die Interdependenz kognitiver Faktoren (ist
reichen (feldabhängigen) Lernerin wird dar- z. B. bei einem „data gatherer“ eine eher feld-
über hinaus als „studial“ (Bevorzugung for- unabhängige oder eher feldabhängige Orien-
maler bzw. grammatischer Übungen, hoher tierung zu erwarten?). Auch die Effizienz be-
Korrektheitsanspruch, Vermeidung freier stimmter Lernstile bei spezifischen fremd-
Kommunikation) charakterisiert, während sprachlichen Aufgabenstellungen und der
der Lernstil eines erfolgreicheren Lerners als
Entwicklung bestimmter Fertigkeiten und
„experimental“ (Bevorzugung freier Kommu-
Fähigkeiten ist noch weithin ungeklärt. Den-
nikation) beschrieben wird. Mit Hilfe der
Analyse von Lernertagebüchern ermittelt El- noch geben die Forschungsergebnisse Hin-
lis, dass die Lernerin verbunden mit emotio- weise für eine Berechtigung unterschiedlicher
nalem Stress auf Grund von externen Um- Sozialformen des Fremdsprachenunterrichts
ständen (Leistungsdruck, bevorstehende Prü- (Binnendifferenzierung und Individualisie-
fungen) versucht, ihren Lernstil der formo- rung) sowie lernerorientierter Unterrichtsme-
rientierten Unterrichtsmethode anzupassen. thodologien, die weite Spektren unterschied-
Der Autor kommt zu dem Schluss, dass hin- liche Lernertypen ansprechender Übungsfor-
sichtlich der Auswirkungen kognitiver Stile men vorsehen und zugunsten der Formulie-
der Unterrichtskontext eine entscheidende rung allgemein gehaltener und flexibler
Rolle spielt: Unterrichtsprinzipien auf die Konzeption ge-
schlossener Methoden verzichten.
„[…] learners do benefit if the instruction suits
their learning style, but, if it does not, they may be
able to adopt, at some cost to their own ease of
mind and the type of proficiency they develop.“ 9. Ausblick
(Ellis 1989, 259)
Die Erforschung des Einflusses kognitiver
Solche fallorientierten Studien geben Hin- Lernercharakteristiken befindet sich in vieler-
weise dafür, dass die kognitiven neben sozia- lei Hinsicht noch in den Anfängen. Eine Prog-
len und affektiven Faktoren individuell stark nose des Sprachlernerfolgs an Hand indivi-
variable Lernerprofile und Lernstile ausbilden duell variabler Faktoren ermöglicht noch
(vgl. auch die „Einzelgänger-Hypothese“ von keine Einsicht in deren Wirksamkeit bei der
Riemer 1997). Auch die Tatsache, dass die Wahrnehmung, Verarbeitung und Integration
Stichprobenuntersuchungen (mit Ausnahme von fremdsprachlichem Input sowie im aufga-
der Sprachlerneignungsstudien) zumeist recht benspezifischen Output. Neben der stärkeren
niedrige Korrelationskoeffizienten ermitteln, Beachtung des Prozesscharakters des Fremd-
folglich die Varianz zwischen Lernern nur zu sprachenerwerbs gilt es deshalb, fremdspra-
einem kleinen Teil auf Einzelvariablen zurück-
chenspezifische Instrumentarien zu entwi-
führen können, spricht nicht gegen diesen
ckeln und Interdependenzen zwischen Fak-
Schluss.
toren unterschiedlicher Provenienz zu be-
Inwieweit Lernertypen und Lernstile als
Resultat interdependenter Faktoren im achten. Es gibt z. B. Hinweise dafür, dass
Fremdsprachenunterricht berücksichtigt wer- kognitive Charakteristiken (z. B. erfahrungs-
den müssen bzw. können, bedarf noch gründ- bedingte Selbsteinschätzung und locus of con-
licher Erforschung. Wesche (1981) hat z. B. trol) in der Entwicklung spezifischer Mo-
festgestellt, dass Lerner, die im Sprachlern- tivationen wirksam werden (vgl. Ehrman/Ox-
eignungstest unterschiedliche Präferenzen ford 1995). Offen ist außerdem, inwieweit uni-
zeigen (Gedächtnis- vs. Formorientierung), verselle kognitive Prozesse und individuelle
bei angepasster Lehrmethode gleichermaßen Charakteristiken interagieren. Hypothesen
Fortschritte erzielen. Es ist offensichtlich, generierende Forschungen, die eine einfache
dass im Normalfall eines institutionell orga- Adaption psychologischer Konstrukte und In-
nisierten Fremdsprachenunterrichts die Be- strumentarien vermeiden, sind deshalb ein
rücksichtigung unterschiedlicher Lernertypen dringliches Desiderat.
73. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess III 713

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74. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess IV: Affektive Variablen

1. Einführung zeichnend für den Untersuchungsbereich ist,


2. Untersuchungsbereiche dass affektive Variablen aus sehr unterschied-
3. Methodologische Probleme lichen Forschungsperspektiven und in Hin-
4. Konsequenzen für die Praxis blick auf sehr unterschiedliche Erwerbskon-
5. Fazit
6. Literatur in Auswahl
texte betrachtet werden.

1. Einführung 2. Untersuchungsbereiche

Bei der Untersuchung affektiver Variablen 2.1. Motivation


und ihrer Auswirkungen auf den Zweit- und Die Frage, welche Rolle Motivation für den
Fremdsprachenerwerb handelt es sich um ei- Erfolg beim Zweit- und Fremdspracherwerb
nen Themenkomplex, der im Wesentlichen spielt (vgl. Klein 1984, 45ff.), wurde seit den
durch die Stichwörter ,Motivation‘, ,Einstel- späten 50er Jahren empirisch untersucht.
lung‘, ,Empathie‘ und ,Angst‘ gekennzeichnet Führend auf diesem Gebiet waren zunächst
ist. Affektive Variablen haben einen nicht un- die Studien von Gardner/Lambert und Mit-
erheblichen Einfluss auf die Sprachverwen- arbeitern (s. Gardner/Lambert 1972 für einen
dung von Nichtmuttersprachlern und den Überblick). Als wichtigster Befund dieser
Verlauf von Zweit- und Fremdspracherwerb- Studien ist festzuhalten, dass ,Motivation‘ ⫺
sprozessen. Die Befassung mit diesen Varia- und in enger Verbindung hiermit ,Einstel-
blen ist für die Zweitspracherwerbs- und lung‘ (s. 2.2.) ⫺ als selbständige Faktoren
Sprachlehrforschung vor allem deshalb von eingestuft werden konnten, die unabhängig
Bedeutung, weil unterschiedliches Sprach- von anderen Faktoren wie ,Intelligenz‘ und
vermögen und unterschiedliche Lernerfolge ,Eignung‘ mit Erwerbserfolgen korrelieren.
(Stichworte in der englischsprachigen Litera- Gardner/Lambert unterscheiden eine ,inte-
tur sind hier ,proficiency‘ und ,success of ac- grative‘ und eine ,instrumentelle‘ Motivation
quisition‘) oft nicht mit anderen Variablen (,integrative‘ vs. ,instrumental‘ motivation).
wie z. B. kognitiven Stilen, Intelligenz, Kon- Bei integrativer Motivation wird das Bestre-
takt mit der Zielsprache oder Unterrichts- ben, sich in die Zielsprachengemeinschaft zu
phänomenen zu erklären sind (s. hierzu auch integrieren und dort soziale Kontakte zu su-
Klein/Perdue 1992, 331f.). Insgesamt sind chen, als Antrieb für den Zweit- oder Fremd-
aber in Bezug auf affektive Variablen noch spracherwerb gesehen. Dieser integrativen
viele Fragen offen und auch über die Verbin- Orientierung wird eine instrumentelle Orien-
dung der einzelnen Faktoren besteht noch tierung gegenübergestellt, bei der Spracher-
weitgehend Unklarheit. Nicht zuletzt zeigen werb eher zu funktionalen Zwecken, wie z. B.
affektive Variablen auch einen engen Zusam- beruflichen Erfordernissen, erfolgt. Zuneh-
menhang mit kognitiven und soziokulturellen mende Bedeutung erzielt auch die terminolo-
Parametern. Methodisch ergibt sich das Pro- gische Unterscheidung von „Orientierung“
blem, dass affektive und emotionale Phäno- und „Motivation“ („orientation“ vs. „mo-
mene empirisch nur schwer fassbar sind. Be- tive“), wobei „Orientierung“ auf die Beweg-
74. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess IV 715

gründe für den Zweitspracherwerb, und Boosch die von Gardner/Lambert postulierte
„Motivation“ auf die Bereitschaft verweist, Überlegenheit einer integrativen Motivation
Anstrengungen zum Erlernen der Zielsprache für den Erwerbserfolg nicht bestätigen.
zu unternehmen (s. Ellis 1994, 509). Solmecke (1983, 47f.) benennt in einem
Ergebnis der ersten Untersuchungen von Systematisierungsversuch drei Faktorenkom-
Gardner und Lambert war, dass eine integra- plexe, durch die die Motivation von Lernern
tive Orientierung den Lernerfolg stärker för- im Fremdsprachenunterricht bestimmt wer-
dert als eine instrumentelle Orientierung. den kann:
Dies wurde u. a. damit erklärt, dass Sprach-
(1) Außerschulische Faktoren: Einstellungen
erwerb mehr erfordert als Regelerwerb, und
der Gesellschaft oder der Eltern gegen-
somit auch die Bereitschaft bestehen muss,
über der Fremdsprache, ihren Sprechern
Verhaltensmuster der Mitglieder der Ziel-
sowie Notwendigkeit und Bedingungen
sprache zu übernehmen. Von daher ergibt
des Erwerbs.
sich auch ein enger Zusammenhang mit der
(2) Individuelle Faktoren: Die Einstellung
Einstellung (s. 3.2.) gegenüber der Zielspra-
der Lerner zu den o. g. Aspekten und „in-
chengruppe. Obgleich angenommen wird,
dividuelle Reaktionsdispositionen“ auf
dass sowohl integrative als auch instrumen-
Unterrichtsaspekte.
telle Orientierung in unterschiedlicher Inten-
(3) Durch Lehrer und Unterricht einge-
sität ausgeprägt sein können, wurde letztend-
brachte Faktoren.
lich von einer Überlegenheit der integrativen
Motivation ausgegangen. Erst durch spätere Apelt (1986) unterscheidet die folgenden Mo-
Untersuchungen, bei denen der Vorteil einer tive für Fremdsprachenlernen: Das ,Gesell-
integrativen Orientierung nicht bestätigt wer- schaftsmotiv‘, das ,Elternmotiv‘, das ,Nütz-
den konnte, wurden die Bedingungen, unter lichkeitsmotiv‘, das ,Lehrermotiv‘, das ,Wis-
denen dies zutrifft bzw. nicht zutrifft, deutli- sensmotiv‘, das ,Kommunikationsmotiv‘ und
cher herausgearbeitet. Dabei kristallisierten das ,Geltungsmotiv‘. Dass auch bei relativ ho-
sich zunehmend auch soziokulturelle Para- mogen erscheinenden Lerngruppen eine be-
meter als entscheidende Faktoren für die achtliche Motivationsvielfalt vorliegen kann,
Rolle von Einstellung und Motivation her- zeigt die Untersuchung von Ammon (1991) zu
aus. So stellt Gardner (1979) ein Modell vor, Motivationen australischer Deutsch-Studie-
bei dem systematisch zwischen monolingua- render.
len und bilingualen Umgebungen unterschie- Mit der Zeit wurde auch stärker die Frage
den wird. Dabei wird die Hypothese aufge- diskutiert, welche Beziehung zwischen Moti-
nommen, dass Faktoren wie Motivation und vation und Lernerfolg besteht. Gardner und
Angst (s. 2.4.) in monolingualen Umgebun- Lambert gingen bei ihren früheren Untersu-
gen größere Bedeutung haben als in bilingua- chungen davon aus, dass in höherer Motiva-
len. tion die Ursache für größeren Lernerfolg zu
Im deutschsprachigen Raum untersuchten sehen sei. Mittlerweile hat sich die Erkenntnis
u. a. Düwell 1979; Solmecke/Boosch (1981) durchgesetzt, dass auch eine Wechselbezie-
und Ammon (1991) motivationelle Aspekte hung zwischen Lernerfolg und Motivation be-
(vgl. auch Oxen 1995 sowie Riemer (1997). steht (Ellis 1994, 515; Larsen-Freeman/Long
Die Ergebnisse von Düwell (1979) zeigen, 1991, 183), Ebenso wie eine hohe Motivation
dass auch Zusammenhänge mit der schicht- den Lernprozess zu stimulieren vermag, kann
spezifischen Herkunft bestehen; bei Mittel- umgekehrt auch Lernerfolg dazu verhelfen,
schicht- und Oberschichtkindern wurde ein Motivation aufrechtzuerhalten und neue Mo-
höherer Motivationsgrad als bei Unter- tivationsarten zu schaffen. Umgekehrt kann es
schichtkindern festgestellt; zudem ist in nie- so auch eine negative Beeinflussung geben.
dereren Schulklassen ein höherer Motiva-
tionsgrad als in höheren Klassen gegeben. 2.2. Einstellung
Solmecke/Boosch (1981) untersuchen Mo- Als ein entscheidender Faktor zur Erklärung
tivation und Einstellung deutscher Englisch- von Erwerbserfolgen wird auch die Einstel-
lerner in der Schule und beim Bundesspra- lung von Lernern gegenüber der Zielsprache
chenamt. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass gesehen, d. h. insb. die Einstellung gegenüber
in Deutschland der Erwerb des Englischen den Zielsprachensprechern und der Zielspra-
vielfach rein instrumentell durch das Inter- chenkultur. Ähnlich wie bei Motivation han-
esse an einer ,lingua franca‘ motiviert ist. Vor delt es sich bei Einstellung um einen in sich
diesem Hintergrund konnten Solmecke/ sehr komplexen sozialpsychologischen Fak-
716 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

tor, der eine enge Verbindung mit soziokultu- können. Dabei sind die Ergebnisse jedoch
rellen Parametern aufweist. Boosch (1983) nicht immer eindeutig, da im Nachhinein je-
definiert ,Einstellung‘ als (positive oder nega- weils nachvollzogen werden konnte, dass ver-
tive) Affekte, die sich auf bestimmte Objekte schiedene Faktoren zusammenwirken (vgl.
beziehen und ,affektiv begründet‘ und ,kogni- hierzu auch Solmecke/Boosch 1981).
tiv repräsentiert‘ sind. In den frühen Studien Speziell mit dem deutschsprachigen Be-
von Gardner/Lamberg (1972) wurde Einstel- reich befassen sich Hermann (1980); Sol-
lung, ebenso wie Motivation, als eigenständi- mecke/Boosch (1983) und Kuhs (1989) (vgl.
ger Faktor, der Erwerbserfolge beeinflussen auch Ehlich 1981 und Ehlich 1986 sowie Am-
kann, bestätigt. Es gibt aber auch eine engere mon 1991). Hermann stellt bei der Untersu-
Verbindung zwischen den Faktoren Motiva- chung Englisch lernender Schulkinder nach
tion und Einstellung, wobei sich die Auffas- mehreren Unterrichtsjahren eine positivere
sungen über diesen Zusammenhang jedoch Einstellung fest als zu Beginn. Dies hat zu der
als Folge unterschiedlicher Untersuchungsbe- sog. ,Resultativ-Hypothese‘ geführt, nach der
funde verändert haben. Wurden beide Fakto- der Lernerfolg Rückwirkungen auf Motiva-
ren zunächst eher getrennt gesehen und un- tion und Einstellung haben kann. Solmecke/
tersucht (s. Gardner/Lambert 1972), so wird Boosch (1981) kommen in Einklang mit ihren
die Beziehung zwischen diesen Faktoren und Befunden zu der eher instrumentellen Moti-
die Korrelation mit Lernerfolgen später (s. viertheit dieser Lernergruppen (s. 2.1.) zu
Gardner 1979) als eine lineare kausale Bezie- dem Ergebnis, dass eine positive oder nega-
hung gesehen: Einstellung beeinflusst Moti- tive Einstellung zu den Zielsprachen und ih-
vation und Motivation beeinflusst Lerner- ren kulturellen Kontexten eine vergleichs-
folge. Andere Untersuchungen (so z. B. Oller/ weise geringe Rolle spielt. Kuhs (1989) unter-
Baca/Vigil 1977) wiederum konnten keinen sucht in Bezug auf den Einfluss sozialpsycho-
direkten Zusammenhang zwischen den Fak- logischer Faktoren beim Deutscherwerb grie-
toren Einstellung und Lernerfolg feststellen. chischer Migrantenkinder u. a. auch die Ein-
Larsen-Freeman/Long (1991, 177) erklären stellung zum Deutschen. Dabei kommt sie zu
diese widersprüchlichen Befunde damit, dass dem Ergebnis, dass die Sprachkompetenzen
sehr unterschiedliche Umgebungen und Per- nicht mit einzelnen sozialpsychologischen
sonengruppen untersucht wurden und auch Faktoren korrelieren, sondern vielmehr das
unterschiedliche soziale Kontexte die Ergeb- Beziehungsgefüge zwischen diesen Faktoren
nisse beeinflussen. bei der Erklärung von Erwerbserfolgen be-
Ebenso wie für Motivation wird mittler- rücksichtigt werden muss.
weile für Einstellungen angenommen, dass
eine Wechselbeziehung mit Lernerfolg be- 2.3. Empathie
steht. Die meisten empirischen Untersuchun- Empathie als Fähigkeit oder Möglichkeit,
gen haben das Phänomen ,Einstellung‘ als sich in andere Personen hineinzuversetzen
Haltung der Lerner gegenüber der Ziel- oder sich mit ihnen zu identifizieren, wurde
sprache und ihren Sprechern untersucht. Es insb. von Guiora und Mitarbeitern als ein
gibt jedoch weitere Dimensionen, in denen Faktor untersucht, der sich erwerbsfördernd
Einstellungen für Zweit- und Fremdspra- auswirken kann. Nach Guiora (1980) beruht
chenerwerb relevant werden können: Die die Fähigkeit zu Empathie auf ,Ergo-Perme-
Einstellungen der Eltern, die Einstellung der abilität‘. Die Entwicklung eines ,language
,Peer group‘, die Einstellung der Lerner ge- ego‘ kann beim Erlernen, und insb. beim
genüber der Lernsituation, die Einstellung Sprechen einer anderen Sprache, hinderlich
von Lehrern zu einzelnen Lernern oder be- sein, da Identitätsprobleme und im Falle defi-
stimmten Lerngruppen und die Einstellung zitären Sprachvermögens Regressionsgefühle
zur ethnischen Zugehörigkeit (Larsen-Free- auftreten können (vgl. hierzu auch Stölting
man/Long 1991, 177ff.). 1987). Bei der Überwindung dieser Gefühle
In Hinblick auf den Fremdsprachenunter- kann Ego-Permeabilität, d. h. die Fähigkeit,
richt und interkulturelle Erziehung erhebt die eigenen Grenzen zu überschreiten, hilf-
sich die Frage, inwiefern Einstellungen von reich sein und Empathie gegenüber Zielspra-
außen beeinflussbar sind. Diesbezüglich ka- chensprechern unterstützend bei der Über-
men Cziko (1979) und Genesee (1983) zu nahme von Sprachgewohnheiten und -eigen-
dem Ergebnis, dass Immersionsprogramme heiten anderer Personen oder Personengrup-
und bilinguale Maßnahmen auch Verände- pen wirken. Empirisch wurde der Zusam-
rungen in der Einstellung zur Folge haben menhang zwischen Empathiefähigkeit und
74. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess IV 717

fremdsprachlicher Leistung mit experimen- terschiedliche Untersuchungsergebnisse sind


talpsychologischen Versuchsanlagen verfolgt. auch hier großenteils wieder auf methodische
In früheren Studien (Guiora 1967) wurde zur Begrenzungen der Untersuchungsdesigns in
Messung der Empathiefähigkeit untersucht, Bezug auf die empirische Erfassung der Phä-
wie Versuchspersonen Veränderungen im Ge- nomene ,Angst‘ und ,Sprachfähigkeit‘ zurück-
sichtsausdruck von Experimentern wahrneh- zuführen. Es gibt jedoch eine Vielzahl von Ein-
men. Dabei wurde eine Korrelation mit ak- zelergebnissen, die für sich genommen auf-
kurater Aussprache in der Zielsprache (unter- schlussreich sind (für einen Überblick vgl. El-
sucht an Französisch-Lernern) festgestellt. In lis 1994, 479ff.; Larsen-Freeman/Long 1991,
weiteren Experimenten wurden Alkohol und 187f. und MacIntyre/Gardner 1991). So ver-
Benziodiazepine (Valium) eingesetzt, um die suchen MacIntyre/Gardner (1994) in einem
Empathiefähigkeit experimentell zu erhöhen. Experiment den Nachweis zu führen, dass sich
Diese Experimente und ihre Ergebnisse sind Angst negativ auf das Erlernen einer Fremd-
jedoch nicht unumstritten. So findet bsw. sprache auswirken kann. Nach den Untersu-
Schumann (1975) die Ergebnisse zu den Ex- chungen von Horwitz u. a. (1986) kann sich
perimenten mit Alkohol am überzeugend- Angst beim Zweitsprachenerwerb und im
sten: Mit dem Verabreichen kleinerer Mengen
Fremdsprachenunterricht in dreierlei Hinsicht
Alkohol konnte die fremdsprachliche Aus-
manifestieren: (1) Angst, die die Kommunika-
sprache positiv beeinflusst werden (Guiora
1972). Jedoch bleibt weiterhin ungeklärt, in- tionsbereitschaft betrifft, (2) Angst vor Prü-
wiefern auf diese Weise auch andere Bereiche fungssituationen im Fremdsprachenunter-
des Spracherwerbs positiv beeinflusst wer- richt, (3) Angst vor negativer Bewertung.
den können. Im Modell von MacIntyre und Gardner
(1989) ist die Beziehung von Angst und Spra-
2.4. Angst chenlernen in Abhängigkeit von den Ent-
Angst ist ein affektiver Faktor, der in ver- wicklungsstadien der Lerner und situations-
schiedener Hinsicht Auswirkungen auf den spezifischen Lernerfahrungen veränderlich.
Zweit- und Fremdspracherwerb haben kann; Demnach spielt Angst in verschiedenen Lern-
betroffen sein können sowohl der Erwerbs- phasen eine unterschiedliche Rolle. So wird
prozess als auch die Sprachproduktion und davon ausgegangen, dass Angst im Wesentli-
-rezeption. Besonders für den institutionali- chen auf negativen Erwartungen beruht, und
sierten Fremdsprachenunterricht hat sich ge- bei den ersten Erfahrungen in einer Fremd-
zeigt, dass Angst nicht selten ein bestimmen- sprache im Prinzip noch keine Rolle spielt.
der Faktor für Reaktionen der Lerner auf Erst wenn negative Erfahrungen gemacht
Unterrichtsphänomene ist. Bei der Erfor- werden, entwickelt sich ,foreign language
schung von Angst in Verbindung mit Zweit- anxiety‘, die dann mit zunehmender Sprach-
und Fremdspracherwerb kamen unterschied- fertigkeit wieder abnehmen kann (MacIntyre
liche konzeptionelle Vorstellungen des Phä- und Gardner 1989). Innerhalb dieses Modells
nomens „Angst“ zur Anwendung: (1) Angst ist auch erfassbar, dass wenig Können so-
als Disposition einer Person, zu Ängstlichkeit wohl der Grund als auch das Resultat von
zu neigen (,trait anxiety‘), (2) Angst als mo- Angst sein kann, und auch hier wiederum
mentaner Zustand in einer Situation (,state eine Wechselbeziehung besteht (s. hierzu ins-
anxiety‘), (3) Angst als Reaktion auf eine spe-
bes. Skehan 1989).
zifische Situation (,situation specific anxiety‘)
Mittlerweile setzt sich auch verstärkt die
(vgl. Scovel 1978; Spielberger 1983, sowie für
einen Überblick MacIntyre/Gardner 1991 Erkenntnis durch, dass sich Angst nicht nur
und Ellis 1994, 479ff.). MacIntyre/Gardner hemmend auswirken kann (vgl. hierzu auch
(1991) unterscheiden darüber hinaus allge- Apeltauer 1996). So hat bereits Scovel (1978)
meine Ängstlichkeit und kommunikative den Unterschied zwischen fördernden und
Ängstlichkeit. Untersuchungsleitend in Be- hemmenden Effekten von Angst (,facilitating‘
zug auf Probleme des Zweit- und Fremd- vs. ,debilitating‘) in seinen Überlegungen auf-
spracherwerbs war vor allem das Konzept si- gegriffen. Williams (1991) sieht eine Verbin-
tuationsspezifischer Angst. dung zwischen diesen beiden Arten von
Die verschiedenen Studien, die der Frage Angst und der Intensität von Angst: So kann
nachgehen, welche (negative) Verbindung zwi- relativ geringe Angst förderlich für die Erfül-
schen Angst und Erwerbserfolg besteht, erge- lung bestimmter Aufgaben sein, starke Angst
ben jedoch kein sehr einheitliches Bild. Un- kann sich dagegen hemmend auswirken.
718 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

2.5. Der ,affektive Filter‘ reits angesprochen, dass konzeptionell schon


Krashen (1982) hat versucht, in seinen Aus- sehr unterschiedliche Vorstellungen leitend
führungen zu Problemen des Fremdsprachen- für Studien in diesen Bereichen waren. Diese
lernens und -erwerbens im Bild eines ,affekti- Vorstellungen gehen mehr oder weniger di-
ven Filters‘ das Zusammenspiel verschiedener rekt in die Versuchsanlagen ein. Von grundle-
affektiver Faktoren nachzuvollziehen. Dieser gender Bedeutung ist daher die konzeptio-
Vorstellung entsprechend funktioniert der af- nelle Definition des Untersuchungsgegen-
fektive Filter folgendermaßen: Wenn die Mo- stands bzw. der Variable.
tivation von Lernern niedrig, die Selbstein- Kennzeichnend für den gesamten Untersu-
schätzung niedrig und gleichzeitig Angst vor- chungsbereich ist, dass in den meisten Stu-
handen ist, wird der Spracherwerb bzw. das dien eine Vielzahl von Verfahren und Tests
Sprachenlernen durch den affektiven Filter kombiniert wird. So wurden bereits bei den
beeinträchtigt (,the filter is up‘), was dazu in Gardner/Lambert (1972) dargestellten Stu-
führt, dass verfügbarer Input nicht als Intake dien umfangreiche ,Test-Batterien‘ eingesetzt:
aufgenommen wird. Wenn Motivation und • Die sog. ,matched-guise Technik‘, bei der
Selbstvertrauen der Lerner dagegen hoch bilinguale Sprecher einen Text in zwei
sind und wenig Angst vorhanden ist, ist der Sprachen vorlesen. Die Probanden werden
Filter nicht wirksam (,the filter is down‘); re- dann zu ihren Vorstellungen und Einschät-
levanter Input wird zu Intake und fördert so- zungen der vermeintlich unterschiedlichen
mit den Spracherwerb. Personen verschiedener Kulturkreise be-
Schumann (1994) greift diese Modellvor- fragt. Auf der Basis dieser Antworten er-
stellung auf und versucht die Rolle von Af- folgt dann ein ,Ranking‘, nachdem Spre-
fekten für den Zweitspracherwerb neurophy- chereinstellungen skaliert werden.
siologisch nachzuvollziehen. Der affektive • Eine Präferenzskala zur Ermittlung von
Filter wird bewusst reduktionistisch als ein Vorlieben in Bezug auf verschiedene Kul-
System von Präferenzen und Aversionen be- turen bzw. Kulturmitglieder.
stimmt, mit dem auf bestimmte Stimuli rea- • Die ,California F-Scale‘ (,Form 40 und
giert wird, die einen Bezug zu Erfahrungen 50‘), wie sie von Adorno und Mitarbeitern
mit der Zielsprache, ihrer Kultur und ihren entwickelt wurde, zur Erfassung ethnozen-
Sprechern aufweisen. Schumann beruft sich tristischer Einstellungen (vgl. Lambert
hierbei auf Studien, nach denen entschei- u. a. 1972).
dende Prozesse der alltäglichen Stimulusver-
arbeitung erst während des Schlafes in der Für eine Faktorenanalyse werden sodann die
Phase des ,rapid-eye-movement‘ stattfinden. Beziehungen zwischen den einzelnen Varia-
Auf Grund dieser Untersuchungen gelangt blen als Korrelationen erfasst.
Schumann in Bezug auf die in der Vorstel- Solmecke/Boosch (1981) setzen u. a. fol-
lung des affektiven Filters implizierte Idee des gende Verfahren bei ihren Untersuchungen
Zusammenwirkens von Affekt und Kognition ein:
zu dem Ergebnis, dass aus neurophysiologi- • Die ,Mehrabian-Skala‘ zur Motivations-
scher Sicht Affekt und Kognition zwar unter- messung; ein Verfahren, das im Unter-
scheidbar, aber untrennbar miteinander ver- schied zu Gardner/Lambert stärker lei-
bunden seien. Dabei könnten weder Affekt stungsmotiviert konzpiert ist.
noch Kognition als über- oder untergeordnet • Befragungstechniken in Anlehnung an
angesehen werden. Gardner/Lambert zur Ermittlung von in-
strumenteller bzw. integrativer Orientie-
3. Methodologische Probleme rung.
• Einen Intelligenztest.
Wie bereits mehrfach deutlich wurde, weist • Einen Cloze-Test und Hörverstehensübun-
die empirische Untersuchung affektiver Va- gen zur Erfassung von fremdsprachlichen
riablen besondere Schwierigkeiten auf, da Leistungen.
Gefühle und Einstellungen nur indirekt er- Als verbreitete Tests im Motivations- und
fasst werden können. Von daher kommt me- Einstellungsbereich sind des Weiteren der
thodischen Überlegungen eine besondere Be- AMI und der MLAT zu nennen:
deutung zu.
In Bezug auf die Phänomene Motivation, • Der ,AMI‘ (⫽ Attitude Motivation Index)
Einstellung, Empathie und Angst wurde be- (s. Gardner 1985 und Edmondson/House
74. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess IV 719

1991) beinhaltet u. a. Komponenten wie befasst. Diesbezüglich dürfte auch im Ver-


die Einstellung zur Zielsprache, integrative gleich zu den anderen affektiven Faktoren ein
und instrumentelle Orientierung, Angst so- höherer Bewusstheitsgrad bei Praktikern be-
wie subjektive Einschätzungen des Unter- stehen. Viele Studien zur Bedeutung affekti-
richts. ver Variablen haben aber gezeigt, dass Unter-
• Der MLAT (⫽ Modern Language Apti- richtsphänomene gerade auch in Hinblick
tude Test) beinhaltet verschiedene Kompo- auf Angst und Einstellung eine entscheidende
nenten, die auf die Fähigkeit abzielen, ⫺ und nicht immer positive ⫺ Auswirkung
phonetisches Material zu kodieren, gram- haben. Sofern die festgestellten Korrelationen
matische Funktionen zu erkennen, Wort- zwischen diesen Faktoren und Lernerfolg zu-
assoziationen zu lernen und Regeln aus treffen, können dem Fremdsprachenunter-
verschiedenen Kontexten abzuleiten (s. richt relativ weitgehende Einflussmöglichkei-
auch Schumann 1975 sowie Gardner/Lam- ten zugeschrieben werden (vgl. hierzu auch
bert 1972, 25ff.). die Verortung affektiver Variablen im Struk-
Die Untersuchungen von MacIntyre (1994) turogramm für das Fach Deutsch als Fremd-
und Guiora (1972; 1980) zu Angst und Empa- sprache von Henrici 1995). Die verschiedenen
thie zeigen, wie in experimentellen Untersu- Untersuchungen zeigen, dass diesbezüglich
chungsdesigns versucht wird, durch Verabrei- praktisch alle Bereiche des Fremdsprachen-
chen von chemischen Stoffen oder Einsetzen unterrichts bedeutsam sind: Die Gestaltung
von Stress-erzeugenden Faktoren affektive der Lernsituation, die Unterrichtsplanung,
Variablen zu manipulieren (vgl. hierzu auch die Möglichkeit zur Mitwirkung an Lernpro-
Schumann 1975 und MacIntyre/Gardner 1989 zessen, die Lehrer-Schüler-Beziehung, die
sowie Ellis 1994, 479ff. für einen Überblick so- Präsentation von Lehr- und Übungsmateria-
wie 2.3. und 2.4.). Schumann (1994) macht lien (als Hinweise für praktische Anwen-
Vorschläge, wie z. B. Schlafforschung und dungsmöglichkeiten vgl. bsw. Börsch 1986
Traumdeutung in Hinblick auf neurophysio- und König 1994).
logische Aspekte aufgegriffen werden könn- Unzufriedenheit mit traditionellen Unter-
ten. richtsmethoden hat seit den 70er Jahren zu
Ellis (1994) kommt bei der Erörterung von einer verstärkten Entwicklung und Verbrei-
Problemen der Empirie zu dem Schluss, dass tung von alternativen Methoden geführt, die
vor allem bewusste Methodenkombinationen sich vielfach auch dadurch auszeichnen, dass
von quantitativen und qualitativen Verfahren affektive Komponenten verstärkt angespro-
der komplexen Beziehung zwischen den ver- chen werden (z. B. die suggestopädische und
schiedenen Variablen gerecht werden. Lar- die psychodramaturgische Methode) (für ei-
sen-Freeman/Long 1991 weisen darüber hin- nen Überblick vgl. Dietrich 1989). Dabei
aus darauf hin, dass insb. die Frage nach werden affektive Komponenten nicht nur
Kausalitäten oder Wechselbeziehungen zwi- von solchen Methoden angesprochen, die ge-
schen den einzelnen Faktoren besonderer zielt an Emotionen ansetzen, sondern auch
Aufmerksamkeit bei methodischen Überle- solche Methoden, die eher interaktiv und in-
gungen bedarf. terkulturell orientiert sind (wie z. B. Tuto-
ring- und Tandemprogramme) zeigen, dass
der direkte Kontakt mit Zielsprachenspre-
4. Konsequenzen für die Praxis chern und eine positiv erlebte persönliche Be-
Bereits in Verbindung mit den Ausführungen ziehung motivierend und lernfördernd erfah-
zu Motivation, Einstellung und Angst wurde ren werden können (vgl. hierzu Rost-Roth
mehrfach deutlich, dass die Rahmenbedin- 1995, 31ff. und Herfurth 1993). Auch für
gungen des Fremdsprachenunterrichts und Austausch- und Immersionsprogramme wur-
Unterrichtsphänomene den Komplex der Af- den positive Auswirkungen auf Motivation
fekte in besonderer Weise determinieren und und Einstellungen festgestellt (vgl. Solmecke/
spezifische Probleme aufwerfen können Boosch 1981, 16f.).
(s. Gardner/Lambert 1972; Solmecke/Boosch Zusammenfassend kann festgehalten wer-
1981; Horwitz/Young 1991 sowie die Ausfüh- den, dass die Korrelation von Unterrichts-
rungen von Solmecke 1983 und Apelt 1986). phänomenen und affektiven Variablen nicht
Traditionell hat sich die Fremdsprachendi- nur als eine Gefahr gesehen werden sollte,
daktik vor allem mit der Frage nach der Mo- sondern auch bewusst als Chance wahrge-
tivation und der Motivierbarkeit von Lernern nommen werden kann, beim gesteuerten
720 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

Spracherwerb Lernprozesse und Lernerfolge Bedeutung für Zweit- und Fremdspracher-


durch Unterrichtskonzeptionen und -maß- werbsprozesse erfassen könnte. Im Vorder-
nahmen positiv zu beeinflussen. grund der empirischen Forschung steht
bisher die Frage nach dem Zusammen-
hang von affektiven Variablen und Lerner-
5. Fazit
folgen. Dies begründet sich aus dem über-
Die hier resümierten Untersuchungen lassen geordneten Untersuchungsinteresse, indi-
erkennen, dass affektive Variablen entschei- viduelle Variation durch sozialpsychologi-
denden Einfluss auf den Zweit- und Fremd- sche Faktoren und speziell affektive Fak-
spracherwerb haben können. Die Forschung toren zu erklären. Darüber hinaus ist aber
ist dabei vorrangig der Frage nach Korrela- vor allem auch die Frage von Bedeutung,
tionen zwischen den einzelnen affektiven Va- inwiefern affektive Variablen den Prozess
riablen und Lernerfolgen nachgegangen. Bei des Erwerbs und den Erwerbsverlauf be-
der Frage nach dem Ursache-Wirkungs-Ver- einflussen. Gerade hier zeichnen sich inter-
hältnis zwischen diesen Faktoren hat sich in essante Untersuchungsperspektiven ab, die
den einzelnen Untersuchungsbereichen her- letztendlich auch zur Klärung beitragen
ausgestellt, dass es sich im Allgemeinen nicht können, welche Teilbereiche des Sprachsy-
um eine einseitige Determinierung handelt, stems und der Pragmatik im Einzelnen be-
sondern vielmehr eine Wechselbeziehung an- troffen sind.
zunehmen ist. In Hinblick auf das Zusam-
menwirken der verschiedenen affektiven Fak- Literatur in Auswahl
toren und ihrer Auswirkungen auf den Zweit-
und Fremdsprachenerwerb sind jedoch noch Ammon, Ulrich (1991): Studienmotive und Deutsch-
viele Fragen ungeklärt und haben bislang landbild australischer Deutschstudenten und
auch noch wenig Beachtung gefunden. Des- -studentinnen. Stuttgart.
halb sollen abschließend einige Probleme der Apelt, Walter (1986): Tendenzen und Erkenntnisse
referierten Forschungsansätze resümiert wer- der Motivationsforschung. In: Deutsch als Fremd-
den: sprache 23, 24⫺29.
Apeltauer, Ernst (1996): Spracherwerb. Zur Aneig-
• Die Untersuchung affektiver Variablen ist nung von ersten und fremden Sprachen. Erprobungs-
in starkem Maße abhängig von der Defini- fassung. GhK Fernstudienangebot Germanistik,
tion des Untersuchungsgegenstandes. Be- Deutsch als Fremdsprache. München.
griffe wie Motivation, Einstellung, Empa- Baker, Charlotte (1992): Attitudes and language.
thie und Angst sind terminologisch un- Clevedon.
scharf und ihre Operationalisierung für em- Bausch, Karl-Richard u. a. (Hg.) (1989): Handbuch
pirische Untersuchungen impliziert weit- Fremdsprachenunterricht. Tübingen.
reichende definitorische Festlegungen. Von Boosch, Alwin (1983): Motivation und Einstellung.
daher muss gerade auch im Vorfeld empiri- In: Gert Solmecke (Hg.), 21⫺56.
scher Untersuchungen kritisch reflektiert Börsch, Sabine (1986): Some ideas concerning the
werden, aus welchen Komponenten sich emotional dimension of foreign language learning.
diese komplexen Variablen zusammenset- In: Gabriele Kasper (Hg.): Learning, teaching and
zen. communication in the foreign language classroom.
• Die Erfassung von Lernerfolgen stellt in Aarhus, 71⫺81.
vielen Untersuchungen einen wichtigen Brown, Douglas H. (1977): Cognitive and affective
Bezugspunkt für die Korrelation mit affek- characteristics of good language learners. In: C. A.
tiven Faktoren dar. Allerdings mutet die Henning (Hg.): Proceedings of the Los Angeles Sec-
Erfassung von Lernerfolgen oft willkürlich ond Language Research Forum. Los Angeles,
349⫺353.
an. Hier müsste stärker beachtet werden,
welche Fertigkeitsbereiche und Teilkompe- ⫺ (1976): Affektive Variablen des Zweitsprachener-
werbs. In: Gert Solmecke (Hg.), 70⫺84.
tenzen (mündlich vs. schriftlich, produktiv
vs. rezeptiv) jeweils berührt werden, und Clément, Richard; Bastian G. Kruidnier (1983):
Orientations in second language acquisition. 1. The
welche situativen und pragmatischen Kon- effects of ethnicity, milieu, and target language on
texte betroffen sind, denn auch Sprachver- their emergence. In: Language Learning 33,
mögen stellt in sich eine sehr komplexe Va- 273⫺291.
riable dar. Cziko, G.; Wallace Lambert; R. Gutter (1979):
• Noch fehlt eine empiriegestützte Theorie, French immersion programs and students’ social
die die verschiedenen affektiven Faktoren attitudes; a multidimensional investigation. In:
in ihrem Zusammenwirken und in ihrer Working Papers on Bilingualism 19, 13⫺28.
74. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess IV 721

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75. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess V:


Sozioökonomische, politische, soziokulturelle und andere
Umgebungsvariablen

1. Einleitung sprachenerwerbsforschung wahrgenommen


2. Soziale Faktoren wurden, in erster Linie in ihrer Funktion be-
3. Foreigner-Talk trachtet, dass sie den Spracherwerb ganzer
4. Formelle und informelle Lernbedingungen Gruppen von Lernern, z. B. Einwandererko-
5. Literatur in Auswahl
lonien aus bestimmten Herkunftsländern,
kollektiv beeinflussen, und somit wurden
1. Einleitung diese Lernergruppen verglichen, indem so-
ziale Merkmale statistisch erfasst und in Be-
Umgebungsvariablen, vor allem soziale Fak- ziehung zueinander gesetzt wurden. Und
toren, wurden in den 70er Jahren und Anfang auch in Fallstudien wurde das Individuum
der 80er Jahre, als sie verstärkt von der Zweit- nicht so sehr als Individuum, sondern eher
75. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess V 723

als mehr oder weniger typischer Vertreter ei- Ausgangspunkt bildet Schumanns „Pidgini-
ner Gruppe betrachtet, der relativ stabile so- sierungshypothese“, die auf einer Fallstudie
ziale Variablen zugeordnet werden können. (Schumann 1975; 1976a; 1976b) aufbaut: Die
Doch bereits Schumann (1978a) integriert in Lernersprache eines 33-jährigen immigrierten
sein Modell über den Einfluss sozialer Bedin- Arbeiters aus Puerto Rico in den USA ⫺ Schu-
gungen psychologische Faktoren als bedeu- mann nennt ihn Alberto ⫺ wurde während ei-
tende Einflussgrößen, allerdings noch ohne ner 10-monatigen Periode untersucht; dabei
Genaueres über das Zusammenwirken beider wurde festgestellt, dass sie auf einer niedrigen
Faktorenkomplexe unter den sozialen Bedin- Stufe, die durch funktionale und strukturelle
gungen der Lernsituation zu sagen. Durch Reduktionen gekennzeichnet war, stagnierte
umfangreiche empirische Untersuchungen ist ⫺ der Lerner machte keine wesentlichen Fort-
man im Laufe der Zeit zu immer besseren schritte. Schumann (1976b) sprach von einer
Kenntnissen über die Ausprägung von sozia- Pidginisierung und verglich somit die Lerner-
len/soziokulturellen Faktoren ⫺ zusammen sprache mit einer Pidginsprache, d. h. einer
mit anderen, v. a. affektiven Faktoren ⫺ in simplifizierten Sprache, die von Sprechern
der sozialen Interaktion und im Umgang mit verschiedener Ausgangssprachen als Verstän-
der Zielsprache gelangt und auf ihnen auf- digungsmittel für eng umgrenzte Kontakte be-
bauend wurden immer differenziertere Theo- nutzt wird. Diese Analogie blieb nicht unwi-
rien entwickelt. Die weitere Erforschung die- dersprochen (zur Kritik vgl. z. B. Meisel 1975;
ser Zusammenhänge stellt heute größte An- s. a. Andersen 1979).
forderungen an die Theorienbildung und die Bei einer möglichen Weiterentwicklung
Forschungsmethodologie. einer Lernersprache vergleicht Schumann
Ein weites Feld für die Forschung bietet (1978b) die späteren Phasen der fortschrei-
vor allem die Untersuchung des Zweitspra- tenden Annäherung an die Zielsprache mit
chenerwerbs in Kommunikationssituationen, Depidginisierungs- bzw. Decreolisierungs-
die aus bestimmten sozialen Strukturen her- prozessen, d. h. der allmählichen Entwick-
vorgehen, diese aber auch konstruieren, und lung der Pidgin- bzw. Creolsprache hin zur
damit zusammenhängend Fragen wie z. B., ursprünglichen Ausgangssprache, wenn Kon-
mit welchen Strategien Lerner das Rederecht takte zu Zielsprachensprechern intensiviert
erlangen, wie sie mit Foreigner-Talk umge- werden.
hen, unter welchen Bedingungen eine gleich- Findet der Prozess der Fortentwicklung
rangige und fruchtbare Verständigung mit nicht statt ⫺ wie im Fall von Alberto ⫺
Muttersprachlern stattfindet usw. Den Ler- nimmt Schumann als entscheidenden Grund
nern wird dabei mehr und mehr eine aktive ⫺ als erstes Glied einer Kausalkette ⫺ soziale
Rolle zugestanden. Distanz an; sie führt zu eingeschränkten
Die Ergebnisse dieser Forschung sind so- Kontakten mit Angehörigen der Zielspra-
wohl für didaktische Entscheidungen interes- chenkultur, behindert dadurch den Zugang
sant, als auch für politische und verwaltungs- zum zielsprachlichen Input und damit den
technische Maßnahmen, etwa in Bezug auf Erwerb.
Wohn- und Lern-/Arbeitsbedingungen von Zur genauen Bestimmung der sozialen Di-
Migranten oder anderen Lernergruppen in stanz zwischen zwei Gruppen führt Schu-
Deutschland ⫺ man denke z. B. an ausländi- mann (1976a; 1978a) verschiedene Faktoren
sche Studierende ⫺ und deren sozialpädago- an. Eine geringe soziale Distanz und dadurch
gische und sprachliche Betreuung. Die di- eine für den Erwerb günstige Situation liegt
rekte Steuerung von sozialen Lernbedingun- ⫺ bezüglich des Integrationsmusters ⫺ bei
gen in Form von Programmen zur sprachli- Assimilation oder zumindest bei der Adapta-
chen Eingliederung wird im letzten Abschnitt tion der L2-Gruppe (L2 ⫽ Language 2/
angesprochen. Zweitsprache) an die L1-Gruppe (L1 ⫽ Lan-
guage 1/Muttersprache) vor ⫺ im Unter-
schied zur Preservation, bei geringer Ge-
2. Soziale Faktoren schlossenheit der Gruppe hinsichtlich der so-
zialen Institutionen, sowie bei geringer Kohä-
2.1. Einfluss auf den Sprachstand sion und Gruppengröße, bei einer hohen
Eines der einflussreichsten und bekanntesten Kongruenz beider Kulturen, einer positiven
Modelle zur Bedeutung von sozialen Faktoren Einstellung der L2-Gruppe gegenüber der
für den Zweitsprachenerwerb ist die „Akkul- L1-Gruppe und einer möglichst langen Blei-
turationshypothese“ von John Schumann. beabsicht der L2-Gruppe. Als Beispiel für
724 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

eine positive Erwerbssituation nennt Schu- Migranten in der BRD hin (Isolation in
mann (1976a) den Erwerb der hebräischen Wohnheimen, geringe Kontakte zu Deut-
Sprache durch amerikanische jüdische Ein- schen).
wanderer in Israel, als eher negative Situation Weitere wichtige Studien über den Einfluss
mit großer sozialer Distanz führt er u. a. den von sozialen Faktoren wurden von Keim
Englisch-Erwerb lateinamerikanischer Arbei- (1978; 1984), Biehl (1983), Röhr-Sendlmeier
ter in den USA (Dominanz der Zielsprachen- (1985) und Kuhs (1989) durchgeführt. Keim
gruppe) sowie den Erwerb des Arabischen (1984) untersuchte die Lernersprache türki-
durch Amerikaner, die in Saudi-Arabien le- scher Immigranten und stellte fest, dass vor
ben (Dominanz der L2-Gruppe), an. allem „innere Faktoren“ wie Bleibe- und
In einer Ausweitung seines Modells zum Rückkehrabsicht, emotionale Bindungen, Er-
Akkulturationsmodell (1978a) integriert fahrungen mit der deutschen Lebenswelt für
Schumann psychologische Faktoren: Sprach- ihre zweitsprachliche Entwicklung von Be-
schock, Kulturschock, Motivation und Ego- deutung waren. Biehl (1983), Röhr-Sendl-
Durchlässigkeit; diese seien dann ausschlag- meier (1985) und Kuhs (1989) interessierten
gebend für den Erfolg des Erwerbs, wenn die sich für den Deutscherwerb von türkischen
soziale Distanz nicht eindeutig sei, könnten bzw. griechischen Migrantenkindern. In der
aber auch den Effekt einer geringen oder gro- Studie von Biehl erwiesen sich, im Gegensatz
ßen sozialen Distanz aufheben. zu anderen Variablen, Kontakte und Akkul-
Untersuchungen zur empirischen Über- turationstendenzen als unbedeutend, wäh-
prüfung des Modells ergeben widersprüch- rend Röhr-Sendlmeier positive Einflüsse von
liche Ergebnisse. Die Ergebnisse der Fall- außerschulischen Kontakten mit deutschen
studien und quantitativen Querschnittsstu- Gleichaltrigen und Erwachsenen nachweisen
dien bestätigten zum Teil mehr oder weniger konnte. Kuhs (1989) analysierte schriftliche
das Modell (z. B. Maple 1982; Svanes 1987; Texte griechischer Migrantenkinder und stell-
Lallemann 1987), teilweise wichen sie erheb- te u. a. fest, dass Kinder mit quantitativ gu-
lich von Schumanns Voraussagen ab (z. B. ten Kontakten zu Deutschen und positiven
Schmidt 1983; Kelley 1982; Stauble 1981), oft Einstellungen (vgl. Art. 76) expansivere bzw.
waren die Ergebnisse aber nicht eindeutig in- variationsreichere Texte verfassten.
terpretierbar (vgl. Schumann 1986). Proble- Jeon (1996) untersuchte die sozialen Be-
matisch ist, dass das Modell von Schumann dingungen von koreanischen Immigranten in
auf Grund der vielen, kaum quantifizierbaren Deutschland, v. a. Krankenschwestern und
und zudem einander beeinflussenden Fakto- Firmenangestellten, und konstatiert, dass der
ren nicht wirklich falsifizierbar ist. Beherrschungsgrad der deutschen Sprache
Eine bedeutende Studie, die auch Schu- seiner Informanden ihren unterschiedlichen
mann als Evidenz für sein Modell anführt Assimilierungsgrad in der fremdsprachlichen
(Schumann 1978a), ist das Heidelberger Pro- Gemeinschaft widerspiegelt.
jekt Pidgin-Deutsch (kurz: HPD) einer For-
schergruppe unter der Leitung von Norbert 2.2. Einfluss auf die Erwerbsprozesse
Dittmar (HPD 1977), in dem der unge- In einer sehr ambitionierten und vielbeachte-
steuerte Erwerb von 48 italienischen und spa- ten Untersuchung, dem Wuppertaler ZISA-
nischen Einwanderern in Deutschland unter- Projekt, wurden in einer Querschnittsstudie
sucht wurde. der ungesteuerte Zweitspracherwerb von 45
In der Querschnitt-Studie wurde der jewei- erwachsenen italienischen, portugiesischen
lige Sprachstand zu verschiedenen sozialen und spanischen Arbeitern untersucht (Clah-
Variablen, die mit Hilfe von Interviews und sen/Meisel/Pienemann 1983). In den For-
teilnehmenden Beobachtungen ermittelt wur- schungen in der Tradition des Akkultura-
den, in Beziehung gesetzt. Es ergab sich, dass tionsmodells oder des Heidelberger Projekts
die Länge des Aufenthaltes nur während der wird der Zweitsprachenerwerb als linear ab-
ersten zwei Jahre eine Rolle spielte, danach laufender Prozess betrachtet, d. h. als Durch-
beeinflussten vor allem der Kontakt zu Deut- laufen eines Lernersprachenkontinuums von
schen während der Freizeit und der Arbeit, einer simplifizierten Anfangsvarietät über
das Alter bei der Immigration, die Qualität Zwischenstadien in Richtung Zielsprache. In
der Ausbildung im Heimatland und die dem ZISA-Projekt findet eine weitere Dimen-
Länge der Schulbildung den Spracherwerb. sion Berücksichtigung, denn die Forscher
Die Autoren wiesen auf die insg. problemati- fanden beträchtliche Variationen innerhalb
sche soziale und sprachliche Situation von eines Erwerbsstadiums, hervorgerufen durch
75. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess V 725

unterschiedliche Simplifizierungsstrategien. drucksweise dieser Gruppe, signalisiert wird


D. h. auf jeder Erwerbsstufe (⫽ vertikale oder aber eine Abgrenzung durch Divergenz-
Dimension) ist eine Variation möglich ent- prozesse, d. h. der Betonung unterscheiden-
lang eines Kontinuums, das von einer restrik- der sprachlicher Merkmale. Erfolgreicher
tiv simplifizierten Varietät, gekennzeichnet Zweitspracherwerb wird durch Konvergenz-
durch Strategien wie z. B. Tilgungen von Ko- prozesse über einen langen Zeitraum hinweg
pula oder Funktionswörtern, bis hin zur („long term convergence“) erreicht, wobei
Standardvarietät reicht (⫽ horizontale Di- das Niveau des Sprachstandes die Motivation
mension). zur Annäherung widerspiegelt.
An Hand von soziolinguistischen Inter- Ebenfalls ein dynamisches und außerdem
views wurden Sozialdaten, Einstellungen und zugleich ein zyklisches Modell, das „Socio-
Orientierungen ⫺ als Resultat politisch-öko- educational Model“ wurde von R. Gardner
nomischer, sozialer und kultureller Bedin- (Gardner 1985; Gardner/MacIntyre 1993)
gungen ⫺ erfasst. Die Ergebnisse umfassen- entwickelt. Die Besonderheit dieses Modells
der statistischer Analysen ergaben, dass stark ist, dass es anders als die kausalen Modelle
restriktiv simplifizierende Lerner eher eine se- von Schumann (1978a) oder Clahsen/Meisel/
gregative Orientierung und eine einseitige Pienemann (1983) (zur Kritik s. McLaughlin
Einstellung gegenüber der deutschen Kultur 1987) auch resultative Schlüsse zulässt; d. h.
aufweisen. Sie verfügten insgesamt über eine dass die Lernergebnisse auf die Einstellung
eher geringe Qualifikation, waren weniger an rückwirken und diese positiv oder negativ be-
einem sozialen Aufstieg interessiert, betrach- einflussen können. Es integriert zahlreiche
teten den Aufenthalt in Deutschland als vor- empirische Befunde verschiedener Forscher
übergehend und zeigten eine geringere Bin- über den Einfluss von individuellen Faktoren
dung an die deutsche Umgebung bezüglich auf den Spracherwerb. Der alle anderen Va-
der Wohnsituation, z. B. der Kontakte zu riablen überragende und beeinflussende Fak-
Nachbarn. tor ist das soziokulturelle Milieu. Ellis (1994)
Ein weiteres großes Projekt, das Essener kritisiert, dass der genaue Zusammenhang
Projekt „Sprachliche Integration von Aus- zwischen dem soziokulturellen Milieu und
siedlern“ (ESA) von Rupprecht S. Baur, den übrigen Faktoren unklar bleibt (zur wei-
Christoph Chlosta und Klaus Wölz (s. Kurz- teren Kritik s. auch Au 1988).
beschreibung in Meng 1995b) nimmt Anre-
gungen aus dem HPD-Projekt und dem 2.3. Soziale und individuelle Faktoren
ZISA-Projekt auf. An Hand unterschiedlicher In einigen neueren Ansätzen der Forschung
Erhebungsmethoden sprachlicher Daten wur- zu sozialen Faktoren steht der individuelle
den außer Sequenzen des Spracherwerbs Lerner im Mittelpunkt, wobei die Zugehörig-
auch herkunftsbedingte Fehler erfasst. Unter- keit zu einer Gruppe und der größere soziale
sucht wird u. a. der Einfluss des Sprachkurses Kontext im Wechselspiel mit anderen, sich
sowie psychosoziale Faktoren. Erste Ergeb- gegenseitig beeinflussenden Faktoren be-
nisse zeigen, dass Kontakte zu Deutschen trachtet wird. So untersuchte Riemer (1997)
und die „integrative Motivation“ (vgl. Art. zur Verifizierung ihrer „Einzelgänger-Hypo-
74) den Deutscherwerb beeinflussen. these“ in drei Fallanalysen ⫺ die Probanden
In Querschnittsstudien können sozialpsy- waren Deutsch-Lerner, die zur Vorbereitung
chologische Faktoren, wie es auch die Akkul- ihres Studiums universitäre Sprachkurse be-
turationshypothese nahelegt, lediglich als sta- suchten ⫺ das jeweils lernerspezifische Zu-
bile Größen behandelt werden. Dahingegen sammenwirken von lernerendogenen Fakto-
entwickelten Howard Giles und seine Coau- ren, wie subjektiven Lerntheorien und lerner-
toren (z. B. Giles/Byrne 1982; Beebe/Giles exogenen Faktoren, z. B. soziale Herkunft
1984) eine dynamische Theorie, die Akkomo- oder Kontakt sowie Unterricht, Interaktion
dationstheorie, um zu zeigen, wie die Sprach- und die individuelle Verarbeitung von Input
verwendung von Angehörigen einer Gruppe und Output.
ihre variablen sozialen und psychologischen Bonny Norton Peirce (1995) untersuchte in
Einstellungen reflektiert. Der Sprachstil kann einer einjährigen Longitudinalstudie an Hand
demnach als wichtiges Mittel zum Ausdruck von Interviews, Tagebüchern und Frage-
von ethnischer Identität dienen, indem die bögen, unter welchen Bedingungen ihre Pro-
Zugehörigkeit zu einer Gruppe durch Kon- bandinnen, Immigrantinnen aus unterschied-
vergenzprozesse, d. h. eine Annäherung des lichen Herkunftsländern in Kanada, den Zu-
eigenen Sprachstils an die sprachliche Aus- gang zu sozialen Netzwerken der Zielkultur
726 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

als Gelegenheit zur Sprachpraxis ausnutzten tinnen, die eine typische Gastarbeiterbiogra-
oder schufen. In den theoretischen Grundla- phie einerseits und weit entwickelte deutsche
gen dieser Studie geht es ihr darum, die Sprachfertigkeiten andererseits aufweisen,
künstliche Trennung zwischen dem Indivi- mit Hilfe der Entwicklung ihrer Zweitspra-
duum und der sozialen Umgebung, wie sie chenkompetenz ihren Handlungsspielraum
vielen Ansätzen zugrunde liege, aufzuheben. erweitern bzw. die Abhängigkeiten türkischer
Das Individuum sei auch Subjekt, nicht nur Frauen überwinden konnten. Integrations-
Objekt der sozialen Situation ⫺ es ist an der verlauf und der Erwerb des Deutschen hän-
Konstruktion des sozialen Lernkontextes be- gen demnach unmittelbar zusammen und be-
teiligt. Die soziale Identität beschreibt Peirce dingen sich gegenseitig (ebd. S. 263). Die In-
als vielfältig und veränderlich ⫺ sie wird in formantinnen konnten durch ihre Mittler-
verschiedenen Rollen produziert, gegebenen- funktion für die relativ geschlossene türki-
falls erkämpft. Positionen können verweigert, sche Einwandererkolonie, durch ihre Beteili-
andere gefordert werden. Die Gelegenheit gung an der Interessenartikulation und -ver-
zum Sprechen ergibt sich in sozialen Struktu- tretung der türkischen Minderheit einen
ren und Machtverhältnissen, die in der Inter- besonderen Status erlangen.
aktion ausgehandelt werden. Affektive Varia- Biographische Forschung spielt auch in
blen, auf widersprüchliche Weise im Indivi- dem „Mannheimer Projekt“ (Meng 1995a)
duum koexistierend, sind oft sozial konstru- eine wichtige Rolle, um den „Prozeß der
iert und verändern sich in Raum und Zeit sprachlichen Integration von Aussiedlern in
(ebd. S. 15). Integrationsmuster und Einstel- die deutsche Gesellschaft zu dokumentieren,
lung sollten nicht als fest und statisch be- Verlaufsvarianten zu ermitteln und aus lin-
trachtet werden ⫺ sie fluktuieren in Einklang guistischer Perspektive zu beschreiben sowie
mit der sozialen Erfahrung, wie Peirce in diese aus den Vorgeschichten und aktuellen
Fallbeispielen zeigen kann. Lerner sind dann Rahmenbedingungen der Migration zu erklä-
erfolgreich, wenn sie eine Identität aufbauen, ren.“ (ebd. S. 30). Die Studie umfasst sowohl
die es ihnen erlaubt, Subjekt des Diskurses zu eine Querschnitts- als auch eine Longitudi-
sein. Das erfordert wiederum „Investition“ in naluntersuchung russlanddeutscher Familien.
die Fremdsprache, die nur aufgebracht wird,
wenn die Lern- und Sprechbemühungen den
Wert des „kulturellen Kapitals“, wie z. B. Zu- 3. Foreigner-Talk
gang zu Wissen und Denkweisen, Freund-
schaften, das Erreichen einer höheren sozia- Als Foreigner-Talk bezeichnet man die zum
len Stufe oder eines besseren Verdienstes etc., Zweck der besseren Verständlichkeit durch
erhöht (ebd. S. 17). eine Reihe von Modifizierungen gekennzeich-
Zu sehr ähnlichen Ergebnissen wie Peirce nete Sprechweise von Muttersprachlern
kommt auch Buß (1995), der an Hand von Nicht-Muttersprachlern gegenüber (Fergu-
fünf biographisch-narrativen Interviews mit son 1981).
türkischen Arbeitsmigranten in Deutschland Foreigner-Talk werden zwei entgegenge-
die „wechselseitigen Bedingungsverhältnisse setzte soziale Funktionen zugeschrieben: ei-
von erfolgreichem Zweitsprachenerwerb und nerseits fördere Foreigner-Talk den Zweit-
sozialer Integration“ (ebd. S. 249) beleuchtet. sprachenerwerb dadurch, dass sich Mutter-
Auch ihn interessiert die Dynamik des Ver- sprachler den zielsprachlichen Kenntnissen
hältnisses von handelndem Subjekt und so- von Nicht-Muttersprachlern anpassen, so
zialer Umwelt. Sein biographischer Ansatz dass Nicht-Muttersprachler die Sprache ver-
hat zur zentralen Prämisse, dass die Lebens- stehen und dadurch letztendlich zur sprachli-
geschichte und die Identität eines Menschen chen Integration gelangen (Hatch 1983; Long
sozial verriegelt sind und dass das Indivi- 1983a). Andererseits stelle Foreigner-Talk ein
duum gleichzeitig Objekt und aktiver Mitge- Hindernis zur Akkulturation der Nicht-Mut-
stalter seiner Lebensbedingungen ist. Die tersprachler dar, da sie unangemessenen, teil-
Ziele der Forschung sind es, „theoretische weise unkorrekten zielsprachlichen Formen
Konstrukte in Form von generellen Hand- ausgesetzt seien.
lungs- und Verlaufstypen zu gewinnen“, „ein- Eine Reihe von Studien beschäftigen sich
zelfallübergreifende Aussagen zu formulie- mit grammatikalischen Merkmalen des For-
ren“ (ebd. S. 249) und schließlich auf sozial- eigner-Talk, wie zum Beispiel Gaies (1977),
strukturelle Zusammenhänge zu verweisen. Scarcella/Higa (1981) u. a. Häufig wird von
Buß konnte u. a. zeigen, dass seine Informan- einer Ungrammatikalität des Foreigner-Talk
75. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess V 727

(„talking down“) berichtet, die sich aus Sim- discourse“ eingeführt, der die Änderung der
plifizierungsprozessen ergibt (Ferguson/De- Interaktionsstruktur durch die Verwendung
Bose 1977; Meisel 1977; Clyne 1977, 1978; von Strategien und Taktiken wie z. B. Verste-
Snow/van Eeden/Muysken 1981 u. a.). „Talk- henskontrollen, klärende Nachfragen, Bestä-
ing down“ im Foreigner-Talk wird vor allem tigungen, einfache Themenbehandlungen, ab-
dann beobachtet, wenn die soziale Distanz rupte Themenwechsel oder Reformulierungen
zwischen Einheimischen und Lernern groß ist bezeichnet (Long 1983a; b; vgl. auch 78 zu
und wenn der soziale Status der Lerner als interaktiv-kommunikativen Variablen). Da-
untergeordnet wahrgenommen wird (Fergu- durch entwickelt sich die Foreigner-Talk-For-
son/DeBose 1977; Long 1983b). Ungramma- schung parallel zur Input-Forschung. In dieser
tikalischer Foreigner-Talk kann demnach die wird die Identifizierung von verständlichem
Einstellung von Einheimischen signalisieren, Input sowie von günstigen Umgebungsbedin-
dass die Akkulturation der Ausländer im gungen für die Verständlichkeit angestrebt,
Zielland unerwünscht ist, und dadurch zu ei- wie z. B. syntaktisch und semantisch vormodi-
ner Verringerung der Motivation der Lerner fizierter Input ohne Interaktionsmöglichkeit
und in Folge zu einer durch Reduktionen ge- vs. unmodifizierter Input mit Interaktion (wie
kennzeichneten, fossilisierten Lernersprache z. B. Gass/Varonis 1994).
führen (Valdman 1981, 43). Meisel (1980) ar- Gass und Varonis (1994) untersuchen ver-
gumentiert, dass ungrammatikalischer For- schiedene Bedingungen ⫺ modifizierter Input
eigner-Talk eine respektlose Haltung von mit und ohne Interaktionsmöglichkeiten ⫺
Muttersprachlern Nicht-Muttersprachlern ge- und ihre Effekte für das Verstehen mit Hilfe
genüber andeutet. Arthur/Weiner/Culver et al. von Kommunikationsaufgaben, und konsta-
(1980) stellen heraus, dass Nichtmuttersprach- tieren, dass Modifizierungen das Verstehen
ler mit geringen Zielsprachenkenntnissen un- positiv beeinflussen, aber keine entscheiden-
grammatikalischen Foreigner-Talk als beleidi- den Faktoren für die Produktion sind.
gend empfinden und der öffentliche Gebrauch Issidorides/Hulstijn (1992) vergleichen die
des Foreigner-Talk in der amerikanischen Ge- Verständlichkeit von nicht-simplifizierten Sät-
sellschaft eher die Ausnahme sei. zen und von ungrammatikalisch simplifizier-
Dagegen argumentiert Hatch (1983), dass ten Sätzen und stellen weder Erleichterungen
Foreigner-Talk eingesetzt wird, damit Mut- noch Verhinderungen des Verstehens fest.
tersprachler und Nicht-Muttersprachler bes- Im Allgemeinen hat die Annahme, dass
ser kommunizieren können bzw. damit die Modifizierungen des Inputs zum besseren
kognitive Verarbeitung der Nicht-Mutter- Verstehen des Inputs führen, bereits bei vie-
sprachler erleichtert wird, so dass durch sei- len Zweitsprachenerwerbsforschern Unter-
nen Gebrauch eher Solidarität zwischen Ein- stützung gefunden (Chaudron 1983; Long
heimischen und Ausländern signalisiert wird. 1985; Pica u. a. 1987). Aber ob dieses Verste-
Henzl (1979) macht durch ihre empiri- hen zum Spracherwerb führt, ist empirisch
schen Studien deutlich, dass Foreigner-Talk noch nicht zu belegen.
in der unterrichtlichen Umgebung ⫺ im Ge- An Hand diskursanalytischer Untersu-
gensatz zum Foreigner-Talk Fabrikarbeitern chungen kann auch gezeigt werden, dass der
gegenüber ⫺ grammatikalisch wohlgeformt Lerner als selbständiger Interaktant in der
ist. Die entsprechenden Äußerungen zeigen Lage ist, für die Erleichterung des Verstehens
systematische Modifizierungen hinsichtlich eine aktive Rolle zu übernehmen, d. h. dass
Phonologie, Syntax und Lexikon und sind er aktiv seine sprachliche Umgebung ändern
nach dem Urteil der Sprecher durch einen und den Foreigner-Talk durch Modifizierun-
einfachen und deutlichen Sprechstil gekenn- gen in der Interaktion für sich verständlich
zeichnet. Chaudron (1988) verdeutlicht, dass machen kann (vgl. Yu 1998).
Teacher-Talk, also die Sprechweise des
Sprachlehrers dem Lerner gegenüber, viele
gemeinsame Merkmale mit dem Foreigner- 4. Formelle und informelle
Talk aufweist und daher als eine spezielle Lernbedingungen
Form des normalen Foreigner-Talk betrach-
tet werden kann. Beim sozialen Kontext des Lernens einer
Während die Forschung zum Foreigner- Fremdsprache unterscheidet man allgemein
Talk in den siebziger Jahren auf die sprachli- zwischen dem ungesteuerten („natural“)
che Form fokussiert war, wird Anfang der Kontext, in dem sich z. B. ein Gastarbeiter
achtziger Jahre der Begriff „foreigner talk am Arbeitsplatz befindet, und dem gesteuer-
728 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

ten („educational“) Kontext, der z. B. vor- Lernkontexten zu unterscheiden und ihnen


liegt, wenn ein Schüler im Heimatland oder jeweils einen bestimmten Lerntyp zuzordnen,
im Ausland am Fremdsprachenunterricht denn häufig sind Lerner beiden Lernkontex-
teilnimmt. ten ausgesetzt, zudem kann, wie Lennon
Eine allgemeine Annahme ist, dass in der (1989) berichtet, formelles Lernen auch im
ungesteuerten Umgebung das informelle Ler- ungesteuerten Kontext vorkommen ⫺ und
nen stattfindet und in der gesteuerten Umge- umgekehrt.
bung das formelle. Das heißt: In der unge- Lennon stellt in seiner Studie, einer Erhe-
steuerten Umgebung ergibt sich das Lernen bung von Daten aus Interviews mit deut-
aus der direkten Teilnahme und Beobachtung schen Englisch-Lernern, fest, dass Lerner ihre
ohne explizite Regel- oder Prinzipienformu- Aufmerksamkeit ⫺ trotz Fehlerkorrekturen
lierung. Der Spracherwerb erfolgt vor allem ⫺ in der ungesteuerten Umgebung eher auf
auf Grund der sozialen Bedeutung des Ge- die Kommunikation als auf Korrektheit rich-
lernten. Charakteristisch für das formelle ten. Sie sind sich jedoch ihrer eigenen Defizite
Lernen ist hingegen die bewusste Aufmerk- und Fehler bewusst und experimentiereten
samkeit auf Regeln und Prinzipien. Hier steht mit der Produktion, um neue sprachliche
der Lerngegenstand im Vordergrund (Ellis Items zu praktizieren und Feedback zu erhal-
1994). ten. Als Vorteil des informellen Lernens
Fathmann (1978) beobachtet, dass Lerner nannten die Lerner die Förderung der münd-
beim informellen Erwerb tendenziell eine hö- lichen Produktion und das Verstehen der ge-
here mündliche Kompetenz als formelle Ler- sprochenen Zielsprache in vielen Formen, die
ner erlangen, wobei beim informellen Erwerb sie in der formellen Lernsituation nicht ken-
große Variationen zwischen den Lernern zu nengelernt hatten. Die Vorteile des informel-
beobachten sind. Lerner in informellen Lern- len Lernens schienen sich aber nicht in einer
situationen bemühen sich eher um gelungene Erweiterung ihrer Grammatikkenntnisse nie-
Kommunikation und Flüssigkeit, Lerner in derzuschlagen.
formellen Lernkontexten konzentrieren sich Skuttnab-Kangas (1986; 1988) unterschei-
dagegen eher auf Grammatikalität. det zwischen vier formellen Lernkontexten:
Das bedeutet jedoch nicht, dass der unge- Segregation, Submersion, „mother tongue
steuerte Erwerb grundsätzlich zu einer höhe- maintenance“ ⫺ der Bewahrung der Mutter-
ren Stufe der Sprachbeherrschung führt. sprache, und Immersion, und bewertet sie
Gass (1990, 37) beobachtet, dass die mei- nach den Faktoren Organisation, affektive
sten Lerner, ob in gesteuerter oder unge- Faktoren, auf die Muttersprache bezogene
steuerter Umgebung, keine vollkommene, Faktoren und auf die Zielsprache bezogene
d. h. quasi muttersprachliche Beherrschung Faktoren. Günstig wird vor allem ein Lern-
der Fremdsprache erreichen, und einige Stu- kontext bewertet, wenn die Entstehung von
dien zeigen, dass der Spracherwerb von Ler- Ängsten vermieden und Selbstvertrauen ge-
nern im natürlichen Kontext u. U. weit ent- fördert wird, die Muttersprache beibehalten
fernt von einer muttersprachlichen Kompe- werden kann, genügend Gelegenheiten zur
tenz stagniert (z. B. Schmidt 1983; Meisel Praxis in der Zielsprache bestehen und die
1983; s. auch 2.1.). ethnische Identität nicht gefährdet wird.
Tatsächlich gibt es wachsende Evidenz da- Bei der Segregation findet das Lernen ge-
für, anzunehmen, dass Lerner unter einer for- trennt von der einheimischen Mehrheit statt,
malen Instruktion eine grammatisch korrek- z. B. wenn Immigranten in speziellen Schulen
tere Sprache produzieren als in informellen die Zielsprache erlernen. Sie wird von Skutt-
Lernsituationen (vgl. Ellis 1992). nab-Kangas auf Grund der inadäquaten or-
Gass (1987) stellte in ihrer Vergleichsstudie ganisatorischen und ungünstigen affektiven
keine signifikanten Unterschiede zwischen Faktoren negativ bewertet: In der Segrega-
,Fremdsprachenlernern‘ und ,Zweitsprachen- tion fehle die Gelegenheit, die Zielsprache in
lernern‘ fest, solange relativ einfache Lern- informellen Kontexten zu praktizieren, die
ziele angestrebt wurden. War die Beherr- Qualität der zielsprachigen Instruktion sei
schung komplexer Regeln nötig, wie bei der mangelhaft, und die Lernbedingungen führen
Satzinterpretation in der Fremdsprache Ita- zu einem niedrigen Selbstvertrauen und zur
lienisch, waren die Zweitsprachenlerner im Entwicklung von Ängsten. Segregation kann
Vorteil. aber nach Ellis (1994) auch positive Wirkun-
Insgesamt erscheint es wenig sinnvoll, gen zeigen: Z. B. in Form eines kurzen Pro-
strikt zwischen formellen und informellen grammes für Flüchtlinge in den U. S. A. oder
75. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess V 729

in den europäischen Staaten kann sie den Förderung im formalen Kontext sind. Als
Lernern helfen, sich sozial, emotional und Gründe für diesen Erfolg werden genannt,
sprachlich an die Anforderungen der fremden dass die Lerner reichlich einem verständli-
Gesellschaft anzupassen. chen Input ausgesetzt sind, dass sie ihre Mut-
Im Kontext der Submersion, üblich in vie- tersprache weiter entwickeln können und
len Einwandererstaaten, werden Kinder eth- dass ihre eigene ethnische Identität nicht be-
nischer Minderheiten gemeinsam mit den einträchtigt wird (Swain/Lapkin 1982).
Kindern der einheimischen Mehrheit unter-
richtet. Der Kontext der Submersion kann
durchaus zu einem erfolgreichen Erwerb der
5. Literatur in Auswahl
Zielsprache führen; insgesamt aber wird Sub- Andersen, Roger W. (1979): Expanding Schu-
mersion negativ bewertet: Sie kann Kommu- mann’s pidginization hypothesis. In: Language
nikationsprobleme und Unsicherheit bei den Learning 29, 105⫺119.
Lernern verursachen, denn in den Submer- Arthur, Bradford; Richard Weiner; Michael Cul-
sionsprogrammen fehlt die Förderung der ver; Young Ja Lee u. a. (1980): The register of im-
Muttersprache und der Kultur der Lerner so- personal discourse to foreigners: verbal adjust-
wie der Zugang zu verständlichen, d. h. dem ments to foreign accent. In: Diane Larsen-Freeman
Lerner angepassten Input (Cohen/Swain (Hg.): Discourse analysis in second language re-
search. Rowley, Mass.
1979; Cummins 1988; zit. nach Ellis 1994).
In einem Kontext, der die Bewahrung der Au, Shun Y. (1988): A critical appraisal of Gard-
ner’s Social-psychological Theory of second-lan-
Muttersprache fördert, also einem Programm
guage (L2) learning. In: Language Learning 38/1,
mit dem Ziel, die Muttersprache weitestge- 75⫺100.
hend zu erhalten, werden die Lerner in ihrer
Beebe, Leslie M.; Howard Giles (1984): Speech-ac-
Muttersprache unterrichtet. Da gleichzeitig commodation theories: a discussion in terms of sec-
zur Entwicklung der Muttersprache ein ho- ond-language acquisition. In: International Journal
her Grad an Beherrschung der Zielsprache of Sociology of Language 46, 5⫺32.
erreicht wird und weil Bilingualismus (vgl. Biehl, Jürgen (1983): Sprachstand und Sprachlern-
Art. 63) als kognitiv und sozial vorteilhaft be- bedingungen türkischer Schüler. In: Linguistische
trachtet wird, sowie auf Grund positiver or- Berichte 86, 89⫺106.
ganisatorischer Faktoren (z. B. die Lerner an- Buß, Stefan (1995): Zweitspracherwerb und soziale
sprechende kulturelle Inhalte im Lehrmate- Integration als biographische Erfahrung ⫺ Eine
rial), positiver affektiver Faktoren (z. B. nied- Analyse narrativer Interviews mit türkischen Ar-
rige Angst, Förderung von Motivation und beitsmigranten. In: Deutsch Lernen 20/3, 248⫺275.
von Selbstvertrauen), wird dieser Kontext als Chaudron, Craig (1983): Simplification of input:
erfolgreich bewertet. (Swain/Cummins 1979 topic reinstatements and their effects on L2-learn-
geben einen Überblick). ers’ recognition and recall. In: TESOL Quarterly
Der Begriff „Immersion“ wurde zuerst im 17/3, 358⫺437.
Zusammenhang der kanadischen Immer- ⫺ (1988): Second language classrooms: research on
sionsprogramme benutzt, in denen Schüler, teaching and learning. Cambridge u. a.
Angehörige der englischsprachigen Mehrheit, Clahsen, Harald; Jürgen M. Meisel; Manfred Pie-
in der Muttersprache der französischen Min- nemann (1983): Deutsch als Zweitsprache. Der
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wurden. Das kanadische Immersionspro- binger Beiträge zur Linguistik A: Language Devel-
gramm, dessen Ziele u. a. eine weitere Ent- opment 3).
wicklung der Muttersprache, akademische Clyne, Michael G. (1977): Multilingualism and pid-
Bildung, eine Beherrschung der Zielsprache ginization in Australian industry. In: Ethnic
und ein Verständnis für die zielsprachliche Studies 1, 40⫺55.
Kultur sind, wird als eindeutiger Erfolg be- ⫺ (1978): Some Remarks on Foreigner Talk. In:
wertet (Schinke-Llano 1990; Swain/Lapkin Norbert Dittmar; Hartmut Haberland; Tove Skutt-
nab-Kangas u. a. (Hg.): Papers from the first Scan-
1982). Es führt zu einem hohen Niveau der
dinavian German Symposium on the language of im-
Beherrschung der Zielsprache Französisch, migrant workers and their children. Linguistgrup-
besonders hinsichtlich der Diskurs- und der pen, Roskild Universiteits Center.
Strategienkompetenz. Trotz der Hinweise, Cohen, Andrew; Merrill Swain (1979): Bilingual
dass ein solches Niveau im grammatischen education: the „immersion“ model in the North
Bereich gewöhnlich nie erreicht wird, ist man American context. In: John Pride (Hg.): Sociolin-
sich generell einig, dass Immersionspro- guistic aspects of language learning and teaching.
gramme sehr effektiv für die zielsprachliche Oxford.
730 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

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75. Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess V 731

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732 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

76. Zweitsprachenerwerb als Interaktion I: Interaktiv-kommunikative


Variablen

1. Einleitung der ,Kognition‘ ⫺ mit wenigen Ausnahmen


2. Interaktion in der Erforschung des (z. B. Gaies 1977; Hatch 1978; Allwright
Zweitsprachenerwerbs 1984) eine zunächst untergeordnete Rolle. In
3. Fremdsprachenunterrichtsspezifische Schumanns (1986) erweiterter Akkultura-
Relevanzen
4. Literatur in Auswahl
tions-Hypothese (vgl. Art. 75) spielt der Fak-
tor ,Interaktion‘ implizit eine wichtige Rolle.
Die einzelnen Akkulturationsfaktoren wer-
1. Einleitung den sprachlich-interaktiv verarbeitet, vermit-
telt und realisiert. Wo z. B. Schüchternheit,
Wie die bisherige Geschichte der Zweit- Ängste u. ä. bei den Lernern bestehen, findet
sprachenerwerbsforschung (ZEF) gezeigt hat keine, wenig Interaktion statt, wo z. B.
(im Folgenden wird der Terminus ZEF syn- Selbstbewusstsein, Kontaktbereitschaft bei
onym mit Fremdsprachenerwerbsforschung den Lernenden zu beobachten ist, wird viel
verwendet (FEF), gibt es eine Vielzahl von miteinander gesprochen, was eine gute Vor-
unterschiedlichen Ansätzen und Annahmen, aussetzung für den Spracherwerb zu sein
wie sie auch in diesem Handbuch (vgl. Art. scheint. Untergeordnet ist der Faktor ,Inter-
66 ff.) dokumentiert werden, den Erwerb/das aktion‘ auch sehr lange in der Strategienfor-
Lernen von Fremdsprachen zu erklären. Alle schung (vgl. u. a. Rubin 1981, Knapp-Pott-
diese Ansätze erfassen mit unterschiedlichen hoff/Knapp 1982, Oxford 1986). Definitionen
Akzentuierungen einzelne Teile des Erwerbs- aus interaktiv-kommunikativer Perspektive,
prozesses, nicht aber seine Gesamtheit. So d. h. aus der Sicht der Lehrenden und Ler-
ist es verständlich, dass zur Zeit von einer nenden, sind die Ausnahme (z. B. Tarone
umfassenden Fremdsprachenerwerbstheorie 1980). Die fremdsprachenspezifische pädago-
noch nicht die Rede sein kann, die jedoch das gische Interaktionsforschung (u. a. Krumm
Ziel jeglicher fremdsprachenerwerblicher For- 1973; Freudenstein/Pürschel 1978) konzen-
schung bleiben muss. Eine gewisse Evidenz trierte sich eher auf eine kategorienge-
scheint es dafür zu geben, dass sich unge- steuerte, zu großen Teilen quantitativ ausge-
steuerte und gesteuerte Erwerbsprozesse vor richtete Beschreibung von unterrichtlichen
allem durch den Faktor ,Instruktion‘ unter- Interaktionen, z. B. im Rahmen von Lehrer-
scheiden („that instruction does make a diffe- aus- und Fortbildungsprogrammen. Sie war
rence“ (vgl. Long 1983a). Diese Differenzie- und ist nicht an Erwerbsproblemen interes-
rung findet in fremdsprachenerwerbstheoreti- siert, etwa an der Frage, ob bestimmte Inter-
schen Modellierungen nicht immer Berück- aktionen den Fremdsprachenerwerb negativ
sichtigung. Nach wie vor bleibt die Frage un- oder positiv beeinflussen.
beantwortet ⫺ und dies betrifft nicht nur den Dies hat sich in der Entwicklungsge-
gesteuerten Fremdsprachenerwerb ⫺ welche schichte der ZEF geändert, und es besteht ein
Variablen oder Kombinationen von Variablen gewisser Konsens darüber, was innerhalb ei-
den Erfolg beim Fremdsprachenerwerb erhö- ner fremdsprachenerwerbsspezifischen Be-
hen bzw. beeinträchtigen. trachtung unter ,Interaktion‘ verstanden
wird. Dazu drei Belege:
2. Interaktion in der Erforschung des „Through interaction, students can increase their
language store as they listen to or read authentic
Zweitsprachenerwerbs linguistic material, or even the output of their fel-
low students in discussion, skits, joint problem-
Sehr lang war innerhalb der Erforschung des solving tasks, or dialogue journals. In interaction,
gesteuerten Zweitsprachenerwerbs (ZEs) (L2- students can use all they possess of the language ⫺
classroom research, instructed language ac- all they have learned or casually absorbed ⫺ in
quisition, Sprachlehrforschung) ⫺ darauf fo- real-life exchanges (…) Even at an elementary
kussiert die folgende Darstellung ⫺ das In- stage, they learn in this way to exploit the elasticity
teresse auf die getrennte Untersuchung von of language“ (Rivers 1987, 4/5).
Lehrer- und Lernersprachen gerichtet. Bei „Interaction is the collaboratory exchance of
diesen Untersuchungen spielte der Faktor thoughts, feelings, or ideas between two or more
,Interaktion‘ ⫺ als zentrale Kategorie neben people resulting in a reciprocal effort of each other.
76. Zweitsprachenerwerb als Interaktion I 733

Theories of communicative competence emphasize put sowie auf Vergleichen zwischen unter-
the importance of interaction as human beings use schiedlichen ,Inputs‘. Diese Arbeiten sind be-
language in various contexts to „negotiate“ mean- kanntgeworden unter dem Namen ,caretaker/
ing, or simly stated, to get one idea out of your caregiver speech‘, ,motherese‘ für den L1-Er-
head and into the head of another person and vice
versa“ (Brown 1994, 159).
werb (z. B. Snow/Ferguson 1977), ,foreigner
talk‘, Ausländerregister für den natürlichen
„Unter Interaktionen sollen […] sprachliche und L2-Erwerb (z. B. Long 1981) und ,teacher
nichtsprachliche Handlungen verstanden werden,
talk‘ für den gesteuerten L2-Erwerb (z. B.
die zwischen mindestens zwei Gesprächspartnern
stattfinden und mindestens einen Beitrag („turn“) Henzl 1979; Gaies 1983). Die Annahme lau-
der jeweiligen Partner umfassen, der inhaltlich an tet, dass Veränderungen des Input die Art
den jeweils anderen gerichtet ist“ (Henrici 1995, 25). und Weise des Spracherwerbs verändern und
Die folgende Darstellung basiert auf Arbeiten ⫺ dass zielsprachliche Veränderungen Wahr-
von Henrici (1989; 1990; 1995); sie umfasst nehmungen und Verstehen erhöhen können
die Darstellung fremdsprachenerwerblicher (u. a. Allwright 1975; Chaudron 1985a),
Hypothesen, bei denen interaktiv-kommuni- ⫺ dass zielsprachliche Veränderungen kor-
kative Variablen eine Rolle spielen, auch sol- rekten und bedeutungsvollen Fremdspra-
che, die man als „Vorläufer“ (Input-Hypo- chengebrauch fördern können (u. a. Long
these) oder als „Mit“- und „Nachläufer“ 1981),
(Output-, Diskurs-, Topikalisierungs-Hypo- ⫺ dass Lernende sprachliche Strukturen ent-
these) bezeichnen kann. sprechend ihrer Häufigkeit im Input erwer-
ben (u. a. Larsen-Freeman 1976; Hama-
2.1. Die Input-Hypothese yan/Tucker 1980).
Die Unterscheidung zwischen inhalts- und Mit ,zielsprachlichen Veränderungen‘ sind
formbezogenem Unterricht (,meaning-focus- vorwiegend Simplifizierungen auf den ver-
ed‘ vs. ,form-focused‘) ist wichtig für die schiedenen sprachlichen Ebenen gemeint ge-
Beschäftigung mit der Input-Hypothese, der wesen (z. B. phonetisch: deutlichere Artiku-
in der Fremdsprachenerwerbsforschung eine lation, weniger Kontraktionen, reduziertes
„kritische Bedeutung“ zugemessen wird (vgl. Sprechtempo etc.; morphologisch-syntak-
Swain 1985, 236). Im inhaltsbezogenen Un- tisch: weniger Pronominalisierungen, kürzere
terricht geht es nach Ellis (1991, 187) für die Sätze, Parataxe etc.; lexikalisch-semantisch:
Lernenden darum, Informationen auszutau- frequentes Vokabular, weniger Idiomatic etc.
schen und zu verarbeiten, ohne dass sie sich (vgl. u. a. Hatch 1983, 182f.). Es wurde an-
bewusst und gezielt um grammatische Kor- genommen, dass solche Simplifizierungen des
rektheit bemühen. Im formbezogenen Unter- Input positive Wirkungen auf den Sprach-
richt führen die Lernenden Tätigkeiten aus, erwerb haben, was in einigen experimentel-
die speziell dem Erwerb von grammatischen len Untersuchungen nachgewiesen werden
Formen dienen sollen. In beiden Fällen findet konnte. Dem stehen die Ergebnisse aus an-
,Input‘ statt. Nach Bahns (1986, 131) dient deren Untersuchungen gegenüber (Hinnen-
der Begriff ,Input‘ als Sammelbezeichnung kamp 1982; Klein 1984), die sowohl positive
für alle sprachlichen Äußerungen, die direkt als auch negative Wirkungen von Simplifizie-
an den Lerner gerichtet sind. Zum anderen rungen annehmen. So konnte z. B. empirisch
kann Input ⫺ im weiteren Sinne ⫺ auch gezeigt werden, dass die Wirkungen bei Kin-
Sprachmaterial umfassen, das der Lerner in dern und Erwachsenen unterschiedlich sind
seiner Umgebung zwar hört, das jedoch nicht (Huang/Hatch 1978) und dass positiven Wir-
speziell an ihn gerichtet ist. Eine zentrale kungen auf der phonetischen Ebene negative
durchgängig gestellte Frage in der Fremd- bzw. heterogene auf der syntaktischen Ebene
sprachenforschung ist, ob der im inhaltsbezo- gegenüberstehen (z. B. Kelch 1985). Sehr
genen Unterricht erfolgende Input Auswir- wichtig in diesem Zusammenhang ist auch
kungen auf den formbezogenen Spracher- der Hinweis von Meisel (1975), dass Simplifi-
werb hat, und welcher Art ein solcher Input zierungen auf unterschiedliche Weise reali-
ist/sein sollte. In der Geschichte der ZEF gibt siert werden; als restriktive Simplifizierungen
es eine Vielzahl von Arbeiten, die sich mit un- (⫽ Reduktion/Regulierung von sprachlichen
terschiedlichen Akzentuierungen der Frage Oberflächenformen, die Komplizierungen im
nach den Wirkungen von sprachlichem Input kognitiven Bereich zur Folge haben können)
gewidmet haben. Die Untersuchungen basie- und als elaborierte Simplifizierungen (⫽ Zu-
ren auf Vergleichen zwischen Input und Out- wachs von Oberflächenformen zum Zwecke
734 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

der Verdeutlichung von Sachverhalten, z. B. hens Monitor-Hypothese, eingeschlossen die


durch Wiederholungen, Paraphrasen). hier interessierende Input-Hypothese, ist hef-
Obwohl in einigen Untersuchungen (u. a. tig diskutiert und kritisiert worden (z. B.
von Hatch und Mitarbeitern) Korrelationen Gregg 1984; McLaughlin 1987). Die kriti-
zwischen der Häufigkeit des Auftretens von schen Anmerkungen reichen von Definitions-
morphologischen und syntaktischen Struktu- defiziten über die Verwendung eines restrin-
ren in Input und Output gefunden worden gierten statischen Verstehensbegriffs bis hin
sind (z. B. Lightbown 1980), lässt sich die zu seiner einseitigen, verkürzten Sicht von
sog. Frequenz-Hypothese nicht mehr auf- Spracherwerb und der Nichtüberprüfbarkeit
rechterhalten (vgl. Gegenbeispiele bei Ha- seiner Hypothese(n).
mayan/Tucker 1980; Long/Sato 1983). Kri-
tisch resümierend lässt sich sagen, dass die 2.2. Die Interaktions-Hypothese
nach experimentellem Design durchgeführten Es ist die Gruppe um Long (u. a. Chaudron;
Input-Untersuchungen die interaktive Per- Doherty; Pica; Young), die in den 80er Jah-
spektive außer acht lassen. Vereinfachter In- ren die Input-Hypothese zur Interaktions-
put kann zwar einigen Lernern (bes. Anfän- Hypothese weiterentwickelt hat, die sagt,
gern) wertvolle sprachliche Unterstützung ge- dass die interaktionelle Struktur von Gesprä-
ben, insgesamt gesehen hat er jedoch eine be- chen den Sprachenerwerb erleichtert, jedoch
grenzte Bedeutung für die fremdsprachliche auf unterschiedliche Lerner unterschiedlich
Entwicklung. Vereinfachter Input ist nicht wirkt und abhängig ist von gesprächsspezi-
hinreichend zur Erklärung von Spracher- fischen Variablen.
werb. Er ist ⫺ wenn überhaupt ⫺ nur eine Zahlreiche theoretische und empirische
mögliche Hilfe, die durch andere individuen- Arbeiten haben den Einfluss von Interaktio-
spezifische Hilfen ergänzt werden muß (Scar- nen auf die Fremdsprachenentwicklung be-
cella/Oxford 1992, 49f.). stätigt (vgl. z. B. Kasper 1985; Hatch/Flash-
Krashen ist derjenige Forscher, der die In- ner/Hunt 1986; Schachter 1986).
put-Hypothese am stärksten bekannt ge- Nach Long (1983c) gibt es drei Möglich-
macht hat. Er sieht sie selbst als „single most keiten, den Input verständlich zu machen:
important concept in second language acqui-
sition today“ (1980, 168). Sie hat auch des- 1. by means of input simplifications;
halb besondere Beachtung gefunden, weil mit 2. through the use of linguistic and extra-lin-
ihr der Anspruch formuliert wurde, ein di- guistic context, and
daktisches Konzept, den ,Natural Approach‘ 3. through modification of the interactional
(Krashen/Terrell 1983), mit einer Zweitspra- structure of conversation. (zit. nach Ellis
chenerwerbs-Hypothese zu begründen. In- 1991, 197)
nerhalb seines Monitor-Modells misst er der
Input-Hypothese, reformuliert als ,Compre- Der dritte Punkt kennzeichnet die Weiterent-
hensible Input-Hypothese‘, eine besondere wicklung. Es ist der Umgang mit dem Input,
Bedeutung für die Erklärung von Spracher- der entscheidend für Verständigung und Ver-
werb (,acquisition‘) zu. stehen und damit für den Erwerb ist.
Die Annahme ist, dass die blosse Konfron- Die allgemeine Aussage lautet: Je umfas-
tation mit sprachlichen Daten für den Er- sender die interaktionellen Aktivitäten von
werb nicht ausreicht. Die Bedeutung von Lehrenden und Lernenden sind, desto schnel-
sprachlichen Äußerungen muss verstanden ler findet erfolgreicher Erwerb statt. Damit
werden („input must be comprehensible“). verbunden ist die Auffassung, dass zweisei-
Die Verständlichkeit wird durch den Kontakt tige Kommunikationen (⫽ Interaktionen)
(pragmatische, inferentielle Verfahren, die dem Erwerb mehr nützen als einseitige. In In-
sich auf Welt- und Situationswissen stützen) teraktionen findet ein gegenseitiger Aus-
gefördert. Wenn der Input verständlich ist tausch von Informationen statt; die Möglich-
und häufig genug stattfindet, werden sprach- keit zum Aushandeln von Bedeutungen („ne-
liche Formen und Strukturn automatisch er- gotiation of meaning“) zum Zwecke der ge-
worben und erlernt. Dies sei besonders deut- genseitigen Verständigung und des Verste-
lich bei der Konfrontation der Lernenden mit hens ist gegeben. Die Gesprächspartnerinnen
„fertigen Ausdrücken“ („lexical phrases“), und -partner können jederzeit interaktive
wo die Beziehung zwischen Input („what is Mittel wie z. B. klärende Nachfragen, Bestäti-
available for going in“) und Intake („what gungen, Bitten um Wiederholungen, Korrek-
goes in“) besonders eng zu sein scheint. Kras- turen, Präzisierungen, Paraphrasen einsetzen,
76. Zweitsprachenerwerb als Interaktion I 735

um Verständigung zu gewährleisten und Ver- wachsene/Erwachsenenunterricht hinzuwei-


stehen und damit Erwerb zu sichern. sen, die zumindest darauf aufmerksam ma-
Besonders die Korrekturen als bewusstma- chen, dass vorausgegangene Lerneräußerun-
chendes Mittel hält Edmondson (1985) für gen unzureichend sind, jedoch neue sprachli-
bedeutsam für den Spracherwerb. Die Frage che Aktivitäten hervorrufen können. Zusam-
ist allerdings, ob Bewusstmachung mit Er- menfassend lässt sich sagen, dass die Interak-
werb gleichgesetzt werden kann. Die genann- tions-Hypothese einen bedeutenden Beitrag
ten Mittel können auf Seiten der Mutterspra- zum besseren Verständnis von Sprachent-
chen-Sprecherinnen und -sprecher bzw. den wicklungsprozessen geliefert hat/liefert und
Lehrenden von Modifikationen der Aus- wichtige Folgerungen für das Fremdspra-
sprache, der syntaktischen Struktur und des chenlehren mit sich bringt. Input allein för-
Vokabulars begleitet sein. Long misst den in- dert nicht den Spracherwerb. Die Lernenden
teraktiven Mitteln größere Bedeutung für den müssen etwas mit ihrem Input tun, wenn er
Spracherwerb zu als Veränderungen, die al- zum Intake werden soll. Gesprächsspezi-
lein auf Vereinfachungen in Aussprache, Syn- fische Aktivitäten, auf die sich die Lernenden
tax und Lexikon beruhen, so wie es im Rah- einlassen, individualisieren den Input und be-
men der Input-Hypothese formuliert ist. Mit reiten ihn auf diese Weise besser auf, um als
den Annahmen von Long korreliert die Fest- intake verarbeitet zu werden. Die gesprächs-
stellung von Seliger (1983, 257), dass „learn- spezifischen Aktivitäten versorgen die Ler-
ers who initiate interaction are better able to nenden nicht nur mit den spracherwerbsför-
turn input into intake“. Diese Erkenntnis ist derlichen Daten, sie liefern ihnen auch Infor-
ein Resultat seiner Pilotstudien (1977) zu den mationen über Rollenverständnisse, Auffas-
interaktiven Verhaltensweisen von sog. ,high sungen, Vorlieben von Muttersprachenspre-
input generators‘ (HIG) und ,low input gene- chern. Sie vermitteln ihnen auch Kenntnisse
rators‘ (LIG). darüber, wer berechtigt ist, wann bestimmte
Wie bei Long bleibt allerdings die Frage of- Informationen unter bestimmten Umständen
fen, ob das höhere Können der HIG’s ihre hö- zu übermitteln sind. Gesprächstypische Si-
heren interaktiven Fähigkeiten bedingt oder gnale wie z. B. ach? und? ja? helfen den Ler-
umgekehrt. Die generelle Frage ist auch hier nenden, das Verstehen ihres Inputs besser zu
zu stellen, welche Aussagekraft Untersuchun- überprüfen. Solche Signale fördern zudem
gen haben, die mit sehr kleinen und spezifi- die Bemühungen der Lernenden zu kommu-
schen Probanden-Populationen (z. B. sprach- nizieren (Scarcella/Oxford 1992, 44f.).
homogene-heterogene) durchgeführt werden, Besonders Ellis (1991, 109, 115 u. a.) hat
deren Übertragbarkeit auf andere Gruppen- die Interaktions-Hypothese kritisch kom-
konstellationen schwach ist. Die von Day mentiert:
(1984) und Slimani (1987) durchgeführten Re-
plikationsstudien zu den Studien von Seliger ⫺ Wie die Input-Hypothese versucht die
belegen dies; es konnten keine Korrelationen Interaktions-Hypothese, Spracherwerb über
zwischen Interaktionstätigkeiten und Lerner- Verstehen zu erklären. Verstehen ist nicht
folg ermittelt werden. Spracherwerb, allenfalls Voraussetzung oder
Erwähnenswert in diesem Kontext schei- ein Teil des Spracherwerbs.
nen auch Untersuchungen zu sein, die den ⫺ Die Rolle des Outputs für den Spracher-
Umgang mit „unvollkommenden“ („devi- werb wird nicht berücksichtigt (vgl. auch
ant“) Inputs in unterschiedlichen MS-NMS- Schachter 1983; Swain 1985).
und NMS-NMS-Situationen (Erwachsenen- ⫺ Es gibt keine relevanten empirischen Ar-
gespräche, Gespräche in Gruppen, Interak- beiten zur Stützung der Interaktions-Hypo-
tionen zwischen Kindern) analysiert haben these, die wie die Input-Hypothese wenig
(z. B. Porter 1983; Varonis/Gass 1985), die als über das Verhältnis von Verstehen und Er-
interessantes Ergebnis erbrachten, dass die werb sagt.
auf Grund von unvollkommenen Inputs häu- ⫺ Es besteht die generelle Schwierigkeit,
fig zu beobachtenden Kommunikationszu- die Interaktions-Hypothese innerhalb eines
sammenbrüche („breakdowns“) zu immer qualitativen Ansatzes zu testen, d.h. u. a.
wieder neuen, den Spracherwerbsprozess ani- kausale Zusammenhänge zwischen interakti-
mierenden Bedeutungsaushandlungsproze- vem Input und sprachlichem Erwerb zu er-
duren führten. An dieser Stelle ist auch auf mitteln.
Schachters (1986) Überlegungen zur Bedeu- ⫺ Es besteht Einvernehmen darüber, dass
tung von metasprachlichem Input für Er- bestimmte Interaktionen hilfreich für Ler-
736 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

nende sein können. Es bestehen jedoch er- 2.3. Die Output-Hypothese


hebliche Zweifel daran, ob und wann interak- Die Output-Hypothese, die auf Swain (1985)
tive Aushandlungen zur Entwicklung von zurückgeht, ist eine weitere die Input- und In-
sprachlicher Kompetenz beitragen. Eher sei teraktions-Hypothese ergänzende Hypothese.
davon auszugehen, dass eine strategische Wie Long (1983c) stellt sie die ,Comprehensi-
Kompetenz entwickelt werde, mit deren Hilfe ble Input-Hypothese‘ in Frage. Der ,Compre-
die Lernenden besser auf bereits vorhandenes hensible Out-Hypothese‘ liegt die Annahme
sprachliches Wissen zurückgreifen können. zu Grunde, dass zwar ein verständlicher In-
⫺ Es ist fraglich, ob das Aushandeln von put für Erwerb und Lernen eine wichtige
Bedeutungen (,negotiation of meaning‘) das Voraussetzung sein mag, dass er aber nicht
behauptete zentrale Gewicht für den Erwerb gewährleisten könne, dass sprachliche Kor-
hat und nicht andere Variablen, oder ob es rektheit erreicht werde. Ohne den aktiven
nicht eher die Funktion erfüllt, Interaktionen Gebrauch von Sprache („output“) sei dies
aufrechtzuerhalten (Aston 1986; Dausen- nicht möglich. Nach Swain hat der Output
schön-Gay/Krafft 1992). drei wesentliche Funktionen:
⫺ Es wird angezweifelt, dass angemessene/ 1. Die Notwendigkeit für die Lernenden,
richtige Antworten immer ein Beweis für Ver- während der Übermittlung ihrer Intentionen/
stehen sind (Hawkins 1985). Informationen sprachlich verständlich zu
Bei den wenigen empirischen Arbeiten zur Il- sein, bringt sie dazu, ihre sprachlichen Res-
lustration und Überprüfung der Interaktions- sourcen möglichst gut einzusetzen. Swain
Hypothese kommen Textebene und Kontext- nennt dies „erzwungenen Sprachgebrauch“
ebene bei der Beschreibung und Erklärung („pushed language use“).
von interaktiven Vorgängen zu kurz (vgl. 2. Der Einsatz der Sprache („output“)
ausführlich dazu: Henrici 1995). Nicht uner- zwingt die Lernenden dazu, vorhandene Hy-
wähnt bleiben sollte die von Scarcella/Oxford pothesen über Sprache zu überprüfen und ge-
(1992, 45/46) formulierte sog. „Language- gebenenfalls neu zu formulieren, wieder zu
Promoting Interaction Hypothesis“, die grob überprüfen usw.
3. Der Gebrauch von Sprache im Unter-
besagt, dass Lehrende Lernenden am besten
schied zum Verstehen von Sprache zwingt die
beim Spracherwerb helfen können, indem sie
Lernenden dazu, nicht nur auf inhaltliche
ihnen eine Vielzahl von spracherwerbsunter-
Aspekte zu achten, sondern Sprache auch
stützenden Hilfen während interaktiv gestal- formal zu verarbeiten. Es ist möglich, Spra-
teter Unterrichtsabläufe geben. Die Art und che ohne formale (syntaktisch-morphologi-
Weise des Helfens hängt u. a. von der Auf- sche) Analyse zu verstehen. Der Sprachge-
merksamkeit der Studierenden, ihren indivi- brauch zwingt die Lernenden zur Beachtung
duellen Dispositionen und Sprachfähigkeiten der sprachlichen Ausdrucksmittel.
ab. Solche möglichen Hilfen schließen ein ⫺
sind aber nicht beschränkt auf sie: ver- Swains Untersuchungen haben u. a. ergeben,
einfachter Input, verständlicher Input, ge- dass mangelhafter Sprachgebrauch nicht auf
sprächstypische Merkmale, verständlicher einen unzureichenden, unverständlichen In-
Output (vgl. nächsten Abschnitt). Nach Mei- put zurückzuführen ist, sondern auf fehlende
nung der Autorinnen bleibt die Hypothese Möglichkeiten, Sprache aktiv und verständ-
lich einzusetzen (als ,comprehensible out-
nicht auf die Unterstützung des Erwerbs von
put‘), was besonders im frontalen Fremd-
mündlichen Fähigkeiten beschränkt, sie be-
sprachenunterricht zu beobachten ist (Swain
zieht sich auch auf den Erwerb von Lese- und 1985). Besonders wichtig innerhalb der Out-
Schreibfähigkeiten. Hinsichtlich der prakti- put-Hypothese ist die erste Funktion: Die
schen Anwendung sind sie der Auffassung, Lernenden müssen dazu gebracht/gezwungen
dass Kontexte, die den Spracherwerb fördern, werden („be pushed“), die Fremdsprache an-
nicht zufällig entstehen, sondern dass Interak- gemessen zu benutzen. Die Schaffung von
tionsprozesse, in denen Spracherwerb stattfin- Möglichkeiten dazu reicht nicht aus. Festge-
den soll, sehr gründlich geplant werden müs- stellt wurde in entsprechenden Untersuchun-
sen. So einleuchtend diese erweiterte Interak- gen, dass bei Nutzung dieser Möglichkeiten
tions-Hypothese auch erscheinen mag, die ge- zwar interaktive Fähigkeiten („sociolinguis-
nannten Kritikpunkte treffen zu Teilen auch tic“ und „discourse competence“ zur Über-
auf diese Hypothese zu, u.a. und vor allem auf mittlung von Inhalten zunahmen, nicht aber
die nicht geprüfte empirische Evidenz. formalsprachliche (grammatische) Kompe-
76. Zweitsprachenerwerb als Interaktion I 737

tenzen (vgl. Schmidt 1983). Zentral ist also zu einer syntaktischen Art des Sprechens
der Zwang („push“) zum korrekten Output. („syntactic mode“).
Verbesserungen des sprachlich-formalen Out- Ellis (1984) äußert die vorsichtige Vermu-
put ergaben sich besonders in den Fällen, in tung, dass die jeweiligen Sprachgebräuche sich
denen Lernende durch Bitten um Bestätigung befruchten und jeweils dem Erwerb des ande-
(„confirmation requests“) aufgefordert wur- ren nützlich sind. Als eine wichtige Bedingung
den, Verstehensprobleme sprachlich zu präzi- der Diskurs-Hypothese wird formuliert ⫺ dies
sieren (Pica/Holliday/Lewis 1991). Auch ge- gilt in gleicher Weise für den ungesteuerten
genüber der Output-Hypothese sind Ein- und den gesteuerten Erwerb ⫺, dass zur voll-
wände formuliert worden. Die Output-Hypo- ständigen Entwicklung der sprachlichen
these liefere zwar einen wertvollen Beitrag Kompetenz die Lernenden mit formellem/ge-
zur Wissenserweiterung über den Spracher- plantem Sprachgebrauch vertraut sein müs-
werb und gehe weit über die Input-Hypo- sen. Lernende, die nur mit informellem/unge-
these hinaus, sei jedoch auch in ihrer Reich- plantem Sprachgebrauch konfrontiert worden
weite begrenzt: weder Input- noch Output- seien und ihn auch präzisiert hätten, könnten
Hypothese könnten unterrichtliche Spracher- diese vollständige Entwicklung der sprachli-
werbsprozesse vollständig erklären. Auch chen Kompetenz nicht erreichen (vgl. dazu die
verständlicher Output ist nur eine Form der Untersuchungen von Chaudron 1985b) zur
Unterstützung beim Fremdsprachenerwerb. positiven Wirkung des „structural style“). Die
Es gibt noch andere vielfältige Formen der sich daraus ergebende pädagogische Forde-
Hilfe, die von der Output-Hypothese nicht rung nach Stärkung eines auf den Erwerb for-
berücksichtigt werden, darunter z. B. affek- maler Strukturen gericheten Fremdsprache-
tive, kognitive Variablen (vgl. Scarcella/Ox- nunterrichts unterscheidet sich erheblich von
ford 1992, 45). den Forderungen der Input- und Interaktions-
Hypothese (vgl. u. a. Krashen/Terrell 1983).
2.4. Die Diskurs-Hypothese Wie auch bei den vorausgehenden Hypo-
Die Diskurs-Hypothese geht auf Untersu- thesen wird die fehlende empirische Basis be-
chungen zurück, die die Veränderlichkeit des klagt. Die Ergebnisse der wenigen Untersu-
Sprachgebrauchs im allgemeinen und in der chungen sind heterogen. Empirische Belege
Entwicklung der Interlanguage untersuchen. für die Thesen Givóns (1979) hinsichtlich der
Givón, der in der Literatur neben Hatch Entwicklung einzelner Parameter von ,prag-
(z. B. 1978, 403f.: „from conversation to syn- matic‘ zu ,syntactic mode‘ liegen nicht vor
tax“) als Urheber dieser Hypothese genannt (vgl. z. B. Kelley 1983; Stauble 1984). Ellis
wird, ist der Auffassung, dass „[…] the for- 1991, 121) nennt die Hypothese „an inter-
mal or ,structural‘ properties of syntax […] esting idea“, die weiterer Ausarbeitung be-
emanate from the properties of human dis- dürfe. Ergänzend nennt er die ,Collaborative
course“ (Givón 1979, 49). Er nimmt an, dass Discourse Hypothesis‘. Wichtig bei der Ver-
syntaktischer Wandel vorrangig durch psy- wendung neuer grammatischer Strukturen
cholinguistische und pragmatische Prinzipien seien Dialoge zwischen Lehrenden (MS-Spre-
bedingt ist, die zu Perzeptions- und Produkti- chern) und Lernenden (NMS-Sprechern).
onsprozessen in der Interaktion in Beziehung Untersuchungen hätten gezeigt, dass Ler-
stehen. Er unterscheidet zwei Typen von nende die von den Lehrenden gebrauchten
Strukturen: lose, parataktische pragmatische Strukturen aufnähmen und in ihren Ant-
Diskursstrukturen und feste, grammatikali- worten anwendeten (z. B. Ellis 1985). Daraus
sierte syntaktische Strukturen. Diese Un- wird die These abgeleitet, dass Gespräche/
terscheidung wird auch deutlich in der Diffe- Dialoge entscheidend für den Spracherwerb
renzierung nach informellen/-ungeplanten seien (vgl. Long/Sato 1984). Zweifel an dieser
und formellen/geplanten Diskursen. Zwi- These werden z. B. von Fearch/Kasper (1986)
schen beiden Typen gibt es Übergänge, die angemeldet. Sie sind der Auffassung, dass
sich auch in unterschiedlichen Entwicklungen Gespräche eher die Kommunikation erleich-
der Interlanguage zeigen. Die Lernenden tern als den Erwerb. Die über Gespräche
wenden entsprechend dem jeweils gegebenen kurzfristig erworbenen sprachlichen Struk-
Diskurstyp Regeln variabel an. Die Sprach- turen würden langfristig nicht gespeichert.
benutzerinnen und -benutzer und ihre Für langfristigen Erwerb sei es notwendig,
sprachlichen Fähigkeiten entwickeln sich von sprachliche Strukturen systematisch zu ler-
einer diskursorientierten pragmatischen Art nen und anzuwenden. In Gesprächen lernten
der Kommunikation („pragmatic mode“) hin die Lernenden allenfalls situationsorientiert
738 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

zu handeln, aber nicht, grammatische For- chend genug, um die Frage nach positiven
men korrekt anzuwenden. Eine weitere Vari- bzw. negativen Wirkungen von Interaktionen
ante der Diskurs-Hypothese ist die ,Dis- auf den Fremdsprachenerwerb eindeutig be-
course Integration Hypothesis‘: antworten zu können.
„Knowledge about the target language can lead to
⫺ Ausschließlich experimentelle und quasi-
improved competence in its use if and only if a ru- experimentelle Designs mit künstlichen Da-
dimentary but functionally competent target lan- ten versprechen keine zuverlässigen An-
guage discourse system exists in the learner‘s cogni- worten auf die gestellte Frage.
tive structures.“ (Edmondson 1987, 1071) ⫺ Die Etablierung einer Forschung, die
dem Forschungsgegenstand angemessen ist,
Diese produktionsorientierte Hypothese ar-
erweist sich als schwierig, wenn unter For-
gumentiert entgegen Krashen (1982) dafür,
schungsgegenstand der Erwerb sprachlicher
dass „Lernen“ einen Beitrag zum „Erwerb“
Fähigkeiten durch Interaktionen verstanden
leistet und spezifiziert, unter welchen Bedin-
wird, und nicht der Erwerb einer Kompetenz,
gungen dieser Transfer von explizitem Wissen
die sich auf das vage Verstehen und die
(unter Einschluss pragmatischen Wissens) zu
Übermittlung rudimentärer Botschaften be-
diskursiven Fähigkeiten stattfinden kann.
schränkt.
2.5. Die Topikalisierungs-Hypothese ⫺ Am ehesten scheint es möglich zu sein,
empirische Belege für erfolgreiche/nicht er-
Eine Reihe von Forscherinnen und Forschern
folgreiche Verständigungs- und Verstehens-
haben Wahl und Kontrolle von Themen und
prozesse beim gesteuerten Erwerb zu erbrin-
Themenabwicklung durch die Lernenden als
gen. Verständigung und Verstehen sind aber
erwerbsfördernd sowohl für den L1- als auch
nicht gleichzusetzen mit kurz-, mittel- und
für den L2-Erwerb hervorgehoben (u. a.
langzeitigem Erwerb von formalsprachlichen
Hatch 1978; Long 1983b; Ellis 1991): Ent-
Fähigkeiten.
sprechend lautet die Topikalisierungs-Hy-
⫺ Bei der Untersuchung von Verständi-
pothese, der in der Erforschung des gesteuer-
gungs- und Verstehensprozessen sind einfa-
ten Zweitsprachenerwerbs besonders Slimani
che Korrelationsstudien von Input und Out-
(1987) nachgegangen ist. Dabei fand sie her-
put sowie andere experimentelle und quasi-
aus, dass nicht so sehr die Lernenden, die ein
experimentelle Arbeiten wenig hilfreich: viel-
Thema initiieren, von der Initiative profitie-
versprechender sind Untersuchungen, die den
ren, sondern die Mitlernenden. Die Lehren-
Interaktions-Aushandlungsprozess zwischen
deninitiative als häufigste Interaktionsform
den am Erwerbsprozess Beteiligten mitanaly-
im inhaltsbezogenen gesteuerten Zweitspra-
sieren.
chenerwerbs sei von geringer Bedeutung für
⫺ Eine Untersuchung des Aushandlungs-
den Spracherwerb. Von allen hier dargestell-
prozesses schliesst eine Beschränkung auf die
ten Hypothesen ist die Topikalisierungs-Hy-
Verstehenskomponente aus. Die produktive
pothese am wenigsten empirisch untersucht
Verarbeitung der jeweiligen Inputs besonders
worden. Das mag auch daran liegen, dass sie
durch die Lernenden (die sog. Outputs bzw.
als selbstverständlich erachtet wurde und in-
Sprachlernaktivitäten) als wichtige Kompo-
nerhalb der anderen Hypothesen zwar mitge-
nente des Spracherwerbs sind mit in die Ana-
dacht worden ist, aber nicht als Teil-These
lyse einzubeziehen.
bzw. eigenständige These thematisiert wurde.
⫺ Es ist zu überlegen, in welcher Hinsicht
2.6. Zusammenfassung sog. (mit Hilfe von Intro- bzw. Retrospektio-
nen erhobene) „Sekundärdaten“ die interak-
Betrachtet man zusammenfassend den Faktor
tionaistische und spracherwerbliche „Primär-
,Interaktion‘ unter fremdsprachenerwerbs-
datenanalyse“ unterstützen können.
spezifischen Gesichtspunkten, oder anders:
⫺ Gleichfalls ist zu fragen, ob und in wel-
fragt man nach empirisch abgesicherten Un-
cher Weise longitudinal erhobene Daten dem
tersuchungsergebnissen hinsichtlich spracher-
Analyseprozess nützlich sind.
werbsfördernder Wirkungen von interaktiven
⫺ Erst eine Analyse, die Aushandlungspro-
Variablen bzw. Aushandlungsprozessen, ist
zeduren aus der wechselseitigen Perspektive
auf folgende Kritikpunkte hinzuweisen:
der Beteiligten durchführt, kann zeigen, ob
⫺ Die für den gesteuerten und besonders die Annahme gerechtfertigt ist, dass Interak-
für den natürlichen Erwerb durchgeführten tionen in inhaltsbezogenen Diskursen keine
Untersuchungen sind sowohl quantitativ als nachweisbare Wirkung auf den Spracher-
auch qualitativ immer noch nicht ausrei- werb haben.
76. Zweitsprachenerwerb als Interaktion I 739

⫺ Desgleichen kann erst eine Analyse die- net, die bisher in der Erforschung des gesteuer-
ser Art zeigen, ob die eingeschränkte An- ten Zweitsprachenerwerbs nur wenig einge-
nahme aufrechterhalten werden kann, dass setzt und erprobt worden sind (vgl. Henrici
Interaktionen („interaktive Anpassungen“) 1989). Es ist zu prüfen, ob diese diskursanaly-
gute Bedingungen für den Spracherwerb tischen Verfahren in der Lage sind ⫺ und wenn
schaffen und förderlich für das Verstehen ja, bis zu welcher Grenze ⫺, auch empirische
sind. Aussagen über die Teilkomponente ,Kogni-
⫺ Trotz der in der Literatur geäußerten Be- tion‘ zu machen. Untersuchungen innerhalb
denken hinsichtlich des Beitrags von Interak- der Arbeitsgruppe Fremdsprachenerwerb Bie-
tionen für den Spracherwerb (Ellis 1991) schei- lefeld zu unterschiedlichen Interaktionskon-
nen empirische Untersuchungen nützlich zu stellationen, -formen und -prozessen (vgl. Ar-
sein, die die Komplexität von Aushandlungs- beitsgruppe Fremdsprachenerwerb Bielefeld
prozessen aus der Perspektive der Beteiligten 1989; 1996; Henrici 1990, 1995) deuten an,
und unter Berücksichtigung kontextueller Be- dass das in diesen Untersuchungen verwen-
dingungen subtiler rekonstruieren als die bis- dete Instrumentarium der Diskursanalyse an
her aus der Perspektive der Analysierenden Grenzen stößt. Aussagen über kurzzeitiges an-
mit „Grobkategorien“ durchgeführten Mini- fängliches Verstehen scheinen möglich zu sein.
mal-Analysen. Eine solche Analyse setzt eine Aussagen über kurzzeitiges wie auch mittelzei-
gründliche und differenzierte Datenerhebung tiges und langzeitiges Lernen scheinen mit
und -aufbereitung voraus. Erst Analysen die- Hilfe von diskursanalytischen Verfahren nur
ser Qualität können zeigen, ob die geäußerten über Longitudinalstudien ermittelbar zu sein
Bedenken angebracht sind. ⫺ in welchem Umfang ist derzeit ungewiss. All
⫺ Analysen dieser Art können auch die dem sollte eine präzise Vorstellung darüber
Bedeutung von metasprachlich durchgeführ- vorausgehen, was unter Spracherwerb zu ver-
ten „erklärenden Nebensequenzen“ für Ver- stehen ist: Sind z. B. Ratifizierungen, Adaptio-
stehen und Spracherwerb aufzeigen (Schach- nen, Annäherungen, Reproduktionen bereits
ter 1986). Spracherwerb oder nur Hinweise auf Sprach-
⫺ Mit Hilfe solcher Analysen kann auch erwerb?
gezeigt werden, ob die extreme Annahme
(vgl. White 1987) gerechtfertigt ist, dass In-
teraktionen Lernprozesse eher behindern als 3. Fremdsprachenunterrichtsspezifische
fördern und unter welchen Bedingungen Ler- Relevanzen
nen auch ohne „interaktive Unterstützung“
möglich ist. (Henrici 1995, 21f.). Seit Mitte der 70er Jahre hat der Begriff „In-
teraktion“ vs. „interaktive Kompetenz“ zu-
Die kritische Zusammenfassung der For- sammen mit Begriffen wie „Kommunikation“,
schungslage macht deutlich, dass wir noch „Kommunikationsfähigkeit“ in der Fremd-
weit davon entfernt sind, einigermaßen sichere sprachendidaktik Hochkonjunktur (vgl. u. a.
Aussagen über die Beziehung zwischen Inter- Piepho 1974; Schiffler 1980; Brumfit 1984).
aktionen und Lernen/Erwerb (Kognition) zu Abgeleitet aus linguistischen Konzepten und
machen. Die empirischen Belege sind dafür zu pädagogisch-philosophischen Neuorientie-
dürftig. Notwendig erscheint, dass Untersu- rungen wird er ⫺ häufig schlecht definiert ⫺
chungsergebnisse auf der Basis von Daten zur Kennzeichnung unterschiedlicher Sach-
vorgelegt werden, die Rückschlüsse auf real verhalte benutzt, z. B. um Zielsetzungen des
ablaufende Unterrichtsprozesse ermöglichen. Unterrichts zu formulieren oder die Art und
Hinsichtlich der beiden zentralen Komponen- Weise zu beschreiben, wie bestimmte Zielset-
ten ,Interaktion‘ und ,Kognition‘ sind dem zungen erreicht werden können. Eine gewisse
Gegenstand angemessene methodologische Einigkeit scheint darin zu bestehen, dass mit
Vorgehensweisen und adäquate methodische „kommunikativer Orientierung im Unter-
Untersuchungsverfahren zu wählen. Das richt“ der Erwerb von Fertigkeiten wie
heißt: Für die Teilkomponente ,Interaktion‘ Hören und Sprechen, also Mündlichkeit und
erscheinen nur solche Verfahren als angemes- das sprachliche Handeln miteinander zum
sen, die den Prozesscharakter von Interaktion, Zwecke der Bewältigung alltäglicher Lebens-
den wechselseitigen Verstehens- und Produk- situationen betont werden soll. Begründun-
tionsprozess der an der Interaktion Beteiligten gen mit Hinweisen auf Erstsprachen- und na-
sensibel rekonstruieren. Dazu sind nur diffe- türliche Zweitsprachenerwerbsprozesse sind
renzierte diskursanalytische Verfahren geeig- relativ selten (u. a. Scarcella/Oxford 1992;
740 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

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77. Zweitsprachenerwerb als Interaktion II: Interaktion und Kognition

1. Zweitsprachenerwerb als Interaktion sowie eigener langjähriger Feldforschungen


2. Kognition vorschlagen, behandeln die meisten Studien
3. Interaktion und Kognition zum Erwerb einer „zweiten“, mit der „ersten“
4. Literatur in Auswahl handlungspraktisch konkurrierenden bzw.
gleichwertigen Sprache die „frühe Zweispra-
1. Zweitsprachenerwerb als chigkeit“ und den „sukzessiven Bilingualis-
Interaktion mus“, seltener den „späten sukzessiven“ oder
den „transitorischen Bilingualismus“, kaum
Der vorgesehene Zusammenhang (vgl. Art. je den Fall der „Diplomatensprache“. Ande-
76) von Interaktion und Kognition lenkt mit rerseits impliziert der Terminus eine Konzen-
dem Terminus Zweitsprachenerwerb den Fo- tration auf bestimmte Modi des Erwerbs (im
kus einerseits auf eine spezifische Sukzession Unterschied zum Lernen, vgl. Art. 61), näm-
des Erlernens einer Sprache. Im Sinne der lich auf außerschulische Bedingungen der
Differenzierung, die Rehbein/Grießhaber Aneignung einer zweiten Sprache, nicht sel-
(1996, 69) auf der Basis der breiten Literatur ten erst im Erwachsenenalter. Da bei kriti-
77. Zweitsprachenerwerb als Interaktion II 743

scher Betrachtung beide Modi keineswegs Konversationsanalyse und Ethnographie des


isoliert voneinader auftreten, sondern in den Sprechens, als Sprechhandlungstheorie das in-
zweitsprachlichen Alltag Phasen von „Lehr- tegrale Verständnis von vornherein katego-
Lern-Diskursen“ und in „Unterrichtsdis- rial und methodisch umzusetzen versucht (im
kurse“ solche des Lehr-Lern-Diskurses einge- Überblick: Rehbein 1988). Angesichts der
lagert sind (Ehlich 1980; Gülich 1985; Garlin nicht selten einer linguistischen Theoriebil-
2000), werden gleichwohl auch Formen des dung nachlaufenden Spracherwerbsfor-
Erwerbs von L2 im bilingualen, im Zweit- schung (Ferguson 1991), finden die entspre-
sprachen- oder im Fremdsprachenunterricht chenden Erkenntnisse, Methodologien und
sowie allgemein unter Mehrsprachigkeitsbe- Kategorienbildungen noch keinen verallge-
dingungen thematisch (Typen 6 bis 10 bei meinerten Niederschlag in letzterer (vgl. Gal-
Rehbein/Grießhaber 1996). laway/Richards 1994; Tarone u. a. 1994).
Interaktion ist eine im Wege der Kritik an Nach einer regelrechten „Konjunktur“ der
solipsistischen soziologischen (Erving Goff- Auffassung, dass Erst- und Zweitspracher-
man) und linguistischen Theorien (Dell Hy- werb sich in der komplexen, empirisch zu
mes) entwickelte Kategorie, welche die Part- analysierenden sozialen Interaktion vollzieht
nerbezogenheit und Wechselseitigkeit des und selbst eine interaktive Qualität hat (z. B.
Agierens einzelner Aktanten ⫺ zuweilen em- Bruner 1975; Ramge 1976; Erwin-Tripp/Mit-
pathisch als „Austausch“ (exchange, encoun- chell-Kernan 1977; Snow/Ferguson 1977;
ter) metaphorisiert (Halliday; Sinclair/Coult- Hatch 1978; Karmiloff-Smith 1979; Martens
hard) ⫺ geltend macht. Betrachtet man diese 1979; Ochs/Schieffelin 1979; Boueke/Klein
„inter“-Qualität nicht bloß formal (inflationär 1983; Kutsch/Desgranges 1985; Meng 1985),
geschieht dies bei kybernetischen Grundauf- diversifizierte sich dieser pragmatische Zu-
fassungen, z. B. in der biologistischen Kom- griff auf Formen der Sprachentwicklung
munikationstheorie oder der modular konzi- überwiegend wieder in strukturalistische Teil-
pierten Grammatiktheorie), sondern wirklich betrachtungen. Auch für den Fremdspra-
gesellschaftsanalytisch, so lässt sich knapp chenzusammenhang findet die Diskussion
formulieren: „Interaktion ist eine wesentliche erst allmählich eine erneute Reflexion (vgl.
Erscheinungsweise menschlicher Handlun- die Arbeitsgruppe Fremdsprachenerwerb Bie-
gen“ (Ehlich 1991, 128). Konsequenterweise lefeld 1996).
sind die Kategorien (menschliche, verbale,
non-verbale) „Kommunikation“ und (sprach-
liche) „Handlung“ systematisch als interaktiv 2. Kognition
aufzufassen (ebd.).
Die qualifizierende Formulierung von Die Diskussion von Kognition, ja die kogni-
Zweitsprachenerwerb als Interaktion ist tive Linguistik, sind seit Mitte der achtziger
schließlich theoretisch additiven, nicht-sozia- Jahre geradezu en vogue, so dass schon von
len Betrachtungen von Spracherwerb kritisch einer „kognitiven Wende“ gesprochen wird
entgegengesetzt (vgl. Art. 66⫺75). Dies be- (Klix 1994). Was darunter jeweils zu verste-
deutet keineswegs, dass etwa lernerspezi- hen ist, divergiert allerdings erheblich. Abge-
fische mentale Prozesse oder physiologische sehen von undifferenzierten und nicht-termi-
wie psychologische Voraussetzungen des nologischen Verwendungen in der wissen-
Spracherwerbs negiert würden. Vielmehr hat schaftlichen Alltagssprache basiert die Kate-
eine linguistische Theorie, welche Sprache als gorie der „Kognition“ theoriegeschichtlich
eine Form des Handelns betrachtet, mentale, auf dem Dualismus von res extensa und res
interaktionale und aktionale Dimensionen cogitans der Philosophie Rene Descartes’.
des sprachlichen Handelns integrativ aufzu- Neuerdings tritt er zuweilen als Gegenüber-
fassen und in ihrer komplexen Wechselwir- stellung von „exogenen“ und „endogenen“
kung innerhalb der Totalität des Handels zu Faktoren auf (vgl. Henrici 1989). Biologisti-
bestimmen. Im Laufe der Sprachwissen- sche Auffassungen der kognitiven Linguistik
schaftsgeschichte (vgl. Art. 64) hat sich diese treiben diese Differenz in spezifischer Weise
Einsicht nur sukzessive theoretisch durchge- um eine Wendung weiter, indem das Kogni-
setzt, so dass im Forschungsstand ⫺ meist tive selbst cartesianisch reifiziert wird, näm-
additiv erweiterte ⫺ Etappen zu verzeichnen lich neuronal (Bierwisch 1987). Eine weitere
sind. Die deutsche „Diskursanalyse“ hat, in auf Descartes zurückgehende Dichotomie,
kritischer Überwindung der Reduktionismen die für die Sprachanalyse gleichermaßen eine
von Sprechakttheorie, discourse analysis, Kategoriendiffusion nach sich zog ⫺ man be-
744 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

achte die ausführliche Kritik von Ryle (1949) und s-Struktur treten „articulatory-percep-
⫺ ist die von ratio und emotio, von Kogni- tual (A⫺P) and conceptual-intentional C⫺I)
tion und Emotion. Während die Kategorie interfaces“ (Chomsky 1995, 220). Indem des
des Mentalen das komplexe Ganze integral weiteren die UG nicht mehr allein vom Engli-
begreift und einzelne Dimensionen (wie etwa schen aus rekonstruiert wird, sondern die
Wissen, Wahrnehmen, Glauben, Fühlen) dar- Einzelsprachen in ihrer typologischen Beson-
auf hin zu bestimmen sucht (Rehbein 1977), derheit und deren Relation zur UG in Form
abstrahiert und isoliert die dichotomisierende von Parametersetzungen mehr Beachtung er-
Auffassung die komplexen Bestimmungsmo- fahren, kommt der Performanz ein gewisser-
mente als „Faktoren“ oder „Parameter“ (vgl. maßen korrektives Gewicht zu. Gleichwohl
Art. 71) und rückt bald die einen, bald die hat innerhalb des Chomsky-Paradigmas, das
anderen emphatisch in den Vordergrund. Für schlagwortartig mit „Nativismus“ verknüpft
die Frage nach dem Wechselverhältnis von wird, der behavioristisch benannte „Input“
Interaktion und Kognition wird einerseits bloß die Funktion eines triggers der UG und
dieser differente kategoriale Hintergrund re- ihrer parametrisierten Spezifikation für die
levant und ist andererseits zu unterscheiden, Ausbildung ⫺ und somit den Erwerb ⫺ einer
ob es um mentale Dimensionen von Sprache Einzelsprachgrammatik (z. B. im Überblick
bzw. sprachlichem Handeln selbst geht oder Verrips 1990; Wode 1993; Bayer 1995; Rit-
um allgemeinere mentale Fähigkeiten, die für chie/Bhatia 1996; kritisch Tracy/Lattey 1994).
den Spracherwerb einschlägig werden. Nicht Dies geht konform mit der Weiterentwick-
zuletzt stellt sich das Problem der sprachli- lung eines Zweigs der kognitiven Linguistik,
chen Vermitteltheit großer Bereiche des Men- der sich speziell mit dem Parser befasst (Felix
talen, seit Vygotskij zusammengefasst unter 1990), also mit einem textverarbeitenden Teil-
dem Stichwort von „Denken und Sprechen“. bereich der I-language. Auf der Basis des
Modells eines Sprecher-Hörers wird „Verste-
hen“ dann als Informationsverarbeitung ⫺
3. Interaktion und Kognition mithin im Wesentlichen als propositionale
Gehalte von Assertionen zerlegend ⫺ gefasst.
3.1. Kompetenz und Performanz
Die Modelle und entsprechenden Beschrei-
In den verschiedenen Versionen der bungskategorien haben sich in den letzten
Chomsky-Theorie von Sprache wird Kompe- Jahren erheblich entwickelt (z. B. Konardt
tenz terminologisch, nicht bloß als an- u. a. 1994). Für den Fremdsprachenerwerb
spruchsvoller Ausdruck für ,Fähigkeit‘ (Ha- werden derartige Sprachverstehensmodelle ⫺
bermas) gefasst. Charakteristisch ist, dass vor allem die Anwendung des „prozeduralen
Kompetenz genuin ein technisches Konzept Wissens“ (knowing how; Winograd 1972,
darstellt, nämlich den Generierungsmechanis- Diskussion der Kontroverse: 1975), seltener
mus von Sätzen (Apparat der Universalgram- die des „deklarativen“ (knowing that) ⫺ neu-
matik UG); erst im Wege einer Metaphorisie- erdings mit dem Entwicklungsziel elektroni-
rung wird er sodann als Repräsentation ⫺ me- scher Selbstlernprogramme heranzuziehen
thodisch genauer: als Simulation ⫺ der versucht, indem sie als „kognitive Lernmo-
menschlichen Fähigkeit zur Generierung von delle“ gedeutet werden (Wolff 1994) (vgl. wei-
Sätzen einer natürlichen Sprache behauptet ter unten). Es ist demgemäß absehbar, dass
und so kognitiv verankert. Die erzeugten tendenziell der „Output“ nicht mehr nur spo-
Strukturbeschreibungen werden gleichfalls radisch für empirische Einschätzungen von
metaphorisch ,Sprache‘ genannt, seit den Erwerbsstadien und deren individuelle Vari-
achtziger Jahren genauer:„I-language“ als anz (Clahsen u. a. 1983; Meisel 1994) heran-
Akronym für „internal“, „individual“, „in- gezogen werden wird, sondern perspektivisch
tensional“. „The I-language is a state of the auch für das, was Meisel (1992) noch als in-
mind/brain.“ (Chomsky/Lasnik 1995, 17). teraktionalen Druck marginalisiert. In der
War ursprünglich die Performanz als kon- Analyse von Fehlleistungen deutet sich dies
krete Erzeugung natürlichsprachlicher Sätze bereits an (Leuninger 1987). Gleichwohl wird
aus dem Analysebereich der Theorie ausge- Interaktion in absehbarer Zeit weder als De-
grenzt, so wird mittlerweile mit einer Einbet- terminans noch als Determinatum ein Gegen-
tung der Kompetenz in Performanzsysteme stand für die Sprachanalyse im Chomsky-Pa-
gerechnet. Die „Instruktionsrelation“ zwi- radigma und die entsprechende kognitive
schen Kompetenz und Performanz wird zu- Linguistik sein. Die Ineinssetzung von Spre-
nehmend „flacher“ angesetzt; an Stelle der d- cher- und Hörer, die formale Satzzentriert-
77. Zweitsprachenerwerb als Interaktion II 745

heit bzw. -basiertheit sowie der tendenziell Entwicklung von Gelerntem oder Erworbe-
sich selbst ad absurdum führende Umgang nem in der Zweitsprache.
mit „Daten“ (Grießhaber/Rehbein 1996, § 6) a) Verbale Interaktion trotz defizitärem
behindern dies systematisch. Zum Verhältnis fremdsprachlichem Wissen basiert nach einer
von Interaktion und Kognition ist dement- breiten Forschungstradition auf unterschied-
sprechend nichts abzuleiten (vgl. die konse- lichen Strategien (Faerch/Kasper 1983; Kas-
quente Problematisierung der „Teachability“ per/Kellerman 1997, interkulturell bezogen
bei Pienemann 1989). Zudem besteht das Gumperz 1982). Solche Strategien werden lt.
theoretische Postulat, dass ⫺ im Unterschied Kasper dem „prozeduralen Wissen“ zugeord-
zur Auffassung von Piaget ⫺ die kognitive net und haben insofern selbst kognitive Qua-
Entwicklung keinen direkten Einfluss auf die lität. Allerdings beziehen sie sich auf qualita-
Entwicklung der Sprachfähigkeit habe, son- tiv und formal unterschiedlichste Gegen-
dern diese sich als autonomes Modul inner- standsbereiche: auf Produktion sowie Perzep-
halb der kognitiven Systeme entfalte; dies tion und Rezeption, auf Diskurssteuerung im
versuchen Schaner-Wolles/Haider (1987) an Sinne der an Grice orientierten (intentiona-
Hand von durchaus ambivalent zu wertenden len) Pragmatik, auf die Konstituierung von
Experimenten empirisch ins Recht zu setzen. Kommunikation und schließlich auf das Ler-
nen bzw. Gelernte. Diesen primär ⫺ von Ent-
3.2. Interaktionsbegleitende Kognition lehnungen aus dem „foreigner talk“ (Fergu-
Eine noch nicht voll vermittelte, zuweilen so- son 1971) abgesehen ⫺ lernerzentrierten Stra-
gar eher äußerliche Konjunktion der beiden tegien (wie Inferenzierung, Generalisierung,
Größen ist in den sprechakttheoretisch und Reduktion, Substitution, Rückmeldung und
konversationsanalytisch oder ethnographisch Reparatur oder Hypothesenbildung und -te-
basierten Analysen des Spracherwerbs zu ver- stung) stellt Mitchell (1988) lehrerzentrierte
zeichnen. Zwar wird in diesen Theorien den Strategien zur Seite (wie Wiederholung, Re-
sprachlichen Mitteln und den daraus konsti- formulierung, Erklärung, Kontrastierung,
tutierten Äußerungen selbst keine kognitive Exemplifizierung und Hinweisgebung). Die
oder gar mentale Dimension zubemessen. Untersuchung von Kommunikationsstrate-
Aber auf ihre Produktion und auch Rezep- gien zur Bewältigung von Verstehensproble-
tion ⫺ zuweilen technizistisch als Codierung men in unterschiedlichen zweitsprachlichen
und Decodierung gefasst ⫺ richten sich eine Konstellationen ist ⫺ parallel zur Konstatie-
Reihe von kognitiven Verfahren. Insbesondere rung von Missverstehen als Kennzeichen in-
auf Grund empirischer Analysen und Erklä- terkultureller Kommunikation ⫺ vor allem
rungsversuche für die starken, dennoch nicht im ethnographischen Paradigma vorangetrie-
zufälligen Varianzen beim Fremdspracher- ben worden (Hinnenkamp 1989; Coupland
werb wurde das Konzept einer Interlanguage u. a. 1991; Bremer u. a. 1996).
(Selinker 1971) oder ⫺ dynamisch gefasst ⫺ Eine handlungstheoretische Analyse könn-
einer Interimsprache (Bausch/Raabe 1978) te zu einigen weiteren Differenzierungen füh-
entwickelt. So gelang eine allmähliche Über- ren und zeigen, dass nur einige der Strategie-
windung der Input-Zentrierung (bis hin zu Kategorien wirklich mentale Verfahren erfas-
Krashens „Monitor-Modell“) und eine deut- sen, manche andere eher Verbalisierungstech-
liche Beachtung von fremdsprachlichem Wis- niken. Ferner erweisen sich z. B. das Erklären
sen, welches in der Interaktion oder ⫺ im for- und das Beispielgeben bei genauerer Betrach-
malen Sinne übersatzmäßiger sprachlicher tung als sprachlich: sie haben die Qualität
Einheiten ⫺ im discourse erforderlich ist und von Sprechhandlungen mit spezifischen,
so verstärkt wird (z. B. Hatch 1982; Ellis jeweils genau zu rekonstruierenden mentalen
1990; Larsen-Freeman/Long 1991; Trosborg Musterpositionen (Ehlich/Rehbein 1986);
1995; im Überblick Edmondson/House 1993; auch Reparatur sowie Reformulierung und
Henrici 1993; Gallaway/Richards 1994; kri- Wiederholung stellen sprachliche Handlun-
tisch Wagner 1996). Kognitive Verfahren gen dar, die allerdings zweckhaft auf die Ver-
werden in diesem Forschungszusammenhang arbeitung bzw. Verbalisierung sprachlichen,
im Wesentlichen mit drei Perspektiven auf die nicht zuletzt propositionalen Wissens gerich-
Interaktion thematisiert: a) der des interakti- tet sind (Rehbein 1984; Bührig 1996); „Rück-
ven Umgangs mit defizitärem Wissen über meldungen“ hinwiederum lassen sich als klei-
fremdsprachliche Mittel, b) der einer produk- nere sprachliche Handlungseinheiten, näm-
tionsfördernden Aktivierung von erstsprach- lich Prozeduren, bestimmen, im Einzelnen
lichem Wissen, c) der einer Anwendung und besonders als expeditive Prozeduren (Ehlich
746 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

1986). Mithin liegen in den Strategienlisten identisch sei mit explizierbarem oder bewuss-
Kategorienmischungen vor und erscheint das tem Sprachwissen bzw. der Negation davon,
Konzept der Strategie selbst noch nicht hin- wohl aber dessen Voraussetzung. Quer dazu
reichend trennscharf. Darin dürfte sich eine stehe nämlich die Frage der „Automatisie-
Aporie phänographischer, d. h. nicht syste- rung“ von Produktion und Rezeption. Nicht
matisch mentale Dimensionen einschließen- zerlegtes, mehr oder minder automatisiertes
der Interaktionsanalysen ausdrücken. Wissen charakterisiere die Alltagskommuni-
b) Ein spezifisches kognitives Verfahren in kation in der Zweitsprache, während das an-
der zweit- und fremdsprachlichen Äuße- dere in Bildungsinstitutionen gefordert und
rungsproduktion ⫺ zuweilen wird es unter gefördert werde. (Vor diesem Hintergrund
die Strategien subsumiert ⫺ besteht in der diskutiert sie 1990 Kommunikationsstrate-
Aktivierung und Übertragung von sprachli- gien.) Ellis (1990) kritisiert die mangelnde Er-
chem Wissen aus der L1 in die L2: Transfe- klärungskraft dieses Lern-Modells für Er-
renz oder Transfer (Clyne 1967; Selinker werbssequenzen und die Vagheit hinsichtlich
1969, in Kritik der Herkunft aus der behavio- des expliziten Wissens, so dass er selbst ein
ristischen Lerntheorie Kellermann 1984). Modell entwirft, das sich als „integrativ“ ver-
Diskursanalytisch betrachtet (Grießhaber steht. Im Unterschied zum graduellen Wis-
1990), wird nicht nur Wissen über sprachliche senskonzept von Faerch/Kasper (1983) und
Formen vom lexikalischen, morphosyntakti- Faerch u. a. (1984) postuliert er eine distinkte
schen oder phonologischen Typus aus der L1 Opposition von „explizitem“ und „implizi-
für Ausdrucksbedürfnisse in der L2 einge- tem Wissen“ über die L2: Sie bildeten diffe-
setzt, sondern auch über komplexere Hand- rente Wissensformen ⫺ erstere sei bewusst
lungseinheiten wie Sprechhandlungen oder und deklarativ, letztere subbewusst und pro-
Diskurse bzw. Texte und ⫺ nicht an der zedural ⫺ und seien hirnphysiologisch sepa-
sprachlichen Oberfläche erkennbar ⫺ Wissen rat verankert. Formorientierte Instruktion
über die Funktion sprachlicher Formen aus befördere das explizite Wissen, mache jedoch
L1, das auf L2-Formen übertragen wird; zu- zugleich sensibel für die Wahrnehmung for-
dem sind Phänomene des „reziproken Trans- maler Kennzeichen der L2, so dass indirekt
fers“ zu verzeichnen (Rehbein 1987). auch das implizite Wissen bereichert werden
c) Über das, was sich kognitiv bei der An- könne, das im übrigen „meaning“-orientier-
wendung des Wissens über die Zweitsprache ter Instruktion zugänglich sei, wie sie auch
genau abspielt und wie sich die interim- die zweitsprachliche Alltagskommunikation
sprachliche Fähigkeit weiter entwickelt, gibt charakterisiere.
es erhebliche Kontroversen. Ausgelöst wur- Das, was die Modelle als Einsicht über das
den sie durch die Differenzierung von subbe- Lernen behaupten, verdankt sich im Wesent-
wusstem kommunikativen Erwerb und be- lichen einem Vergleich von experimentellem
wusstem, qua „Monitor“ kontrolliertem Ler- Input und Output und einer unterstellten
nen fremdsprachlicher Ausdrucksformen bei Identität von Simulationsformen und realen
Krashen und durch sein Plädoyer für „natür- kognitiven bzw. mentalen Prozessen. Fak-
liches“ Herangehen an die Fremdsprachen- tisch weiß man über das Lernen noch höchst
vermittlung auch im Unterricht (Krashen/ wenig (vgl. Art. 64). Eine weitere Begrenzung
Terrell 1983). Die Kritik an der schlichten di- betrifft das Gelernte oder Gewusste.
chotomischen kognitiven Modellierung sowie Die sprachlichen Gegenstände, auf die sich
der Ausblendung des interaktiven Kontextes diese Modelle richten bzw. an denen sie über-
und der Äußerungsintentionen (z. B. Mc- prüft werden, sind äußerst eingeschränkt. Im
Laughlin 1978; Pica 1983; Lightbown 1985; Wesentlichen geht es um die Anwendung von
Herrlitz 1986; Hulstijn 1986; Kummer-Huda- Wissen über phonetische, morphologische
biunigg 1986) führte zu weiteren Modellen oder (satz-)syntaktische, selten über lexikali-
für die Typisierung der Wissensanwendung sche Sprachformen. Die (im Sinne der KI-
bei der Rezeption und Produktion ⫺ zu Mo- Forschung) artifiziellen Repräsentationsmodi
dellen im Sinne positivistischer Theoriebil- dieses ⫺ aus der Perspektive einer Interak-
dung. (So beansprucht Ellis explizit Poppers tions- bzw. Sprechhandlungstheorie auf das
Wissenschaftsbegriff der falsifizierbaren Hy- Propositionale bzw. dessen Teile reduzierten
pothesenbildung.) Bialystok (1988) unter- ⫺ Bereichs sprachlichen Wissens sind im Ein-
scheidet in ihrem zweidimensionalen Modell zelnen verfeinert worden. Die produktive
des sprachlichen Strukturwissens „analysed“ (generating) wie rezeptive Prozessierung
von „non-analysed knowledge“, was nicht (parsing) von grammatischen Formen wird
77. Zweitsprachenerwerb als Interaktion II 747

z. B. nicht mehr durch die Algorithmisierung tisch primär auf Symbolfeldausdrücke (im
von Regeln oder allein durch die direkte, Sinne von Bühler 1934) bezogenen ⫺ Wissens
ganzheitliche Kopie („Symbolisierung“) von notwendig ist, wie Vygotskij (1934) sie ent-
Strukturen simuliert, sondern vornehmlich wicklungspsychologisch bestimmt hat (Reh-
„konnektionistisch“, d. h. in die assoziativen bein 1982). Im Übrigen sind Wortschatzbe-
Netzwerke der siebziger Jahre anknüpfenden, herrschung, Wortschatzerwerb und Wort-
„parallel distribuierten“ Formen (McClel- schatzvermittlung im Unterricht zu unter-
land/Rummelhart 1986, kritisch weiterfüh- scheiden. So weist Bremer (1997, 90) an Bei-
rend z. B. Pinker 1989). Breiter bekannt ist spielen interaktiver Bearbeitung von Proble-
vor allem das „Competition Model“ von Ba- men des Wortverstehens zu Recht darauf hin,
tes/MacWhinney (s. den Sammelband von dass die Verfahren ⫺ ,Strategien‘ im obigen
MacWhinney 1987); in Anwendung auf den Sinne von a) ⫺ in Lehr-Lern-Situationen des
Zweitspracherwerb wird die Differenz zwi- Sprachkontakts, die Gülich (1991) herausar-
schen Transfer und L2-Lernen hervorgeho- beitet, nicht (notwendig) die gleiche wissens-
ben (MacWhinney 1992). Untersuchungen mäßige Relevanz gewinnen wie ad hoc-Ver-
zum deutschen Flexionssystem liefern inter- fahren im Diskurs, obwohl die sprachlichen
essante Korrekturen gegenüber der am Engli- Erscheinungen sich gleichen. Bereits Knapp-
schen entwickelten Modellierung, vor allem Potthoff/Knapp (1982) unterscheiden dem-
mit Blick auf Übergeneralisierungen (Wey- entsprechend kurzfristiges Bearbeiten und
erts/Clahsen 1994; Lindner 1997). langfristiges Lernen.
Systematisch offen bleibt weitgehend die Es bleibt festzuhalten, dass die unter c) ex-
Frage, die bereits Bloom (1973) an Hand emplarisch skizzierten kognitiven Theorien
frühkindlicher Kommunikation kritisch dis- über das Sprachwissen und seine Entwick-
kutierte, nämlich welche funktionalen Kate- lung erstens einem Sprachverständnis ge-
gorien reale Sprecher bei der Verarbeitung schuldet sind, welches auf Grammatik und
und Produktion sprachlicher Strukturen Semantik (Lexikon von „Inhaltswörtern“)
mental hantieren. Neuerdings werden ⫺ in konzentriert ist und Pragmatik weitgehend
kaum vermittelter Weise ⫺ an Stelle linguisti- ausblendet, zweitens das Wissen über die L2
scher (nicht: sprachlicher) traditionelle philo- abkoppeln von dem über L1 (anders Gros-
sophische, insbesondere erkenntnistheoreti- jean 1992) und über Sprache als solche, ge-
sche Kategorien für die Modellierung des Zu- nauer: als Handlungsform, drittens keinen re-
griffs auf sprachliches Wissen herangezogen flektierten Begriff von Verbalisierung und
(z. B. bei Chafe; Givón; Johnson-Laird; Verstehen als Elementen menschlichen Han-
Langacker; Wierzbicka). Die Erkenntnisleis- delns enthalten. Damit sind Probleme ange-
tung ist noch nicht einschätzbar, die Gefahr schnitten, die die Fragestellung Interaktion
bloßer Metaphorisierungen nicht gering. und Kognition insgesamt zentral betreffen
Die kognitive Repräsentation lexikalischen und für den fragmentarischen, nicht selten
Wissens und seiner Anwendung ist allgemein durch eklektizistisches Vorgehen (Rickheit/
erst in Anfängen ausgearbeitet, nur vereinzelt Strohner 1994) charakterisierten Forschungs-
bezogen auf das Wissen über L2. Am avan- stand verantwortlich sein dürften.
ciertesten erscheinen neben Arbeiten mit Be-
zug auf Jackendoff (z. B. 1983) und das 3.3. Mentales und sprachliches Handeln
Chomsky-Paradigma die Darlegungen der Wenn das Verhältnis von Kognition und In-
sog. Prototypen-Semantik, welche auf Put- teraktion für die unter 3.1. angeführten For-
nam (1975) und Rosch (1978) basieren und schungen als interaktionsfern und ⫺ mit Jä-
zunehmend auch in kognitiven Grammatik- ger (1993) gesprochen ⫺ (tendenziell) sprach-
theorien (Givón; Langacker) aufgegriffen fern zu bezeichnen sind und das Verhältnis in
werden. Die empirische Realität der Kon- den Forschungen unter 3.2. als „interaktions-
zepte wird ⫺ so denn überhaupt ⫺ z. B. begleitend“ und insofern weitgehend äußer-
durch eliziterte Worterklärungen (Quasthoff/ liches charakterisiert wurde, dann darf er-
Hartmann 1982) oder kontrastive Analysen wartet werden, dass nun Ausführungen zu ei-
der Verwendung (B. Wotjak 1992; G. Wotjak nem wesentlichen und integrativen Verhältnis
1993; Kromann/Kjær 1995) zu belegen ver- folgen. Dies würde eine Theorie des Mentalen
sucht. Allerdings erweist sich an Hand ent- mit Bezug auf Sprache als sprachlichem Han-
sprechender Untersuchungen mit Zweit- deln voraussetzen, die, soweit zu sehen, bis-
sprachlern, dass eine Differenzierung von lang noch nicht geleistet ist. Allerdings sind
Qualitäten des lexikalischen ⫺ bislang analy- Ansätze und Einzelerkenntnisse zu differen-
748 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

ten Elementen einer solchen Theorie anzu- exemplifiziert am Restaurantbesuch ⫺ ist


führen, die für die Zweit- und Fremdspra- rein auf den oberflächlichen und erinnerten
chenforschung von Belang sind. Ablauf von Ereignissen bezogen und für „epi-
Verbalisierung umfasst nicht lediglich das sodisches Gedächtnis“ (vs. „semantisches“)
durch sprachliche Ausdrücke Verlautbarte, im Sinne von Tulving (1972) charakteristisch;
auch nicht allein das Moment der Umsetzung ein Strukturierungsmechanismus des scripts
von Mentalem in Sprachliches. In den Kür- fehlt ⫺ ganz im Unterschied zur bereits kri-
zeln der sprachlichen Handlungstheorie ge- tisch entwickelten Kategorie des „Praxeo-
sprochen (Ehlich/Rehbein 1986, 95f.), besteht gramms“ für Großformen sozialen Handelns,
die Verbalisierung nicht allein in p (proposi- z. B. in der Institution Speiserestaurant (Eh-
tionalem Gehalt) oder im Umschlag von P lich/Rehbein 1972): die innere Struktur eines
(mentaler Widerspiegelung der Wirklichkeit Praxeogramms ergibt sich aus dem „Zweck“
P) in p im Zuge der Äußerung, sondern hat des Handelns. Für weniger komplexe Einhei-
ihrerseits eine mentale Vorgeschichte und in- ten des Handelns, insbesondere für die
sofern Erstreckung in P. Diese mentale Vor- sprachliche Handlung (Sprechhandlung),
geschichte ist in sich komplex und enthält als wird die Zweckstruktur kategorial als „Mus-
verbale Planung zumindest ziel-und planbe- ter“ erfasst (Ehlich/Rehbein 1979; Rehbein
zogene Antizipationen des hörerseitigen men- 1977). Praxeogramme und Handlungsmuster
talen Bereichs (PH) sowie die Wahl zweckmä- sind Kategorien für zweckhaft strukturierte
ßiger sprachlicher Mittel (Rehbein 1977). Wirklichkeitsveränderungen, für handelndes
Chafe, ein Sprachpsychologe mit wirklichem, Eingreifen in Wirklichkeit, und enthalten sys-
nicht bloß simulativem Bezug zu konkreter tematisch mentale Musterpositionen, die z. B.
sprachlicher Kommunikation, hebt gleichzei- für die mentale Vorgeschichte der Sprecher-
tig (1977) und gleichermaßen die „interpreta- äußerung eine sehr viel differenziertere Re-
tive“, auf Entscheidungen basierende mentale konstruktion des Mentalen bereithalten, als
Qualität der Verbalisierung hervor. Als men- dies etwa die undifferenzierte und vom indivi-
tale Teilprozesse der Verbalisierung bestimmt duellen Sprecher ausgehende Kategorie der
er die Strukturierung, Kategorisierung und „Intention“ leisten kann (Rehbein 1977,
Versprachlichung eines nicht notwendig 203⫺206), welche in Anknüpfung an Grice
sprachlich verfassten Wissens über die Wirk- eine zentrale mentale Kategorie der sprech-
lichkeit sowie die hörerbezogene Zubereitung akttheoretischen Pragmatik ist.
⫺ etwa hinsichtlich der Definitheit (Chafe Ein Wissen über solche Muster ⫺ das
1972) ⫺, um die so verbalisierte Wirklich- „Musterwissen“ ⫺ gehört als ein besonderer
keitserfahrung schließlich zu äußern. Für eine Strukturtyp des Wissens zum historisch-ge-
mediale Umsetzung von Wissen in Sprache, sellschaftlichen geteilten Wissen eines jeden
mithin für eine Versprachlichung, muss ge- Handelnden, also zum Aktantenwissen (Eh-
mäß Chafe die wesentlich individuell partiku- lich/Rehbein 1977). Für die zweitsprachliche
lare Wirklichkeitserfahrung eine Interpreta- Kommunikation ist relevant, ob für L1 und
tion in type-token-Beziehungen erfahren, wo- L2 ein handlungspraktisch gleichermaßen
bei er drei Formen von types in Kategorien hinreichendes Musterwissen ausgebildet ist,
der Gedächtnisforschung bzw. künstlichen ob das Gewusste über ein sprachliches Hand-
Intelligenz aufgreift, die sich auf komplexere lungsmuster vergleichbar oder kulturspezi-
Wirklichkeitsausschnitte beziehen: schema fisch different ist und wie insbesondere die
(Bartlett 1932), frame (Fillmore 1968; für ein Handlungsmuster zweckspezifischen
Minsky 1974), category. Im Verlaufe der For- mentalen Teilhandlungen („mentale Muster-
schungsentwicklung kommen weitere Typi- positionen“ im Ablaufdiagramm/flow chart)
sierungen von Wirklichkeit, genauer: Wirk- lehr- und lernbar sind. Zu letzterem hat
lichkeitserinnerung, in die KI-Diskussion Grießhaber mit seiner kritischen, empirisch
und leben in der Gedächtnisforschung sowie basierten Einschätzung der Leistungsfähig-
rudimentär in der kommunikativen Fremd- keit von Rollenspielen (1987 Bd. II) Entschei-
sprachvermittlung fort: script (Schank/Abel- dendes beigetragen. Zur Frage einer Kultur-
son 1975) und ⫺ schriftsprachlich bezogen ⫺ spezifik, die sogar bei Bilingualen „durch-
scene bzw. scenario (Sanford/Garrod 1981) schlägt“, haben vor allem Chafe und Tannen
(vgl. Felix u. a. 1990, die Chafe erstaun- (1980) mit Blick auf Kategorisierungen beim
licherweise gar nicht rezipieren). Vermittlun- (komplexen Handlungsmuster) Erzählen im
gen hin zur Verbalisierung enthalten diese amerikanischen und griechischen Vergleich
Kategorien nicht. Das script-Konzept ⫺ interessante Beobachtungen gemacht. Reh-
77. Zweitsprachenerwerb als Interaktion II 749

bein/Grießhaber (z. B. 1996) nutzen die kom- tel ⫺, sofern sie formal oder sprachtypolo-
plexe narrative Handlungsstruktur, um in gisch divergieren und insofern andere Verba-
breit angelegten Feldstudien zu deutsch-tür- lisierungsplanungen erfordern. Hoffmann
kischen Zweitsprachlern kulturspezische Mu- (1989) diskutiert Probleme mit deiktischen
sterrealisierungen zu ermitteln und das jewei- und phorischen Prozeduren in zweitsprach-
lige Verfügen über ein diskriminierendes Mu- lichen Erzählungen, Rehbein in den genann-
sterwissen relativ zu anderen narrativen For- ten Studien vor allem operative Prozeduren
men (Beschreibungen, Bericht etc.) und rela- wie Determination, Konnektion und Kon-
tiv zu Strukturierungen der Wirklichkeitser- gruenz.
fahrung im Sinne von Chafe rekonstruieren Sprachliches Verstehen umfasst in einer
zu können sowie um Realisierungen einzelner nicht auf die Darstellungsfunktion von Spra-
Musterpositionen und Verbalisierungen kon- che beschränkten und weder einer einfachen
trastiv zu beiden Sprachen zu analysieren. noch einer psychologischen Semiotik ge-
Insbesondere stößt demnach die verbale Zu- schuldeten Sprechhandlungstheorie seit den
bereitung für den Hörer (d. h. die Entfaltung Überlegungen von Maas (1972) und Wunder-
des Hörerplans) in der Zweitsprache auf lich (1972) nicht allein das Verstehen des pro-
Schwierigkeiten. Darin könnte ein entwick- positionalen Aktes (und seiner Konstituen-
lungspsychologisches Problem liegen, wie ten, der Prozeduren), sondern auch das Ver-
Meng (1988) und Quasthoff (1983) es für stehen des Äußerungsaktes und des illokuti-
Monolinguale untersuchten und wie es ⫺ mit ven Aktes. Zu Letzterem gehört, dass auf der
Bezug auf die sowjetische kulturhistorische Basis des Musterwissens der Hörer die gesell-
Psychologie ⫺ bereits Ende der siebziger schaftlich von ihm erwartbare, sequentiell
Jahre für die Frage der angemessenen Be- nächste Musterposition erkennt und zu voll-
schulungsform von Migrantenkindern ange- ziehen bereit und in der Lage ist.
führt wurde (BAGIV 1985). Durch sukzes- Ein bestimmtes Musterwissen, genauer: ein
sive zweisprachig angelegte narrative Settings Wissen über bestimmte, nämlich unterrichts-
versuchte Rehbein bereits früh (1982) für die spezifische Handlungsmuster wird für Zweit-
Wiedergabe einer Muppet-Show und dann sprachler in den weitgehend versprachlichten
(1987) einer literarischen Erzählung nachzu- Bildungsinstitutionen relevant ⫺ neben der
weisen, dass die verbalen Wiedergaben in der Entwicklung höherer kognitiver Funktionen
Zweitsprache Deutsch nur bzw. besser gelin- gemäß Vygotskij und einer nicht zuletzt an
gen, wenn die mentale Kategorisierung des den Schriftsprachenerwerb gebundenen
Propositionalen wie die notwendige Erfas- Sprachbewusstsein bzw. einem Sprachwissen
sung der Illokution in der Erstsprache vor- (Andresen 1985; engl. ,awareness‘ erlaubt die
ausgeht. Dies könnte ein Beleg für die unglei- Unterscheidung nicht). Nicht zuletzt auf je-
che Beherrschung mentaler Musterpositionen nes schulische Musterwissen lassen sich die
in beiden Sprachen sein, welche entwick- Argumentationen von Cummins (1976) und
lungs- und lernpsychologisch deutbar ist. Skutnabb-Kangas/Toukomaa (1976); Skut-
Eine Differenzierung hinsichtlich elementarer nabb-Kangas 1981) sowie Wong-Fillmore
und höherer mentaler Funktionen im Sinne (1982) beziehen, die als „Schwellenhypo-
von Vygotskij fordern auch Arnberg/Arnberg these“ (threshold-level) bekannt wurden und
(1992) für eine Bewertung der „language für die „cognitiv/academic language profi-
awareness“ Bilingualer. Die an grammati- ciency (CALP)“ eine vorgängige mentale und
schen Einschätzungstests von Bilingualen ge- aktionale Ausbildung in der Muttersprache
wonnene Behauptung einer gesteigerten se- bzw. einen bilingualen Unterricht fordern.
lektiven Aufmerksamkeit und insofern effek- Komplementär ist für Zweit- und Fremd-
tiveren intellektuellen Entwicklung im Sinne sprachlehrer zu fordern, dass sie für ihre Me-
von Piaget bei Bialystok (1992) muss dem thodik auch Wissen über die schulischen
nicht widersprechen, da hier von jeglicher il- Handlungsmuster aktivieren, insbesondere
lokutiver Qualität abstrahiert wird. über die hörer-, d. h. schülerseitigen mentalen
Andere Differenzen beim zweitsprach- Musterpositionen (vgl. Rodi 1995 zur wis-
lichen Erzählen sind für den verbalisierenden sensvermittelnden Leistung von Lehrerfrage
wie den verstehenden Umgang mit Prozedu- versus Aufgabenstellung; Götz (1997) zur
ren auszumachen ⫺ im terminologischen übereifrigen Aufgabenlösung durch jugendli-
Sinne also mit der kleinsten sprachlichen che Fremdsprachenlehrer 1994 und deren L-
Handlungseinheit und Leistung („Bedeu- Bewertung 1997 ⫺ dabei wird auch die Emo-
tung“) einzelner sprachlicher Ausdrucksmit- tion als integraler Bestandteil des Mentalen
750 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

deutlich). Die wesentlich im Mentalen lie- Bayer, Josef (1995): Syntax und Psychologie. In:
gende Differenz zwischen Lehr-Lern-Diskurs Joachim Jacobs u. a. (Hg.): Syntax. (⫽ HSK 9.2)
und Unterrichtsdiskurs, konkret etwa die Berlin, 1484⫺1513.
Differenz zwischen unterrichtlicher Aufga- Bialystok, Ellen (1988): Psycholinguistic dimen-
benstellung und außerinstitutioneller Pro- sions of second language proficiency. In: William
Rutherford; Mike Sharwood-Smith (Hg.): Gram-
blemlösung, wie sie von Ehlich/Rehbein
mar and Second Language Teaching. Rowley
(1986, § 2) detailliert beschrieben wird, insbe- (Mass.).
sondere der Differenzpunkt eines „akzelerier-
⫺ (1990): Communication strategies. A psychologi-
ten Wissenserwerbs“ gesellschaftlich bereitste- cal analysis of second language use. Oxford.
hender Problemlösungen als Zweck einer
Bremer, Katharina (1997): Verständigungsarbeit.
Aufgabe (a. a. O.: 13), begründet mit Blick Tübingen.
auf die Didaktik eine Ausbildung von DaZ-/
Bruner, Jerome S. (1975): The ontogenesis of
DaF- und Fremdsprachlehrern, die über ein
speech acts. In: Journal of Child. Language 2,
wissenschaftliches, insofern linguistisches 1⫺19.
Wissen über Sprache (eben auch über ihre
Chafe, Wallace L. (1977): The Recall and Verbali-
mentale und interaktionale Qualität) verfü- zation of Past Experience. In: Roger P. Cle (Hg.):
gen. Für die konkreten Lernergruppen ist Current Issues in Linguistic Theory. Bloomington,
dann sowohl deren handlungspraktisch ge- 215⫺246.
wonnenes Vorwissen in der Zweit-/Fremdspra- ⫺ (1977a): Creativity in Verbalization and Its Im-
che zu berücksichtigen (Redder 2000), als plifications for the Nature of Stored Knowledge.
auch deren darüber hinausgehendes Routine- In: Roy O. Freedle (Hg.): Discourse Production and
wissen und Maximenwissen als weitere Typen Comprehension. Norwood (N. J.), 41⫺55.
des Aktantenwissens (hier bezogen auf Chomsky, Noam; Howard Lasnik (1995): The
sprachliches Handeln als Thema des Gewuss- Theory of Principles and Parameters. In: N.
ten). Einige die Verbalisierungstechnik betref- Chomsky (Hg.): The Minimalist Program. Cam-
fende Strategien unter 3.2.a) gehören dazu. bridge, 13⫺127.
Als selbstverständlich gilt gemeinhin die Be- Clyne, Michael (1967): Transference and triggering.
rücksichtigung der schülerseitigen Lernziele, The Hague.
welche nicht zuletzt in Termini von Prozedu- Cummins, J. P. (1976): The Influence of Bilingual-
ren- und Musterwissen sowie Diskurs- und ism on Cognitive Growth. In: Working Papers on
Textwissen rekonstruiert werden könnten, Bilingualism 9, 1⫺43.
woraus Verbalisierungsformen zweckspezi- Ehlich, Konrad (1991): Funktional-grammatische
fisch, also miteinander vermittelt, abzuleiten Kommunikationsanalyse ⫺ Ziele und Verfahren.
In: Dieter Flader (Hg.): Verbale Interaktion. Stutt-
sind. All das erfordert aber noch ein Stück
gart, 127⫺143.
authentischer empirischer Analyse bzw. Auf-
⫺; Jochen Rehbein (1977): Wissen, kommunikati-
arbeitung vorhandener Kenntnisse, ehe ra-
ves Handeln und die Schule. In: Herma C. Goep-
sche Listen oder unvermittelte Szenarien vor- pert (Hg.): Sprachverhalten im Unterricht. Mün-
gelegt werden können und eine Effizienzstei- chen, 36⫺114.
gerung des Unterrichts fraglos gewährleistet ⫺; ⫺ (1986): Muster und Institution. Tübingen.
zu sein scheint.
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78. Pädagogisch-didaktische Lernkategorien I 751

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78. Pädagogisch-didaktische Lernkategorien I: Typen von Lernern und


Lerntypen

1. Gründe für die Beschäftigung mit 1. Gründe für die Beschäftigung mit
Lern(er)typen
2. Exkurs: Was ist Lernen, und welche Prozesse Lern(er)typen
spielen dabei eine Rolle?
3. Terminologische Anmerkungen
Warum sind einige Lerner hinsichtlich ihres
4. Lerntyp- und Lernstil-Inventare Fremdsprachenerwerbs erfolgreicher als an-
5. Empirie dere, und wie können solche Unterschiede im
6. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Erwerbsverlauf erklärt werden? Um Ant-
für die Praxis worten auf diese Fragen ein wenig näher zu
7. Literatur in Auswahl kommen, müssen diejenigen Faktoren näher
752 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

betrachtet werden, hinsichtlich derer Unter- levanten sensorischen Kanäle zur Verfügung
schiede zwischen Individuen bestehen kön- zu stellen (vgl. dazu Trocme 1985, 318) und
nen. Da die begründete Bestimmung der Be- somit der festgestellten inter- und intraindivi-
dingungen zur Optimierung von Sprachlehr- duellen Variabilität zumindest zu einem ge-
und -lernprozessen ein wichtiges Ziel der wissen Grad Rechnung zu tragen, denn: „Va-
Fremdsprachenforschung darstellt, ist es un- riation by the teacher in learning activities
verzichtbar zu untersuchen, wie überhaupt ensures that all pupils will be taught in their
gelernt wird, und welche der beim Lernen re- preferred style at least some of the time“
levanten Verhaltensweisen und Variablen all- (Kyriacou 1996, 23). Es kann also nicht
gemein menschlich und welche individuell darum gehen, zu stark ausgeprägte Kanäle
sind. Mit der Erweiterung traditioneller Me- oder Stile zu reduzieren zugunsten weniger
thodenansätze um die Aspekte der Lerner- stark ausgeprägter. Empirische Studien bele-
perspektive und der Forderung nach zuneh- gen den Zusammenhang zwischen dem be-
mender Eigenverantwortung der Lernenden vorzugten Lernstil eines Individuums und
für ihren Lernprozess ging ein Wandel von dessen Lernstärken und -erfolgen (vgl. z. B.
der Berücksichtigung externer Faktoren hin Dickinson 1990, 200). Sie zeigen die Relevanz
zu den sog. internen Faktoren vonstatten. der Erforschung von Lerntypen und -stilen
Lerner kommen nicht als tabula rasa in den für die didaktische Praxis auf, die bisher
Fremdsprachenunterricht, sondern sie brin- allerdings noch in einem deutlichen Wider-
gen sowohl ihren individuellen Lerntyp, ihre spruch zu den Erkenntnissen lernpsychologi-
Lernerfahrungen als auch ihre Lernstrategien scher Forschungen wie bspw. denen von Glu-
in den Lehr-/Lernprozess mit ein. All dies zu- brecht u. a. (1993) steht. Ihren Untersuchun-
sammengenommen bringt Brown dazu, „the gen zufolge sieht die Verteilung auf die ver-
need for attention to each separate individual schiedenen Sinneskanäle so aus, dass wir im
in the classroom“ (Brown 1994, 21) zu postu- Durchschnitt „10% von dem [erinnern], was
lieren. Für Keefe liegt der Grund für die Be- wir lesen; 20% von dem, was wir hören; 30%
schäftigung mit Lernstilen darin, „[that it] von dem, was wir sehen; 50% von dem, was
opens the door to a more personalized ap- wir hören und sehen; 70% von dem, was wir
proach to schooling: to student advisement selbst in Worte fassen; 90% von dem, was wir
and placement, to improvement of student selbst tun“ (Glubrecht u. a. 1993: 7, zit. nach
skills, to successful instructional strategy, and Morawietz 1995, 76). Demnach spielt neben
to meaningful evaluation of teaching and der Anzahl an beteiligten Sinneskanälen auch
learning“ (Keefe 1988, 2). Mit der Forderung der Grad an Eigenaktivität der Lernenden
nach mehr Lernerautonomie ist die Notwen- eine wesentliche Rolle für den Lernerfolg.
digkeit verbunden, dass die Lernenden ihren
eigenen Lern(er)typ kennen und somit über
einen „Evaluationsapparat“ für angemesse- 2. Exkurs: Was ist Lernen, und welche
nes Verhalten verfügen (vgl. dazu Dickinson Prozesse spielen dabei eine Rolle?
1990, 201). Ellis/Sinclair beschreiben die Auf-
deckung von Lernstilen als „integral part of Das größte und gleichzeitig nicht zu umge-
a systematic learner training programme, hende Problem der Lernforschung ⫺ nämlich
where the teacher plays an instrumental role dass es sich beim Lernen um einen nicht un-
in helping the learner learn how to learn“ (El- mittelbar zu beobachtenden Vorgang handelt
lis/Sinclair 1990, 167). Auch für Kohonen ⫺ war lange Zeit der Grund dafür, dass sich
spielt die Verfügbarkeit von metakognitiven die Lernforschung weniger für den eigentli-
Fähigkeiten im Hinblick auf eine anzustre- chen Lernprozess ⫺ das WIE ⫺ als vielmehr
bende Lernerautonomie eine wichtige Rolle, für das Lernprodukt ⫺ also das WAS ⫺ in-
denn: „Learning how to learn is seen as an teressierte. Man kann für alles Lernen und
important part of the process. This entails an für alle Lerntypen gleichermaßen die Pro-
increasing awareness of personal learning zesse Wahrnehmung, Verarbeitung und Pro-
styles and preferences and their conscious duktion annehmen. In Bezug auf jede ein-
development in the light of learning objecti- zelne dieser Ebenen können sich lernende In-
ves and task demands“ (Kohonen 1990: 41; dividuen jedoch voneinander unterscheiden,
vgl. auch Dickinson 1990, 203). d. h. sowohl auf der Ebene der sensorischen
Nach der Bestimmung der perzeptuellen Wahrnehmung ⫺ also des Kanals, mittels
Präferenzen ihrer Lerner haben Lehrende die dessen bevorzugt Informationen aufgenom-
Möglichkeit, ihnen Input über die jeweils re- men werden ⫺ als auch auf der Ebene der
78. Pädagogisch-didaktische Lernkategorien I 753

Einspeicherung, des Abrufs und der Produk- dem ein eher behavioristisch orientiertes
tion. Lernverständnis zu Grunde liegt, insofern als
Die von Gagné (1969) aufgestellte hierar- Lebewesen aus ihrem eigenen Verhalten und
chisch geordnete, interdependente Typologie dessen Folgen lernen ⫺ v. a. solchen mit ver-
von Lernarten lässt auf zwei zu Grunde lie- stärkender Wirkung; diese Lernart ist insb.
gende elementare Grundformen des Lernens im Hinblick auf die Entwicklung motorischer
schließen und zwar zum Einen auf ein weitge- Fähigkeiten unverzichtbar.
hend mechanisches, assoziatives Lernen und Eine die genannten Aspekte weitgehend
zum Anderen auf ein sinnvolles, kognitiv or- einschließende mögliche Definition von ,Ler-
ganisierendes, strukturierendes Lernen. Das nen‘ könnte etwa so lauten: Lernen ist ein in-
mechanische Lernen, das vorwiegend außen- tra- und interindividuell variabler Informa-
gesteuert ist, wird als leicht verlernbar, um- tionswahrnehmungs- und -verarbeitungspro-
kehrbar bzw. löschbar bezeichnet; im Gegen- zess, der aus Sequenzen unterschiedlicher Ak-
satz zum sinnvollen Lernen, das auf Grund tivitätsgrade besteht und der auf Grund der
von Einsicht und kognitiven Organisations- vom Individuum vorgenommenen Konstruk-
prozessen zur Aneignung von Lerninhalten tionstätigkeiten (Erweiterung, Restrukturie-
führt, die ⫺ sobald sie einmal eingesehen und rung und/oder Ersetzung bisherigen ,Wis-
verstanden worden sind ⫺ nicht wieder ver- sens‘) zu einer Verhaltensänderung führt.
lernbar sind.
Zu den primären Lernarten zählen all die-
jenigen Arten, die jedes Individuum unab- 3. Terminologische Anmerkungen
hängig von Intelligenz, Kultur oder Instruk-
tion „zeigt“ bzw. „vollzieht“, während die se- Vorwegnehmend lässt sich feststellen, dass in
kundären Lernarten solche sind, die explizit Bezug auf den hier betrachteten Gegenstand
vermittelt werden können, z. B. in Form von ein großer terminologischer Klärungsbedarf
Strategien zur Verfolgung eines bestimmten besteht. Schon ein erster Blick in die einschlä-
Lernziels. Für das soziale Lernen spielen in gige Literatur offenbart einen sehr heteroge-
erster Linie Beobachtung und Imitation eine nen Umgang mit der hier relevanten Termi-
Rolle. Die Lernart „Lernen durch Beobach- nologie, insofern als die verschiedenen Be-
ten“ bzw. „Lernen am Modell“ ist eng mit griffe ,Lernstil‘, ,Lerntyp‘, ,kognitiver Stil‘
dem Namen Bandura (1977) und der von ihm und ,Lernstrategie‘ nicht immer ganz sauber
aufgestellten Lerntheorie verbunden. Wäre voneinander getrennt werden, und zwar we-
das Lernen nur auf das eigene Verhalten und der sprachlich noch konzeptuell. So herrscht
den daraus resultierenden Erfahrungen be- praktisch kein allgemeiner Konsens darüber,
schränkt, wäre dies ein relativ ineffizienter worin genau der Unterschied zwischen diesen
Prozess. Mittels Beobachtung besteht die theoretischen Konstrukten besteht bzw. ob
Möglichkeit, sozusagen stellvertretend be- und inwiefern sie miteinander in Verbindung
stimmte Erfahrungen machen zu lassen, die stehen. Ein Beispiel für die wenig reflektierte
den eigenen Lernprozess voranbringen kön- Verwendung der genannten Konzepte bieten
nen. Lernen durch Beobachten basiert in er- Ausführungen wie die folgende: „Weil zur Be-
ster Linie auf einer Wahrnehmungsleistung, wältigung bestimmter Lernziele […] aber spe-
also einem aktiven Prozess des Wahrneh- zifische Lerntypen erforderlich sind, ist auch
mens, Aufnehmens und Verarbeitens von In- eine Erweiterung der individuellen Schüler-
formationen aus der unmittelbaren Umwelt. Lerntypen-Profile anzustreben“ (Morawietz
Dieser Prozess ist deshalb aktiv, weil er auf 1995, 81; zu einem ähnlichen Sprachgebrauch
der Basis bereits zuvor erworbenen Wissens vgl. auch Reid (1987) oder Scarcella/Oxford
die Organisation und Einordnung der neuen (1992)). Es mag zwar der Fall sein, dass be-
Informationen und damit auch die Restruk- stimmte Lerntypen bei der Bewältigung be-
turierung bereits vorhandenen Wissens zur stimmter Lernziele erfolgreicher sind als an-
Folge hat. Lernen ist also ein konstruktiver dere; dass allerdings der Lerntyp verändert
und kein rezeptiver Prozess. Es ist das Pro- werden kann oder soll, erscheint weder mög-
dukt der Interaktion zwischen vorhandenem lich noch wünschenswert. Spätestens hier
und neuem Wissen (für konstruktivistisch stellt sich allerdings auch die Frage: was ist
orientierte Ansätze in der Fremdsprachenfor- überhaupt Erfolg? Bei genauerer Betrachtung
schung, vgl. z. B. Wolff 1994 oder Bleyhl stellt sich heraus, dass er nicht absolut, son-
1996). Daneben gibt es das Lernen durch dern nur relativ mit Bezug auf das jeweilige
praktisches Tun, also ,learning by doing‘, Lernziel definiert werden kann (vgl. dazu El-
754 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

lis/Rathbone 1990, 74). D. h. es müssen bei Zusammenfassend betrachtet besteht ein


der Beschäftigung mit dem Thema ,Lernen‘ allgemeiner Konsens darüber, dass es sich
neben den individuellen kognitiven Disposi- beim individuellen Stil um ,Gewohnheiten
tionen auch die jeweiligen individuellen Be- der Informationsverarbeitung‘ bzw. ,gewohn-
dürfnisse und Ziele mitberücksichtigt wer- heitsmäßige Herangehensweisen an Problem-
den. lösungen‘ handelt; wesentliche Unterschiede
Das Verhältnis zwischen Lernstrategien zeigen sich in den Ansichten hinsichtlich des
und Lernstil stellt sich für Kirby folgender- Grades an Stabilität bzw. Veränderbarkeit
maßen dar: er nimmt eine hierarchisch geglie- dieser Gewohnheiten. Für Kohonen sind
derte ,Strategie-Domäne‘ an, die er in a) Tak- Lernstile veränderbar, denn „[they] can be
tiken, b) Strategien im engeren Sinn und c) seen as characteristic ways of approaching
Lernstile unterteilt. Verkürzt gesagt, setzen learning tasks, as a repertoire of skills acqui-
sich für ihn Strategien aus Taktiken (i.e. red in the learning process and thereby at
Techniken) zusammen, die in ihrer Kombina- least to some extent alterable by learner
tion einen bewussten oder zumindest be- training and a deliberate design of learning
wusstseinsfähigen Plan zur Bewältigung von experiences“ (Kohonen 1990, 25f.; vgl. auch
Problemen ergeben. Als Lernstil werden dann Edmondson/House 1993, 197). Mit Bezug
solche invarianten Verhaltensweisen bezeich- auf Ellis (1996, 506) ist zur terminologischen
Sachlage zu sagen, dass solange nicht klar ist,
net, die Menschen ungeachtet der Spezifik ei-
was mit den zuvor erläuterten Konstrukten
ner Lernsituation zeigen: d. h. sie verwenden
gemeint ist und die damit verbundenen Be-
unabhängig von der Situation oder der Auf-
griffe nicht eindeutig definiert sind, keine we-
gabe dieselben oder zumindest ähnliche Stra- sentlichen Erkenntnisfortschritte zu erwar-
tegien. Im Unterschied zu den unter a) und ten sind.
b) genannten Phänomenen handelt es sich bei
den Lernstilen um „generalisierte Merkmale 3.1. Vorläufiges Resümee
oder Eigenschaften einer Person“ (Krapp Die Begriffe Lerntyp, Lernstil (bzw. kogniti-
1993, 292), also relativ invariante Persönlich- ver Stil) und Lernstrategie stehen in einem
keitsmerkmale, weshalb sie auch für die typo- Inklusionsverhältnis zueinander, das durch
logische Klassifikation von Lernern zu Ler- einen abnehmenden Grad an Abstraktion ge-
nertypen verwendet werden. kennzeichnet ist. Zwischen den Konstrukten
Zusammenfassend lässt sich zum Verhält- besteht ein hierarchisches, interdependentes
nis zwischen Lernstil und Lernstrategie sa- Verhältnis dergestalt, dass sich der Lerntyp
gen, dass die Vermittlung und der Erwerb als invariante Disposition in bestimmten
von bestimmten kognitiven, metakognitiven, Lernstilen reflektieren und manifestieren
affektiven oder sozialen Strategien auf der kann. Diese Stile setzen sich wiederum aus
Basis des einen Lernstils erfolgreicher sein Lernstrategien zusammen, die sie gleichzeitig
mag als auf der eines anderen, eine Überfüh- widerspiegeln und beeinflussen. Der Lernstil
rung des einen Konstrukts in das jeweils an- kann somit als vermittelnde Instanz zwischen
dere jedoch nicht möglich erscheint. Auch die dem Lerntyp auf der einen Seite und Lern-
Begriffe ,kognitiver Stil‘ und ,Lernstil‘ wer- strategien auf der anderen betrachtet werden.
den häufig undifferenziert bzw. synonym ver- Es handelt sich hierbei um sehr unterschiedli-
wendet, obwohl es sich auch hier um ver- che Konzepte, hinsichtlich deren Differenzie-
rung das Kriterium ,Veränderbarkeit‘ oder
schiedene, wenn auch zusammenhängende
genauer: ,Lehr-/Lernbarkeit‘ eine Rolle spielt.
oder gar komplementäre Konzepte handelt.
Während ein Typ nicht lehrbar ist, weil es sich
So ist für Keefe (1988) der kognitive Stil ⫺ um angeborene oder frühkindlich ausgebil-
neben dem affektiven und dem physiologi- dete, in der Persönlichkeit verhaftete und
schen Stil ⫺ eine Subdimension des Lernstils, dem Individuum zumeist unbewusste Präfe-
den er als „umbrella term“ (Keefe 1988, 3) renzen hinsichtlich der Wahrnehmung, Verar-
bezeichnet. Kyriacou u. a. (1996) verstehen beitung und Produktion von Informationen
unter kognitivem Stil „characteristics of their handelt, sind Strategien bewusstseinsfähig,
[the pupils‘, K. A.] perceptual and cognitive bewusst lehr- und lernbar und somit auch ge-
processing, in effect how they perceive and zielt veränderbar. Der Stil eines Lerners setzt
process incoming data about the outside sich somit aus diesen beiden Komponenten
world“ (Kyriacou u. a. 1996, 22), d. h. im zusammen, so dass man davon ausgehen
Unterschied zu Keefe schließen sie die Wahr- kann, dass einige Aspekte invariant, andere
nehmungsebene in ihre Definition mit ein. jedoch variabel und damit modifizierbar sind.
78. Pädagogisch-didaktische Lernkategorien I 755

4. Lerntyp und Lernstil-Inventare zierten Typologisierungen sich überlappen


und gleichzeitig interdependent sind.
Die meisten der heute gebräuchlichen Taxono- i. Deep approach, surface approach, strate-
mien zwecks Bestimmung des ,kognitiven Pro- gic oder achieving approach (vgl. Entwistle
fils‘ eines Lerners basieren auf Listen mit binä- 1987): Dieser Typisierung zu Folge versuchen
ren Oppositionen. Allerdings sind die ver- die deep approach-Lerner, ihnen gestellte Auf-
wendeten dichotomischen Begriffe nicht im- gaben oder Themen zu verstehen, während es
mer ganz trennscharf und können es auch gar den surface approach-Lernern in erster Linie
nicht sein (vgl. dazu auch Edmondon/House darum geht, diejenigen Aspekte herauszufil-
1993, 201). Es gibt zahlreiche Parallelen und tern, die für die Bewältigung der aktuellen
Überlappungen, und es wäre sicherlich ange- Aufgabe erforderlich sind; den strategisch
messener, nicht von Dichotomien sondern ausgerichteten Lernern kommt es hingegen
von ,Verhaltens- bzw. Eigenschaftsbündeln‘ auf eine möglichst gute Bewertung ihrer Lei-
auszugehen, da es sich bei den Lerntypen und stung durch Dritte an.
den Lernstilen nicht um ,Entweder-Oder‘- ii. ,holist vs. serialist‘ (vgl. z. B. Pask 1976)
sondern eher um ,Sowohl-als-Auch‘- bzw. oder auch: ,global vs. analytical‘ (z. B. Scar-
,Mehr-oder-Weniger‘-Phänomene handelt. cella/Oxford 1992): ,Holisten‘ haben „das
Ganze“ im Visier und verschaffen sich zuerst
4.1. Beispiel für ein Lerntypen-Inventar einmal einen Überblick über ein Thema, ei-
Morawietz hat durch die Synthese und Er- nen Sachverhalt o. ä.; sie fokussieren die
weiterung verschiedener Ansätze neun grund- Hauptmerkmale und -ideen eines Themas
legende Lerntypen herausgearbeitet, und und die Verbindungen zwischen ihnen und
zwar: „1. auditiver Lerntyp (Hören), 2. vi- verwenden Analogien zur Sinnerfassung.
sueller Lerntyp (Bilder-Sehen), 3. visueller Demgegenüber gehen ,Serialisten‘ Schritt für
Lerntyp (Lesen), 4. haptischer Lerntyp (Ta- Schritt vor, achten auf Einzelheiten und lösen
sten, Hantieren), 5. individuell-reproduzie- zuerst die jeweils aktuelle Aufgabe, bevor sie
render Lerntyp (Sprechen, Schreiben, Zeich- mit der nächsten beginnen. Sie fokussieren
nen), 6. kontakt- bzw. personenorientierter Details, und ihnen geht es um den schrittwei-
Lerntyp (Gespräche führen), 7. medium- sen Aufbau des Verständnisses eines Themas
orientierter Lerntyp (Computer und audio- und um dessen logische Ordnung. In Bezug
visuelle Medien nutzen), 8. verbal-abstrakter auf das Fremdsprachenlernen stellen Scar-
cella/Oxford (1992) für ,analytische Lerner‘
Lerntyp (Begriffe und Definitionen nutzen),
fest, dass sie sich auf grammatische Details
9. einsicht- bzw. sinnanstrebender Lerntyp
konzentrieren und kommunikative Aktivitä-
(Beweise und Regeln suchen)“ (Morawietz
ten tendenziell vermeiden. Sie interessieren
1995: 76). Es wird schnell deutlich, daß diese
sich für die kontrastive Analyse von Spra-
Auflistung mindestens drei verschiedene Ebe-
chen, das Lernen von Regeln und die Analyse
nen umfaßt. Die unter 1.⫺4. genannten Ty- von Wörtern und Sätzen. Auf Grund ihres
pen betreffen die verschiedenen Wahrneh- Bedürfnisses nach Korrektheit und Eindeu-
mungskanäle ⫺ also die perzeptive Ebene; tigkeit zeigen sie ein gewisses Unbehagen in
die Typen 5.⫺7. betreffen die sozial-affektive Situationen, in denen sie ein bestimmtes Wort
Komponente, und die Typen 8. und 9. eher nicht wissen; d. h. sie raten nicht gern und
kognitive Aspekte. Nicht zuletzt weil die Per- vermeiden die Verwendung von Synonymen
sönlichkeit eines Individuums mehrdimensio- oder Paraphrasen. Im Unterschied dazu be-
nal ist ⫺ also mindestens die drei genannten vorzugen ,globale Lerner‘ kommunikative
Ebenen umfasst ⫺ existieren zwischen den Ereignisse, in denen es um die Vermittlung
genannten Lerntypen natürlich Zusammen- von Bedeutungen geht. Grammatische De-
hänge und Querverbindungen, so dass es tails stehen bei ihnen nicht im Fokus, ebenso-
keine ,reinen‘ Typen geben kann. wenig wie die Analyse von Wörtern, Sätzen
oder Regeln. Sie bevorzugen Kompensations-
4.2. Beispiele für Lernstil-Typologien strategien, da diese dazu beitragen können ⫺
Im Folgenden werden die wichtigsten Klassi- trotz eines Mangels an sprachlichen Aus-
fikationsvorschläge grob zusammengefasst. drucksmitteln ⫺ die Kommunikation auf-
Dabei ist zu berücksichtigen, dass die einzel- recht zu erhalten bzw. weiterhin Bedeutung
nen zu Untersuchungszwecken theoretisch zu vermitteln. Hier wird eine weitere in der
und idealtypisch konstruierten und im gün- Fremdsprachenforschung geläufige Dichoto-
stigsten Falle anschließend empirisch verifi- mie erkennbar, nämlich die Ausrichtung auf
756 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

Kommunikation vs. Form oder die ⫺ z. T. vii. ,⫹/⫺ Orientation to closure‘ (Oxford/
ähnliche, aber nicht identische ⫺ Unterschei- Scarcella 1992, 62): In einem engen Zusam-
dung in ,fluency‘ vs. ,accuracy‘ (vgl. dazu menhang mit der Persönlichkeitsvariable
Brumfit 1984; vgl. auch die Unterscheidung ,Ambiguitätstoleranz‘ steht das unterschied-
in ,studial learning style‘ vs. ,experiential lich ausgeprägte Bedürfnis von Lernern nach
learning style‘ (Ellis 1996, 508)). Eindeutigkeit oder Klarheit. Verstehen und
iii. ,Converger vs. diverger‘ (Brown 1973): Geordnetheit jeglicher Schritte und Aktivitä-
,Convergers‘ zeichnen sich durch ihr Bestre- ten im Unterricht sind erforderlich: „Stu-
ben aus, ein Problem geradlinig und direkt dents who want rapid closure are serious,
zu lösen. Für sie gibt es eine einzige richtige hardworking learners who have developed
Lösung, und sie schlagen nur ihnen bekannte useful metacognitive skills such as planning,
Lösungswege ein, d. h. sie gehen keine Risi- organizing, and self-evaluating. They like
ken ein. ,Divergers‘ auf der anderen Seite control in their lives and in their learning“
zeichnen sich durch ihre Kreativität und ihr (Scarcella/Oxford 1992, 62). Im Gegensatz
Bestreben aus, möglichst interessante und in- dazu stehen sogenannte ,offene‘ Lerner, die
novative Problemlösungswege zu beschreiten. sich durch eine entspannte Einstellung zum
iv. ,concrete vs. abstract‘ und ,reflective vs. Sprachenlernen auszeichnen; sie zeigen grö-
active‘: Hier findet sich eine in Piagets Theo- ßere Erfolge im Hinblick auf die Entwicklung
rie der kognitiven Entwicklung gemachte der Sprechflüssigkeit.
Unterscheidung wieder. ,Konkrete‘ Lerner ix. ,data-gatherer vs. rule-former‘: Auch
bevorzugen konkrete, authentische Beispiele, die von Hatch (1974) etablierte Unterschei-
um sich Ideen zu veranschaulichen, während dung in ,data-gatherers‘ vs. ,rule-formers‘
,abstrakte‘ Lerner sich bevorzugt auf einer muss an dieser Stelle erwähnt werden. Ellis/
allgemeinen, abstrakten Ebene bewegen. Re- Ratbone greifen diese Unterscheidung auf
flektive Lerner erzielen Erkenntnisgewinn, und umschreiben sie mit „focus on how“ vs.
Wissenszuwachs oder Verständnis durch „focus on what“. Was nun die Verteilung der
Nachdenken und indem sie zusehen, zuhören Lernenden auf diese beiden Typen betrifft, so
oder lesen. Bei aktiven Lernern geht dies nehmen die beiden Autoren eine moderate
durch eigenes praktisches Tun vonstatten, Position ein: „Of course, not all learners
d. h. durch eigenes Ausprobieren, Entdecken manifest a distinct orientation to the ,that‘ or
und Erforschen. the ,how‘ of acquisition […] We envisage a
v. ,intuitive/random vs. sensory/sequential‘ continuum spreading from pure control-
(Scracella/Oxford 1992): Intuitive Lerner oriented learners at one pole to pure know-
werden charakterisiert als „able to think in ledge-oriented learners at the other. Most
abstract, large-scaled, nonsequential (ran- learners fall somewhere between the poles“
dom) ways“ (Scarcella/Oxford 1992, 62). Die- (Ellis/Rathbone 1990, 74).
ser Lernertyp ist in der Lage, die Hauptprin- x. ,planners‘ vs. ,correctors‘ (Seliger 1980):
zipien einer neuen Sprache aus dem ihm zur Diese Unterscheidung basiert auf dem Lerner-
Verfügung stehenden Input „herauszudestil- verhalten während der Produktion fremd-
lieren“. Im Gegensatz dazu benötigen die sprachlicher Äußerungen. Während Planer
,sensory/sequential‘ ausgerichteten Lernerty- Risiken vermeiden wollen und daher ihre Pro-
pen konkrete Fakten und einen im Detail or- duktionen intensiv planen, was sich in Form
ganisierten Ablauf: „These learners are fre- von relativ zahlreichen ungefüllten und gefüll-
quently slow and steady, making process at ten Pausen bemerkbar machen kann, zeichnen
their own rate but achieving goals neverthe- sich Korrektoren durch eine gewisse Risiko-
less“ (Oxford/Scarcella 1992, 62). Zufälligkeit bereitschaft ⫺ erkennbar an Wiederholun-
oder ein Mangel an Ordnung bereitet ihnen gen, Fehlstarts und/oder zahlreichen Selbst-
Schwierigkeiten. korrekturen ⫺ und ein verstärktes Kommu-
vi. analytic vs. relaxed learner (Ellis/Sin- nikationsbedürfnis aus (vgl. z. B. Möhle/Rau-
clair 1990): Auf der Basis von Krashens Un- pach 1983).
terscheidung in Lernen vs. Erwerben diagno- xi. ,field-dependent vs. field-independent‘: In-
stizierten Ellis/Sinclair drei Lernertypen, und nerhalb der Fremdsprachenerwerbsforschung
zwar einen analytischen Lernertyp „who hat diese Dichotomie besonderes Interesse ge-
tends towards conscious learning“, einen ent- weckt; gleichzeitig ist sie in mehrerlei Hinsicht
spannten „who tends towards subconscious stark umstritten. Zwar scheinen einige korre-
acquisition“ und einen ,Mischtypen‘ (Ellis/ lative Zusammenhänge zwischen ,umfeld-un-
Sinclair 1990: 169). abhängigen Lernertypen‘ und deren Erwerbs-
78. Pädagogisch-didaktische Lernkategorien I 757

erfolg in der Fremdsprache zu bestehen; ob es den Lernenden selbst als auch den Lehrenden
sich allerdings um einen kausalen Zusammen- Aufschluss über die jeweiligen, individuellen
hang handelt, ist bisher empirisch nicht be- Präferenzen geben und Anregungen in Bezug
legt (vgl. auch die Kritik von Chapelle/Green auf Anforderungen an Arbeitsmaterialien
(1992). Außerdem muss an dieser Stelle darauf und die Unterrichtsgestaltung liefern.
hingewiesen werden, dass ⫺ obschon dieses b) Die Analyse von sprachlichen Produk-
Konzept von der Zweitsprachenerwerbsfor- tionen zwecks Bestimmung von Lernertypen
schung stark rezipiert worden ist ⫺ sich diese ist in erster Linie im Zusammenhang mit dem
Theorie von Witkin in der Psychologie nicht L1-Erwerb vorgenommen worden, aber auch
hat durchsetzen können (vgl. dazu Griffiths/ L2-Forscher haben auf Grund beobachte-
Sheen 1992). ten Planungs- und Korrekturverhaltens bei
fremdsprachlichen Produktionen auf Lerner-
typen geschlossen (vgl. z. B. Seliger 1980;
5. Empirie Möhle/Raupach 1983). Trocme berichtet von
einem Verfahren, in dem sprachliche Produk-
5.1. Methoden zur Erfassung und Unter- tionen wie bspw. Erzählungen und der darin
suchung von Lerntypen und -stilen verwendete Wortschatz als eine Möglichkeit
a) Die bevorzugte Erfassungsmethode für zur Bestimmung des Lernertyps verwendet
Lernstile und Lerntypen sind standardisierte werden (vgl. Trocme 1985, 320).
Fragebögen. Die Probanden werden bei die- c) Eine weitere ⫺ allerdings äußerst selten
sen qualitativ recht heterogenen Fragebögen angewandte ⫺ Methode ist die im Bereich
mit allgemeinen Statements konfrontiert, die der Neurolinguistischen Programmierung
sie zumeist auf einer Likert-Skala von 1⫺5 (NLP) eingesetzte Untersuchung und Ana-
hinsichtlich ihres Zutreffens auf sie selbst lyse der Augenbewegungen „which provide a
gewichten sollen. Bei dem zum Zweck der remarkably accurate index for sensory neuro-
Selbstdiagnose durch die Lernenden von logical activity … [and] offer a quick and
Keefe u. a. entwickelten ,Learning Style Pro- powerful way of determining which channel
file‘ handelt es sich um ein hinsichtlich Vali- the learner is using at the moment for acces-
dität, Reliabilität und Usabilität empirisch sing memory“ (Trocme 1985, 320). Kritisch
abgesichertes Datenerhebungsverfahren mit anzumerken ist hier v. a. die Gleichsetzung
insgesamt 126 Items (vgl. dazu z. B. Keefe von physiologischen und kognitionspsycho-
1988). logischen Vorgängen.
Der von Morawietz durchgeführte und d) Haller hat zwecks Optimierung der
empfohlene Lerntyptest besteht aus der Skiz- Diagnoseprozesse den Versuch unternom-
zierung von 27 Lernsituationen, die mittels men, verschiedene, bereits vorhandene Lern-
eines Aussagesatzes beschrieben werden; je- stil-Inventare auf dem Computer zu imple-
der der neun a priori angenommenen Lernty- mentieren. Einige Vorteile dieses Vorgehens
pen wird durch drei Aussagen repräsentiert. sind offenkundig: zum Einen besteht auf Sei-
Die Lernenden sollen auf einer Skala von 0 ten der Lernenden die Möglichkeit zur un-
mittelbaren Auswertung und Interpretation
bis 4 ihre ,imaginierten‘ bzw. ihrer Meinung
der eigenen Angaben; eventuelle Rechenfeh-
nach tatsächlich erzielten Lernerfolge indizie-
ler bei der Auswertung der Angaben auf den
ren und anschließend selbst auswerten (vgl. Skalen können vermieden werden, und auf
dazu die folgende Auswahl an Situationsbe- Grund einer sequentialisierten Darbietung
schreibungen, die den befragten Personen mit des Materials ist es für den Lernenden
der Aufforderung zur Einstufung vorgelegt schwieriger, den Test zu durchschauen und
werden. Die Frage- bzw. Aufgabenstellung somit die Ergebnisse zu ,manipulieren‘. Hal-
dazu lautet: „Wie groß sind deine Lerner- ler zu Folge ermöglicht dieses Verfahren die
folge?“ (sehr klein, klein, mittel, groß, sehr direkte Erfassung realer Lernprozesse und
groß): „3. Du liest eine Arbeitsaufgabe ein stellt somit einen methodologischen Fort-
paarmal durch […] 9. Der Lehrer begründet schritt dar. Seiner Meinung nach bietet sich
und beweist ein Naturgesetz […] 10. Der Leh- der Computer als Medium für Lernstildia-
rer zeigt der Klasse Landkarten von Europa gnose geradezu an, „geht es doch um eine
[…] 11. Du betastest eine schwingende Gitar- stückweise Informationsdarbietung, um je-
rensaite […] 23. Du schreibst Dir eigene weils abrufbare Informationen, um das Regi-
Stichwörter zum Text auf“ (Morawietz strieren von Verarbeitungssequenzen und um
1995, 77)). Die auf diese Weise gewonnenen die Auswertung im Hinblick auf typische Se-
individuellen Lerntypen-Profile sollen sowohl quenzverläufe“ (Haller 1990, 133).
758 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

5.2. Methodenkritik des Lernprozesses nur unzureichend Rech-


Fragebögen stellen v. a. auf Grund ihrer nung getragen wird (vgl. dazu Riley 1990, 54
leichten Durchführbarkeit und Auswertbar- oder Kohonen 1990, 42). Ebensowenig wird
keit ein sehr effizientes Datenerhebungsver- die kulturspezifische Komponente angemes-
fahren dar. Allerdings kann man bei diesem sen berücksichtigt. Auf Grund eines inhären-
Verfahren nicht sicher davon ausgehen, dass ten Ethnozentrismus und impliziter Wertur-
es tatsächlich das misst, was es zu messen be- teile vieler Studien, die die Untersuchung kul-
absichtigt. Diese indirekte Art der Ermittlung turspezifischer Lernstil-Unterschiede im Vi-
von Lernertypen mittels Beschreibungen ei- sier haben, hat Riley eine Reihe von Mini-
gener Verhaltensweisen in imaginierten Lern- malvoraussetzungen zusammengetragen, die
situationen ist methodologisch insofern pro- eingehalten werden sollten, um seriöse kom-
blematisch als man auf diese Weise zwar er- parative Studien durchzuführen (siehe Riley
fährt, wie sich Lernende in einer konkreten 1990). Am besten scheint der hier diskutierte
Situation zu verhalten glauben, nicht aber, Gegenstand mittels einer longitudinal ange-
wie sie sich tatsächlich verhalten. Ferner be- legten, mehrmethodischen Herangehensweise
erfassbar zu sein, bei der die Verfahren der
ziehen sich die mit Hilfe von Fragebögen ge-
Fremd- und Selbstbeobachtung und der Re-
wonnenen Aussagen i. d. R. zwar auch auf
trospektion miteinander kombiniert werden.
spezielle Situationen, zielen aber vorwiegend
Also anstatt über abstrakte oder imaginierte
auf Aussagen über generelles Verhalten oder
Lernsituationen zu reflektieren und berich-
allgemeine Einschätzungen der eigenen Lern-
ten, kann auf diese Weise tatsächliches Lern-
fähigkeit oder des angenommenen Lerner-
verhalten in konkreten Situationen von den
folgs ab. Eine weitere Kritik an dieser Art
Forschenden und den Lernenden beobachtet,
von Forschungsmethodologie ist das Pro-
beschrieben und evaluiert werden.
blem der ,sozialen Erwünschtheit‘, also die
Tendenz, so zu antworten, wie der Befragte 5.3. Empirische Studien und ihre Ergebnisse
meint, dass es von ihm erwartet werde oder Der größte Teil des schulischen Unterrichts
wie es seiner Meinung nach für eine mög- basiert auf der Stimulierung des auditiven
lichst positive Bewertung seiner Person am Wahrnehmungskanals; d. h. die Lernenden
günstigsten sei. Außerdem sollte man sich der müssen in erster Linie akustisch dargebotene
Tatsache bewusst sein, dass diese Datenerhe- Information aufnehmen und verarbeiten.
bungsmethode solche Lerner begünstigt, die Hodges (1982) hat festgestellt, dass sich etwa
fähig sind, über ihren Lernprozess zu reflek- 90% des traditionellen Unterrichts an audi-
tieren und sich darüber zu äußern, die also tive Lernertypen richtet, erkennbar an dem
über metakognitive und metasprachliche Fä- hohen Maß mündlich dargebotenen Inputs:
higkeiten verfügen. Auf Grund all dieser kri- die Lehrenden sprechen, fragen, diskutieren,
tischen Momente ist mit Krapp die Ablösung handeln verbal-mündlich. Gleichzeitig sind
allgemeiner Fragebögen zur Erfassung gene- nur etwa 20⫺30% der betrachteten Lernen-
reller Lerngewohnheiten und -typen zu for- den in der Lage, sich an 75% dessen, was im
dern und durch Erfassungsmethoden zu erset- Unterricht gesagt wurde, zu erinnern. Den em-
zen, „die eine situations- und gegenstands- pirischen Studien von Dunn u. a. (1979, 49)
spezifische Analyse des Lernverhaltens erlau- zufolge lernt nur etwa ein Drittel aller von
ben und erkennen lassen, was ,im Lerner‘ vor- ihnen getesteten Lerner auf die ,auditive‘
geht, wenn er eine Lernaufgabe mehr oder we- Weise am besten. Den visuellen Kanal bevor-
niger effektiv bewältigt“ (Krapp 1993, 307). zugen ca. 40%, und dem kinästhetischen und
Dass es sich hierbei um eine qualitativ an- taktilen Lernertyp gehören etwa ein Drittel
spruchsvolle, aber auch zeitaufwendige Me- der getesteten Lerner an. 40% von ihnen sind
thode handelt, ist offensichtlich, scheint aber eher visuell ausgerichtet, und immerhin 30⫺
langfristig betrachtet der beste Weg zu sein, 40% zeigen einen taktik-kinästhetischen, vi-
um fundierte empirische Erkenntnisse zu ge- suell-taktilen oder anders kombinierten Lern-
winnen. Eine weitere methodologische Kritik stil. Insgesamt betrachtet ist es wahrschein-
an den meisten der genannten Untersu- lich, dass es sich bei den meisten Lernern
chungsverfahren bezieht sich auf ihre Ver- nicht um ,rein‘ auditive, visuelle, taktile
nachlässigung der sozialen Komponente des oder kinästhetische Typen, sondern eher um
Lernens. Auf Grund der einseitigen Konzen- Kombinations- oder Mischtypen handelt. Es
tration auf die kognitive Komponente be- scheint eine gewisse chronologische Entwick-
steht bei der Mehrheit der Studien das Prob- lung von taktil/kinästhetisch über visuell bis
lem, dass der sozial-interaktiven Dimension schließlich hin zu auditiv zu geben, die sich
78. Pädagogisch-didaktische Lernkategorien I 759

allerdings nicht bei allen Menschen in glei- hen, dass alle Lerner Charakteristika beider
chem Maße vollziehen muss. Interessant Extrempole aufweisen müssen, damit sie in
ist, dass der taktil-kinästhetische Wahrneh- der Lage sind, von einem ,Extrem‘ ins andere
mungskanal mit zunehmendem Alter und zu wechseln, um sich auf diese Weise flexibel
weiterer kognitiver Entwicklung immer mehr an neue Lernsituationen anpassen zu kön-
an Bedeutung zu verlieren scheint; ungeklärt nen. Folgt man den Ausführungen Stasiaks
ist allerdings bisher, warum dies genau der (1990), so scheint ihr der Beweis dafür gelun-
Fall ist. Es ist denkbar, dass dieser Kanal auf gen zu sein, dass kognitive Stile durch ,ge-
Grund mangelnder Nutzung ,verkümmert‘. eignete Lernstrategien‘ verändert werden
Während kindlichen Lernern dieser Kanal als können (vgl. dazu auch Edmondson/House
wichtiges Medium der Wahrnehmung und 1993, 199). Allerdings stellt sich spätestens
Verarbeitung zugestanden wird, genießt er in hier die Frage, ob es überhaupt erstrebens-
Bezug auf erwachsene Lerner in westlichen wert ist, (inter)individuelle Unterschiede zu
Kulturen keinen allzu hohen Stellenwert, wird nivellieren bzw. die Individualität von Ler-
in vielen Schulen sogar als „unangemessen nenden zu manipulieren. Insbesondere wenn
und ,unakademisch‘ abgewertet“ (Morawietz man annimmt, dass der Lernstil ⫺ wenig-
1995, 79). Empirische Studien zeigen sehr stens zum Teil ⫺ ein integraler Aspekt der
deutlich, wie sehr diejenigen Lerner, deren Persönlichkeit ist, muss gefragt werden, ob
Stärken im taktilen, visuell-taktilen oder tak- von Seiten eines Lehrenden überhaupt eine
til-kinästhetischen Bereich liegen, benachtei- Berechtigung besteht, den Lernstil eines Ler-
ligt sind, weil diese Wahrnehmungskanäle nenden zu verändern (vgl. dazu auch Haller
von den Lehrenden nicht angemessen be- 1990, 134). Solange sich die Manipulation auf
rücksichtigt bzw. sogar negativ sanktioniert der untersten Ebene ⫺ nämlich der Strategiee-
werden. Morawietz fasst seine Beobachtun- bene ⫺ bewegt, scheint sie legitim. Ihr Zweck
gen wie folgt zusammen: „Insgesamt ist in ist die Initiierung und Förderung des autono-
der Schule die Sprache vorherrschend, als ge- men Lernens, das umso erfolgreicher verlau-
hörte, gesprochene und gelesene Sprache, ab- fen kann, je mehr die Lernenden über sich, ih-
strakt auf Begriffe, Definitionen und Argu- ren Lerntyp, ihre Präferenzen und Stile in Be-
mente bezogene Sprache sowie auf Einsicht zug auf physiologische, kognitive, affektive
und Sinn abzielende Sprache. Damit bevor- und soziale Aspekte wissen. Den persönlichen
zugt traditioneller Unterricht vor allem in Lerntyp zu kennen, ist der erste Schritt, um in-
den Hauptfächern Mathematik, Deutsch und nerhalb und natürlich auch außerhalb des Un-
Fremdsprachen den auditiven, den lesenden, terrichts effektiver zu lernen.
den verbal-abstrakten und den einsicht- bzw. In Bezug auf die Optimierung des Lerner-
sinnanstrebenden Lerntyp, vernachlässigt die folgs gibt es zwei mögliche, idealerweise mit-
anderen Lerntypen und verhindert Chancen- einander zu integrierende Herangehensweisen
gleichheit“ (Morawietz 1995, 78). an die hier behandelten individuellen Lerner-
variablen, und zwar: a) die Anpassung dieser
6. Zusammenfassung und Variablen an die Lernumwelt und b) die An-
passung der Lernumwelt an diese Variablen.
Schlussfolgerungen für die Praxis Während die unter a) genannte Art der An-
Mit Edmondson/House ist von einer „Inter- passung eine Verhaltensmodifizierung des
aktion zwischen individuellen Merkmalen Lernenden zur Folge hätte, betont der unter
und externen Lernbedingungen“ (Edmond- b) genannte Ansatz die individuellen Unter-
son/House 1993, 197) auszugehen; d. h. dass schiede und verlangt die Anpassung der
bestimmte interne ,Dispositionen‘ von exter- Lernumgebung an den Lernenden, z. B.
nen Faktoren (i.e. Unterricht, Lehrperson, durch Variation der Lernmethoden.
soziale Faktoren etc.) beeinflusst werden Die Frage nach dem besten Lernstil beant-
können und vice versa. Allerdings ist hier le- wortet Ellis folgendermaßen: „Learners
diglich der Lernstil, nicht jedoch auch der clearly differ enormously in their preferred
Lerntyp einzubeziehen. Es ist offensichtlich, approach to L2 learning, but it is impossible
dass sich Individuen in Bezug auf ihre Wahr- to say which learning style works best“ (Ellis
nehmungs- und Verarbeitungsprozesse nicht 1996, 508). Gleichzeitig sieht er einen deut-
für sämliche Situationen, Kontexte und Auf- lichen Zusammenhang zwischen Lernstil und
gaben einem einzigen Pol der verschiedenen Lernerfolg und zwar unabhängig von der
zuvor erwähnten Dichotomien zuordnen las- konkreten Beschaffenheit des jeweiligen
sen. Stattdessen sollte man eher davon ausge- Lernstils: „Successful learners are thoughtful
760 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

and aware of themselves in relation to the Haller, Hans-Dieter (1990): Erfassung und Verän-
learning process. They take conscious deci- derung von Lernstilen durch Computerpro-
sions and they follow their own preferred gramme. Duda/Riley (Hg.), 127⫺134.
learning style“ (Ellis 1996, 549). Was die Rolle Hatch, Evelyn (1974): Second language learning
der Lehrenden und ihren Umgang mit ver- universals? In: Working Papers on Bilingualism 3,
schiedenen Lerntypen und -stilen betrifft, so 1⫺17.
scheint vieles für die Position von Scarcella/ Hodges, H. (1982): Madison Prep ⫺ Alternatives
Oxford zu sprechen: „Teachers can help their through learning styles. In: Keefe, J. (Hg.): Student
students to develop beyond the comfort zone learning styles and brain behavior. Reston, VA
dictated by their natural style preferences. 28⫺31.
They can do this by providing a wide range of Keefe, James W. (1988): Learning style. Theory and
classroom activities that cater to a variety of practice. Reston, VA.
learning styles and that challenge students to Kohonen, Viljo (1990): Towards experiential learn-
try new things. The key is offering variety and ing in elementary foreign language education. In:
change in activities within a steady, consistent, Duda/Riley (Hg.), 21⫺42.
learner-centered, communicative approach“
(Scarcella/Oxford 1992, 63). Krapp, Andreas (1993): Lernstrategien: Konzepte,
Methoden und Befunde. In: Unterrichtswissen-
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plied Linguistics 13, 133⫺148. Karin Aguado, Bielefeld (Deutschland)
79. Pädagogisch-didaktische Lernkategorien II 761

79. Pädagogisch-didaktische Lernkategorien II: Organisationsformen


von Lernen

1. Dimensionen der Organisation von zierungs- und Integrationsformen existieren


Unterricht Normen im Bezug auf Ziele, Inhalte, Handlun-
2. Zeitliche Dimension gen sowie hinsichtlich sozialer und zeitlicher
3. Sozialformen
Aspekte (Meyer 1987, I, 238ff.). Fachspezifisch
4. Handlungsmuster
5. Lernerorientierung und Lernerautonomie haben sich dabei Formen methodischen Han-
6. Literatur in Auswahl delns ausgeprägt (vgl. auch Art. 88ff.).

1. Dimensionen der Organisation von 2. Zeitliche Dimension


Unterricht
2.1. Zur Prozessstruktur fremdsprachlichen
Unterrichtliche Kommunikation ist ein Ge- Lernens
flecht verbaler, nonverbaler, paralinguisti- Die Fremdsprachenerwerbsforschung entwik-
scher und situativer Momente. Der didakti- kelte sich von einer anfangs vorwiegend pro-
sche Prozeß konstituiert sich nicht einfach duktorientierten immer mehr zu einer pro-
aus der Summe aller Handlungen des Lehrers zessorientierten Forschungsdisziplin. Fremd-
bzw. der Lernenden, vielmehr bestimmen die sprachliches Lernen findet nicht punktuell
vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen der statt, sondern wird als ein Prozess der steti-
Arbeit der Lehrenden und der Arbeit der Ler- gen Annäherung an die Zielsprache gesehen.
nenden den Lehr- und Lernprozeß und sind Daher muss die Prozessstruktur des Lernens
für Erfolge im Unterricht von wesentlicher auch in die Beschreibung von Unterricht ver-
Bedeutung (Meyer/Okon 1983, 58, vgl. Art. stärkt einbezogen werden. Die zeitliche Kom-
116). Situative Momente wie die jeweilige so- ponente ist ein wichtiger Bestandteil der Be-
ziale Konstellation, räumliche Aspekte, der schreibung fremdsprachlichen Lehrens und
zeitliche Rahmen, die gewählten Handlungs-
Lernens, sie ist mit vielen organisatorischen
muster u. a. bestimmen nicht nur den Ablauf
Entscheidungen der Lehrperson verknüpft
des Unterrichts und den Vermittlungsprozess
und bestimmt ⫺ in Wechselwirkung zu ande-
durch die Lehrperson sondern auch den
ren organisatorischen Aspekten ⫺ den Lehr-
Lernprozess und den Lernerfolg auf Seiten
und Lernprozess sowie dessen Erfolg. In di-
der Lernenden und deren Beteiligung am
unterrichtlichen Geschehen. Die personalen daktischen Modellen ist vielfach von Stun-
Voraussetzungen und Interessen der Interak- denplanung und Stundenaufbau die Rede,
tionspartner und die räumlich-sozial-zeitli- der Lernprozess der Schüler wird im Sinne
chen Rahmenbedingungen stehen in ständi- des Interlanguage-Konzepts als graduelle An-
ger Wechselwirkung (Meyer 1987, I, 116). näherung an die Zielsprache dargestellt.
Fremdsprachenunterricht findet im Rahmen Die dynamische Struktur des Unterrichts-
bestimmter gesellschaftlicher Vorgaben statt, prozesses bestimmt auch Entscheidungen
z. B. im schulischen Unterricht oder in Insti- darüber, welche Arbeits- und Sozialformen
tutionen der Erwachsenenbildung, im Rah- gewählt werden soll, welche Form der Akti-
men eines Lehrgangs, als Ergänzung innerhalb vierung der Lernenden und welches Ziel in
eines Ausbildungsprogramms u. a. Dafür sind einer gegebenen Handlungssituation abhän-
in einem Bildungssystem verschiedene Diffe- gig vom vorangegangenen und folgenden
renzierungs- und Integrationsformen ausge- Verlauf des Unterrichtsprozesses gewählt
prägt, z. B. in Form verschiedener Schultypen werden soll. Die Auswahl von Aufgaben und
und Schulstufen oder Kursstufen, auch eine Übungen, von Sozialformen und Handlungs-
Differenzierung nach spezifischer Teilnehmer- mustern ist nicht nur vom Lehr- bzw. Lern-
zusammensetzung, Themenschwerpunkt oder ziel abhängig, sondern nicht zuletzt auch vom
spezieller Zielsetzung des Unterrichts (z. B. zeitlichen Ort innerhalb eines Tages und einer
Wirtschaftsdeutsch, Vorbereitung auf eine be- Unterrichtsstunde. Zu jedem Zeitpunkt in-
stimmte Prüfung, …) ist möglich, sie sind durch nerhalb einer Unterrichtseinheit ist eine ei-
Lehrpläne, Prüfungsanforderungen, die Fixie- gene Dynamik gegeben. So ist es günstig,
rung von Leistungsstandards, u. a. m. gesell- konzentrierte Lernphasen und Phasen mit of-
schaftlich normiert. Für jede dieser Differen- fenerer Struktur miteinander abwechseln zu
762 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

lassen und sie mit einem Wechsel von Ar- Phasenmodelle bergen allerdings auch ge-
beits- und Sozialformen zu verbinden (Häus- wisse Gefahren in sich: Phasenschemata ge-
sermann/Piepho 1996, 227). hen implizit von der Annahme aus, dass das
Leistungsniveau der Schüler fortwährend ge-
2.2. Stufen- und Phasenmodelle steigert werden kann. In Wirklichkeit aber
Phasenmodelle (vgl. auch Art. 80) versuchen gibt es in jeder Unterrichtsstunde für prak-
darzustellen, wie gelehrt werden soll, damit tisch jeden Schüler ein individuell variieren-
innerhalb eines gewissen Zeitabschnitts oder des Auf und Ab des Aufmerksamkeits- und
einer Unterrichtseinheit möglichst effektiv Schwierigkeitsniveaus sowie des Empfindens
gelernt werden kann. Dazu wird der Lern- des Schwierigkeitsgrades. Der stufenmäßige
bzw. Lehrvorgang in Stufen oder Phasen ein- Aufbau des Unterrichts verleitet allzu leicht
geteilt. Ebenso wie der Prozess der Vermitt- dazu, den Unterrichtsablauf nach abstrak-
lung würde sich der Lernprozess Stufe für ten Schemata zu programmieren. Die Viel-
Stufe vollziehen, doch ist das eine Vorstel- schichtkeit des hochkomplexen Lehr- und
lung, die nur dem abendländischen Fort- Lernprozesses wird dabei grob vereinfacht.
Durch das Stufenbild entsteht der Eindruck,
schrittsdenken entspricht (Meyer 1987, 156).
dass es immer nur bergauf und voran gehen
In den einzelnen Schemata werden drei für
könne (Meyer 1987, 172f.). Das subjektive
den Unterrichtsprozess grundlegende Fakto-
Empfinden der Lernenden selbst ist aber oft
ren miteinander verbunden: objektive Vorga- ein anderes. Lehrende können keineswegs ge-
ben, die Handlungsmöglichkeiten des Leh- nau im Voraus programmieren, wann den
rers und die subjektiven Interessen und Vor- Lernenden das Thema deutlich wird, wann
aussetzungen der Schüler. und warum sich einzelne Schüler motiviert
Zimmermann (1988) beispielsweise ent- fühlen, wann sie Regeln erfasst haben oder
wirft ein Lehrphasenmodell für den fremd- zum Transfer der erlernten sprachlichen
sprachlichen Grammatikunterricht, in dem er Strukturen fähig sind. Die Individualität je-
den Lehrvorgang von der ersten Begegnung des einzelnen Lerners darf daher auch und
der Lernenden mit Lehrinhalten bis zu deren gerade auf zeitlicher Ebene nicht unberück-
Anwendung in Kommunikationssituationen sichtigt bleiben. Zur Ergänzung eines sequen-
in fünf Phasen gliedert: Präsention ⫺ Ein- zierten Unterrichts müssen daher in einem
übung ⫺ Kognitivierung ⫺ Transfer ⫺ An- lernerzentrierten Unterricht unbedingt diffe-
wendung. Dieses Modell hat keineswegs die renzierende und individualisierende Maßnah-
Phasen des Lernens zum Schwerpunkt son- men herangezogen werden.
dern ist ein Lehrphasenmodell, das von poten-
tiellen Lernschwierigkeiten ausgeht und 2.3. Intensivunterricht
durch die Gliederung in Phasen versucht, Eine konzentrierte Form von Unterricht auf
Schwierigkeiten zu minimieren bzw. zu be- einen beschränkten Zeitraum stellt der Inten-
seitigen. Inhalte sollen über mehrere schwie- sivunterricht dar. Wesentliche Komponenten
rigkeitsisolierende Lehrsequenzen vermittelt des Intensivunterrichts sind nach Bonne-
werden. Zimmermanns Modell bezieht sich kamp (1995, 214) keineswegs nur eine hohe
auf die Ausbildung produktiver Fähigkeiten Stundenfrequenz pro Woche (normalerweise
(Sprechen und Schreiben), nicht auf rezeptive ein Minimum von 15 Stunden pro Woche),
Fertigkeiten. Das Modell dürfte keineswegs darüber hinaus sind noch einige andere Kri-
in schematischer Weise im Unterricht ver- terien zu erfüllen, die Sprachunterricht inten-
wirklicht werden, sondern müsse flexibel und sivieren: Dazu zählt eine geringe Anzahl von
Lernenden pro Gruppe, die hinsichtlich der
kreativ angewendet werden (1988, 171). Zu
Lernvoraussetzungen (Vorkenntnisse, Ziel-
beachten ist außerdem, dass sich das Phasen- setzung, Motive) möglichst homogen sind,
modell nicht auf eine Unterrichtsstunde be- sowie eine genaue Lernzielbeschreibung und
zieht sondern auf eine Unterrichtseinheit -beschränkung, bezogen auf jene Teilbereiche
bzw. Stundensequenz, die über eine Stunde der zu erlernenden Sprache, die für die Ziel-
weit hinausgehen und bis zu fünf Stunden gruppe besonders relevant ist. Damit verbun-
umfassen kann, teilweise auch abhängig von den ist außerdem die Anwendung möglichst
z. B. der Lehrwerklektion. Der zeitliche Um- wirksamer Lehrverfahren und Lernstrategien
fang kann stark variieren, abhängig von Um- und die Verwendung von Lehr- und Lernma-
fang und Schwierigkeit der zu lernenden terialien, die speziell auf das Kursziel und die
Strukturen. Einzelphasen sollten zeitlich Bedürfnisse der Zielgruppe abgestimmt sind.
nicht überdehnt werden, um nicht Motiva- Nur bei gleichzeitigem Zutreffen mehrerer
tionsverlust zu riskieren (1988, 172). dieser Kriterien kann von einem „Intensiv-
79. Pädagogisch-didaktische Lernkategorien II 763

kurs“ oder (bei Einbettung in einen übergrei- zialformen“ beschrieben. Die gewählte Sozial-
fenden fremdsprachlichen Lehrplan) einer in- form bestimmt die Art der Gruppierung von
tensiven Lehr- und Lernphase gesprochen Lehrenden und Lernenden im Hinblick auf
werden. Die zeitliche Konzentration von Un- das zu erreichende Lernziel. Der Begriff „So-
terrichtsstunden auf eine bestimmte Zeit, die zialformen“ hat sich allerdings nicht allgemein
zeitlich zusammengefasste Durchführung ei- durchgesetzt und wird auch nicht einheitlich
nes umfangreichen traditionellen Fremdspra- verwendet. Neben den Bezeichnungen „soziale
chen-Lernprogramms oder die bewusste Aus- Organisationsformen“ und „Kooperations-
wahl und Planung des Kursmaterials und formen“ (Klingberg 1978, 345ff.) existieren
-verlaufs allein sind für die Bezeichnung „In- auch noch andere mehrdeutige Begriffe (vgl.
tensivunterricht“ allerdings keinesfalls genug Kerschhofer 1995, 489).
(Bonnekamp 1995, 214). Ein gezieltes Einge- Sozialformen regeln die Kommunikations-
hen auf die Lernenden und ihren Lernprozess und Beziehungsstruktur von Lehrenden und
sowie die gezielte Auswahl von Unterrichtsin- Lernenden. Der Begriff bezieht sich nicht nur
halten, abgestimmt auf Ziele und Bedürfnisse auf die äußere, räumliche Gruppierung von
der Lernenden sollten natürlich auch in ei- Lernenden und Lehrenden (frontal, kreis-
nem Unterricht in weniger konzentrieren förmig, in Gruppen; alters-, geschlechts- oder
Rahmen erfolgen. leistungsspezifisch; themen- oder fachspezi-
Intensivunterricht unterscheidet sich in eini- fisch, fächerübergreifend), sondern umfasst
gen Punkten vom „herkömmlichen“ Fremd- auch die sich aus der räumlichen Struktur
sprachenunterricht (vgl. Bonnekamp 1995): und der sozialen Zusammensetzung erge-
Durch die zeitliche Konzentration des Unter- bende Kommunikations- und Beziehungs-
richts kommt es zu einer oft ungewohnten Be- struktur (hierarchisch/symmetrisch; lehrer-/
lastung der Lernenden. Die in der Regel recht
schülerzentriert, sachbezogen, diszipliniert
geringe Teilnehmerzahl in den Kursen ermög-
etc.). Doch regeln Sozialformen die Bezie-
licht aber eine intensivere Betreuung, die Er-
hungs- und Kommunikationsstruktur des
läuterung der Lernziele, die Begründung der
Unterrichts nur soweit, wie sie von Lehren-
einzelnen Lernaufgaben sowie die Bewusstma-
chung des jeweiligen Lernfortschritts. Dazu den und Lernenden angenommen und ausge-
kommt, dass intensiver Fremdsprachenunter- führt werden (Meyer 1987, I, 138). Dabei sind
richt hauptsächlich für Erwachsene und mit ei- sowohl äußere (institutionelle, materielle,
ner beruflichen Orientierung angeboten wird. personelle und situative Gegebenheiten) als
Dadurch ist auch ein höherer Motivationsgrad auch innere Faktoren (Aufbau, Kommunika-
gegeben, der natürlich durch Eingehen auf die tions- und Handlungsstruktur des Unter-
Bedürfnisse der Lernenden und ihren individu- richts) bestimmend.
ellen Lernprozess erhalten werden muss. Cha- Eine Gruppierung bzw. Differenzierung
rakteristisch für intensiven Sprachunterricht der Lernenden nach ihrem Niveau, Interesse
ist außerdem eine Beschränkung der Lernziele oder anderen Kriterien kann entweder im
und eine genauere Abstimmung auf die Ziele Rahmen schulischer Differenzierungs- und In-
der Lernenden und den Verwendungskontext tegrationsformen erfolgen (Schultypen, Klas-
der fremdsprachlichen Kenntnisse. senzüge, Leistungsgruppen, Kursstufe, In-
Insgesamt finden die spezifischen Rahmen- tensivkurse, adressatenspezifische Kursange-
bedingungen, wie z. B. die besonderen institu- bote) oder aber innerhalb einer Gruppe von
tionellen Rahmenbedingungen, sowie spezifi- Lernenden im Rahmen einer Unterrichtsein-
sche Probleme des Intensivunterrichts in der heit herbeigeführt werden (Binnendifferenzie-
Fremdsprachendiskussion und -forschung re- rung).
lativ wenig Beachtung (z. B. tatsächliche Effi- Sozialformen werden in Relation zu einer
zienz, organisatorische und individuelle Pro- Grundgesamtheit definiert (in der Regel der
bleme), obwohl fremdsprachlicher Intensiv- Klassenverband). Im engeren Sinn umfassen
unterricht mittlerweile einen festen institutio- sie die vier Formen Klassenunterricht, Grup-
nellen Platz errungen hat. penunterricht, Partnerarbeit sowie Einzelar-
beit. Team Teaching, Lernen durch Lehren,
3. Sozialformen autonomes Lernen, Tandem-Lernen, Projekt-
unterricht, Spiele, Kooperatives Lernen u. a.
3.1. Einleitung (s. u.) sind keine weiteren Sozialformen, doch
Die soziale Organisation des Lehr- und Lern- haben sie in ihrer Durchführung unmittelbare
prozesses wird in der allgemeinen pädagogi- Auswirkungen auf die Wahl der Sozialform
schen Literatur meist unter dem Begriff „So- und werden oft in diesem Zusammenhang
764 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

angeführt, weil sie in enger Verbindung mit nung „Frontalunterricht“ finden sich in der
einer bestimmten Sozialform stehen oder kei- Literatur u. a. die Bezeichnungen „Klassen-
ner der genannten Sozialformen eindeutig zu- unterricht“, „Großgruppenunterricht“ und
zuordnen sind. „lehrerzentrierter Unterricht“. Vielerorts trifft
Seit der Reformpädagogik wird die Frage Frontalunterricht auf ein sehr negatives
nach der Wahl der richtigen Sozialform dis- Image. Die recht kritische Einschätzung dieser
kutiert. Die Überlegenheit einer Sozialform Sozialform geht schon auf die Reformpädago-
gegenüber einer anderen kann in keiner em- gen zurück, die dem Frontalunterricht man-
pirischen Untersuchung eindeutig nachgewie- gelnde Eigenständigkeit der Schüler, die Miss-
sen werden, da die Veränderung der Sozial- achtung individueller Unterschiede und die
form mit einer Veränderung der gesamten Vernachlässigung sozialerzieherischer Ziele
Organisations- und Kommunikationsstruk- vorwarfen (Aschersleben 1986). Frontalunter-
tur einhergeht und daher nicht isoliert unter- richt bietet zwar eine Fülle verschiedener Ge-
sucht werden kann (zum Forschungsstand staltungsmöglichkeiten und verfügt über eine
und spezifischen Problemen empirischer Un- außerordentliche Variationsbreite, in der Pra-
tersuchungen vgl. Kerschhofer 1995, 490ff.). xis ist er aber oft nur sehr einseitig gestaltet,
Die Entscheidung für Frontalunterricht, wodurch die Passivität und Unselbständigkeit
Einzelunterricht, Partnerarbeit oder Grup- der Schüler tatsächlich gefördert werden
penarbeit sollte nicht nur im Hinblick darauf kann. Kritik am Frontalunterricht betrifft v. a.
erfolgen, mit welcher Sozialform die ange- die Tatsache, dass er in manchen Fällen letzt-
strebten sprachlichen Fertigkeiten und Teil- lich einen Pseudounterricht darstellt, der selb-
kompetenzen am besten gefördert werden ständiges Denken und Handeln sowie Lernen
können, auch soziale Lernziele sind zu be- kaum ermöglicht, der Interaktionen und
rücksichtigen. In jeder Sozialform liegen Denkprozesse nicht nur behindern, sodern so-
eigene pädagogische Möglichkeiten, jede gar verhindern kann und der Machtbeziehun-
Sozialform muss im Wechsel mit anderen gen an Stelle von Sozialkräften entwickelt (vgl.
an ihrem Platz didaktisch sinnvoll eingesetzt Meyer/Okon 1983, 13⫺21).
werden. So ist es z. B. bei der Planung und Solche Kritik mag in vielen Fällen zwar
Auswertung von Gruppenunterricht eine berechtigt sein, dennoch wird Frontalunter-
Phase mit frontalem Arrangement notwen- richt häufig pauschal und undifferenziert ab-
dig, Frontalunterricht ohne Gruppen- und gelehnt. Die genannten Nachteile müssen
Partnerarbeit schließt die Schüler von vielen aber nicht unbedingt gleichzeitig auftreten.
Lernerfahrungen aus. Durch den abwechs- Der Frontalunterricht darf daher keineswegs
lungsreichen Einsatz von Arbeits- und Sozial- als solcher verworfen werden. Besonders in
formen kann auch die Aufmerksamkeit in- Verbindung mit anderen Sozialformen ist er
nerhalb der Klasse besser erhalten werden, in vielen Fällen methodisch sinnvoll, z. B. zur
die Lernenden ermüden weniger rasch. Daher Auswertung von Kleingruppen- und Einzel-
ist nicht eine dominierende Sozialform zu arbeit, in anderen Fällen aus organisatori-
wählen, sondern Sozialformen sollen in sinn- schen Gründen die einzig mögliche. So wäre
vollem Wechsel miteinander eingesetzt wer- es ohne Frontalunterricht kaum möglich ge-
den. wesen, die allgemeine Schulpflicht flächende-
Der Unterrichtserfolg hängt allerdings nur ckend durchzusetzen (H. Meyer 1987, II, 186).
in beschränktem Ausmaß davon ab, welche Gerade im Fremdsprachenunterricht eig-
Sozialform gewählt wurde, der didaktische net sich der Frontalunterricht beispielsweise
Erfolg einzelner Sozialformen wird wesent- für Phasen der Sprachrezeption, für gemein-
lich durch die in ihnen realisierten Hand- same Gesprächsphasen, die Erklärung neuer
lungsmuster, die jeweilige Aufgabenstellung, Strukturen oder komplexerer Zusammen-
das Arbeitsmaterial und durch viele andere hänge, die Vorbereitung auf den produktiven
organisatorische Faktoren mitbestimmt. Gebrauch der Fremdsprache, für die Auswer-
tung von Ergebnissen, die in anderen Sozial-
3.2. Frontalunterricht/Klassenunterricht formen, beispielsweise in Gruppenarbeit, er-
Frontalunterricht stellt eine Form des Unter- arbeitet wurden (vgl. auch Häussermann/Pie-
richts dar, bei der die Lehrperson der gesamten pho 1996, 224f.). In vielen Fällen kann ein
Klasse gegenübersteht und die Arbeits-, Inter- frontales Unterrichtsarrangement Lernenden
aktions- und Kommunikationsprozesse in der auch soziale Verstärkung und emotionale Si-
Klasse steuert und kontrolliert. Neben der mit cherheit über eigenen Fähigkeiten bieten.
negativen Konnotationen belasteten Bezeich- Lehrende müssen sich aber um schüler-
79. Pädagogisch-didaktische Lernkategorien II 765

freundliche und aktivierende Methoden be- Lehrers. Die verbale Dominanz des Lehrers
mühen und Elemente einsetzen, durch die der erschwert bzw. verhindert den Erwerb un-
Frontalunterricht ansprechend gestaltet wird. terschiedlicher Äußerungsfunktionen durch
Zu diesen zählen eine einfache und lebendige den Schüler (1983, 287). Unterrichtskommu-
Kommunikation, der Einsatz visueller Stüt- nikation ist also in hohem Maße „lehrer-
zen, Stimulusvariation (Benutzung verschie- gesteuert“ und hochgradig organisiert, struk-
dener Inputkanäle) und ein abwechslungsrei- turiert und auf die Erreichung des jeweili-
ches Methodenrepertoire, wodurch die Auf- gen Unterrichtsziels hin funktionalisiert (1983,
merksamkeitsspanne der Lernenden erhalten 290). Echte mitteilungsbezogene Kommuni-
und eine aktive Beteiligung am Lernprozess kation zwischen Lehrer und Schülern ist pro-
gefördert werden können. zentuell relativ selten (1983, 287).
Durch das Zurücknehmen der Lehrperson Das von Lörscher beobachtete einseitige
(z. B. durch geringeren Redeanteil oder eine Kommunikationsverhältnis kann jedoch ver-
weniger dominante Position im Raum) soll- ändert werden. Durch variierende soziale
ten die Lernenden ermutigt werden, sich in- Konstellationen haben Lernende die Gelegen-
tensiver zu beteiligen. Doch sind die Mög- heit, auch andere Äußerungsfunktionen zu
lichkeiten dazu immer begrenzt. Es sind im realisieren. Dafür müssen aber auch entspre-
Klassenunterricht einerseits nur bestimmte chende Redemittel angeboten und eingeübt
kommunikative Muster möglich bzw. er- werden. Auch die Lernenden können initie-
wünscht, andererseits kann der Heterogenität rende und informative Aufgaben übernehmen,
der Klasse nur zu einem gewissen Grad Rech- indem Schüler sich gegenseitig Stoff vermit-
nung getragen werden. Gerade hier sind dif- teln, wodurch fast eine Umkehr des 1 : 3-Ver-
ferenzierende Ansätze zu verfolgen. Frontal- hältnisses zwischen Lehrer- und Schülerkom-
unterricht soll daher im Wechsel zu anderen munikation gelingt (cf. z. B. Martin 1985).
Sozialformen eingesetzt werden, um auf indi-
viduelle Unterschiede vermehrt eingehen zu 3.3. Gruppenunterricht
können und um eine Variation der kommuni- Gruppenunterricht ist eine zeitweilige Teilung
kativen Muster im Unterricht zu ermöglichen. der Klasse in mehrere arbeitsfähige Klein-
Viele Probleme einzelner Lernender kommen gruppen zur Bearbeitung bestimmter Aufga-
im Frontalunterricht gar nicht zum Vorschein, ben. „Gruppenarbeit“ meint die in der So-
sondern erst dann, wenn Einzel- oder Grup- zialform des Gruppenunterrichts geleistete
penarbeit durchgefürt wird und dort kognitiv- zielgerichtete Arbeit, soziale Interaktion und
sprachliche Anforderungen gestellt werden. sprachliche Verständigung.
Ein Verständnis von Frontalunterricht, in dem Hauptziel ist die Förderung der Interak-
es zu einem ständigen Wechsel zwischen fron- tions- und Kooperationsfähigkeit der Ler-
talem, sozialem und individuellem Unter- nenden. Darüber hinaus ist Gruppenunter-
richtsarrangement kommt, sollte die vorherr- richt ein wichtiges Instrument zur inneren
schende Monokultur des Frontalunterricht Differenzierung der Lernenden (zur Defini-
ablösen. tion von Gruppen vgl. Sader 1991, 37ff.,
Lörschers Untersuchung (1983) zum Dis- 105f.). Zu den erwarteten positiven Effekten
kurs im traditionellen Englischunterricht be- des Gruppenunterrichts zählen höhere Akti-
legt ein asymmetrisches, vorwiegend monodi- vierung und intensivere Beteiligung der Ler-
rektionales Kommunikationsverhältnis zwi- nenden, größere Interaktionschancen, bes-
schen Lehrer und Schülern im herkömmli- sere Motivation, Selbständigkeit und bessere
chen Unterricht (vgl. auch Art. 116). Lör- Leistungen. Durch die bloße Übernahme von
scher vergleicht in seiner Untersuchung die Gruppen- oder Partnerarbeit zum Zweck der
Äußerungsanteile von Lehrer und Schülern: alternativen Unterrichtsgestaltung kann al-
Von der Gesamtmenge aller Äußerungen ma- lerdings viel an Potential dieser Sozialform
chen die der Schüler etwa 25%, Äußerungen verloren gehen. Entscheidend ist die richtige
des Lehrers hingegen etwa 75% aus (1 : 3-Ver- Einbettung in die jeweilige Unterrichtsphase,
hältnis). Etwa 32% der Lehreräußerungen im die anschließende Veröffentlichung und Aus-
Unterricht haben organisierende Funktion wertung sowie metakommunikative Phasen
(1983, 283). Äußerungen des Lehrers sind zur Reflexion der Gruppenarbeit.
fast ausnahmslos informierende sowie initiie- Große Erwartungen an diese Sozialform in
rende, Äußerungen der Schüler hingegen er- der pädagogischen Diskussion prallen auf
füllen replizierende bzw. reaktive Funktionen zahlreiche Vorbehalte und Gegenargumente
und sind dadurch abhängig von denen des auf Seiten der Praktiker. Wird Gruppenun-
766 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

terricht in der akademischen Diskussion als Sprechakte (Aufforderung, Bitte, Wider-


wichtige und lernfördernde Sozialform befür- spruch, …) und die Durchsetzung der eige-
wortet, wird sie in der Praxis hingegen eher nen Interessen sowohl in der Gruppe als auch
selten eingesetzt (7,4% in der Umfrage von in „ungeschützter Kommunikation“ ermögli-
Hage u. a. (1985)). Zu große Klassen, Mangel chen, müssen im Unterricht angeboten wer-
an geeignetem Material, Zweifel am Erfolg, den (Schwerdtfeger 1977, 91).
zu großer Zeitbedarf, Angst, Disziplinpro- Die Ratschläge und Anregungen für Grup-
bleme, aber auch Ablehnung durch die Ler- penunterricht sind vielfältig (vgl. z. B. Meyer
nenden selbst sind häufig vorgebrachte Ge- 1987, II, 254⫺277) und betreffen v. a. fol-
genargumente. Ein verbreitetes Argument ge- gende Punkte: Themenauswahl, Vorkennt-
gen Gruppenarbeit im Fremdsprachenunter- nisse und methodische Kompetenzen der Ler-
richt bezieht sich auf den Umstand, dass die nenden, Formulierung des Arbeitsauftrags,
Lernenden die Zielsprache nicht ausreichend Kriterien der Gruppenbildung (Meyer 1987,
beherrschen und daher einerseits zuviel an II, 258ff.) sowie räumliche Voraussetzungen.
sprachlich nicht korrektem Input aufnehmen, Lernende sollen sich mit ihrer Gruppe und
und andererseits oft in die Muttersprache mit den von dieser Gruppe erarbeiteten Er-
ausweichen, wodurch der Anspruch auf Ein- gebnissen identifizieren können. Die Lehr-
sprachigkeit im Unterricht nicht erfüllt wer- person muss die Gruppe als Gruppe ver-
den kann. Wie die Lernenden die sprachli- stehen, akzeptieren und als solche anreden.
chen Mängel und die sich daraus ergebenden Der Gruppe sollen möglichst viele Entschei-
Schwierigkeiten bewältigen, ist bisher aller- dungen inhaltlicher und organisierender Art
dings nur wenig untersucht worden. Abel überlassen werden (Meyer 1987, II, 269). Ei-
(1985) untersuchte die Frage, ob durch Grup- ne geeignete Aufgabenstellung, entsprechen-
penarbeit ein sprachliches Verhalten der des Unterrichtsmaterial und Arbeitsanwei-
Schüler ermöglicht werde, wie es im Frontal- sungen, die für die Lernenden verständ-
unterricht ansonsten kaum zu finden ist. Die lich sind, sind wichtige Voraussetzungen. Die
Ergebnisse zeigen, dass Gruppenarbeit einer- Lehrperson sollte sich zu Beginn der Grup-
seits positive Effekte hat, sie bewirkt eine penphase zurückziehen, sie hat dabei Gele-
Verbesserung des Gruppenklimas, eine freiere genheit, Schüler zu beobachten (Rollenvertei-
Atmosphäre, bietet vermehrt Möglichkeiten lung, soziale Prozesse zwischen Lernenden
zur aktiven Gestaltung der Fremdsprache, er- u. ä.), erst nach einiger Zeit den Arbeitsfort-
mutigt zum Experimentieren mit verschiede- schritt überprüfen, Fragen beantworten und
nen Ausdrucksweisen und „authenthischer/ dabei v. a. als Berater wirken. Sie sollte erst
direkter“ Kommunikation, andererseits kann am Schluss nach den Ergebnissen sehen, um
es dabei auch zu mehr Fehlern als üblich den Vergleich im Plenum besser steuern zu
kommen, da die Kontrolle durch den Lehrer können (Meyer 1987, II, 268f.; Häusser-
wegfällt. Positiv anzusehen ist dennoch die mann/Piepho 1996, 227). Die Ergebnisse der
Tatsache, daß in der Gruppe Ansätze von Gruppenarbeit sollten anschließend im Ple-
Sprechhandlungen zu beobachten sind, die num zusammengefasst werden.
im lehrerzentrierten Unterricht in dieser
Form nicht möglich sind, v. a. im meta- 3.3.1. Gruppenbildung,
sprachlichen Bereich. Besonders bei gemein- Gruppenzusammensetzung und
samen produzierenden und reproduzierenden Gruppengröße
Aktivitäten werden in Gruppen meist bessere Dass die Zusammensetzung einer Gruppe ein
Resultate erzielt als von einzelnen Schülern wichtiger Faktor für erfolgreiche Gruppenar-
(vgl. Faistauer 1997, Legenhausen 1993). beit ist, liegt auf der Hand. Bei der Gruppen-
Allerdings sind die sprachlichen Mittel, die bildung ist auf persönliche Elemente ebenso
den Lernenden dafür zur Verfügung stehen, einzugehen, wie auf das Leistungsniveau der
sehr begrenzt. Lehrmaterialien enthalten Schüler. Inwieweit der Lehrer aber bei der
zwar häufig das Anweisungsvokabular des Gruppenbildung eingreifen soll, ist umstrit-
Lehrers, doch das Sprachmaterial, das Ler- ten. Fordern manche Autoren eine lehrerbe-
nende für die Interaktion in der Gruppe und stimmte Gruppenzusammenstellung, so billi-
zum Ausdruck von Metasprachlichem benö- gen andere eine Gruppenbildung auch auf
tigen, wird meist nicht abgeboten. Die Rede- Grund verschiedener anderer Kriterien, aber
mittel, die zur Erfüllung der Aufgabe und zur vorwiegend durch die Lernenden selbst und
Gesprächsführung notwendig sind und den nur in Ausnahmefällen durch Intervention
Lernenden die Durchführung bestimmter der Lehrperson (Häussermann/Piepho 1996,
79. Pädagogisch-didaktische Lernkategorien II 767

227), schließlich sollte die Selbständigkeit der ner- und außerunterrichtlichen Beziehungen
Schüler schon bei der Gruppenbildung begin- der Lernenden, ihr sozialer und kultureller
nen können. Schülergewollte Konstellationen Hintergrund sind wichtige Faktoren, die die
sollten nach Schwerdtfeger aber dennoch auf Zusammenarbeit beeinflussen und in Analy-
ihre Brauchbarkeit geprüft und notfalls ver- sen von Gruppengesprächen und kooperati-
ändert werden (Schwerdtfeger 1977, 100ff.). ven Arbeitsprozessen nicht außer Acht gelas-
Natürlich sind auch andere Kriterien wie Lei- sen werden dürfen.
stung (vgl. Differenzierung, s. u.) oder auch
Zufall möglich. Manche Autoren, z. B. Abel 3.3.2. Aufgabenstellung
(1985, 210), plädieren für eine Beibehaltung Es ist unumstritten, daß die Art der Aufga-
einmal gewählter Gruppenzusammensetzun- benstellung ein wesentlicher Faktor für das
gen über einen längeren Zeitraum, um posi- Gelingen der Gruppenarbeit ist. Für das
tive soziale Auswirkungen zu erreichen, an- Misslingen von Gruppenunterricht sind häu-
dere wieder für ein „rotierendes Verfahren“, fig mangelnde oder unzureichend formulierte
das den Faktor „Flexibilität für verschiedene und das differenzierte Anspruchsniveau der
Lernumwelten“ einführen soll (Schwerdtfe- Lernenden nicht berücksichtigende Instruk-
ger 1977, 100f.; 1980, 18). Damit könne eine tionen die Ursache. Denn gerade bei der Pla-
Annäherung an die Bedingungen ungeschütz- nung und Formulierung von Instruktionen
ter Kommunikation in Ansätzen erreicht fällt die Entscheidung, was vorausgesetzt
werden. werden kann, welche sprachlichen Hilfestel-
Aus den einzelnen Teilnehmern eines Kur- lungen gegeben werden müssen und für wen
ses muss erst eine Gruppe werden. Zusätzlich die Aufgaben lösbar sind (Mörtl 1993, 115f.).
zu der nach außen identifizierbaren Einheit- Die Aufgabe soll den Schülern einen An-
lichkeit einer Gruppe bilden sich in einer lass zur Interaktion geben. Aufgabenstellun-
„echten“ Gruppe das Gefühl der Zusammen- gen, die einen dialogischen oder partner-
gehörigkeit, gemeinsam angestrebte Ziele schaftlichen Ablauf nahelegen, einsichtig und
und damit verbunden auch Rollenverteilung handlungsorientiert sind und die auf die Lö-
und Rollenakzeptanz, sowie Statuspositionen sung eines Problems (Konstruktion oder
aus, die Ausdruck der inneren Gliederung Analyse) ausgerichtet sind, eignen sich für
sind (Sader 1991, 105f.; Piepho 1995, 202). Gruppen- oder Partnerarbeit. Die Aufgabe
Beim Einsatz von Gruppenarbeit muss auch sollte zügig und in einer mit den anderen
diesen Aspekten Rechnung getragen werden. Gruppen vergleichbaren Zeit zu bewältigen
Die Bestimmung eines Gruppenleiters (vgl. sein, sie sollte deutlich fachspezifische Lei-
Klingberg 1982) scheint nicht unbedingt not- stungen und Kompetenzen erbringen und
wendig, es kann jedoch im Verlauf der Grup- verbessern, soll sichtbare, vorführbare und
penarbeit eine Person steuernde und struktu- weiterführende Ergebnisse ermöglichen, die
rierende Funktionen übernehmen, abhängig auch außerhalb der Gruppe präsentiert wer-
vom Verhalten der übrigen Gruppenmitglie- den können und Beifall finden. Techniken
der (Abel 1985, 132f.). Doch sind solche und Strategien der Informationsgewinnung,
gruppendynamischen Aspekte sehr stark von -aufnahme und -verarbeitung, der Mitteilung
der jeweiligen Zusammensetzung der Lerner- und Gestaltung in der Zielsprache sollten ge-
gruppe abhängig. fördert werden (Piepho 1995, 202). Um den
Wie unterschiedlich die Rollen- und Ar- Arbeitsprozess produktiv zu gestalten, soll
beitszuteilung in Gruppen sein kann, zeigt ein Endprodukt gefordert werden. Es emp-
ein Vergleich der Untersuchungen von Abel fiehlt sich auch, die Instruktionen schriftlich
(1985) und Faistauer (1997) sehr deutlich. So vorzulegen, um einen fixen Bezugspunkt zu
konnte die deutliche Dominanz eines Grup- geben, der auch im Verlauf der Gruppenar-
penmitglieds oder die Leitung des Gesprächs beit immer wieder die eigentliche Aufgaben-
durch eine Person von Faistauer (1997, 81ff.) stellung in Erinnerung ruft.
nicht festgestellt werden. Vielmehr scheint Gruppenarbeit muss nicht nur zur Festi-
das Strukturieren und Vorantreiben des Ge- gung von Strukturen und zur Reproduktion
sprächs und der Gruppenarbeit auf sehr indi- eingesetzt werden, auch die Erarbeitung neuer
viduelle Art und Weise durch verschiedene Inhalte kann im Rahmen kooperativer Ar-
Gruppenmitglieder abzulaufen, was zeigt, wie beitsformen erfolgen. Die Erstellung und Be-
sehr die Individualiät der einzelnen Gruppen- arbeitung von Texten (vgl. z. B. Faistauer
mitglieder das Gruppengeschehen bestimmt. 1997) sowie die Reflexion mit sprachlichem
Die Zusammensetzung der Klasse und die in- Material versprechen in kooperativer Arbeits-
768 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

weise erweiterten und vertiefenden Umgang also nicht nur das gemeinsame Üben von
und bessere Ergebnisse. Oft sind die Aufgaben Banknachbarn im Klassenverband, auch an-
für Gruppen- und Partnerarbeit zwar iden- dere Formen fallen unter diese Bezeichnung.
tisch mit denen des konventionellen Frontal-
unterrichts, man verspricht sich aber, dass sie 3.4.1. Tandem
durch das höhere Engagement in der Gruppe Im europäischen Raum ist Sprachenlernen im
gründlicher erarbeitet und besser behalten Tandem seit den siebziger Jahren verbreitet:
werden, auch sprachliche Ziele würden in glei- Vertreter zweier Sprachen bringen einander
cher Weise erreicht (Schwerdtfeger 1980, 10f.). ihre Muttersprache bei, dabei ist jeder Partner
abwechselnd Lehrer und Lerner. In den Part-
3.3.3. Evaluation und Leistungsbeurteilung nerschaften wird der Rahmen für eine indivi-
Die Leistung einzelner Lernender im Rah- duelle Weiterentwicklung der Sprachkennt-
men einer Gruppenarbeit setzt sich aus meh- nisse geschaffen. Meist werden die Rahmenbe-
reren Faktoren zusammen. Beurteilt werden dingungen von Organisatoren und Moderato-
können das soziale Verhalten des Schülers ren geschaffen, die Paare sind innerhalb ihrer
(Kooperations- und Teamfähigkeit sowie Partnerschaft größtenteils autonom. Dem An-
Kommunikationsfähigkeit), seine organisato- spruch nach soll die Tandemphase von den
rische Kompetenz (Grob- und Feinplanung, Partnern selbst organisiert und strukturiert
Erkennen der Gesamtaufgabe, Übernahme werden, Steinmüller (1991, 16) weist aber da-
von Aufgaben), das Ergebnis der Gruppenar- rauf hin, dass Planung und Anregungen, z. T.
beit (Annäherung an Ziel und Qualität der auch Kontrolle der Partner sehr förderlich
Lösung). Gestaltung der Dokumentation des und oft notwendig sind. Die einzelnen Tan-
Gruppenprodukts sowie Qualität der Präsen- demprojekte zeigen eine Fülle unterschied-
tation des Ergebnisses (Degen-Kos 1996). licher Organisationsformen, Arbeitsweisen,
Erst aus der Summe aller dieser Faktoren Schwerpunkte (z. B. Fachsprache) und Ziel-
kann die Leistung der Gruppe als Ganzes gruppen (vgl. dazu die Publikationen des Tan-
und der Beitrag einzelner bewertet werden. dem e. V.).
Gerade bei der Beurteilung von Gruppenar- Neben vielen Erfahrungsberichten und
beit können die erbrachten „Leistungen“ in- daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen
dividuell stark variieren, die Beurteilung wird auch das tatsächliche Geschehen in Tan-
durch die Lehrperson ist außerdem immer dem-Lernpartnerschaften untersucht (z. B.
Apfelbaum 1993). Im größeren Teil der Tan-
subjektiv.
dems wird die Gelegenheit gesucht, in Situa-
Jedenfalls wirkt eine Kontrolle des Ergeb-
tionen zu lernen, die denen des ungesteuerten
nisses stimulierend auf die Gruppenarbeit,
Spracherwerbs weitgehend entsprechen, nur
die Auswertung und Beurteilung sollte aber
wenige Paare bevorzugten Formen, die ihnen
den Kooperationseffekt betonen (vgl. auch
aus gesteuerten Sprachlernsituationen ver-
Häussermann/Piepho 1996, 227). Die Beur- traut sind (Müller/Schneider/Wertenschlag
teilung von Gruppenleistungen und von Lei- 1990: 164). Das freiwillige Lehr-/Lernverhält-
stungen einzelner Schüler bleibt aber schwie- nis erlaubt zu korrigieren, ohne die infor-
rig. melle Kommunikationssituation zu bedrohen
3.4. Partnerarbeit (contrat didactique). Erfahrungsberichte zei-
gen positive und negative Reaktionen (vgl.
Von pädagogischer Seite wird Partnerarbeit Müller/Schneider/Wertenschlag 1990). Die
oft in Verbindung mit Gruppenarbeit ge- Rolle des Lehrers ist primär die eines Bera-
bracht, doch weisen aus soziologischer Per- ters für autonomes Lernen und eines Psycho-
spektive Paare und Gruppen doch auch we- logen bei der Partnervermittlung.
sentliche Unterschiede auf. Für die meisten
Soziologen besteht ein Gruppe aus minde- 3.4.2. Lernpartnerschaften und
stens drei Mitgliedern (vgl. Sader 1991, 37ff.; Helfersysteme
Herkner 1991; Piepho 1995; Prior 1985). Di- Eine Form des „Helfersystems“ beschreibt
rekte unmittelbare Kommunikation im Paar Steinig (1985). In sogenannten „Zweierschaf-
ermöglicht intensivere Zusammenarbeit, Ler- ten“ sollen altersheterogene Partner mitein-
nende fühlen sich häufig auch sicherer als in ander in der Fremdsprache kommunizieren
Gruppen. und Aufgaben lösen. Beck u. a. (1994) berich-
Partnerarbeit ist nicht nur ein Element zur ten über die Förderung eigenständigen Ler-
Erweiterung des Klassenunterrichts, meint nens in Lernpartnerschaften. Die Schüler ler-
79. Pädagogisch-didaktische Lernkategorien II 769

nen nicht nur das soziale Umgehen miteinan- sehen. Auch computerunterstützte Lernpro-
der, sondern lernen auch ihre eigenen Verste- gramme müssen die Grundsätze der Indivi-
hens-, Denk- und Problemlösungsprozesse dualität und der Eigenständigkeit vermehrt
besser kennen. Die Anforderungen an die berücksichtigen (vgl. Art. 113).
Lehrer sind aber relativ hoch: Die für die
Lernreflexion notwendige größere Freiheit
der Schüler, Leistungsbeurteilung durch die 4. Handlungsmuster
Schüler und Konflikte mit dem Parallellernen
Handlungsmuster bestimmen die Form der
machen es für viele Lernende schwierig, ihren
Auseinandersetzung mit den Inhalten und
Unterricht nach dem Prinzip eines dialogi-
Lernaufgaben des Unterrichts. Konkreter
schen Unterrichtskonzeptes zu gestalten.
Unterricht ist eine inhaltliche und methodi-
3.5. Der Einzelunterricht sche Variation dieser Muster (Meyer 1987, II,
Im traditionellen Unterricht ist Einzelarbeit 279). Lehrervortrag, Schülerreferat, Unter-
eng gekoppelt an den Frontalunterricht und richtsgespräch, Streitgespräch, Tafelarbeit,
wird meist nur kurzfristig und zur Bearbei- Rollenspiel, Test, Demonstration etc. sind
tung von eng umgrenzten Aufgabenbereichen mögliche Handlungsmuster, wie sie im Un-
eingesetzt. Er dient als Mittel der Leistungs- terricht häufig zu finden sind. Alternative
kontrolle, zum Einüben neuen Stoffes sowie Ausdrücke sind z. B. Aktionsformen oder
für rezeptive Lernphasen. Zu den Vorteilen Lehrformen, wobei sich diese nur auf das me-
der Einzelarbeit im Klassenverband zählt die thodische Handeln des Lehrers beziehen,
Tatsache, dass für die Durchführung kaum während der Begriff Handlungsmuster die ge-
zusätzliches Lernmaterial oder eine Umorga- genseitige Bedingtheit des Handelns von Leh-
nisierung der Klasse notwendig ist. Daneben renden und Lernenden betont.
bietet der Einzelunterricht die Möglichkeit Handlungsmuster sind in sich zielgerichtet
zur Individualisierung des Lernens. Sowohl und regeln die Handlungsstruktur von einer
Anforderungsniveau als auch Aufgaben- inneren und äußeren Seite: Die äußere, der
menge können individuell vorgegeben bzw. Beobachtung zugängliche Seite von Hand-
gewählt werden. Die Lernenden haben die lungsmustern zeigt, wie Lerninhalte im Un-
Möglichkeit, die Aufgabe nach eigenen Fä- terricht „inszeniert“ werden, z. B. durch re-
higkeiten und Lernstrategien in ihrem eige- den, schweigen, lesen, schreiben, produzie-
nen Tempo intensiv zu bearbeiten. Einzel- ren, experimentieren etc. Die innere Seite be-
unterricht meint aber auch Hausübungen schreibt jene Handlungskompetenzen, die im
oder die Arbeit im Sprachlabor sowie das Unterricht durch unterrichtliches Handeln
Durchlaufen von Übungsprogrammen z. B. vermittelt bzw. angeeignet werden sollen,
im Rahmen von computergestütztem Fremd- z. B. interpretieren, vergleichen, Hypothesen
sprachenlernen. bilden, sich in eine Rolle einfühlen, identifi-
Häufig ist mit der Durchführung von Ein- zieren, problematisieren etc. Meyer (1987)
zelunterricht der Anspruch auf Individuali- unterscheidet drei Arten von Handlungsmu-
sierung und Differenzierung verbunden. Ein- stern, denen hier eine weitere Form hinzuge-
zelunterricht sollte den Lernenden auch die fügt werden soll.
Möglichkeit bieten, Verantwortung für den Handlungsmuster, die vornehmlich der
eigenen Lernprozess zu tragen. „Selbstbe- Wissensvermittlung und der Dokumentation
stimmendes Lernen“ als Alternative zum von Unterrichtsinhalten dienen, sind in der
„Programmierten Lernen“ fordert vom Ler- Unterrichtspraxis am häufigsten zu beobach-
nenden, dass dieser Material, Aufgaben und ten und finden v. a. in einem frontalen Unter-
Ziele selbst bestimmt, um eigenes zu produ- richtsarrangement bzw. in verschiedenen Ge-
zieren. So kann man die Schüler beispiels- sprächs- und Vortragsformen statt. Hand-
weise selbst ihre Aufgaben wählen lassen, in lungsmuster, die v. a. eine darbietende Aktivi-
der Aufgabenstellung können verschiedene tät des Lehrers vorsehen, sind verbunden mit
Grade von Strukturierung und Aktivitätsan- Aktivitäten der Lernenden, die sich auf zuhö-
regung enthalten sein. Das Aufkommen der ren und zusehen, auf sprechen und schweigen
Intelligenzforschung ließ das Konzept der In- beschränken. Die Person des Lehrers steht im
dividualisierung des Unterrichts entstehen. Mittelpunkt, Aktivitäten der Lernenden sind
Dadurch wuchs das Interesse an individuali- rund um die Lehrperson organisiert (vgl.
sierten Lernformen. Seither ist auch der Ein- auch Lörscher 1983). Die Aktivitäten im
zelunterricht unter neuen Gesichtspunkten zu Klassenraum lassen sich als vorwiegend lei-
770 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

stungsorientiert, reproduzierend mit starker in diesen Bereich: Selbstorganisierendes oder


Neigung zu Fremdkontrolle und einfacher selbstorganisiertes Lernen, autonomes Ler-
Bewertung von Schülerleistungen beschrei- nen (Benson/Voller 1997; Broady/Kenning
ben. Die wissenschaftliche Beschreibung er- 1996), freiheitsorientiertes Lernen (Meyer E.
folgt häufig mit hermeneutischen Methoden, 1993; Lehtinen 1994) entdeckendes Lernen
der Unterrichtsprozess wird als Text be- (Kratochwil 1993), kooperatives Lernen (Sla-
schrieben. vin 1993; Lehtinen 1994) und offenes Lernen
Daneben sind in den letzten Jahren gerade (Harecker 1993; H. Meyer 1987, II, 399ff.).
im Zusammenhang mit Fremdsprachenler- Die Begriffe überlappen sich teilweise, teil-
nen auch andere, vorwiegend partnerschaft- weise heben sie einen bestimmten Aspekt be-
liche Formen der Wissensvermittlung ent- sonders hervor (vgl. Wißner-Kurzawa 1995,
standen, z. B. Tandem, Lernen durch Lehren 308ff.).
u. a., von denen die meisten allerdings außer- Zusätzlich zu den drei bisher genannten
unterrichtlich bzw. nicht im Rahmen des Re- Formen soll hier noch eine weitere genannt
gelunterrichts organisiert werden. werden: Handlungsmuster der Präsentation
Handlungsmuster, die vornehmlich der und Anwendung erworbenen Wissens setzen
Übung und Kontrolle dienen, wie Hausaufga- Handlungsmuster der Erarbeitung und Aneig-
ben, Tests, Diktate, Aufsätze, aber auch die nung von Kenntnissen voraus. Diese über-
Bearbeitung von Lehr- und Lernprogram- schneiden sich teilweise mit den Handlungs-
men, von Lernspielen und anderem Übungs- mustern zur Anwendung und Veröffentli-
material (Lehrbuch, Arbeitsblätter etc.), sind chung und mit denen zur Wissensvermittlung
meist mit Einzelarbeit aber auch Partnerar- und Dokumentation, dennoch werden an-
beit verbunden. Auch hier ist die Bewertung dere Handlungskompetenzen benötigt als in
von Leistungen der Schüler eher leicht und Handlungsmustern zur Anwendung und Ver-
bleibt meist auf eine Fremdkontrolle be- öffentlichung. Auch dafür eignen sich Grup-
schränkt, obwohl alternative Arten der Eva- penarbeit und Partnerarbeit besonders, auch
luation hier durchaus möglich wären (z. B. hier zeigt sich eine starke Handlungs- und
Selbstkontrolle, Überprüfung durch den Produktorientierung. Kooperatives Lernen
Partner, …). Auch das Eigenlernen außerhalb ist in diesem Zusammenhang von großer Be-
von Unterricht ist in einem Grenzbereich die- deutung. Durch das gemeinsame Be- und Er-
ser Handlungsmuster anzusetzen. Solche arbeiten neuen Wissens verspricht man sich
Handlungsmuster ermöglichen zwar eine v. a. ein längerfristiges Behalten der erarbei-
stärkere Individualisierung als dies in einem teten Wissensinhalte. Dazu können kommu-
frontalen Unterrichtsarrangement möglich nikative und kooperative Fähigkeiten der
ist, doch muss diese von den Lernenden auch Lernenden gefördert werden. Doch dürfen
angenommen werden. diese Fähigkeiten nicht von vornherein vor-
Die dritte Art von Handlungsmustern ausgesetzt werden, Lernende müssen auf
dient vornehmlich der Anwendung erworbener diese Formen der Zusammenarbeit vorberei-
Kenntnisse und der Veröffentlichung von tet und hingeführt werden, sie müssen lernen,
Unterrichtsergebnissen (Ausstellung, Schüler- dass nicht nur die Leistung des Einzelnen
zeitung, Aufführungen, Klassenkorrespon- zählt. Lernende müssen gerade im Fremd-
denz, Rollenspiele, …). Diese sind v. a. mit sprachenunterricht auch die geeigneten Rede-
Formen des Gruppenunterrichts verbunden, mittel für gemeinsames Interpretieren, Dis-
finden sich in herkömmlichem Unterricht kutieren und Argumentieren aber auch für
aber vergleichsweise selten (vgl. Hage u. a. gemeinsames Dokumentieren und Produzie-
1985). Handlungsmuster der Anwendung ren erlernen.
und Veröffentlichung von Ergebnissen sind
vorwiegend produkt- und handlungsorien-
tiert aber auch stark lernerorientiert, sie sind 5. Lernerorientierung und
oft verbunden mit der Öffnung des Unter- Lernerautonomie
richts und der Annäherung an selbstorgani-
siertes Lernen. Die Bewertung der Leistungen Unterrichtliches Fremdsprachenlernen ge-
einzelner Schüler ist schwierig, neue Formen schieht unter der Einwirkung zahlreicher
der Evaluation werden hier notwendig. Diese Faktoren, die sich sowohl aus den Lehr- und
Handlungsmuster fordern von den Lernen- Lernbedingungen im Klassenziemmer als
den verstärkte Kommunikation und Koope- auch aus psychologischen und sozialen Kom-
ration. Eine Reihe von Schlagwörtern fallen ponenten außerhalb des Klassenzimmers ent-
79. Pädagogisch-didaktische Lernkategorien II 771

wickeln (Bausch/Krumm 1995, 9). Das Ge- das, was der Lehrer lehrt etc. (Rotering-
schehen im Unterricht wird zunehmend auf Steinberg 1995, Beck u. a. 1994, Kratochwil
die Lernenden bezogen, der Lehrprozess soll 1993, Stebler u. a. 1994, Weinert 1994).
den Lernenden angemessen gestaltet bzw. in- Durch die Schulung metakognitiver Kom-
dividualisiert und differenziert werden, er soll petenzen kann die „Lernen zu Lernen“-Fä-
die Selbständigkeit und Zusammenarbeit un- higkeit erhöht werden. Das Lernsubjekt wird
ter den Lernenden fördern und auf sprachli- dabei mit den Kompetenzen ausgestattet, die
ches Handeln in der außerunterrichtlichen es zunehmend autonom und unabhängig von
Wirklichkeit vorbereiten. Die pädagogischen Außenlenkung machen (z. B. Definieren von
Prinzipien der Lernerorientierung, der Indivi- Zielen, Identifizieren von Problemen u. ä.).
dualisierung und der Differenzierung, der Ko- Beck u. a. (1994) stellen verschiedene Vor-
operation und der Öffnung des Unterrichts gangsweisen dar, mit denen man Lernende
werden in der modernen Fremdsprachendi- dazu anregt, ihren Lernprozess selbst in die
daktik daher als wesentliche Komponenten Hand zu nehmen und über ihre Lernerfah-
zur Vorbereitung der Lernenden auf außer- rungen nachzudenken. Den Lernenden müs-
unterrichtliches sprachliches Handeln angese- sen Übungsmöglichkeiten für eigenverant-
hen. Diese Prinzipien haben erheblichen Ein- wortliche Entscheidungen bereitgestellt wer-
fluss auf Entscheidungen über die organisa- den, sie müssen lernen, Probleme zu erken-
torische Strukturierung des Unterrichts und nen, darzustellen, sie sollen ihre Begabungen
sollen hier genauer beschrieben werden. und Interessen erkennen und Fertigkeiten er-
werben, die sie zur Bewältigung ihres gegen-
5.1. Autonomes Lernen und offener wärtigen und zukünftigen Lebens brauchen
Unterricht (Harecker 1993). Die Ergebnisse des didakti-
Als Fortführung des lernerzentrierten An- schen Prozesses sind hier nicht an der Zahl
satzes ist die Forderung nach Lernerauto- der gelernten Informationen zu messen, son-
nomie zu sehen, d. h. nach selbständiger und dern vielmehr an der Summe der in der Per-
eigenverantwortlicher Auseinandersetzung der sönlichkeit der Schüler bewirkten Änderun-
Lernenden mit Lerninhalten. Im herkömmli- gen, die durch diesen Prozeß bewirkt wurden
chen Unterricht erfolgt die Organisation des (Meyer/Okon 1983, 59), d. h. das Beherr-
Lernens meist durch die Lehrperson. Der schen des vermittelten Wissens, die Fähigkeit
Lernprozess kommt aber niemals allein durch zu dessen Anwendung im Leben, Entwick-
die Aktivität des Lehrers zustande, sondern lung allgemeiner und beruflicher Qualifika-
erst durch die eigenständige Auseinanderset- tionen etc.
zung der Lernenden mit dem Lernstoff. Bei Wirksame Informationsaufnahme erfolgt
der Unterrichtsgestaltung kann man daher in der aktiven Auseinandersetzung mit dem
nicht nur auf den Lerninhalt fokussieren, son- Lerngegenstand, in situativem Kontext, in
dern muss zugleich die aktiv konstruieren- Interaktion mit anderen, wobei Verknüpfun-
den Lernenden im Auge behalten (vgl. Nodari gen mit bestehendem Wissen und der Aufbau
1996). Erfolgreiche Lernende haben eigene neuen Wissens ermöglicht werden. Lernen
metakognitive Verfahren (vgl. Beck u. a. wird als ein aktiver, konstruktiver, kumulati-
1994), Unterricht, der die Eigenverantwort- ver und zielorientierter Prozeß gesehen (Steh-
lichkeit der Lernenden fördern will, muss da- ler u. a. 1994, 231). Je mehr didaktische Ent-
her versuchen, diese Verfahren bei den Ler- scheidungen über Ziele, Methoden, Medien,
nenden zu aktivieren, um ihren Lernprozess Organisation, Motivation und Interaktion
zu organisieren und zu strukturieren. Ange- vom Schüler getroffen werden, desto „offe-
strebt wird die Förderung der Eigenständig- ner“ und „freier“ ist der Unterricht (Kra-
keit im Handeln und das eigenständige Orga- tochwil 1993).
nisieren der Lernprozesse. Ziel ist ein aktives,
eigenverantwortetes autonomes Lernen. 5.2. Lernen durch Lehren
Die Begründungen für autonomes und In die gleiche Richtung geht auch der Ansatz
selbständiges Lernen sind vielfältig: Selbstge- „Lernen durch Lehren“: Die Vermittlung der
steuertes Lernen sei motivierender und effek- Inhalte erfolgt in „Schülersprache“, d. h.
tiver, die Fähigkeit selbständig zu lernen er- kann den Lernenden besser angepasst sein als
möglicht ein Mithalten in der sich immer die Lehrersprache. Im emotionalen Bereich
schneller verändernden Arbeitswelt, Ler- kann die Lernmotivation, das Selbstver-
nende haben ein Recht, ihr Lernen selbst zu trauen, das Selbstbild und die Einstellung zur
bestimmen, sie lernen meist ohnehin nicht Schule verbessert werden, die Angst kann
772 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

vermindert werden. Es kann zur Überwin- penforschung diskutiert. Bei der empirischen
dung sozialer und ethnischer Schranken Überprüfung zeigte sich schon früh, dass Ko-
kommen. Die passiv-rezeptive Schülerrolle operation fast durchwegs bessere Ergebnisse
wird verändert, Schüler werden zu mehr zeigt als Wettbewerb oder Einzelarbeit (Sader
Selbständigkeit und -tätigkeit und mehr 1991, 136, zu den Unterschieden zwischen
Eigenverantwortung angeregt. Durch Helfer- kooperativ und kompetitiv orientierten
systeme und Tutorenprogramme kommt es Gruppen vgl. Sader 1991, 105). Die Fähigkeit
zu einer Leistungsverbesserung bei Tutoren zur Interaktion in der Gruppe muss erst ge-
und bei Betreuten (Tutees). Martin (1985) lernt werden, langfristig müssen Schüler
zeigt, dass es durch die Übertragung von selbst „Spielregeln für das Gruppenlernen“
Lehraufgaben auf die Schüler fast zu einer entwickeln und über den Gruppenprozess re-
Umkehr des einseitigen Kommunikationsver- flektieren lernen (Meyer 1993). Durch die Ar-
hältnisses des Frontalunterrichts kommt beit in kooperativen Gruppen werden sich
(zum Einsatz von Lehren durch Lernen in Lernende oft erst bewusst, welchen Arbeits-
universitären Deutschkursen s. Pfeiffer/Ru- und Lernstil sie bevorzugen, welche Aufga-
sam 1994). Daneben gibt es zahlreiche Tuto- ben und Rollen sie bevorzugt übernehmen
renprojekte mit Minderheitenschülern (z. B. und welche sie erfolgreich wahrnehmen kön-
Ludwig 1989): Deutsche Schüler als Tutoren nen. Renkl/Mandl (1995) fassen die Bedin-
arbeiten mit ausländischen Schülern zusam- gungen für effektives kooperatives Lernen
men. Solche Projekte zeigen überwiegend po- auf fünf Ebenen zusammen: Lerner, Aufgabe,
sitive Ergebnisse, ihr Nachteil ist jedoch, dass Strukturierung der Interaktion, Anreizstruk-
sie eine fixe und einseitige Rollenzuteilung tur und organisatorischer Rahmen. Rotering-
vorgeben, Fähigkeiten der nichtdeutschspra- Steinberg (1995) stellt verschiedene koopera-
chigen Schüler kommen nicht zur Geltung. tive Lernformen wie Puzzle (Jigsaw), Rallye
oder Turnier vor und diskutiert auch die Be-
5.3. Kooperatives Lernen deutung von Motivation und die neue Rolle
In vielen Bereichen des täglichen Lebens sind der Lehrenden in kooperativen Lernformen
kooperative Fähigkeiten und Teamorientie- (vgl. auch Kratochwil 1993).
rung vermehrt gefragt. Aufgabe des Bildungs-
systems ist es daher, entsprechende Lehr- und 5.4. Differenzierung und Klassifizierung
Lernformen anzubieten, um kooperative Fä- Keine Klasse ist hinsichtlich der Lernvoraus-
higkeiten und Arbeiten im Team zu fördern. setzungen, des aktuellen Sprachstandes und
Durch Arbeiten in Gruppen können koope- des Lerntempos sowie einer Vielzahl weiterer
rative Prozesse in Gang gesetzt und die Ent- Faktoren homogen. Unterschiede zwischen
wicklung sozialer Kompetenzen gefördert Lernenden betreffen nicht nur den Leistungs-
werden. Es sollte hier allerdings nicht implizit stand der Schüler, sondern auch die individu-
vorausgesetzt werden, dass die Lernenden elle Lernpersönlichkeit, verschiedene Interes-
über die Fähigkeit zu kommunizieren und zu sen und Vorlieben, bevorzugte Lernstrate-
kooperieren bereits verfügen, schließlich ist gien, situative Faktoren wie Aufmerksamkeit
unsere schulische Tradition primär auf Kon- und Motivation u. a. m. In einem frontalen
kurrenz und Erbringung von Leistung im Unterrichtsarrangement ist es dem Lehrer
Alleingang ausgerichtet. Kooperation kann meist nur in beschränktem Ausmaß möglich,
nur dann gelingen, wenn die Beteiligten ihre auf die individuellen Schülerunterschiede ein-
kognitiven und sozialen Aktivitäten harmo- zugehen. Vor allem Schüler, die sehr starker
nisieren können. Die Vermittlung solcher Fä- bzw. sehr geringer Lenkung durch den Lehrer
higkeiten muss bereits in der Lehrerausbil- bedürfen, sind in einem frontalen Unter-
dung beginnen. Lehrende sind dafür verant- richtsarrangement benachteiligt (Schwerdtfe-
wortlich, die nötigen Rahmenbedingungen zu ger 1980, 13f.). Um diesen Unterschieden
erkennen, die die Effekte kooperativer Lern- Rechnung zu tragen, sind in einem Unter-
formen fördern oder beeinträchtigen können richt, der alle Beteiligten ansprechen will, dif-
(vgl. Renkl/Mandl 1995). Die Fähigkeit zur ferenzierende Ansätze zu verfolgen, mit Hilfe
Reflexion des eigenen Handelns und des derer Lernende spezifischer und in individu-
Handelns anderer ist bei kooperativen Auf- eller Weise angesprochen werden können.
gabenstellungen ebenfalls wichtig.
Die Frage, ob sich Wettbewerb oder Ko- 5.4.1. Innere vs. äußere Differenzierung
operation auf die Leistung der Gruppe gün- Es sind zwei Formen der Differenzierung zu
stiger auswirkt, wird seit Beginn der Grup- unterscheiden: Äußere Differenzierung sieht
79. Pädagogisch-didaktische Lernkategorien II 773

die Aufteilung der Lernenden nach „äußeren“, entsprechenden Arbeits- und Übungsformen
„objektiven“ Kriterien vor, z. B. nach dem und differenzierter Aufgabenstellung können
Kriterium „Alter“. Diese Aufteilung findet individuelle Unterschiede von Lernenden
meist schon auf institutioneller Ebene statt, besser berücksichtigt werden. Dabei können
wie z. B. die Differenzierung in Schultypen mit Arbeitsanweisungen und Übungsmaterialien
z. T. verschiedenen Bildungsniveaus, -inhalten verschiedene Arten der Differenzierung bein-
und -abschlüssen. Ziel ist die Errichtung mög- halten. Eine bloße Differenzierung nach Um-
lichst „homogen“ zusammengesetzter Grup- fang und Schwierigkeitsgrad kann als unge-
pen von Lernenden, wobei „homogen“ vor- recht empfunden werden, sie bietet keine
wiegend auf den Leistungsstand bezogen wird Leistungsanreize und bewirkt eine negative
und viele andere individuelle Faktoren leider Selbst- und Fremdeinschätzung der schwä-
außer Acht gelassen werden. Eine sogenannte cheren Schüler (Mörtl 1993, 136f.). Das Emp-
„homogene“ Zusammensetzung der Klasse finden der Schüler über den Schwierigkeits-
darf aber auf keinen Fall dazu führen, dass im grad stimmt außerdem möglicherweise nicht
Unterricht auf individualisierende und diffe- mit dem des Lehrers überein. Weitere Ansätze
renzierende Maßnahmen verzichtet wird. der Differenzierung bieten sich an, nach Stoff-
Die zweite Form der Differenzierung, die umfang und damit verbunden nach unter-
innere Differenzierung oder Binnendifferen- schiedlichem Zeitaufwand differenziert wer-
zierung, bezeichnet jene unterrichtsorganisa- den kann, nach Komplexitätsgrad der Auf-
torischen Maßnahmen, die innerhalb einer gabe, Grad der Selbständigkeit der Lernenden
Klasse ergriffen werden, um individuell ange- bzw. Ausmaß der benötigten Hilfe durch die
messene Lernprozesse anzustreben (vgl. Gö- Lehrperson, Zugangsweise zu Lerninhalten
bel 1992). Durch unterrichtsorganisatorische (Bilder, Texte, Statistiken); Gruppenzusam-
Verfahren soll es möglich werden, allen Schü- mensetzung und Kooperationsfähigkeit der
lern die ihrer Individualität entsprechenden Gruppenmitglieder sind weitere Elemente, die
Lernprozesse zu ermöglichen. Ein solcher für Differenzierung genutzt werden können
Ansatz akzeptiert die Heterogenität der Ler- (vgl. Rautenhaus 1995, 212). Möglich ist auch
nenden als Ausgangspunkt im Unterricht. eine Aufteilung des Themenkomplexes in ver-
Diese heterogenen Voraussetzungen müssen schiedene Teilinhalte, verbunden mit der Erar-
mit den prinzipiell einheitlichen Anforderun- beitung des Themas in Gruppen. Auf diese
gen des Kursprogramms oder Lehrplans in Weise können auch schwächere Schüler zu
Einklang gebracht werden, nicht nur hin- Spezialisten in einem Teilgebiet werden (vgl.
sichtlich der Ziele und Inhalte, sondern auch auch das Verfahren des Gruppenpuzzles,
bei der Auswahl der Methoden und Medien. Rotering-Steinberg 1995), leistungsstärkere
Innere Differenzierung verhindert eine künst- Schüler können individuell gefordert werden.
liche Nivellierung und ermöglicht es, die Ler-
nenden einer Klasse auf individuellere Weise 5.4.2. Homogene vs. heterogene
anzusprechen, als es in einem undifferenzier- Gruppenzusammensetzung
ten, vorwiegend auf Frontalunterricht beru- Voraussetzung für Differenzierung ist eine an-
henden Unterricht möglich ist, wodurch auch gemessene Gruppenzusammensetzung. Grund-
Passivität und Motivationsverlust verhindert sätzlich kann man zwischen freier, homogener
werden können. Im modernen Fremdspra- oder heterogener Gruppenbildung unterschei-
chenunterricht muß Binnendifferenzierung den, wobei „frei“ hier die Zusammensetzung
als konstruktives Prinzip gelten (Häusser- der Lernenden unabhängig von bestimmten
mann/Piepho 1996, 200). Doch dürfen Leh- Gruppierungskriterien meint. Eine homogene
rende bei der Verwirklichung binnendifferen- Zusammensetzung im Sinne einer Gruppenzu-
zierender Maßnahmen nicht auf sich allein sammensetzung, die v. a. das Leistungsniveau
gestellt sein. Neben curricularer Verankerung der Lernenden berücksichtigt, ist für leistungs-
und schulorganisatorischer Unterstützung schwächere Schüler eher nachteilig und auch bei
sollen v. a. Unterrichtsmaterialien den Leh- stärkeren Schülern fraglich (Mörtl 1993, 129).
renden Optionen und Hilfen zur Differenzie- Eine heterogene Lernergruppe verspricht hinge-
rung anbieten. gen auf allen Leistungsniveaus bessere Ergeb-
Innere Differenzierung erfordert den Wech- nisse als in einer homogenen Gruppe, besonders
sel von Klassenunterricht und Phasen, in de- soziale Aspekte kommen in heterogenen Grup-
nen differenzierendes Arbeiten in Gruppen-, pen stärker zur Geltung.
Partner- und Einzelarbeit erfolgt. Durch die Eine Zwischenstufe auf dem Weg zum indi-
sinnvolle Verbindung dieser Sozialformen mit viduell ausgerichteten Unterricht ist das
774 IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II

Gruppieren nach Fähigkeiten. Dabei werden lernt werden. Es fordert nicht nur ein Abge-
Schüler mit etwa den gleichen Fähigkeiten in hen von einer Vorstellung von Unterricht als
einer Gruppe zusammengefasst, der dann dem rein frontalem Geschehen sondern auch ein
Leistungsniveau entsprechende Aufgaben ge- Abgehen von der traditionellen Rolle des
stellt werden. Viele Untersuchungen zielten Lehrers als übergeordnetem Spezialisten mit
darauf hin, die Vor- und Nachteile einer lei- universaler Kompetenz. Durch das „Eindrin-
stungsdifferenzierenden Gruppierung abzu- gen“ einer zweiten Lehrperson werden etliche
wägen. Testergebnisse zeigen keine Überlegen- Strategien der Lehrperson in Frage gestellt,
heit der leistungdifferenzierenden Gruppie- was für viele mit dem Gefühl von Macht- und
rung gegenüber leistungsheterogenen Grup- Gesichtsverlust verbunden ist. Erst durch die
pen hinsichtlich der Entwicklung sprachlicher Erkenntnis, dass die Teamlehrer über unter-
Fähigkeiten (Eriksson 1993, 13). Lehrer be- schiedliche Kompetenzen und Stärken verfü-
vorzugten aber häufig leistungsdifferenzierte gen, und durch ein Aufgeben der universellen
Gruppen als Ausgleich zu ihrem sonst sehr leh- Zuständigkeit der Klassenlehrerin, durch ar-
rerzentrierten, wenig individualisierten Unter- beitsteilige Verfahren und durch ein gemein-
richt. Doch dürfen differenzierende Ansätze sames Ziel kann Team Teaching zu einem
nicht nur von Unterschieden hinsichtlich der sinnvollen Verfahren werden.
Leistung und des Sprachniveaus der Lernen- Team Teaching darf nicht einfach mit dem
den ausgehen. gleichzeitigen Unterrichten zweier Lehrer in
Eine homogene Gruppierung birgt ähn- einer Klasse verwechselt werden. Vielmehr
liche Gefahren wie die äußere Differenzie- definiert sich diese Unterrichtsform aus der
rung: Sie folgt einem statischen, nicht pro- gemeinsamen Planung, Aufgabenteilung und
gressiven Begabungsbegriff. In einer „homo- Beteiligung an der Herstellung der Unter-
genen“ Gruppe kann schwächeren Schülern, richtsmaterialien (Mayer 1994, 18). Im Bezie-
die entsprechende Anregung fehlen, die hungsgeflecht dieser Unterrichtsform spielen
Gruppenarbeit bleibt auf ein Leistungsniveau außerdem ⫺ wie bei jeder anderen der ge-
fixiert, die Fremd- und die Selbsteinschät- nannten Organisationsformen ⫺ nicht nur
zung ist in schwächeren Gruppen schlechter, die Lehrenden sondern auch die Lernenden
soziale Fähigkeiten und die Bereitschaft zur eine entscheidende Rolle. Für einen erfolgrei-
Integration Schwächerer werden vernachläs- chen Einsatz von Team Teaching sind eine
sigt (Mörtl 1993, 129ff.). Daher empfiehlt es Reihe von Rahmenbedingungen organisato-
sich, homogene Gruppen über längere Zeit- rischer, sachlich-inhaltlicher und persönlich-
räume zu vermeiden und nur kurz für spezifi- individueller Art notwendig (vgl. dazu Hof-
sche Aufgaben zu verwenden. felner 1994). Zusammenarbeit und geteilte
Verantwortung innerhalb und außerhalb des
5.5. Team Teaching Klassenraums geben Lehrenden auch die
Team Teaching bezeichnet eine neuere Ent- Möglichkeit zur Reflexion des eigenen Han-
wicklung in der Lehrtätigkeit, die in vielen delns im Unterricht und können auch in der
Aspekten der herkömmlichen Rolle des Leh- Lehrerfortbildung eingesetzt werden (vgl.
rers als übergeordnetem Spezialist vor einer Wallace 1991).
Gruppe von Lernenden widerspricht. Nicht
mehr nur ein Lehrer sondern mehrere, meist 5.6. Konsequenzen für die Lehrerrolle
zwei, unterrichten gleichzeitig und gestalten Der Aspekt der Differenzierung und Indivi-
gemeinsam den Unterricht. Dadurch soll eine dualisierung sowie der Selbsttätigkeit der Ler-
verstärkte Differenzierung und Individuali- nenden und die Möglichkeit, das eigene Ler-
sierung innerhalb einer Klasse möglich wer- nen selbständig zu steuern, wie zur Zeit in der
den. Team Teaching ist keine logische Ent- Fremdsprachendidaktik gefordert wird, be-
wicklung aus dem traditionellen Verständnis wirkt auch eine Veränderung der traditionel-
für Unterricht heraus und führt daher fast len Lehrerrolle (vgl. Art. 114; 115). Selbständi-
zwangsläufig zu einer Reihe von Konflikten. ges Lernen kann nur möglich sein, wenn Ler-
Team Teaching ist mit Unterricht in seiner nende Verantwortung für ihr Lernen überneh-
unverändert tradierten, linear und monoform men und überhaupt lernen wollen. Wichtigstes
fortschreitenden Gestaltung nicht vereinbar Ziel ist es daher, Lernenden bewusst zu ma-
und setzt die Absicht voraus, Unterricht im chen, warum sie lernen. Die Lehrperson muss
Sinne der differenzierten Individualität von den Ansatz der Lernerautonomie im Unter-
Lehrenden und Lernenden zu verändern richt explizit machen, nicht einfach anwenden,
(Meyer 1994, 10). Team Teaching muss er- ohne die Lernenden in die Entscheidung ein-
79. Pädagogisch-didaktische Lernkategorien II 775

zubeziehen, sich notfalls auch rechtfertigen, Eriksson, Rigmor (1993): Teaching Language
denn die Entscheidung muss nicht unbedingt Learning. In-service training for communicative
von allen angenommen werden; sie muss mit teaching and self-directed learning in English as a
den Lernenden über das Lernen reden, über foreign language. Göteborg.
die Lernziele, die Unterrichtsmaterialien, Faistauer, Renate (1997): Wir müssen zusammen
Lernprobleme und Strategien und darüber schreiben. Innsbruck (Österreichische Beiträge zu
hinaus über das gemeinsame Tun von Lehren- Deutsch als Fremdsprache, Ser. B, Bd. 1).
den und Lernenden, das Lehren und Lernen in Göbel, Richard (1992): Kooperative Binnendifferen-
einen Dialog treten. zierung im Fremdsprachenunterricht. 4. bearb.
Auch eine differenzierende Unterrichtspra- Aufl., Mainz (Lernen mit Ausländern, Ser. A: Er-
fahrungen und Konzepte 3).
xis führt zu einer Veränderung der Lehrer-
rolle: Der Unterricht zeichnet sich durch eine Gudjohns, H. (1990): Spielbuch Interaktionserzie-
intensivere, aber offene und weniger festge- hung, 4. Aufl. Bad Heilbrunn.
legte Planung aus und bringt eine deutliche Hage, Klaus u. a. (1985): Das Methodenrepertoire
Reduzierung der Lehreraktivitäten im Unter- von Lehrern. Eine Untersuchung zum Schulalltag
richt mit sich. Lehrende müssen ihre Domi- der Sekundarstufe I. Opladen.
nanz zurücknehmen und Unterricht als ge- Harecker, Gabriele (1993): Lernen in Freiheit. In:
meinsames Handeln mit gemeinsamer Ver- Karl Klement; Friedrich Oswald; Albert Rieder
antwortung ansehen. Zur Verantwortung des (Hg.): Bildung ⫺ Schwelle zur Freiheit. 11. Europä-
Lehrers gehört es, eine Übersicht über den isches Pädagogisches Symposion (EPSO ’91), Ba-
Lernprozess zu bewahren, aber weniger lei- den bei Wien, 204⫺207.
tend als vielmehr helfend und beratend zu Häussermann, Ulrich; Hans-Eberhard Piepho
wirken. (1996): Aufgaben-Handbuch Deutsch als Fremdspra-
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