2. November 1920, irgendwo auf deutschen Schienen.
Auf der Landschaft liegt Raureif. Blick aus dem Erste-Klasse-Abteil.
Mitteldeutschland, Hügel, Thüringen vielleicht. Ich denke zurück. Gedanken-Stakkato. Das Gespräch bei Gustav Bachmann. Lange, nachdem wir ihn gerettet hatten. Er ist unruhig. Aber nicht wegen der Ereignisse im Sanatorium! Archäologie ist sein Thema. Überraschend. Er ist Mäzen. Da passieren Dinge, die ihm nicht passen. Ein Widersacher. Ein krimineller Archäologe. Prof. Kreutzer, Uni Heidelberg. Der Ort, zu dem uns der Zug trägt. Ispringen in Baden-Baden. Dort gräbt er aus. Eine kleine, mittelalterliche Kapelle – warum interessiert sich Gustav dafür? Es bleibt rätselhaft. Warum höre ich mir das an? Gustav wird immer erratischer, kein Wunder. Aber da ist was: „Prof. Kreutzer hat okkulte Interessen.“ Da werde ich hellhörig. Ich nämlich auch. Also höre ich weiter zu. Gustav, erzähl… Dieser Kreutzer scheint etwas zu suchen dort. Die Info hat Gustav von einem Fotografen, der für Kreutzer arbeitet: Reiner Dellheim. Der hat Gustav kontaktiert und gewarnt, was dort vorgeht. Gustav war mal in dem Ort. „Sommerfrische“, aha. Mh, vielleicht eher ein kurzer Fronturlaub. Scheint dort Interessen zu haben – eine Liebschaft? Er spricht von der Dorflehrerin, Elfriede Hettenthal. Auch die lokale Wirtin erwähnt er: Adelheid Winninger, vom Gasthof „Zum Lamm.“ Von dem Ort, Napoleon zog da durch, „historische Besonderheiten“, etwas wirres Gerede. Dann plötzlich: „Das Wichtigste ist, dass nichts abhanden kommt. Der Prof. muss überführt werden!“ Und von wem? Na von uns. Will Gustav uns einfach nur benutzen? Vielleicht nicht, immerhin ist Henni Archäologin, es ist ihr Feld. Und auch mein wachsendes okkultes Wissen und Interesse muss Gustav aufgefallen sein. Aber Rotter…? Der hat ihn aus dem Nebel geholt, der ist unser Magier. Aber weiß Gustav das wirklich? Ahnt er es nur? Mir reicht das trotzdem nicht! Bin nicht Gustavs Dienstbote. Hake nach. Er rückt ein Schriftstück raus, sehr interessant! Alt! Hat es von diesem Dellheim zugespielt bekommen. Die Geschichte einer Fehde. Der Lehnsherr vernichtet einen Adligen auf der Burg Neidlingen, der einen satanischen Kult pflegt, mitsamt seinen Untertanen. Am Ende tötet der Lehnsherr alle. Das Seltsame dabei: Der Ort „Neidlingen“ ist unbekannt… Von „Urspringen“ ist auch die Rede. Wohl der alte Name von Ispringen, weil dort ein bestimmter Bach entspringen soll (was aber angeblich nicht stimmt, Herrgottnochmal!) IM ABTEIL Schweigend hatten wir auf die erstarrte Landschaft hinter den Zugfenstern geschaut. Nun brach ich das Schweigen. Was soll das alles? Wie tief steckt Gustav drin in der Sache, was verschweigt er uns? Wir sind uns schnell einig, dass Prof. Kreutzer so eine Art Intimfeind Gustavs sein muss. Kann uns am Ende vielleicht Kreutzer etwas Interessantes über Bachmann erzählen? IN ISPRINGEN Zwischenstop in Pforzheim, was für ein Nest. Dann kommen wir im Tal von Ispringen an. Am Bahnhof erfahren wir nicht nur, dass der berühmte Orient-Express hier gleich hindurchbrausen wird. Wir hören auch, dass die Gruppe der Archäologen schon angereist ist. Die renovieren das Enzinger Kappellchen im Wald, aha. Ansonsten gibt es noch zwei Kirchen hier, totales Idyll, Vögel zwitschern, ein Urlaubsort. Aber was ist das für ein düsterer Zottel, der uns da verfolgt? EinVagabund? Schnell bricht die Nacht herein, pechschwarz ist es hier, wir sehen tausend Sterne, als wir die gut geteerte Straße entlang gehen, die an den Gleisen entlang führt. Was auch seltsam ist, weil es hier gar keine Automobile gibt. Vielleicht ist es eine Heerstraße? Am Gasthof. Adelheid Winninger stellt sich als sittsam gekleidete Dorfschönheit heraus, sie mag knapp 30 Jahre jung sein. (Kommt sie da denn noch als Gustavs Liebchen infrage, oder gar als das des Professors? Wer weiß, das hat es alles schon gegeben). Als sie hört, dass Gustav Bachmann uns Zimmer reserviert habe, ist sie verwirrt: „DER Gustav Bachmann…?“ Hier stimmt etwas nicht. Ihr eigener Mann ist offenbar im Krieg geblieben. Ihr Junge, noch klein, sitzt in der Schankstube und malt seltsame Linien, ist kaum ansprechbar, selbst als bei Henni der Mutterinstinkt durchbricht. Darüber rede ich inzwischen mit Rotter. Der meint auch, dass unser Fräulein mal einen Mann bräuchte. Wie alt ist sie jetzt? Weitere Bedienstete hier: Hausmädchen Sofia Szabo, eine osteuropäische Schönheit (Ungarin?); Sowie ein Koch namens Eberhard. Als Urlauber getarnt, nehmen wir unser Essen ein. Schmeckt. Aber da ist dieser Kriegsversehrte mit dem zerschossenen Kinn. Was starrt der so? Ich starre zurück, da knickt er ein, nimmt Haltung an. Recht so. Wäre ja noch schöner! DIE ANDEREN Jetzt kommt Kreutzers Truppe rein, samt Ausrüstung. -- Prof. Gottfried Kreutzer, selbstbewusst, gutaussehend (55) -- Eine unglaubliche Dame an seiner Seite, dunkel, wie ein Filmstar -- Ein militärisch zackiger Herr mit Narbe oder Schmiss. Adeliger? -- Und ein kleiner Mann mit Knickerbockern und Fotoausrüstung. Schon wieder stimmt einiges nicht: Gustav hatte den Fotograf Dellheim als feschen, jungen Kandidaten für Henni angepriesen – das kann unmöglich dieser schwitzende Pummel sein. Und diese junge Frau? Absurd! Unterm Tisch hält sie Händchen mit dem alten Professor, während sie Umgebungskarten studieren. Sie scheint aus reichem Hause zu sein, ist klassenbewusst, spielt damit, auch wenn sie einen leicht melancholischen Zug um den Mund hat. Der Militär wiederum scheint den Prof. zu verehren, verspottet aber dafür den kleinen Fotografen. Morgen früh wollen sie in aller Herrgottsfrühe loslegen und eine erste Begehung machen, wie man vom Nebentisch hört. Was mag das alles bedeuten? Das hier ist keine normale Ausgrabungsgruppe, soviel steht fest. Rotter und Henni haben sich indessen unabgemeldet abgesetzt. Wie ich später hören werde, schauen sich beide die Scheune an, die Kreutzers Truppe gemietet hat als Hauptquartier. Höchst verdächtig natürlich, aber leider eben auch strengstens verriegelt. Nur eine halsbrecherische Kletterpartie würde uns hineinführen. Die beiden geben vorerst auf. Auf dem Rückweg erkundigt sich Rotter beim Personal, wo der Fotograf wohnt und schiebt ihm eine konspirative Nachricht unter der Tür hindurch. Schlaues Bürschchen, dieser Rotter. Bevor ich aufs Zimmer gehe, nehme ich mir noch kurz diesen Kriegsversehrten vor. Schnell gebe ich zu erkennen, dass ich auch der Westfront war, er offenbar auch. Zack, zack, schon nimmt er wieder Haltung an und erzählt seine Geschichte. In Verdun hat er gekämpft, „an der Blutpumpe“. Die Alpträume verfolgen ihn bis heute, das kenne ich. Karlheinz Funke heißt der Mann, er lebt hier und streift gern allein durch die Wälder, geht jagen. Aha! Kennt er die Kappelle? Sicher, nur: In das Waldstück darf er zurzeit nicht gehen. Wegen der ihm verhassten Archäologen hat der Bürgermeister den Zutritt verboten. Ich mache mit ihm aus, dass er uns trotzdem hinführen wird – den Professor kann er nämlich gar nicht leiden, und den Militär erst! Aufgeblasen ohne Ende. Dieser Kerl sei doch tatsächlich Friedrich Freiherr zu Lauen-Emden, eben der, der im Krieg die berühmte kaiserliche Fregatte „Emden“ geführt hat. Wieder ein Rätsel: Was macht so einer hier? Rotter und Henni treffe ich erst spätnachts wieder. Aufgeregt diskutieren sie das geheime Treffen mit Dellheim, bei dem sich Rotter schlauerweise als Höhlenfotograf ausgegeben hat. Beide sind fassungslos: Der Kerl hatte keine Ahnung, der hat Gustav nie getroffen, und war noch nie in seinem Leben in Berlin! Über die Kappelle weiß er angeblich auch nichts, er sei ein reiner Auftragsfotograf. Ganz offenbar spielt hier jemand ein böses Spiel mit uns. Der Unbekannte muss sich als Dellheim ausgegeben haben, und hat somit Gustav alarmiert und im Endeffekt uns auf Kreutzer losgelassen. Wer mag diese mysteriöse unbekannte Partei nur sein? EIN TRAUM Beunruhigt gehen wir ins Bett. Allesamt träumen wir schlecht, und seltsamerweise ähneln die Alptraumbilder aller sich gespenstisch: Man steht auf dem Bahnhofsvorplatz von Pforzheim, all diese Automobile sind dort geparkt, als ein unfassbares Dröhnen in der Luft liegt, wie eine überirdische Sirene. Dann beginnt der Hintergrund zu vibrieren, und erst langsam, dann immer schneller beginnt die Erde selbst sich vom Horizont her aufzurollen wie ein Teppich. Doch ganz gleich, wie die Wirklichkeit sich verbiegt, kein Auto, kein Haus stürzt herunter von den schiefen Böden. Alles wird eingerollt und verschwindet in Schwärze. Man kann auch selbst nicht wegrennen, verharrt wie festgeklebt, wird eingerollt. Erst als die Stadt einen verschluckt, wacht man schweißgebadet auf! EIN NEUER TAG Unausgeschlafen sitzen wir beim Frühstückskaffee. Ich nutze die Gelegenheit, um mich in eines der fremden Zimmer zu schleichen. Dellheims Sachen liegen herum, er hat einen Fotografenausweis. Der Name stimmt, aber was sagt uns das schon? Seine Truppe bricht bald auf, ohne die angemietete Scheune noch eines Besuches zu würdigen. Das machen wir stattdessen. Durch ein paar Ritzen können wir die eingelagerte Ausrüstung erspähen: Auf einem Tisch in der Mitte haben sie drei würfelförmige Holzkisten abgestellt, in die zum Beispiel ein Fußball bestens passen würde. In ihnen steckt schon die Holzwolle, die ihr Raubgut beschützen soll. Offenbar haben sie eine genaue Vorstellung davon, was sie ausgraben wollen. Auch Schaufeln, Spitzhacken, Seil und anderes Werkzeug steht bereit. SO SEHENSWERT IST ISPRINGEN Danach lässt Rotter sich von Wirtin Adelheid die Ohren abkauen, als sie ihm die unfassbaren Sehenswürdigkeiten der Umgebung herunterbetet. Der Silberweiher – „seit Jahrtausenden nict trocken gefallen!“ Die Dolinen – Durchbrüche unterirdischer Wasserläufe („Nicht jeder Gast kommt daraus wieder“); Darunter das Ispringer Loch („frei begehbar“) und der Lämmerfall („ungesichert und gefährlich“). Die Russeneiche – an der machte vor mehr als 100 jahren Napoleon Halt, auf seinem verfluchten Feldzug gen Russland. Das Gebeinhaus auf dem Alten Friedhof – ja, denn da liegt der „Klapperhannes“ aus einem alten Adelsgeschlecht. Der wollte nicht sterben, nachdem er in einem Krieg mit einem anderen Adligen gefallen war. Und dann natürlich noch die Enzinger Kappelle – die gehört zu einem weit entfernten Zisterzienserkloster und ist just die einzige Attraktion, die Adelheid als „nicht sehenswert zurzeit“ einstuft. Wir werden sie uns trotzdem anschauen. Keinem außer mir scheint aufzufallen, dass das Gruselmärchen vom „Klapperhannes“ sehr gut zu der mittelalterlichen Sage passt, die uns Gustav Bachmann (oder der geheimnisvolle Fotgrafen-Impersonator) zugespielt hat. War doch dort von eben so einem Kampf zwischen Adelshäusern die Rede, bei dem ausgerechnet die am Ende Getöteten Teufelsanbeter waren. Aber klar, der Onkel Enno spinnt mal wieder mit seinen okkulten Interessen herum… Wir werden uns beim neuen Dorflehrer dazu erkundigen, ein gewisser Ludwig Steckerl. Er hat die alte Dorflehrerin abgelöst, von der Gustav uns noch berichtet hatte, die Elfriede Herrenthal. (Es hat da wohl dörfliche Vorkommnisse gegeben, die zu dem Wechsel führten). Auch die protestantische Dorfkirche lockt uns, zu ihr soll der Friedhof gehören. Es ist schon Schlag 10, als wir endlich loskommen. Auch unser Waldführer zeigt sich bereits, Kamerad Funke steht bereit. Und am Wegesrand zeichnet der sonderliche Sohn von Adelheid mit Kohle Linien aufs Trottoir, die viel zu gerade und geometrisch wirken für einen schwachsinnigen Bub von 10 Jahren…