Einen Monat haben wir verloren. Wieder einmal. Die Zeit läuft weiter, während wir irgendwo anders sind. Es gibt nicht nur eine Welt, das ist mir nun längst klar. Es gibt mehrere. Wenn die Schleier reissen, offenbart sich uns das Unglaubliche... Ich muss mehr darüber erfahren, und wenn es mein Ende bedeutet. Ende, ha! Vielleicht nur das Ende in DIESER Welt… wer sagt denn, dass es nicht woanders weitergeht? Auf Aldebaran vielleicht, oder in der seltsamen Geometrie, die sich uns in Ispringen offenbart hat. Ich muss meine Forschungen mit den Testsubjekten abbrechen. Was stört mich noch die geheime Welt der Viren und Bakterien? Wenn hinter den Schleiern doch viel grossartigere Welten warten! Heni weiss das inzwischen auch, ich sehe es an ihren Augen. Und Rotter, ja dieser Rotter… er will es noch nicht vor sich selbst zugeben… aber er ist der Schlüssel, er ist das Medium. Wir brauchen ihn, um mit den anderen Welten zu kommunizieren. Er wird sich dem nicht entziehen können. Er ist vom Schicksal gebrandmarkt. Und Heni. Und ich. Das Schicksal verfolgt uns in Gestalt des Mannes ohne Gesicht. Diesmal spricht er in der Eisenbahn mit uns, als wir zurück nach Berlin fahren. Wie jedes Mal hinterlässt uns der Gesichtlose ein paar seiner Zeichen, seifige, seltsam riechende Mosaiksteine. Wer ist er? Ein Geist? Ein Gott? Oder bilden wir uns das alles nur ein? 15 Mosaiksteine haben wir nun schon zusammen, und sie bedeuten heute genau so viel wie am ersten Tag: Nichts. Nur klimpernder Spott, den der Gesichtslose in seinem Spiel über uns ergiesst. Zurück in Berlin, stürzen Rotter und Heni sich in Champagner und Kokain. Auf Rotters Fotos von der Reise ist ein „Knick in der Optik“. Seltsamerweise gibt dieser oft den Blick auf einen fernen Stern frei: Aldebaran… Währenddessen sitze ich allein mit Korn und Wodka über den alten Folianten. Und tatsächlich… ich lerne, wie man ein arkanes Zeichen schreibt… seine Auswirkungen müssen erstaunlich sein… wenn es denn die korrekte Version ist… wir werden sehen… ALTER FREUND UND KUPFERSTECHER Gustav Bachmann. Kriegskamerad, Onkel, Gönner – und auch der Schuldige an allem? Wir gehen ihn diesmal hart an, aber er scheint wahrlich keinen Schimmer zu haben. Er fastelt von „geheimnisvoller Archäologie als Rückbesinnung auf alte Werte“, aber er wird mir zunehmend fremd. Und siehe da: Als Heni ihm die schmierigen Mosaiksteine zeigt, erstarrt Gustav kurz, wirkt wie hypnotisiert. Weiss er doch mehr, oder fühlt er es einfach nur, dass er zwar der Schachspieler ist, der uns wie Figuren führt im Grossen Spiel – aber dass er dabei selbst nur ein Bauer ist, den der Gesichtslose bewegt? „Ich habe ein Anliegen“, setzt Gustav unvermittelt an. „Ein guter Freund von mir ist in höchster Not und Gefahr.“ Julius Andrée sei ein Kamerad von der Front. Er war Heeresgeologe damals am Fort Douamont, und ist heute Paläontologe an der Universität Greifswald, mit seinen gerade mal 31 Jahren. „Ich habe die Ausgrabung eines echten Drachens unterstützt“, bricht es aus Gustav heraus, „eventuell der der Nibelungensage!“ Bitte?! Doch ein Unglück sei passiert. Julius‘ Partner sei ums Leben gekommen, der heisst allen Ernstes „Hektor Mailand“, und nun wird Julius als Mörder angeklagt. Die Ausgrabung findet im Teutoburger Wald statt, nahe eines Kaffs namens Detmold. Ich denke nur: Byakhee… Julius Andrée droht, kurzer Prozess gemacht zu werden, glaubt Gustav, etwas arg überbesorgt. Deshalb sollen wir schnell hinreisen, mal wieder die Kohlen aus dem Feuer holen für den Herrn Bachmann. Ach ja? Mich interessiert dieser Fort Douamont-Veteran einen Scheissdreck, aber das sage ich nicht. Mich interessiert DER DRACHE… könnte es ein Wesen von den Sternen sein? Der Byakhee sah durchaus aus wie ein Flugsaurier, oder eben wie ein Drache. Ausserdem will ich Geld, viel Geld. Sonst mache ich nichts mehr für Freund Gustav. Scheint Heni ähnlich zu gehen. Nur der Rotter, der hat eh genug Pinke-Pinke. Gustav bietet mir Zugang zu einem Zirkeln von Sammlern seltener Bücher, könnte interessant sein. „Omas Lesezirkel“ interessiert aber Rotterchen nicht, dem muss Gustav schon „was Grösseres in Babelsberg“ bieten – schliesslich ist unser Filmstar ein wenig raus aus dem Geschäft, seine langen, unangekündigten Absenzen sprengen jeden Drehplan. Und Heni? Der bietet Mister „Ich kann alles“ an, sie an einen Archäologen zu vermitteln, der nahe Kairo etwas Spannendes ausgräbt. Das überzeugt die arbeitslose Jungarchäologin sofort. Dann regnet es noch Bargeld in Papierumschlägen, garniert mit sinnfreien Rezitationen aus imaginierten Werken, in denen Siegfried der Drachentöter gegen Nathan den Weisen antritt. Die Ringparabel, Worms und Detmold, und Armin der Cherusker wirbeln alles munter durcheinander, bis der Besuch beim alten Freund und Kupferstecher endlich ein Ende nimmt. WAREN SIE SCHON MAL IN EINEM WESTFÄLISCHEN GEFÄNGNIS? Also nochmals auf in die Provinz. Jedoch nicht, ohne zuvor die Mosaiksteine in einem Labor untersuchen zu lassen. Die dortigen Weisskittel sind verstört, als sie merken, dass die Art der aufgetragenen Farbe unbestimmbar bleibt. Das Glas selbst wiederum scheint antik zu sein. Durch die Porta Westfalica geht es vorbei am Kaiser-Denkmal und hinein nach Detmold, ein echtes Nest. Wir begeben uns direkt zum Gefängnis, um Andrée möglichst heute noch zu sehen. Ein wahrhaft düsterer Bau, auch die Menschen hier entlocken uns kein Lächeln. „Die sind ziemlich maulfaul hier“, beobachtet Heni treffend. Julius Andrée ist ein feingliedriger Mann, den man übel zugerichtet hat. Seine Bewacher haben ihn genau auf dem Kieker, und er traut sich kaum, etwas zu sagen zunächst, ausser: „Ich kann nicht klagen, ich werde hier gut behandelt.“ Als er redet, wirkt er verwirrt. Auf die Sache mit dem Drachen sei er durch einen Zufallsfund gestossen, dann mit Hektor hierher gekommen, und habe „irgendwo in der Gegend“ begonnen zu suchen. Wonach eigentlich, weiss er selbst nicht mehr, sein Hirn scheint ausgebrannt zu sein. Zum Glück hat unser Schauspieler eine gute Idee, die er wohl aus irgendeinem Streifen zieht: „Wovon träumen Sie nachts, Herr Andrée?“ Daraufhin erzählt er vom Drachen, den er sucht, in einem Wald in der Nähe eines Wassers. Feuer spuckt das Tier nicht, aber er ist groß und dunkel, mit riesigen Schwingen… Ich denke wieder nur das eine: Byakhee…? ALLES KLAR, HERR KOMMISSAR? Heni bandelt noch ein wenig mit dem tumben Gefängniswächter Fritz an, und dann sind wir endlich raus aus dem Bau. Es nieselt. Dort werden wir schon auffällig unauffällig erwartet von einem Polizisten in Hut und Trenchcoat. Man bringt uns zu Hauptkommissar Johann Sanders. Diesen hatte Gustav Bachmann über unbekannte Kanäle zuvor so weit bearbeitet, dass der Kommissar einem klandestinen Treffen mit uns zugestimmt hat. Es findet in einem nahe gelegenen Park statt, ich sitze mit ihm auf einer Bank, Heni und Rotter müssen leider stehen, es ist alles weniger unauffällig als von Sanders erhofft. Sanders plaudert aus dem Nähkästchen. Sie haben die Leiche Hektor Mailands in der Nähe einiger Feldsen gefunden, alle Knochen gebrochen, als sei er aus grosser Höhe gefallen. Zusätzlich hatte man ihm die Kehle durchgeschlitzt, da wollte wohl jemand wirklich auf Nummer Sicher gehen. Andrée war blutverschmiert, und hatte sein eigenes Jagdmesser in der Hand. (SL: war er bewusstlos?) Schon das sei belastend, sagt Sanders. Vor allem aber habe ein Zeuge aus dem Ort die beiden nur wenige Stunden vorher bei einem heftigen Streit beobachtet, und zwar in „Horn“, was ein Dorf oder Ortsteil sein muss. Sanders würde uns sogar auf der Wache die Fundstücke vom Tatort zeigen. Die Leiche des Opfers sei allerdings bereits fort und an die Angehörigen gegangen. Er bezweifelt, dass unsere Nachforschungen noch etwas bringen, denn „wir erledigen sowas hier schnell“ – ein Todesurteil sein schon innerhalb 5 Tagen zu erwarten. Dann wird uns plötzlich schwarz vor Augen… XXXX Der Kopf wummert, alles schmerzt, vor allem mein Knie… unter mir feuchtes Gras, in der Ferne das Plätschern von Wasser. Dann entdecke ich die anderen, einige Schritte entfernt im Gras. Aber nichts hier stimmt: Wir tragen seltsame Kleidung, die meine habe ich noch nie gesehen. Eine grobe Hose, eine Wachsjacke wie ein lokaler Bauer. In der Nähe entdecken wir einen kleinen See, vielleicht 100 Meter lang, graues Wasser, langgestreckt, umgeben von Wald. Entfernt hebt sich eine seltsame Felsformation ab gegen einen dämmerigen Himmel, wie riesige Zähne eines urzeitlichen Monsters. Sind wir durch ein Portal in eine andere Wirklichkeit geschleudert worden? Heni findet in ihren Taschen einen kleinen Schlüssel mit einer römischen IV. Ich wiederum entdecke einen provisorischen Verband an meiner linken Hand, und weitere frisch verkrustete Wunden an meinen Händen, so als ob ich vor Kurzem in einen Kampf verwickelt war. In der Luft liegt zudem der Geruch verschossener Patronen… kalter Rauch… Wie viel Zeit ist vergangen? Wo sind wir? Und warum? Auch Rotter hat eine Art Zimmerschlüssel in der Hosentasche, mit der latinischen Nr. 5. Ich untersuche meine Schnittwunde an der Hand. Sieht aus, als hätte ich versucht, ein grosses Küchenmesser abzuwehren. Muss ein paar Stunden her sein, ich habe mich auch wohl selbst verbunden. Wir haben offenbar alles vergessen, was geschehen ist, genau wie Julius Andrée! Hat man uns vielleicht mit demselben Gift betäubt? Ich finde, rieche, schmecke dazu keine Spuren. Nun wird es bereits Abend, wir müssen mindestens 24 Stunden Zeit verloren haben. In der Dämmerung sehen wir ein runtergebranntes Lagerfeuer. Heni stösst auf dem Weg dorthin auf ihre 32er, halb leergeschossen. Auch meine Flinte liegt dort, halb leergeballert. Auch Teile unserer eigenen Ausrüstung finden wir. Sie liegen zerstreut herum, scheinen aber unangetastet. Rätselhaft. Nahe der Feuerstelle finden wir ein runtergebranntes Zwei-Mann-Zelt, darin die Überrreste von zwei Schlafsäcken, und das Ausgrabungsmaterial der beiden unglückseligen Paläontologen. Verdächtig: Eine braune, zersprungene Apothekerflasche mit dem Aufdruck „Etha…“ … nol!? Ja. Damit wurde das Zelt wohl angesteckt. In einem Rucksack nahebei finden wir Bücher über Drachen, Sagen, Legenden, sie tragen das Ex Libris von Julius Andrée. Ein Zettel in dem Drachenbuch erzählt eine Geschichte aus alter Zeit, von einer Schlacht gegen einen Drachen, von Ketzern beschworen, der hier nahe Horn bei den Steinen von Exter getötet wurde. Sogar eine Umgebungsskizze der Steine liegt bei. AN DEN STEINEN VON EXTER Mit Taschenlampen in der Hand gehen wir die merkwürdigen Felsen erkunden. Auf dem Weg dahin fällt uns Licht auf, das aus einen Turm an einem nahen Berghang zu kommen scheint. Unter den zerklüfteten Felsen kommt es zum Streit, wildes Geschrei untereinander, ich lade mein Gewehr, heni faselt wirres Zeug vom „Haare abschneiden“. Rotter will nicht mehr laufen, ich hingegen schlage einen kleinen Pfad ein, der uns zuvor aufgefallen war. Schon nach wenigen Schritten stosse ich nahe des Ufers auf die Ausgrabung! Rotter versteht es noch immer nicht, scheint verwirrt: „Warum denn hier?!“ Heni hingegen bewertet die Ausgrabung mit einem Blick als „amateurhaft“. Doch was ist das? Als wir hineinleuchten, sehen wir: Da ist etwas! Gräulich schimmernde, ölig wirkende Formen ragen aus dem Mutterboden. Es scheinen Knochen zu sein, die jedoch bizarrerweise mit einer Haut überzogen sind. Das Material der „Knochen“ fühlt sich eher an wie hartes Reifengummi. Ein paar kleine Fähnchen markieren…. Drachenschuppen?! Intuitiv weiss ich es, und ich sehe es auch in Henis Augen. Sie erkennt es auch: Das hier ist nur die Spitze einer gigantischen Kreatur, einer unnatürlichen Bestie, so wie der Byakhee aus Fort Douamont… ich wusste es also! Ein weiteres Wesen von den Sternen, hier gestrandet, vor Jahrhunderten, und noch immer nicht verfault. Ich habe in Büchern über solche Wesen gelesen, könnte es ein „Hetzender Schrecken“ gewesen sein? Irgendjemand muss das Wesen gerufen haben… ich bin begeistert! Rotter hingegen bekommt es mit der Angst zu tun. Ob das Wesen sicher tot sei? So tot wie es aussieht… Aber er erinnert sich noch zu gut an das Kristallding, das aus dem Boden herauswachsen konnte, und seine Umgebung beeinflussen konnte. Da kommt dem Schauspieler ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn Andrée seinem Kameraden den Gnadentod gab, nachdem dieser gestürzt war vom Rücken des Drachen, oder von diesem aus den Lüften auf den Boden geworfen wurde? Für mich hingegen sieht dieser Vogel aus, als sei er schon seit tausend Jahren nicht geflogen. Wir bedecken die Ausgrabung mit der verbleibenden Zeltplane und gehen zurück Richtung Horn. Doch schon wieder packt Rotterchen die Angst, diesmal vor eventuell wütenden Dörflern. Die könnten uns ja etwas wollen. Naja. Deshalb will er lieber diesen ominösen Turm erkunden und dort um Unterschlupf bitten, denn: „Einen Turm kann man besser verteidigen.“ Ich sage lieber nichts zu seiner Fantasiewelt und schlage mit ihm den Weg Richtung Turm ein. WO EIN DRACHE, DA EIN TURM Der Turm ist recht hoch und recht alt. Seine schwere Tür steht halb offen, scheinbar von innen aufgetreten. Da es in diesem gottverlassenen Landstrich scheinbar immer nieselt, ist es ungemütlich genug, die Tür auszuprobieren. „Das ist ihre Handschrift, Herr Doktor“, frotzelt Rotter, als er die zersplitterte Tür anschaut. Im Erdgeschoss finden wir viele leere Fässer, und landwirtschaftliches Gerät. Im Zwischengeschoss eine Küche: Hier hat ein Kampf stattgefunden. In vier Tassen steht noch kalter Tee, eine ist umgekippt. Als Arzt erkenne ich sofort den Geruch des Tees: In drei der Tassen ist Laudanum drin! Der Hausherr wollte uns (?) betäuben, und ist dabei aufgeflogen. Hier findet sich nun auch das blutige Küchenmesser, dazu Einschusslöcher mit Revolverkugeln. Auch im Schlafzimmer weiter oben stecken Kugeln in Balken und Möbeln. Der Hausherr scheint ein gewissern BORIS FERKSON zu sein, er hat hauptsächlich Korrespondenz mit dem Regierungsbezirk Detmold und einer Familie Mackensen. Ferkson handelt mit Landwirtschaftsgütern, warum bloss wollte er uns in den Schlaf schicken? Und vor allem: Hat er auch Hektor Mailand auf dem Gewissen, und hatte er Julius Andrée betäubt? In Ferksons Kalender ist der 2. Februar umkringelt, heute müsste inzwischen der 29. Januar sein. Seine Kleidergrösse ist ungefähr die meine, also trage ich vermutlich seine Klamotten, nur: warum tue ich das? An der Wand schaut sich Heni ein Landschaftsgemälde an, die Externsteine im düsteren Nebel. Sie entdeckt irgendwo einen Farbklecks, eine Gestalt in einem wehenden Mantel. Na und? Auf Boris‘ Nachttisch liegt etwas, was nicht zum westfälischen Buer’n passt: Ein zerlesenes Heft mit einem Theaterstück. „Le Roi en Jaune“, also „Der König in Gelb“, übersetzt Heni. Seltsam, Ferkson muss von dem Schundheftchen wie besessen sein. Wir suchen nun auch noch das Obergeschoss ab, die Plattform unter freiem Himmel. Auch hier wieder: Viele Fässer (was ist da eigentlich drin?), ein Kran, und in einem Fenster die Laterne, die uns den Weg gewiesen hat. Dann eine grausige Entdeckung: In den Ketten des Krans hängt regungslos ein Körper. Die Gestalt hat in etwa meine Grösse… und ihr fehlt die Schädeldecke. Das muss Boris Ferkson sein, oder eher das, was wir von ihm übriggelassen haben. Meine blutverschmierten Sachen liegen in einer Ecke herum…