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Suhrkamp Verlag
Krankfurt 1978
ISBN 3-518-02762 -X
Gastón gewidmet
ERSTER GESANG
Er hört sich
in seinem rauschenden Kopf.
Es ist niemand da außer dem,
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Kein Klopfzeichen. Kein Hilfeschrei.
Funkstille.
Entweder ist es aus,
Etwas reißt.
Eine endlose Segeltuchbahn,
ein schneeweißer Leinwandstreifen,
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Das war es.
War es das? Ja,
das muß es gewesen sein.
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ZWEITER GESANG
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Nur ganz unten, wo man, wie immer, zuerst kapiert,
werden Bündel, Babies, weinrote Inletts
hastig zusammengerafft. Das Zwischendeck
versteht kein Englisch, kein Deutsch, nur eines
braucht ihm kein Mensch zu erklären:
daß die Erste Klasse zuerst drankommt,
daß es nie genug Milch und nie genug Schuhe
und nie genug Rettungsboote für alle gibt.
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Apokalypse. Umbrisch, etwa 1490
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lasiert werden, tausendfach, mit grünen,
schaumigen Lichtern, durchbohrt von Masten,
lotrecht in die Tiefe schießenden Schiffen,
Wracks, während draußen, mitten im Juli,
kein Hund sich regt auf dem staubigen Platz.
Der Maler ist ganz allein in der Stadt geblieben,
verlassen von Frauen, Schülern, Gesinde.
Müde scheint er, wer hätte das gedacht,
sterbensmüde. Alles ist ocker, schattenlos,
steht starr da, hält still in einer Art
böser Ewigkeit; nur das Bild nicht. Das Bild
nimmt zu, verdunkelt sich langsam, füllt sich
mit Schatten, stahlblau, erdgrau, trübviolett,
caput mortuum; füllt sich mit Teufeln, Reitern,
Gemetzeln; bis daß der Weltuntergang
glücklich vollendet ist, und der Maler
erleichtert, für einen kurzen Augenblick;
unsinnig heiter, wie ein Kind,
als wär ihm das Leben geschenkt,
lädt er, noch für den selben Abend,
Frauen, Kinder, Freunde und Feinde
zum Wein, zu frischen Trüffeln und Bekassinen,
während draußen der erste Herbstregen rauscht.
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DRITTER GESANG
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zu glauben, keine zehn Jahre ist das jetzt her,
an die sonderbar leichten Tage der Euphorie.
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Es war nachts so warm, ich konnte nicht schlafen.
Jung war ich nicht, – was heißt jung?
Ich wohnte am Meer –, doch beinah zehn Jahre
jünger als jetzt, und bleich vor Eifer.
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Und ich war zerstreut und blickte hinaus
über die Hafenmauer auf die Karibische See,
und da sah ich ihn, sehr viel größer
und weißer als alles Weiße, weit draußen,
ich allein sah ihn und niemand sonst,
in der dunklen Bucht, die Nacht war wolkenlos
und das Meer schwarz und glatt wie Spiegelglas,
da sah ich den Eisberg, unerhört hoch
und kalt, wie eine kalte Fata Morgana
trieb er langsam, unwiderruflich,
weiß, auf mich zu.
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Verlustanzeige
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unterbrecht mich nicht,
den Verstand, den letzten Heller,
sei’s drum, gleich bin ich fertig,
die Fassung, Hopfen und Malz,
alles auf einmal verlieren,
wehe, sogar den Faden,
den Führerschein, und die Lust.
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VIERTER GESANG
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Es riecht nach Briketts.
Wo Europa am häßlichsten ist,
throne ich unter gußeisernen
langsam verrottenden Hohenzollern
und ZK-Mitgliedern, in der bitteren
angstvollen vaterländischen Schäbigkeit
und erinnere mich, und erinnere mich
an meine Erinnerung. Ja,
damals sagte ich mir, es ist nur
eine Fata Morgana, in Wirklichkeit,
sagte ich mir, schwankt die Insel Cuba
nicht unter unsern Füßen.
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Wie es weiterging, wissen wir alle.
Draußen schneit es. Ich suche den Faden,
den ich verloren habe, und manchmal
ist mir, zum Beispiel jetzt,
als hätte ich ihn gefunden.
Dann reiße ich. Der Vorhang reißt
fauchend entzwei, es wird hell,
ich erkenne sie alle wieder:
die Mulattinnen, den Kapitän
mit dem weißen Backenbart, Dante
(1265-1321), den Heizer Jerome,
Vorname unbekannt (1888?-1912),
den alten Maler aus Umbrien
mit den befleckten Fingernägeln,
geboren dann und dann
und dann und wann gestorben,
Maria Alexandrovna (1943- ) –
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und amüsiere mich mit dem Untergang,
mit dem Untergang der Titanic.
Ich habe nichts Besseres zu tun.
Ich habe Zeit wie ein Gott.
Ich versäume nichts. Ich kümmre mich
um die Funksprüche, um das Menü,
um die Wasserleichen. Ich sammle sie auf,
die Wasserleichen, aus der schwarzen,
eisigen Flüssigkeit der verflossenen Zeit.
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FÜNFTER GESANG
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Aber die Leute vom Zwischendeck
hörten ihm zu und schwiegen.
Nicht, weil er kein Litauisch sprach
(er sprach kein Litauisch);
nicht, weil sie betrunken gewesen wären
(ihre altertümlichen Flaschen,
eingewickelt in grobe Tücher,
waren schon lange leergetrunken);
nicht, weil sie Hunger hatten
(Hunger hatten sie auch):
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SECHSTER GESANG
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Der Eisberg
Sterbliche Träume,
durch die eine Karawane
von Eisbergen zieht:
»Mehr als zweihundertfünfzig Fuß
über den Wasserspiegel erhoben,
werfen die frischen Brüche
derselben
Farben zurück,
Farben, die wunderbar
und ganz durchsichtig sind.«
»Man glaubt, das Sonnenfeuer
sich in den Fenstern
von hundert Palästen
spiegeln zu sehen.«
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Es ist nicht gut,
an das Gewicht
des Eisbergs zu denken.
Wem er einmal begegnet ist,
der wird seinen Anblick
schwerlich vergessen,
auch wenn er lange lebt.
»Dieses Schauspiel
hebt die Einbildungskraft,
erfüllt aber auch das Herz
mit einem Gefühle
unwillkürlichen Schauders.«
Er ist vergänglich.
Er denkt nicht daran.
Fortschritte macht er keine,
doch »wenn er,
gleich einer ungeheuren,
weißen,
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mit blauen Schattirungen
durchäderten Marmortafel,
stürzt und kippt,
dann erbebt das Meer«.
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SIEBENTER GESANG
Die Flügeltüren, die Sie hier sehen, führen zum Türkischen Bad,
Vorsicht Stufe, wo Ihnen Heilmassagen und Wasserkuren
jederzeit zur Verfugung stehen unter ärztlicher Aufsicht,
beachten Sie bitte die Säulen in rotem Carrara-Marmor.
Consomme Tapioca
Lobster American Style
Baked Salmon with Horseradish Sauce
Curried Chicken Almond Rice Tropical Fruit
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Abendmahl. Venezianisch, 16. Jahrhundert
I
Als ich mein Letztes Abendmahl beendet hatte,
fünfeinhalb mal knapp dreizehn Meter,
eine Heidenarbeit, aber ganz gut bezahlt,
kamen die üblichen Fragen.
Was haben diese Ausländer zu bedeuten
mit ihren Hellebarden? Wie Ketzer
sind sie gekleidet, oder wie Deutsche.
Finden Sie es wohl schicklich,
dem Heiligen Lukas
einen Zahnstocher in die Hand zu geben?
Wer hat Sie dazu angestiftet,
Mohren, Säufer und Clowns
an den Tisch Unseres Herrn zu laden?
Was soll dieser Zwerg mit dem Papagei,
was soll der schnüffelnde Hund,
und warum blutet der Mameluck aus der Nase?
Meine Herrn, sprach ich, dies alles
habe ich frei erfunden zu meinem Vergnügen.
Aber die Sieben Richter der Heiligen Inquisition
raschelten mit ihren roten Roben
und murmelten: Überzeugt uns nicht.
II
Oh, ich habe bessere Bilder gemalt;
aber jener Himmel zeigt Farben,
die ihr auf keinem Himmel findet,
der nicht von mir gemalt ist;
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und es gefallen mir diese Köche
mit ihren riesigen Metzgersmessern,
diese Leute mit Diademen, mit Reiherbüschen,
pelzverbrämten, gezaddelten Hauben
und perlenbestickten Turbanen;
auch jene Vermummten gehören dazu,
die auf die entferntesten Dächer
meiner Alabaster-Paläste geklettert sind
und sich über die höchsten Brüstungen beugen.
Wonach sie Ausschau halten,
das weiß ich nicht. Aber weder euch
noch den Heiligen schenken sie einen Blick.
III
Wie oft soll ich es euch noch sagen!
Es gibt keine Kunst ohne das Vergnügen.
Das gilt auch für die endlosen Kreuzigungen,
Sintfluten und Bethlehemitischen Kindermorde,
die ihr, ich weiß nicht warum,
bei mir bestellt.
Als die Seufzer der Kritiker,
die Spitzfindigkeiten der Inquisitoren
und die Schnüffeleien der Schriftgelehrten
mir endlich zu dumm wurden,
taufte ich das Letzte Abendmahl um
und nannte es
Ein Diner bei Herrn Levi.
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IV
Wir werden ja sehen, wer den längeren Atem hat.
Zum Beispiel meine Heilige Anna selbdritt.
Kein sehr amüsantes Sujet.
Doch unter den Thron,
auf den herrlich gemusterten Marmorboden
in Sandrosa, Schwarz und Malachit,
malte ich, um das Ganze zu retten,
eine Suppenschildkröte mit rollenden Augen,
zierlichen Füßen und einem Panzer
aus halb durchsichtigem Schildpatt:
eine wunderbare Idee.
Wie ein riesiger, kunstvoll gewölbter Kamm,
topasfarben, glühte sie in der Sonne.
V
Als ich sie kriechen sah,
fielen mir meine Feinde ein.
Ich hörte das Gebrabbel der Galeristen,
das Zischeln der Zeichenlehrer
und das Rülpsen der Besserwisser.
Ich nahm meinen Pinsel zur Hand
und begrub das Geschöpf,
bevor die Schmarotzer anfangen konnten,
mir zu erklären, was es bedeute,
unter sorgfältig gemalten Fliesen
aus schwarzem, grünem und rosa Marmor.
Die Heilige Anna ist nicht mein berühmtestes,
aber vielleicht mein bestes Bild.
Keiner außer mir weiß, warum.
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ACHTER GESANG
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sämtliche Schiffe versänken an ein und demselben Tag,
so müßten wir uns eben etwas anderes einfallen lassen:
enorme Himmelssegler, dressierte Wale, eiserne Wolken.
Oder stationär leben. Die Bäume tun das seit längerer Zeit,
offenbar mit Erfolg. Und falls uns nichts einfallen sollte –
ganz andere Lebensformen sind schließlich schon ausgestorben,
ich möchte sagen, zu unserem Vorteil. Wo wären wir heute,
wenn die Flugechsen und die Saurier nicht irgendwann
auf gewisse Probleme gestoßen wären, die ihre Gehirne
nicht ohne weiteres lösen konnten. Sehen Sie?
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NEUNTER GESANG
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Später erschienen, schwarzweiß, auf dem Promenadendeck,
ein paar Spieler im Smoking aus dem Salon, die Damen
in perlenbesetzten Roben, Neugierige im Bademantel
sah man mit Eisbrocken werfen, kurz vor Mitternacht,
in einem alten Hollywood-Film. Es war feucht und heiß.
Das Vorstadtkino an der Calzada de San Miguel
wimmelte von halbnackten Kindern, die kichernd
über die schmutzigen Sitze turnten. Das Bild war trüb,
verregnet, der Ton verkratzt: eine morsche Kopie.
Über das schneeweiße Deck hüpfte Barbara Stanwyck
mit Clifton Webb, die Rahmen tanzten, und pünktlich,
wie immer, folgte aus der Notwendigkeit das Chaos.
Vergiß den Revolver nicht, denk an die Smaragde,
die Butterbrote, das Manuskript. Du nimmst die Bibel mit,
und du das kleine Schweinchen aus Blech,
das Maxixe spielt, wenn du es aufziehst am Schwanz,
dein Schweinchen aus buntem Blech, vergiß es nicht.
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ein Hotelzimmer, wenn du jäh aus dem Schlaf fährst
und horchst. Kein Lebenszeichen. Sogar der Kühlschrank
schweigt. Nun wäre dir selbst ein Einbruch willkommen,
eine Haussuchung, ein Knacken im Heizungsrohr.
Nie wieder wird es so trocken und still sein wie jetzt.
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Innere Sicherheit
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Die Befreiung kann, logischerweise,
nur mit vereinter Kraft gelingen.
Aber sicherheitshalber bin ich
in meiner Kiste mit mir allein,
in meiner eigenen Kiste.
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Also, Ich drücke, rufe ich,
mein Bedauern aus, wehe mir!
mein eignes Bedauern,
während mit dumpfem Pflupp
der Deckel sich wieder,
aus Sicherheitsgründen,
über mir schließt.
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ZEHNTER GESANG
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Unbedingt, sagt er, müsse sie sein,
mit zitterndem Schnurrbart, und eisern,
besonders an Bord eines Schiffes.
Du natürlich kannst seinen Gründen
nicht folgen, weil du sie nicht hörst.
Aber sieh nur, wie sie die Hälse wenden,
die Glücksspieler und Telegraphisten,
als würde hier Tennis gespielt!
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Der Aufschub
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ELFTER GESANG
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massenhaft weich
Ein panischer Pudding
der nach Angst riecht
scharf und rattenhaft
quellen wir und versinken
sackig und sanft
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ZWÖLFTER GESANG
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DREIZEHNTER GESANG
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Bricht mir wie Jakob dort
Nacht auch herein,
find’ ich zum Ruheort
nur einen Stein:
Davon geht die Welt nicht unter,
sieht man sie manchmal auch grau,
Ist mir auch ganz verhüllt
Dein Weg allhier,
einmal wird sie wieder bunter,
einmal wird sie wieder himmelblau!
wird nur mein Wunsch erfüllt:
Näher zu Dir!
Geht’s mal drüber und mal drunter,
wenn uns der Schädel auch raucht,
und wenn die ganze Erde bebt,
und die Welt sich aus den Angeln hebt ...
Ist dann die Nacht vorbei,
leuchtet die Sonn’,
bau’ ich mein Bethel Dir
und jauchz’ mit Freuden hier:
Wir lassen uns das Leben
nicht verbittern,
keine Angst, keine Angst,
Rosmarie!
Schließt dann mein Pilgerlauf,
schwing’ ich mich freudig auf:
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Davon geht die Welt nicht unter,
sie wird ja noch gebraucht,
sie wird ja,
sie wird ja,
sie wird ja,
sie wird ja,
sie wird ja
noch gebraucht.
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VIERZEHNTER GESANG
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dann an die Hüften rührt, an die Brustwarzen,
an die Schlüsselbeine; bis es dir endlich am Hals steht,
bis du es trinkst, bis du fühlst, wie es das Innere,
wie es die Luftröhre, die Gebärmutter, wie das Wasser
durstig den Mund sucht; wie es alles ausfüllen,
wie es verschluckt werden, und verschlucken will.
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FÜNFZEHNTER GESANG
Ihr seid es, schrie er, und warf um sich mit Fleisch und Brot,
die jeden Hauch aufgabeln, alles zermanscht ihr und raspelt
Bedeutungen mit euern Tranchiermessern runter –
ich doch nicht, fuhr er zornig fort, ich verwickle mich,
ich stottre, ich radebreche, ich mische, ich kontaminiere,
aber ich schwöre euch: Dieses Schiff ist ein Schiff! –
jetzt war er außer sich –, und die zerreißende Leinwand –
dies sang er beinahe – symbolisiert die zerreißende Leinwand,
jawohl! nicht mehr und nicht weniger, und damit ihr’s wißt:
Ich gleiche ihr, ich gleiche diesem bis zum Zerreißen
gespannten Stoffetzen da. Und er riß uns das Tuch vom Tisch.
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und wie Gordon Pym! Ich habe den alten Anarchisten röcheln hören,
nebenan, auf seinen schmutzigen Kissen, während ich seine Frau
umarmte, lächelnd. Ihr könnt mir nichts vormachen! Ihr
schon gar nicht. Und außerdem (er ging und ging nicht),
was kann ich dafür? Nicht ich habe diese Geschichte erfunden
vom Untergehenden Schiff, das ein Schiff und kein Schiff ist;
der Irre, der sich für Dante hält, ist Dante selber;
ein Passagier, der so heißt, befindet sich immer an Bord;
es gibt keine Metaphern. Ihr wißt nicht, wovon ihr redet.
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SECHZEHNTER GESANG
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SIEBZEHNTER GESANG
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Schwacher Trost
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Strittig ist nach wie vor, wer oder was
daran schuld sei. Ist es die Erbsünde
oder die Genetik? die Säuglingspflege?
der Mangel an Herzensbildung?
die falsche Diät? der Gottseibeiuns?
die Männerherrschaft? das Kapital?
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mit einem matten, zufriedenen Lächeln
unversehens aufgibt, zu Tode erschöpft;
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ACHTZEHNTER GESANG
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Weitere Gründe dafür, daß die Dichter lügen
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NEUNZEHNTER GESANG
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Drahtnachrichten vom 15. April 1912
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Theater. Augsburg (St.) Keusche Susanna. Basel (St.) Stützen der
Gesellschaft. Bremen (St.) Walzertraum. Düsseldorf (Sch.) Nora.
Frankfurt (O.) Flotte Bursche. Freiburg (St.) Schokolademädchen.
Köln (D.) Europa lacht.
Berlin. Bei Eröffnung war die Haltung der Börse fest. Beachtet
wurden die Nachrichten aus New York und vom oberschlesischen
Stab- und Walzeisenmarkt.
München. Zwischen Bayern und dem Reiche bestehen zur Zeit
korrekte Beziehungen.
Paris. Die Vertreter des Sechsmächte-Konsortiums haben die der
chinesischen Regierung gewährten monatlichen Vorschüsse
eingestellt.
Wiesbaden. Der Streik der Spengler und Installateure ist heute
nach vierzehntägiger Dauer beendet worden. Den Gehilfen wurde
eine Lohnerhöhung von 3 Pfg. pro Stunde zugestanden.
Wetterdienst des Physikalischen Vereins Frankfurt a. M. Über
Mitteleuropa hat sich ein ausgedehntes Hochdruckgebiet etabliert,
so daß auch für morgen ziemlich heitere Witterung und weiter
steigende Temperaturen zu erwarten sind.
Deutsche Bank 255.50, Daimler Motoren 244.-, Siemens &
Halske 241.90, Allg. Elektrizität 262.-, Höchster Farbw. 575.-
Frische rote Wangen bekommen Bleichsüchtige, die regelmäßig
Patermanns Bade-Würfel benützen.
Frankfurt. Der deutsche Handelssachverständige in Kalkutta lenkt
die Aufmerksamkeit auf die Absatzmöglichkeiten für Automobile
in Britisch-Indien.
New York. Heute morgen wird durch eine Reuter-Meldung
bestätigt, daß alle Passagiere der Titanic bei ruhiger See die
Rettungsboote aufgesucht haben.
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ZWANZIGSTER GESANG
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Käpten, sagt Shine, du hast immer recht,
aber diesmal wird mit dem Leben geblecht!
Shine zieht sein Hemd aus und sagt kein Wort,
zieht sein Hemd aus und springt über Bord.
Der Käpten ruft: Shine, laß mich nicht im Stich!
Hier sind hundertsechzig Dollar für dich.
Zieh dein Hemd aus, Käpten, sagte Shine,
und springe zu den Haifischen rein!
Des Käptens Tochter auf dem Deck
wirft ihren Büstenhalter weg.
Shine, lieber Shine, ruft sie ebenfalls,
Händchen auf der Schrippe, Höschen um den Hals.
Shine, lieber Shine, laß mich nicht im Stich!
Meine weiße Schrippe, die ist ganz für dich.
Shine sagt: Danke bestens, habe keine Zeit,
muß leider nach Hause, nach Hause ist es weit.
Shine schwimmt weiter, schwimmt wie ein Aal,
trifft unterwegs einen riesigen Wal.
Der Wal sagt: Shine, du schwimmst ja ganz munter,
doch wenn ich dich kriege, schluck ich dich runter.
Shine sagt: Meinetwegen, wenn du mich erwischt,
und im Handumdrehen war er abgezischt.
Es schlug in Washington wie eine Bombe ein,
die Titanic soll abgesoffen sein.
Shine saß an der Ecke, hörte den Radau,
schmiß noch eine Runde, war schon ziemlich blau.
Nach Deep down in the Jungte. Negro Narrative Folklore from the Streets of
Philadelphia. Herausgegeben von Roger D. Abrahams. Chicago 1970.
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EINUNDZWANZIGSTER GESANG
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zum Beispiel, einem beleibten Herrn gegenüber
kurz nach dem Auslaufen ahnungslos ausgesprochen:
Nicht einmal Gottvater wäre imstande, diesen Kahn
zu versenken - wir haben sie nicht gehört. Wir
sind tot. Wir wußten von nichts.
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Nur die Ruhe
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sich gefaßt machen auf den unvermeidlichen Urlaub.
Angesichts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen
und der schmutzigen Wäsche muß sogar der Prophet
gewisse Zugeständnisse machen, aber hart bleibt er
in der Sache. Mit dünner doch fester Stimme sagt er sich:
Das sind alles Äußerlichkeiten. Nur Geduld!
Ein paar Wochen oder Jahrhunderte hin oder her,
was verschlägt das schon im Vergleich mit der Ewigkeit.
Was ihn betrifft, er wird, wenn es einst soweit ist,
keineswegs überrascht sein. Von jeher schließlich
hat er sich auf den Standpunkt gestellt: So
kann es nicht weitergehen! Recht werde uns geschehen!
Selber schuld! Hätten wir nur beizeiten auf ihn gehört!
Und also fühlt er auf seinem Scheunendach, unverzagt
krähend, daß der Weltuntergang immer aufs neue,
und wäre er noch so unpünktlich, mundet wie Manna,
daß er eine Art von Beruhigung ist, ein süßer Trost
bei trüber Aussicht, bei Haarausfall, und bei nassen Füßen.
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ZWEIUNDZWANZIGSTER GESANG
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1. Klasse 2. Klasse Zwischen- Besatzung Insgesamt
deck
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Erkenntnistheoretisches Modell
Hier hast du
eine große Schachtel
mit der Aufschrift
Schachtel.
Wenn du sie öffnest,
findest du darin
eine Schachtel
mit der Aufschrift
Schachtel
aus einer Schachtel
mit der Aufschrift
Schachtel.
Wenn du sie öffnest –
ich meine jetzt
diese Schachtel,
nicht jene –,
findest du darin
eine Schachtel
mit der Aufschrift
Und so weiter,
und wenn du
so weiter machst,
findest du
nach unendlichen Mühen
eine unendlich kleine
Schachtel
mit einer Aufschrift
so winzig,
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daß sie dir gleichsam
vor den Augen
verdunstet.
Es ist eine Schachtel,
die nur in deiner Einbildung
existiert.
Eine vollkommen leere
Schachtel.
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DREIUNDZWANZIGSTER GESANG
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gefälligst, für Edward J. Smith, unsern Käpten,
weißbärtig, achtunddreißig Jahre im Dienst,
wie er, aller drahtlosen Warnungen ungeachtet,
volle Fahrt voraus hält, direkt auf den Eisberg zu,
bestochen von gierigen Reedern, um in Rekordzeit
anzukommen, und jetzt: Be British! brüllt er,
bevor er sich den Revolverlauf in den Mund steckt!
Bravo! Was ist ein Dichter wert, der nicht schluckt
die salzige Brühe, der das Kondenswasser
nicht von der eisernen Wand leckt,
dem nicht durch Mark und Bein der klamme Schweiß,
die nieselnde historische Nässe geht?
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ruhe im Saal!
Tusch! Für die Gräfin Rothes im Nachthemd
Tusch! Für die Hexe, die Suffragette,
die zügellose Tribade, wie sie im Rettungsboot,
das sie in ihre Gewalt gebracht hat, Tusch!
die Weiberherrschaft verkündet! Tusch
für die Offiziere, die, sinnlos betrunken,
die Gangway hinuntertorkeln und auf den Mob
ihre Pistolen leerfeuern, der aus dem Zwischendeck
hochquillt: Ithaker, Juden, Kameltreiber
und Polacken! Alles hört auf mein Kommando!
Eine Rotte von Heizern, schwarz im Gesicht,
wird zurückgetrieben in den Maschinenraum,
in dem längst das Wasser tintig schwappt,
während, keine vier Meilen entfernt,
auf seinem Seelenverkäufer, Captain Lord,
bei stillgelegten Maschinen, lässig gelehnt
an die Reling, den Funker in die Kajüte schickt,
um sich an den Notsignalen zu weiden, ungestört,
und an den Todesschreien. Tusch! Meine Lieben,
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es gibt immer jemanden, der einfach zusieht,
mit dem berühmten Zucken um die Mundwinkel,
jemanden, der nicht handelt, der sich sein Teil denkt.
Die Dichter tobten, forderten, gaben zu:
eine Horde, die nicht mehr zu halten war.
Haltet ihn, riefen sie, haltet den Millionär,
der, als Frau verkleidet, auf dem Kopf
einen riesigen Turban, verschleiert
auf das letzte Rettungsboot schlüpft,
bevor das Schiff in tausend Trümmer zerbirst.
Näher, mein Gott, zu wem, spielt die Kapelle,
nein, Ragtime spielt sie, »Was ich noch
zu sagen hätte, dauert eine Zigarette«, nein,
Herr des Mitleids und der Gnade, nichts
dergleichen spielte sie, es gab keine Band,
es war nichts zu hören, es fiel kein Wort,
es war niemand da, um auch nur einen Tusch,
einen Tusch zu spielen, meine Damen und Herren,
für Sie, für die Dichter, für uns.
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Erkennungsdienstliche Behandlung
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VIERUNDZWANZIGSTER GESANG
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die Bilder sind übergelaufen. Ich trinke zuviel,
sehen Sie, meine Hand zittert. Doch die Nomaden
rufen mir nach: Mein Bild, das bin ich! – Nie wieder
werde ich malen. Drehen Sie sich nicht um, meine Damen
und Herren. Ich fürchte mich vor ihren Messern.
Ja, sagte John Jacob Astor, ich sehe sie auch.
Dann schwärmten sie über das ganze Schiff aus. Fackeln
entzündeten sie. Man hörte unverständliche Schreie.
Sie hatten Kamele dabei, deren schwankende Schatten
den Messingglanz der Beschläge verdunkelten.
Plötzlich, am Morgen des vierzehnten April,
waren sie alle verschwunden. Sie hinterließen nur
einen wüstenhaften Geruch und den Mist ihrer Tiere.
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Der Raub der Suleika. Niederländisch, Ende 19. Jahrhundert
Klein, grau und krumm steht er, das Glas in der Hand,
kurz vor Ostern, ans Eisengeländer gelehnt,
mit dem Rücken zur Straße, als wär sie ein Meer,
vor seinem Haus in der Prinsengracht
– über die Treppe, die klein, grau und krumm ist,
weht eine Fahne von altem Genever hin,
denn mehr, als seiner Hand guttut, trinkt er –,
und trinkend, indem er Witze reißt über das Altern
und an ihr vorbeiblickt, erzählt
einer blutjungen Muselmanin, deren Augen,
halb verschleiert, er braucht,
Salomon Pollock von seinem Bild, das er nie,
auch betrunken nicht, aus den Augen verliert.
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durch seinen Talisman aus lauchgrünem Jaspis
und den gezähmten Falken, der ihn begleitet.
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das ist die Geraubte. Ihre Zähne, so heißt es,
schimmern wie Hagelkörner, wie Karneole
sind ihre Lippen, sie duftet nach Narde,
nach Ambra, Aloe, Zimt. So heißt es.
Die Pferde wiehern. Unter den Schreien der Krieger
wird Hochzeit gehalten.
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Sieh im schwarzen Turban den Henker,
wie er das Schwert in die Scheide steckt,
und auf dem hölzernen Pfahl dort
den abgeschlagenen Kopf! Siehst du ihn nicht?
Siehst du den Sultan in seiner Sänfte?
Siehst du nicht, wie zerstreut er ist,
wie er lächelt, wie er es ahnungslos
aufschlägt, das vergiftete Buch?
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FÜNFUNDZWANZIGSTER GESANG
Steuermannsmaat G. T. Rowe
führt das Kommando, ferner
Pantryman Pearce, Weikman, Friseur,
und drei Heizer. Passagiere:
Gordon Pym, von Beruf Gespenst,
J. B. Ismay, Esq., K. B. E., F. R. G. S.,
Reeder des Dampfschiffs Titanic,
Präsident der White Star Line
of America, Inc., Feigling,
Augen wie gläserne Murmeln,
Brillantine im Haar. Der Rest
Frauen und Kinder.
Insassen insgesamt: 35,
besondere Vorkommnisse: keine.
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erwachte unter den Füßen
der Fünfunddreißig,
auf dem feuchten Boden des Bootes,
ein Bündel aus schlaffem Zeug,
regte sich etwas
im schmutzigen Segeltuch,
etwas Nasses, Lumpiges,
wurde lebendig und sprach.
Fünf Chinesen waren es,
fünf unbekannte Chinesen.
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Forschungsgemeinschaft
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der Fußnoten und des Stellenkegels –
vorläufig ist das Ende (»eine unaufhörliche,
feinverteilte Naturkatastrophe«)
noch nicht endgültig — das ist angenehm!
88
SECHSUNDZWANZIGSTER GESANG
89
Abblende.
Auf der dunkler werdenden Leinwand
erscheint das Wort
ENDE
90
SIEBENUNDZWANZIGSTER GESANG
91
ist eine liebe Gewohnheit, wie die Banküberfälle,
wie die Podiumsdiskussionen über die Rentenanpassung
und über den Sozialismus auf einem Dampfer.
Ab und zu gibt es die pünktlich befolgten Punktstreiks;
dann lassen die Kellner den Sektkühler sinken,
und der Pianist hält inne mitten in der Fantasia c-moll.
Dann stutzen auch die Gangster und die Verleger;
die Salonmaler ärgern sich; die Militärattaches
wollen plötzlich zahlen; alles lacht, alles freut sich.
»So«, denkt die kluge Hure, »so wird die Welt untergehn,
unter dem Jubel ihrer witzigsten Köpfe, die da meinen,
es wäre ein Witz.« – Auch Dichter sind immer noch da!
Im Cafe Astor sitzen sie, bei Selbstbedienung,
leicht zu erkennen an ihrem seekranken Blick;
aus Plastikbechern schlürfen sie ihre Cola mit Schuß
und gedenken, wie sich’s gehört, der Gastarbeiter,
der Eskimos und der Palästinenser im Zwischendeck.
Es nickt der falsche Dichter dem Zwischendichter,
der Zwischendichter dem wirklichen Dichter zu.
Dann sucht ein jeder seine Kajüte auf, ein jeder
setzt sich auf seinen trockenen Stuhl und schreibt,
als wäre nichts geschehen, auf das trockene Blatt:
»In Wirklichkeit ist nichts geschehen.«
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Fachschaft Philosophie
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bescheiden die Herren im Trenchcoat warten.
Sie rauchen, machen kaum Gebrauch von der Dienstwaffe,
und bewachen die Planstellen, die Papierblumen
und den schneeweiß alles bedeckenden Taubendreck.
94
ACHTUNDZWANZIGSTER GESANG
Durch das Bullauge sehe ich, wie im sechsten Stock des Hotels,
auf dem Kazan-Bahnhof die Asiaten mit ihren schwangeren
Frauen, auf dem Bahnhof von Omsk, in Decken gewickelt, auf dem
Haydarpasa-
Bahnhof kampieren, wie der eisige Matsch an die Scheiben schlägt,
ich höre die Schiffsglocke läuten, ganz Habana sehe ich funkeln
unter mir in der Tropennacht, aus den Aufzügen drängeln Arbeitslose,
immer mehr Arbeitslose im bläulichen Notlicht des Korridors,
vor meinem tränenden, an das Glas des Spions gepreßten Auge
verschwimmt der delirierende Norweger, er hat Schuhkrem gefressen,
mit schwarzem Mund kauert er neben der Rudermaschine und lallt,
und er löst sich vor meinen entzündeten Augen auf, so wie die Araber,
die dort draußen, auf der Suche nach Frauen, unrasiert, ein Biwak
aufschlagen und mit alten Zeitungen zündeln, im Qualm zerfließen,
am Ende des langen, langen, abgewetzten, schmutzigen Kokosläufers,
auf dem, umzingelt von Strichjungen und Hoteldetektiven, die letzten,
versprengten Anführer irgendeiner weit entfernten Revolution
ihr rohes Eselsfleisch mit bloßen Händen verzehren, ich huste,
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der Rauch treibt mir die Tränen in beide Augen, ich schwanke,
ich höre in meinem überschwemmten Kopf Musik, Musik, ich höre,
wie ein irrer Geiger mit dem Kapitän telefoniert, Land, ruft er,
Land in Sicht, das Ende der Welt, Eis in Sicht, Zucker, Schnee, Heroin,
und ich, zitternd vor Müdigkeit und vor Nässe, stehe unter der Axt,
unter dem Nachtlicht, unter dem Feuerwehrschlauch auf dem Flur des
Hotels,
sechs Stockwerke hoch über der Karibischen See und möchte wissen,
wer diese Herren mit Orden, mit Bärten, mit Spritzen sind,
diese Killer, die ihre Hüte durch die Tür auf mein Bett werfen,
Einsamkeit, psalmodiere ich, Einsamkeit, Schmutz und Einsamkeit,
der Maschinentelegraph klingelt ununterbrochen, ich huste,
alle diese Zerfließenden, diese Nomaden, diese Betrunkenen,
diese vor mir, mit mir, nach mir Versinkenden telefonieren
miteinander in meinem Sechsundvierzigtausend-Bruttoregister-Tonnen-Kopf.
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NEUNUNDZWANZIGSTER GESANG
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Also auch die achthundert Kisten geschälter Walnüsse,
die fünf Konzertflügel, die dreißig Gebinde
Golf- und Tennisschläger für Mr Spaulding,
zuletzt gesichtet bei 42 Grad 3 Minuten Nord,
49 Grad 9 Minuten West,
sind nicht für alle Zeiten verloren:
Hier, vor unseren Augen, tauchen sie wieder auf
(wo: »hier«?), mit 65 Jahren Verspätung –
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Pläne zur Hebung des Wracks mit Hilfe von Tauchern,
mit Hilfe von Gasballons, mit Hilfe von U-Booten,
Original- Titanic-Modellbaukasten,
Kunststoff, abwaschbar, ein Meter Länge,
Copyright Entex Industries, Inc.,
$ 29.80 portofrei gegen Vorkasse von Edward Kamuda,
285 Oak Street Indian Orchard, Massachusetts,
bei Nichtgefallen Ihr Geld zurück –
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Die Ruhe auf der Flucht. Flämisch, 1521
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Die Schwäne auf dem Teich in der Mitte des Bildes
nehmen keine Notiz von mir.
Ich betrachte den Tempel am Abgrund,
den schwarzen Elefanten – seltsam,
ein schwarzer Elefant auf freiem Feld! —
und die Statuen, deren weiße Augen
dem Vogelfänger im Wald zusehen,
dem Fährmann, der Feuersbrunst.
Wie lautlos das alles ist!
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DREISSIGSTER GESANG
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Sonderbar, wie von allem,
was früher war, der größere Teil,
ohne eine Lücke zu hinterlassen,
wie ein Stein im Wasser verschwunden ist.
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Niemand kümmerte sich darum.
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Vor der Tür stand jetzt
eine breite Lache,
und jeder, der eintrat,
zog hinter sich eine nasse Spur.
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mit sautierten Filets von Fasanenbrüsten –
die Sauce hab ich vergessen.
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EINUNDDREISSIGSTER GESANG
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Die Überlebenden wurden nicht müde,
vom Überleben zu fabeln,
bis sie es müde wurden.
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und wir können machen mit ihm,
was wir wollen.
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Gestatten Sie, ich zum Beispiel,
ich möchte klarstellen, ein für allemal,
daß er nie in Habana gewesen ist,
dieser Simulant, und außerdem,
daß es dort keine Eisberge gibt.
Alles aus den Fingern gesogen!
Alles geklaut.
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Er verhaspelte sich
vor Neid, Eifersucht, Angst.
Seinen perlmuttfarbenen Fixer-Augen
sah man es an, daß er nicht alt werden würde.
Er verschluckte sich, er blieb stecken,
der Heizer haute ihn auf den Rücken.
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Nein. Weitermachen?
Nur das nicht.
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ZWEIUNDDREISSIGSTER GESANG
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DREIUNDDREISSIGSTER GESANG
Ich mache, bis auf die Haut naß, Personen mit nassen Koffern aus.
Auf schiefer Ebene seh ich sie stehen, gegen den Wind gelehnt
im schrägen Regen, undeutlich, am Rande des Abgrunds.
Nein, es ist nicht das Zweite Gesicht. Das Wetter ist schuld,
daß sie so bleich sind. Ich warne sie, ich rufe z. B. Die Bahn ist schief,
meine Damen und Herren, Sie stehen am Rande des Abgrunds. Jene freilich
lachen nur matt und rufen tapfer zurück: Danke gleichfalls.
Ich frage mich, sind es wirklich nur ein paar Dutzend Personen,
oder hanget da drüben das ganze Menschengeschlecht,
wie auf einem x-beliebigen Musikdampfer, der schrottreif
und nur noch einer Sache geweiht ist, dem Untergange?
Ich weiß es nicht. Ich triefe und horche. Schwer zu sagen,
wer jene Personen sind, von denen jede sich an einen Koffer klammert,
an einen lauchgrünen Talisman, einen Dinosaurier, einen Lorbeerkranz.
Ich höre sie lachen und rufe ihnen unverständliche Worte zu.
In dem Unbekannten mit den feuchten Zeitungen über dem Kopf
vermute ich K., der Reisender ist in Knäckebrot von Beruf;
keine Ahnung, wer der mit dem Bart ist; der Mann mit dem Malstock
heißt Salomon P.; die Dame, die niest und niest, muß Marilyn Monroe sein;
der Weißgekleidete aber, der mit dem Manuskript,
in schwarzes Wachstuch gewickelt, ist sicherlich Dante.
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Diese Personen sind voller Hoffnungen, voll krimineller Energie!
Im strömenden Regen führen sie ihre Dinosaurier an der Leine,
öffnen auch ihre Koffer und schließen sie wieder,
und singen im Chor: »Am 13. Mai ist der Weltuntergang,
wir leben nicht mehr lang, wir leben nicht mehr lang.«
Schwer zu sagen, wer da lacht, wer mich beachtet, wer nicht,
in dieser Waschküche, und wie breit und wie tief der Abgrund ist.
Ich sehe, wie sie langsam versinken, die Personen, und folgende Worte
rufe ich ihnen zu: Ich sehe, wie ihr langsam versinkt.
Keine Antwort. Auf fernen Musikdampfern, matt und tapfer,
spielen Orchester. Ich bedaure das sehr, es ist mir nicht recht,
wie sie alle sterben, durchnäßt, in diesem Nieselwetter, schade
ist es, ich könnte heulen, ich heule: »Doch keiner weiß«,
heule ich, »in welchem Jahr, und das ist, und das ist, wunderbar.«
La Habana 1969 —
Berlin 1977
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INHALT
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Neunzehnter Gesang. Ein Mann lag im Wasser 62
Drahtnachrichten vom 15. April 1912 63
Zwanzigster Gesang. Am achten Mai 65
Einundzwanzigster Gesang. Hinterher natürlich 67
Nur die Ruhe 69
Zweiundzwanzigster Gesang. Weit draußen im Golf 71
Erkenntnistheoretisches Modell 73
Dreiundzwanzigster Gesang. Widersprüche! schrie er 75
Erkennungsdienstliche Behandlung 78
Vierundzwanzigster Gesang. Am zweiten Tag der Reise 79
Der Raub der Suleika. Niederländisch, Ende 19. Jahrhundert 81
Fünfundzwanzigster Gesang. Das letzte Boot 85
Forschungsgemeinschaft 87
Sechsundzwanzigster Gesang. 178. Außen. Offenes Meer 89
Siebenundzwanzigster Gesang. »In Wirklichkeit ist nichts geschehen.« 91
Fachschaft Philosophie 93
Achtundzwanzigster Gesang. Durch das Bullauge sehe ich 95
Neunundzwanzigster Gesang. Um aber auf das Ende zurückzukommen 97
Die Ruhe auf der Flucht. Flämisch, 1521 100
Dreißigster Gesang. Wir leben noch, sagte einer von uns 102
Einunddreißigster Gesang. Das Berliner Zimmer füllte sich 107
Zweiunddreißigster Gesang. Später, als sich das unabsehbare Zimmer 113
Dreiunddreißigster Gesang. Ich mache, bis auf die Haut naß 114
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