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ADHS: NEUROBIOLOGISCHE GRUNDLAGEN

UND BEHANDLUNG MIT MEDIKAMENTEN


Zusammenfassung der Referate bei der „Fortbildung in Maulbronn“ am 3. März 2002
über: „Neurobiologische Grundlagen und Therapie bei ADHS“

Dieter Karch, Gunther Moll, Gerald Huether

Störung exekutiver Funktionen


Zahlreiche Hypothesen über die Bedingungsfaktoren von ADHS wurden in den letzten
Jahrzehnten entwickelt: minimale Hirnschädigung, leichte Hirnfunktionsstörungen (MCD),
Nahrungsmittelallergien (z.B. Phosphat), psychoanalytisch begründete „Ursachen“,
Erziehungsfehler, Neurotransmitterimbalanzen u.a. Es wird heute angenommen, dass bei
ADHS eine Störung der exekutiven Funktionen besteht (Schachar et al. 1995, Barkley 1997).
Hierunter sind Fähigkeiten zu verstehen, die für die Handlungsplanung und -ausführung von
großer Bedeutung sind wie die kognitive Flexibilität, das Arbeitsgedächtnis, die selektive und
Daueraufmerksamkeit, die Interferenzkontrolle, die Selbstkontrolle von Affekt und
Motivation sowie die Fähigkeit zur adäquaten Inhibition des Verhaltens. Neuroanatomisch
sind diese Funktionen lokalisiert im präfrontalen Kortex bzw. in fronto-kortiko-striatalen
Netzwerken. Die Aktivitäten dieser Netzwerke können entscheidend beeinflusst werden durch
die im gesamten Gehirn verzweigten monoaminergen Neurotransmittersysteme, insbesondere
durch das dopaminerge System. Daher liegt die Annahme nahe, dass Störungen im Bereich
dieser Neurotransmittersysteme die klinische Symptomatik mitbedingen. Die aktuelle
Hypothese geht davon aus, dass ein generelles Inhibitionsdefizit besteht, das sich
insbesondere auf die motorischen und kognitiven Fertigkeiten negativ auswirkt. Moll und
Mitarbeiter haben das Inhibitionsvermögen im motorischen Bereich gemessen und ein Defizit
der intrakortikalen Inhibition beobachtet (Moll et al. 2000, Moll et al.2001).

Neurotransmittersysteme und ADHS-Behandlung


Bei der medikamentösen Behandlung von Kindern mit Aufmerksamkeits- und
Hyperaktivitätsstörungen gilt Methylphenidat (Ritalin oder Medikinet) als das Mittel erster
Wahl. Es stellt sozusagen den Goldstandard der Behandlung dar, an dem alle anderen

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Medikamente gemessen werden. Methylphenidat ist ein Amphetaminderivat und chemisch
verwandt mit den Neurotransmittern Adrenalin bzw. Noradrenalin und Dopamin. Es
unterstützt deren Wirkung indem es die Ausschüttung aus den praesynaptischen Vesikeln des
Axons fördert und die Rückaufnahme hemmt. Beide Neurotransmitter sind wichtig bei der
zentralnervösen Verarbeitung von wichtigen externen und internen Ereignissen oder Stress-
Situationen. Dopamin gilt dabei als ein besonders rasch aktivierbarer Neurotransmitter.

Wie dieser Vorgang biochemisch verläuft und warum dadurch eine Veränderung des
Verhaltens eintritt, ist bis heute noch nicht exakt erforscht. Normalerweise wird durch
Methylphenidat eine erhöhte motorischen Aktivität, Wachheit und Bereitschaft bewirkt. Das
war das Wirkungsspektrum, das auch von Leistungssportlern ausgenutzt worden war.
Dagegen kommt es bei Kindern mit ADHS zu einer verminderten motorischen Aktivität bzw.
zu einer verbesserten motorischen Steuerungsfähigkeit und psychischen Beruhigung, z.B.
auch zu einer Abschwächung von impulsiven Reaktionen. Geht man von der Hypothese aus,
daß bei ADHS-Kindern eine erhöhte Ansprechbarkeit der Neurotransmittersysteme von
Dopamin und/oder Noradrenalin auf interne und externe Stimulationen oder Anregungen
vorliegt, so führt die Einnahme von Amphetamin oder seiner Derivate einerseits zu einer
erhöhten Konzentration von Dopamin und Noradrenalin im synaptischen Spalt aber
andererseits auch zu einer Hemmung weiterer Ausschüttung zumindest in übersteigerter
Intensität, so daß bei Stress nur noch eine gemäßigte Reaktion erfolgen kann. Diese
Hypothese wird vor allem von Prof. Huether aus Göttingen vertreten, der davon ausgeht, dass
das dopaminerge System bei ADHS-Kindern besonders stark ausgeprägt ist so dass eine
abnorm hohe Dichte an Synapsen vorliegt.

Da Methylphenidat als Tablette eingenommen wird, flutet der Wirkstoff deutlich langsamer
an, als wenn er z.B. intravenös verabreicht werden würde. Daher werden auch nicht die
Reaktionen ausgelöst, die sein Suchtpotential begründen, nämlich dass bei rascher Entleerung
der Speicher ein subjektives Hochgefühl empfunden wird. Dieses Gefühl entsteht, wenn
plötzlich die Rezeptoren von Botenstoffen überschwemmt werden, ähnlich wie dies bei
anderen Suchtmitteln geschieht, die zu einer Ausschüttung von Dopamin oder Serotonin
führen (Huether und Bonney 2002).

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Dadurch kommt es zur Aktivierung präsynaptisch lokalisierter Dopamin-Autorezeptoren
(D2), die eine Hemmung der weiteren, impulsgetriggerten Dopaminfreisetzung bewirkt. Man
weiss, dass es zwei Hauptrezeptorgruppen im dopaminergen System mit jeweils mehreren
Untergruppen gibt, die im ZNS unterschiedlich verteilt sind und für unterschiedliche
Funktionen verantwortlich sind: die postsynaptischen Rezeptoren vom D1-Typ und die prä-
und postsynaptisch lokalisierten D2 Rezeptor-Typen. Methylphenidat wirkt auf den Dopamin-
Transporter Rezeptor und blockiert die Rückresorption des ausgeschütteten Dopamins.

Spezielle Funktionsstörungen von Neurotransmittersystemen


Es bestehen drei dopaminerge Systeme mit unterschiedlichen Wirkungen:
das nigrostriatale System, das vor allem bei der motorischen Kontrolle eingeschaltet wird, das
mesolimbisch-mesokortikale System, das zusammen mit dem frontalen System
(belohnungsassoziiertes Verhalten) für Gedächtnis- und Lernleistungen zuständig ist, und
das tuberoinfundibuläre System, das endokrinologische Prozesse mitkontrolliert.

Diese Systeme sind auch in Krankheitsprozesse eingebunden wie z.B. M. Parkinson, bei dem
ein Dopamindefizit im Striatum besteht oder Dyskinesiesyndrome, bei denen ein
Dopaminüberschuß im Striatum vorliegt. Veränderungen des Dopaminsystems im Frontalhirn
werden bei der Schizophrenie und insbesondere auch bei der Depression („major
depression“) diskutiert. Störungen des dopaminergen Systems führen also zu
unterschiedlichen Symptomen: im Striatum zu motorischen Störungen, im Frontalhirn zu
psychischen Störungen und in der Substantia nigra und Tegmentum zu Störungen im Lern-
und Belohnungsverhalten.

Die beiden Neurotransmittersysteme: Dopamin und Noradrenalin stehen in einer vielfältigen


Wechselbeziehung zueinander. Sie haben einen gemeinsamen Synthese- und Abbauweg.
Das adrenerge System verfügt ebenfalls über sehr unterschiedliche Rezeptoren mit
unterschiedlichen Funktionen, die sich auch in Abhängigkeit von ihrer Lokalisation im ZNS
unterscheiden. Störungen im Alpha2-Noradrenalinrezeptorsystems führen daher zu
verschiedenen Auffälligkeiten: im praefrontalen Kortex wird die inhibitorische Kontrolle

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vermindert, im Hirnstamm, insbesondere dem Locus coeruleus, die Aufmerksamkeit
beeinträchtigt, im Striatum können Dyskinesien oder Tics auftreten und im postzentralen
Kortex wird die Verarbeitung sensorischer Reize gestört. Diese Auffälligkeiten sind auch bei
aufmerksamkeitsgestörten, unruhigen und impulsiven Kindern bekannt.

Die ausserordentliche Komplexität des Neurotransmitterstoffwechsels wird noch verstärkt


durch stetige Interaktionen mit anderen Systemen, namentlich dem Serotonin-System und den
Acetylcholin-System.

Klinische Wirkung von Methylpenidat und Amphetaminderivaten


Die klinische Wirksamkeit von Methylphenidat ist in vielen prospektiven und kontrollierten
Studien sehr gut belegt. Auch über die Art und Häufigkeit der unerwünschten Wirkungen gibt
es eine außerordentlich große Erfahrung. Allerdings wird nicht bei allen ADHS-Kindern eine
positive Wirkung erreicht, und die Wirkungsintensität ist von Patient zu Patient sehr variabel.
Etwa 20-30 Prozent der Kinder sind sog. Non-Responder.

Unerwünschte Wirkungen oder Nebenwirkungen sind vor allem: die Appetitstörung, die vor
allem nach der Einnahme des Medikamentes morgens nüchtern auftritt, so dass im Einzelfall
entschieden werden muss, daß auch nach dem Frühstück Methylphenidat eingenommen
werden kann, Einschlafstörungen, die als Rebound Effekt interpretiert werden können, wenn
die Kinder abends nachzuholen scheinen, was sie am Tag „versäumt“ haben und eine
depressive Stimmungslage, auf die anamnestisch besonders zu achten ist, insbesondere auch
bei Kindern und Jugendlichen, die auch schon selbstkritisch ihr Verhalten beurteilen. Eine
Suchtgefährdung geht von Methylphenidat nicht aus, da das erwünschte Hochgefühl sich
nicht einstellt! Im Gegenteil kann man davon ausgehen, daß Jugendliche und Erwachsene mit
ADHS durch die pharmakologische Behandlung ein geringeres Risikopotenzial aufweisen
von Alkohol oder anderen Suchtmitteln abhängig zu werden. Nicht auszuschliessen ist
dagegen, dass sich Kinder an die Medikamente gewöhnen bzw. mit ihrem Verhalten ohne
medikamentöse Behandlung nicht zurechtkommen. In diesen Fällen könnte der Wunsch
bestehen die Behandlung - trotz einer verbesserten Symptomatik bis ins Erwachsenenalter
fortzuführen.

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Von Huether und Mitarbeitern wurde allerdings tierexperimentell beobachtet, daß bei
Verabreichung von Methylphenidat an Ratten vor der Pubertät die Ausreifung des Dopamin-
Neurotransmittersystems gehemmt wird. Die aufsteigenden dopaminergen Projektionen
entwickeln sich bis zur Pubertät. Danach verringert sich im natürlichen Verlauf die Dichte der
Dopaminsynapsen stetig. Es besteht bei früher Methylphenidatbehandlung also das Risiko,
daß im späteren Leben die Dopaminsynapsendichte früher zu einem kritischen Punkt kommt,
an dem Dopaminmangelsymptome ausgelöst werden. Überprüft wurde dies bisher noch nicht;
es gibt auch bei Menschen bisher keine Hinweise, daß im Alter häufiger Parkinson auftritt,
wenn in der Kindheit Methylphenidat eingenommen worden ist (Moll et al. 2001, Huether u.
Bonney 2002). Dennoch muß nach dem derzeitigen Wissensstand dieses Risiko auch bei
Kindern berücksichtigt werden, wenn Methylphenidat bei Personen verabreicht wird, die kein
verstärkt ausgebildetes dopaminerges System besitzen, d.h. bei unrichtiger Diagnosestellung,
und vielleicht auch bei sehr früher Verabreichung oder sehr hoher Dosierung.

Es gibt eine Reihe von Amphetaminderivaten, die als Psychostimulanzien eingesetzt werden
und sehr ähnliche pharmakologische Wirkungen wie Methylphenidat aufweisen. Hierzu
gehören die Amphetamine selbst, die als L-Amphetamin, D-Amphetamin oder D-L
Amphetamingemisch verabreicht werden können, Fenetyllin (Captagon), das teilweise zu
Amphetamin und teilweise zu Theophyllin metabolisiert wird, sowie Amfetaminil (AN1), das
im Kindesalter für diese Indikation nicht zugelassen ist (Tabelle 1). Die Medikamente gelten
als Mittel der zweiten Wahl und werden eingesetzt, wenn durch Methylphenidat keine oder
keine ausreichende Wirkung erreicht wird, oder erhebliche Nebenwirkungen auftreten. Ein
besonderer Vorteil der Amphetamine ist, daß sie eine deutlich längere Halbwertszeit besitzen,
d.h. nur maximal 2x am Tag eingenommen werden müssen. International wird auch gerne
Pemolin (Tradon) einsetzt, das kein Amphetaminderivat ist und bei dem toxische
Leberstörungen als Komplikationen beschrieben worden sind.

Andere Psychopharmaka
Für Non-Responder auf Methylphenidat, Amphetamin oder Amphetaminderivate stehen
weitere medikamentöse Behandlungsoptionen zur Verfügung (Tabelle 2); sie weisen darauf

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hin, dass nicht nur Störungen der monaminergen Neurotransmittersysteme ADHS
bedingen können. Die weiteren pharmakologischen Optionen sind generell deutlich
weniger wirksam, auch wenn Ihre Wirksamkeit in Studien evaluiert werden konnte. Daher
kann im Einzelfall bei Nichtansprechen auf die Amphetamine auf sie zurückgegriffen werden.
Allerdings soll ausdrücklich hervorgehoben werden, daß bei jedem medikamentösen
„Fehlschlag“ immer die Aufforderung besteht, die Diagnose erneut zu prüfen, evtl. auch eine
Therapiepause einzulegen usw. Vielfach ist eine stationäre Behandlung erforderlich, vor
allem, wenn zusätzliche Verhaltensstörungen und/oder Lernleistungsstörungen bestehen.

Neben den Psychostimulanzien, insbesondere den Amphetaminen kommen in Frage:


Adrenergika, Antidepressiva, insbesondere selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer, oder
gar Acetylcholinesterase-Inhibitoren. In dieser Reihenfolge wird die Wirkung auch immer
unwahrscheinlicher, bzw. beschränkt sich auf Einzelfälle. Die Verordnung dieser
Medikamente setzt besondere Erfahrung voraus und sollte sorgfältig abgewogen werden. In
der Regel ist dazu auch eine stationäre Behandlung erforderlich, um sich ein umfassendes
Bild zur Symptomatik und zum Behandlungserfolg verschaffen zu können.

Tabelle 1: AMPHETAMINE UND -DERIVATE


Ritalin, Medikinet (Methylphenidat)
DL-Amphetamin Saft,
Dexedrin (D-Amphetamin),
L-Amphetamin
Captagon (Fenetyllin)
AN 1 (Amfetaminil)

Tabelle 2: PHARMAKOTHERAPIE BEI ADHS


- Psychostimulanzien
Dopamin- und Noradrenalin- „Agonisten“
- Adrenergika
Alpha- (und Beta-)rezeptorblocker
- Antidepressiva
Trizyklische Anitdepressiva
Serotonin- „Agonisten“
- Sonstige
Acetylcholinesterase-Inhibitoren

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Literatur
Barkley R A (1997) Behavioral inhibition, sustained attention, and executive functions:
constructing a unifying theory of ADHD. Psychological Bulletin 121: 65-94

( Benkert O, Hippius H (1996) Psychiatrische Pharmakotherapie. 6. Aufl. Springer, Berlin


Heidelberg New York )

Hüther G, Bonney H (2002) ADS/ADHS: Neues vom Zappelphilipp. Walter Verlag, 2002

Moll GH, Mehnert C, Wicker M, Bock N, Rothenberger A, Rüther E, Huether G (2000) Age-
associated changes in the densities of presynaptic monamine transporters in different regions
of the rat brain from early juvenile life to late adulthood. Developmental Brain Research 119:
251-257

Moll GH, Hause S, Rüther E, Rothenberger A, Huether G (2001) Early methylphenidate


administration to young rats causes a persistent reduction in the density of striatal dopamin
tranporters. J Child and Adolescent Psychopharmacology 11:15-24

Moll GH, Heinrich H, Rothenberger A (2001) Transkranielle Magnetstimulation in der


Kinder- und Jugendpsychiatrie: Exzitabiltät des motorischen Systems bei Tic-Störungen
und/oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen. Zschr Kinder-Jugendpsychiatr
29:312-323

Schachar RJ, Tannock R, Mariott M, Logan G (1995) Deficient inhibitory control,


impulsivness in attention deficit hyperactivity disorder. J Abnormal Child Psychol 23:411-
438

Geänderte Version vom 7. 8. 2002

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