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Musikfreunde | Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Mai | Juni 2020

Ein Leben mit Beethoven


Daniel Barenboim

„Für mich war Beethoven immer einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Komponist ...“ Seit mehr als sechs
Jahrzehnten beschäftigt sich Daniel Barenboim mit Beethovens Klaviermusik. Bevor er im Musikverein alle Beethoven-
Klaviersonaten spielt, sprach er mit Julia Spinola über sein Leben mit Beethoven.

Mit erst 17 Jahren haben Sie in Tel Aviv Ihren ersten Zyklus sämtlicher Beethoven-Klaviersonaten öffentlich
gespielt. Wie war der Weg dorthin?
Die erste Sonate, die ich aufgeführt habe, war die Sonate in G-Dur, op. 14/2. Ich war ungefähr zehn Jahre alt. Etwa
vier Jahre darauf spielte ich mehrere Sonaten für das amerikanische Label Westminster ein: die „Pathétique“, die
„Mondscheinsonate“, die „Appassionata“, die „Waldstein-Sonate“ und die „Hammerklaviersonate“. Heute verstehe
ich, warum die Menschen damals erstaunt waren, dass ein so junger Pianist mit diesem Repertoire auftritt, aber
damals war es ganz selbstverständlich für mich. Ich hatte das große Glück, einen hochintelligenten Vater zu haben,
der auch mein Lehrer war. Er lehrte mich von Anfang an in und mit der Musik zu denken. Die meisten Pianisten
besitzen schon eine gewisse Lebenserfahrung, wenn sie beginnen, öffentlich aufzutreten. Und diese Lebenserfahrung
fließt dann in die Musik ein. Ich dagegen habe zuerst von der Musik, und ganz besonders von Beethoven, gelernt und
anschließend versucht, die aus der Musik gewonnenen Erfahrungen in mein Leben einzubringen. Ich bin also den
umgekehrten Weg gegangen. Aber für mich war er richtig.

Was kann man aus der Musik fürs Leben lernen?


Man lernt zum Beispiel in der Musik viel darüber, wie sich Konflikte auflösen lassen. Bestimmte Spannungen, die es
in der Musik gibt, brauchen Zeit und Ruhe, um sich aufzulösen. So ist es auch im Leben. Für mich war Beethoven
immer einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Komponist, sowohl im Studium als auch danach. Er ist ein
Symbol dafür, was Kunst ist. Er war ein unglaublich mutiger Komponist, der immer an die Grenzen gegangen ist und
darüber hinaus. Dieser Drang, bis zur Kante zu gehen, der erzeugt in seiner Musik eine ganz besondere Spannung.

Gab es damals Interpretationen von älteren Kollegen, die Sie bewundert haben oder von denen Sie sich bewusst
absetzen wollten?
Ich habe schon als Kind in Buenos Aires alle großen Pianisten gehört. Die drei wichtigsten Beethoven-Spieler waren
für mich Edwin Fischer und Claudio Arrau, die ich live erlebte, und Arthur Schnabel, dessen Aufnahmen ich kannte.
Ich habe damals auch eine große Liebe zu Artur Rubinstein entwickelt, aber zunächst weniger auf Beethoven
bezogen. In den siebziger Jahren habe ich dann als Dirigent mit ihm und dem London Philharmonic Orchestra die
Beethoven-Klavierkonzerte aufgenommen. Besonders interessant fand ich als Kind den Unterschied zwischen Edwin
Fischer und Arthur Schnabel. Schnabel wollte jeden einzelnen Gedanken der Sonaten artikulieren, er hat die Sonaten
auf eine sehr logische Weise durchdrungen. Dagegen wirkte Fischers Beethoven-Spiel geradezu kindlich-staunend
und einfach. Schnabels Aufnahmen erschienen mir mit den Jahren als etwas zu kalkuliert. Aber beide haben sie mich
sehr geprägt. Ich versuchte damals, die Logik von Schnabels Beethoven-Spiel nachzuvollziehen, um auf dieser Basis
die Einfachheit von Fischer zu suchen. Die Synthese aus beidem war schon als Kind als mein Ideal.

Sie haben die Sonaten immer in Ihrem Repertoire gehabt, unzählige Male aufgeführt und seit den sechziger
Jahren insgesamt vier Gesamteinspielungen auf CD aufgenommen, jeweils im Abstand von ungefähr zwanzig
Jahren. Sind die Sonaten in Ihren Augen so unerschöpflich, dass man in einer einzigen Interpretation nicht alles auf
einmal erfassen kann?
Das ist mit Sicherheit so, aber das gilt für jedes große Musikwerk. Das ist wie bei einem Berg, den man betrachtet:

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Eine Seite bleibt immer versteckt. Man muss um ihn herumgehen, um ihn ganz zu erkennen, aber dann verliert man
wieder eine andere Seite aus dem Blick. Auch in der Musik kann es keine Interpretation geben, die alle Facetten und
Aspekte eines Werks auf einmal erfasst.

Wie hat sich Ihr Beethoven-Spiel über die Jahre verändert?


Die Veränderungen erfolgten sehr allmählich und organisch. Wir aufführenden Musiker haben eine sehr privilegierte
Existenz: Jedes Mal, wenn wir ein Stück spielen, lernen wir wieder etwas Neues. Gleichzeitig müssen wir jedes Mal
wieder von null anfangen, denn der Klang ist flüchtig, er ist am Ende der Aufführung verschwunden. Es ist sehr
wichtig, den Notentext genau zu lesen – was oft nicht passiert – und Begründungen zu finden für das, was dort steht.
Warum steht hier ein Crescendo, warum dort ein Akzent? Auch wenn wir nie wissen werden, ob unsere Antwort der
Intention von Beethoven gleicht, ist entscheidend, dass wir eine Antwort finden. In einem Kurs, den ich gegeben
habe, fragte ich einen jungen Pianisten einmal, warum er an einer bestimmten Stelle ein Forte spiele, obwohl die
Partitur ein Piano verlangt. Er antwortete: Ich fühle es so. Ich habe ihm geantwortet, dass er dieses Recht nicht habe.

Zwischen Ihrer ersten und der zweiten Gesamteinspielung der Beethoven-Sonaten lag Ihre Entwicklung als
Dirigent. Wie hat das Dirigieren Ihr Klavierspiel beeinflusst?
Es hat mir erlaubt, mich selbst besser zu hören. Das Dirigieren zwingt einen, sehr genau zuzuhören. So fiel mir zum
Beispiel plötzlich auf, dass ich an bestimmten Stellen zu viel Pedal benutzt habe oder dass ich das Tempo an
manchen Stellen unwillentlich geändert habe. Das Dirigieren trainiert das Ohr ungemein.

Welchen Stellenwert haben die Klaviersonaten in Beethovens Gesamtwerk?


Im Œuvre aller Komponisten, die für mehrere Gattungen komponiert haben, gibt es ein oder zwei, die für sie wie
eine Art Tagebuch funktionieren. Bei Mozart sind es die Klavierkonzerte und die Da-Ponte-Opern. Bei Beethoven sind
es die Klaviersonaten und die Streichquartette. Dort war er total offen und hat sich am natürlichsten ausgedrückt.

Und wie würden Sie die kompositorische Entwicklung innerhalb der Sonaten skizzieren? Beethoven fängt ja an wie
Haydn ...
Ja, aber Achtung: Schon in der 3. Sonate blickt der langsame Satz sehr weit nach vorne, bis hin zu den letzten
Klaviersonaten. Und auch der langsame Satz der 4. Sonate könnte aus der späten Schaffensperiode stammen. Die
frühen Sonaten haben oft eine wunderbare Virtuosität im besten, also nicht oberflächigen Sinne des Wortes. In der
Sonate op. 10/3 ist wieder der langsame Satz ein Wunder: Da erklingt der Tristan-Akkord, unglaublich, schon im 18.
Jahrhundert! In Berlin habe ich die Sonaten gerade zum ersten Mal in chronologischer Reihenfolge gespielt. Das war
eine sehr interessante Erfahrung. In Wien spiele ich sie so, dass man an jedem Abend einen Eindruck des gesamten
Beethoven bekommen kann. Sonaten aus allen drei Schaffensperioden werden in den Konzerten jeweils kombiniert.

Haben Sie eine Lieblingssonate?


Nein, stellen Sie sich mal vor, was passieren würde, wenn ich jetzt antworten würde, die Sonate Nummer sowieso ist
meine Lieblingssonate, und Sie besuchen ein Konzert, in dem ich ausgerechnet dieses Stück nicht spiele! Aber es ist
die Wahrheit, ich habe tatsächlich keine Lieblingssonate. Ob einem eine der Sonaten zu einem bestimmten Zeitpunkt
gerade näher ist als eine andere, das hängt im Übrigen weniger mit den Stücken selbst zusammen als mit der
jeweiligen eigenen Verfassung.

Welche der Sonaten stellt pianistisch und musikalisch die größten Anforderungen?
Die Schwierigkeiten sind sehr unterschiedlich. Manch eine der frühen Sonaten ist spieltechnisch wirklich
anspruchsvoll: op. 2/3 zum Beispiel oder op. 10/3. Aber die „Hammerklaviersonate“ bleibt natürlich in jeder Hinsicht
eine Ausnahme, allein schon durch die Länge. Der langsame Satz dauert mehr als 20 Minuten, und man muss ihn
sehr strategisch aufbauen, um die Spannung zu halten – so wie Wilhelm Furtwängler einmal sagte, dass man beim
Spielen des ersten Akkordes immer den letzten schon hören müsse.

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Wie ist Ihre Einstellung zu den Metronomzahlen der „Hammerklaviersonate“?


Das Tempo ist vielleicht die allerwichtigste Entscheidung, die ein Musiker treffen kann, aber es muss die letzte sein.
Es gibt eine schöne Anekdote von Furtwängler: Sergiu Celibidache sprach ihn nach einer gemeinsamen Tournee
darauf an, warum er die fünfte Beethoven-Symphonie an unterschiedlichen Abenden in völlig unterschiedlichen
Tempi dirigiert habe. Und Furtwängler antwortete ihm: Natürlich, je nachdem wie es klingt! Tatsächlich muss man in
einer sehr trockenen Akustik schneller spielen als in einer Kathedrale. Daher kann das Metronom nur eine Idee
geben. Bei fast allen Komponisten sind die Metronomangaben ohnehin zu schnell, weil sie entstanden, bevor sie das
Werk gehört hatten. Pierre Boulez sagte mir einmal: Wenn ich komponiere, koche ich mit Wasser. Wenn ich
dirigiere, koche ich mit Feuer.

Welche Bedeutung hat es für Sie, Beethoven in Wien zu spielen?


Wien war die erste europäische Hauptstadt, in der ich als Kind gespielt habe. Das macht diese Konzerte für mich
emotional besonders wichtig. Ich war neun Jahre alt, als ich zum ersten Mal in Wien auftrat, das war damals im
Konzerthaus. Schon als Kind war Wien für mich etwas Außergewöhnliches, und das ist es immer geblieben. Der
Musikvereinssaal ist weltweit einer der schönsten Säle überhaupt. Er hat etwas Magisches.

Das Gespräch führte Julia Spinola.


Julia Spinola hat als Feuilletonredakteurin viele Jahre das Musikressort der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ geleitet
und lebt heute als selbstständige Musikkritikerin und Buchautorin in Berlin. Sie arbeitet hauptsächlich für die
„Süddeutsche Zeitung“, die „Neue Zürcher Zeitung“ und diverse Rundfunkanstalten.

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