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„Für mich war Beethoven immer einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Komponist ...“ Seit mehr als sechs
Jahrzehnten beschäftigt sich Daniel Barenboim mit Beethovens Klaviermusik. Bevor er im Musikverein alle Beethoven-
Klaviersonaten spielt, sprach er mit Julia Spinola über sein Leben mit Beethoven.
Mit erst 17 Jahren haben Sie in Tel Aviv Ihren ersten Zyklus sämtlicher Beethoven-Klaviersonaten öffentlich
gespielt. Wie war der Weg dorthin?
Die erste Sonate, die ich aufgeführt habe, war die Sonate in G-Dur, op. 14/2. Ich war ungefähr zehn Jahre alt. Etwa
vier Jahre darauf spielte ich mehrere Sonaten für das amerikanische Label Westminster ein: die „Pathétique“, die
„Mondscheinsonate“, die „Appassionata“, die „Waldstein-Sonate“ und die „Hammerklaviersonate“. Heute verstehe
ich, warum die Menschen damals erstaunt waren, dass ein so junger Pianist mit diesem Repertoire auftritt, aber
damals war es ganz selbstverständlich für mich. Ich hatte das große Glück, einen hochintelligenten Vater zu haben,
der auch mein Lehrer war. Er lehrte mich von Anfang an in und mit der Musik zu denken. Die meisten Pianisten
besitzen schon eine gewisse Lebenserfahrung, wenn sie beginnen, öffentlich aufzutreten. Und diese Lebenserfahrung
fließt dann in die Musik ein. Ich dagegen habe zuerst von der Musik, und ganz besonders von Beethoven, gelernt und
anschließend versucht, die aus der Musik gewonnenen Erfahrungen in mein Leben einzubringen. Ich bin also den
umgekehrten Weg gegangen. Aber für mich war er richtig.
Gab es damals Interpretationen von älteren Kollegen, die Sie bewundert haben oder von denen Sie sich bewusst
absetzen wollten?
Ich habe schon als Kind in Buenos Aires alle großen Pianisten gehört. Die drei wichtigsten Beethoven-Spieler waren
für mich Edwin Fischer und Claudio Arrau, die ich live erlebte, und Arthur Schnabel, dessen Aufnahmen ich kannte.
Ich habe damals auch eine große Liebe zu Artur Rubinstein entwickelt, aber zunächst weniger auf Beethoven
bezogen. In den siebziger Jahren habe ich dann als Dirigent mit ihm und dem London Philharmonic Orchestra die
Beethoven-Klavierkonzerte aufgenommen. Besonders interessant fand ich als Kind den Unterschied zwischen Edwin
Fischer und Arthur Schnabel. Schnabel wollte jeden einzelnen Gedanken der Sonaten artikulieren, er hat die Sonaten
auf eine sehr logische Weise durchdrungen. Dagegen wirkte Fischers Beethoven-Spiel geradezu kindlich-staunend
und einfach. Schnabels Aufnahmen erschienen mir mit den Jahren als etwas zu kalkuliert. Aber beide haben sie mich
sehr geprägt. Ich versuchte damals, die Logik von Schnabels Beethoven-Spiel nachzuvollziehen, um auf dieser Basis
die Einfachheit von Fischer zu suchen. Die Synthese aus beidem war schon als Kind als mein Ideal.
Sie haben die Sonaten immer in Ihrem Repertoire gehabt, unzählige Male aufgeführt und seit den sechziger
Jahren insgesamt vier Gesamteinspielungen auf CD aufgenommen, jeweils im Abstand von ungefähr zwanzig
Jahren. Sind die Sonaten in Ihren Augen so unerschöpflich, dass man in einer einzigen Interpretation nicht alles auf
einmal erfassen kann?
Das ist mit Sicherheit so, aber das gilt für jedes große Musikwerk. Das ist wie bei einem Berg, den man betrachtet:
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Eine Seite bleibt immer versteckt. Man muss um ihn herumgehen, um ihn ganz zu erkennen, aber dann verliert man
wieder eine andere Seite aus dem Blick. Auch in der Musik kann es keine Interpretation geben, die alle Facetten und
Aspekte eines Werks auf einmal erfasst.
Zwischen Ihrer ersten und der zweiten Gesamteinspielung der Beethoven-Sonaten lag Ihre Entwicklung als
Dirigent. Wie hat das Dirigieren Ihr Klavierspiel beeinflusst?
Es hat mir erlaubt, mich selbst besser zu hören. Das Dirigieren zwingt einen, sehr genau zuzuhören. So fiel mir zum
Beispiel plötzlich auf, dass ich an bestimmten Stellen zu viel Pedal benutzt habe oder dass ich das Tempo an
manchen Stellen unwillentlich geändert habe. Das Dirigieren trainiert das Ohr ungemein.
Und wie würden Sie die kompositorische Entwicklung innerhalb der Sonaten skizzieren? Beethoven fängt ja an wie
Haydn ...
Ja, aber Achtung: Schon in der 3. Sonate blickt der langsame Satz sehr weit nach vorne, bis hin zu den letzten
Klaviersonaten. Und auch der langsame Satz der 4. Sonate könnte aus der späten Schaffensperiode stammen. Die
frühen Sonaten haben oft eine wunderbare Virtuosität im besten, also nicht oberflächigen Sinne des Wortes. In der
Sonate op. 10/3 ist wieder der langsame Satz ein Wunder: Da erklingt der Tristan-Akkord, unglaublich, schon im 18.
Jahrhundert! In Berlin habe ich die Sonaten gerade zum ersten Mal in chronologischer Reihenfolge gespielt. Das war
eine sehr interessante Erfahrung. In Wien spiele ich sie so, dass man an jedem Abend einen Eindruck des gesamten
Beethoven bekommen kann. Sonaten aus allen drei Schaffensperioden werden in den Konzerten jeweils kombiniert.
Welche der Sonaten stellt pianistisch und musikalisch die größten Anforderungen?
Die Schwierigkeiten sind sehr unterschiedlich. Manch eine der frühen Sonaten ist spieltechnisch wirklich
anspruchsvoll: op. 2/3 zum Beispiel oder op. 10/3. Aber die „Hammerklaviersonate“ bleibt natürlich in jeder Hinsicht
eine Ausnahme, allein schon durch die Länge. Der langsame Satz dauert mehr als 20 Minuten, und man muss ihn
sehr strategisch aufbauen, um die Spannung zu halten – so wie Wilhelm Furtwängler einmal sagte, dass man beim
Spielen des ersten Akkordes immer den letzten schon hören müsse.
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