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Anna Schmid

Das Straßenkinderprojekt als Organisation


VS RESEARCH
Anna Schmid

Das Straßenkinderprojekt
als Organisation
Strukturen, Prozesse und Qualität
am Beispiel eines Heims in Brasilien

VS RESEARCH
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Dissertation Universität Zürich, 2007.


Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im
Sommersemester 2007 auf Antrag von Prof. Dr. Heinz Gutscher und Prof. Dr. Theo Wehner
als Dissertation angenommen.

1. Auflage 2010

Alle Rechte vorbehalten


© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

Lektorat: Verena Metzger / Dr. Tatjana Rollnik-Manke

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg


Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany

ISBN 978-3-531-17418-1
Este trabalho é dedicado aos meninos da Chácara em Quatro Pinheiros,
com muito carinho e com profunda gratidão pela acolhida
e por tudo que já me ensinaram sobre a vida,

e à memoria dos meninos da Chácara Anderson Amaral, Jocenan Biscarra,


Daniel Lopes Leão, Marcos Oliveira de Souza e José Ivan Vargas,
já falecidos.

Nunca desistam!
Vorwort

Mein erster Dank gilt meinen Doktorvätern Heinz Gutscher und Theo Wehner.
Sie haben das Nationalfondsprojekt, das dieser Studie zugrunde liegt, gemeinsam
mit mir eingegeben und es mit wissenschaftlicher Kompetenz und persönlichem
Interesse begleitet.
Ein besonderer Dank geht zudem an Riccardo Lucchini (Universität Fri-
bourg) für die freundliche und fachlich ausgezeichnete Beratung gerade auch in
der Anfangsphase der Forschungsgestaltung.
Besonders dankbar bin ich meinen gleichzeitig mit mir promovierten Kolle-
ginnen Katrin Wodzicki und Carmen Lebherz (†), deren Fachkompetenz, kriti-
sches Auge und grosse Hilfsbereitschaft dieser Arbeit in vielerlei Hinsicht zugu-
te gekommen sind. Weitere Kolleginnen und Kollegen an der Universität Zürich
und der ETH Zürich haben ebenfalls Feedback und einzelne Ideen beigetragen;
auch ihnen gebührt mein Dank. Den in Brasilien tätigen Professoren Geovanio
Edervaldo Rossato (Universidade Estadual de Maringá) und Araci Asinelli da
Luz (Universidade Federal do Paraná in Curitiba) danke ich für den interessanten
fachlichen Austausch.
Im Weiteren danke ich Ruedi Baumgartner, Walter Egli, Dieter Zürcher und
den weiteren Dozierenden des Nachdiplomstudiums für Entwicklungsländer
(Nadel, ETH Zürich) für die ausgezeichnete Schulung im Rahmen des Zertifi-
katslehrgangs. Mein Dank geht auch an Barbara Becker, Geschäftsführerin des
Nord-Süd-Zentrums der ETH Zürich, und ihrem Team, für ihre Beratung und die
Möglichkeiten, meine Arbeit einem grösseren Publikum vorzustellen. Dank
gebührt zudem den Professoren Manfred Max Bergman (Universität Basel) und
Véronique Mottier (University of Cambridge) für ihren exzellenten Kurs in qua-
litativen Forschungsmethoden. Alle diese Personen haben mir wichtige Kennt-
nisse und Ermutigung für meine Forschung vermittelt.
In Brasilien sei den vielen Personen herzlich gedankt, welche sich direkt
oder indirekt an der Forschungsarbeit beteiligt haben, in Interviews, Texten und
Gesprächen Auskunft gegeben oder aber mir auch Unterkunft, Beratung und
Einblick in die brasilianische Gesellschaft und Situation der Strassenkinder ge-
geben haben. Es sind dies in der Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros der
Leiter Fernando de Gois, frühere und gegenwärtige Vorstandsmitglieder, Ange-
stellte und Freiwillige sowie eine grosse Zahl ehemaliger und gegenwärtiger

7
Jungen, insbesondere auch jene, die als Mitglieder des Forschungsteams zusätz-
lich zu Gestalt und Inhalt der Forschung beigetragen haben. Besonders erwähnt
sein sollen hier auch Adilson Pereira de Souza und Júlio Cézar de Oliveira, wel-
che mir bereits als Jugendliche der Chácara im Alter von 11 bzw. 15 Jahren die
Situation der Strassenkinder besonders strukturiert näher brachten und nun als
junge Erwachsene wertvolle Impulse und Ratschläge zur vorliegenden For-
schungsarbeit beitrugen.
Dank gebührt auch zahlreichen Personen aus dem Netzwerk der Chácara,
darunter Olímpio de Sá Sotto Maior Neto, Generalstaatsanwalt von Paraná und
Spezialist für die Rechte des Kindes. Einen sehr herzlichen Dank spreche ich
zudem Ana Paula Döring, Hilda Romanowski Tratch und Evanir Turra aus für
ihre grosse Unterstützung meiner Tätigkeit im Rahmen der vorliegenden Arbeit.
Marianne Spiller und Heidi Wyss, Leiterinnen des Nachbarprojektes ABAI,
danke ich für interessante Gespräche.
Dem Schweizerischen Nationalfonds für die Wissenschaftliche Forschung
SNF und der White Emperor Foundation/Dr. Margrit Egnér-Stiftung gebührt
mein Dank für die finanzielle Unterstützung, ohne die das Forschungsprojekt
nicht hätte durchgeführt werden können, aber auch für den zuvorkommenden
Umgang und das persönliche Interesse am untersuchten Thema, das ich immer
wieder erfahren durfte.
Tatjana Rollnik-Manke danke ich herzlich für die professionelle Begleitung
der Publikation im VS Verlag für Sozialwissenschaften und Anja Steinhauer für
das Layout. Die Zusammenarbeit und der Austausch mit vielen Personen haben
schlussendlich zur vorliegenden Studie geführt und diese möglich gemacht und
werden, so hoffe ich, weitere Arbeiten in diesem Fachbereich ermöglichen. Ganz
am Anfang dieses Weges stehen meine Eltern Ursula und Fred W. Schmid-
Weidmann und meine Schwestern Regula Schmid Keeling und Barbara Schmid.
Ihnen darf ich nicht nur für grosse Unterstützung, sondern zusätzlich für Bera-
tung in mehreren Aspekten der Forschungsarbeit danken.

Anna Schmid

8
Inhalt

Vorwort............................................................................................................. 7

1 Einleitung .................................................................................................... 13
1.1 Ausgangslage der Studie ............................................................................ 14
1.1.1 Mängel in residentiellen Institutionen für Strassenkinder................. 14
1.1.2 Fehlendes Wissen über Organisation ................................................ 16
1.1.3 Fehlendes Wissen über Qualität ........................................................ 18
1.1.4 Die Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros ................................. 20
1.2 Forschungsziele und Forschungsfragen ..................................................... 24
1.3 Bedeutung und Beiträge der Forschungsarbeit .......................................... 25
1.4 Wissenschaftliche und materielle Rahmenbedingungen ............................ 27

2 Einführung in Themenbereiche und Theorie ........................................... 28


2.1 Brasilien ..................................................................................................... 28
2.2 Strassenkinder ............................................................................................ 31
2.2.1 Begrifflichkeiten und Zahlen ............................................................ 32
2.2.2 Lebenssituation, Eigenschaften und Wünsche .................................. 33
2.3 Strassenkinderprojekte ............................................................................... 41
2.4 Organisation ............................................................................................... 48
2.5 Qualität, Nachhaltigkeit und Entwicklung der Organisation ..................... 54
2.5.1 Qualität und Nachhaltigkeit .............................................................. 54
2.5.2 Organisationale Veränderung, Entwicklung und Qualität ................ 56
2.5.3 Organisationale Qualität und organisationales Lernen ..................... 58

3 Methodische Gestaltung der Studie .......................................................... 62


3.1 Anforderungen, Grenzen und Möglichkeiten der untersuchten
Organisation ............................................................................................... 63
3.2 Position der Forscherin .............................................................................. 65
3.2.1 Anforderungen .................................................................................. 65
3.2.2 Eigenschaften und Gestaltung........................................................... 66
3.3 Methodik .................................................................................................... 73
3.3.1 Einzelfallstudie ................................................................................. 73

9
3.3.2 Vereinbart und kommuniziert ........................................................... 75
3.3.3 Organisationspsychologisch ............................................................. 76
3.3.4 Praxis- und wissensorientiert ............................................................ 78
3.3.5 Qualitativ und primär induktiv.......................................................... 80
3.3.6 Partizipativ ........................................................................................ 82
3.4 Erhebungsmethoden................................................................................... 86
3.4.1 Einzelinterviews................................................................................ 87
3.4.2 Gruppeninterviews ............................................................................ 88
3.4.3 Gruppengespräche ............................................................................ 88
3.4.4 Texte und Gruppenübung der Jungen ............................................... 89
3.4.5 Tonaufnahmen öffentlicher Anlässe ................................................. 91
3.4.6 Sichtung administrativer Dokumente................................................ 91
3.4.7 Punktueller, illustrativer Beizug weiterer Materialien ...................... 91
3.5 Daten, Bearbeitung und Analyse ............................................................... 92
3.5.1 Datenumfang, Transkription und Übersetzung ................................. 92
3.5.2 Analyseprozess ................................................................................. 93
3.6 Wissenschaftliche Güte.............................................................................. 95
3.6.1 Gültigkeit .......................................................................................... 95
3.6.2 Zuverlässigkeit .................................................................................. 99
3.6.3 Repräsentanz ................................................................................... 101
3.7 Sicherheit und Ethik................................................................................. 103

4 Die Phänographie der Organisation Chácara ........................................ 105


4.1 Wurzeln der Organisation ........................................................................ 105
4.1.1 Bürgerinitiative in der Favela ......................................................... 107
4.1.2 Bürgerinitiative auf der Strasse ....................................................... 111
4.1.3 Kinder und Jugendliche auf den Strassen von Curitiba .................. 116
4.1.3.1 Anzahl, Geschlecht und Alter ............................................ 118
4.1.3.2 Lebensfelder....................................................................... 119
4.1.3.3 Kontext „Eigene Familie“ .................................................. 128
4.1.3.4 Gründe, auf die Strasse zu gehen, und Gründe, sie zu
verlassen............................................................................. 130
4.1.3.5 Kontext „Strasse“ ............................................................... 132
4.1.3.6 Erlebte Gesellschaft ........................................................... 135
4.1.3.7 Rollen, Aktivitäten und Fähigkeiten .................................. 138
4.2 Handlungsbasis ........................................................................................ 143
4.2.1 Stärkung und Entwicklung von Kenntnissen und Praxis ................ 144
4.2.2 Aktivierung der Kinder und Jugendlichen und Aufbau einer
gemeinsamen, solidarisch interagierenden Gruppe......................... 145

10
4.2.3 Stärkung und Förderung der Kinder und Jugendlichen .................. 147
4.2.4 Vorbereitung einer konkreten Lösung ............................................ 149
4.2.5 Organisationale Gemeinsamkeiten der vorbreitenden Phasen ........ 151
4.3 Zielgruppe und Ziele................................................................................ 153
4.3.1 Zielgruppe und Aufnahmekriterien ................................................. 153
4.3.1.1 Kinder und Jugendliche der Strasse ................................... 153
4.3.1.2 Jungen ................................................................................ 155
4.3.1.3 Alter ................................................................................... 157
4.3.1.4 Herkunft ............................................................................. 157
4.3.1.5 Freiwilligkeit ...................................................................... 158
4.3.2 Ziele ................................................................................................ 158
4.4 Struktur .................................................................................................... 171
4.4.1 Physische Struktur .......................................................................... 171
4.4.2 Soziale Grundkonzeption ................................................................ 178
4.4.3 Soziale Struktur............................................................................... 182
4.4.3.1 Akteure und weitere Beteiligte .......................................... 183
4.4.3.2 Position der Jungen ............................................................ 187
4.4.3.3 Bindungen und Beziehungen ............................................. 188
4.4.3.4 Zusammenfassung.............................................................. 196
4.5 Transformationsprozess ........................................................................... 198
4.5.1 Aktivitäten und Tätigkeitsfelder ..................................................... 198
4.5.2 Ausführungsmodalitäten ................................................................. 205
4.5.2.1 Partizipation ........................................................................ 207
4.5.2.2 Gegenseitige soziale Integration ......................................... 218
4.5.2.3 Evaluative Gestaltung der Handlung .................................. 225
4.5.3 Prozess ............................................................................................ 230
4.6 Die Organisation im Licht theoretischer Überlegungen .......................... 233
4.6.1 Strukturen, Prozesse und ihre Begründungen ................................. 235
4.6.2 Aspekte des Gestaltungsprozesses .................................................. 238

5 Organisation, Qualität und Nachhaltigkeit: Erkenntnisse und


Empfehlungen ........................................................................................... 241
5.1 Relevanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit .............................. 243
5.1.1 Relevanz ......................................................................................... 244
5.1.2 Effektivität ...................................................................................... 248
5.1.2.1 Aufnahme und Verbleib der Jungen in der Chácara ........... 251
5.1.2.2 Förderung der Fähigkeiten der Jungen ................................ 253
5.1.2.3 Stärkung der persönlichen Grundlagen der Jungen............. 257
5.1.2.4 Verbesserung der gesellschaftlichen Bedingungen ............. 259

11
5.1.3 Nachhaltigkeit ................................................................................. 262
5.2 Wahrgenommene Lebensqualität in der Organisation ............................. 267
5.3 Adaptivität der Organisation .................................................................... 276
5.3.1 Organisationsentwicklungszyklus................................................... 278
5.3.2 Organisationale Kapazität ............................................................... 283
5.3.3 Adaptivität als Qualitätsdimension ................................................. 285

6 Gute residentielle Projekte für Kinder und Jugendliche der Strasse


in Brasilien: Von den Forschungserkenntnissen zum
Organisationsleitfaden.............................................................................. 287
6.1 Generalisierbarkeit und Anwendbarkeit der Forschungserkenntnisse ......287
6.2 Leitfaden: So kann eine gute residentielle Organisation für Kinder
und Jugendliche der Strasse in Brasilien gestaltet werden ....................... 289
6.3 Drei wichtige ergänzende Bemerkungen zur Qualität ............................. 295
6.3.1 Relevanz: Der Unterschied zwischen Zementierung und
Linderung sozialer Ungleichgewichte ............................................ 295
6.3.2 Die „Hühnerzucht“ macht nicht den Unterschied zwischen einem
guten und einem schlechten Projekt................................................ 295
6.3.3 Qualität ist wichtig, Imperfektion auch........................................... 296

7 Abschluss und Ausblick............................................................................ 298


7.1 Erkenntnisse und Beitrag an Wissenschaft und Praxis ............................ 298
7.2 Weiterführende Schritte ........................................................................... 301

8 Bibliographie ............................................................................................. 304

9 Anhänge ..................................................................................................... 319


Anhang 1: Beteiligte und Arten der Beteiligung ........................................... 319
Anhang 2: Empfehlungen „Aprendendo com a Chácara“ –
„Von der Chácara lernen“ ............................................................. 321
Anhang 3: Die Studie in Kürze ...................................................................... 325
Anhang 4: O estudo em breve........................................................................ 326
Anhang 5: Study abstract ............................................................................... 328

12
1 Einleitung

Ein Bild, das ich nicht vergessen werde, stammt aus einem Projekt, welches von vie-
len Strassenkindern besonders gefürchtet wird. Kleine Buben unter 13 Jahren leben
dort hinter einer hohen Mauer in einer ehemaligen Villa. Diese ist innen kahl; es
riecht nach Urin. Die Buben tragen altmodische weinrote Kittel. Beim Essen ist es
verboten, zu sprechen. Ein uniformierter Polizist steht in bedrohlicher Pose daneben.
Eine von der Stadt zugeteilte „Betreuerin“ brüllt mit hasserfülltem Gesichtsausdruck
Befehle. Die Leiterin, eine engagierte Erzieherin, ist so vielen Vorschriften unter-
worfen, dass sie daran nichts ändern kann. Ein Bub zeigt mir in der Ecke des Gar-
tens, gleich bei der Mauer, eine grosse, starke Kiefer: „Hier können wir raus, wenn
es gar nicht mehr geht“. (Bericht der Autorin in ihrer früheren Rolle als Vereinsprä-
sidentin, Freunde brasilianischer Strassenkinder, Newsletter, Juli 1998, S. 4)

Diese Studie untersucht die Organisation von residentiellen Strassenkinder-


projekten in Brasilien anhand eines konkreten Falles und setzt sie in Bezug zu
Fragen der Qualität.
Hunderttausende Kinder und Jugendliche arbeiten und/oder leben in Brasi-
lien auf der Strasse. Entsprechend viele Strassenkinderprojekte gibt es, darunter
auch residentielle, in denen Kinder und Jugendliche wohnen. Die Qualität dieser
Projekte variiert stark; Beispiele wie das eingangs genannte sind nicht unge-
wöhnlich. Oft fehlen geeignete organisationale Strukturen und Prozesse, welche
sowohl die gute Qualität der Arbeit als auch die Beständigkeit und Entwick-
lungsfähigkeit der Projekte sichern würden. Viele Organisationen stehen ab ei-
nem gewissen – häufig sehr frühen – Punkt in ihrer Entwicklung still, brechen
gar zusammen, müssen geschlossen werden. Mängel der Organisation und der
Qualitätsorientierung eines Projektes gefährden dessen Effektivität und Fortbe-
stand oft noch stärker, als dies Geldmangel und äussere Einflussnahmen oder
sogar Bedrohung ohnehin schon tun.
Die vorliegende Arbeit präsentiert die Ergebnisse des Forschungsprojekts
„Nachhaltige Führung und Organisationsentwicklung von Strassenkinderprojek-
ten in Brasilien“. Dieses wurde von der Autorin von August 2002 bis Juli 2006
durchgeführt, mit der Absicht, einen Beitrag zur Verbesserung der Organisation
und Qualität von Institutionen in Brasilien zu leisten, welche auf der Strasse
lebende Kinder und Jugendliche aufnehmen. Diese Organisationsart wurde bis-
her noch nie einer organisationspsychologischen Analyse unterzogen. Geschehen

13
sollte dies nun mittels einer empirischen Untersuchung der „Chácara der Jungen
von Quatro Pinheiros“, eines aus einer Basisbewegung in einer Armensiedlung
entstandenen Projekts für Jungen der Strasse nahe der Zweimillionenstadt Curi-
tiba im Süden Brasiliens. Dieses wird von Strassenkindern, Fachleuten und Me-
dien wegen seiner Arbeitsweise und seinen Resultaten häufig als besonders „gu-
tes“ Projekt bezeichnet.

1.1 Ausgangslage der Studie

Es sind vier Aspekte, welche zur Konzipierung und Durchführung des For-
schungsprojektes geführt haben, nämlich:

ƒ Gesetzesverstösse und andere gravierende Mängel in Institutionen, welche


in Brasilien Kinder und Jugendliche der Strasse aufnehmen, und das wach-
sende Interesse von brasilianischen Projektmitarbeitenden, Fachleuten und
„Policy Makers“ für Fragen der Qualität solcher Institutionen.
ƒ Der noch wenig entwickelte fachliche Diskurs über Qualität in solchen
Institutionen und insbesondere das Fehlen von Positiv-Definitionen von
Qualität sowie von Erkenntnissen darüber, wie Strukturen und Prozesse der
Organisation gestaltet sein können, um gute Qualität zu begünstigen.
ƒ Das Fehlen von empirischen Organisationsanalysen, und damit des Wissens
um die spezifischen organisationalen Strukturen und Prozesse von Instituti-
onen, welche in Brasilien und anderswo Kinder und Jugendliche der Strasse
aufnehmen.
ƒ Die Existenz der „Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros“. Diese wird
von Fachleuten und Beteiligten häufig als qualitativ besonders gut bezeich-
net, wurde jedoch nie empirisch beschrieben.

Diese Aspekte sollen nun näher besprochen und die daraus resultierenden For-
schungsfragen dargestellt werden.

1.1.1 Mängel in residentiellen Institutionen für Strassenkinder

Gemäss Silva (2004) gibt es in Brasilien über 3'000 Kinderwohnheime, Waisen-


häuser und Erziehungsanstalten (zusammengefasst als „Abrigos“ bezeichnet), in
welchen über 100'000 Kinder und Jugendliche leben. Mehr als die Hälfte davon
sind Strassenkinder, also Kinder und Jugendliche, die weniger als 18 Jahre alt
sind und sich zuvor einen Grossteil der Zeit auf der Strasse aufhielten oder gar

14
dort lebten. Wie für alle Kinder und Jugendlichen gilt auch für sie die seit 1990
in Brasilien gültige Gesetzgebung über die Rechte des Kindes, welche im Kin-
derrechtstatut (Estatuto da Criança e do Adolescente, ECA) festgehalten ist.
Diese umfassende Gesetzessammlung ist auf folgende Grundsätze ausgerichtet:

Art. 3. Without prejudice to the full protection treated of in this Law, the child and
adolescent enjoy all the fundamental rights inherent to the human person and, by law
or other means, are ensured of all opportunities and facilities so as to entitle them to
physical, mental, moral, spiritual and social development, in conditions of freedom
and dignity.

Art. 4. It is the duty of the family, community, society in general and the public au-
thority to ensure, with absolute priority, effective implementation of the rights to
life, health, nutrition, education, sports, leisure, vocational training, culture, dignity,
respect, freedom and family and community living.

The guarantee of priority encompasses:


a) precedence in receiving protection and aid in any circumstances;
b) precedence in receiving public services and those of public relevance;
c) preference in the formulation and execution of public social policies;
d) privileged allocation of public resources in areas related to the protection
of infancy and youth.

Art. 5. No child or adolescent will be subject to any form of negligence, discrimi-


nation, exploitation, violence, cruelty and oppression, and any violation of their fun-
damental rights, either by act or omission, will be punished according to the terms of
the Law.

Art. 6. The social ends towards which this Law is directed, the requirements of the
common good, individual and collective rights and duties, and the peculiar condition
of children and adolescents as persons in development will be given due conside-
ration in construing this Law. (www.eca.org.br/ecai.htm, 24.7.2004. Kommentierter
Text in Originalsprache: Cury, Amaral e Silva & Mendez, 1992)

Im Rahmen einer von der brasilianischen Regierung in Auftrag gegebenen Un-


tersuchung von 589 – also etwa einem Fünftel – der genannten Institutionen,
stellte die Forschergruppe um Silva (2004) fest, dass viele von ihnen von einer
Fokussierung auf die Grundsätze des Kinderrechtsstatuts noch weit entfernt seien
und einem alten Modell der Internierung und Disziplinierung anhingen. So gab
mehr als die Hälfte der befragten leitenden Verantwortlichen an, die Vorschriften
des brasilianischen Kinderrechtsstatuts ECA zu kennen, diese in ihren Institutio-
nen jedoch bisher nicht umgesetzt zu haben.

15
Im Juni 2006 wurden zudem die Ergebnisse der ebenfalls von der brasilianischen
Regierung ausgelösten unabhängigen Inspektion von 30 staatlichen Erziehungs-
anstalten1 bekannt (Conselho Federal da Ordem dos Advogados do Brasil &
Conselho Federal de Psicologia, 2006). Diese kritisierten Überbelegung, Mangel
an adäquater Infrastruktur, Nichtentlassung nach Ablauf der gesetzlich vorge-
schriebenen maximalen Internierungsdauer sowie Mangel an schulischen Mass-
nahmen, Berufsbildung und rechtlicher Unterstützung. In 56% der untersuchten
Institutionen wurde zudem berichtet, dass Kinder und Jugendliche von Ange-
stellten geschlagen würden.
Es sind nicht nur diese aktuellen Studien, welche von Mängeln berichten.
Während der Feldforschung erlebte die Autorin im April 2004, wie ein etwa 14-
jähriger Junge2, der zum Kennenlernen in die Chácara kam, panisch und tränen-
überströmt auf den Stufen eines der Häuser stehen blieb und um keinen Preis
eintreten wollte. Nach einigem Zureden sagte er, er habe Angst, hier, wie in all
den bisherigen Institutionen, wieder vergewaltigt zu werden. Bereits in dem
Projekt lebende Jungen berichteten der Autorin danach, bei ihrem Eintritt eben-
falls zunächst gefürchtet zu haben, wiederum physische und sexuelle Gewalt
durch andere Jungen sowie durch Mitarbeitende zu erleben. Der Autorin sind seit
dem Jahr 1995 nicht nur von betroffenen Kindern und Jugendlichen, sondern
zum Teil auch von Institutionsmitarbeitenden und externen Fachleuten häufig
und regelmässig zuverlässige Berichte über von Mitarbeitenden und Betreuten
ausgeübte physische und sexuelle Gewalt, Vernachlässigung und Mangel an
Förderung in staatlichen und nicht-staatlichen – darunter auch kirchlichen –
Institutionen zugetragen worden.

1.1.2 Fehlendes Wissen über Organisation

Wie in Kapitel 2 weiter ausgeführt wird, konnte in der deutsch-, englisch-, por-
tugiesisch-, französisch- und spanisch-sprachigen Literatur keine eingehende
organisationspsychologische Beschreibung einer residentiellen Institution gefun-
den werden, welche in Brasilien oder anderswo Kinder und Jugendliche der
Strasse aufnimmt.

1
Unidades de internação de adolescentes em conflito com a lei, unter anderem auch “Educan-
dários” (Erziehungsanstalten) oder “FEBEM” (Fundação Educacional do Bem Estar do Menor)
genannt. Diese nehmen straffällig gewordene Minderjährige im Alter von 12 bis 18 Jahren auf,
darunter je nach Institution viele Strassenkinder, welche kleinere Vergehen, wie zum Beispiel
Taschendiebstahl, begangen haben.
2
In der vorliegenden Arbeit wird immer das Alter des Jungen zum Zeitpunkt des erwähnten Er-
eignisses bzw. Zitats genannt.

16
Miranda und Stoltz (1999) beschreiben in ihrem Buch die pädagogische Arbeit
der im Rahmen der vorliegenden Studie zu untersuchenden Chácara. Sie geben
zahlreiche Hinweise zur Organisation des Projektes in den ersten Jahren, dies auf
eine eher anekdotische Weise, aber mit einem Auge für die hauptsächlichen
Prozesse. So wird angemerkt, wer gewisse Themen aufbrachte, wer darüber
entschied und wie etc. Eine ähnliche Publikation ist Swifts „Children for Social
Change“ (1997), welche die Arbeit des Salesianer-Ordens in der „Republik von
Emmaus“ in Belém do Pará beschreibt. Diese Darstellung enthält Hinweise zur
Rolle des Gründers Padre Bruno und seiner Mitstreiter sowie zu einer Anzahl
organisatorischer Themen, welche in der 25-jährigen Geschichte des Projektes
aufgetaucht sind, analysiert diese jedoch nicht weiter. So wird zum Beispiel der
Ablösungsprozess des Gründervaters Padre Bruno vom Projekt – ein wichtiger
wie kritischer Moment einer jeden Organisation – wohl genannt, aber nicht wei-
ter beschrieben.
Es gibt wohl einige Literatur über die Führung und Verwaltung von Nicht-
regierungsorganisationen; diese übernimmt jedoch vorwiegend die Erkenntnisse,
welche Management- und Organisationslehre zumeist in Grossbetrieben im In-
dustrie- oder Dienstleistungssektor in Europa oder Nordamerika gewonnen ha-
ben. Im Weiteren beschränkt sie sich zumeist auf einzelne Aspekte der Adminis-
tration und richtet sich nicht auf das Wesen und Funktionieren einer Organisati-
on als Ganzes aus.
Aufgrund der Kontingenz-Theorie der Organisation (siehe Rollinson &
Broadfield, 2002, S. 512), welche in Kapitel 2 näher besprochen wird, muss
jedoch angenommen werden, dass solche Erkenntnisse nicht eins zu eins auf
Organisationen wie Institutionen für Kinder und Jugendliche der Strasse in Bra-
silien übertragen werden können, da sich diese in anderen kulturellen, wirtschaft-
lichen, sozialen und politischen Kontexten befinden und andere Aufgaben und
Ziele haben. So stehen auch keine empirisch gewonnenen Erkenntnisse zur Ver-
fügung, welche zu einer Stärkung des Bewusstseins für organisationale Aspekte
und Qualität im Fachdiskurs, aber auch in der Praxis solcher Institutionen dienen
könnten. Bei der Mitarbeit beim Aufbau eines (in dieser Studie nicht beschriebe-
nen) residentiellen Projektes für Kinder und Jugendliche sowie bei der Lektüre
der Literatur über die Arbeit mit Kindern der Strasse hat die Autorin zudem den
Eindruck gewonnen, dass der Fokus der Aufmerksamkeit zumeist auf der Bezie-
hung zwischen Institution und Betreuten liegt – sei dieser lediglich verwaltend
oder pädagogisch gestaltet –, dass aber der weitere institutionelle, organisatori-
sche Kontext kaum in Überlegungen und Diskurs einbezogen wird. Eine Wahr-
nehmung von solchen Institutionen als Organisationen mit bestimmten struktu-
rellen und prozessualen Charakteristika scheint häufig nicht vorhanden zu sein.

17
1.1.3 Fehlendes Wissen über Qualität

In brasilianischen Zeitungen und Zeitschriften wird die Qualität von Organisati-


onen, welche unter anderem Strassenkinder aufnehmen, häufig dann thematisiert,
wenn schwerwiegende Probleme wie Todesfälle und Misshandlungen in Erzie-
hungsanstalten an die Öffentlichkeit dringen, so zum Beispiel im Fall der „Päda-
gogischen Stiftung für das Wohlergehen des Minderjährigen“ (Fundação
Educacional do Bem Estar do Menor, FEBEM) in São Paulo. Unter anderem im
Jahr 1999 berichtete eine der meistgelesenen Zeitschriften Brasiliens ausführlich,
wie die mehreren hundert minderjährigen Internierten gegen 16 Stunden am Tag
nur mit Shorts bekleidet in Reihen und mit erhobenen Händen auf dem Betonbo-
den sitzen mussten, sich nicht miteinander unterhalten und während des Tages
nur zweimal zur Toilette gehen durften. Detailliert wurden ausserdem von Auf-
sehern angewandte Foltermethoden beschrieben. In einem Interview in der glei-
chen Zeitschrift bezeichnete der Präsident der Gewerkschaft der Aufseher die
Institution als „Konzentrationslager“. Zur Zeit der Berichterstattung schoss die
Polizei auf die Eltern der Jugendlichen, welche sich während einer Rebellion in
der Institution, beunruhigt um das Wohl ihrer Söhne, ausserhalb der Mauern
versammelt hatten. 600 Jugendliche flohen, wenig später kamen bei weiteren
Unruhen vier Jugendliche ums Leben. (Klintowitz, 1999; Silva, 1999; Veja,
1999; Folha do Paraná, 26.10.1999, 27.10.1999a, 27.10.1999b; Nunomura &
França, 3.11.1999; Zakabi, 3.11.1999)
Ein neuerer, ebenfalls in den Medien thematisierter Fall sind die Unruhen in
der Jugenderziehungsanstalt Educandário São Francisco in Curitiba, welche im
September 2004 sieben Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren das Leben
kosteten (Gueths, 25.9.2004; Taborda, 26.9.2004). In jenem Moment wurden
dort 237 Jugendliche in der für 150 Jugendliche vorgesehenen Institution festge-
halten. Der Sekretär für Arbeit, Beschäftigung und soziale Förderung von Paraná
und damit oberster Vorgesetzter der Institution konstatierte in einem Zeitungsar-
tikel, dass die Angestellten der Institution sowohl durch ihr Handeln als auch
durch ihre Unterlassungen die Schuld für den Tod der Jugendlichen trügen
(Ciranda, 26.9.2005). Bereits ein Jahr früher hatte er an einer von ihm organi-
sierten Konferenz3 gefordert, dass zur Verbesserung der mangelhaften Situation
im Educandário São Francisco sieben neu zu errichtende Institutionen für ju-
gendliche Straftäter (darunter viele Strassenkinder) errichtet werden sollten:

3
Vortrag des Sekretärs für Arbeit, Beschäftigung und soziale Förderung des Teilstaates Paraná.
Konferenz Medidas Sócio Educativas des Núcleo de Coordenação Estadual da Assistência Social
der Secretaria de Estado do Trabalho, Emprego e Promoção Social. Curitiba, PR, 7. –
18.11.2003.

18
Wir setzen auf alternative Strafen. [Die Institutionen] werden von kleiner Dimension
sein. Ihr Ziel soll es sein, die Minderjährigen wieder herzustellen (recuperar) und sie
von neuem in die Gesellschaft einzufügen. Die physische Struktur wird anders sein
als die heute vorhandene, und die psychopädagogischen Methoden, welche ange-
wendet werden, sind auch anders als die heute benützten. (Bordinhão, 18.11.2003)4

Er äusserte sich jedoch bei dieser Gelegenheit nicht dazu, was konkret unter
einer „Wiederherstellung“ und „Wiedereinfügung“ der Kinder und Jugendlichen
zu verstehen sei, und wie diese „anderen“ Strukturen und Methoden auszusehen
hätten. Die bereits erwähnte, mehr als zwei Jahre nach den Todesfällen landes-
weit durchgeführte Inspektion der Bundesregierung kritisierte im März 2006 das
Educandário São Francisco nach wie vor wegen der ungenügenden Ausbildung
seiner Mitarbeitenden, der Unterbindung des Kontaktes zwischen den Betreuten
und ihren Familien, aber auch wegen mangelnder Hygiene aufgrund geborstener
Leitungen sowie ungenügender Versorgung mit Strom und Licht (Conselho
Federal da Ordem dos Advogados do Brasil & Conselho Federal de Psicologia,
2006; Pereira, 2.6.2006).
Häufig fehlt ein fachlich fundierter und vor allem auch ein in praktische
Handlungen mündender Diskurs über die organisationale Gestaltung und Quali-
tät solcher Institutionen. Sowohl an der bereits genannten Konferenz, an der
Mitarbeitende der staatlichen Sozialarbeit teilnahmen, als auch an einer Anzahl
weiterer von der Autorin besuchter Konferenzen drehte sich der Diskurs beinahe
ausschliesslich darum, dass es genügend Institutionen geben müsse, in die man
Kinder und Jugendliche einweisen könne, und dass es mehr Geld brauche, um
die dort arbeitenden Personen (zu welcher Gruppe die meisten Teilnehmenden
dieser Konferenzen gehörten) zu bezahlen5.
Besonders fehlen auch Positiv-Definitionen von Qualität. Natürlich sind
Aspekte wie Unruhen und Folterungen in Institutionen für Kinder und Jugendli-
che der Strasse als qualitativ ausserordentlich negativ zu beurteilen. Es ist jedoch
einsichtig, dass gute Qualität in einer Organisation mehr ist als Abwesenheit von
Gesetzesverletzungen. Über die Vorschriften des brasilianischen Kinderrechts-
statutes und Ansprüche bezüglich finanzieller Effizienz seitens von staatlichen
Kontrollorganen hinaus konnten jedoch in der Literatur keine systematisch be-

4
Texte in portugiesischer, spanischer und französischer Sprache werden jeweils in der deutschen
Übersetzung der Autorin wiedergegeben, Texte deutscher und englischer Sprache im Original.
5
IV Conferência Estadual dos Direitos da Criança e do Adolescente: Pacto pela Paz -
Uma Construção Possível. Konferenz des Conselho Estadual dos Direitos da Criança e do
Adolescente und der Secretaria do Trabalho, Emprego e Promoção Social do Paraná. Curitiba,
PR, 15. – 18.10.2003. Encontro Macro-Regional Infância e Juventude – Violência e Violação
dos Direitos. Konferenz der Universidade Estadual de Maringá (UEM) und dem Centro
Universitário de Maringá (CESUMAR). Maringá, PR, 30.10.2003.

19
schriebenen Aspekte von guter Qualität in derartigen Organisationen gefunden
werden.
Zusätzlich zu Definitionen von Qualität fehlen auch Erkenntnisse darüber,
wie organisationale Strukturen und Prozesse gestaltet sein können, um guter
Qualität zuträglich zu sein. Wenn neue Institutionen für Kinder der Strasse auf-
gebaut oder bestehende umgewandelt werden sollen, scheint es jedoch wichtig,
dass nicht nur Aspekte von Qualität im Sinne von Standards definiert werden,
sondern dass auch Überlegungen gemacht werden, wie die Organisation gestaltet
werden könnte, damit sie diese erreichen kann.

1.1.4 Die Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros

Frage: Was würdest Du jemandem über die Chácara und ihre Arbeit sagen, der sie
noch nicht kennt?
Antwort: Ich würde sagen, dass sie ein interessantes Projekt ist, in dem Veränderun-
gen stattfinden, und dann würde ich uns selbst als Beispiel erwähnen, wie wir uns
verändert haben. (20-jähriger Junge6, Eintritt Chácara 1994, zum Zeitpunkt der Be-
fragung Student der Betriebswirtschaft und Erzieher der Chácara, Interview,
27.3.2003)

Es sind nicht nur Defizite wie Missstände in Institutionen für Kinder der Strasse
und das Fehlen von Organisationsanalysen solcher Institutionen, welche zur
vorliegenden Forschungsarbeit geführt haben, sondern auch die Existenz eines
Projektes für Jungen der Strasse nahe der Stadt Curitiba im Süden Brasiliens,
welches seit dem Jahr 1993 besteht und sich stetig weiter entwickelt hat, sowie
der privilegierte Zugang der Autorin zu demselben.
Die „Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros“ der Stiftung „Fundação
Educacional Meninos e Meninas de Rua Profeta Elias“ liegt abgelegen am Rande
des ländlichen Weilers „Quatro Pinheiros“7 beim Ort Mandirituba8, der sich eine
gute Stunde Autofahrt südlich von Curitiba befindet. Curitiba ist die Hauptstadt
und mit 2.7 Millionen Einwohnern9 grösste Stadt des südbrasilianischen Staates
Paraná.

6
Das angegebene Alter bezieht sich immer auf den Zeitpunkt der Entstehung des zitierten Textes.
7
„4 Pinien“.
8
Im Jahr 2000 hatte Mandirituba im Dorfkern 6'268 und in den vielen, zum Teil recht weit ent-
fernten Weilern weitere 11'272 Einwohnerinnen und Einwohner (http://www.pr.gov.br/comec/
ormc.html, 18.8.2005).
9
Diese Zahl bezieht sich auf die „Região Metropolitana de Curitiba“, das heisst, auf Stadt und
Agglomeration.

20
Abbildung 1: Lokalisierung der Chácara

Die Chácara besteht seit dem Jahr 1993 und wird von Strassenkindern, Fachleu-
ten und Medien häufig als besonders gutes Projekt bezeichnet. So veröffentlich-
ten lokale, regionale und nationale brasilianische Medien, darunter auch Fach-
medien, seit der Gründung der Chácara im Oktober 1993 über 100 positiv formu-
lierte Artikel über deren Arbeit. Allein im ersten Halbjahr 2006 wurde das Pro-
jekt zum Beispiel in der Zeitschrift des Verbandes der Magistraten des Staates
Paraná (Novos Rumos, April/Mai 2006), welche unter anderem an alle Richte-
rinnen und Richter verteilt wird, sowie in der hauptsächlichen, landesweit ver-
teilten pädagogischen Zeitschrift (Profissão Mestre, März 2006) sehr positiv
beschrieben. In dieser hiess es dabei über die Arbeit der Chácara: „Auch dies ist

21
ein Weg, Brasilien zu verändern.“ (S. 5). Im gleichen Jahr wurde das Projekt in
einer Zeitschrift der Katholischen Universität in Curitiba (Comunicare, Mai
2006) auf über 16 Seiten ausführlich dargestellt.
Im Weiteren ist die Chácara in einer Anzahl von Gruppierungen engagiert,
welche sich für die Rechte des Kindes und ähnliche Themen einsetzen, und wird
sie immer häufiger auch von Behördenmitgliedern beigezogen, wenn es um die
Beurteilung von Umständen in Institutionen in Curitiba und Region oder um die
Selektion, Schulung oder (notfallmässige) Zurverfügungstellung sowie Vermitt-
lung von geeigneten leitenden Personen oder Mitarbeitenden geht. So konnte sie
zum Beispiel aufgrund ihrer eigenen Initiative und nach Vereinbarung mit dem
zuständigen Sekretär für Arbeit, Beschäftigung und soziale Förderung des Staa-
tes Paraná wenige Tage nach den Todesfällen in der Jugendstrafanstalt
Educandário São Francisco in Zusammenarbeit mit einer Pädagogikprofessorin
und einem benachbarten Kinderprojekt10 eine Schulung mit Selbstevaluations-
elementen mit den Angestellten des Educandários durchführen. Ein weiteres
Beispiel ist ein pädagogischer Fachkurs nach den „Vier Pfeilern der Erziehung“
der Unesco („Lernen des Seins, Lernen des Zusammenlebens, Lernen des Wis-
sens und Lernen des Tuns“), welchen die Chácara vom April bis Dezember 2006
zusammen mit der Universidade Federal do Paraná für Mitarbeitende von Pro-
jekten, Institutionen und Sozialbehörden anbot.
Seit ihrer Gründung im Jahr 1993 sind zudem um die 20 wissenschaftliche
Forschungsarbeiten verschiedener brasilianischer Universitäten sowie der Uni-
versitäten von Barcelona und Zürich zumeist zu pädagogischen (und mit Aus-
nahme der vorliegenden Arbeit nicht zu organisatorischen Themen) in der
Chácara durchgeführt worden (der Autorin liegen vor: Bona (2005), Fritz (1998),
Miranda (2001), Oliveira (2001), Rigoni (1999), Rossato (2001, 2003a+b), Tei-
xeira (2003), Tratch, Guedes & Hilgemberg (1998), Turra (1995), Wal et al.
(1998)). Im Jahr 1996 gewann die Chácara zudem zwei Professorinnen dafür,
unter Mitarbeit erwachsener Beteiligter der Chácara ein Buch über deren Entste-
hungsgeschichte, Grundsätze und pädagogisches Konzept zu schreiben, welches
von der Unicef unterstützt und finanziert sowie mit einem Vorwort ausgestattet
wurde (Miranda & Stoltz, 1999). Gleichzeitig wurde ein Buch der damals in der
Chácara lebenden Jungen veröffentlich, in dem sie über ihr Leben vor und auf
der Strasse sowie in der Chácara berichteten (Fundação Educacional Meninos e
Meninas de Rua Profeta Elias, zit. als Fundação E., 1999).

10
Associação Brasileira de Amparo à Infância (ABAI), 1979 von der Schweizerin Marianne
Spiller, einer der 2005 für den Friedensnobelpreis nominierten „1000 Frauen für den Frieden“,
zusammen mit einem lokalen Team gegründet. Vor dem Aufbau der ABAI hatte sie in Paris mit
Obdachlosen gearbeitet, in der Organisation Emmaus des „Vaters der Armen“ Abbé Pierre.

22
Der privilegierte Zugang der Autorin zur Chácara war ein weiterer Grund, diese
für die vorliegende Untersuchung zu wählen, hatte sie doch vor Beginn der For-
schungsarbeit bereits seit sieben Jahren als Leiterin des Schweizer Unterstüt-
zungsvereins mit der Chácara und als Freiwillige in dieser gearbeitet.11
Anlass für die Wahl der Chácara war schliesslich auch das Interesse ihrer
Mitglieder am Forschungsvorhaben. Dieses entstand nach zahlreichen Gesprä-
chen mit dem Koordinator, Erziehenden und Jungen der Chácara sowie ausge-
hend von den praktischen Erfahrungen und Beobachtungen der Autorin in ihrer
früheren Arbeit mit der Chácara. Das Interesse für das Thema und der Zeitpunkt
der Untersuchung ergaben sich unter anderem aufgrund von drei Aspekten im
Entwicklungsstand der Chácara:

ƒ Die Chácara näherte sich ihrem zehnten Geburtstag und fand immer mehr
Interesse bei Behörden und Mitarbeitenden anderer Institutionen, was sich
in der stetigen Zunahme von Besuchern aus Fachkreisen in der Chácara
zeigte. Viele dieser Besucher stellten die Frage, was sie tun müssten, um ei-
ne ähnliche Organisation wie die Chácara aufzubauen, was zum Bedürfnis
der Chácara führte, über eine empirische Untersuchung und Publikationen
zu diesem Thema zu verfügen.
ƒ Eine grosse Gruppe von Jungen, welche in den Jahren 1993 bis 1996 einge-
treten waren, war erwachsen geworden und stand vor dem Übertritt in ein
eigenständiges Erwachsenenleben. Einige Jungen arbeiteten als Erziehende
in der Chácara oder zeigten Interesse an dieser Tätigkeit, und ein Junge hat-
te die Absicht, ein eigenes Projekt aufzubauen. Entsprechend zeigte eine
Anzahl erwachsener „Jungen“ zunehmend Interesse an organisatorischen
Fragen, welche sie unter anderem auch mit der Autorin diskutierten.
ƒ Der Chácara stand mit einer Verdoppelung der Anzahl aufgenommener
Jungen von etwa 40 auf über 80 das grösste Wachstum ihrer bisherigen
Existenz bevor. Zusammen mit dem zehnten Geburtstag rief diese Verände-
rung unter allen Beteiligtengruppen der Chácara die Frage nach der Identität
der Organisation hervor und danach, wie diese sich entwickeln müsse, um
dieses Wachstum zu bewältigen und ihren spezifischen Charakter und ihre
Grundwerte nicht zu verlieren.

So bestand einerseits ein echtes Bedürfnis sowohl in der Chácara als auch ausserhalb,
wissenschaftliche Erkenntnisse über deren Organisation zu gewinnen und sie diesbe-
züglich zu beschreiben, und anderseits ein besonderes Interesse und eine besondere
Motivation der Beteiligten der Chácara, sich mit diesem Thema zu beschäftigen.

11
Auf Zugang und Position der Forscherin wird in Kapitel 3.2 vertieft eingegangen.

23
1.2 Forschungsziele und Forschungsfragen

Vor dem geschilderten Hintergrund ist die Absicht entstanden, einen Beitrag zur
organisatorischen Gestaltung und Qualität von residentiellen Institutionen für
Kinder und Jugendliche der Strasse zu leisten. Dieser Beitrag sollte möglichst
praxisorientiert sowie situations- und lokationsgerecht und damit auch für Prak-
tiker und andere Fachleute glaubwürdig und anwendbar sein, welche sich in der
Region mit solchen Institutionen beschäftigen.
Es ist das erste Mal, dass ein Strassenkinderprojekt einer organisationspsy-
chologischen Analyse unterzogen wird. Organisation und Qualität sind im Um-
feld brasilianischer Institutionen für Kinder und Jugendliche der Strasse, wie
bereits erwähnt, bisher eher wenig diskutierte Themen. Es ist deshalb weder
Absicht noch Anspruch der vorliegenden Arbeit, die Frage der Organisation von
residentiellen Institutionen für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien
abschliessend zu behandeln. Die Intention ist vielmehr, mit den Erkenntnissen
dieser Untersuchung eine erste, empirisch fundierte Basis zu legen für einen ent-
sprechenden Fachdialog und Entwicklungsprozess unter den Personen, welche
direkt oder indirekt mit solchen Institutionen beschäftigt sind, sowie für die Dis-
kussion und weiterführende Untersuchungen innerhalb der Forschungsgemein-
schaft. Wie in Kapitel 7 aufgeführt, sind nach Abschluss der Forschung verschie-
dene Aktivitäten geplant, um diesen Prozess zusätzlich zu fördern.
Im Rahmen der organisationspsychologischen Untersuchung sollen die or-
ganisatorischen Strukturen und Prozesse sowie ihre Begründung und Entwick-
lung im Sinne einer Phänographie, also aufgrund von Aussagen der verschiede-
nen am Projekt beteiligten Personen rekonstruiert werden, das heisst, die Organi-
sation so dargestellt werden, wie sie von den an ihr beteiligten Personen in der
Praxis konzipiert und umgesetzt wird.
Im Weiteren interessiert, wie die so herauskristallisierten organisationalen
Strukturen und Prozesse mit Fragen der Qualität und Nachhaltigkeit in Bezug
gesetzt werden können und, zu guter Letzt, welche Erkenntnisse auf andere Or-
ganisationen übertragen werden können.
In diesem Zusammenhang wurden folgende Forschungsziele angestrebt und
dazu Forschungsfragen formuliert:

ƒ Erstellung einer Phänographie der Chácara als Organisation:


í Wie sieht die Organisation Chácara aus, und was sind die für sie charak-
teristischen organisationalen Strukturen und Prozesse?
í Wie begründen die an ihr beteiligten Personen diese Strukturen und Pro-
zesse, bzw. wie lassen sich diese herleiten?
í Wie sieht der Prozess der Gestaltung der Organisation aus?

24
ƒ Inbezugsetzung der Phänographie der Chácara mit Aspekten von Qualität
und Nachhaltigkeit
í Wie können Qualität und Nachhaltigkeit für eine solche Organisation de-
finiert werden?
í Wie können die Strukturen und Prozesse der Organisation gestaltet wer-
den, um zur Erreichung dieser Qualität und Nachhaltigkeit beizutragen?

Wie in Kapitel 3 im Zusammenhang mit der Methodik erläutert, wurde mit der
Forschungsarbeit die Absicht verfolgt, die Organisation Chácara vorwiegend
aufgrund von Aussagen der an ihr beteiligten Personen zu beschreiben. Eher als
ein theoriegeleitet-deduktives Vorgehen bot sich dafür eine induktive Vorge-
hensweise an. Für die hier erwähnten Forschungsfragen bedeutet dies, dass diese
notwendigerweise eher weit gefasst formuliert wurden, und dass die ihnen zuzu-
ordnenden Einzelthemen und -aspekte erst im Rahmen der induktiven Analyse
sichtbar wurden. Diese werden in den Kapiteln 4 und 5 im Rahmen der For-
schungserkenntnisse und Resultate ausführlich dargestellt.
Im Rahmen der Reflexion der Erkenntnisse wird im Übrigen in Kapitel 6
ein Fokus auf die Frage gelegt, welche der beschriebenen organisationalen Struk-
turen und Prozesse unter welchen Bedingungen auf andere Institutionen übertra-
gen werden können, die Kinder und Jugendliche der Strasse in Wohnstätten
aufnehmen.

1.3 Bedeutung und Beiträge der Forschungsarbeit

Die vorliegende Untersuchung ist von Bedeutung für eine Anzahl von verschie-
denen Bereichen, welche sowohl die künftige Gestaltung von Organisationen
wie der Chácara als auch die wissenschaftliche Erkenntnis besonders im Rahmen
der Organisationspsychologie umfassen. Sie leistet erstens einen Beitrag an die
Organisation und Qualität von Institutionen in Brasilien (und, in gewissem Mas-
se, anderswo), welche Kinder und Jugendliche der Strasse aufnehmen. Sie stärkt
die untersuchte „Chácara“ in deren organisationalen Prozessen sowie in der Ka-
pazität, zur Ausbildung von Beteiligten anderer Institutionen und Beratung von
Behördenmitgliedern im Sozialbereich beizutragen. Sie bietet den Beteiligten
anderer Institutionen wissenschaftliche Erkenntnisse zu Fragen der Organisation
und Qualität und kann zur Förderung eines fachlich fundierten Diskurses unter
Praktikern, Wissenschaftern und „Policy Makers“ zu diesen Themen genützt
werden.
Zweitens leistet die Forschung einen Beitrag an die Organisationslehre, und
zwar dadurch, dass sie mit der Untersuchung eines aus einer Basisbewegung

25
entstandenen Strassenkinderprojektes in einem Land des Südens Erkenntnisse
über eine neue, bisher kaum oder gar nicht wissenschaftlich untersuchte Organi-
sationsart erzeugt. Sie trägt damit zur Schliessung einer Lücke bei und kann
zusätzliche Anregungen für die herkömmliche Organisationslehre liefern.
Drittens trägt die Forschung durch den Austausch mit Fachleuten der Uni-
versität Zürich, der ETH Zürich und den Universitäten Curitiba, Fribourg und
Maringá zum internationalen Forschungsaustausch bei und erstellt eine Brücke,
die künftig auch anderen Forschenden und ihren Projekten zugute kommen kann.
Viertens leistet sie einen Beitrag an die Perspektiven der Entwicklungs-
zusammenarbeit. Sie stärkt die – in den Augen der Autorin in der internationalen
Zusammenarbeit noch zu selten wirklich umgesetzte – Haltung, dass in Basispro-
jekten in einem Land des Südens durchaus effektive Methoden zur Organisation
und deren Entwicklung bestehen, welche im selben und möglicherweise auch in
anderen Ländern des Südens mit Erfolg verbreitet werden könnten und der Situa-
tion in diesen Ländern besser entsprechen würden als fraglos übernommene
westlich/industrielle Organisationsmethoden, die oft den gedanklichen Hinter-
grund zu den Entwicklungsprojekten bilden, welche „Gebernationen“ in „Ent-
wicklungsländern“ durchführen. Die vorliegende Forschung gibt den Menschen,
welche sich und ihr Umfeld am Ort entwickeln, eine Stimme und fördert dadurch
eine partnerschaftliche Zusammenarbeit ebenbürtiger Partner, wie sie auch die
staatlichen und nicht-staatlichen internationalen Entwicklungsorganisationen
anstreben.
Fünftens können besonders die Überlegungen und Erkenntnisse der vorlie-
genden Arbeit zu Fragen der Organisationsgestaltung und Qualität im wirtschaft-
lichen Zusammenhang der Steuer- und Spendengelder nützlich sein, welche die
Schweiz und schweizerische Organisationen zugunsten von Strassenkinderpro-
jekten in Brasilien einsetzen. Eine informelle telefonische Umfrage bei den gros-
sen Schweizer Hilfswerken ergab zu Beginn der vorliegenden Forschung, dass
im Jahr 2001 mindestens zwei bis drei Millionen Franken in brasilianische Stras-
senkinderprojekte12 flossen, ein Betrag, der durch private Stiftungen und Vereine
noch einmal um mindestens zwei Millionen Franken erhöht wurde. Hinter diesen
Beträgen stehen Tausende von Spenderinnen und Spendern und, über die nam-
haften Beiträge des Bundes an die Hilfswerke, alle Schweizer Steuerzahlenden.
Sie alle haben ebenfalls ein Interesse daran, dass Institutionen, welche in Brasili-

12
Hier herrscht allerdings grosse Begriffsunklarheit. Es sind sehr unterschiedliche Organisationen,
welche von Hilfswerken gegenüber Geldgebern als „Strassenkinderprojekte“ bezeichnet werden.
Die meisten davon beziehen sich auf nicht ständig auf der Strasse lebende Kinder und Jugendli-
che und sind demnach nicht residentiell. Häufig entsteht der Eindruck, dass jedes aus armen
Verhältnissen stammende oder elternlose Kind als „Strassenkind“ bezeichnet werde. Für eine
genauere Definition siehe Kapitel 2.2.

26
en Kinder und Jugendliche der Strasse aufnehmen, über eine gute Organisation
und Qualität verfügen.

1.4 Wissenschaftliche und materielle Rahmenbedingungen

Das in der vorliegenden Arbeit dargestellte Forschungsprojekt „Nachhaltige


Führung und Organisationsentwicklung von Strassenkinderprojekten in Brasili-
en“ wurde vom August 2002 bis Juli 2006 durchgeführt und umfasste vier For-
schungsaufenthalte in Brasilien und in der untersuchten Chácara der Jungen von
Quatro Pinheiros (13. März – 11. Mai 2003, 1. Oktober bis 9. Dezember 2003,
18. März – 16. Mai 2004, 24. Februar 2005 – 30. April 2005). Ein weiterer Auf-
enthalt diente der Weitergabe und Diskussion der gemachten Erkenntnisse
(10. Oktober – 5. Dezember 2006). Das Projekt wurde von der Autorin geleitet
und durchgeführt sowie von Professor Dr. Heinz Gutscher (Sozialpsychologie,
Universität Zürich) und Professor Dr. Theo Wehner (Zentrum für Organisations-
und Arbeitswissenschaften (ZOA) der ETH Zürich13) betreut. In spezifischen
Fragen fanden ein wissenschaftlicher Austausch sowie eine Beratung durch fol-
gende Personen statt (in Reihenfolge der Kontaktnahme): Professor Dr. Riccardo
Lucchini (Soziologie, Universität Fribourg), Professor Dr. Araci Asinelli da Luz
(Pädagogik, Universidade Federal do Paraná in Curitiba, Brasilien), Professor
Dr. Geovanio Edervaldo Rossato (Sozialwissenschaften, Universidade Estadual
in Maringá, Brasilien) und Professor Dr. Max Bergman (Soziologie, Universität
Basel).
Während drei Jahren wurde das Forschungsprojekt vom Schweizerischen
Nationalfonds finanziell unterstützt. Im Weiteren wurde es durch Beiträge der
folgenden Institutionen und Personen ermöglicht: White Emperor Foundation/
Dr. Margrit Egnér-Stiftung (in den nicht vom SNF finanzierten Phasen), Abtei-
lung Sozialpsychologie der Universität Zürich (Infrastruktur), Zentrum für Orga-
nisations- und Arbeitswissenschaften der ETH Zürich (Konferenzbesuch),
Fundação Educacional Meninos e Meninas de Rua Profeta Elias in Brasilien
(Kost und Logis), Hilda Romanowski Tratch in Brasilien (Beitrag an Kost und
Logis). Die Autorin selbst leistete ebenfalls einen grösseren Finanzierungsbei-
trag.

13
Bis Ende 2004 „Institut für Arbeits- und Organisationspsychologie (IFAP)“.

27
2 Einführung in Themenbereiche und Theorie

Wie aus den Forschungsfragen in Kapitel 1.2 hergeleitet werden kann, sind für
die vorliegende Untersuchung vier Themenbereiche zentral. Es sind dies: Stras-
senkinder, Strassenkinderprojekte, Organisation sowie Qualität, Nachhaltigkeit
und Entwicklung von Organisationen. Im vorliegenden Kapitel soll anhand der
Fachliteratur ein Überblick über diese Themenbereiche gegeben werden. Primär
wird hierbei die einschlägige organisationswissenschaftliche Literatur exempla-
risch und im Hinblick auf ihre Aussagekraft für die Fragestellung der Untersu-
chung diskutiert. Da Strassenkinderprojekte auch der Entwicklungszusammen-
arbeit zugerechnet werden, werden zusätzlich Beiträge aus der Literatur dieses
spezifischen Bereichs beigezogen.
Strassenkinder und Strassenkinderprojekte in Brasilien existieren in einer
spezifischen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Situation. Im
Sinne eines kurzen Überblicks soll diese hier einleitend und ohne den Anspruch
einer abschliessenden Darstellung in ihren charakteristischen Zügen skizziert
werden.
Ziel des Kapitels ist es, den Leser in die zentralen Themenbereiche der Stu-
die einzuführen und den Boden für die empirische Untersuchung zu bereiten,
indem die bisherigen Erkenntnisse zur Nutzung in der Studie bereit gestellt und
die Forschungslücken aufgezeigt werden, welche die Studie zu schliessen sucht.

2.1 Brasilien

Mit einer Fläche von etwas über 8.5 Millionen km2 ist Brasilien beinahe so gross
wie Europa (ca. 10.5 Millionen km2). Trotz seines grossen Bevölkerungswachs-
tums von etwa 108 Millionen im Jahr 1975 auf 187 Millionen im Jahr 2006 ist es
wesentlich dünner besiedelt als Europa (ca. 860 Millionen Einwohner). Das
Land ist geprägt von starken Migrationsbewegungen vom Land in die Städte von
Personen auf der Suche nach einem Auskommen. Ausgelöst wurde diese Migra-
tion in erster Linie durch die forcierte Industrialisierung in der Zeit der Militär-
diktatur, welche bis ins Jahr 1985 andauerte. Während im Jahr 1980 noch

28
32.41% der Bevölkerung auf dem Land lebten, waren es im Jahr 2000 nur noch
18.75%14.
Die Kleinbauern- und Wanderarbeiterfamilien, welche auf dem Land ihr
Auskommen verloren haben, verfügen meist nicht über die Voraussetzungen, in
den Städten Arbeit im formellen Sektor zu finden. Die meisten von ihnen versu-
chen, sich in einer Brettersiedlung am Stadtrand niederzulassen und sich dort
finanziell über Wasser zu halten. Die Strassen der Stadtzentren bieten hier eine
der Möglichkeiten, im informellen Sektor, also zum Beispiel als Papiersammler,
Schuhputzer, Autoaufpasser, Kaugummi- oder Zigarettenverkäufer zu einigen
Reais zu kommen. Manchen Frauen gelingt es, Arbeit als Haushaltshilfen zu
finden, während Männer im Taglohn auf Baustellen arbeiten. Fallen auch diese
Möglichkeiten weg, stellen Betteln oder illegale Tätigkeiten wie Diebstahl, Dro-
genhandel oder Prostitution oft die einzigen Einkommens- und Überlebensmög-
lichkeiten dar.
Studien zeigen, dass Brasilien mit einem Gini-Koeffizienten15 von 0.59
weltweit eines der Länder mit der grössten Ungleichheit zwischen Reich und
Arm ist. Die ärmsten 20% der Bevölkerung verdienen 2.4% der nationalen Ein-
kommenssumme, während die reichsten 20% ganze 63.2% des Einkommens
verdienen16. Auf der Vermögensseite ist die Diskrepanz noch grösser. Rossato
(2003 a, S. 33) zitiert Studien der Weltbank und der UNO, gemäss welcher Bra-
silien zu den zehn reichsten Ländern der Welt gehört, auf dem Human Develop-
ment Index jedoch hinter 160 anderen Ländern zurück steht, eine Tatsache, die
von Sampaio (1993, zitiert in Rossato, 2003, S. 33) als „Gesellschaft der Apart-
heid“ zwischen den Armen und der Elite bezeichnet wurde. Er zitiert weiter eine
Studie der brasilianischen Regierung aus dem Jahr 1999, welche anhand des
„Index der Lebensbedingungen“ des UNDP durchgeführt wurde und feststellte,
dass 63% der Bevölkerung in den Kategorien „in absolutem Elend“
(„miserável“), „besitzlos“ und „arm“ existierten und weitere 15% von einem
knapp genügenden Einkommen zehrten. Zur Veranschaulichung ist zu erwähnen,
dass es auch im „reichen“ Süden, der „Kornkammer“ Brasiliens, Erwachsene

14
Alle Daten in diesem Abschnitt vom Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE);
www.ibge.gov.br, 11. September 2006.
15
Ginikoeffizient (auch Gini-Index): statistisches Maß für Verteilungsgleichheit, entwickelt vom
italienischen Statistiker Corrado Gini. Der Wert kann beliebige Größen zwischen 0 und 1 an-
nehmen. Je näher an 1 der Ginikoeffizient ist, desto größer ist die Ungleichheit. Der Giniko-
effizient wird unter anderem von der Weltbank und dem United Nations Development Program
(UNDP) in Bezug auf Einkommen und Besitz verwendet.
16
Weltbank 2005 World Development Indicators, http://devdata.worldbank.org/wdi2005/Table2
_7.htm, 3.9.2006.

29
und Kinder gibt, die verhungern oder erfrieren17, und dass es Strassenkinder gibt,
welche in der dritten Generation auf der Strasse leben.
Für viele der in Armut lebenden Kinder und Jugendlichen ist Kinderarbeit
trotz entsprechender gesetzlicher Vorschriften nach wie vor an der Tagesord-
nung. Von den 5- bis 9-jährigen Kindern arbeiteten im Jahr 2001 1.84%
(296'705), von den 10- bis 14-jährigen 11.61% (1'935'269), von den 15-jährigen
24.66% (862'275) und von den 16- und 17-jährigen 35.06% (2'388'266)18.
Die Chancen auf berufliche und soziale Eingliederung eines grossen Teils
der Bevölkerung werden durch eine sehr geringe bis geringe Schulbildung ent-
scheidend geschmälert. Von der Gesamtbevölkerung im Alter von 10 Jahren und
mehr hatten im Jahr 2003 11.5% die Schule während 0 bis weniger als 1 Jahr
besucht, etwa 15% während 1 bis 3 Jahren und weitere etwa 32% während 4 bis
7 Jahren19. Die Analphabetismusrate unter Erwachsenen beträgt 11.6%20; der
Prozentanteil funktionalen Analphabetismus dürfte wesentlich höher sein.
Sobrado (2002) verfolgt die Wurzeln der Ungleichheit in Lateinamerika in
die (vorkapitalistische) Kolonialzeit zurück. Damals erhielten Gefolgsleute der
spanischen bzw. portugiesischen Krone Ländereien in Lateinamerika mit der
Absicht der Stärkung bestehender Machtverhältnisse in Europa und nicht etwa
mit der Absicht, auf diesen Ländereien zu produzieren21. Das dahinterstehende
System des „Clientelismo“, in dem der Einzelne aufgrund seiner Beziehungen zu
mächtigen Personen sozialen Status erreicht, besteht gemäss der Aussage von
Sobrado bis heute. Es führt dazu, dass diejenigen, welche über keine solchen
Beziehungen verfügen, marginalisiert sind und bleiben.
Gadotti (1999), Leiter des vom Volkserzieher Paulo Freire begründeten
Instituto Paulo Freire, schreibt in diesem Zusammenhang:

Die ‘Verstrassung’ ist die Konsequenz eines wirtschaftlichen Systems, das auf der
Ungerechtigkeit basiert, welche die Ausgrenzung, die Armut, die Leute auf den
Strassen der Städte und den Landarbeiter ohne Land produziert. Es ist das System
des ‘wilden Kapitalismus’, welches Abfallberge an der Peripherie der grossen Städte
bildet, auf denen sich Geier, Tiere und menschliche Wesen versammeln und sich um

17
In den Monaten Juni bis September können die Temperaturen zum Beispiel in der Region Curi-
tiba auf den Gefrierpunkt sinken, dies bei einer hohen Luftfeuchtigkeit.
18
Alle Daten in diesem Abschnitt vom Website des Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística,
http://www.ibge.gov.br, 3.9.2006.
19
Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística, http://www.ibge.gov.br, 3.9.2006.
20
UNDP Human Development Report, http://hdr.undp.org/reports/global/2005; 3.9.2006.
21
Eine zuverlässige Geschichte Brasiliens von der „Entdeckung“ durch Europäer im 15. Jahrhun-
dert bis ins Jahr 1985 (Ende der Militärdiktatur) findet sich in Burns (1993). Lévi-Strauss (1978;
1999) und Zweig (1981) geben sehr gute Einblicke in die rasante Veränderung bzw. Entwick-
lung der brasilianischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Eine kritische (Sozial-) Geschichte La-
teinamerikas findet sich bei Galeano (1974 sowie 1991a, 1991b, 1991c).

30
die selben Überreste des Luxus der Eliten streiten. Es ist das System, welches die
Arbeit zwischen ausgebeuteten Arbeitern und Arbeitslosen aufteilt. Es ist das Sys-
tem, welches den arbeitenden Müttern keine Zeit lässt, ihre Kinder zu erziehen, wel-
che sie häufig lange Stunden zu Hause angebunden lassen müssen, aus Angst, sie
würden auf der Strasse belästigt. (S. 12)

Brasilien verfügt seit dem Jahr 1985 über eine demokratische Staatsform sowie
über eine Gesetzgebung, welche internationalen Standards entspricht. Mit dem
im Jahr 1990 eingeführten Kinderrechtsstatut Estatuto da Criança e do Ado-
lescente (ECA), der brasilianischen Umsetzung der UNO-Rechte des Kindes,
liegt ein fortschrittliches, umfangreiches und detailliertes Regelwerk für den
Schutz und die Förderung der brasilianischen Kinder und Jugendlichen vor.
Seitens von Regierungsstellen und Nichtregierungsorganisationen gibt es Bemü-
hungen, die soziale und wirtschaftliche Situation des Landes insgesamt sowie
zugunsten einer grösseren Gleichheit der verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu
verbessern. Häufig hapert es jedoch bei der Umsetzung von gesetzlichen Vor-
schriften, wie die eingangs zitierten Studien zur Situation in Institutionen für
Kinder und Jugendliche zeigten.
Die komplexen Zusammenhänge von wirtschaftlichen, politischen und wei-
teren gesellschaftlichen Faktoren sowie die tiefe Verwurzelung der gegenwärti-
gen Lebenssituation der Bevölkerung in der Geschichte und Kultur der brasilia-
nischen Gesellschaft bedeuten, dass Verbesserungen in vielen Bereichen einer
umfassenden gesellschaftlichen Veränderung bedürfen. Trotz vieler positiver
Bemühungen in den verschiedensten Bereichen verläuft eine derartige Verände-
rung zumeist in einem Prozess, der Jahre oder Jahrzehnte dauert oder gar über
mehrere Generationen verläuft.

2.2 Strassenkinder

Ein Strassenkinderprojekt ist – wie immer es auch gestaltet sein mag – eine Re-
aktion auf das Vorhandensein von Strassenkindern. Einer Übersicht über Stras-
senkinderprojekte muss deshalb eine Übersicht über diese Kinder vorangehen.
Es sind Forschende aus den Disziplinen Soziologie, Psychologie und Päda-
gogik, aber auch Volkswirtschaft und Jurisprudenz, welche sich mit Strassenkin-
dern und speziell mit Strassenkindern in Brasilien befasst haben. Sie haben sich
für die Fragen der Definition und Anzahl dieser Kinder, die Beziehungen zwi-
schen ihnen und der weiteren Gesellschaft, ihre Aktivitäten auf der Strasse, ihre
persönlichen Eigenschaften sowie für die Ursachen und Gründe interessiert,
welche zum Gang auf die Strasse und zum Verlassen derselben führen.

31
2.2.1 Begrifflichkeit und Zahlen

Der Begriff der „Strassenkinder“ („Meninos de Rua“) wurde in Brasilien ab


Ende der 1970er Jahre gebräuchlich. Ab diesem Zeitpunkt nahm die Zahl der
sich auf der Strasse aufhaltenden Kinder und Jugendlichen aufgrund der Armut
sowie der Vertreibung vom Land und der Migration in die Städte stark zu.
Wie Rossato (2003a, S. 53) schildert, gibt es verschiedene Möglichkeiten,
Strassenkinder zu definieren. Im Jahr 1985 übernahm die Unicef eine weitgefass-
te Definition von Strassenkindern als:

(...) alle Mädchen und Jungen, für welche die Strasse (im weitesten Sinne des Wor-
tes, also einschliesslich unbewohnter Häuser, unbebauter Grundstücke etc.) haupt-
sächlicher Wohnort und/oder die Quelle dessen, was sie zum Überleben benötigen,
ist, und die nicht über Schutz, Betreuung oder angemessene Anleitung durch einen
verantwortlichen Erwachsenen verfügen. (Unicef, 1985, zitiert in Rossato, 2003a,
S. 57)

Aufgrund dieser Definition schätzte die Unicef im Jahr 1985, dass es weltweit
100 Millionen Strassenkinder gebe, von denen 40 Millionen in Lateinamerika
und davon 7 Millionen in Brasilien (davon 30% Mädchen) lebten (Lusk & Ma-
son, 1985, S. 155; zitiert in Rossato, 2003a, S. 57). Diese hohen Zahlen führten
zu einem grossen Interesse der Weltöffentlichkeit, aber auch zu wissenschaftli-
chen und politischen Disputen darüber, ob sie bzw. die dahinter liegenden Defi-
nitionen „richtig“ seien.
Im Jahr 1989 passte die Unicef ihre Definition an und unterschied neu zwi-
schen drei Gruppen von Kindern und Jugendlichen:

a. Kinder in Risikosituationen. Eine Kategorie von Kindern, die zu Hause leben, in


extrem armen Siedlungen, wo sie ihre minimalen Subsistenzbedürfnisse nicht be-
friedigen können. Die Betreuung durch die Familie ist ungenügend, und sie leben in
Randgebieten, in denen es kaum Zugang zu öffentlichen Diensten, Schulen oder re-
levanten Gemeindeprogrammen gibt.
b. „Kinder auf der Strasse“. Eine Kategorie von Kindern, die auf der Strasse arbei-
ten. Sie verbringen einen grossen Teil des Tages auf der Strasse, unterhalten aber re-
gelmässigen Kontakt mit ihren Familienangehörigen. Sie übernachten möglicher-
weise hin und wieder auf der Strasse, übergeben aber ihr Einkommen an ihre Eltern.
c. „Kinder der Strasse“. Eine Kategorie von Kindern, für welche die Strasse der
hauptsächliche Wohn- und Arbeitsort ist. Sie sind minderjährig und haben das El-
ternhaus zumeist freiwillig verlassen; es befinden sich unter ihnen aber gleicher-
massen auch Waisen und verlassene Kinder. (Oude & Kruijt, 1996; S. 10–11, zitiert
in Rossato, 2003a, S. 61).

32
Aufgrund dieser angepassten Definitionen berichtete die Unicef im Jahr 1993
anstelle der bisher 100 Millionen nur noch von 30 Millionen Strassenkindern
weltweit, von denen 15 Millionen in Lateinamerika lebten. (Rossato, 2003a,
S. 63)
Zählungen der auf der Strasse übernachtenden Kinder und Jugendlichen
ergaben eine Gesamtzahl von 797 in Rio de Janeiro (1993) und 895 in São Paulo
(1994), wie Hecht (1998, S. 100) berichtet. Er schloss daraus, dass es pro Million
Einwohner in Grossstädten 115, also landesweit etwa 13'000 Kinder und Jugend-
liche in dieser Situation gebe.
Für die Stadt Curitiba, bei der sich das im Rahmen der vorliegenden Studie
zu untersuchende Projekt "Chácara" befindet, gibt es differenzierte Zahlen aus
dem Jahr 1995 (Gomide, 1995). Von den 1'154 dort auf der Strasse angetroffe-
nen Kindern und Jugendlichen waren 24% Mädchen und 76% Jungen mit der
folgenden Altersverteilung:

0 í 2 3 í 6 7 í 10 11 í 14 15 í 18 > 19
Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre
Ƃ ƃ Ƃ ƃ Ƃ ƃ Ƃ ƃ Ƃ ƃ Ƃ ƃ
22 14 21 53 74 162 97 394 59 240 6 5

Von diesen Kindern und Jugendlichen schliefen zum Zeitpunkt der Befragung
78.9% zu Hause bei der Familie oder nahen Verwandten, während 21.1%, also
244, auf der Strasse wohnten (Gomide, 1995, S. 7). Dies ergibt eine höhere Rate
als die von Hecht festgestellte von etwa 166 Kindern und Jugendlichen auf eine
Million Einwohner (Curitiba hatte damals etwa 1.5 Millionen Einwohner). Auf
die urbane Bevölkerung Brasiliens von etwa 155 Millionen im Jahr 2006 hoch-
gerechnet, würde dies bei unveränderten Verhältnissen landesweit eine Gesamt-
zahl von etwa 121'700 Strassenkindern ergeben, von denen etwa 96'000 mehr-
heitlich bei Familienangehörigen übernachten, während etwa 27'500 vorwiegend
auf der Strasse übernachten. Von Fachleuten, die mit Strassenkindern arbeiten,
sei es in privaten oder staatlichen Organisationen, wird angenommen, dass die
Zahl der Kinder auf den Strassen Curitibas, und vor allem diejenige der ganz auf
der Strasse lebenden, seit der Untersuchung von Gomide zugenommen hat.

2.2.2 Lebenssituation, Eigenschaften und Wünsche

Verschiedene Autoren kritisieren, dass in den Medien, bei Vertretern der Sozial-
politik, aber auch in der weiteren Gesellschaft einseitige oder realitätsfremde
Annahmen über Strassenkinder im Umlauf sind. Lucchini (1998) analysierte

33
Diskurse über Strassenkinder in Rio de Janeiro, Montevideo und Mexico City
und schreibt:

Die theoretischen Überlegungen zu Strassenkindern stehen noch am Anfang. Hinge-


gen gibt es eine Vielzahl von beschreibenden und journalistischen Schriften, welche
das Strassenkind zumeist als ohnmächtiges Opfer einer endemischen Gewalt der
ärmsten Gesellschaften darstellen. Der Eindruck entsteht, dass das Kind unfähig sei,
eine Wahl zu treffen, weil es lediglich die Gelegenheiten nützt, die sich ihm anbie-
ten. Das Kind wird als unfähig der Antizipation beschrieben, als Resultat der Desor-
ganisation der Familie, der Krise in der Gemeinschaft und dem erweiterten familiä-
ren System, aber auch der Armut und der sozialen Ungerechtigkeit. Das Strassen-
kind wird als impulsiv und apathisch dargestellt, und es entsteht der Eindruck, es sei
unfähig, sein eigenes Benehmen zu kontrollieren. Es wird als auf das „Sofort“ aus-
gerichtet, als „Gefangenes der Gegenwart“ verstanden. [Es heisst,] das Strassenkind
werde von seinen Impulsen und Wünschen beherrscht.
Das Strassenkind wird auch bezüglich seines Alters und physischen Erschei-
nungsbilds beurteilt. Je kleiner es ist, desto mehr wird es als ein Opfer gesehen, das
es zu retten gilt. Wenn es hingegen wie ein Jugendlicher aussieht, dann ist es ein po-
tentieller Delinquent, vor dem man die Gesellschaft schützen muss. So nähren die
Massenmedien und viele Verantwortliche von Sozialprogrammen ein reduziertes
und abschätziges Bild des Strassenkindes. Nun, dieses Bild entspricht nicht der psy-
chosozialen Heterogenität, welche charakteristisch für die Strassenkinder ist. (S. 26)

Die meisten dieser Annahmen gründen auf der wahrgenommenen Devianz des
Aufenthalts und des Verhaltens der Kinder auf der Strasse von gesellschaftlichen
Erwartungen. Die Kinder auf der Strasse werden oft als ein gesellschaftlicher
Störfaktor gesehen, der entfernt werden muss. Dabei wird weder auf die spezifi-
schen Lebenssituationen und Ansichten der einzelnen Kinder eingegangen, noch
werden die Rollen und Verhaltensweisen der übrigen individuellen und instituti-
onellen Akteure im gesellschaftlichen Raum in eine Analyse miteinbezogen.
Hinsichtlich der Situation in Brasilien beschreibt Rossato (2003b,
S. 46í47), wie sich auf der Strasse aufhaltende Kinder in der Gesellschaft häufig
als gefährlich und asozial wahrgenommen werden, und wie ihnen dann weitere
Merkmale attribuiert werden, so zum Beispiel „ohne Beschäftigung“, „faul“,
„high“, „minderwertig“, „geistig und emotional defizient“, „ohne Kultur“, „ohne
gute Manieren“ und „nicht zivilisiert“. Ein solches Verständnis führt zu einer
Bekämpfung dieser Kinder und Jugendlichen. Exemplarisch für eine solche Hal-
tung zitiert der Autor einen Ausschnitt aus einem vermutlich Ende der 1980er
oder Anfang der 1990er Jahre entstandenen Dokument der „Escola Superior de
Guerra“, des Instituts für Strategie des brasilianischen Verteidigungsministeri-
ums:

34
(...) Wenn wir annehmen, dass dieses Universum [der Kinder und Jugendlichen der
22
Strasse] heute bereits 200'000 Minderjährige umfasst (...), befürchten wir, dass es
zu Beginn des nächsten Jahrhunderts ein Kontingent von Marginalen, Missetätern
und sogar von Mördern in der Grösse unseres Heeres geben wird. (...) Wenn dann-
zumal die Polizeikräfte nicht in der Lage sein werden, dieser Situation zu begegnen
– und die Vernunft sagt, dass dies mit fataler Sicherheit geschehen wird – dann wer-
den die konstitutionellen Mächte der Exekutive, Legislative und Judikative die Mit-
wirkung der Streitkräfte anfordern können, damit sie die harte Aufgabe übernehmen,
dieser Horde von Banditen entgegenzutreten, sie zu neutralisieren und sie tatsächlich
zu zerstören, damit Recht und Ordnung aufrechterhalten bleiben. (Escola Superior
de Guerra, zitiert in Silva, 1992b, S. 13, zitiert in Rossato, 2003b, S. 52í53)

Es gibt in Brasilien eine zweite Sichtweise auf die sich auf der Strasse aufhalten-
den Kinder, welche milder als die vorangegangene scheint, jedoch ebenfalls von
einer einseitigen Beurteilung und von der Devianz der Kinder von gesellschaftli-
chen Normen ausgeht. Auch sie berücksichtigt weder deren reale Situation und
Ansichten noch den weiteren Kontext und seine Akteure.
Ein von Alves-Mazzotti (1996) befragter Erzieher sprach von den Kindern
als „schmutzige kleine Herzchen“ (S. 513, zitiert in Rossato, 2003b, S. 67). In
dieselbe Richtung gehen Titel von Büchern über sich auf der Strasse aufhaltende
Kinder, wie zum Beispiel „Asphalt Angels“ (Holtwijk, 1998). Rossato (2003b,
S. 68í69) führt aus, dass in diesem Fall die Kinder als arme, korrumpierte Ge-
schöpfe gesehen werden, als desorientiert und verloren, als unfähig, zwischen
„gut“ und „schlecht“ zu unterscheiden, und schliesslich als „unschuldige Opfer“.
Diese Sichtweise führt nach seinen Untersuchungen zu Schuldgefühlen in Teilen
der Gesellschaft und zur Absicht, diese Kinder so schnell wie möglich vor der
imminenten Verdammnis (oft im religiösen Sinn, d.h. vor der Hölle) zu retten.
Den beiden erwähnten Sichtweisen ist gemeinsam, dass das Kind als Objekt
der Gesellschaft verstanden wird, welches nicht den Platz einnimmt, welches
ihm diese Gesellschaft zuweist, sich also deviant bezüglich deren Erwartungen
verhält. Es wird nicht als ein staatsbürgerliches Subjekt verstanden, das aufgrund
seiner Bürgerrechte und unabhängig von seiner gegenwärtigen Lebenssituation
oder Herkunft Teil der Gesellschaft und ihrer Strukturen ist.
Aufgrund der Beobachtung, dass nur ein kleiner Teil der armen Kinder ihr
Leben auf der Strasse verbringt, hat Lucchini (1996a) untersucht, welche Aspek-
te zum Gang des Kindes auf die Strasse beitragen. Er stellte dabei fest, dass der
Gang auf die Strasse ein gradueller Prozess mit verschiedenen Zwischenstufen
ist, zwischen denen die Kinder häufig wiederholt hin und her wechseln. Dies ist
einer der Gründe dafür, weshalb die Zahl der Kinder und Jugendlichen auf der
22
Mit eckigen Klammern […] werden in Zitaten Ergänzungen der Autorin markiert, welche den
Sinn der Aussage erhellen.

35
Strasse fluktuiert. Der Prozess des Ganges auf die Strasse – oder besser des Gan-
ges zwischen Lebenskontexten – wird von zwei Dimensionen geprägt, einer
physischen, welche sich auf die Zeitdauer bezieht, die das Kind in einem Le-
benskontext verbringt, und einer sozialen, bei welcher es um die Existenz oder
Absenz von Bindungen zu den Eltern oder anderen Personen geht. Wo ein Kind
auf dem Kontinuum zwischen verschiedenen Lebenskontexten steht, hängt von
einer Anzahl Faktoren ab. Lucchini hat diese aufgrund von Befragungen von
Strassenkindern in verschiedenen Ländern Lateinamerikas wie folgt definiert:

ƒ Biologische (z. B. Alter, Geschlecht).


ƒ Familiäre (z. B. Aufbau und Struktur der Familie, Stärke und Qualität der
Beziehungen, wirtschaftliche Situation der Familie, Grad der Verwurzelung
der Familie in der Stadt).
ƒ Auf die Strasse bezogene (Bild des Kindes von der Strasse, frühere Kontak-
te mit Leuten auf der Strasse, Zugang zur Strasse, Zugehörigkeit des Kindes
zu einer Gruppe oder Bande von Kindern, die Rentabilität von Aktivitäten
auf der Strasse, die polizeiliche Unterdrückung und die Gewalt zwischen
den Kindern selbst).
ƒ Auf den städtischen Raum bezogene (Grösse der Distanz zwischen dem
Wohnort und der Strasse, wo das Kind seinem Einkommen nachgeht, die
Geschwindigkeit, mit der es vom einen zum anderen Ort gelangen kann, die
Art des städtischen Raumes, den das Kind durchqueren muss, um zu „sei-
ner“ Strasse zu kommen).
ƒ Übergeordnete (z. B. die wirtschaftliche und soziale Situation des Landes
im Allgemeinen sowie die staatliche Sozialpolitik) (1996a, S. 137í139).

Gemäss Lucchini (2003) beginnt ein Kind dann die Strasse zu verlassen, wenn
das von ihm gewünschte Selbst- oder Idealbild nicht mehr mit der Lebensweise
auf der Strasse vereinbar ist. Auch hier wird der genannte Beziehungsaspekt
sichtbar:

Dieses Bild wird häufig aufgrund einer positiven Referenz konstruiert. Diese Refe-
renz ist eine Person, deren Respekt das Kind erlangen möchte, welche nicht auf der
Strasse lebt, und welche die Tatsache, dass das Kind auf der Strasse lebt, nicht be-
grüsst. (S. 22)

Die Motivation zum Verlassen der Strasse sieht er von insgesamt sechs Dimen-
sionen geprägt:

ƒ Die Strasse wird als Risiko gesehen, in Haft zu geraten.

36
ƒ Die Strasse offeriert keine Zukunft mehr (die spielerischen und instrumen-
tellen Aspekte verlieren ihre Attraktivität).
ƒ Die Kosten des Aufenthalts auf der Strasse werden höher als der Nutzen.
ƒ Die Kameraden zeigen eine positive Einstellung gegenüber der Absicht, die
Strasse zu verlassen.
ƒ Eine Begegnung erlaubt die Wiederherstellung einer Eltern(teil)-Kind-
Bindung und eine Neugestaltung der Identität.
ƒ Eine Begegnung eröffnet eine glaubwürdige Alternative zur Strasse und die
Möglichkeit der Integration in die gewöhnliche Gesellschaft. (S. 30)

Lucchinis Erkenntnisse machen nicht nur auf die Heterogenität und Dynamik des
Aufenthalts von Kindern und Jugendlichen auf der Strasse aufmerksam, sondern
zeigen auch eine klare Unterscheidung zwischen dem Kind und dem ihn umge-
benden Raum. Das Kind hält sich wohl in einem bestimmten Raum auf, dessen
Bedingungen es unterworfen ist. Zugleich ist es aber auch ein aktiver Agent,
welcher diesen Raum auf seine eigene Art und Weise wahrnimmt und, soweit
möglich, gestaltet.
In dieselbe Richtung geht ein Begriff, der in Brasilien zunehmend verwen-
det wird: „crianças e adolescentes em situação de rua“, also „Kinder und Jugend-
liche in einer Lebenssituation der Strasse“. Damit soll derselben Tatsache, wie
sie Lucchini befunden hat, Ausdruck gegeben werden: dass die Strasse weder
Persönlichkeit noch ewig andauerndes Schicksal der Kinder ist. Sie stellt eine
von mehreren Lebenssituationen dar, in welcher sich Kinder über eine kürzere
oder längere Zeit befinden und welche sie mitgestalten.
Die Vielfältigkeit des Lebens der Kinder und Jugendlichen auf der Strasse
und die Limitationen gewisser gängiger Sichtweisen ergaben sich auch aus der
Studie von Gomide (1995) in Curitiba. Diese zeigte, dass die Aktivitäten der
Kinder auf der Strasse vielfältiger und seltener illegaler Natur waren, als häufig
in Bevölkerung oder Medien kolportiert:

Es zeigte sich, dass 59% von ihnen arbeiteten, 23% allein oder in Gruppen umher
wanderten, 10% bettelten, 6% spielten und 2% Leim schnüffelten. Die Mehrheit –
42% – überbrachte das verdiente Geld ganz oder teilweise den Eltern, 35% kauften
damit Essen und 18% kauften Kleider. Lediglich 4% gaben an, damit Drogen zu
kaufen. (...) Sieben Prozent gaben an, Taschendiebstähle auszuführen, um zu Geld
zu kommen. (S. 12)

Die 59% der arbeitenden Kinder und Jugendlichen waren im informellen Sektor
tätig und zwar im Strassenverkauf, als Papiersammler, Autowäscher, Träger,
Schuhputzer, Früchte-Pflücker, Flugblattverteiler oder sonstige Hilfsarbeiter
(S. 12í13).

37
Bezüglich illegaler Tätigkeiten nennt Bondaruk (2005, S. 44), selbst hochrangi-
ges Mitglied der Militärpolizei, die Zahl der polizeilich registrierten Delikte von
Kindern und Jugendlichen in Curitiba und Region und zeigt, dass nur der kleins-
te Teil, nämlich 14%, von Minderjährigen begangen wurde. In dieser Gruppe
befinden sich unter anderem Kinder und Jugendliche der Strasse. Bei den meis-
ten der Delikte handelte es sich um Diebstähle. In weiteren 22% der Fälle waren
Minderjährige an Delikten Erwachsener beteiligt, während 64% der Delikte von
Erwachsenen begangen wurden.
Bondaruk (2005, S. 56) befragte mit Mitarbeitenden 415 Kinder und Ju-
gendliche (22% weiblich, 78% männlich) auf den Strassen von Curitiba sowie in
sozialen Institutionen, welche Strassenkinder aufnehmen. Etwa die Hälfte von
ihnen (49%) beantwortete die Frage nach der Herkunft ihres Einkommens. Am
häufigsten nannten sie Diebstahl (14%) und Betteln (12%), gefolgt von Prostitu-
tion (6%), Tätigkeiten in einem Sozialprojekt der Militärpolizei („Formando
Cidadão“, 5%), Altpapiersammeln (4%), sonstige Arbeiten (3%), Autos-Bewa-
chen (3%), Drogenhandel (2%) und Jonglieren an Verkehrsampeln (1%).
Gomide (1995) und ihre Mitarbeitenden befragten die Strassenkinder im
Weiteren nach ihren Problemen auf der Strasse und stellten fest, dass diese vor
allem den Gebrauch und Handel von Drogen, deren Wirkungen sowie die Um-
stände des Drogenkonsums am häufigsten erwähnten. Weiter erwähnt wurden
unmittelbar bedrohliche Probleme wie zum Beispiel Kälte und Hunger, struktu-
relle Probleme, wie zum Beispiel der Zerfall der Familienstruktur, Misshandlun-
gen durch die Polizei, der Mangel an Arbeit, sowie soziale Probleme, wie zum
Beispiel Diskrimination, Zurückweisung und fehlende Unterstützung. Rizzini &
Butler (2003, S. 14) bezeichnen all diese Phänomene als „Formen sozialer Ge-
walt“.
Im Zusammenhang mit Fragen der Gewalt beschreiben Rizzini und Butler
(2003), wie die Kinder und Jugendlichen auf der Strasse Freiheiten finden, die
sie zu Hause nicht hatten, gleichzeitig aufgrund der dort erlebten Angst und
Gewalt jedoch bald erkennen, dass diese Freiheit illusorisch ist. Sie zitieren unter
anderem eine Studie der internationalen Menschenrechtsorganisation Human
Rights Watch, welche befand, dass nach Angaben der Staatsanwaltschaft in den
Jahren 1989 bis 1991 in Brasilien 5'644 Kinder und Jugendliche im Alter zwi-
schen 5 und 17 Jahren gewaltsam zu Tode gekommen waren. Auch Human
Rights Watch ist zum Schluss gekommen, dass arme Kinder und Jugendliche
zum Ziel von Tötungen durch Polizisten und Todesschwadrone werden, weil sie
als Kriminelle angesehen werden. Zur Gewalt an Kindern trägt nach ihrer An-
sicht im Weiteren der Mangel an Polizeistreifen in armen Stadtgebieten bei, die
Überzeugung, dass das Rechtssystem nicht funktioniere sowie eigentliche Tradi-
tionen gewalttätigen Verhaltens, von denen viele noch auf die Zeit der Militär-

38
diktatur zurückgehen. In allen Fällen, so Human Rights Watch, verstärke ein
Teufelskreis aus Nachlässigkeit, Missachtung oder gar Komplizität seitens offi-
zieller Stellen das Problem und führe zu einer kontinuierlichen Fortsetzung der
Gewalt (Human Rights Watch, 1994, S. 30, zitiert in Rizzini & Butler, 2003,
S. 32). In ihrem Human Rights Report schreibt Human Rights Watch im Jahr
2000, dass sich die zuvor geschilderte Situation der Gewalt gegen Kinder und
Jugendliche in Brasilien nicht wesentlich verändert habe:

Over the years, Human Rights Watch had attempted to highlight the serious nature
of the human rights abuses committed against street children by law enforcement
personnel in Brazil, Bulgaria, Colombia, Guatemala, India, Kenya, and Sudan, and
on the gross lack of police accountability for abusive actions. Widespread impunity
and the slowness of law enforcement bodies to investigate and prosecute cases of
abuses against street children allowed violence against street children to continue
23
unchecked.

Insgesamt 55% der von Bondaruk befragten Kinder und Jugendlichen aus Curi-
tiba gaben an, bereits Gewalt durch die Hand von Polizisten erlitten zu haben.
Etwa die Hälfte von ihnen (54%) äusserte sich zur Anzahl solcher Erlebnisse.
Dabei gaben 27% an, solches ein- bis dreimal erlebt zu haben, während 13% von
„mehr als dreimal“ und 14% von „vielen Malen“ sprachen. Bondaruk begründet
gewaltsame Handlungen seitens von Polizisten teilweise mit der Geschichte der
militärischen und polizeilichen Institutionen in Brasilien und führt aus:

(...) Während der ganzen Entwicklungsgeschichte der brasilianischen Polizei war de-
ren charakteristischster Zug, dass sie mehr der Bewahrung der Staatsmacht und der
Interessen ihrer Vertreter diente als dem Schutz der Bürger im Allgemeinen. (2005,
S. 73)

Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen auf der Strasse wird nicht nur von
Angehörigen der Polizei, sondern auch von anderen Erwachsenen ausgeübt.
Gegenüber Bondaruk und Mitarbeitenden gaben die Befragten an, etwa gleich
viel Angst vor Polizisten wie vor kriminellen Erwachsenen zu haben.24
Die schwierigen Bedingungen, unter denen die Kinder und Jugendlichen auf
der Strasse leben, und die mangelnde Begleitung durch Erwachsene führen dazu,
dass sie sich körperlich und in ihrer Persönlichkeit nicht so entwickeln können,

23
Von http://www.hrw.org/wr2k/Crd.htm#TopOfPage, (8.9.2006)
24
Es ist bekannt, dass Strassenkinder häufig auch in ihren anderen Lebenskontexten Gewalt erle-
ben, so zum Beispiel in der Familie oder in anderen Institutionen (siehe z. B. die eingangs zitier-
ten Studien der brasilianischen Regierung).

39
wie ihre gesunden, angemessener ernährten und betreuten Altersgenossen.
Gleichzeitig müssen sie jedoch ganz besondere Fähigkeiten entwickeln, um auf
der Strasse zu überleben. So schreibt Graciani (1999):

Wer auf der Strasse lebt, braucht Agilität, Flexibilität und viel körperliche Bewe-
gung, um diese aufrecht zu erhalten. Es ist notwendig, immer wieder den Aufent-
haltsort zu ändern und ein anderes Territorium zu suchen. Die Strasse entspricht ei-
ner permanenten Veränderung und ist absoluter Unsicherheit unterworfen. Es ist
unmöglich vorauszusehen, was in der nächsten Stunde oder am nächsten Tag ge-
schieht. Man muss immer bereit sein zu handeln oder zu reagieren, zu kreieren und
neu zu kreieren, Arten zu erfinden oder wieder neu zu erfinden, wie man auf der
Strasse überleben oder überhaupt leben kann (...). (S. 131)

Lucchini (1993) unterscheidet zwischen instrumentellen und symbolischen Kom-


petenzen. Zu ersteren zählt er die sichtbaren Fähigkeiten, welche die Kinder und
Jugendlichen bei der Ausübung ihrer vielfältigen Arbeiten und Tätigkeiten zur
Beschaffung von Mitteln auf der Strasse zeigen. Zu zweiteren zählt er diejenigen
Kompetenzen, welche Kinder und Jugendliche benötigen, um ihre längerfristigen
Überlebensstrategien und ihre Bezugssysteme auf der Strasse zu gestalten. Hier
erwähnt er Aspekte wie Freiheitssinn, Solidarität, kritisches Denken und das
Schaffen von Möglichkeiten. In einem weiteren Artikel (2003) erwähnt er, dass
sprachliche bzw. kommunikative Fähigkeiten von den Strassenkindern als eine
der für das Leben auf der Strasse wichtigsten Kompetenzen gesehen werden. So
schreibt er: „Das Strassenkind ist ein hoch kompetenter Verhandler.“ (S. 16) Ent-
sprechend beschreibt er, wie die Gruppen der Strassenkinder auf Kompetenzen
basiert strukturiert sind:

Die Reputation des Kindes in seinem Netzwerk ist eine Funktion der Kompetenzen
und Fähigkeiten, welche man ihm zuerkennt. So gibt es eine Hierarchie der Reputa-
tionen, welche in ihrer Funktion der hierarchisierten Organisation von Banden mit
einer zentralisierten Leitungsrolle entspricht. Es ist diese differenzierte Verteilung
von Reputationen, welche die Ordnung im Netzwerk sicherstellt, und nicht Bezie-
hungen, welche durch die Unterwerfung unter einen Anführer reguliert sind. Diese
Form des Funktionierens ist gut an den Kontext der Strasse angepasst, der durch
ständige Veränderung und die räumliche Mobilität der Kinder geprägt ist. (S. 18)

Gomide (1995) erwähnt die in der Bevölkerung verbreitete Ansicht, dass Stras-
senkinder glücklich seien, sich nicht verändern und frei leben wollten. Ihre Stu-
die befand entgegen dieser Meinung, dass Strassenkinder Hilfe bzw. Verände-
rung suchen:

40
Ihre Antworten betreffen unmittelbare Bedürfnisse, wie zum Beispiel einen Ort, an
25
dem sie essen können (9.5% ), affektive Bedürfnisse, wenn sie aufgrund der Wahr-
nehmung, dass die familiären Bindungen bereits aufgelöst sind, um ein Ersatzzuhau-
se bitten (8.9%), Bedürfnisse bezüglich des [längerfristigen] Überlebens, da 54.5%
um Arbeit sowie um Tagesschulen (44%) und Berufskurse (23.7%) bitten, und da-
mit zeigen sie, dass sie trotz allem über eine gewisse Vorstellung der Zukunft verfü-
gen. (S. 14)

Die meist genannten Wunschberufe der von Bondaruk (2005, S. 67) befragten
415 Kinder und Jugendlichen aus Curitiba waren: Fussballspieler/-in (7%), Leh-
rer/-in (6%), Anwalt/Anwältin (5%), Arzt/Ärztin (5%), Polizist/-in (5%), Last-
wagenfahrer/-in (3%). Einzelne weitere Berufe wurden von 52% der Kinder und
Jugendlichen genannt, während lediglich 7% die Frage nicht beantworteten.
Zwei Drittel der Befragten (67%) gaben an, die Hoffnung zu haben, eines Tages
ein besseres Leben zu führen.
In Bezug auf die in der brasilianischen Gesellschaft vorhandenen sozialen
Repräsentationen von Strassenkindern schreibt Rossato (2003b):

(...) Was das Thema der Strassenkinder anbelangt, so finden wir in der Vorstellung
der brasilianischen Gesellschaft verschiedene Weisen vor, diese zu bestimmen, zu
beurteilen oder zu klassifizieren. Diese Weisen äussern sich in verschiedenen Mei-
nungen, Zeugnissen, Empfindungen, Haltungen, Aussagen, Gesten und sozialen
Ideen und führen zu distinkten Handlungsansätzen (...). (S. 38í39)

Die Art und Weise, in der diese Kinder und Jugendlichen gesehen werden – sei
es aufgrund von sozialen Konstruktionen oder aufgrund von wissenschaftlichen
Studien – beeinflusst die verschiedenen Projekte und Institutionen, welche auf
sie ausgerichtet sind. Darauf soll im nächsten Kapitel eingegangen werden.

2.3 Strassenkinderprojekte

Gemäss Lusk (1989, S. 63, zitiert in Lucchini, 1998, S. 27) können Sozialpro-
gramme für Strassenkinder entlang eines Kontinuums klassifiziert werden. Die-
ses erstreckt sich zwischen dem Konzept der Anpassung der sozioökonomischen
Systeme an die Bedürfnisse des Einzelnen einerseits und der Idee der Anpassung
des Einzelnen an die Anforderungen sozialer Systeme anderseits.
Je nachdem, wie das Strassenkind als soziale Problematik eingeschätzt
wird, gibt es gemäss Lucchini (1998, S. 27) vier mögliche Ansätze:

25
Es waren Mehrfachnennungen möglich.

41
ƒ Das strafend-korrigierende Vorgehen.
ƒ Das rehabilitierende Vorgehen.
ƒ Den Zugang zum Kind in seinem natürlichen Umfeld auf der Strasse.
ƒ Das präventive Vorgehen.

Rossato (2003b) identifizierte im Rahmen seiner Forschung ebenfalls zwei ver-


schiedene sozialpolitische Ansätze, welche gegenüber Strassenkindern in Brasi-
lien zumeist angewandt werden, denjenigen der „Bestrafung“ (meist von staatli-
chen Organen verfolgt) und denjenigen der „Rettung“ (meist von religiösen Or-
ganisationen verfolgt). Er zeigt, dass das Kind auf der Strasse in beiden Fällen
nicht als Teil der Gesellschaft gesehen wird, sondern als ausserhalb der Gesell-
schaft stehend, von dieser deviant, entweder als zu bestrafende Bedrohung oder
als Opfer bzw. als zu rettende „verlorene Seele“. Ein Beispiel für erstere Sicht-
weise sind brasilianische Projekte, welche aus Militärkasernen bestehen, in wel-
che Strassenkinder eingesperrt werden. Der zweite Ansatz zeigt sich zum Bei-
spiel in der Aussage einer Nonne in Curitiba. Diese erklärte der Autorin im Jahr
1998, ihr Projekt verfüge über eine hohe Mauer, um zu verhindern, dass sich die
Mädchen hinausschlichen und Kontakt mit ihren „in Sünde lebenden“ – gemeint
waren die materiell armen – Eltern aufnähmen. In beiden Fällen finden die Un-
gleichheiten der Gesellschaft direkten Niederschlag in den Zielen der Organisa-
tion. Lucchini (1998) schreibt in Bezug auf Organisationen, welche das Kind als
Opfer verstehen:

Dies führt unter anderem dazu, dass Interventionsprogramme eingeführt werden


können, ohne dass die normativen Prämissen ihrer Handlungen explizit begründet
werden. In anderen Worten wird keinerlei Exegese der Erwartungen gemacht, wel-
che das Programm an das Verhalten der Kinder stellt, an welche es sich richtet. So
ist die Versuchung gross, als Modell der Normalität einfach dasjenige der sozial be-
günstigten Gruppen (eines Teils der Mittelschicht und der Bourgeoisie) zu überneh-
men. Der institutionalisierte Diskurs definiert die Armen und Ausgeschlossenen so
implizit als deviant. Dies ist einigermassen paradox für eine Vorgehensweise, wel-
che sich (offiziell) gegen die sozialen Ungleichheiten richtet, deren Opfer die Kinder
sind! (S. 30 – 31)

So arbeitende Institutionen sind somit auf das Wohlergehen eines Segments der
Gesellschaft ausgerichtet, zu welchem die Kinder und Jugendlichen nicht gehö-
ren. Sie sprechen die Kinder und Jugendlichen als Problem für dieses Gesell-
schaftssegment an, und nicht zum Beispiel als junge Staatsbürger mit Rechten
und Pflichten, die gesehen und gehört – also in ihrer Eigenart und nach ihren
Bedürfnissen – in die Gesellschaft miteinbezogen werden könnten bzw. sollten.
Diese Haltung widerspricht der seit dem Jahr 1988 gültigen brasilianischen Ver-

42
fassung, welche im Artikel 277 den Kindern und Jugendlichen absolute Priorität
vor allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft zuspricht:

Es ist die Pflicht der Familie, der Gesellschaft und des Staates, mit absoluter Prio-
rität das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Leben, auf Gesundheit, auf Ernäh-
rung, auf Erziehung, auf Freizeit, auf Berufsbildung, auf Kultur, auf Würde, auf
Respekt, auf Freiheit sowie auf familiäres und komunitäres Zusammenleben sicher-
zustellen, und sie im Übrigen vor allen Formen von Vernachlässigung, Diskriminie-
rung, Ausbeutung, Gewalt, Grausamkeit und Unterdrückung zu schützen.

Es gibt Strömungen in der Arbeit mit Strassenkindern in Brasilien, welche den


Protagonismus26 von Kindern und Jugendlichen ähnlich den Empfehlungen Luc-
chinis aufnehmen. So stellte Aussems (1996, S. 289) fest, dass der pädagogische
Diskurs in Brasilien stark von den Überlegungen des Volkspädagogen Paulo
Freire durchsetzt sei. Dieser hinterfragte die Ungleichheiten der Gesellschaft in
der Meinung, nachhaltige Veränderungen in den Lebensbedingungen der ausge-
grenzt werdenden Bürger seien nur durch ein Bewusstmachen gesellschaftlicher
Zusammenhänge möglich. Der Titel seines bekanntesten Buches ist zugleich
Forderung: „Pädagogik der Unterdrückten – Bildung als Praxis der Freiheit“
(1966/1973). Freire geht davon aus, dass die in Armut lebenden Menschen La-
teinamerikas ihren Zustand der Unterdrückung längst internalisiert hätten:

Da die Unterdrückten das Bild des Unterdrückers internalisiert und seine Richtlinien
akzeptiert haben, fürchten sie sich vor der Freiheit. Freiheit würde verlangen, dass
sie dieses Bild aus sich vertreiben und es durch Autonomie und Verantwortung er-
setzen. (S. 34)

Ziel der pädagogischen Arbeit ist für ihn die Befreiung der Menschen aus herr-
schenden Verhältnissen, und zwar durch die Bewusstmachung sozialer, politi-
scher und wirtschaftlicher Zusammenhänge und Widersprüche, aufgrund derer
die Menschen lernen:

... in den geschichtlichen Prozess als verantwortliche Subjekte einzutreten, das Stre-
ben nach Selbstbehauptung aufzunehmen ... (Freire, 1973, S. 25)

Verschiedene, zumeist nicht-staatliche Strassenkinderprojekte in Brasilien arbei-


ten auf der Basis der Überlegungen von Freire und streben eine Sicht der Kinder
und Jugendlichen als Protagonisten ihrer eigenen Förderung an. Darunter befin-

26
„Der Begriff markiert eine Position, die die Kinder ins Zentrum der Gesellschaft rückt und ihnen
die Kraft und Kompetenz zutraut, in der Gesellschaft eine wesentliche Rolle zu spielen.“ (Liebel,
1999, S. 309)

43
den sich auch kirchliche Projekte, welche ihre Arbeit im Menschenbild der Be-
freiungstheologie begründen und dieses zumeist auch mit den Überlegungen
Freires verbinden. So sieht zum Beispiel die katholische, national tätige „Pasto-
ral do Menor“ („Minderjährigenpastorale“) seit ihrer Gründung ihre Aufgabe
auch in der Denunzierung unhaltbarer Zustände. Giustina (1987) schildert ihre
Haltung als:

(...) Protest gegen die Gesellschaft, die sich im Gegensatz zum Evangelium be-
nimmt, indem sie solche Zustände generiert. Die utopische Dimension der propheti-
schen Transformation besteht darin, ein neues gesellschaftliches Zusammenleben zu
suchen, in welchem die Minderjährigen Protagonisten und Autoren ihrer Geschichte
und derer ihrer Geschwister sind. (S. 51)

Die auf die Arbeit mit Strassenkindern spezialisierte Pädagogin Graciani (1999)
setzt diese Feststellung in ihrem Buch „Sozialpädagogik der Strasse“ in einen
weiteren Zusammenhang und erwähnt die von Lucchini ebenfalls erwähnten
Institutionen, welche nicht den Interessen derer entsprechen, an die sie sich ei-
gentlich wenden:

Die Volkspädagogik [gemäss Freire] entsteht als politisch-pädagogische Alternative


im Widerspruch mit den staatlichen Erziehungsprojekten, welche die Interessen des
Volkes nicht vertraten oder sich gar dazu hergaben, diese zu negieren. (S. 47)

Sie ergänzt Freires „Bildung als Praxis der Freiheit“ um weitere, verwandte Be-
griffe wie: „Erziehung als Produktion und Konstruktion von Wissen“, „emanzi-
patorische Erziehung“, „Erziehung als Bedingung des demokratischen Lebens“,
Erziehung als „Kriterium und Bedingung der Entdeckung der Daseinsberechti-
gung der Dinge“ (1999, S. 49). Diese Begriffe und der dahinterstehende ganz-
heitliche Ansatz gegenüber Kindern und Jugendlichen klingen an Schriften älte-
rer Autoren an, welche oft auch zum Lesestoff der Mitarbeitenden von Projekten
mit entsprechender Ausrichtung gehören, angefangen mit Rousseaus „Émile“
(Erstausgabe 1762; 1999) und Pestalozzis „Pestalozzi über seine Anstalt in
Stans“ (Erstausgabe 1799; 1997) bis hin zu Makarenkos „Pädagogisches Poem“
(Erstausgabe 1957; 1960) und Freinets „L’éducation du travail“ (Erstausgabe
1946; 1998, 2000).
Die Volkspädagogik nach Freire mündete unter anderem in die „Sozialpä-
dagogik der Strasse“. Dieser Begriff kam in Brasilien gegen Ende der Militärdik-
tatur in den 1970er Jahren auf. Er entstand im Rahmen einer eigentlichen Bewe-
gung, zu deren grossen Verdiensten unter anderem die Erstellung des brasiliani-
schen Kinderrechtsstatuts aufgrund der UNO-Rechte des Kindes und die Formie-
rung der Nationalen Strassenkinderbewegung (Movimento Nacional Meninos e

44
Meninas de Rua) gehören. Swift (1997) und Oliveira (2000) beschreiben diese
Bewegung und deren starken Einbezug von Kindern und Jugendlichen ausführ-
lich.
Die „Pedagogia Social da Rua“ ist eine Form der „Gassenarbeit“, der direk-
ten Arbeit von „Volkspädagogen“ oder „Strassenpädagogen“ auf der Strasse mit
Personen, welche sich dort aufhalten. Graciani (1999) gibt in ihrem gleichnami-
gen Buch umfassenden Einblick in diese Arbeit und beschreibt sie als eine „pä-
dagogisch-politische Handlungsweise gemeinsam mit den marginalisierten Be-
völkerungsgruppen der Städte“ (S. 27). Der Fokus dieses Ansatzes liegt dabei
auf der Bewusstmachung bis hin zur Mobilisierung und Politisierung dieser Be-
völkerungsgruppen, mit der auf den Überlegungen Freires basierenden Idee, dass
diese Gruppen so in der Lage sein werden, ihre eigene Situation zu verbessern
und eine gerechtere Gesellschaft zu erkämpfen. So schreibt der „Vikarbischof
des Volkes der Strasse“, Monsignor Lancellotti, im Klappentext von Gracianis
Buch:

Die Kinder und Jugendlichen der Strassen entdecken und konstruieren zusammen
mit ihren Erzieherinnen und Erziehern einen Raum der Freiheit und Mitverantwor-
tung, der die Unmöglichkeit einer Situation und einer Zeit in Frage stellt.

Durch den Fokus auf die Strassenkinder und deren Einbezug hat die Sozialpäda-
gogik der Strasse eine Vielzahl an Erkenntnissen über die Kinder und ihre Situa-
tion erbracht und zur Entwicklung eines spezifischen Arbeitsansatzes sowie von
damit verbundenen Methoden geführt.
Obwohl so politische, soziale und pädagogische Fortschritte erzielt werden
konnten, scheint die Mobilisierung, die Bewusstmachung und das „Empower-
ment“27 der Kinder und Jugendlichen der Strasse jedoch nicht zu einer Reduktion
von deren Anzahl geführt zu haben. In den Augen der Autorin liegt dies in erster
Linie an einem Mangel an echten, von den Strassenkindern als attraktiv, nützlich
und nachhaltig empfundenen alternativen Lebensorten zur Strasse.
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit einer „residentiellen“ Institution für
Strassenkinder. Der Begriff „Institution“ verweist darauf, dass es sich bei sol-
chen Einrichtungen um Organisationen mit einem formellen Rahmen und Struk-
turen handelt. Als residentiell werden Institutionen verstanden, in denen Kinder
und Jugendliche leben. Wie bereits in Kapitel 1 erwähnt, gibt es in Brasilien über
3'000 Kinderwohnheime, Waisenhäuser und Erziehungsanstalten, in welchen

27
Empowerment: Strategien und Maßnahmen, die geeignet sind, das Maß an Selbstbestimmung
und Autonomie im Leben der Menschen zu erhöhen und sie in die Lage zu versetzen, ihre Be-
lange (wieder) eigenmächtig, selbstverantwortet und selbstbestimmt zu vertreten und zu gestal-
ten.

45
über 100'000 Kinder und Jugendliche leben, davon mehr als die Hälfte ehemali-
ge Strassenkinder. Sie halten sich aufgrund gesetzlicher Vorschriften und/oder
einem Mangel an Alternativen in den Institutionen auf.
Die hier zu untersuchende Chácara wird als Strassenkinderprojekt bezeich-
net. Der Begriff Projekt bezieht sich darauf, dass der Aufenthalt der Kinder und
Jugendlichen in dieser Institution temporärer Natur sein soll. So schreibt das
brasilianische Kinderrechtsstatut ECA vor, dass dem Kind so schnell wie mög-
lich die Rückkehr in die eigene Famlie oder die Aufnahme in einem anderen
familiären Umfeld ermöglicht werden soll. In der Realität wohnt jedoch der
grösste Teil der in Wohnheimen und Waisenhäusern lebenden Kinder und Ju-
gendlichen bis zur Erreichung ihrer Volljährigkeit dort, da die Rückkehr in die
Familie oder die Aufnahme in einer anderen Familie nicht möglich ist bzw. nicht
ermöglicht wird. Sowohl die Existenz von residentiellen Institutionen für Stras-
senkinder als auch der Wunsch von vielen Kindern und Jugendlichen, nicht auf
der Strasse zu leben, sind also Realitäten, die nicht ignoriert werden können.
Es wurde bereits festgestellt, dass Kinder und Jugendliche, welche den Le-
benskontext Strasse verlassen wollen, Zugang zu einem anderen Lebensraum
benötigen, welcher eine in ihren Augen echte Alternative zur Strasse darstellt.
Solange die Ursachen für ihren Gang auf die Strasse nicht behoben sind, welche
in anderen Kontexten – zum Beispiel der Familie – und im Verhältnis des Kindes
zu diesen Kontexten vorlagen, ist eine Rückkehr direkt von der Strasse in die
Familie zumeist illusorisch. Andere als die Herkunftsfamilien zu finden, welche
Kinder und Jugendliche aufnehmen, die über längere Zeit auf der Strasse gelebt
haben, ist meist ebenfalls unmöglich. Wenn familiäre Lebenskontexte verschlos-
sen sind und der Kontext der Strasse das Überleben und/oder die vom Kind ge-
wünschte Entwicklung nicht mehr bietet, bleiben als Alternative nur residentielle
Organisationen, welche das Kind aufnehmen können.
Die zitierte Bewegung zu Gunsten der Strassenkinder, in deren Rahmen un-
ter anderem die Sozialpädagogik der Strasse entstanden ist, hat kaum Institutio-
nen hervorgebracht, welche ihren Grundsätzen und Forderungen – also zum
Beispiel dem Protagonismus der Strassenkinder und der Veränderung gesell-
schaftlicher Ungleichgewichte – entsprechen. Nicht zuletzt deshalb scheinen in
Brasilien nach wie vor Institutionen wie die eingangs von staatlichen Studien
kritisierten zu überwiegen, welche die Protagonismus-orientierten Grundsätze
des Kinderrechtsstatutes nicht umsetzen und die Bedürfnisse, das Potential, die
Rechte, Pflichten und Interessen der Kinder und Jugendlichen weitgehend igno-
rieren.
Bei der Lektüre der Bücher über die historische Entwicklung der Bewegung
(Swift, 1997; Oliveira, 2000) sowie der für die Sozialpädagogik der Strasse und
Erkenntnissen über die Kinder hoch relevanten Publikationen von Lucchini

46
(1996a, 1996b, 1996c, 1997a, 1997b, 1998, 2000, 2001), Graciani (1999),
Rizzini et al. (2003) stellt sich die Frage: Und nun? Wie weiter für Kinder und
Jugendliche, welche nicht auf der Strasse leben möchten und für die es keinen
ihren Bedürfnissen, Fähigkeiten und Wünschen entsprechenden Ort gibt, an dem
sie aufgenommen werden könnten?
Lucchini (1998, S. 27) schreibt, dass die Ressourcen der Strasse und des
Kindes auf der Strasse genützt werden sollen, um eine angemessene Intervention
zu gestalten. Es soll damit vermieden werden, dass das Kind in einer Institution
gezwungen wird, sich an pädagogische Praktiken anzupassen, welche seine Le-
bensweise und Biographie nicht berücksichtigen. Er deutet damit ein zentrales
Spannungsfeld an, auf dessen einen Seite Institutionen stehen, welche notwendi-
gerweise über formelle Strukturen und Regeln verfügen müssen. Auf dessen
anderen Seite befindet sich der von ihm und den Vertreterinnen und Vertretern
der Sozialpädagogik der Strasse geforderte Ansatz, das Kind in seiner spezifi-
schen Situation und hinsichtlich seiner individuellen Wünsche, Fähigkeiten und
Potentiale anzusprechen und mit ihm zusammen Lösungen zu finden, welche
bestehende soziale Ungleichgewichte nicht replizieren. Es stellt sich die Frage,
wie diese beiden scheinbar gegensätzlichen Anforderungen an residentielle Pro-
jekte für Strassenkinder miteinander vereinbart werden können.
Rossato (2003b) erwähnt, dass es residentielle Projekte gebe, in denen der
Versuch gemacht werde, beide Anforderungen miteinander zu verbinden. Er
bezeichnet den pädagogischen Ansatz dieser Projekte als „alternativ“, da dieser
im Strassenkind das „Andere“ respektiere. In solchen Projekten seien die Stras-
senkinder Protagonisten und Mitverantwortliche ihres eigenen Veränderungspro-
zesses. Zum Verhältnis von Projekt und Kindern in diesem Kontext führt er aus:

Die alternative pädagogische Tendenz entzieht sich der Herausforderung, „die Stras-
sen [von den Strassenkindern] zu reinigen“ und kümmert sich nicht sehr darum, zu
wissen, ob die Kinder [grundsätzlich] bereit seien, ihr Leben angesichts der zur Ver-
fügung stehenden Alternativlösungen [zur Strasse] zu ändern. Sie kümmert sich im
Gegenteil darum, dass diese Alternativprogramme in demjenigen Moment bereit
sind, die Kinder aufzunehmen, in dem sich diese verändern wollen oder müssen. In
diesem Fall ist ein Betreuungsprogramm bereit, sie in dem Moment aufzunehmen
und/oder sie zu unterstützen, indem es ihnen weitgehende Partizipation bei allen
Entscheidungen und in der Organisation der täglichen Aktivitäten garantieren kann.
(S. 102)

Rossato erwähnt im Weiteren eine Studie von Rizzini und Wiik (1990, S. 46 und
S. 64, zitiert in Rossato, 2003b, S. 111). Diese befand, dass die untersuchten
Sozialinstitutionen in Rio de Janeiro, welche sich selbst als „alternativ“ bezeich-
neten, dies oft taten, ohne dass ihre Arbeit gemäss den entsprechenden Kriterien

47
erfolgt wäre. Als Beispiel für eine Institution, welche weitgehend als „alternativ“
im dargestellten Sinne verstanden werden kann, führt er die Chácara der Jungen
von Quatro Pinheiros auf, die Gegenstand der vorliegenden Studie ist:

(...) In erster Linie fällt [in der Chácara] der Entschluss auf, die armen und verlasse-
nen Kinder als Protagonisten zu sehen und zu bezeichnen, welche nicht nur an einer
persönlichen Veränderung teilhaben sollen, sondern auch an einer gesellschaftli-
chen. Dieser partizipative Charakter macht sie zu einem Beispiel der alternativen
pädagogischen Tendenz und zu einer Chácara der Jungen der Strasse (...). (S. 131)

Er beschreibt einige Aspekte von deren Praxis, so den Protagonismus der Jungen
und den sozialen Integrationsprozess, an dem alle Beteiligten – Jungen, Erzie-
hende, Nachbarn etc. – mitwirken, indem sie durch die Lösung von Konflikt-
situationen die Gemeinschaft entwickeln. Eine tiefer gehende Analyse der
Chácara wird von Rossato jedoch nicht durchgeführt. Seine positive Beurteilung
des Arbeitsansatzes der Chácara als „State-Of-The-Art“ mag zutreffen, ent-
springt sie doch nicht zuletzt seiner Mitarbeit bei Konzipierung und Aufbau
derselben, einem mehrmonatigen Arbeitsaufenthalt in ihr im Jahr 2000 sowie
seinem mehrjährigen Engagement in der nationalen Strassenkinderbewegung.
Erst eine umfassende wissenschaftliche Analyse der Chácara kann jedoch detail-
lierte und fundierte Erkenntnisse über deren Organisation erbringen und diese für
die Chácara selbst und für andere Projekte nutzbar machen. Es ist deshalb Ab-
sicht der vorliegenden Arbeit, im Rahmen der vorgenommenen organisations-
psychologischen Studie die in diesem Kapitel diskutierten Forschungen über
Strassenkinder und den Zugang zu ihnen um die kritische Auseinandersetzung
mit residentiellen Projekten und Institutionen – am Beispiel der Chácara – zu
ergänzen.

2.4 Organisation

Darüber, wie residentielle Organisationen für Kinder und Jugendliche der Strasse
gestaltet sind oder sein sollen, ist, wie eingangs erwähnt, kaum etwas bekannt.
Aus den bisherigen Ausführungen ist hervorgegangen, dass in ihnen ein starker
Fokus auf die Kinder in ihrer Eigenart und spezifischen Situation, ihren Bedürf-
nissen, Fähigkeiten und Potentialen gelegt und ihnen eine Protagonistenrolle in
ihrer eigenen Entwicklung zugeschrieben werden soll. Im Weiteren soll ein Ziel
der Arbeit mit Strassenkindern darin liegen, bestehende soziale Ungleichgewich-
te nicht zu belassen oder gar zu verstärken, sondern diese abzubauen. Dies sind
zweifelsohne wichtige Elemente der Arbeit mit Strassenkindern, sei es auf der
Strasse oder in Organisationen. Sie reichen jedoch nicht aus, um eine Organisati-

48
on als angemessenen alternativen Lebenskontext für diejenigen Strassenkinder
zu gestalten, denen in der Realität keine anderen Alternativen offen stehen.
Bisher gibt es keine Organisationsanalysen von residentiellen Projekten und
Gestaltungsempfehlungen, welche darauf aufbauen würden. Als Basis für die
Schliessung dieser Lücke sollen hier zunächst in der Organisationslehre und der
Entwicklungszusammenarbeit verwendete Konzepte der Organisation dargestellt
und hinsichtlich ihrer Eignung für Strassenkinderprojekte diskutiert werden.
Eine Organisation ist eine aus Menschen bestehende soziale Konstruktion.
Sie ist auf einen Zweck bzw. ein Ziel ausgerichtet. Sie besteht aus verschiedenen
Teilen, welche in einer Struktur angeordnet sind. In ihrem Inneren laufen Prozes-
se ab. Hierauf weisen Rollinson und Broadfield (2002) hin:

(...) a basic definition which would encompass all major conceptualisations of an or-
ganisation is: [Organisations are] social entities brought into existence and sustained
in an ongoing way by humans to serve some purpose, from which it follows that
human activities in the entity are normally structured and coordinated towards
achieving some purpose or goals. (S. 3)

Zudem ist sie ein dynamisches, offenes System, wie unter anderem die Autoren
Katz und Kahn (1966/1978) in ihrer „Open Systems Theory“ festgestellt haben:

This approach emphasises two aspects of social behavior patterns: (1) their system
character, so that movement in one part leads in predictable fashion to movement in
other parts, and (2) their openness to environmental inputs, so that they are conti-
nually in a state of flux. (S. 3)

Für die Gestaltung jeder Organisation – auch einer solchen, welche Lebenskon-
text für Strassenkinder sein und zu einer Veränderung der Gesellschaft beitragen
soll – sind also definitorische Konzepte für die verschiedenen Aspekte nötig,
welche in den beiden hier erwähnten Definitionen genannt werden oder mit die-
sen in Zusammenhang stehen.
Aufgrund der beiden Definitionen kann im Weiteren davon ausgegangen
werden, dass Organisationen wohl Ähnlichkeiten untereinander aufweisen, dass
sie sich aber in vielem auch unterscheiden, werden sie doch von unterschiedli-
chen Menschen in unterschiedlichen Situationen mit verschiedenen Zielen ge-
formt, und befinden sie sich ständig im Fluss.
In der Anfangszeit der Organisationstheorie wurde noch davon ausgegan-
gen, dass es eine ideale Organisationsform gebe (siehe zum Beispiel Brech
(1965), Fayol (1916), Parker-Follet (1926) und Urwick (1943, 1947)). Wie Rol-
linson und Broadfield erwähnen, stellte zum Beispiel Fayol eine Liste von 14
Prinzipien auf, wie eine Organisation strukturiert sein sollte. Bereits seit den

49
1950er Jahren wurde dieser Ansatz von wissenschaftlicher Seite kritisiert, und
zwar vor allem, weil er die Möglichkeit ignoriert, dass es Einflussfaktoren gibt,
welche gewisse Strukturen geeigneter für eine Organisation machen als andere.
Aus der Erkenntnis dieser Einflussfaktoren entstand die Kontingenztheorie, de-
ren Vertreter (z. B. Burns & Stalker, 1961; Lawrence & Lorsch, 1969; Thomp-
son, 1967; Woodward, 1965):

(...) took as their guiding principle the simple but elegant idea that the most appro-
priate structure for an organisation is the one that best suits its particular circum-
stances. (Rollinson & Broadfield, 2002, S. 512)

Die Literatur zu Fragen der Organisation stammt zum grössten Teil aus der Or-
ganisationslehre, darunter vor allem der Organisationspsychologie, sowie aus der
Betriebswirtschaft. Auffällig ist, dass sie mit wenigen Ausnahmen aus den USA,
aus westeuropäischen Ländern oder, in Zusammenhang mit gewissen Themen,
aus Japan kommt und häufig auf dem Wissen über Wirtschaftsorganisationen
wie (Gross-)Firmen und Fabriken basiert (vgl. z. B. Baumgartner, Häfele,
Schwarz & Sohm, 1998; Gairing, 1999; Gros, 1994; Katz & Kahn, 1978; Schu-
ler, 2004, Strohm & Ulich, 1997), und zwar Letzteres auch dann, wenn sie Stu-
dien über oder Empfehlungen an Organisationen im Sozialbereich macht (vgl.
z. B. Lotmar & Tondeur, 1998; Maelicke, 1994; Neto & Froes, 1999; Schiers-
mann & Thiel, 2000; Schwarz, Purtscher & Giroud, 1999).
In der gängigen Managementlehre und -praxis scheint die Idee einer „idea-
len“ Organisations- bzw. Führungsform gemäss der langjährigen Erfahrung der
Autorin in einer Grossbank und in der Zusammenarbeit mit Beraterfirmen, aber
auch aufgrund der Lektüre von Managementliteratur häufig immer noch implizit,
wenn nicht gar explizit vorhanden zu sein. Dies scheint auch dort zuzutreffen,
wo Managementinstitute oder Firmen ihre diesbezüglichen Erkenntnisse Non-
Profit-Organisationen (NPO) bzw. Sozial- und Entwicklungsorganisationen im
In- und Ausland zukommen lassen. Managementinstitute, die sich ihrer diesbe-
züglichen Verantwortung bewusst sind, weisen wohl auf Unterschiede zwischen
Non-Profit-Organisationen – darunter Sozialwerke und Organisationen der Ent-
wicklungszusammenarbeit – und Firmen hin. Oft wenden sie jedoch trotzdem die
anhand von europäischen und nordamerikanischen Firmen entwickelte Betriebs-
wirtschaftslehre auf Non-Profit-Organisationen an, wenn auch mit gewissen
Abstrichen in Bereichen, wo sie diese für nicht anwendbar halten. Sie nehmen
hingegen zusätzliche Erkenntnisse und Erfahrungen, die nur solchen Organisati-
onen eigen sind, kaum oder gar nicht in ihre Lehre auf. Organisationen im Sozi-
albereich scheinen implizit als Organisationen verstanden zu werden, welche
selbst kein spezifisches und anwendbares Organisationswissen produzieren.

50
Auch die Kommunikation von Erkenntnissen ist oft von einem Jargon geprägt,
welcher der firmenbezogenen Betriebswirtschaft entstammt und der Sprache und
der Organisationskultur von Non-Profit-Organisationen wie zum Beispiel Sozi-
alwerken und -projekten unter Umständen fremd und kaum zugänglich ist. Ein
illustratives Beispiel dafür ist das Verbandsmanagementsinstitut in Freiburg,
welches das „Freiburger Management-Modell für NPO“ anwendet. Gemäss
Klappentext des gleichnamigen Buches (Schwarz, Purtschert & Giroud, 1999),
wendet sich dieses an die ganze Bandbreite von NPO von Wirtschafts- und Ar-
beitnehmer-Verbänden, Kammern, Genossenschaften, Vereinen, Kirchen, Partei-
en und sozialen, philanthropischen, kulturellen und ähnlichen Organisationen.
Als Anliegen des Buches deklariert der erste Satz des Klappentextes „Nonprofit
but Management“ (Klappentext), als ob all diese – zum Teil seit vielen Jahren
bestehenden – Organisationen bisher nicht oder nur sehr ungenügend strukturiert
und geführt worden wären. Zur Aufgabe des Buches heisst es:

Die Management-Lehre von NPO hat in enger „Tuchfühlung“ mit der allgemeinen,
auf Profit-Unternehmungen ausgerichteten Betriebswirtschaftslehre (BWL) zu blei-
ben, weil in dieser Disziplin ein Vielfaches an Forschung und damit an Weiterent-
wicklung im Vergleich zum NPO-Bereich geleistet wird. Somit war es unsere Auf-
gabe, den wissenschaftlichen Fortschritt in der allgemeinen BWL für die NPO-
Lehre aufzubereiten und – mit den teils erforderlichen Modifikationen – in unser
Modell einzuarbeiten. (S. 7)

Obwohl die Autoren des „Freiburger Management-Modells für NPO“ auf gewis-
se Unterschiede zwischen Organisationen hinweisen, entsteht der Eindruck, dass
ihre Grundannahmen es kaum erlauben, die Organisationserkenntnisse einer
brasilianischen Bürgerorganisation, welche unter Umständen nicht der „allge-
meinen BWL“ entsprechen, der Multiplikation in ähnlichen oder anderen Orga-
nisationen als würdig zu empfinden. Umgekehrt heisst dies, dass man, wenn man
Organisationsmodelle aus Wirtschaftsorganisationen auf ein residentielles Stras-
senkinderprojekt anwendet, das Risiko eingeht, nur festzustellen, welche Aspek-
te der „allgemeinen BWL“ im Strassenkinderprojekt vorkommen oder nicht
vorkommen, hingegen Aspekte übersieht, welche im Strassenkinderprojekt vor-
kommen, nicht aber in der Wirtschaftsorganisation.
Vor dem Hintergrund von Beispielen wie dem genannten kommentieren
Sülzer und Zimmermann (1996), Fachleute der Organisationsberatung in der
Entwicklungszusammenarbeit:

Die Wahrnehmungen bestimmter Eigentümlichkeiten von Organisationen ist von der


eigenen Organisationserfahrung beeinflusst. Werden diese subjektiven Organisati-
onsvorstellungen auf andere Organisationen und Verhältnisse übertragen, so ver-

51
führt dies dazu, nach Rezepten und Passepartout-Lösungen zu suchen. Es gibt aber
weder für den Staat noch für Unternehmen noch für gemeinnützige Basisorganisati-
onen oder Privathaushalte zwingende oder ideale Organisationsformen. Organisati-
onsphantasien und Idealvorstellungen von der einzig möglichen und besten Organi-
sation behindern die Sicht auf die Vielfalt organisatorischer Gestaltungsmöglichkei-
ten. (S. 43)

Aus dieser Einsicht heraus formulieren sie basierend auf der „Open-Systems-
Theorie“ und der Kontingenztheorie ein „inhaltsleeres“ Konstrukt, welches auf
alle Arten von Organisationen angewendet werden kann. Dieses charakterisiert
eine Organisation als:

ƒ Ein offenes System: nimmt Leistungen aus der Umwelt auf und gibt Leis-
tungen an die Umwelt ab (permanenter Austausch, koordiniert durch Märk-
te).
ƒ Nach aussen abgrenzbar: durch Räume und Gebäude, Mitgliedschaft, Teil-
nahme an der Produktion und Wertschöpfung, Ziele, Normen, Regeln und
Rollen.
ƒ Leistungsorientiert und zweckgerichtet: Transformationen von Inputs in
Outputs, koordiniert durch ökonomische, soziale und politische Ziele.
ƒ Auf Überleben ausgerichtet: Anpassung der Strukturen und Prozesse an die
Umwelt.
ƒ Ein Netzwerk von Teilsystemen: soziale (Menschen, Wissen und Techno-
logie, Rollen, Beziehungen etc.) und technische (Geld, Maschinen, Kom-
munikationsmittel etc.). (S. 38)

Fowler, Goold und James (1995) definieren ein Rahmenkonzept für Nichtregie-
rungsorganisationen (NRO bzw. NGO), welches ebenfalls über fünf verschie-
dene Aspekte verfügt: 1) Identity/Attitude/Values, 2) Vision/Mission/Strategy,
3) Systems and Structures, 4) Skills and Abilities und 5) Material and Financial
Resources. Sie weisen darauf hin, dass diese Aspekte hinsichtlich einer unter-
schiedlichen Gewichtung beziehungsweise einer logischen Gestaltungsabfolge
zu ordnen seien, wie hier durch die Nummerierung angegeben. Sie kommentie-
ren dazu:

According to this model, first principles for a healthy NGO would be to be clear
about its identity and attitude to the world, which in turn shapes its vision of our so-
ciety and its purpose in it, which in turn shapes its strategies to be adopted and the
tasks to be carried out, which in turn defines the structures and systems that need to
be in place and the staff to be employed, the skills and abilities they need, and the
whole is then supported by adequate resourcing. Put slightly differently, form fol-

52
lows function. Inevitably, these phases do overlap and are repeated at different stag-
es of an organisation’s development. (S. 6)

Diese Gewichtung kommt auch im „Logical-Framework-Approach“ (LFA) des


United Nations Development Program zum Zug (UNDP, 2000). Dieses Modell
hat die Projekt- und Programmplanung im Entwicklungszusammenhang stark
geprägt und wird ähnlich von der schweizerischen Direktion für Entwicklung
und Zusammenarbeit (DEZA, 1996, 1997, 2000a, 2000b) in ihrem Project Cycle
Management (PCM/PEMU) und dem Development Assistance Committee
(DAC) der OECD (http://www.oecd.org/dac) verwendet. Es geht davon aus, dass
folgende Elemente der Organisation in einer durch die Nummerierung angege-
benen logischen Abfolge zu gestalten sind: 1) Oberziel, 2) Projektziel, 3) geplan-
te Leistungen/Resultate, 4) geplante Aktivitäten und Prozesse, 5) Ressourcen.
Die hier geschilderten Rahmenkonzepte ähneln sich stark und können als
unterschiedliche Formulierung desselben Konzeptes verstanden werden. Im Sin-
ne einer Metatheorie beschreiben sie den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ von
Organisationen. Sie geben die Dimensionen vor, anhand derer Organisationen
beschrieben (sowie geplant, betrieben und weiterentwickelt) werden können.
Der Entwicklungskontext umfasst heute alle Arten von Organisationen, da-
runter kommerzielle (zum Beispiel im Bereich der Förderung von kleinen und
mittelgrossen Betrieben), staatlich-institutionelle (zum Beispiel im Bereich der
Gestaltung von staatlichen Sozialinstitutionen) sowie eine Vielfalt von weiteren
Organisationstypen wie Basisorganisationen, Wohltätigkeitsorganisationen,
Mobilisierende Organisationen, Genossenschaften, Interessengemeinschaften
und Verbände, Entwicklungsorganisationen und Beratungsorganisationen (dazu
Sülzer und Zimmermann, 1996, S. 239í240). Dabei gibt es viele Mischformen.
So umfasst zum Beispiel die untersuchte Chácara Aspekte einer Basisorganisati-
on, einer Wohltätigkeitsorganisation, einer Mobilisierenden Organisation, einer
Genossenschaft, einer Interessengemeinschaft und zunehmend auch einer Ent-
wicklungs- und Beratungsorganisation.
Wie dargelegt, kann nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass die
Chácara über dieselben organisationalen Charakteristika verfügt wie die von der
Organisationslehre am häufigsten untersuchten Wirtschaftsorganisationen der
westeuropäischen und US-amerikanischen Industrie. Es muss zunächst eine
eigentliche Phänographie dieser spezifischen Organisation Chácara erstellt wer-
den. Wegen ihrer „Inhaltsleere“ kann dafür eine Metatheorie der Organisation im
Sinne der genannten Rahmenkonzepte beigezogen werden. In Kapitel 3.3.3 wird
im Zusammenhang mit der Forschungsmethodik näher auf die Verwendung einer
Metatheorie der Organisation eingegangen.

53
2.5 Qualität, Nachhaltigkeit und Entwicklung der Organisation

Wie im vorangehenden Kapitel festgestellt, entstehen Organisationen mit dem


Zweck der Erreichung von Zielen. Entsprechend interessiert die Qualität, mit der
Organisationen ihre Ziele verfolgen und erreichen. Aufgrund der Kontingenz und
Dynamik der Organisation stehen Qualität und Nachhaltigkeit der Organisation
in einem engen Zusammenhang mit der Entwicklung der Organisation bzw.
deren grundsätzlicher Kapazität zur Entwicklung.
In der Folge soll nun zunächst auf gebräuchliche Konzepte von Qualität und
Nachhaltigkeit eingegangen werden. Daraufhin folgen Überlegungen zur Not-
wendigkeit der Entwicklung der Organisation, damit sie ihre Leistungsfähigkeit
und damit Qualität aufrechterhalten und weiter verbessern kann. Schliesslich
werden zwei dafür zentrale Konzepte vorgestellt, dasjenige der organisationalen
Kapazität und dasjenige des organisationalen Lernens. Damit soll die Basis für
die spätere Inbezugsetzung der Erkenntnisse der empirischen Untersuchung mit
Aspekten der Qualität und Nachhaltigkeit gelegt werden.

2.5.1 Qualität und Nachhaltigkeit

Die gebräuchlichen Konzepte von Qualität beziehen sich zumeist auf das Mass,
in welchem die Organisation die von ihr definierten Ziele erreicht. Dies trifft
auch auf das Rahmenmodell zu, welches von den bereits erwähnten Institutionen
(der schweizerischen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA,
dem Development Assistance Committee DAC der OECD und den entwick-
lungsorientierten Organisationen der UNO (zum Beispiel dem United Nations
Development Program UNDP) und anderen mehr verwendet wird. Das Modell
umfasst drei Ebenen bzw. Konzepte der Qualität:

ƒ Relevanz: Das Übereinstimmen der Ziele eines Vorhabens mit den Bedürf-
nissen der Nutzniesser, des Landes und globalen Prioritäten.
ƒ Effektivität: Das Ausmass, in dem die Ziele eines Vorhabens erreicht wur-
den (unter Berücksichtigung ihrer entsprechenden Gewichtung).
ƒ Effizienz: Die Wirtschaftlichkeit, mit der die Ressourcen (Finanzen, Studi-
en, Zeit etc.) in Leistungen und Produkte umgewandelt werden.28

Ein weiteres, ebenfalls von der DEZA und anderen Organisationen verwendetes
Konzept ist dasjenige der Nachhaltigkeit. Dieses geht über die Erreichung der
28
Nach: DEZA Glossar „Die 27 am häufigsten gebrauchten Begriffe in der DEZA in den Berei-
chen Evaluation und Controlling. Keine Jahreszahl.

54
unmittelbar angestrebten Ziele hinaus und bezieht sich auf weiterführende Wir-
kungen und Nutzen:

ƒ Nachhaltigkeit: Die Dauerhaftigkeit der Fortsetzung der erzielten Nutzen


und Wirkungen eines Vorhabens auch nach dessen Beendigung.29

Die erwähnten Konzepte sind weitgehend inhaltsleer, so dass sie sich auf ver-
schiedene Typen von Entwicklungsvorhaben – darunter auch den Aufbau und
die Entwicklung von Organisationen im Sozialbereich – anwenden und für diese
entsprechend spezifisch ausgestalten lassen30.
Die Messung von Grössen der Relevanz, Effektivität und Effizienz wird
dem kontingenten und dynamischen Charakter von Organisationen nicht voll-
ständig gerecht. Entsprechend basieren neuere Konzepte der Qualität und Leis-
tungsfähigkeit wie diejenigen des Total Quality Management31 oder der Organi-
sationsentwicklung32 (und insbesondere deren systemische Ansätze33) auf einer
ganzheitlicheren Sicht der Organisation und beziehen sich nicht nur auf Resulta-
te, sondern auch auf organisationale Strukturen und Prozesse. Sie nehmen auch
die Dynamik und Situativität der Organisation auf und sehen Qualität und Leis-
tungsfähigkeit nicht als ein einmalig zu erreichendes Ziel, sondern als einen
ständigen Prozess, der nie zu Ende ist.
Wohl vor dem Hintergrund ähnlicher Überlegungen setzt die DEZA die
Qualitätsdimensionen Relevanz, Effektivität und Effizienz in Zusammenhang
mit der Organisationsplanung und -entwicklung, wie die folgende Darstellung
zeigt:

29
Nach: DEZA Glossar „Die 27 am häufigsten gebrauchten Begriffe in der DEZA in den Berei-
chen Evaluation und Controlling. Keine Jahreszahl.
30
Diese Evaluationsebenen wurden im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit definiert, kön-
nen vermutlich aber auf alle Arten von Organisationen und zum Beispiel auch auf Firmen, wel-
che Konsumgüter oder Dienstleistungen produzieren, übertragen werden, wobei dort im Rahmen
der Relevanz die Ausrichtung auf den Markt und auf Kundenbedürfnisse die Ausrichtung auf
Entwicklungsbedürfnisse ersetzen würde.
31
Siehe zum Beispiel Büssing in: Schuler, 2004, S. 591 oder Zollondz, 2002, S. 192í193.
32
Siehe zum Beispiel Gairing, 1999, S. 12í13.
33
Zu welchen häufig auch die Open-Systems-Theory von Katz & Kahn (1966/1971) gezählt wird.

55
Abbildung 2: Planung und Evaluation auf drei Ebenen: eine Illustration
(DEZA, 2002, S. 6)34

In der Evaluation wird hier die Qualität im Sinne der Bestimmung eines erreich-
ten Zustandes beurteilt, das heisst, in Beantwortung der Frage: wie relevant,
effektiv und effizient ist ein Vorhaben bzw. eine Organisation (rechte Hälfte von
Abbildung 2). In der Planung und Gestaltung stellt sich hingegen die Frage, wie
die Organisation ihre Strukturen und Prozesse gestalten kann, damit sie Rele-
vanz, Effektivität und Effizienz erreicht (linke Hälfte von Abbildung 2). Hier ist
der bereits erwähnte „top-down“-Ansatz der Planung bzw. Organisationsgestal-
tung dargestellt, bei dem die Projektziele vom Oberziel abgeleitet werden und
Aktivitäten so ausgewählt und gestaltet werden, dass sie in möglichst hohem
Masse zur Erreichung der Projektziele beitragen.

2.5.2 Organisationale Veränderung, Entwicklung und Qualität

Soll die Organisation der Zielerreichung – ihrer „Raison d’Être“ – gerecht wer-
den und entsprechend gute Qualität aufweisen, genügt es nicht, sie in der Abfol-

34
Verfügbar auf: http://162.23.39.120/dezaweb/ressources/resource_de_23569.pdf am 10.7.2006.

56
gelogik des vorgestellten Modells zu gestalten. Aufgrund ihres kontingenten und
dynamischen Charakters sieht sie sich vor der Herausforderung, die Gestaltung
ihrer Strukturen und Prozesse den ständig sich verändernden Innen- und Aussen-
bedingungen anzupassen. Sie wird nicht nur einmal, sondern ständig gestaltet.
Sie muss sowohl stabil als auch flexibel sein, um weiterhin zu bestehen (also als
Gebilde nachhaltig zu sein) und relevant, effektiv und effizient sein zu können.
Deutlich wird dies zum Beispiel aus einer qualitativen Organisationsanalyse
von Wehner, Ostendorp & Ostendorp (2002), welche vier Beschreibungsdimen-
sionen von gemeinwohlorientierten Freiwilligeninitiativen ergeben hat, von de-
nen eine der Stabilität, zwei der Analyse und eine der Flexibilität der Organisati-
on zugeordnet werden können. Sie schreiben:

Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass sich vier Beschreibungsdimensionen (sinn-


erzeugende ureigene Idee; Sensibilität gegenüber Zeitfragen; Sensibilität für innere
soziale Prozesse; produktiver Umgang mit Hindernissen) herauskristallisieren las-
sen. Gelingt es den jeweiligen Organisationen, diese vier Beschreibungsdimensionen
gut aufeinander abzustimmen und eine Balance zwischen Beständigkeit (Vermitt-
lung der ureigenen Idee) und Wandel über die Zeit hinweg (Austausch und Nähe zur
Basis) herzustellen, dann kann von Good Practice gesprochen werden. (S. 48)

Die in dieser Untersuchung aufscheinenden Dimensionen lassen sich in Zusam-


menhang bringen mit (Organisations-) Entwicklungsansätzen sowie Ansätzen
der strategischen Planung und des Projektmanagements. Sie weisen darauf hin,
dass zur Anpassung an innere und äussere Veränderungen sowohl eine Analyse
von äusseren und inneren Umständen notwendig ist als auch eine aktive Gestal-
tung dieser Umstände.
Die Entwicklungszusammenarbeit bezieht sich häufig auf Ansätze der Akti-
onsforschung (Lewin, 1951), welche eine Anzahl von Schritten zur Gestaltung
von Veränderung vorsieht: Problemidentifikation, Informationsbeschaffung und
-analyse, Handlungsplanung, Handlung und erneute Evaluation (in Rollinson &
Broadfield, 2005, S. 628í629).
Im (betriebswirtschaftlich orientierten) strategischen oder Projektmanage-
ment wird von einer Abfolge bzw. einem Kreislauf von Analyse der Ausgangs-
lage (inklusive Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken), Identifikation des
Handlungsbedarfs, Planung der notwendigen Schritte, Implementation und
Monitoring/Evaluation ausgegangen.
Brasilianische Basisbewegungen wiederum wenden oft die Grundsätze der
„Conscientização“ an, der Bewusstseinsbildung bzw. des kritischen Bewusst-
seins nach den Überlegungen der „Pädagogik der Unterdrückten“ des Volkspä-
dagogen Paulo Freire (1973). Wie bereits erwähnt, geht dieser davon aus, dass
Menschen ihre Umwelt und ihr Leben dann gestalten können, wenn sie sich der

57
verschiedenen Zusammenhänge und Abhängigkeiten und ihrer eigenen Rolle
und Gestaltungsmöglichkeiten bewusst sind. Die Bewusstseinsbildung und die
daraus resultierende Praxis erfolgen aufgrund eines Prozesses des Dialogs, der
Reflexion. Dieser Prozess kann – in eine andere Terminologie gefasst – ebenfalls
als ein Kreislauf von Analyse, Handlungsplanung/-vorbereitung, Handlung,
Evaluation und erneuter Handlungsplanung/-vorbereitung etc. verstanden wer-
den. Clodomir Santos de Morais und andere Autoren haben aus diesem Ansatz
die „Capacitação Massiva“ („Befähigung grosser Gruppen“), eine hoch partizi-
pative Methode der Befähigung zu Organisation und Einkommensgenerierung
grosser (Basis-)Gruppen entwickelt, welche zum Beispiel in der Organisations-
entwicklung der brasilianischen Landlosenbewegung MST und beim Aufbau und
der Entwicklung weiterer Bürgerorganisationen in Lateinamerika und Afrika
sowie auch in England verwendet wird (siehe Carmen, 1996; Carmen &
Sobrado, 2000).

2.5.3 Organisationale Kapazität und organisationales Lernen

Die Ansätze der Aktionsforschung, des betriebswirtschaftlichen strategischen


Managements und der Bewusstseinsbildung und „Capacitação Massiva“ unter-
scheiden sich in einer Anzahl von Aspekten, verfügen aber, wie gezeigt, über
Ähnlichkeiten bezüglich der hauptsächlichen Schritte des Anpassungs- und Ent-
wicklungsprozesses der Organisation zugunsten der Aufrechterhaltung und Wei-
terentwicklung ihrer Leistungsfähigkeit bzw. ihrer Fähigkeit, Qualität und Nach-
haltigkeit zu erreichen.
Damit eine Organisation aber diese Organisationsentwicklung vornehmen
kann, genügt es nicht, dass sie weiss, was zu bestimmen ist (z. B. die Projektzie-
le) und welche Schritte (z. B. Analyse) dazu nötig sind. Sie muss über die Kapa-
zität verfügen, diese Schritte auch tatsächlich zu tun. Zudem muss sie lernfähig
bzw. eine „Lernende Organisation“ sein, um diese Kapazität aufbauen zu kön-
nen.
Sorgenfrei und Wrigley (2005) erwähnen dies in Bezug auf Organisationen
der Zivilgesellschaft (CSOs):

(...) CSOs require the ability to observe and analyse their environment and conti-
nuously adapt to new situations by developing flexible ways of operating while stay-
ing true to their vision and mission. In doing so, they are anticipating and proactive-
ly responding to internal and external forces for change rather than limiting them-
selves to adopting short-term, reactive coping strategies. To do this successfully,
CSOs therefore need the capactiy to continuously reflect critically and act effective-
ly. (S. 8)

58
Fowler et al. (1995) beziehen sich auf (grosse) Nichtregierungsorganisationen
der internationalen Entwicklungszusammenarbeit und erwähnen vier hauptsäch-
liche Dimensionen, welche zu organisationaler Kapazität beitragen, von denen
angenommen werden kann, dass sie sich auch auf kleinere lokale Organisationen
anwenden lassen:

Competencies are determined by the quality of people (staff) and the way they are
organised. Staff quality is determined by their knowledge, skills, motivation and atti-
tudes. Organisational competence comes from how people are focused and enabled
to work together. Important factors in making this happen are the identity, mission,
vision, systems, structures etc.

Resources relate to the quality, reliability and utilisation of non-human means such
as finance and materials, which are mobilised and transferred. (...)

Relationships are the key linkages NGOs must maintain in the wider context to
achieve their mission (...).

Learning is determined by the way in which an NGO recognises and deals with its
own operational experience and analysis of performance in relation to standards and
norms which ensure quality and continuous improvement. The ability to learn is
strongly related to an organisation’s culture and willingness to continually take a
critical stance towards what it is doing. (S. 7)

Das Konzept der “Capacity” lenkt den Fokus auf eine dynamische Organisation,
bei der es zwar wichtig ist, was sie tut, aber vor allem auch, wie sie diese Tätig-
keit entwickelt. In früheren Konzepten der Organisation bzw. organisationaler
Qualität wurden oft eher einzelne Aktivitäten hervorgehoben, welche direkt mit
den Dienstleistungen oder Produkten der Organisationen in Verbindung standen.
Im „Capacity“-Konzept werden nun grundlegende Aspekte der sozialen Struktu-
ren und Prozesse der Organisation hervorgehoben. Diese tragen nicht nur dazu
bei, dass die Effizienz und Effektivität der direkt mit dem „Produkt“ der Organi-
sation in Verbindung stehenden Aktivitäten gesteigert werden können. Sie sor-
gen darüber hinaus für ein an sich funktions- und entwicklungsfähiges Organisa-
tionsgebilde, indem sie zum Beispiel auch die Fähigkeit der Organisationsmit-
glieder zur konstruktiven Zusammenarbeit umfassen.
Der Begriff der „Lernenden Organisation“ nimmt den vierten von Fowler et
al. (1995) genannten Punkt auf, die Lernfähigkeit. Gemäss Britton (1998) geht es
dabei vor allem um das Lernen aufgrund des in der Organisation selbst vorhan-
denen Wissens. In einer Aussage, die unter anderem wie ein Echo der Überle-
gungen von Freire (1973) erscheint, zitiert er den Begriff des „reflective practi-
tioner“ und schreibt:

59
A learning organisation, therefore, supports its members to translate information into
knowledge and wisdom and then converts the tacit wisdom of its individual mem-
bers into explicit wisdom which can be accessed and used by others both within and
outside the organisation.
The process of articulation involves helping people express what may initially
appear to be inexpressible – their subjective insights, intuitions and understanding
developed through experience. Individuals may need considerable support and en-
couragement to make their wisdom available to others. Organisational learning,
therefore, requires what Donald Schon (1978) has called reflective practitioners
working in an enabling learning environment.
Reflective practitioners are individuals who are skilled in the process of reflect-
ing on their practice whilst they are acting, and doing so in a way that enables them
to do their jobs more thoughtfully and effectively.
Learning organisations need reflective practitionars who are able and willing to
challenge continuously their own assumptions and the assumptions of their col-
leagues in a constructive way which generates new insights and leads to the devel-
opment of explicit wisdom. (S. 5)

Britton (1998) nimmt die bereits erwähnten Schritte des Adaptationsmechanis-


mus der Organisation auf und sieht nach Swieringa & Wierdsma (1992) organi-
sationales Lernen als einen ständigen Prozess von Denken, Entscheiden, Tun und
Reflexion. Darauf aufbauend stellt er die „acht Schlüsselfunktionen einer lernen-
den NGO“ nach Slim (1993) dar. Bei diesen kommen zum „Sammeln interner
Erfahrungen“ die Aspekte „Zugriff auf externe Erkenntnisse“, „Kommunikati-
onssysteme“, „Schlussfolgern“, „Entwicklung eines Organisationsgedächtnisses“
und „Integration der Erkenntnisse in Strategie und interne Politik“ hinzu. Alle
diese Aspekte sind sowohl direkt als auch über den Aspekt der praktischen An-
wendung der Erkenntnisse miteinander verbunden. Grundlage für den Funkti-
onskreis von Britton ist eine Kultur, welche das persönliche und organisationale
Lernen grundsätzlich gut heisst und fördert. In diesem Rahmen ist organisationa-
les Lernen seiner Ansicht nach intentional, kontextspezifisch, auf konkrete, aktu-
elle Herausforderungen oder Probleme ausgerichtet und nachfrageorientiert
(Britton, 1998, S. 8).
Dabei geht es nicht nur um direktes Lernen zum Beispiel darüber, wie eine
Handlungsweise verbessert werden kann, sondern auch um ein „Lernen des Ler-
nens“, eine Konzeption, die wiederum derjenigen der organisationalen Kapazität
(das heisst der Entwicklungsfähigkeit der Organisation) nahe steht. So schreibt
Gairing (1999) in Bezug auf die Stärkung der Problemlösefähigkeit der Organi-
sation und ihrer Mitglieder:

Die Qualität des Lernens ist also nicht nur an der Fähigkeit zu messen, Veränderun-
gen im kognitiven, psychomotorischen und affektiven Bereich zu erreichen, sondern

60
den Prozess des Veränderns bewusst zu reflektieren und sich dadurch selbstverant-
wortlich lernfähig zu halten. (S. 211)

Die Lernfähigkeit der Organisation stellt Britton in direkten Zusammenhang mit


der Überlebens-, Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit bzw. der Nachhaltigkeit
der Organisation selbst:

(...) if NGOs do not learn, they are likely to cease to exist as they will not be able to
adapt sufficiently well to the changing circumstances in which they find themselves.
This is the Action Learning expert, Reg Revan’s 1983 classic L/C equation (where
L, the rate of learning must be greater or equal to C, the rate of change). (1998, S. 7)

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Qualität und Nachhaltigkeit im Sinne


der Erreichung geplanter Ziele der Organisation untrennbar mit der Gestaltung,
Anpassung und aktiven Weiterentwicklung organisationaler Strukturen und Pro-
zesse verbunden sind. Die Untersuchung der Organisation Chácara soll sich
deshalb nicht nur auf zielorientierte Kriterien der Qualität, sondern auch auf
Prozesse und Mechanismen der Organisation auf dem Weg zu Qualität und
Nachhaltigkeit richten.

61
3 Methodische Gestaltung der Studie

Die Methodik dient der Erreichung des Forschungsziels. Sie ist der gemeinsame
Nenner, unter dem die Forschungsgestaltung und -durchführung entwickelt und
Methoden der Datenerhebung, -auswertung und -interpretation gestaltet und
eingesetzt werden.
Forschung bezieht sich auf einen spezifischen Kontext, einen spezifischen
Gegenstand und ein spezifisches Ziel. Methodik und Methoden können nur dann
Erkenntnisse generieren, welche das Forschungsziel erfüllen, wenn sie diese
Bezüge aufweisen, und wenn sie dem Forschungsziel sowie dem Forschungs-
kontext an sich angemessen sind.
Der Forschungskontext der vorliegenden Arbeit umfasst vor allem die un-
tersuchte Organisation Chácara in Brasilien. Diese befindet sich in einem spezi-
fischen Umfeld und verfügt über spezifische Eigenheiten in ihren organisationa-
len Strukturen und Prozessen sowie in ihren Möglichkeiten und Grenzen für eine
Forschungsarbeit. Der Forschungskontext umfasst ebenfalls die Autorin, welche
bezüglich der untersuchten Organisationen bestimmte Positionen und Rollen
inne hat und im Rahmen des Forschungsauftrages und des wissenschaftlichen
Arbeitens ebenfalls über spezifische Möglichkeiten und Grenzen verfügt. Lam-
nek (1995) fordert die:

... Anpassungsfähigkeit des methodischen Instrumentariums an das Untersuchungs-


objekt und die Situation, nicht umgekehrt. (S. 22)

Dies gilt in besonderem Masse im Fall der Analyse und Diagnose von Organisa-
tionen, da diese, wie bereits erläutert, als an sich kontingent und dynamisch zu
charakterisieren sind. Entsprechend heisst es in den „Leitlinien zur Organisati-
onsdiagnose“ des Nachdiplomstudiums für Entwicklungsländer der ETH und des
KEK (keine Jahreszahl):

Es existiert kein perfektes, universell geltendes Organisationsdiagnoseinstrument.


Jede Diagnose ist situationsspezifisch und mit angepassten Instrumenten zu gestal-
ten. (S. 1)

62
Resultate von Forschungen, bei denen Methodik ohne ein Bewusstsein für den
spezifischen Forschungskontext und ohne Anpassung an dessen Eigenheiten,
Potentiale und Grenzen gestaltet wird, sind in ihrer Validität und Anwendbarkeit
stark eingeschränkt. In der vorliegenden Untersuchung wurde demgegenüber
grosser Wert darauf gelegt, die Methodik – und damit Forschungsmethoden,
-prozesse und -rollen – so zu wählen und auszugestalten, dass sie der Spezifizität
von Kontext, Objekt und Ziel der Forschung angemessen war.35
In Ergänzung zum bereits geschilderten Forschungsgegenstand und For-
schungsziel sollen hier zunächst die Anforderungen, Möglichkeiten und Grenzen
des Forschungskontextes Chácara sowie die spezifische Situation und Position
der Forscherin und deren Konsequenzen für die Forschung dargestellt werden.
Innerhalb dieses Rahmens wird daraufhin auf die Methodik und Herleitung der
Methoden, auf die Methoden der Datenerhebung sowie auf die gewonnenen
Daten und die Methoden für deren Auswertung eingegangen. „Last but not least“
werden dann Forderungen und Umsetzung von Fragen der wissenschaftlichen
Güte – Gültigkeit, Zuverlässigkeit und Repräsentanz – sowie die Themen Si-
cherheit und Ethik behandelt.

3.1 Anforderungen, Grenzen und Möglichkeiten der untersuchten


Organisation

In den zwei Jahren vor Beginn der Forschung führte die Autorin mit dem Koor-
dinator, aber auch mit anderen Mitgliedern und Beteiligten der zu untersuchen-
den Organisation Chácara Gespräche, welche dem Herantasten an die For-
schungsaufgabe und letztlich deren Aushandeln dienten. Dabei entstand die ge-
meinsame Einsicht, dass die Forschungsmethodik der Kultur der Chácara und
vor allem deren lernorientiertem und partizipativem Charakter angemessen sein
sollte. Die beteiligten Personen sollten nicht als passive Forschungsobjekte,
sondern als kompetente Subjekte behandelt werden. Die Resultate sollten einen
Zugewinn an Erkenntnis darstellen und für die Entwicklung der Chácara sowie
für die Förderung anderer Projekte und Institutionen praktisch nutzbar sein. Zu-
dem sollte die Methodik dergestalt sein, dass sie die tägliche Arbeit der Chácara
nicht nur nicht behinderte, sondern – sollte dies möglich sein – gar stärkte. Im
Verlauf dieses Gesprächsprozesses wurden so die spezifischen Anforderungen,
Grenzen und Potentiale der Chácara in Bezug auf die Organisationsanalyse er-

35
Das Forschungsdesign wurde zudem wiederholt in Forschungskolloquien an der Universität
Zürich, der ETH Zürich und der Universität Fribourg sowie im Rahmen von Vorträgen an der
Unversidade Federal do Paraná und der Universidade Estadual de Maringá mit Professoren und
Professorinnen sowie akademischen „Peers“ ausführlich diskutiert.

63
sichtlich. Die Autorin gelangte dabei zur Überzeugung, dass ein methodisches
Vorgehen, welches diese grundsätzlichen Anforderungen nicht aufnehmen wür-
de, nicht auf echtes Interesse und Engagement seitens der Mitglieder der Chácara
stossen und deshalb auch nicht wirklich relevante und anwendbare Resultate
generieren würde.
Bezüglich von Grenzen zeigten sich an erster Stelle die eingeschränkten
Ressourcen. So hatten im täglichen Betrieb der Chácara insbesondere die Be-
treuung und Begleitung der dort aufgenommenen Jungen erste Priorität und Vor-
rang vor den Forschungsabsichten. Wegen dem relativ unvorhersehbaren Cha-
rakter des Tagesablaufs in der Chácara konnten Forschungsschritte wie zum
Beispiel Interviews in Zeitpunkt und Reihenfolge nur annähernd geplant werden.
Eine weitere Grenze bezüglich der Methodik wurde vor allem von einigen Jun-
gen zu Beginn der ersten Feldforschungsphase erwähnt. Sie wollten keine stan-
dardisierten, schriftlichen „Fragebogen mit Fragen, die nichts mit uns und unse-
rer Realität zu tun haben“36 ausfüllen, wie sie es wiederholt im Rahmen von
studentischen Arbeiten und Untersuchungen durch Mitglieder von lokalen uni-
versitären Institutionen hatten tun müssen.
Im Rahmen der Möglichkeiten für die Forschungsmethodik bot die Chácara
zahlreiche Vorteile, darunter langjährige Praxiserfahrung des Koordinators und
der Betreuer, eine regelmässig angewandte, aktiv geförderte Reflexions- und
Evaluationspraxis und Lernkultur sowie eine partizipative, die Jungen und Er-
ziehenden in hohem Masse einbeziehende Arbeitsweise. Alle Mitglieder der
Chácara, Jungen und Erwachsene, waren es gewohnt, Dritten gegenüber die
Chácara zu erklären, da sie viele Besucher in der Organisation empfingen und
sich in Initiativen der Aufklärung und Schulung sowie der Gestaltung von Sozi-
alpolitik ausserhalb der Organisation engagierten. Einige Mitglieder der Organi-
sation, darunter der Koordinator, waren bereits selbst an der Gestaltung und
Durchführung von Forschungsvorhaben beteiligt gewesen. Zudem verfügte die
Chácara über ein weites Beziehungsnetz mit interessierten Personen aus den
verschiedensten Teilen der Gesellschaft, zu dem sie der Autorin Zugang geben
konnte.

36
Spontane mündliche Mitteilung eines 14-jährigen Jungen, März 2003. Ähnliche Äusserungen
wurden in diesem Zeitraum von drei weiteren Jungen sowie von zwei Erziehenden gemacht.

64
3.2 Position der Forscherin

3.2.1 Anforderungen

Das „Forschungsobjekt Organisation“ stellt klare Anforderungen an die Position


von Distanz und Nähe, welche die Forscherin im Rahmen der Organisationsana-
lyse erreichen muss. Dies hängt damit zusammen, dass nicht alle Teile einer
Organisation im selben Masse für alle Personen sichtbar sind. Welche Teile
sichtbar sind und wie sehr, hängt von der Position der betrachtenden Person im
Verhältnis zur Organisation ab.
In der Entwicklungszusammenarbeit wird je nach Weltregion entweder das
Bild eines im Wasser schwimmenden Nilpferdes oder eines Eisberges (siehe
z. B. Sülzer und Zimmermann, 1996, S. 60 ff.) verwendet, um darzustellen, dass
für Aussenstehende der kleinere Teil der Organisation direkt sichtbar ist – Orga-
nigramme, Gebäude, Anzahl Personen, Statuten und so weiter –, während der
grössere Teil der Organisation nur für deren Mitglieder direkt erfahrbar ist, so
zum Beispiel Macht- und Einflussverhältnisse, gelebte Wertsysteme, Interakti-
ons- und Gruppennormen, Vertrauen, Engagement, Beziehungen und vieles
mehr. Gemäss Sülzer und Zimmermann (1996, S. 60) ist der unsichtbare Teil der
Organisation der für eine Charakterisierung der Organisation bedeutendere. An-
gelehnt an diese Autoren heisst es im entsprechenden Ausbildungsblatt des
Nachdiplomstudiums für Entwicklungsländer der ETH Zürich, eine externe Per-
son, welche bei der Durchführung einer Analyse die unsichtbaren Teile der Or-
ganisation vernachlässige, gleiche „dem Kapitän der Titanic, welcher die Aus-
masse des Eisberges falsch einschätzte“ (Nadel/KEK, undatiert).
Bungard nimmt auf denselben Aspekt Bezug, wenn er schreibt, Forschende
müssten aufgrund der Spezifizität von Organisationen „das jeweilige Anwen-
dungsfeld ausgiebig kennen lernen (...), um überhaupt sinnvoll eine Studie pla-
nen, durchführen und auswerten zu können“ (in Schuler, 2004, S. 133). Unter-
strichen werden soll hier, dass Bungard damit dafür plädiert, dass der sich unter
Wasser befindende Teil der Organisation bereits in der Planungsphase der For-
schung, also vor deren Durchführung, in gewissem Masse bekannt sein müsse.
Die Autorin nimmt aufgrund ihrer beruflichen Erfahrung zudem an, dass
auch die Mitglieder einer Organisation nicht all deren Teile im selben Masse
wahrnehmen können, da sie in unterschiedlichem Masse Zugang zu diesen ha-
ben. Im Weiteren bedeutet die Tatsache, dass Mitglieder einer Organisation de-
ren Teile erlebend erfahren, noch nicht, dass sie sich dieser auch bewusst werden
und sie explizit formulieren können. So hat die Autorin in verschiedenen Organi-
sationen beobachtet, dass sich Mitglieder wohl kompetent innerhalb der Organi-
sation bewegten, über gewisse, sie betreffende Teile der Organisation wie zum

65
Beispiel die von Sülzer und Zimmermann (1996) genannten Beziehungen, Wert-
systeme und Gruppennormen jedoch nicht spontan Auskunft geben konnten. Vor
diesem Hintergrund scheint es unabdingbar, dass Forschende „einen halben
Schritt neben der Organisation stehen können“, das heisst, dass sie nicht nur die
Innensicht der Organisation aufnehmen, sondern auch eine praktische und theo-
retische Aussenperspektive einnehmen können. Nur in Kombination beider Per-
spektiven ist es möglich, angemessen nachfragen, spiegeln und strukturieren,
interpretieren und in Bezug setzen zu können und damit den Weg zum expliziten
Ausdruck impliziter Organisationserfahrung zu bahnen.
Bartunek und Louis (1996) bezeichnen die Kombination von Aussen- und
Innensicht als wichtigen Einflussfaktor für die Qualität der Erforschung einer
Organisation:

People who are insiders to a setting being studied often have a view of the setting
and any findings about it quite different from that of the outside researchers who are
conducting the study. These differences, we believe, have significant implications
for the quality of knowledge that will be gained from the research, its potential to
enhance insiders’ practice, and the relationships insiders and outsiders have with
each other. (S. 1)

So stellt die Organisationsanalyse an die Forscherin die Anforderung, Zugang


zur inneren, gelebten und erlebten Realität der Organisation zu finden, und zwar
nicht nur indirekt über die befragten Organisationsmitglieder, sondern in gewis-
sem Masse auch direkt, das heisst mittels ihrer eigenen Person. Gleichzeitig
muss sie aber auch über eine Aussensicht der Organisation verfügen, damit die
Innensicht angemessen explizit gemacht, interpretiert und dargestellt werden
kann.

3.2.2 Eigenschaften und Gestaltung

Die forschende Person kann ihre Position im Verhältnis zur untersuchten Orga-
nisation immer nur teilweise wählen und gestalten. Auch die Mitglieder der Or-
ganisation werden ihr eine oder mehrere Positionen zuweisen. Zudem verändern
sich Positionen häufig im Laufe der Zeit. Beispielsweise wird mancher „Outsi-
der“, der mit der Erforschung einer ihm unbekannten Organisation beginnt,
durch den Kontakt mit den Organisationsmitgliedern bald in geringerem oder
grösserem Mass auch zum „Insider“.
Stand die Forscherin bereits vor der Forschung in Kontakt mit der unter-
suchten Organisation, wird sie zudem bereits über eine oder mehrere Positionen
sowie über verschiedene Beziehungen zu den Organisationsmitgliedern verfü-

66
gen. Diese können mit Beginn der Forschung nicht einfach abgelegt werden. Sie
können sowohl hinderlich für die Forschung sein als auch von grossem Nutzen.
Im vorliegenden Fall hatte die Autorin vor der Forschung während acht Jah-
ren sowohl Aussen- als auch Innenpositionen im Verhältnis zur Chácara einge-
nommen und zwar in folgenden Funktionen:

ƒ Freiwillige Mitarbeiterin im Projekt selbst (seit 04/1995)37.


ƒ Als Gründerin und Präsidentin/Vorstandsmitglied eines Schweizer Unter-
stützungsvereins (1995–2002).38
ƒ Sowie als freiwillige Mitarbeiterin eines weiteren brasilianischen Projektes,
welches die Chácara zu replizieren versuchte (10/98 – 04/01).

In dieser Zeit hatte sie sich durchschnittlich zweimal jährlich in den Projekten
aufgehalten und insgesamt während etwa sechs Monaten in der Chácara und
während drei Monaten in letzterem Projekt gelebt.
Aus diesem Werdegang der Autorin ergab sich gegenüber der Organisation
eine Position, welche sowohl externe als auch interne Elemente umfasste. Dabei
ist der interne Teil als von der Peripherie her kommend und zunehmend zentraler
werdend zu bezeichnen, ohne dass jedoch das Zentrum der Organisation erreicht
wurde. Diese Positionierung soll an drei Beispielen illustriert werden.
Bereits die Arbeit im Schweizer Unterstützungsverein bedurfte einer Kom-
bination von Aussen- und Innenperspektive. So forderte die Aufgabe der Auto-
rin, dass sie die Realität der Chácara aus eigener Anschauung und Praxis kenne
und die Anliegen von deren Mitgliedern aufnehme. Dies musste jedoch aus einer
gedanklich und rechtlich unabhängigen, für den gegenseitigen Kontakt aufge-
schlossenen, zugleich aber auch kritischen Position heraus geschehen, da weitere
Anliegen, wie zum Beispiel diejenigen der Spenderinnen und Spender oder ge-
setzliche Anforderungen ebenfalls beachtet werden mussten.
Der Grad der Peripherität oder Zentralität der Autorin in der Chácara vor
Beginn der Forschung, aber auch während dieser, kann nicht generell bestimmt
werden. Grund dafür ist, dass die Position in der Organisation aus der Sicht ver-
schiedener Mitgliedergruppen und/oder in Bezug auf verschiedene Bereiche der
Organisation unterschiedlich verstanden zu werden scheint und sich über die Zeit
auch verändern kann. Ein Beispiel dafür ist der Bereich der organisatorischen

37
Zum Anteil der Freiwilligenarbeit während der Feldforschung/Datenerhebung siehe auch Kapitel
3.6.2
38
Diese Rolle wurde vor Beginn der Forschung bewusst niedergelegt, um Konflikte zwischen For-
schungsarbeit und Fragen der Projektfinanzierung und -kontrolle zu vermeiden. Der Verein
Freunde brasilianischer Strassenkinder (www.meninos.ch) finanziert die Chácara seit 1995, im
Jahr 2006 noch zu etwa 40–50 % der jährlichen Gesamtkosten.

67
Gestaltung, also der Führung und Koordination, der Chácara. Ab Beginn der
Zusammenarbeit im Jahr 1995 wurde die Autorin seitens des Koordinators und
anderer Projektmitglieder über Entscheidungs- und strategische Themen der
Organisation informiert. Mit der Zeit wurde sie zudem informell und auf privater
Ebene in gewissen Fragen konsultiert. Dies hing teilweise mit ihrer Rolle als
Präsidentin des finanzierenden Vereins zusammen, bezog sich zunehmend aber
auch auf Themen, welche von vorwiegend oder rein interner Bedeutung waren.
Nach Abschluss der Feldforschung (und nunmehr 11 Jahren der Zusammenar-
beit) wurde sie vom Koordinator gebeten, Workshops zu Aufbau und Durchfüh-
rung der ersten strategischen Planung in der Organisation zu gestalten und zu
moderieren. Damit wurde ihr erstmals formell eine Rolle in der Mitgestaltung
der Organisation zugewiesen. Diese Entwicklung kann so verstanden werden,
dass die Position der Autorin von der Peripherie her kommend zunehmend zen-
traler wurde. Wirklich zentral ist sie jedoch nicht, denn dies würde Beteiligung
an der formellen Entscheidungsmacht bedeuten. Über diese verfügen innerhalb
der Chácara der Koordinator, die Mitarbeitenden und die betreuten Kinder und
Jugendlichen.
Ein anderes Beispiel ist dasjenige des täglichen Zusammenlebens. Hier
schien der Autorin vor allem von den Jungen von Beginn weg eine einschlies-
sende, eher zentralere Rolle zugewiesen zu werden. So suchten viele Jungen eine
enge, familiäre und fürsorgliche/mütterliche Beziehung und öffneten sich der
Autorin gegenüber entsprechend. Gemäss Aussagen von Jungen und Erwachse-
nen wurde sie schnell zu einer wichtigen und, zusammen mit anderen Organisa-
tionsmitgliedern, zu einer der wenigen längerfristigen Bezugspersonen, über
welche die Jungen aufgrund ihrer familiären Situation verfügten. Im täglichen
Leben der Chácara während der Freiwilligenaufenthalte zeigten die Jungen und
die Projektmitarbeitenden zudem die Erwartung, dass die Autorin sich an allen
Aktivitäten des Haushaltes – Kochen, Putzen, Waschen, Aufgaben-Machen,
Spielen, Plaudern etc. – beteiligen sollte. In der Wahrnehmung der Autorin war
es wiederholt ihre etwas zentralere Rolle in Bezug auf die Zielgruppe und auf
den täglichen Haushalt der Chácara, welche die langsame Zunahme ihrer Zentra-
lität in Bereichen wie demjenigen der organisationalen Gestaltung förderte.
Die Position der Autorin vor und während der Forschung war nicht nur
durch ihre Nähe und Distanz zur Organisation oder zu einzelnen Organisations-
teilen geprägt, sondern auch durch Beziehungen. Sowohl die Jungen als auch die
Mitarbeitenden den Chácara hatten Lebenssituationen wie Armut, sozialen Aus-
schluss, Misshandlungen, Gewalt, Bedrohungen und Krankheiten durchlebt. Ihre
Organisation Chácara bestand ebenfalls in einer schwierigen Situation, welche
wiederholt von Nahrungs- und Geldmangel, gelegentlichen Bedrohungen und
dem Umgang mit den prekären Lebensumständen, in denen sich die Jungen be-

68
fanden, geprägt war. Gleichzeitig gelangen kleinere und grössere Erfolge. Die
Autorin durchlebte viele dieser Situationen zusammen mit den Mitgliedern der
Chácara. Aus diesem Miteinander entstanden starke, auch emotional geprägte
Beziehungen.
Aufgrund der Nähe der persönlichen Beziehungen befürchtete die Autorin
zunächst, dass der Koordinator und weitere Mitarbeitende der Chácara die
Beforschung der Organisation als Infragestellung ihrer Rollen und Arbeit emp-
finden könnten. Sie vermutete auch, dass ihre neue Rolle als Forscherin und
nicht mehr als freiwillige Mitarbeiterin zu Spannungen in den Beziehungen mit
den Chácaramitgliedern führen könnte. In der ersten und zweiten Feldforschung
traten kurzzeitige Blockierungen im Forschungsprozess auf, welche nach Mei-
nung der Autorin unter anderem mit ihrer neuen Rolle und der Anpassung an
diese in Verbindung gebracht werden konnten. Diese konnten jedoch durch den
Dialog oder ein einfaches „Aussitzen“ gelöst werden.
Eine scheinbare Einschränkung, welche ebenfalls mit der Thematik von
Nähe und Distanz zur Organisation verbunden ist, trat insofern in der Feldfor-
schung auf, als die Forscherin nicht zur Beobachtung zu den wöchentlichen
Koordinationssitzungen von Koordinator und Erziehenden sowie von Koordina-
tor, Erziehenden und Jungen zugelassen wurde.39 Begründet wurde dies in erster
Linie mit der Vertraulichkeit des dort Diskutierten und dem Bedürfnis der Betei-
ligten, sich in diesen Gesprächen unbeobachtet fühlen zu können. Es zeigte sich
jedoch, dass Jungen, Erziehende und Koordinator durchaus bereit waren, der
Forscherin von Themen und Verlauf der Sitzungen zu erzählen, ohne jedoch
einzelne Namen zu nennen. Dabei erwähnten sie auch kritische und negative
Punkte, welche zur Diskussion gekommen waren. Zudem wurden die meisten,
wenn nicht alle Themen auch ausserhalb der Sitzungen informell besprochen in
einem Rahmen, in den die Forscherin durchaus eingeschlossen wurde. Schluss-
endlich führte die Zugangsbeschränkung nicht zu einer Einschränkung der For-
schung. Im Gegenteil: Die Suche nach Alternativen führte zu zusätzlichen In-
formationen – zum Beispiel Reflexionen seitens der Sitzungsteilnehmer – welche
im Rahmen der formellen Sitzungen wohl nicht erhältlich gewesen wären.
Eine Grenze, die sich in der Feldforschung zeigte, war, dass Führungsrolle,
-ausübung und -einfluss des Koordinators von der Autorin nicht untersucht wer-
den konnten. Dafür mag es zwei hauptsächliche Gründe geben. Einerseits ist es

39
Es stand ihr jedoch offen, eigene Anliegen auf Ankündigung in den Sitzungen vorzubringen und
diese danach zu verlassen. Ebenso wurde sie einige Male zu speziellen Themen oder Fragen in
die Sitzungen gerufen. Zudem waren ihr Verlauf und Vorgehen dieser Sitzungen insofern be-
kannt, als sie während ihrer Aufenthalte in den Anfangsjahren der Chácara regelmässig an ihnen
teilgenommen hatte. Im Übrigen wurden auch andere Personen in der Chácara, welche dort keine
ständige pädagogische Aufgabe hatten, nicht zu den Sitzungen zugelassen.

69
die Philosophie des Projektes (und des Koordinators), dass dieses partizipativ
geführt werde. Damit liegt ein Schwerpunkt der Arbeit des Koordinators (sic!)
auf der Befähigung und Aktivierung anderer Personen und ist es ihm ein Anlie-
gen, seine eigene – sehr zentrale, hoch aktive – Rolle möglichst wenig in den
Vordergrund zu stellen und zunehmend anderen zu übergeben. Anderseits emp-
fand die Autorin, dass es ihrer sozialen Position und Rolle in der Chácara nur
eingeschränkt zukam, in diesem Bereich systematisch und tief zu „bohren“. Die-
se Grenze wird jedoch auch nicht als Limitation der vorliegenden Studie emp-
funden, bewegt sich diese doch auf der Ebene der gesamten Organisation mit
ihren Strukturen und Prozessen und befasst sich nicht mit Rollen und Einfluss
einzelner Mitglieder.
Gesamthaft gesehen war die Autorin der Meinung, dass die Vielseitigkeit
ihrer Position im Verhältnis zur Chácara eine Anzahl von Vorteilen mit sich
bringe, welche die geplante Forschung überhaupt erst ermöglichten und etwaige
Nachteile bei weitem überwiegen würden. Als hauptsächliche Vorteile können
genannt werden:

ƒ Rasche und umfassende Legitimierung der Durchführung der Forschung


durch die Autorin. Die Autorin verfügte bereits über eine gute Akzeptanz in
der Organisation. Entsprechend legitimierten sie die Vorstandsmitglieder
der Chácara zur Durchführung der Forschung, ohne zusätzliche Bedingun-
gen zu stellen. Als Begründung dafür gaben sie an, nach dem, was die Auto-
rin bereits für das Projekt und die Jungen getan habe, sei es ihr Recht, die
Forschungsarbeit durchzuführen.
ƒ Privilegierter Zugang zum gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftli-
chen Umfeld. Die Jungen hatten der Autorin ab 1995 auf der Strasse ge-
zeigt, wie sie dort gelebt hatten und wie diese „funktionierte“. Die Mitglie-
der der Chácara hatten ihr Zugang zu allen relevanten Bereichen auch aus-
serhalb des Projektes gegeben, darunter einige, zu welchen Aussenstehende
keinen Zutritt hätten: Familien, Favelas, Strasse, andere Projekte, Gericht,
Gefängnis, Sozialbehörde, Schule, lokale Gemeinde etc. Die Autorin lernte
so das Umfeld und die Situation der Organisationsmitglieder in diesem ken-
nen und wurde befähigt, sich in diesem Umfeld adäquat zu verhalten. Diese
Aspekte waren für die Durchführung der Forschung unabdinglich.
ƒ Privilegierter Zugang zu den Sprachen der Strasse und der Favelas. Die
Autorin hatte Portugiesisch zunächst in der Chácara gelernt. Die Sprache
der hier lebenden Jungen, welche jener der Population auf der Strasse ent-
spricht, zeichnet sich durch ihren sehr spezifischen, lokalen und teilweise
weit von der Standardsprache entfernten Gebrauch von Vokabular und
Grammatik aus. Durch den Kontakt mit den Familien der Jungen sowie mit

70
den Erziehenden lernte sie die ihrerseits spezifische Sprachvariante der Fa-
velas in Curitiba kennen. Die in diesen Umfeldern vorkommenden, von den
Betroffenen als schwierig empfundenen oder auch illegalen Ereignisse wer-
den häufig in sprachlichen Codes kommuniziert. Viele Elemente dieser
Sprachvarianten sind in einem brasilianischen Slangwörterbuch nicht zu
finden und sind auch für einheimische Personen, welche nicht aus den ent-
sprechenden Bevölkerungsgruppen und Umfeldern kommen, nicht ver-
ständlich. Für die Durchführung der Untersuchung waren diese Kenntnisse
und die Möglichkeit, von den Chácaramitgliedern aufgrund des Vertrauens-
verhältnisses jederzeit Erklärungen zu erhalten, von entscheidender Bedeu-
tung.
ƒ Privilegierter Zugang zur Alltagspraxis in der Chácara. Aufgrund der In-
tegration der Autorin in die Alltagspraxis der Chácara war es möglich, das
Forschungsvorgehen in einer Art zu kommunizieren und durchzuführen,
welche innerhalb dieser Praxis verständlich und akzeptabel war. Ohne diese
Möglichkeit wäre es wesentlich schwieriger und/oder aufwändiger gewesen,
das Forschungsvorhaben und seine Durchführung genau auf die Situation
dieser Organisation anzupassen. Eine geringere Anpassung hätte unter Um-
ständen zu weniger motivierten Untersuchungsteilnehmenden sowie zu ei-
ner geringeren Angemessenheit, Verständlichkeit und Anwendbarkeit der
Resultate führen können.
ƒ Privilegierter Zugang zu einzelnen Mitgliedern und Beteiligten. Das Ver-
trauensverhältnis zu den Mitgliedern der Chácara führte zu einer Bereit-
schaft der Jungen und Erwachsenen, sowohl Einblick zu geben in zum Teil
sehr persönliche – darunter auch traumatische – Erfahrungen als auch in
Aspekte der Organisation, die Aussenstehenden verborgen geblieben wären.
Gesprächspartner erwähnten wiederholt, dass sie gewisse Dinge Aussenste-
henden gegenüber nicht äussern würden, so zum Beispiel kritische Aussa-
gen über Aspekte der Chácara, welche von Aussenstehenden nicht ange-
messen verstanden werden könnten.
ƒ Kontrollmechanismus für das Forschungsvorgehen. Das durch die Aktuali-
tät des Forschungsvorhabens ausgelöste Interesse der Chácaramitglieder
sowie die als Folge der Integration der Forscherin entstandene soziale Kon-
trolle unterstützten auch die Kontrolle des Forschungsvorgehens. So fragten
Chácaramitglieder wiederholt nach Forschungsabsicht und -design, Erhe-
bungs- und Auswertungsmethoden, Resultaten und späterer Nutzung der
Daten. Dies trug in der Erfahrung der Autorin zu einer zusätzlichen Fokus-
sierung und Qualitätskontrolle bezüglich Angemessenheit und Anwendbar-
keit des Forschungsvorgehens bei.

71
ƒ Bereits etablierte Position der Forscherin als „dazugehörige Aussenstehen-
de“. Die Autorin verfügte bereits über eine Position, welche, wie von der
Organisationsanalyse verlangt, externe und interne Elemente kombinierte.
Diese Kombination war sowohl von ihr als auch von den Chácaramit-
gliedern eingeübt. So waren es die Chácaramitglieder gewohnt, dass die Au-
torin eigenständig (also nicht in die Organisationshierarchie eingegliedert)
Themen bearbeitete, welche thematisch den Alltagsaktivitäten in der
Chácara übergeordnet waren. Der weitgehende Zugang zur Organisation
konnte deshalb kombiniert werden mit der Durchführung einer Forschung,
deren letzte Regie, Entscheidungs- und Interpretationsmacht jederzeit bei
der Forschenden lagen. Die Forschung wurde in klar definierten zeitlichen
Phasen sowie ausgehend von einem eigens dafür eingerichteten Arbeitsplatz
durchgeführt. In Zeitabschnitten, in denen die Autorin nicht Forschungstä-
tigkeiten, wie zum Beispiel Interviews, nachging, wurde sie hingegen in
derselben Art und Weise vollumfänglich in die täglichen praktischen Arbei-
ten der Chácara einbezogen wie bereits vor der Forschung. Der Studie kam
zugute, dass dank der bereits etablierten Position der Forscherin als „dazu-
gehörige Aussenstehende“ kaum Spannungen um Rollen und Erwartungen
auftraten bzw. die wenigen auftretenden Spannungen bald und gut gelöst
werden konnten und die Feldforschungsarbeit in ihrer Essenz nicht beein-
trächtigten. Bei einer noch ungeklärten Rollenverteilung, mit der die For-
scherin bei einer anderen Ausgangslage konfrontiert gewesen wäre, hätte
zusätzlich Zeit in die Etablierung der erforderlichen, zweifachen Position
investiert werden müssen.
ƒ Besonderes Verständnis der Möglichkeiten und Herausforderungen der
Explizitmachung impliziten Praxiswissens. Die interne Position der Forsche-
rin im Projekt bedeutete, dass nicht nur die von ihr zu befragenden Perso-
nen, sondern auch sie selbst im Rahmen der Forschung vor der Aufgabe
stand, implizites Praxiswissen explizit zu machen. Dies förderte das Ver-
ständnis der Autorin für diesen Prozess und ihre Fähigkeit, eine Vorge-
hensweise zu finden und Fragen zu formulieren, welche implizites Wissen
zum Vorschein bringen würden. Gleichzeitig war sie sich der Reichhaltig-
keit des in der Organisation vorhandenen Wissens bewusst. Diese Kenntnis
trug zur Planung der Forschung und Strukturierung der Datenerhebung bei.
Zugleich erlaubte sie es, Informationen zu erhalten und bezüglich ihrer
Aussagekraft adäquat einzuschätzen.
ƒ Möglichkeit längerer Feldforschungsphasen in der Chácara. Mehrere ein-
heimische Forschende hatten der Autorin gegenüber geäussert, dass sie die
Lebensbedingungen in der Chácara als zu einfach oder zu unbequem emp-
fänden und/oder dass das Zusammensein mit den Jungen aufgrund von de-

72
ren Anzahl, Lebhaftigkeit oder Lebensgeschichten für sie zu belastend sei.
Deshalb würden sie sich nur während des Zeitraums dort aufhalten, der für
ihre Arbeit – das Ausfüllen von Fragebogen, eine Aktivität mit den Kindern
etc. – nötig sei. Auf keinen Fall würden sie jedoch dort übernachten oder
länger bleiben wollen. Die Autorin war gewohnt, in der Chácara zu leben
und zu arbeiten und wurde darin von deren Mitgliedern unterstützt. So war
es ihr möglich, während mehreren Feldforschungsphasen von insgesamt 12
Monaten in der Chácara deren Praxis zu teilen und aus nächster Nähe zu
beobachten. Damit verfügte sie über sehr vielseitige Informationen, die ihr
nicht zugänglich gewesen wären, wäre sie nur gerade für die Durchführung
der Interviews dorthin gereist. Schliesslich schien ihre längere Anwesenheit
in der Wahrnehmung der Organisationsmitglieder die Glaubwürdigkeit ihrer
Forschung zu steigern.

Bei der Gestaltung von Forschungsablauf und -methodik sowie bei der Wahl der
Methoden wurden die Anforderungen und Grenzen der Chácara für die For-
schungsmethodik, darunter auch für die Position der Forscherin, weitestgehend
berücksichtigt. Die Möglichkeiten der Chácara und die Vorteile der bestehenden
Position der Forscherin wurden in der methodischen Gestaltung und Durchfüh-
rung der Forschung genutzt. Dies war deshalb möglich, weil die Charakteristika
der Chácara und der Position der Forscherin im Gesamten gut mit den Gütekrite-
rien wissenschaftlicher Arbeit (siehe Kapitel 3.6) vereinbar waren. In der Folge
soll nun die resultierende methodische Gestaltung dargelegt werden.

3.3 Methodik

3.3.1 Einzelfallstudie

Im Rahmen der vorhandenen Forschungsliteratur hatte keine wissenschaftliche


Analyse einer residentiellen Organisation für Strassenkinder gefunden werden
können. Deshalb stellte sich die Frage, ob in einer erstmaligen Analyse eine
grössere Anzahl solcher Organisationen oder nur eine einzige erforscht werden
sollte. Würden mehrere Organisationen gewählt, so müssten diese entlang defi-
nierter Kriterien entweder als ähnlich oder als kontrastierend behandelt werden
können. Ohne dass bereits eine entsprechende Untersuchung vorlag, und im
Wissen um die Kontingenz von Organisationen, war die Definition solcher Krite-
rien jedoch nicht möglich. Dies sprach für die Erstellung einer Phänographie
einer einzelnen Organisation. Die in diesem Rahmen gewonnenen Beschrei-

73
bungsdimensionen würden dann gegebenenfalls in Folgestudien auf andere Or-
ganisation angewandt werden können.
Zwei weitere Gründe für die Wahl eines Einzelfalles waren die zur Verfü-
gung stehenden Ressourcen sowie der Zugang zu Organisationen für For-
schungszwecke. Es war davon auszugehen, dass die Forschungsarbeit aufgrund
der Absicht, eine Organisation umfassend zu beschreiben, sowie aufgrund von
Aspekten wie den offenen, vertieften und deshalb langen Interviews und des für
die Transkription nötigen Zeitbudgets sehr aufwändig werden würde. Für die
gesamten Arbeiten stand nur eine Arbeitskraft zur Verfügung. Da eine solche
Organisation noch nie untersucht worden war, schien es sinnvoller, die Ressour-
cen auf eine tiefer gehende Analyse einer Organisation zu verwenden als eine
grössere Anzahl von Organisationen notgedrungen eher oberflächlich zu be-
schreiben.
Die Chácara war eine bereits seit dem Jahr 1993 bestehende, umfangreiche,
vielfältige und zu einer gewissen organisationalen Reife gelangte Organisation.
Aufgrund dieser Eigenschaften konnte angenommen werden, dass sie reichhalti-
ges Material für die Erstellung einer Phänographie bieten würde. Mitglieder,
Beteiligte, externe Fachleute und Medien beurteilten die Organisation als quali-
tativ gut. Obwohl diese Einschätzung nie untersucht worden war, war doch da-
von auszugehen, dass eine Analyse der Chácara Erkenntnisse über Aspekte lie-
fern würde, welche gute Qualität kennzeichnen oder zu einer solchen beitragen.
Was den Zugang zu residentiellen Organisationen für Strassenkinder anbe-
langt, muss angemerkt werden, dass dieser weder im formellen noch im infor-
mellen Sinne einfach ist. Normalerweise erlauben solche Organisationen For-
schenden nicht, sämtliche Mitglieder und Beteiligte frei und ohne Zensur und
Beeinflussung zu befragen und/oder über einen längeren Zeitraum am Alltag der
Organisation teilzunehmen. Hierfür gibt es verschiedene Gründe: bürokratische
Strukturen und langsame Bewilligungsprozesse, eine Mentalität der „Weg-
schliessung“ aufgrund der Tatsache, dass viele dieser Organisationen – darunter
auch die staatlichen – teilweise oder ganz mit dem Jugendstrafvollzug verbunden
sind, und vermutlich auch die eingangs zitierten Unzulänglichkeiten und Miss-
bräuche, die in vielen Organisationen vorkommen. Aber auch wenn Zugang
besteht, sind Mitarbeitende und Betreute dieser Organisationen oft Personen,
welche aufgrund ihrer Lebenserfahrung unbekannten Personen mit grosser Vor-
sicht begegnen und nicht bereit sind, sich solchen ohne weiteres zu öffnen und
vertieften Einblick nicht nur in die positiven, sondern auch in die schwierigen
Seiten der Organisation zu geben.
Die Chácara wurde auch aufgrund des privilegierten Zugangs der Forsche-
rin für die Einzelfallstudie gewählt. Zudem bot die Chácara dank ihrer Kontakte
zu anderen Organisationen sowie zu Personen, welche in und mit diesen arbeite-

74
ten, die Möglichkeit, zusätzlich zur Einzelfallstudie doch auch gewisse Informa-
tionen über andere Organisationen einzuschliessen sowie einige vergleichende
Überlegungen anzustellen.
Die Datenauswertung wurde zudem bis zu einem Aggregationsniveau vo-
rangetrieben, von dem angenommen wurde, dass es hoch genug sei, um eine
gewisse Generalisierbarkeit der Erkenntnisse zu ermöglichen. Dies bedeutet
unter anderem, dass versucht wurde, eher zu Gestaltungsgrundsätzen für die
Organisation zu gelangen als zu hoch detaillierten, preskriptiven Checklisten für
einzelne Handlungsschritte. Die Generalisierbarkeit der Erkenntnisse wurde im
Weiteren dadurch gestützt, dass diese vor dem Hintergrund der existierenden
Organisationsliteratur reflektiert wurden.

3.3.2 Vereinbart und kommuniziert

Wie bereits dargestellt, wurden die Gründe und Ziele der Forschung sowie einige
grundsätzliche methodische Aspekte mit den Mitgliedern der Chácara vorgängig
vereinbart. Dieses Vorgehen nimmt Überlegungen von Lamneks Konzept der
„Forschung als Kommunikation“ (1995, S. 23) auf und kann als Reziprozität
zwischen Forschender und Beforschten beschrieben werden. Es zeigte sich, dass
eine solche Reziprozität eine weitere Grundbedingung für eine erfolgreiche
Durchführung des Forschungsvorhabens war. Die Mitglieder der Chácara emp-
fanden die Forschung als einen sogar über die unmittelbare Forschung hinausge-
henden Austausch, in dem jede „Seite“ ihren Teil leisten musste. Ein Jugendli-
cher formulierte den Grund, weshalb er und seine Kollegen sich bereitwillig für
die Forschung zur Verfügung stellten, gegenüber der Forscherin sinngemäss wie
folgt:

Soviele Leute kommen und machen hier eine Forschungsarbeit und fragen uns, was
unsere Träume seien und was wir einmal werden wollen. Aber sie helfen uns nicht,
dies dann auch umzusetzen. Du jedoch hast Deinen Teil schon getan. (16-jähriger
Junge, Eintritt Januar 1996, Interview, 27. April 2003)

Der Information der Mitglieder über Ziele und Vorgehen der Forschung wurde
grosse Bedeutung zugemessen. Die Jungen wurden vor Beginn der Forschung in
einer ihrer wöchentlichen Sitzungen mündlich informiert, ebenso die Erziehen-
den und Vorstandsmitglieder der Chácara, welche zudem ein Merkblatt erhielten.
Dieses enthielt Informationen über die wichtigsten Aspekte der Forschungsarbeit
und war im (Sprach-)Stil der Chácara gehalten. Dabei dienten informelle Vorge-
spräche dazu, von den künftigen Lesenden zu erfahren, zu welchen Aspekten der
Forschung sie Fragen hatten. Zum Teil wurde das Merkblatt gemeinsam gelesen

75
oder vorgelesen. Wie aus Kommentaren und Rückfragen hervorging, wurde das
Merkblatt gut verstanden und positiv aufgenommen und sein Inhalt Dritten ge-
genüber in angemessener Weise mündlich mitgeteilt.
Durch die längeren Aufenthalte in der Chácara und aufgrund des grossen
Interesses von deren Mitgliedern war es zudem möglich, in unzähligen informel-
len Gesprächen die Forschung darzustellen und zu diskutieren. Diese wurden mit
Personen aller Altersgruppen geführt, auch mit den Jüngsten der Jungen. Jeder
Person, welche ein Interview gab oder sonst Informationen übermittelte, wurden
vorgängig Absicht und Gestaltung der Forschung noch einmal einzeln dargelegt.

3.3.3 Organisationspsychologisch

Es wird davon ausgegangen, dass es letztlich Inhalt und Gestaltung organisatori-


scher Strukturen und Prozesse sind, die in Organisationen zu besserer oder
schlechterer Qualität und Nachhaltigkeit führen. Deshalb wurde ein organisati-
onspsychologischer Ansatz für die vorliegende Untersuchung gewählt. Dies
heisst, dass die Methodik, basierend auf den in Kapitel 2.4 vorgestellten theoreti-
schen Überlegungen, ein Rahmenmodell der Organisation umfasst.
In den Sozialwissenschaften sind im Verlauf der Zeit verschiedene und zum
Teil gegensätzliche Ansichten darüber entstanden, inwieweit – gerade bei der
Erforschung eines unbekannten Gegenstands in einem kulturell anderen Um-
feld – bereits bestehende Theorien angewandt werden können und sollen. Wohl
nicht zuletzt als Reaktion darauf, dass Forschungsfelder durch die enge Brille
vorgefasster Theorien oft reduziert oder ungenügend beschrieben wurden, for-
mulierten Glaser und Strauss (1998) die „Grounded Theory“. Ihr zufolge

... emergieren zentrale Kategorien und Konzepte quasi von selber aus dem Datenma-
terial, wenn der Forscher oder die Forscherin möglichst voraussetzungslos an ihr
empirisches Untersuchungsfeld herangehen. (Kelle & Kluge, 1999, S. 11)

Kelle und Kluge (1999) kritisieren diese Meinung und zitieren Lakatos Aussage,
dass es „keine Wahrnehmung geben (kann), die nicht von Erwartungen durch-
setzt ist“ (1982, S. 14, zitiert in Kelle & Kluge, 1999, S. 17). Sie schreiben dazu:

Die Entwicklung neuer Konzepte anhand empirischen Datenmaterials ist also eine
Art „Zangengriff“, bei dem der Forscher oder die Forscherin sowohl von dem vor-
handenen theoretischen Vorwissen als auch von empirischem Datenmaterial aus-
geht. (S. 21)

76
Diese Überlegung gilt wohl nicht nur für die Entwicklung neuer Konzepte, son-
dern auch für die Gestaltung von Forschungsarbeiten und die Auswertung von
Daten. Zudem scheint es sinnvoll, den Begriff des theoretischen Vorwissens um
denjenigen des Alltagswissens der Forschenden zu ergänzen. Dieses ist nicht nur
nicht negierbar, sondern auch von grosser Bedeutung für die Forschungsmetho-
dik. Kelle und Kluge (1999) betonen:

... der Forscher oder die Forscherin müssen schliesslich über alltägliche Sprech- und
Verstehenskompetenzen verfügen, weil sie sonst gar nicht in der Lage wären, Hand-
lungen und Äusserungen der Akteure im untersuchten Feld zu verstehen. (S. 30)

Es muss ein methodischer Mittelweg gefunden werden, welcher sicher zwischen


den Abgründen „zuviel bzw. zu beschränkte Theorien“ und „gar keine bzw. nicht
bewusst gemachte (und deshalb umso „störendere“) Theorien“ hindurch führt.
In der vorliegenden Studie schien es aufgrund der erwähnten Überlegungen
angemessen, eine theoretische Durchdringung des Forschungsgegenstandes zu-
gunsten der Erstellung einer eigentlichen Phänographie zurückzustellen. Die
Forschungsarbeit verfolgte so, wie bereits erwähnt, nicht das Ziel, ein neues
Organisationsmodell zu entwickeln. Es wurde jedoch angenommen, dass die
Organisationsanalyse Erkenntnisse generieren würde, mittels derer in einer etwa-
igen Folgearbeit ein detaillierteres, das heisst „inhaltsreicheres“ theoretisches
Konzept für diese Art der Organisation erstellt werden könnte.
Als Hilfsmittel für die Strukturierung des Forschungsvorgehens im Allge-
meinen und der Datenerhebung und -analyse im Speziellen wurde ein einfaches
Rahmenmodell gewählt. Dieses wurde im Rahmen des hermeneutischen Zirkels
der Datenanalyse aufgrund induktiv entstandener Dimensionen angepasst und in
deduktiven Schritten wieder eingesetzt, um dann im nächsten induktiven Schritt
gegebenenfalls wieder angepasst zu werden.

Abbildung 3: Rahmenmodell der Organisation

77
3.3.4 Praxis- und wissensorientiert

Hauptsächliche Absicht der vorliegenden Studie ist es, einen Beitrag an die Qua-
lität und Nachhaltigkeit von residentiellen Organisationen für Strassenkinder in
Brasilien zu leisten. So sollte die Methodik es erlauben, Erkenntnisse zu generie-
ren, welche von Mitgliedern und Beteiligten zugunsten einer qualitativ guten und
nachhaltigen Praxis ihrer Organisationen genützt werden könnten.
Als methodischer Grundsatz wurde hier die Idee eines „Lernens aus der
Praxis für die Praxis“ übernommen. Deshalb wurden die Datenerhebung sowie
die Überprüfung und Präsentation der Forschungserkenntnisse im Rahmen von
fünf Feldforschungsphasen durchgeführt, davon zwei im Jahr 2003 und je eine in
den Jahren 2004, 2005 und 2006. Die Datenerhebung wurde während des Auf-
enthalts im Jahr 2005 abgeschlossen. Die Feldaufenthalte dauerten jeweils zwei
bis drei Monate; insgesamt betrug ihre Dauer etwa 12 Monate. Im Weiteren
wurden Methoden verwendet – Interviews, Analyse von Texten und administra-
tiven Organisationsdokumenten – welche sich dazu eigneten, das Wissen der
verschiedenen Mitgliedergruppen und Beteiligten der Organisation zu erfassen.
Zudem wurde als Rahmen für diese Verfahren der Praxisalltag dieser Personen
durch teilnehmende Beobachtung miterfahren und erfasst.
Die längeren Forschungsaufenthalte der Autorin in der Organisation beruh-
ten unter anderem auf der Annahme, dass sie in einer spezifischen Forschungs-
rolle die ihr aus der Praxis bekannte Organisation „mit anderen Augen“ sehen
würde. Es schien ihr für die Qualität der Forschung wichtig, diesem eigenen
Erkenntnisprozess die nötige Zeit einzuräumen.
Im Weiteren wurde davon ausgegangen, dass die Mitglieder und Beteiligten
solcher Organisationen über Praxis- und Expertenwissen verfügen. Dies steht im
Gegensatz zu früheren wissenschaftlichen Traditionen, welche wissenschaftli-
ches Spezialwissen als dem Alltagswissen überlegen sahen. In diesen Studien
kamen „beforschte“ Personen lediglich als Informationslieferanten zum Einsatz
und wurden nicht als der Erklärung und Interpretation mächtige Experten ihres
eigenen Alltags verstanden. Wehner illustriert dies mit dem schönen Beispiel
vom Arzt, der den Patienten bittet, die Zunge herauszustrecken, um ihm dann
ohne weitere Befragung mitzuteilen, was ihm fehle (mündliche Mitteilung, Juli
2003).
Heute kommt eine andere Wissensdefinition zum Tragen. Wissenschaftli-
ches Wissen wird nicht länger als „besseres“ oder „wahreres“ Wissen gesehen.
So schreibt Hitzler (2000), jede Wissenschaft sei eine:

... besondere Variante der Wirklichkeitskonstruktion (...) ein System von gesell-
schaftlichem Sonderwissen, das sich eben mehr oder weniger gut dazu eignet, ge-

78
sellschaftliche Wirklichkeits-Konstruktionen ihren Prinzipien, ihren Regel-
mässigkeiten und Regeln nach zu rekonstruieren. (S. 163)

Wissenschaftliches Wissen allein genügt nicht, wenn es um die Erfassung einer


Wirklichkeit und die Umsetzung von Erkenntnissen in die Praxis geht. Hitzler
(2000) betont hier die Wichtigkeit von Alltagswissen, welches:

... vor allem ein bestimmtes Wissen darüber ist, wie man mit Wissen umzugehen
hat, nämlich pragmatisch, d.h. bezogen auf die Notwendigkeit, sein Leben zu „voll-
ziehen“. (S. 159)

Entsprechend dieser Erkenntnis wurde für die vorliegende Arbeit die Wissensde-
finition von Probst et al. (1998) übernommen:

Wissen umfasst die Gesamtheit der Kenntnisse und Fähigkeiten, die Individuen zur
Lösung von Problemen einsetzen. Dies umfasst sowohl theoretische Erkenntnisse als
auch praktische Alltagsregeln und Handlungsanweisungen.

Auf zwei weitere Aspekte des Praxiswissens in Strassenkinderprojekten soll hier


speziell hingewiesen werden.
Erstens ist die Erfassung des Praxiswissens in Strassenkinderprojekten auch
deshalb wichtig, weil der grosse Erfahrungsschatz von Mitarbeitenden und Be-
treuten solcher Organisationen häufig nicht bekannt gemacht und weitergegeben
wird. Dies geschieht einerseits, weil Ressourcen zu dessen Kommunikation feh-
len, und anderseits, weil dieses Wissen aufgrund des sozialen Gefälles in der
Gesellschaft von seinen Trägern als unwichtig betrachtet oder von Aussenste-
henden als irrelevant bezeichnet oder gar ignoriert wird.
Zweitens verfügen Menschen, welche sich in ihrer praktischen Arbeit Tag
für Tag mit einem Thema beschäftigen, nicht nur über Alltags- und Expertenwis-
sen, sondern in vielen Fällen durchaus auch über theoretisches Wissen, analyti-
sche Fähigkeiten und wissenschaftliche Neugier und Absichten. Im Falle der
untersuchten Chácara hat zum Beispiel der Projektkoordinator Geistes- und So-
zialwissenschaften studiert und führt vor dem Hintergrund von Freires „Bildung
als Praxis der Freiheit“ (1966, 1970, 1973) regelmässig qualitative Befragungen
sowie analytische Aktivitäten mit den Kindern und Jugendlichen durch. Diese
Aktivitäten entsprechen durchaus wissenschaftlichen Kriterien im Sinne von
Hitzler (2000, S. 164), welcher Wissenschaft als „eine aufgehellte, geläuterte,
folgerichtige und systematische Entwicklung des gesunden Menschenverstan-
des“ bezeichnet.

79
3.3.5 Qualitativ und primär induktiv

Für Erhebung und Analyse wurde eine qualitative Forschungsmethodik gewählt.


Dafür gibt es zwei hauptsächliche Gründe.
Erstens sind Strassenkinderprojekte bisher bezüglich ihrer Organisation und
deren Entwicklung nicht untersucht worden. Es geht also zunächst um eine Re-
konstruktion des Feldes, um die Erstellung einer eigentlichen Phänographie.
Mayring (1995) zitiert Lewins Aussage (1981, S. 97): „Zur Bestimmung der
Quantität eines Objektes ist immer auch das Quale anzugeben, dessen Quantum
bei diesem Objekt bestimmt werden soll.“ Er kommentiert dazu:

Das heisst, dass am Anfang wissenschaftlichen Vorgehens immer ein qualitativer


Schritt steht. Ich muss erst wissen, was ich untersuchen will, ich muss es benennen
(Nominalskalenniveau). (…) Erst auf dieser Basis können quantitative Analyse-
schritte vorgenommen werden, sofern sie angestrebt werden. (S. 19)

Die vorliegende Untersuchung steht genau so am Anfang eines wissenschaftli-


chen Vorgehens. Dies bedeutet, dass zunächst mit qualitativen Methoden Infor-
mationen erhoben und induktiv kategorisiert werden müssen.
Zweitens muss die Methodik es erlauben, ein möglichst holistisches Bild
der Organisation zu zeichnen. Dies entspricht einem direkten, praktischen Be-
dürfnis der Mitglieder des untersuchten Projektes, aber auch einer Forderung der
Entwicklungs(zusammen)arbeit, muss doch die Organisation zunächst einmal als
Ganzes erkennbar – und damit gestaltbar – sein. Ein solch holistisches Bild kann
nur mittels qualitativer Methoden gezeichnet werden. Bogdan und Taylor (1975)
schreiben dazu:

Qualitative methodologies refer to research procedures which produce descriptive


data: people’s own written or spoken words and observable behaviour. This ap-
proach ... directs itself at settings and the individuals within those settings holistical-
ly; that is the subject of the study, be it an organization or an individual, is not re-
duced to an isolated variable or to an hypothesis, but is viewed instead as part of a
whole. (...) Qualitative methods allow us to know people personally and to see them
as they are developing their own definitions of the world. We experience what they
experience in their daily struggle with their society. We learn about groups and ex-
periences about which we may know nothing. Finally, qualitative methods enable us
to explore concepts whose essence is lost in other research approaches. Such con-
cepts as beauty, pain, faith, suffering, frustration, hope and love can be studied as
they are defined and experienced by real people in their everyday lives. (zitiert in
Lamnek, 1995, S. 4)

80
Gerade auch der letzte Satz ist von Relevanz für die vorliegende Forschungsar-
beit. Dies zeigt sich unter anderem am Beispiel der Ziele der Chácara. Hier zeig-
ten bereits die Vorabklärungen zur Forschung, dass diese Konzepte aus der Sicht
der betreuten Kinder und Jugendlichen „ein neues Leben haben“ („ter uma nova
vida“) oder „jemand sein im Leben“ („ser alguém na vida“) hiessen. Dies sind
komplexe Konzepte, an welche sich bei einer ersten Erfassung nur qualitativ
ausgerichtete Forschung annähern kann.
Ein qualitatives Vorgehen ist auch deshalb nötig, weil die Chácara darauf-
hin untersucht werden soll, welche Lektionen („Learnings“) sie aus ihrer eigenen
Erfahrung ziehen kann. Dies entspricht nicht zuletzt einer Anforderung der Ent-
wicklungszusammenarbeit, welche heute einen wichtigen Schwerpunkt in der
Erkennung, Förderung und Multiplikation lokaler Lösungsansätze setzt. Zu einer
Erhebung solcher Ansätze eignen sich vor allem qualitative Methoden (siehe
zum Beispiel Sülzer & Zimmermann, 1996).
Im Übrigen entsprechen qualitative Methoden auch eher als andere Metho-
den der brasilianischen Kultur mit ihrem tendenziell eher partikularistischen (das
heisst auf die Beziehungssituation ausgerichteten) und zirkulären (also nicht
linearen) Denk- und Kommunikationsstil.40
Auch die Beteiligten selbst fühlen sich durch eine qualitative Methodik
ernster genommen und sind motivierter, an der Forschung mitzudenken und zu
arbeiten. Die Tatsache, dass ein ehemaliger Strassenjunge, der sein Leben lang
nur mit Verachtung behandelt wurde, nicht nur einen standardisierten Fragebo-
gen zum Ankreuzen vorgelegt bekommt, sondern plötzlich merkt, dass er Kennt-
nisse und Erfahrungen mitzuteilen hat, welche gehört werden und auch für ande-
re Projekte und Jugendliche wichtig sind, kann einen sehr positiven Einfluss auf
seine Entwicklung haben.
Entsprechend diesen Überlegungen wurden sowohl für die Erhebung als
auch für die Auswertung der Daten qualitative Methoden gewählt. Für die Erhe-
bung waren dies hauptsächlich explorative, stark narrativ orientierte Interviews
und Gruppengespräche, Tonaufnahmen von öffentlichen Anlässen und die Sich-
tung von Texten der Organisationsmitglieder sowie von administrativen Doku-
menten der Organisation. Für die Analyse der transkribierten Tondokumente und
Texte wurde eine explorative Inhaltsanalyse verwendet, mit welcher sowohl
Informationen als auch Sinnkonstruktionen beziehungsweise sowohl explizite als
auch implizite Kommunikationsinhalte analysiert wurden. Dabei war das Vorge-
hen primär induktiv, es enthielt jedoch im Sinne des hermeneutischen Zirkels
auch deduktive Phasen.41

40
Siehe Trompenaars & Hampden-Turner, 1998.
41
Eine detaillierte Darstellung des Analysevorgehens findet sich in Kapitel 3.5.2.

81
3.3.6 Partizipativ

Der Begriff der Partizipation wird viel benützt, gerade auch wenn es um Unter-
suchungen und Arbeiten im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit geht. Er
tauchte Mitte der 1970er Jahre auf, als zunehmend klar wurde, dass Entwick-
lungsstrategien nötig waren, welche die Betroffenen unmittelbarer in die Ent-
wicklungsprozesse miteinbezogen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der
Begriff ursprünglich von den stärkeren Partnern in der Entwicklungszusammen-
arbeit, also von den Geldgebern, geprägt wurde. Diese wollten die „Betroffenen“
mehr involvieren aus der Einsicht heraus, dass Finanzen nur effizient, effektiv
und nachhaltig umgesetzt werden könnten, wenn die Betroffenen an Entwick-
lungsvorhaben beteiligt waren und diese ihren Bedürfnissen entsprachen.
Lokale Organisationsformen kommen aber nur auf dem höchsten Niveau
der Partizipation zum Tragen. In vielen der Projekte der Entwicklungszusam-
menarbeit bedeutet Partizipation heute noch lediglich, dass den „Betroffenen“
mitgeteilt wird, worum es im Projekt geht und wie es sie betrifft; sie werden
konsultativ, aber nicht entscheidend beigezogen oder sind diejenigen, welche das
Projekt praktisch umsetzen müssen (z. B. Eade & Williams, 1998, S. 15).
Neben dieser „Schule“, welche die Partizipation als Mittel zum Erfolg von
Entwicklungsprojekten versteht, gibt es eine zweite, welche eher der Tradition
von Basisorganisationen gerade in Ländern wie Brasilien entspricht. Diese sieht
Partizipation als notwendiges Mittel, um aus der Gesellschaft ausgeschlossenen
Menschen Zugang zu dieser zu geben und so die strukturellen Ursachen der
Armut anzugehen.
Wie bereits erwähnt, war die Partizipation von „Betroffenen“ in der Wis-
senschaft über eine Nutzung als Datenlieferanten hinaus lange Zeit kein Thema.
Die vorliegende Forschung nimmt hingegen beide genannten Überlegungen zur
Partizipation auf. Einerseits will sie durch die Partizipation der Mitglieder der
Chácara und durch Einbezug von deren Wissen und Fähigkeiten die Qualität und
Anwendbarkeit der Forschung sichern. Anderseits will sie durch die Aufnahme
der Partizipation in die Forschung die Bemühungen der Chácara hinsichtlich des
Einbezugs ausgeschlossener Menschen in die Gesellschaft reflektieren und un-
terstützen. Sie übernimmt damit die von Schütze (1978) beschriebene Einstel-
lung:

Der kommunikative Sozialforscher behandelt das informierende Gesellschaftsmit-


glied als prinzipiell orientierungs-, deutungs- und theoriemächtiges Subjekt. (S. 116)

Nicht nur im Rahmen der Wissenserfassung, sondern auch bezüglich der Ab-
sicht, den Forschungsprozess als Beitrag zur Organisationsentwicklung der

82
Chácara zu nützen, kam der Partizipation in der vorliegenden Untersuchung
grosse Bedeutung zu. Wie Schütze (1978) schreibt, konstruieren Personen ihre
Wirklichkeit auch, wenn sie sie darstellen und interpretieren:

Mit seinen Definitions- und Interpretationsleistungen deutet aber das Gesellschafts-


mitglied nicht nur die ihm zugängliche Wirklichkeit, sondern konstituiert diese auch
damit. (S. 116)

So wurde im Rahmen der vorliegenden Arbeit die Annahme getroffen, dass der
aktive Einbezug der Mitglieder der Chácara in die Gestaltung der Forschung und
nicht nur in deren Informations-, sondern auch Interpretationsprozess zu einer
Stärkung der konstituierenden Prozesse der Organisation beitragen würde. Ent-
sprechende Effekte waren tatsächlich beobachtbar. So übernahmen sowohl Mit-
arbeitende als auch Jungen in der Forschung aufgetauchte Themen (z. B. die
Identität der Organisation nach einer grossen Wachstumsphase) und Methoden
(z. B. Interviews mit Beteiligten) und brachten diese in Prozesse und Aktivitäten
der Chácara ein, welche nicht in Zusammenhang mit der Forschung standen.
Natürlich lassen sich nicht alle Fragen partizipativ angehen und können
nicht alle am Projekt Beteiligten auf dieselbe Art und Weise an der Forschung
partizipieren. Eine nicht zu vernachlässigende Rahmenbedingung für den Grad
der Partizipation können zum Beispiel die verfügbaren zeitlichen Ressourcen
sowohl auf Seite der „Beforschten“ als auch auf Seite der Forscherin sein. Die
allgemeine Regel eines Forschungsprojektes, zwischen ideal Wünschbarem und
Möglichem abzuwägen, trifft auch hier zu. In der vorliegenden Arbeit fanden,
wie beschrieben, Vorschläge und Kommentare verschiedener Mitglieder Eingang
in die Definition von Absicht, Zielen und methodischem Vorgehen der For-
schungsarbeit sowie von Position und Rolle der Forscherin. Im Rahmen der
Partizipation wurden zudem alle Mitglieder der Chácara um aktive Mithilfe ge-
beten. Die Bitte war kaum nötig. Nicht zuletzt viele der Jungen, aber auch ein
guter Teil der Erziehenden zeigten grosse Motivation, einen Beitrag an die For-
schung zu leisten. Als hauptsächlichen Grund nannten sie ihre Hoffnung, so das
eigene und andere Projekte weiter voran treiben und weiteren Strassenkindern,
darunter Geschwistern und Freunden der Jungen, helfen zu können. Ebenfalls
von grosser Bedeutung war für sie, gehört und in ihrer Erfahrung und ihren Mei-
nungen ernst genommen zu werden.
Eine besondere partizipative Vorgehensweise war die Bildung und Mitar-
beit eines Forschungsteams von Jugendlichen der Chácara. Sie soll hier etwas
ausführlicher erläutert werden.
Das Forschungsteam war während des zweiten und dritten Forschungsauf-
enthaltes (Oktober/November 2003 und März/April 2004) aktiv. Insgesamt wa-

83
ren im Jahr 2003 ein 15-jähriger, zwei 16-jährige und ein 17-jähriger Junge am
Team beteiligt. Geleitet wurde dieses von einem aus der Chácara ins Erwachse-
nenleben übergetretenen und nun ausserhalb der Chácara wohnhaften 19-
jährigen Jungen, den die Autorin seit ihrem ersten Aufenthalt im Jahr 1995 kann-
te. Mit Ausnahme eines Jungen hatten alle Gruppenmitglieder vor dem Aufent-
halt in der Chácara auf der Strasse sowie in anderen Projekten gelebt. Zur Mitar-
beit in der Forschungsgruppe meldeten sie sich freiwillig, nachdem ihnen (und
allen anderen interessierten Jungen) das Forschungsvorhaben dargelegt worden
war. Dabei war sowohl darauf hingewiesen worden, dass ihre Kenntnisse und
Fähigkeiten für die Forschung von grosser Bedeutung seien, als auch darauf,
dass eine Mitarbeit weiterbildenden Charakter habe und damit nützlich für ihre
schulische und berufliche Entwicklung sein könne.
Die Gruppe traf sich während der Aufenthalte der Autorin auf Wunsch der
Jungen jeweils am Samstagmorgen von 8.30 bis 12 Uhr bei einem Tisch an ei-
nem ungestörten Platz am Waldrand oder, in einem Fall, auf einem Platz in der
Stadt, auf dem sich auch Strassenkinder aufhielten. In Abwesenheit der Autorin
traf sie sich zweimal am Wohnort des Gruppenleiters. Die Forscherin übernahm
die Kosten für die notwendigen Busreisen des Leiters in die Chácara und stellte
das notwendige Material – Kassettenaufnahmegeräte, Batterien, Kassetten, Pa-
pier etc. – zur Verfügung. Ab Mitte des ersten Forschungsaufenthaltes entschä-
digte sie den Gruppenleiter für seine Arbeit und während des zweiten Aufenthal-
tes die Gruppenmitglieder. In Absprache mit dem Koordinator der Chácara und,
im Fall der Gruppenmitglieder, auch mit dem Gruppenleiter wurde beschlossen,
dass zunächst keine Zahlungen gemacht werden sollten, damit nur echt für die
Sache motivierte Jungen sich an der Arbeit beteiligten. Die Entschädigungsan-
sätze wurden mit denselben Personen vereinbart. Dabei wurde ein für das lokale
Gefüge fairer Ansatz bezahlt, der einer – so den Jungen kommunizierten – Kür-
zung unterworfen wurde. Diese wurde damit begründet, dass die Jungen mit
ihrer Mitarbeit im Forschungsteam etwas von dem an die Chácara zurückgaben,
was sie von dieser erhalten hatten. Dies entsprach dem normalen Vorgehen der
Chácara und wurde von den Jungen verstanden und für gut befunden. Die Akti-
vitäten der Gruppe umfassten folgende Teile:

ƒ Durch Autorin moderierte Entwicklung eines Konzeptes von Forschung und


von Regeln der Interviewführung durch die Jungen.
ƒ Entwicklung von Teilforschungsfragen, Definition der zu Befragenden,
Formulierung von Interviewfragen, Durchführung von Interviews, Entwick-
lung von Interpretationsmechanismen und Interpretation durch die Jungen,
gemeinsame Besprechung von Interviews und Intepretationen in der For-
schungsgruppe.

84
ƒ Gestaltung und Durchführung der „Gincana“ (Befragung vermischt mit
Geschicklichkeitsspielen) im Haus der jüngsten Jungen durch zwei Jungen
und die Autorin.
ƒ Darlegung des ganzen Forschungsvorhabens durch die Autorin, Diskussion
mit den Jungen, Kommentare, Beratung unter den Jungen (z. B. dazu, wer
zu welchen Themen am besten befragt würde und wie; Existenz von und
Umgang mit „verborgenem Wissen“ der Organisation etc.).

Als Begleitaktivität wurden auf Wunsch der Jungen Fähigkeiten wie Erstellung
von Traktandenlisten, Protokollierung der Sitzungen und Transkription von In-
terviews eingeübt. Die von den Jungen geführten Interviews werden in Kapitel
3.4 zusammen mit den anderen Interviews dargestellt.
Die Jungen machten mehrere wichtige Beiträge zur Forschungsgestaltung,
hatten sie doch Zugang zu Bereichen der Organisation – zum Beispiel dem „In-
neren“ der Gruppe der dort lebenden Jungen – welche der Autorin verborgen
waren. Damit konnten sie Anregungen geben, wer zu bestimmten Themen be-
fragt werden könnte, oder welche bisher nicht beachteten Themen zusätzlich
aufgenommen werden sollten. So schlugen sie unter anderem vor, Mitarbeitende
und externe Unterstützende der Chácara nicht nur danach zu fragen, was sie zur
Chácara beitrügen, sondern auch, was sie durch ihr Mitwirken in der Chácara
gewännen. In diese Richtung zielende, sehr offene Fragen in Interviews trugen in
der Folge zu einem tieferen Einblick in Aspekte wie die Beziehung zwischen
Erziehenden und Jungen bei. Diese Beziehung stellte sich als besonders charak-
teristisches und relevantes Element der Organisation heraus und wäre ohne den
Beitrag der Jungen der Forschungsgruppe nicht in derselben Weise ans Licht
getreten.
Einen anderen wichtigen Einblick gab ein ausführliches Gespräch über die
Geschichte der Chácara, in welchem die Gruppenmitglieder bemerkten, dass es
verschiedene, distinkte Generationen von Jungen in der Chácara gebe, die sich
hinsichtlich gewisser Aspekte unterschieden. Sie beklagten, dass die heutigen
Jungen nicht mehr wüssten, wie es gewesen sei, als es in der Chácara nicht ge-
nug zu essen gegeben habe und die Jungen für das Projekt und ihr Leben hätten
kämpfen müssen. Deshalb sei es wichtig, den Jungen die Geschichte und Identi-
tät der Chácara wieder näher zu bringen. Diese Diskussion trug zu den Erkennt-
nissen über das Spannungsfeld zwischen institutioneller Entwicklung und Parti-
zipation bei, welche später in Kapitel 4 präsentiert werden.
Die Jungen, welche keine formellen Kenntnisse wissenschaftlicher Vorge-
hensweisen hatten, liessen im Rahmen ihrer Zusammenarbeit eine beeindrucken-
de Vielfalt analytischer und organisatorischer Fähigkeiten erkennen. Auf der
Basis von sehr offenen Fragen der Autorin erstellten sie unter anderem eine um-

85
fassende Liste von Interviewregeln. Zur Kontrolle ihres Vorgehens entwickelten
sie in eigener Initiative ein ganzes Interviewsystem, nach dessen Vorgabe zuerst
der Leiter der Forschungsgruppe die Autorin bei einem Interview begleitete,
danach er selbst eines durchführte, bei dem ihn ein Junge begleitete, worauf ein
nächstes gemacht wurde, bei dem dieser Junge, überwacht vom Leiter, die Fra-
gen stellte. Dieses System setzten sie so lange fort, bis alle Jungen in der Gruppe
angelernt waren und jeder ein Interview durchgeführt hatte.
Die Partizipation der Forscherin am normalen Tagesablauf der Chácara
während der Feldforschung kann im Übrigen als reziproke Partizipation verstan-
den werden: Während die Mitglieder der Chácara diese alltäglich betrieben und
sich an der Untersuchung beteiligten, betrieb die Forscherin die Untersuchung
und beteiligte sich am Betriebsalltag der Chácara. Sie gewann dabei den Ein-
druck, dass dies bei den Mitgliedern der Chácara zur Wahrnehmung einer sozia-
len Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung bei unterschiedlicher fachlicher
Spezialisierung führte. Dies war wichtig für die Akzeptanz der Forschung und
Forscherin durch die Chácaramitglieder, wie zum Beispiel ein Dialog zwischen
zwei Jugendlichen zeigte: Als sich der eine beklagte, dass die Forscherin in der
Chácara zu Mittag esse, obwohl sie am Morgen nicht im Haushalt mitgearbeitet
habe, antwortete ihm der andere, dass sie doch am Morgen an der Forschung
gearbeitet habe, und dass dies auch ein wichtiger Beitrag sei.
Neben den partizipativen Elementen enthielt die Forschung auch nicht
partizipative Aktivitäten, so zum Beispiel die Analyse von Dokumenten und von
wissenschaftlichen Arbeiten Dritter über die „Chácara“. Im Übrigen wurde die
Partizipation insofern etwas limitiert, als bis nach Ende der Interviews in der
Chácara keine bereits entstandenen übergeordnete Erkenntnisse der Forschungs-
arbeit an Mitglieder und Beteiligte der Chácara weitergegeben wurden.

3.4 Erhebungsmethoden

Die hauptsächlichen Erhebungsmethoden waren ausführliche, explorative Inter-


views und Gruppengespräche offenen und stark narrativen Charakters, Tonauf-
nahmen von öffentlichen Anlässen der Chácara sowie die Sichtung von Texten
von Chácara-Mitgliedern und von administrativen Dokumenten der Organisati-
on. Zunächst sollen die einzelnen Methoden etwas näher dargestellt werden.

86
3.4.1 Einzelinterviews

Es wurden 26 Einzelinterviews durchgeführt. Von diesen waren 22 explorativ,


das heisst unstrukturiert bis kaum strukturiert und narrativ gestaltet. Sie verfüg-
ten über einige problemzentrierte Elemente im Sinne einer Fokussierung auf
einzelne Themen der Organisation (wie in Kapitel 3.5 bezüglich des hermeneuti-
schen Zirkels beschrieben). Die Forscherin führte 21 dieser Interviews durch und
der Leiter des Forschungsteams der Jungen, ein 19-jähriger ehemaliger Junge,
eines. Die Interviewpartner wurden aufgrund von Überlegungen zur Erfassung
von Praxiswissen sowie verschiedener Sichten auf die Chácara ausgewählt. Bei
den befragten Jungen handelte es sich hierbei um solche, die besonderes Interes-
se daran zeigten, der Autorin die Chácara zu erklären. Zwei von ihnen befanden
sich gerade in der ersten Integrationsphase und zwei hatten mit Problemen der
Integration in die Chácara zu kämpfen. Dadurch konnten sie zusätzliche Aspekte
der Organisation beleuchten zu denjenigen, welche im umfangreichen vorliegen-
den Textmaterial einer grossen Anzahl weiterer Jungen vorlagen.
Die Interviews fanden während der beiden Forschungsaufenthalte im Jahr
2003 sowie während des Aufenthaltes im März und April 2004 statt. Befragt
wurden:

ƒ 2 erwachsene „ehemalige Jungen“ im Alter von 24 und 20 Jahren, von de-


nen ersterer als Erzieher in der Chácara arbeitete. Der zweite war verheiratet
und lebte und arbeitete als Vater eines Sohnes ausserhalb der Chácara (nach
dem Interview wurde er zum Leiter des Forschungsteams der Jungen).
ƒ 7 Jungen der Chácara (2 = 12 Jahre alt, 1 = 13 Jahre, 1 = 14 Jahre, 2 = 16
Jahre, 1 = 19 Jahre).
ƒ Der Koordinator der Chácara, 2 Interviews.
ƒ 3 Erzieher der Chácara (davon 1 durch den Leiter des Forschungsteams der
Jungen).
ƒ 4 Vorstandsmitglieder der Chácara (alle weiblich, davon drei Gründungs-
mitglieder).
ƒ 4 weitere Fachpersonen: 1 Pädagogikprofessorin (seit Gründung dabei,
pädagogische Beratung und Mitarbeit), 1 Psychotherapeutin (Supervision
der Erziehenden und des Koordinators), 1 Staatsanwalt für Kinderrechte
(und Generalstaatsanwalt von 1994 – 1998 und wieder seit 2008, seit Grün-
dung dabei) und 1 Pater (an der Familienarbeit beteiligt, seit Gründung da-
bei).

Die weiteren vier Einzelinterviews wurden vom Forschungsteam der Jungen


anhand von Rahmenangaben zur Forschungsabsicht strukturiert und selbständig

87
durchgeführt. Sie enthielten vorwiegend offene Fragen und hatten deshalb eben-
falls einen narrativen, jedoch stärker problemzentrierten Ansatz als die unstruk-
turierten Interviews. Befragt wurden:

ƒ 1 20-jähriger, noch in der Chácara lebender Junge.


ƒ 1 als Freiwillige in der Chácara tätige Pädagogikdozentin.
ƒ 2 Nachbarn (seit Gründung beteiligt, einer davon bereits seit der Jugendar-
beit in der Favela, aus der die Arbeit mit der Chácara herauswuchs).

3.4.2 Gruppeninterviews

Als Folge der Verfügbarkeit der befragten Personen fanden im selben Zeitraum,
in dem auch die Einzelinterviews stattfanden, fünf Gruppeninterviews statt:

ƒ 3 vom Forschungsteam der Jungen durchgeführte strukturierte, narrative,


problemzentrierte Interviews mit Bewohnern der Nachbarschaft der
Chácara (2 Ehepaare sowie eine Gruppe von 3 Frauen).
ƒ 2 von der Autorin durchgeführte nicht strukturierte, explorative, narrative
Interviews mit einigen problemzentrierten Elementen mit 1 Erzieherin der
Chácara, an deren Ende auch 1 16-jähriger Junge Auskunft gab, sowie mit
der Leiterin und Ko-Leiterin des Nachbarprojektes ABAI (beides Schweize-
rinnen).

3.4.3 Gruppengespräche

Da sich im Verlauf der Forschung herauskristallisierte, dass das pädagogische


Konstrukt sowie die „Identität“ der Chácara und deren Entwicklung für die Or-
ganisation von grosser Bedeutung seien, wurden zwei je dreistündige explorative
Gruppengespräche durchgeführt, bei denen die Autorin lediglich einige Themen
ansprach und dann dem Gespräch unter den Beteiligten viel Raum liess, dabei
jedoch auch sicherstellte, dass alle Anwesenden zu Wort kamen. Es waren dies:

ƒ 1 Gruppengespräch mit 3 Erziehern (davon 1 ehemaliger Junge) und 2 Er-


zieherinnen (November 2003).
ƒ 1 Workshop zur Geschichte und zu besonders signifikanten Momenten der
Chácara mit 4 Vorstandsmitgliedern (3 Frauen (davon 1 Gründungsmit-
glied) und 1 Mann (Gründungsmitglied) und 2 Erziehern (davon 1 ehemali-
ger Junge) (April 2004).

88
Das Interesse und Engagement der Beteiligten war während dieser beiden Ge-
spräche sehr gross, so dass die koordinierenden Beiträge der Forscherin minimal
gehalten werden konnten.
In den Einzelinterviews waren mit Ausnahme des Koordinators der Chácara
alle Personen nur einmal befragt worden. Am ersten Gruppengespräch nahm ein
Erzieher und ehemaliger Junge teil, der zuvor bereits einzeln interviewt worden
war, sowie eine Erzieherin, die nachher noch einzeln interviewt wurde. Derselbe
Erzieher und ehemalige Junge nahm auch am Workshop teil. Zwei der an diesem
Workshop beteiligte Frauen aus dem Vorstand wurden ebenfalls einzeln inter-
viewt (je eine vor und eine nach dem Workshop). Der zweite der am Workshop
teilnehmenden Erzieher wurde später vom Leiter des Forschungsteams der Jun-
gen einzeln interviewt.
Die Teilnehmenden des ersten Gruppengesprächs setzten sich aus allen zu
jenem Zeitpunkt in der Chácara anwesenden Erziehenden zusammen. Die Teil-
nahme am Workshop zur Geschichte und zu signifikanten Momenten der
Chácara beruhte auf Freiwilligkeit (er wurde an einem Abend in der Stadt durch-
geführt). Neben der zeitlichen Verfügbarkeit hatte hier vermutlich die Identifika-
tion mit der Geschichte/Identität der Chácara und/oder mit dem Forschungsan-
liegen einen Einfluss darauf, wer am Workshop teilnahm. Obwohl einige Perso-
nen sowohl an Gruppengesprächen als auch an Einzelinterviews teilnahmen,
ergaben sich kaum thematische Überschneidungen, da der Fokus der Gespräche
jeweils ein anderer war.

3.4.4 Texte und Gruppenübung der Jungen

Es wurde grosser Wert darauf gelegt, die Ansichten der Jungen der Chácara in
die Untersuchung miteinzubeziehen, da sie das Zielpublikum der Organisation
darstellen. Zusätzlich zu den durchgeführten Einzelinterviews stand eine Viel-
zahl von Texten von Jungen zur Verfügung, von denen die meisten in den Jahren
1993 bis 2004 und unabhängig von der vorliegenden Forschung erstellt worden
waren. Darunter befand sich das von 34 Jungen verfasste Buch „Histórias de
Nossas Vidas“ (Meninos de Quatro Pinheiros, 1999). Dieses Buch wurde in den
Jahren 1996 bis 1998 von den damals in der Chácara lebenden Jungen verfasst.
Sie beschrieben dafür – auf freiwilliger Basis und ohne weitere Vorgaben – zwi-
schen einer halben und bis zu 10 und mehr Seiten über ihre bisherige Lebensge-
schichte und -erfahrung. Die Texte wurden daraufhin in Zusammenarbeit mit
einer Journalistin auszugsweise den Kapiteln: „Vor der Strasse“, „Auf der Stras-
se“, „Einige Erfahrungen“ (v.a. mit Polizei und anderen Projekten/Institutionen)
und „In der Chácara“ zugeteilt. Letzteres umfasst die Unterkapitel: „Die Wahl“ (der

89
Chácara), „Gründe für’s Dableiben“, „Weit weg von den Drogen“, „Arbeit“, „Zu-
sammenleben“, „Die Gemeinde von Quatro Pinheiros“, „Schule“ und „Zukunft“.
Es schien wichtig, auch die Ansichten der jüngeren, seit kürzerer Zeit in der
Chácara lebenden Jungen zu erfassen, welche nicht an dem Buch mitgearbeitet
hatten. Deshalb wurde im April 2003 eine „Gincana“, eine Mischung aus Work-
shop und Wettbewerb mit den Bewohnern des Vierten Hauses, welches diese
Gruppe aufnimmt, durchgeführt. Der Workshop-Teil wurde von der Forscherin
gestaltet, der allgemeine Rahmen sowie der Wettbewerbsteil von zwei Jugendli-
chen des Forschungsteams sowie einem weiteren Jugendlichen, der das Team
informell unterstützte und an diesem Abend die Kinder in dem Haus betreute. Es
nahmen 15 Jungen im Alter von 7 bis 13 Jahren teil42, welche von den mitarbei-
tenden Jugendlichen in drei möglichst heterogene Gruppen aufgeteilt wurden. Da
ein Grossteil der Jungen des Lesens und Schreibens noch nicht vollumfänglich
mächtig war, wurde mit Zeichnungen und dem Aufnahmegerät gearbeitet. Zwi-
schen den einzelnen Teilen fanden Geschicklichkeitsspiele statt, welche, wie
immer üblich bei Gincanas der Chácara, am Ende mit Süssigkeiten für jedes
Team prämiert wurden. Zunächst erhielt jede Gruppe eine der folgenden, in
Anlehnung an die Themen des Buches der Jungen formulierten Fragen:

a. Wie warst du, bevor Du in die Chácara kamst?


b. Wie bist Du jetzt in der Chácara?
c. Wie willst Du in Zukunft sein?

Jeder Junge machte daraufhin eine Zeichnung zur Frage seiner Gruppe. Dann
erzählte er im Plenum, was auf seiner Zeichnung zu sehen sei. Daraufhin erhielt
wiederum jede Gruppe eine der folgenden Fragen:

d. Weshalb bist Du in die Chácara gekommen? Was möchtest Du von der


Chácara?
e. Was war gut in den anderen Projekten? Was war schlecht in den ande-
ren Projekten?
f. Was ist gut in der Chácara? Was ist schlecht in der Chácara?

Die Mitglieder jeder Gruppe wählten einen Schreiber, befragten einander zu den
gestellten Fragen und gaben dann die entstandenen Antworten der Autorin ab.
Insgesamt umfasst das für die Forschung erhobene Datenmaterial Aussagen
von über 60 in der Chácara lebenden Jungen, wobei die genaue Anzahl wegen
der Anonymität der Texte im Buch der Jungen nicht genau feststellbar ist. Letz-
42
Altersverteilung: 1 = 8 Jahre alt, 1 = 9 Jahre, 3 = 11 Jahre, 6 = 12 Jahre, 3 = 13 Jahre, 1 = 15
Jahre.

90
tere waren zum Zeitpunkt der Erstellung der Texte zwischen 8 und 20 Jahren alt.
Die in die Analyse einbezogenen Textstellen entstammen je etwa hälftig Aussa-
gen, welche unabhängig von der vorliegenden Forschung respektive im Zusam-
menhang mit ihr entstanden.43

3.4.5 Tonaufnahmen öffentlicher Anlässe

Von vier öffentlichen Anlässen, bei denen sich die Chácara als Organisation
präsentierte, wurden Tonaufnahmen erstellt:

ƒ Festakte zum 10-jährigen Jubiläum der Chácara vom 4. und 11. Oktober
2003.
ƒ Familientag (an dem die Angehörigen der Jungen die Chácara besuchen),
23. November 2003.
ƒ Präsentation der Chácara durch den Koordinator und eine Gruppe von Jun-
gen an einer privaten Universität, 22. April 2004.

Auf diese Weise sollte auch erfasst werden, wie die Organisation Chácara von
ihren Mitgliedern beteiligten und unbeteiligten Dritten gegenüber dargestellt
wird.

3.4.6 Sichtung administrativer Dokumente

Für Informationen über den offiziellen und rechtlich gültigen Rahmen sowie für
Angaben zu den Jungen der Chácara wurden die Statuten, der Jahresbericht 2004
sowie administrative Daten der Jungen und ihrer Familien (Geburtsdatum, Ein-
tritt in die Chácara, vorherige Situation, Wohnort der Familie etc.) gesammelt.

3.4.7 Punktueller, illustrativer Beizug weiterer Materialien

Eine Anzahl von Materialien wurde von der Forscherin punktuell zur Erweite-
rung ihrer Hintergrundkenntnisse der Organisation beigezogen. Entsprechend
wurden sie nicht einer strukturierten Analyse unterzogen. Dabei handelte es sich
um:

43
Die genauen Zahlen analysierter Textstellen sind in Kapitel 4 im Rahmen der Darstellung der
Resultate ersichtlich.

91
ƒ Studien zu pädagogischen Aspekten der Chácara (Fritz, 1998; Miranda &
Stoltz, 1999; Oliveira, 2001; Rigoni, 1999; Teixeira & Drozdz, 2003;
Tratch, Guedes & Hilgemberg, 1998; Turra, 1995; Wal et al., 1998).
ƒ Notizen von einzelnen, informellen Gesprächen und eigenen Beobachtun-
gen sowie Teile eines Forschungstagebuchs.
ƒ Unterlagen und Protokolle der von der Forscherin mitvorbereiteten, aber
unabhängig von der Forschung und erst nach Abschluss der Feldforschung
durchgeführten Workshops zur kurz- und mittelfristigen strategischen Pla-
nung für die Projektmitarbeitenden.
ƒ Protokolle und gemeinsam erarbeitete Unterlagen der Sitzungen der For-
schungsgruppe von Kindern und Jugendlichen.
ƒ Weitere administrative Unterlagen der Chácara von 1993 bis 2006: Kopien
ihrer Projektpläne und -absichten, Protokolle der Sitzungen des Vorstandes
und der Mitarbeitersitzungen; Unterlagen der Zusammenarbeit zwischen
dem Projekt und seinem Schweizer Unterstützungsverein (1995 – 2006).
ƒ Aufnahmen von Fernsehreportagen und Werbefilmen des Projektes sowie
eine umfangreiche Sammlung von Photos und von Zeitungsartikeln (über
die Chácara und über die Situation von Strassenkindern in Brasilien im All-
gemeinen) aus den Jahren 1993 bis 2006.

3.5 Daten, Bearbeitung und Analyse

3.5.1 Datenumfang, Transkription und Übersetzung

Alle Tondokumente, also Interviews, Gruppengespräche und Gruppenübung,


zwei Festakte zum 10-jährigen Bestehen der Chácara mit Auftritten verschiede-
ner Projektmitglieder, Behördenvertreter etc. sowie eine Präsentation des Koor-
dinators und einiger Jungen an einer privaten Universität wurden verbatim tran-
skribiert. Daraus ergaben sich Texte von insgesamt 16'500 Zeilen, was bei einem
Zeilenabstand von einer Zeile etwa 311 A4-Seiten entspricht.
Dazu kamen die Texte, welche die Jungen für ihr Buch und ausserhalb des-
selben erstellt hatten: noch einmal etwa 2'500 Zeilen (ca. 47 A4-Seiten), sowie
Statuten und Jahresbericht 2004 der Chácara.
Mit der Ausnahme eines in schweizerdeutscher Sprache durchgeführten In-
terviews sowie einiger Zeitungsartikel deutscher Sprache ist das gesamte genütz-
te Datenmaterial in brasilianisch-portugiesischer Sprache abgefasst.
Für die Datenanalysen wurden die Texte und Transkripte in ihrer Original-
sprache verwendet. Die Übersetzung in die deutsche Sprache wurde für diejeni-
gen Textstellen vorgenommen, welche in der vorliegenden Arbeit zitiert werden.

92
Bereits die Transkription, besonders aber die Übersetzung stellten eine besonde-
re Herausforderung dar. So waren etliche der von Befragten verwendeten um-
gangssprachlichen Ausdrücke und zwar besonders diejenigen aus dem Umfeld
der Strasse in der neusten Auflage des grössten Wörterbuchs der brasilianisch-
portugiesischen Sprache (Ferreira, 1986) nicht erläutert. Da die Autorin ur-
sprünglich in der untersuchten Chácara Portugiesisch gelernt hatte, kannte sie die
Bedeutung der meisten dieser Begriffe; für einige musste sie jedoch auf Aus-
künfte von dort Beteiligten zurückgreifen. Für die Übersetzung selbst war eben-
falls das Sprachvermögen der Autorin nötig, da der umfangreichste existierende
Dictionnaire ein mittelgrosses Taschenwörterbuch Portugiesisch-Deutsch ist,
welches viele brasilianische Begriffe aus der Umgangs- aber auch Fachsprache
nicht enthält. Um sicherzustellen, dass derselbe Begriff immer gleich übersetzt
wurde, wurde eine Konkordanzliste geführt. Eine weitere Herausforderung stell-
ten Begriffe dar, die Konzepte beinhalteten, für welche in der deutschen Sprache
kein einzelner Begriff zur Verfügung steht, so zum Beispiel der sehr häufige
Begriff „cidadania“ bzw. „resgate da cidadania“, der mit „Staatsbürgerlichkeit“
bzw. „Wiederherstellung der Staatsbürgerlichkeit“ nur annähernd übersetzt wer-
den kann. In Fällen wie diesen wurde im Text jeweils auch der ursprüngliche
brasilianische Begriff und/oder eine umschreibende Übersetzung verwendet.

3.5.2 Analyseprozess

Die transkribierten Tondokumente und Texte wurden einer explorativen (also


qualitativen) Inhaltsanalyse unterzogen. Das Vorgehen war iterativ und bestand,
im Sinne eines hermeneutischen Zirkels, aus einem „Hin-und-Her“ zwischen
Datenanalyse und -interpretation, zwischen induktiven und deduktiven Phasen.
Dieser Prozess begann bereits mit der Erhebung der Daten und soll hier kurz
dargestellt werden:

1. Die zu untersuchenden Themen wurden aufgrund der Forschungsfrage, der


eigenen praktischen Erfahrung sowie dem in Kapitel 3.3.3. beschriebenen
Rahmenkonzept der Organisation identifiziert.
2. Zu diesen Themen wurden ein erstes Mal im Rahmen einer Feldforschung
unstrukturierte sowie einige strukturierte Interviews durchgeführt, Beobach-
tungen gemacht und Dokumente der Organisation gesichtet. Damit wurden
zwei Absichten verfolgt. Einerseits sollte inhaltlich etwas über die zu unter-
suchenden Themen sowie über die von den Befragten selbst gesetzten the-
matischen Schwerpunkte in Erfahrung gebracht und damit die Ausdehnung
und Abgrenzung des Forschungsgegenstands genauer definiert werden. An-

93
derseits sollten erste Erfahrungen mit der gewählten Methodik und den ein-
zusetzenden Methoden gemacht werden, um das weitere methodische Vor-
gehen verfeinern und/oder noch besser anpassen zu können. Zudem sollte
ein Eindruck gewonnen werden von der Qualität, Breite und Tiefe der zu
erhaltenden Daten.
3. Die Interviews wurden zunächst im Sinne einer explorativen Inhaltsanalyse
induktiv codiert, und es wurden Kategorien von (strukturellen und prozes-
sualen) Aspekten der Organisation gebildet. Dabei zeigte sich, dass auch
Aspekte der Organisation erwähnt wurden, nach welchen nicht spezifisch
gefragt worden war (als Resultat der Unstrukturiertheit der Interviews und
der Offenheit der Fragestellungen).
4. Die nun vorhandenen Aspekte der Organisation wurden in einer Vorgänger-
version des Rahmenkonstrukts der Organisation (siehe Kapitel 3.3.3) zu ei-
nander in Bezug gesetzt, unabhängig davon, ob sie schon mit Daten gefüllt
waren oder nicht.
5. In einer deduktiven Analyse der Interviews, Beobachtungen und Dokumen-
te wurden daraufhin diejenigen Dimensionen der Organisation identifiziert,
zu denen bisher nur sehr wenige oder gar keine Daten vorlagen. Ebenfalls
wurden Mitglieder- und Beteiligtengruppen identifiziert, von denen bisher
keine Aussagen vorlagen.
6. Zu diesen Dimensionen wurden nun im Rahmen von zwei weiteren Feld-
aufenthalten weitere unstrukturierte und einige strukturierte Interviews so-
wie Gruppengespräche und -übungen durchgeführt und weitere Ton- und
Textdokumente beschafft. Es wurden im Weiteren Personen derjenigen
Mitglieder- und Beteiligtengruppen befragt, welche zuvor nicht zum Zug
gekommen waren.
7. Daraufhin wurden alle nun vorhandenen Daten in Bezug auf die Dimensio-
nen der Organisation erneut codiert und kategorisiert. Innerhalb der qualita-
tiven Inhaltsanalyse wurden dabei je nach der Art des Datenmaterials, der
Organisationsdimension und der entstehenden Erkenntnisse Ansätze der
narrativen sowie der Informations- und der Diskursanalyse angewendet.
Konkret bedeutet dies, dass sowohl Informationen als auch Sinnkonstrukti-
onen und sowohl explizite als auch implizite Kommunikationsinhalte analy-
siert wurden.

Zur technischen Unterstützung dieses Analysevorgehens wurde Atlas ti Version


5 eingesetzt, eine Software, die sich für qualitative und induktive Analysen eig-
net und aufgrund ihrer Möglichkeiten der graphischen Darstellung die Bildung
von Sinnzusammenhängen und Erarbeitung emergierender Konstrukte erleich-
tert.

94
3.6 Wissenschaftliche Güte

Es ist von grosser Bedeutung für die Adressaten der vorliegenden Arbeit in Wis-
senschaft und Praxis, dass die Forschungsmethodik derart gestaltet ist, dass sie
verständliche, glaubwürdige, der Realität angemessene und schliesslich auch
praktisch umsetzbare Antworten auf die Forschungsfragen auszulösen vermag.
Köckeis-Stangl (1980) hält fest, dass eine Annäherung an dieses Ziel möglich,
eine vollständige Erreichung jedoch unmöglich ist:

Wenn man soziale Realität als einen dauernd vor sich gehenden Konstruktions-
prozess ansieht, an dem alle Gesellschaftsmitglieder in grösserem oder kleinerem
Masse mitwirken, dann kann man nicht damit rechnen, dass es überhaupt eine For-
schungsmethode gibt, die es gestattet, völlig eindeutige, längerfristig gültige, unwi-
derlegbare, zweifelsfrei wahre Aussagen über Elemente und Relationen der sozialen
Realität zu machen. (S. 362)

Davon ausgehend, dass die Realität der Organisation dynamisch und facetten-
reich ist, wurde die empirische Arbeit so gestaltet, dass die Facetten der Organi-
sation möglichst angemessen erfasst und beschrieben werden konnten. Gleich-
zeitig wurde der Beachtung der drei Kriterien wissenschaftlicher Güte, Gültig-
keit, Zuverlässigkeit und Relevanz44, welche in der qualitativen Sozialforschung
angewandt werden, grosse Bedeutung beigemessen. Diese Kriterien kommen in
allen Bereichen der Methodik zum Tragen: Bei der Gestaltung von Forschungs-
ablauf und -rolle, den Erhebungsmethoden sowie der Datenanalyse und -präsen-
tation. Hier sollen nun ihre Definitionen und die diesbezüglichen Empfehlungen
in der Literatur dargestellt und um eine Beschreibung der konkreten Umsetzung
in der vorliegenden Studie ergänzt werden.

3.6.1 Gültigkeit

Die Gültigkeit („Validität“) bezeichnet das Mass, in dem die Erkenntisse der
Forschung „zutreffend“, „richtig“ sind, also das abbilden, was sie abbilden sol-
len. Lamnek (1995, S. 163 ff.) bezeichnet die Gültigkeit als wichtigstes Gütekri-
terium in der qualitativen Sozialforschung. Drei der von ihm genannten Validie-
rungsarten wurden in der vorliegenden Arbeit übernommen. Sie alle haben einen
interpretativ-kommunikativen Charakter, wie ihn Lamnek als charakteristisch für
das qualitative Paradigma sieht.

44
Auf die Frage der Anwendbarkeit/Generalisierbarkeit der Resultate wird in Kapitel 6 vertieft
eingegangen.

95
Unter ökologischer Validität wird die Gültigkeit im natürlichen Lebensraum der
Untersuchten verstanden. Für den Datenerhebungsprozess heisst dies, dass er in
diesem Lebensraum stattfinden und dessen Eigenheiten möglichst gut angepasst
sein soll. Lamnek zitiert hier Vomerg (1983):

Gültigkeit wird im interpretativen Paradigma damit in entscheidendem Masse zu ei-


ner praktischen Frage: Ob es gelingt, trotz der Tatsache, dass Forschung stattfindet,
hinreichend realitätshaltige Interaktionsbedingungen zu schaffen und aufrechtzuer-
halten. (S. 127, zitiert in Lamnek, 1995, S. 169)

Als geeignete Methoden empfiehlt er qualitative Interviews, Gruppendiskussion


und teilnehmende Beobachtung. Diese seien in der Regel valider, weil die Daten
näher am sozialen Feld entstünden, die Informationen nicht durch Forschungs-
raster prädeterminiert seien, die Daten realitätsgerechter und angemessener seien,
die Relevanzsysteme der Untersuchten berücksichtigt würden, die Methoden
offener und flexibler seien, eine kommunikative Verständigungsbasis existiere
und eine sukzessive Erweiterung der Untersuchungsbasis auch auf extreme Fälle
möglich sei (Lamnek, 1995, S. 171).
Es ist in diesem Kapitel bereits dargelegt worden, dass der Datenerhebungs-
prozess in hohem Masse an den „Lebensraum“, das heisst an den Forschungs-
kontext Chácara angepasst wurde. Dies geschah einerseits durch die Form der
Integration der Forscherin und anderseits durch einen eigentlichen Aushand-
lungsprozess zu Zielen und Methodik der Forschung. Es wurden zudem die von
Lamnek empfohlenen Erhebungsmethoden angewandt.
In der Interpretation und Analyse der Daten sollen gemäss Lamnek die Le-
bensraum- und Umweltbedingungen der Untersuchten ebenfalls weitestgehend
berücksichtig werden. Im vorliegenden Fall wäre es ohne solche Kenntnisse des
Forschungskontextes gar nicht möglich gewesen, die Ton- und Textdokumente
zu verstehen. Das offensichtlichste Beispiel ist die bereits erwähnte, spezifische
Sprachvariante der befragten Personen. Im Rahmen der Datenanalyse wurden,
wo notwendig, entsprechende Verständnisfragen mit Mitgliedern und Beteiligten
der Chácara, und hier besonders mit den Jungen des Forschungsteams, geklärt.
Vor allem ist der Lebensraum bzw. der Forschungskontext der Chácara jedoch
deshalb bei der Datenauswertung berücksichtigt, weil diese im Rahmen des her-
meneutischen Vorgehens primär induktiv geschah, indem aus den Daten der
Chácara ein Auswertungsrahmen entstand, welcher dann an den Daten der
Chácara wieder eingesetzt wurde.
Bei der kommunikativen Validierung geht es gemäss Lamnek (1995,
S. 163 ff.) darum, die Forschungsergebnisse an die Untersuchungsteilnehmer
zurück zu übermitteln und im Verlauf dieses Prozesses die Überzeugung zu
gewinnen, dass die Analyse und Interpretation zutreffend waren.

96
Auch diese Validierung geschah innerhalb des hermeneutischen Vorgehens,
indem eine zweite Runde Interviews aufgrund einer ersten gemacht und die Da-
ten ebenfalls in wiederholten Kreisen analysiert wurden. Es ging dabei jedoch
nicht nur um eine Bestätigung bereits gemachter Erkenntnisse, sondern auch
darum, zu bestimmten Punkten so vollständige Erkenntnisse wie möglich zu
gewinnen. So wurde es unter anderem möglich, wenig genannte, aber relevante
Aspekte in die Analyse miteinzuschliessen und damit fundiertere – und wohl
validere – Erkenntnisse zu erzielen.
In verschiedenen Momenten der Kommunikation entstand die Überzeu-
gung, dass die Analyse und Interpretation der Daten zutreffend waren. Die bei-
den wesentlichsten Momente sollen hier erwähnt werden:

ƒ Erste Forschungsresultate wurden auf Bitte der Chácara in einem zweiseiti-


gen Merkblatt zusammen gefasst, welches Eingang in eine Publikation der
Chácara über ihre Arbeit finden sollte (Anhang 2). Dieses stiess beim Pro-
jektkoordinator und weiteren Fachmitarbeitenden und -beteiligten, darunter
die Pädagogikprofessorin, welche die Forschungsarbeit teils mitbetreut hat-
te, eine Sozialarbeiterin, eine Lehrerin und eine Ausbildungsspezialistin, auf
positives Echo. Es wurde spontan geäussert, dass dies tatsächlich eine Be-
schreibung der Chácara sei. In einem Telefongespräch äusserte der Koordi-
nator zudem, dass die Forschungserkenntnisse die Chácara so darstellten,
wie sie sei, ihm jedoch auch einen neuen Blickwinkel auf die Organisation
eröffneten. Der ebenfalls über den wissenschaftlichen Austausch mit der
Forschung verbundene Soziologieprofessor, der beim Aufbau der Chácara
beteiligt gewesen war und sie seither begleitete, äusserte ebenfalls, in den
ihm präsentierten Forschungserkenntnissen ein angemessenes Bild der
Chácara erkannt zu haben.
ƒ Am 24. November 2006 lud die Chácara zusammen mit dem Nachbarpro-
jekt ABAI Richter, Staatsanwälte und Vertreter von Regierungs- und Nicht-
regierungsorganisationen in Curitiba und Umgebung zu einer Fachtagung
über die Jugendsozialpolitik ein („Encontro sobre políticas públicas para
juventude“), bei der die vorliegende Studie während zweieinhalb Stunden
präsentiert und diskutiert wurde. Diese Veranstaltung wurde offiziell unter-
stützt von einer Anzahl bedeutender staatlicher und nicht staatlicher Institu-
tionen, nämlich dem Fachzentrum der Staatsanwaltschaft für Kinder und
Jugendliche („Centro de Apoio Operacional das Promotorias da Criança e
do Adolescente“), dem Jugendgericht („Vara de Adolescentes Infratores“),
dem Forum zur Verteidigung der Rechte des Kindes und der Jugendlichen
(„Fórum de Defesa dos Direitos da Criança e do Adolescente“), dem Netz-
werk zur Integration der residentiellen Institutionen [für Kinder und Jugend-

97
liche] („Rede de Integração de Abrigos“) und dem Sektor für Erziehungs-
wissenschaften der Staatlichen Universität von Paraná. Es nahmen etwa 50
Personen teil, darunter ein Richter und eine Richterin, sechs Staatsanwältin-
nen und weitere Fachleute der Staatsanwaltschaft (welche für die Überwei-
sung von Kindern und Jugendlichen in Institutionen und die Kontrolle der
Institutionen zuständig sind), sieben Verantwortliche für Kinder und Ju-
gendliche der Sozialbehörde aus verschiedenen Bezirken der Stadt Curitiba,
die Präsidentin der Jugendkommission des Nationalen Anwaltverbandes im
Teilstaat Paraná, Gründungs- und Vorstandsmitglieder sowie Koordinator,
Erziehende und etwa 12 Jungen der Chácara, Lehrerinnen, zwei Unversi-
tätsprofessorinnen und andere Fachpersonen mehr.

Auch dieses gemischte und hochkarätige (Fach-)Publikum, dessen meisten Mit-


glieder die Chácara aus der einen oder anderen Perspektive bereits mehr oder
weniger gut kannten, zeigte durch direkte Kommentare sowie durch Inhalt und
Form der langen und lebhaften Diskussion über die Chácara und andere Instituti-
onen, dass es aufgrund der präsentierten Forschungsergebnisse die Organisation
Chácara wiedererkannt hatte.
Als weitere Form der Validierung erwähnt Lamnek (1995, S. 163 ff.) die
Validierung an der Praxis, bzw. an der sozialen Realität. Die Idee hinter dieser
Art der Validierung besteht darin, aus der Datenanalyse entstandene Erkenntnis-
se als Hypothesen zu formulieren und zu beobachten, ob diese in der sozialen
Realität der untersuchten Personen bestätigt werden. Lamnek (1995, S. 163 ff.)
erwähnt hier die Schwierigkeit, dass die soziale Realität einen prozesshaften
Charakter besitze und deshalb keine volle Übereinstimmung herbeigeführt wer-
den könne.
Ein indirekter Hinweis auf die Gültigkeit könnte nach Erachten der Autorin
jedoch die Nutzbarkeit der Erkenntnisse in der Praxis sein. Diese wurde in der
vorliegenden Arbeit nicht systematisch erhoben; es gab jedoch Hinweise, welche
erste Aussagen zu deren Erfassung zuliessen. So wurden zum Beispiel nach
Abschluss der Feldforschung in den Jahren 2004 und 2005 auf Wunsch der
Chácara mehrere Workshops zur kurz- und langfristigen Planung der Chácara
durchgeführt. Neben der Planung kam dabei der Analyse der Chácara in der
kürzlichen Vergangenheit und in der Gegenwart grosse Bedeutung zu. Die
Workshops wurden von der Autorin und einer Ausbildungsspezialistin aus dem
Vorstand der Chácara gestaltet. Hierbei erwiesen sich die Forschungsresultate
nicht nur als nützlich und nutzbar, sondern gar als unabdinglich. Wo sonst für die
Workshops auf standardisierte, vorwiegend für Wirtschaftsunternehmen entwi-
ckelte Grundlagen hätte zurückgegriffen werden müssen, konnten nun sowohl
Inhalt und Struktur der Workshops als auch Kommunikation und Einbindung/

98
Aktivierung der Teilnehmenden in einer Art gestaltet werden, welche auf die
spezifische organisatorische Realität der Chácara zugeschnitten war. Die Autorin
ist der Meinung, dass dieser Einsatz der Forschungserkenntisse wesentlich dazu
beitrug, dass die Teilnehmenden die Workshops positiv aufnahmen und aktiv
und produktiv in ihnen arbeiteten.
Aufgrund der hier dargelegten Punkte kann davon ausgegangen werden,
dass die Validität des Verfahrens, der Daten und der Interpretation eher hoch ist.

3.6.2 Zuverlässigkeit

Zuverlässigkeit (Reliabilität) ist, wie Lamnek (1995, S. 173) betont, ein genuin
messtheoretischer Begriff der quantitativen Forschung. Bei diesem geht es um
die Genauigkeit beziehungsweise um die Eliminierung von Verzerrung der Da-
ten. Bei qualitativen Daten ist die Genauigkeit in dieser rechnerischen Art nicht
erfassbar. Dennoch ist es natürlich empfehlenswert, möglichen Verzerrungen in
Datenerhebung und -analyse entgegenzuwirken. McCall (1979) führt unter ande-
rem folgende mögliche Störeinflüsse auf: reaktive Effekte, Ethnozentrismus,
Überidentifikation, Kenntnisstand, versteckte Motive, Spontaneitätsbarrieren und
emotionale Faktoren (S. 105 ff, zitiert in Lamnek, 1995, S. 177).
Während Reaktivität in der Kommunikation zwischen Forscherin und „Er-
forschten“ einen wesentlichen Beitrag zur Reichhaltigkeit der Daten leistet,
könnte es gleichzeitig zu Verzerrungen von Daten kommen. In der vorliegenden
Arbeit wurden Schritte unternommen, um dies zu verhindern. So wurden Daten
sowohl aufgrund reaktiver als auch nicht reaktiver Verfahren erhoben. Wissen
und Ansichten der Jungen wurden zum Beispiel sowohl durch Interviews der
Autorin (reaktiv) als auch durch Analyse ihrer nicht in Zusammenhang mit der
Forschung entstandenen Texte (nicht reaktiv) erfasst. Damit war in gewissem
Masse eine Kontrolle bzw. Relativierung von Daten aus reaktiven Verfahren
möglich. In den (reaktiven) Interviews wurden zudem keine leitenden und ten-
denziösen Fragen gestellt und die Forscherin setzte alles daran, weder durch
Aussagen noch durch emotionale Reaktionen eigene Meinungen zu den bespro-
chenen Themen zu signalisieren. Im Weiteren wurden alle befragten Personen zu
Beginn des Interviews oder Gruppengesprächs darauf hingewiesen, dass es keine
„richtigen“ und „falschen“ Antworten gebe, sondern dass die Befragung darauf
abziele, möglichst viele der unzähligen farbigen Steinchen des „Puzzles Cháca-
ra“ zu entdecken und zusammenzusetzen, inklusive der Gegensätze, welche sich
zum Beispiel aus der Verschiedenheit der Persönlichkeit, Meinung, Funktion
oder Position der Befragten ergebe. Es war spürbar, wie diese Erklärung zu einer

99
Entspannung, Aktivierung und erhöhten Spontaneität der Interviewpartner führ-
te.
Ethnozentrische Ansätze der Forscherin waren wegen ihrer langjährigen,
eher untergeordneten Rolle als Freiwillige im System der Chácara bereits wenig
wahrscheinlich. Im Weiteren war die Forschungsgestaltung qualitativ und induk-
tiv und förderte das Hervortreten lokaler Kenntnisse, Erfahrungen und Meinun-
gen sowie auch lokaler Interpretationen, so dass auch kaum Raum für eine mög-
liche Ethnozentrizität der Forscherin bestand.
Ausserdem wurde versucht, bei der Untersuchung zu vermeiden, dass die
Kenntnisse, Erfahrungen und Meinungen einer einzelnen Gruppe von Mitglie-
dern oder Beteiligten unangemessen dominierten, während andere kaum in Er-
scheinung traten. So wurde eine Vielzahl von Personen in die Untersuchung
miteinbezogen und zwar Personen aus allen Alters- und den meisten „Stake-
holder“-Gruppen. Dies ermöglichte eine umfassende Auslotung von Aspekten
der Organisation aus den verschiedensten Perspektiven. Besonders wurde Wert
darauf gelegt, die Kenntnisse und Meinungen der in der Chácara lebenden Jun-
gen in die Untersuchung miteinzubeziehen. Gleichzeitig wurden diese Perspekti-
ven bei der Datenerhebung und -analyse getrennt, das heisst, diese Personen
wurden separat befragt, und ihre Daten wurden separat ausgewertet bzw. nach
Gruppenzugehörigkeit der Person geordnet und adäquat im entsprechenden Kon-
text interpretiert.
Die Verwendung verschiedener Methoden – offene Interviews, Gruppen-
befragungen und Dokumentenanalyse, ergänzt um Aspekte partizipativer Be-
obachtung – in der Erfassung von Daten der Organisation entspricht einer Trian-
gulation unter methodisch-technischen Aspekten. Campell und Fiske (1959,
zitiert in Lamnek, 1995, S. 248) bezeichnen diese als „multiple Operationa-
lisierung“, welche nicht nur, wie vorgängig erwähnt, zu einer Validierung der
Ergebnisse, sondern auch zu einem Ausschluss von Messartefakten beiträgt.
Was McCall (1979, S. 105 ff., zitiert in Lamnek, 1995, S. 177) als „Über-
identifikation“ bezeichnet, war ein Aspekt, dem aufgrund der Position der For-
scherin in der untersuchten Organisation grosse Aufmerksamkeit gewidmet wur-
de. Vor Beginn der Forschung hatten der Koordinator der Chácara und die Auto-
rin bereits über ihren idealen Wohnort während der Forschung gesprochen. Da-
bei entstand die Überzeugung, dass es gut wäre, wenn die Autorin teils in der
Chácara, teils ausserhalb, im Haus einer Freundin auf halbem Weg zwischen
dem Stadtzentrum von Curitiba und der Chácara wohnen würde. Dafür sprachen
unter anderem die von der Organisationsanalyse verlangte gleichzeitige Kombi-
nation und Trennung von Aussen- und Innenposition, aber auch praktische As-
pekte wie die Tatsache, dass einerseits die Teilnahme am Alltag der Chácara und
anderseits das Interviewen von Personen, welche in der Stadt lebten, der Zugang

100
zur dortigen Universität und Kommunikationsmitteln und ruhiges Arbeiten fern-
ab von 80 Kindern und Jugendlichen möglich sein musste. Folglich lebte die
Autorin pro Woche während jeweils vier bis sechs Tagen in der Chácara. In
dieser Zeit hatte sie zumeist klar definierte und deklarierte Zeiträume, welche der
Forschung gewidmet waren – im Allgemeinen an Wochentagen von 8 bis 12 Uhr
und von 14 bis 16 Uhr. Die Zeit um Frühstück, Mittagessen und nach dem
Nachmittagsimbiss bis gegen Mitternacht verbrachte sie hingegen mit den Jun-
gen und innerhalb der regulären Aktivitäten der Chácara. Die zeitliche Abgren-
zung sowie die in der Stadt verbrachten Tage halfen bei der Abgrenzung zwi-
schen forschender und Alltagstätigkeit in der Chácara und erlaubten der Autorin
auch, einerseits in den Alltag der Organisation einzutauchen, diesen anderseits
aber auch regelmässig physisch zu verlassen und von aussen zu betrachten und
zu überdenken. Die Sicht und Reflexion aus der Aussenposition wurde während
der ersten beiden Aufenthalte durch das Führen eines Forschungstagebuchs un-
terstützt. Im Spannungsfeld zwischen der Zugehörigkeit zur Chácara und der
Notwendigkeit einer Aussenposition waren zudem die Beratung durch mehrere
Personen in und um die Chácara sowie durch die Professorin und die Professo-
ren, mit denen die Forschungszusammenarbeit bestand, eine wichtige Unterstüt-
zung. Mit ihnen konnte die Forscherin auch über Unsicherheiten, wahrgenom-
mene Schwierigkeiten und Konflikte und diesbezügliche Gefühle offen sprechen.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Grad der Zuverlässig-
keit – also unter anderem die Genauigkeit und Unverzerrtheit – der Daten und
Resultate bei dieser Art von Forschung sowohl schwer definierbar als auch kaum
„messbar“ ist, dass jedoch eine Anzahl von Schritten unternommen wurde, um
Verzerrungen zu vermeiden. Analog der Aussage von Köckeis-Stangl (1980,
S. 362) hat die vorliegende Untersuchung weder das Ziel, noch kann sie es ha-
ben, „völlig eindeutige, längerfristig gültige, unwiderlegbare, zweifelsfrei wahre
Aussagen“ zu produzieren. Ihr Ziel ist es, den wissenschaftlichen Diskurs und
die Praxis von Organisation und Qualität von residentiellen Organisationen für
Kinder und Jugendliche der Strasse zu fördern und mit empirischen Erkenntnis-
sen besser zu fundieren. Innerhalb dieser Zielvorgabe kann die Zuverlässigkeit
der erzielten Resultate nach Erachten der Autorin als angemessen und genügend
bezeichnet werden.

3.6.3 Repräsentanz

Organisationsanalysen beschäftigen sich zumeist mit einzelnen Aspekten von


Organisationen und weniger damit, das Bild einer Organisation als Ganzes zu
schaffen. Bei der Lektüre solcher Studien entsteht oft das unbefriedigende Ge-

101
fühl, eine Sammlung von Einzelteilen vor sich zu haben, welche genau so gut für
eine andere Organisation gelten könnten. Das lebendige Gebilde Organisation,
diese in ihrem Charakter unverkennbare, gemäss der Kontingenztheorie einzigar-
tige Konstruktion einer Gruppe von Menschen, welche sich aus ihrer Umwelt
einen Auftrag definiert haben und diesen nun mit ihren Motivationen, Kenntnis-
sen, Stärken, Schwächen, Möglichkeiten und Grenzen auszuführen versuchen,
bleibt in der Sammlung von Einzelteilen verborgen.
Unter dem Titel der Repräsentanz stellt sich die Frage nach dem Charakte-
ristischen, dem „Typischen“ der Organisation. Hier folgt die vorliegende Studie
Lamnek (1995), der schreibt:

Die statistisch abzusichernde Repräsentativität [des quantitativen Paradigmas] wird


vom Begriff des “Typischen” abgelöst. Die mit Hilfe qualitativer Erhebungs- und
Interpretationsverfahren rekonstruierten Handlungsmuster sollen “typisch” sein für
jene sozialen Gruppierungen, denen die Untersuchten angehören. (S. 191)

Kudera (1989) spricht im Zusammenhang mit dem „Typischen“ von einer “Abs-
traktion aufs Wesentliche” und beschreibt die dazu gehörende Typenbildung wie
folgt:

Ziel der Typenbildung ist – im Unterschied zum Repräsentativitätskonzept –, nicht


die Übertragung von Begrenztem auf Allgemeines, sondern das Auffinden von All-
gemeinem im Besonderen: Im jeweils besonderen Fall soll dessen allgemeines Er-
scheinen zur Darstellung gebracht werden. (S. 12, zitiert in Lamnek, 1995,
S. 192í193)

Wie Lamnek (1995, S. 193) betont, heisst Typenbildung nicht, komplexe Sach-
verhalte auf einzelne Variablen oder eine Variablenkonstellation zu reduzieren.
Vielmehr gehe es darum, eine eher ganzheitliche, weil realitätsgerechtere Sicht
zu pflegen. Die Datenanalyse und -präsentation der vorliegenden Studie wurde
entsprechend derart gestaltet, dass nicht etwa alle möglichen Aspekte der Orga-
nisation erscheinen, sondern die für die Organisation typischen bzw. charakteris-
tischen45 herausgearbeitet wurden. Deren Identifizierung fand durch verschiede-
ne Vorgehensweisen statt. Zum Beispiel wurde am Anfang von Interviews eine
sehr offene Frage zur Chácara gestellt: „Was würdest Du jemandem, der die
Chácara nicht kennt, sagen, was diese ist?“ oder „Wie ist die Chácara?“ oder
auch „Erzähl mir von der Chácara!“ Aus den Antworten auf diese Art von Fra-
gen gingen Schwerpunktsetzungen der Befragten hervor. Nach anderen Schwer-
punkten wurde gefragt, so zum Beispiel: „Was ist das Wichtigste an der Arbeit

45
In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff „charakteristisch“ bevorzugt.

102
der Erziehenden?“ Die sehr offenen und unstrukturierten Interviews führten
dazu, dass die Befragten Schwerpunkte setzen mussten, und zwar durch die
Wahl sowohl des Inhaltes als auch der Betonung ihrer Antworten. Auch in der
Analyse von Dokumenten der Organisation und von Texten von Mitgliedern
derselben waren Schwerpunkte ersichtlich, welche wiederum durch Erwähnung
und Nicht-Erwähnung einzelner Themen und Einschätzungen sowie durch die
aus dem Zusammenhang oder mittels qualifizierender Adjektive und Adverbien
entstandene Betonung zum Ausdruck kamen. Lagen zu einem Thema viele Aus-
sagen vor, war es zudem auch möglich, durch ein Auszählen von Antworten pro
Kategorie oder Dimension Schwerpunkte zu erkennen.
Zu Beginn der Forschung war nicht bekannt, ob die Chácara als „ganze Or-
ganisation“ ans Licht treten und ob es möglich sein würde, bestimmende Charak-
teristika herauszuschälen. Es zeigte sich jedoch im Verlauf der Datenanalyse und
Interpretation, dass dies der Fall war, dass nämlich sowohl Informanten als auch
Dokumente vielfältige und tief gehende Informationen lieferten, aber auch klare
Schwerpunkte setzten, mittels derer die charakteristische organisationale Struk-
turen und Prozesse der Chácara identifiziert und beschrieben werden konnten.

3.7 Sicherheit und Ethik

Der Sicherheit nicht nur der befragten Personen, sondern aller mit dem Projekt in
Verbindung stehenden Kinder und Jugendlichen und ihren Familien sowie aller
Mitarbeitenden und Beteiligten kommt absolute Priorität zu. Hinweise auf erleb-
te oder ausgeführte Gesetzesverstösse werden deshalb im folgenden Text nicht
mit namentlich erwähnten Personen oder Institutionen in Verbindung gebracht.
Die Ahndung und Bewältigung solcher Vorfälle ist von grosser Bedeutung, stellt
jedoch nicht die Aufgabe der vorliegenden Arbeit dar, sondern muss auf anderen
Wegen erreicht werden.
Schwerwiegende Vorfälle wie zum Beispiel erlebte Misshandlungen wer-
den – soweit dies dem Verständnis der Forschungsarbeit und ihrer Resultate
dient – allgemein erwähnt, jedoch nicht im Detail beschrieben, obwohl der Auto-
rin spontan zum Teil sehr detaillierte Angaben gemacht wurden. Damit soll auch
die Würde der befragten Personen und ihrer Angehörigen geschützt werden.
In den nachfolgenden Kapiteln werden die zitierten Personen jeweils so
weit umschrieben, wie es für ein angemessenes Verständnis ihrer Aussagen nötig
ist. Namen werden keine genannt, mit Ausnahme weniger Fälle, in denen eine
Person auch ohne Namensangabe von Aussenstehenden klar identifiziert werden
kann (z. B. der Koordinator der Chácara).

103
Sowohl der Vorstand als auch alle Erziehenden, Kinder und Jugendlichen der
Chácara sowie alle weiteren Befragten wurden über Motivation und Absicht der
Forschung informiert und teilweise, wie in Kapitel 3 erwähnt, in deren Gestal-
tung miteinbezogen. Sämtliche befragten Personen sowie die Jugendlichen des
Forschungsteams der Jungen beteiligten sich freiwillig an der Untersuchung, und
der Koordinator der Chácara stellte alle Unterlagen der Organisation ebenfalls
auf freiwilliger Basis zur Verfügung. Das Einverständnis zur Befragung und zur
Verwendung von Unterlagen wurde in jedem Fall explizit eingeholt und gege-
ben. Den Befragten wurde absolute Vertraulichkeit zugesichert.
Die Jungen des Forschungsteams sowie teilweise an der Transkription be-
teiligte Personen (ein Universitätsdozent und zwei Studierende) verpflichteten
sich den Befragten gegenüber zu absoluter Vertraulichkeit sowie dazu, die Aus-
sagen der Befragten weder an Dritte weiterzugeben noch ohne eine spezifische
und explizite Bewilligung durch die befragten Personen in irgendeiner Art zu
verwenden.
Es wurde vereinbart, dass das Verfügungsrecht über jedes Interview bei der
befragten Person liege. Sollten andere Personen als die Autorin Einblick in In-
terviewtranskriptionen wünschen, so wurde vereinbart, dass das Einverständnis
dafür von der Autorin unter Vorlage der wörtlichen Transkription und genauer
Angabe des Verwendungszweckes bei der jeweils befragten Person einzuholen
wäre. Sollten zum Zeitpunkt der Anfrage noch minderjährige Jungen ihr Einver-
ständnis zu einer Verwendung ihrer Aussagen geben, müsste dieses zusätzlich
um das Einverständnis des Koordinators der Chácara – ihres gesetzlichen Vor-
mundes – ergänzt werden. Die Transkriptionen der Interviews werden aus-
schliesslich von der Autorin aufbewahrt und den befragten Personen auf Wunsch
jederzeit zur Verfügung gestellt.
Der Forschungsprozess ist nun ausführlich beschrieben worden. Im folgen-
den Kapitel werden die Resultate des Analyse- und Erkenntnisprozesses einge-
hend dargestellt. Sie werden ergänzt und illustriert mit Beispielen aus Interviews
und Texten. Dort, wo es sinnvoll scheint, werden zusätzliche illustrative Beispie-
le, welche nicht Bestandteil einer strukturierten Analyse waren, als solche ge-
kennzeichnet aufgeführt. Damit soll den Lesenden die Möglichkeit eröffnet wer-
den, nicht nur Resultate und Interpretationen entgegenzunehmen, sondern einen
– wenn auch geographisch weit entfernten – Gegenstand in gewisser Weise auch
selbst zu betrachten, zu entdecken und zu verstehen. Gelingt dies, hat die vorlie-
gende Arbeit ihr Ziel erreicht, eine solide Grundlage für die Diskussion und
Weiterentwicklung der Organisation und Qualität von residentiellen Institutionen
und Projekten für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien zu erstellen.

104
4 Die Phänographie der Organisation Chácara

In diesem Kapitel wird nun die aus der empirischen Organisationsanalyse resul-
tierende Phänographie der Organisation Chácara vorgestellt. Diese besteht aus
folgenden Elementen:

1. Wurzeln und Handlungsbasis der Organisation


2. Zielgruppe und Ziele
3. Physische und soziale Struktur
4. Aktivitäten und Transformationsprozess

Diese Elemente der Organisation haben sich aufgrund der Datenanalyse als von
charakteristischer Bedeutung für die soziale Konstruktion der Chácara erwiesen.
Sie werden in der Reihenfolge besprochen, in der sie von den Mitgliedern der
Chácara in der Organisationsentwicklung priorisiert wurden. Im Sinne der For-
schungsfragen werden sowohl Beschreibungen von Form und Inhalt dieser Ele-
mente (Frage 1.1) als auch deren Herleitungen und Begründungen durch die
Organisationsmitglieder (Frage 1.2) aufgeführt.
In Kapitel 4.5 wird die resultierende Phänographie noch einmal in Zusam-
menhang mit den Forschungsfragen gesetzt und vor dem Hintergrund der in
Kapitel 2 dargestellten theoretischen Überlegungen reflektiert.
Da der Schwerpunkt der Untersuchung auf einer Erhebung und Analyse von
organisationalen Strukturen und Prozessen liegt, werden Fragen der pädagogi-
schen Konzeption und Praxis der Chácara nur soweit dargestellt, wie sie auf der
Ebene der Organisation an sich relevant sind. Nicht im Fokus der vorliegenden
Arbeit liegen Aspekte der Administration und Finanzierung der Chácara.

4.1 Wurzeln der Organisation

Die vorliegende Studie hat gezeigt, dass die Chácara nicht erst mit der formellen
Gründung und Eröffnung ihrer Häuser im Jahr 1993 entstand. Ihre Organisation
entstand über Jahre aus einer Bürgerbewegung in einer Armensiedlung und einer
späteren Initiative mit den Kindern und Jugendlichen auf der Strasse heraus. In
dieser Vorbereitungsphase, welche unter anderem eine mehrjährige Situations-

105
analyse und den Ausbau einer starken Handlungsbasis umfasste, wurden Aspekte
der Organisation entwickelt, welche von grundlegender Bedeutung für das Er-
scheinungsbild und Funktionieren der Chácara sein würden.
Miranda und Stoltz (1999) verankern ihre auf Interviews mit Beteiligten ba-
sierende Geschichte der Chácara mit folgendem ersten Satz fest in der Bürger-
bewegung der Gemeinde Profeta Elias in der Vila Lindóia, einer Armensiedlung
(„Favela“) in Curitiba:

Um die Entstehung der Fundação Educacional Meninos e Meninas de Rua Profeta


Elias [formeller Name der Chácara] zu verstehen, ist es notwendig, mit demjenigen
Kontext zu beginnen, zu dem sie unmittelbar gehört: der Gemeinde Profeta Elias.
(S. 5)

Die induktive Analyse von Interviewaussagen, Texten und Dokumenten zeigt


entsprechend eine Organisation, der von ihren Akteuren eine „Identität“ zuge-
schrieben wird, welche mit den „Wurzeln“ der Chácara begründet wird: der Her-
kunft und Erfahrung der am Entstehungsprozess beteiligten Personen und mit
dem Verlauf dieses Prozesses.
Der Entstehungsprozess wird von den damals Beteiligten meistens als erstes
erwähnt, wenn sie nach dem Anfang oder auch der „Identität“ der Chácara ge-
fragt werden. So sagte zum Beispiel der Koordinator der Chácara, Fernando de
Gois, in einem Interview, dass man zwar schnell eine Infrastruktur hinstellen und
Kinder hätte aufnehmen können, dass ein solch überstürztes Vorgehen jedoch
nicht sinnvoll gewesen wäre:

Es waren zwei Jahre, während derer wir eine Arbeit hier in der Gemeinde [Quatro
Pinheiros in Mandirituba, in der sich die Chácara befindet] und mit den hier führen-
den Persönlichkeiten durchführten und die Gemeinde Profeta Elias [in Curitiba, hier
koordinierte er damals seit einigen Jahren die Gemeindearbeit] vorbereiteten, für den
Fall, dass ich nicht dort bleiben würde. Wir besprachen das Konzept der Chácara mit
Personen von der Universität und mit anderen Personen, welche bereits Erfahrung
hatten, und diskutierten es auch im Vorstand der Stiftung selbst und erarbeiteten so
das pädagogische Konzept der Chácara. So gab es bereits eine ganze Planung, als
die ersten Arbeiten der Chácara begannen. Wir hatten schon Erfahrungen gemacht
im Kontakt mit anderen Personen, die direkt mit Strassenkindern gearbeitet hatten.
So organisierten wir uns immer mehr und kümmerten uns gleichzeitig auch um die
Finanzierung, aber wirklich ohne jede Eile. Wenn wir es gewollt hätten, wäre es sehr
einfach gewesen, die Chácara zu kaufen und am nächsten Tag ein Haus hinzustellen

106
und zu eröffnen, aber es gab andere Wege, welche zuerst begangen werden muss-
46
ten. (Interview, 20. April 2003)

Diese „Wege [der Organisation], welche zuerst begangen werden mussten“ sol-
len hier dargestellt werden, geordnet in zeitlicher Abfolge in 4.1.1. „Bürgerinitia-
tive in der Favela“, 4.1.2. „Bürgerinitiative auf der Strasse“ und 4.1.4. „Aufbau
der Handlungsbasis für die Chácara“. Da die Arbeit auf der Strasse eine Situati-
onsanalyse der sich dort aufhaltenden Kinder und Jugendlichen umfasste, wird
diese in Kapitel 4.1.3. mit besonderem Fokus nachvollzogen.

4.1.1 Bürgerinitiative in der Favela

Die Stadt Curitiba, zu deren Agglomeration Mandirituba gehört, ist ein Ort der
Kontraste; ein barocker Stadtkern, darum herum Stadthäuser vom Beginn des 20.
Jahrhunderts sowie modernere Gebäude, welche in zum Teil sehr luxuriös ge-
baute Wolkenkratzer übergehen. Daneben befinden sich aber wenige Gehminu-
ten vom Zentrum Hüttensiedlungen der Armen, durch welche sich übelriechende
Kanäle ziehen, so zum Beispiel die Region Capanema/Vila das Torres hinter
dem modernen Busbahnhof oder die Region Parolin, und am Stadtrand dann zum
Teil riesige, ständig wachsende Armensiedlungen. Insgesamt leben mindestens
420'000 Menschen, bzw. 15.5% der Bevölkerung, unter der Armutsgrenze47. Der
Prozentsatz ist mit 44% am höchsten in den weiter vom Stadtzentrum entfernten
Teilen der Agglomeration48, während er in den näher gelegenen Teilen49 mit
20% und in der Stadt selbst 10% beträgt, obwohl letztere über die grösste absolu-
te Zahl von Menschen unter der Armutsgrenze verfügt (143'811 Personen). Min-
destens 6.13%, bzw. 169’700 der Bevölkerung von Curitiba und Agglomeration
leben in Armensiedlungen50, sogenannten Favelas.51

46
In Zitaten aus Interviews werden für die Wiedergabe vorgenommene Auslassungen (…) sowie
Redepausen … gekennzeichnet.
47
Hier definiert als weniger als 140 Reais (dh. ½ des staatlichen Minimalsalärs von 280 Reais zur
Zeit der Untersuchung) Einkommen per Capita (ca. 62 CHF), gemäss Instituto Brasileiro de
Geografia e Estatística (IBGE), www.ibge.gov.br.
48
Umfasst die Agglomerationsorte Adrianópolis, Agudos do Sul, Balsa Nova, Bocaiúva do Sul,
Campo Magro, Cerro Azul, Contenda, Dr. Ulisses, Itaperuçu, Quitandinha, Tijucas do Sul und
Tunas do Paraná.
49
Umfasst die Agglomerationsorte Almirante Tamandaré, Campina Grande do Sul, Fazenda Rio
Grande, Lapa, Mandirituba, Piraquara, Quatro Barras und Rio Branco do Sul.
50
Observatório Regional Base de Indicadores de Sustentabilidade Metropolitano de Curitiba
(ORBIS MC), 26.1.2005 (http://www.observatorio.org.br/imprensa/rep26.pdf, 6.10.2005).
51
Gemäss Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE) ist eine „Favela“ ein “subnormales
Agglomerat”, “ein zumeist unordentliches und dichtes Ensemble aus mindestens 51 Wohneinhei-

107
Eine dieser Favelas ist die Vila Lindóia. Miranda und Stoltz (1999, S. 5 ff.) fas-
sen deren Geschichte aufgrund von Erzählungen damals Beteiligter zusammen.
Die Vila Lindóia begann im Jahr 1968, als Familien, die als Kleinbauern oder
Landarbeiter wegen der Industrialisierung der Landwirtschaft durch die Militär-
diktatur ihr Auskommen auf dem Land verloren hatten, auf einem illegal besetz-
ten Stück Land nahe des Stadtzentrums von Curitiba aus Abfallmaterialien pre-
käre Hütten zusammenstiefelten. Hier überschwemmte ein nahe gelegener Kanal
die Siedlung immer wieder, wurde ein geringes Einkommen mit Papiersammeln
durch die ganze Familie verdient, musste Nahrung auf fliegenverseuchten Ab-
fallhaufen gesucht werden und drangen immer wieder die Behörden und die
Polizei ein, welche die Siedlung und ihre Bewohner häufig auch unter Anwen-
dung von Gewalt bekämpften. Die Mönche des benachbarten Karmeliterklosters
waren in der Vila Lindóia zunächst nur seelsorgerisch tätig, übernahmen dann
aber ab dem Jahr 1979 die Grundsätze der Befreiungstheologie52 und wandten
sich damit neu auch den materiellen Bedürfnissen der armen Bevölkerung zu.
Gleichzeitig begannen sich die Familien der Vila Lindóia selbst zu organisieren.
Einige Personen gründeten zusammen einen Einwohnerverein53 und, unter Füh-
rung der Karmeliter, eine Jugendgruppe und einen Bibelkreis. Ende des Jahres
1981 gab sich die Gemeinde einen Namen: „Gemeinde Profeta Elias“, nach ei-
nem Propheten, der mit dem Kampf des Volkes und der Frage der Organisation
des Volkes um den Landbesitz assoziiert wird. Von da an baute die Gemeinde
Kontakte mit verschiedenen Organisationen auf, welche zugunsten armer Ge-
meinden arbeiten: Mit dem Pastorale der Favelas, mit dem Serviço de Justiça e
Paz54 und mit der landesweiten Bewegung der Einwohnervereine. Einige Mit-
glieder der Gemeinde reisten nach São Paulo, wo ein Einwohnerverein zum
ersten Mal in der Geschichte Brasiliens erreicht hatte, dass besetzte Grundstücke
den darauf siedelnden Familien zum Kauf überschrieben wurden. Schliesslich
gelang es der Gemeinde Profeta Elias als zweiter Gemeinde in ganz Brasilien,

ten (Baracken, Häuser), welches Land in fremdem Besitz (öffentlichem oder privatem) besetzt oder bis
vor kurzem besetzt hat, und welches zum grössten Teil der essentiellen öffentlichen Dienste ermangelt“
(zitiert in: Observatório Regional Base de Indicadores de Sustentabilidade Metropolitano de Curitiba
(ORBIS MC), 26.1.2005. (http://www.observatorio.org.br/imprensa/rep26.pdf, 6.10.2005).
52
Für eine ausführliche Definition siehe Brockhaus Enzyklopädie, http://www.tanto.de. Wichtige
Vertreter in Brasilien sind u.a. Leonardo Boff (Theologe) und sein Bruder Clódovis, Dom Helder
Cámara (Erzbischof von Olinda und Recife), Dom Antonio Fragoso (emeritierter Bischof von
Cratéus), Paulo Evaristo Kardinal Arns (emeritierter Erzbischof von São Paulo), Pedro
Casadáliga (emeritierter Bischof von São Felix do Araguaia). Weitere bekannte lateinamerikani-
sche Befreiungstheologen sind Gustavo Gutiérrez (Peru), Ernesto Cardenal (Nicaragua) und der
1980 ermordete Oscar Romero (Bischof von San Salvador).
53
Associação de Moradores.
54
Dienst für Frieden und Gerechtigkeit, für dessen Aufbau der Argentinier Adolfo Pérez Esquivel
im Jahr 1980 den Friedensnobelpreis erhielt.

108
dasselbe zu erreichen, eine Tatsache, über die sich viele ihrer Mitglieder noch
zwanzig Jahre später mit Stolz äussern.
Im März 1984 übersiedelten erstmals drei junge Karmeliter vom Kloster in
die Vila Lindóia, Fernando (de Gois, der spätere Koordinator der Chácara), Osni
und Euclides. Sie hatten eine katholische Ausbildung und sahen sich als Vertre-
ter der Befreiungstheologie und -pädagogik. Sie brachten keine bereits vorpro-
duzierten Projekte und Lösungen in die Vila Lindóia, sondern nahmen zunächst
eine Analyse der Situation am Ort vor. Ihnen fiel auf, dass nicht alle Familien an
den Entscheiden der Gemeinde beteiligt waren und dass es für die Kinder und
Jugendlichen kaum Raum gab. Daraufhin argumentierten sie einerseits in der
Gemeinde zugunsten einer Öffnung für die Kinder und nützten und förderten
anderseits die Fähigkeiten der Kinder, um in diesen Raum einzutreten und der
Gemeinde zu zeigen, dass das Miteinander mit den Kindern eine Bereicherung
für alle sei. Dazu Fernando de Gois:

Diese Gemeinde war sehr beständig und stark in der Frage der Spiritualität, in einer
Religiosität í die sie schon hatte í des Kampfes, des Widerstands, aber es war noch
eine sehr vom Machismo geleitete Arbeit. Ich sage es mal so, die Welt, die Gesell-
schaft wurden nicht für die Kinder gemacht (...). Und in dieser Gemeinde war es
auch so, es waren immer dieselben Anführer, nämlich diejenigen Personen, die sich
hervortaten, und andere, auch gute Personen, standen am Rand; so war es bei den
Erwachsenen. In Bezug auf die Kinder erinnere ich mich, dass etliche Mütter sich
55
um die Kinder anderer kümmerten , während ihre eigenen Kinder auf der Strassen
und in den Favelas „weggeworfen“ waren, und dass sich die Gemeinde nicht um
diese Kinder sorgte (…) nun, das störte mich, und ich und die Gruppe, in der wir zu-
sammen lebten, [wir beschlossen, etwas zu tun,] um die Gemeinde von den Kindern
ausgehend zu organisieren. Und ich erinnere mich, dass die Leute reklamierten, dass
die Kinder Steine warfen und störten, wenn Messen und Gottesdienste abgehalten
wurden ... „Leute! Aber habt Ihr bemerkt, dass Eure Feiern nicht für die Kinder ge-
macht sind, (...) und darum machen sie nicht mit, weil es hier drin keinen Raum für
sie gibt. Darum werden wir das ändern, wir werden Theaterstücke machen, die sie
aufführen, [zusehen] dass sie Plakate malen, dass sie ihre eigene Kultur hierher in
die Messe hineinbringen. Wenn Ihr gerne Texte beten wollt, dann werden sie singen
wollen, nicht, man muss die beiden Seiten einbeziehen, und zulassen, dass ihre Kul-
tur hereinkommt.“ Und als die Gemeinde begann, den Kindern und Jugendlichen die
Türe zu öffnen, brachten diese viel mehr Kreativität herein als die Erwachsenen; sie
56 57
brachten Theaterstücke, Musik, Zeichnungen, L. machte Cordel -Gedichte, und

55
Als Hausangestellte bei wohlhabenderen Familien.
56
Damals ein Kind der Gemeinde, zum Zeitpunkt der Feldforschung Erzieher mit Koordinations-
aufgaben in der Chácara.
57
Cordel: eine traditionelle Gesangsart, ähnlich Bänkelgesang, zumeist mit politisch und sozial kri-
tischen Themen und Kommentaren.

109
all dies gab der Gemeinde neues Leben. Es gab einen Marsch zur Frage des Landbe-
sitzes, und sie machten eine Musik-Band mit Büchsen, alle sangen und gingen bis
vor die Präfektur, und so begannen die Dinge, als integrierte Arbeit zu funktionie-
ren, weil man anfing, die Kreativität und Fähigkeiten der Kinder zu nützen, um dann
mit den Erwachsenen zusammen Dinge zu erarbeiten. (Interview, 20. April 2003)

Die Karmeliter brachten also nicht fertige „Programme“ zugunsten von „Begüns-
tigten“ in die Vila Lindóia, sondern erkannten und stärkten bereits vorhandene
Ressourcen des Einzelnen und der Gruppe, so zum Beispiel bereits existierende
Organisationsformen der dort lebenden Kinder und Jugendlichen. Einen der
Ansatzpunkte dafür bildeten, gemäss Fernando de Gois, die Überlegungen des
französischen Pädagogen Célestin Freinet58, welcher dafür plädiert hatte, den
Prozess des Lehrens auf diejenigen Fähigkeiten auszurichten, welche Kinder
bereits in sich tragen. So könnten die Kinder auf der Basis ihrer eigenen Alltags-
aktivitäten lernen:

Wir nützten die Kreativität der Anführer der Gemeinde ... wir stimulierten nur, aber
es gab schon die Leute, die in der Katechese arbeiteten oder im Einwohnerverein,
und so gab es schon verschiedene Anführer. Wir kanalisierten nur, machten bewusst,
diskutierten, und nützten alles (...) [wir sagten] zum Beispiel: "Leute, lasst uns se-
hen, was die Kinder hier machen: Sie spielen Fussball. Also, es war Fussball, also
musste man die Kinder auf der Basis des Fussballs organisieren, auf der Basis des
"Drachen-Steigen-Lassens". Es war auf der Basis derjenigen Dinge, die sie am häu-
figsten taten, dass wir anfingen, mit der Gemeinde zu arbeiten. (Interview, 20. April
2003)

Im Sinne der Pädagogik von Paulo Freire59, welche davon ausgeht, dass die Be-
wusstmachung von sozialen Zusammenhängen eine wichtige Bedingung für die
Befreiung der Menschen im Sinne einer eigenständigen Gestaltung ihres Lebens
ist, wurde die Vernetzung mit den lokalen Schulen gepflegt. Stützunterricht und
viele Freizeitaktivitäten (gemeinsames Kochen, Theater, Musik, Hütten Bauen
etc.) wurden mit den Kindern durchgeführt. Mit Erwachsenen und Kindern zu-
sammen wurden Kurse und Aktivitäten gestaltet (Makramé, Töpfern, Malen,
Basteln, Haare-Schneiden, Maniküre, Schneidern für die Mütter, Maschinen-
schreiben, Alphabetisierung). Die Kinder und Jugendlichen stärkten damit ihre
Fähigkeiten und ihr Bewusstsein für soziale Zusammenhänge und bildeten eine
immer stärkere Gruppe, welche ihre Anliegen formulieren konnte und mehr Platz
in der Gemeinde und in der weiteren Gesellschaft fand und erhielt. So erarbeite-

58
Siehe z. B. Freinet, C. (1998) Pädagogische Werke Bd 1 & 2, Paderborn: Schöningh.
59
Siehe z. B. Freire, P. (1973) Bildung als Praxis der Freiheit. Pädagogik der Unterdrückten.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.

110
ten sie sogar Texte und Anträge, welche sie den Abgeordneten der Legislative
zuhanden der konstituierenden Versammlung übergaben, als im Jahr 1987 die
neue brasilianische Verfassung formuliert wurde.

4.1.2 Bürgerinitiative auf der Strasse

Ein bedeutender nächster Schritt trat mit dem Gang der Mitglieder der Gemeinde
Profeta Elias auf die Strasse ein. Hier entstand und entwickelte sich die konkrete
Arbeit mit dem künftigen Zielpublikum der Chácara und wurden erste Funda-
mente für deren Realisierung gelegt. Auch dieser Schritt soll hier beschrieben
werden.
Mit der zunehmenden Organisation der Gemeinde Profeta Elias trat zuneh-
mend ein Gedanke in den Vordergrund, den Fernando de Gois entwickelt hatte:

Im Jahr 1983 ging ich in den Nordosten [Brasiliens], und dort entdeckte ich eine
ganz andere Region, in der es viel mehr Solidarität gab als im Süden. Ich knüpfte
dort viele Kontakte und nahm an Sitzungen und Begegnungen teil mit Dom
60 61
Hélder , Dom Antonio Fragoso und vielen anderen Führungspersönlichkeiten,
von denen die meisten wie ich eine Erfahrung im religiösen Leben machten. So gab
es viele religiöse Führungspersönlichkeiten, welche in Armensiedlungen integriert
waren, mit der Bevölkerung der Strasse arbeiteten oder mit Arbeitern. Zu dieser Zeit
erkannte ich, dass ich etwas anderes tun könnte, etwas anderes als immer nur zu be-
ten und zu beten. (…) Mit diesen Personen zusammen las ich viel von Paulo Freire,
Freinet und vielen anderen Autoren, welche sich mit einer Arbeit an der Basis, des
Kampfes und des Widerstandes beschäftigen. Als ich aus dem Nordosten zurück
kam, zog ich in die Vila Lindóia (…). Ich studierte im zweiten Jahr Philosophie, und
ich arbeitete halbtags und studierte halbtags und lebte integriert in dieser Gemeinde.
Der Staat hatte eine Gruppe von Professorinnen und Professoren, welche Erfahrun-
gen mit der Methode von Paulo Freire in Kinderheimen gemacht hatten, und die mit
der Bevölkerung arbeiteten. Wir taten uns mit ihnen zusammen, um Freinet und
Paulo Freire zu studieren, und lernten dabei viel, im Gespräch und in der Umset-
zung, und ich entdeckte dabei, dass ich eine spezifische Arbeit mit der Bevölkerung
der Strasse entwickeln könnte. (Interview, 20. April 2003)

60
Dom Hélder Câmara, 1909-1999, Erzbischof von Olinda und Recife, gilt als einer der profilier-
testen Befreiungstheologen und bedeutendsten Kämpfer für die Menschenrechte in Brasilien.
Von ihm stammen unter anderem bekannte Sätze wie: „Wenn ich den Armen zu essen gebe,
nennen sie mich einen Heiligen. Wenn ich frage, warum die Armen kein Essen haben, nennen
sie mich einen Kommunisten.“ und „Wenn einer alleine träumt, dann bleibt es ein Traum. Wenn
wir aber alle gemeinsam träumen, dann wird es Wirklichkeit.“
61
Dom Antonio Fragoso, geboren 1920, emeritierter Bischof von Cratéus, profilierter Befreiungs-
theologe.

111
Im Jahr 1987, sechs Jahre vor Eröffnung der Chácara, suchte und fand Fernando
unter den Mitgliedern der Gemeinde Profeta Elias Erwachsene und Jugendliche,
welche mit ihm die Arbeit mit der Bevölkerung der Strasse aufnehmen wollten,
wie eine damals beteiligte Frau in einem Interview berichtete:

Und Fernando ... eines Tages lud er uns ein, eine Arbeit auf der Strasse zu machen,
denn es waren nicht nur jene Kinder [der Gemeinde, in der die Befragte lebte], die in
Gefahr waren, auf die Strasse zu gehen, sondern es waren bereits ziemlich viele
Kinder auf der Strasse. Und er lud uns ein, um zu sehen, ob wir mit ihm gehen wür-
den, um mit den Kindern zu sprechen, um die Situation der Kinder, die auf der
Strasse waren, kennen zu lernen, und wir schlugen ein: "Gehen wir, gehen wir!"
Meine Güte! Ich fand seine Idee phantastisch; ich fand, dass wir uns wirklich in ers-
ter Linie mit dem Kind beschäftigen müssen, so, wie es ist. (Interview, 26. April
2004)

Der Kern der ersten Gruppe aus der Gemeinde Profeta Elias, welche sich für den
Kontakt mit den Kindern auf der Strasse zusammenfand, bestand aus Fernando
Francisco de Gois, Aparecido Peixoto (Möbelschreiner, später Vorstandsmitglied
der Chácara), Marlene Aparecida Carvalho Peixoto (Coiffeuse, später Vor-
standsmitglied der Chácara), Luiz Antônio do Carmo (der Autorin nicht bekannt)
und Marcos Mortais (der Autorin nicht bekannt), damals alle im Alter von Mitte
bis Ende Zwanzig. Mitarbeiter waren aber auch Jugendliche, nämlich Raul Cor-
reia, José Carlos Gonçalves da Luz, Luís Carlos Martins und Valmir da Silva,
die alle später Erzieher in der Chácara werden sollten.
Die Mitglieder der Gruppe identifizierten sich stark mit den Strassenkindern
und deren Situation, weil sie alle selbst aus armen Verhältnissen kamen, zeitwei-
se obdachlos gewesen waren und unter dem reduzierten Zugang zu den Produk-
ten und Dienstleistungen der Gesellschaft zu leiden hatten. Einer der vier er-
wähnten Jugendlichen erzählte in einem Interview:

In meiner Kindheit machte ich immer grosse Schwierigkeiten durch. Mein Vater war
Alkoholiker, das heisst, nicht mein Vater, mein Stiefvater; meinen richtigen Vater
kannte ich nicht. Es gab dieses Problem des Alkoholismus in der Familie, und so
war es eine Situation sehr grosser Armut, die ich in meiner Familie erlebte. (...) Ich
wurde [zu Hause] übel zusammengeschlagen und hätte um mein Leben [fürchten
müssen], wenn ich weiter bei meiner Familie geblieben wäre, und [wenn nicht], hät-
te es leider sein können, dass ich auf der Strasse gelandet wäre. So fand ich es bes-
ser, mein Zuhause zu verlassen. Fernando half mir dann [und sagte], sie hätten Platz
in ihrem Haus62, und so kam es, dass ich bei ihnen wohnte. In diesem Haus beschäf-
tigten wir uns mit [dem Thema] der ganzen Arbeit mit Kindern der Strasse sowie

62
Haus in der Vila Lindóia, in dem Fernando und die anderen Karmeliter arbeiteten.

112
mit der Gruppe der Kinder und Jugendlichen der Gemeinde Prophet Elias, und so
identifizierte ich mich immer [mit der Arbeit]. Ich arbeitete mit den Jungen, welche
auf der Strasse waren, welche von Zuhause weggegangen waren wegen des Alkoho-
lismus in der Familie, und auch mit den Jungen, die Karton sammelten, so, wie wir
selbst es taten. Ich selbst überlebte lange dank dem Abfall, indem ich Karton sam-
melte, und so identifizierte ich mich immer mit dieser Realität. (Interview, April
2004)

Auch Fernando de Gois, der als einziges Mitglieder der Gruppe über einen Uni-
versitätsabschluss verfügte, begründet sein Engagement unter anderem mit der
eigenen Herkunft:

Meine Familie lebte [als Landlose] unter aufgespannten Plastikblachen, und trotz-
dem war meine Mutter eine grosse Anführerin. Sie organisierte die Leute, um zu
Pensionszahlungen zu kommen, förderte ihr Bewusstsein für die eigenen Rechte, or-
ganisierte Versammlungen (…). Das habe ich auch [von ihr] gelernt. (Interview, 20.
April 2003)

Und:

Ich komme aus sehr bescheidenen Umständen und wohne in einem Land grosser
Misere, und darum bewegte mich die Solidarität derjenigen Menschen sehr, die
nichts haben. Ich hatte auch nichts, und ich habe auch heute nichts, aber ich bin
glücklich, weil ich nichts habe und auch nichts brauche. Ich glaube, dass die Solida-
rität im Zusammenhang mit dem Leiden des Volkes und im Zusammenhang mit
meinen eigenen Wurzeln mich sehr zum Denken anregte. Als ich zum Beispiel im
Kloster war, hatte ich meine Dinge63.
Heute habe ich kein Brot für alle, aber ich kann das kleine Brot, das ich habe, mit
den anderen teilen. Ich muss auch nicht einen Kleiderschrank öffnen und in eine
Krise geraten, weil ich nicht weiss, ob ich eine schwarze, rote oder gelbe Hose aus-
wählen soll. Da gibt es ja auf der anderen Seite jemanden, der [gar] keine Kleider
hat, der, wenn du so willst, nicht einmal das Recht aufs Leben hat. Und wir, in unse-
rem kapitalistischen System, haben eine Krise vor lauter Überfluss und vergessen,
dass das Leben des anderen wichtiger ist als jegliches anderes Gut. (...) Schau, das
Wichtige ist, dass du den gegenwärtigen Moment gut lebst. Wenn du nicht das Le-
ben Aller verbessern kannst, dann lebst du [einfach] diese Solidarität. Und so ging
64
ich, um in dieser peripheren Siedlung zu leben, oder auch hier in der Chácara, um
die Gegenwart zu leben und nach Alternativen für die Gesellschaft zu suchen, und
dies zusammen mit den Kindern und Jugendlichen. (Interview, 20. April 2003)

63
Er trat kurz vor der endgültigen Weihe aus dem Kloster aus, um sich ganz der Arbeit mit armen
Menschen – konkret dem Aufbau der Chácara – zu widmen.
64
Favela Vila Lindóia.

113
Im Jahr 1997, lange vor Beginn der vorliegenden Forschungsarbeit, fragte die
Autorin an einem Abend in der Chácara eine Gruppe dort lebender ehemaliger
Strassenjungen, was für sie auf der Strasse das Schwierigste gewesen sei. In
ihren Antworten erwähnten die Jungen zwar, dass sie auf der Strasse Hunger,
Gewalt, Drogen und Kälte erlebt hätten, fügten jedoch – entgegen den Erwartun-
gen der Autorin – hinzu, dass dies nicht das Schwierigste gewesen sei, denn sie
hätten ja in ihrem Leben schon gelernt gehabt, „ohne nichts zu leben“. Das
Schlimmste sei für sie gewesen, dass die Menschen auf der Strasse sie nicht ange-
sehen, sondern den Blick abgewandt hätten und an ihnen vorbeigegangen seien.
Das Vorgehen der Gruppe aus der Vila Lindóia steht in starkem Kontrast zu
diesem „Abwenden des Blickes“. Wohl nicht zuletzt aufgrund ihrer einer ähnli-
chen Geschichte entspringenden Identifikation mit den Kindern und Jugendli-
chen der Strasse gingen die Gruppenmitglieder mit Respekt und Akzeptanz und
ohne allzu viel Scheu auf diese zu. Sie behandelten sie als eigenständige Perso-
nen und wollten sie zunächst einmal kennen lernen – „ansehen“ – ohne ihnen
irgendwelche „Lösungen“ aufzudrängen. So berichtet die bereits zitierte, an der
damaligen Arbeit beteiligte Frau:

Bevor wir aber auf die Strasse gingen, (...) hatten wir sogar ein bisschen Angst, wa-
ren ein bisschen unsicher, und wussten nicht, wie wir dies tun sollten, aber [wir sag-
ten]: "Wir werden es zusammen lernen", und so beschlossen wir, dass wir an erster
Stelle ihren Raum (der Strassenkinder) respektieren würden ... denn er ist ihr Ort ...
nicht im Sinne, dass ihr Platz auf der Strasse ist, aber es ist der Raum, wo sie sich im
Moment befanden ... und so würden wir nicht [auf die Strasse] gehen, um in die Pri-
vatsphäre des Einzelnen einzudringen; wir würden hingehen, um sie zu treffen und
um ihre Ideen zu hören, denn wir wussten, dass kein Kind die Idee hat, das ganze
Leben auf der Strasse zu verbringen, denn die Strasse ist niemandes Heim, nicht
wahr? Auf der Strasse ist niemandes Heim, und so gingen wir mit nichts als uns
65
selbst und mit Mut . Wir beschlossen sogar, vorher zu beten; wir baten darum, dass
es gut klappen solle. (Interview, 26. April 2004)

Der Entschluss, den privaten Raum der Kinder auf der Strasse zu respektieren
und sie zu treffen, um ihre Ideen zu hören, brachte eine grundsätzliche Neuerung
in der Zusammenarbeit mit dieser Population. Dass nicht alle Personen, die sich
den auf der Strasse lebenden Kindern und Jugendlichen annäherten, auf diese
Weise verhielten, geht aus der Fortsetzung des vorangegangenen Zitates hervor:

Wir grüssten [die Kinder], hielten uns um sie herum auf, fragten nach ihrem Namen.
So am Anfang schenkten sie uns nicht viel Beachtung (...) aber wir blieben da, sag-

65
“A cara e a coragem”. Redensart, wenn man sich mehr oder weniger allein auf etwas einlässt,
ohne viel Absicherung und Vorbereitung.

114
ten: "Schau, ich bin die [nennt ihren Namen], und dies hier ist [nennt den Namen ih-
res Ehemanns], und wir sind hier ... wenn ihr Hilfe braucht, dann sind wir hier". Wir
begannen zu fragen, wann sie Geburtstag hatten: "Wie wär's, wenn wir ein Fest ma-
chen würden?", und so gewannen wir sie mit der Zeit. Sie wollten wissen, ob wir
von der Präfektur seien, oder ob wir von der Universität seien, wer wir seien. Wenn
wir von der Präfektur gewesen wären: Sie hatten schon herausgefunden, dass die
Arbeit der Präfektur Assistenzialismus66 ist und fingen [darum] gleich an, um Klei-
der und Schuhe zu bitten; und die Universität mögen sie nicht sehr, weil die Leute
sie nur benützen, verstehst Du, um die Note [für eine universitäre Studie] zu erhal-
ten, und danach nie mehr auftauchen. Und wenn es ein Politiker war: Die Politiker
machten ihnen auch Versprechungen, fotografierten und filmten [sie] sogar, und
dann zahlten sie etwas, aber manchmal zahlten sie dann gar nicht, und wenn sie
zahlten, dann war es nicht dasselbe [was versprochen worden war], sie betrogen sie.
Und manchmal nahmen sie sie sogar an irgendeinen Ort mit, um sie dort zu filmen,
zusammen mit irgendeinem Politiker, und liessen sie dann einfach dort zurück. So
sagten wir, dass wir niemand von denen seien, dass wir Personen gleich wie sie sei-
en, und dass wir ihre Freunde sein wollten, und da fassten sie [mit der Zeit] mehr
Vertrauen zu uns. (Interview, 26. April 2004)

Und:

Als sie gesehen hatten, wer wir waren, sahen sie, dass wir wirklich als Freunde da
waren und nicht zu irgendeiner Bewegung gehörten, und so vertrauten sie uns mehr.
(...) Wir gaben ihnen sogar unsere Telefonnummern zu Hause, unsere Adressen, und
sagten: "Schaut, wenn ihr irgendetwas braucht ... [dann nehmt Kontakt auf]. (Inter-
view, 26. April 2004)

Zusammengefasst, kann gesagt werden, dass die Gruppe, welche die ersten Ar-
beiten begann, die später zur Eröffnung der Chácara führte, aus Erwachsenen
und Jugendlichen bestand, welche selbst aus sehr armen Verhältnissen stammten
und phasenweise annähernd oder ganz obdachlos gewesen waren. Die aus der
Armensiedlung Vila Lindóia stammenden Personen hatten in der dortigen Bür-
gerbewegung erste Organisationserfahrungen gesammelt. Diese wurden durch
die Tätigkeit der in die Vila Lindóia gekommenen, von der Befreiungstheologie
geprägten jungen Karmeliter verstärkt und schlossen nun mehr Personen – dar-
unter vor allem auch die Kinder und Jugendlichen – ein. Die Bewohnerinnen und
Bewohner der Vila Lindóia hatten konkrete Erfolge ihrer Initiativen erlebt, und
zwar nicht nur in der Armensiedlung, sondern auch auf einer politischen Ebene.
Dabei hatten sie die Erfahrung gemacht, dass trotz der kargen finanziellen Res-
sourcen eine sozial benachteiligte persönliche und kommunitäre Situation ver-

66
Assistenzialismus (assistencialismo): punktuelles, nicht nachhaltiges Offerieren von Almosen,
welche die Ursachen der Situation nicht beheben.

115
bessert werden kann, wenn man sich in einer Gruppe zusammenschliesst, deren
Mitglieder gemeinsam und solidarisch handeln, Kenntnisse und Fähigkeiten
einsetzen und fördern, sich mit anderen Personen vernetzten und ihre Rechte
einfordern. Unter anderem aufgrund dieser Erfahrung sowie einer starken Identi-
fikation mit der Situation der Strassenkinder nahmen sie den Impuls des Karme-
liters Fernando de Gois auf, sich nun diesen zuzuwenden, nachdem die Verhält-
nisse in der Armensiedlung besser geworden waren.
Dabei begannen die künftigen Initianten und Initiantinnen der Chácara ihre
Arbeit nicht mit der Gründung einer Organisation, sondern waren der Meinung,
dass sie zunächst die Kinder und Jugendlichen der Strasse kennen lernen müss-
ten, bevor sie mit ihnen zusammen Aktivitäten und eine Organisation entwickeln
könnten: Sie nahmen eine Analyse der Ausgangslage vor.
Unter anderem gewannen sie dabei durch das Zusammensein sowie durch
Beobachtung und Befragung der Kinder und Jugendlichen Erkenntnisse, welche
sich nicht nur auf deren Probleme, sondern darüber hinaus auf Ursachen, Be-
weggründe, Bedürfnisse und Potentiale bezogen.

4.1.3 Kinder und Jugendliche auf den Strassen von Curitiba

Obwohl die Mitglieder der Gruppe der Gemeinde Profeta Elias dem Prozess des
Kennenlernens und der eigentlichen Analyse, den sie bei und zusammen mit den
Kindern und Jugendlichen auf den Strassen von Curitiba durchführten, hohe
Bedeutung zumassen, hielten sie die resultierenden Erkenntnisse nie umfassend
und systematisch schriftlich fest.
Da die Interviewten die Wichtigkeit der Eigensicht und -darstellung der
Kinder und Jugendlichen für die Chácara jedoch immer wieder betonten, wurde
entschieden, diesen Prozess des Kennenlernens in der vorliegenden Studie in
gewisser Weise nachzuvollziehen. Dafür wurde eine grosse Anzahl von Aussa-
gen der Jungen der Chácara über ihr Leben zuhause, auf der Strasse, in den Hän-
den der Polizei, in anderen Projekten und in der Chácara analysiert.67 Dieser
Zugang wurde in der Annahme gewählt, dass er sich an die Kenntnisse der Mit-
arbeitenden der Chácara annähert, indem er die wichtigsten der ihnen zu Verfü-
gung stehenden Auskunftspersonen und Informationsquellen erfasst.
Die meisten dieser Aussagen waren vor bzw. ausserhalb der Forschung ge-
macht worden und alle gegenüber Personen, zu denen die Jungen in einem engen
Vertrauensverhältnis stehen; im Falle der schriftlichen Texte zumeist gegenüber
Personen, welche früher an der Strassenarbeit beteiligt oder selbst Strassenkinder
67
Aussagen von Mädchen lagen keine vor, da in der Chácara keine Mädchen leben. Für Gründe
der Abwesenheit von Mädchen in der Chácara siehe Kapitel 4.1.3.1

116
gewesen waren, im Falle der Interviews gegenüber der Autorin, mit der sie eben-
falls in einem Vertrauensverhältnis stehen, oder gegenüber anderen ehemaligen
Strassenjungen aus dem Projekt.
Einleitend werden nun die Kinder und Jugendlichen auf den Strassen von
Curitiba bezüglich ihrer Anzahl, ihres Geschlechts und ihres Alters vorgestellt.
Daraufhin beschreibt Kapitel 4.1.3.2 die durchlaufenen Lebensbereiche bzw.
-kontexte der Jungen der Chácara aus deren eigener Sicht. In Kapitel 4.1.3.3 wird
aufgrund ihrer Beschreibungen der Ausgangskontext „eigene Familie“ darge-
stellt, und in Kapitel 4.1.3.4 werden die Gründe geschildert, die sie für ihre
Wechsel zwischen Kontexten angeben. Der Kontext „Strasse“ in der Wahrneh-
mung der Jungen ist Inhalt von Kapitel 4.1.3.5 und die Gesellschaft, die sie erle-
ben, von Kapitel 4.1.3.6. Darauf folgt eine Analyse der Rollen, Aktivitäten und
Fähigkeiten, von welchen die Jungen berichten, und eine Diskussion der zu ih-
rem Überleben notwendigen Kompetenzen.
Die sozialen Kontexte „Eigene Kernfamilie“ und „Strasse“ sowie die Rollen
und Aktivitäten der Kinder und Jugendlichen in ihnen sind von Bedeutung für
die Organisation der Chácara, wird diese doch mit ihrer Gründung zur Akteurin
im Feld der Beziehungen zwischen den betreuten Jungen und ihren Familien
sowie der Gesellschaft und dem Staat. Ihre Population wird aus Kinder und Ju-
gendlichen bestehen, die bestimmte Rollen und Aktivitäten gewohnt sind und
über bestimmte Fähigkeiten verfügen.
Wenn in diesem Zusammenhang über Lebenskontexte und Eigenschaften
der Kinder und Jugendlichen der Strasse geschrieben wird, muss angemerkt
werden, dass es sich hierbei nicht um detaillierte Analysen der Situation jedes
Einzelnen geht, sondern um einen Überblick über die Aspekte, welche von einer
Anzahl von Jungen der Strasse im Zusammenhang mit ihrer Situation genannt
wurden. Dies bedeutet, dass die erwähnten familiären, gesellschaftlichen und
persönlichen Aspekte zwar typisch sind für die Situation der Kinder und Jugend-
lichen der Strasse, dass sie aber nicht auf alle Jungen der Chácara und alle noch
auf der Strasse lebenden Kinder und Jugendlichen in gleichem Masse zutreffen.
Obwohl die Aussagen der Kinder sich auf einen grösseren Zeitraum bezie-
hen, sind keine Unterschiede zwischen früheren und heutigen Beschreibungen
der Kontexte „Eigene Kernfamilie“ und „Strasse“ festzustellen. Jungen verschie-
denen Alters haben in informellen Gesprächen jedoch erwähnt, dass heute im
Vergleich zu früher mehr jüngere Kinder auf der Strasse sind, Kinder und Ju-
gendliche wesentlich mehr Zugang zu Waffen und harten Drogen haben (unter
dem gewachsenen Druck stärker organisierter Drogenbanden in den Armensied-
lungen), und dies ebenfalls in einem wesentlich jüngeren Alter als vor 10 oder 15
Jahren.

117
Die Phase des Kennenlernens der Kinder und Jugendlichen – das heisst des spä-
teren Zielpublikums der Chácara – dauerte drei bis vier Jahre. Sie wird von den
damals Beteiligten als von fundamentaler Bedeutung für die Chácara beurteilt.
Die von den Beteiligten in dieser Zeit gewonnenen Erkenntnisse sollen deshalb
hier ebenfalls ausführlich dargestellt werden.
Ergänzend zu den Interviews und schriftlichen Texten der Jungen wurden
die Resulate einer Studie beigezogen, welche im Jahr 1993 von einer Psycho-
logieprofessorin einer brasilianischen Universität in Zusammenarbeit mit den
Gruppenmitgliedern in Curitiba durchgeführt wurde. Diese hatte das Ziel, demo-
graphische Daten und weitere Informationen über sämtliche sich auf der Strasse
aufhaltenden Kinder und Jugendlichen zu erheben.

4.1.3.1 Anzahl, Geschlecht und Alter

Im Jahr 1993 wurde von Gomide (1995), einer Anzahl von Personen aus der
bereits erwähnten Strassenarbeit sowie von einigen Mitgliedern der Nationalen
Strassenkinderbewegung68 in sehr sorgfältiger Arbeit erstmals versucht, alle sich
auf den Strassen von Curitiba aufhaltenden Kinder und Jugendlichen statistisch
zu erfassen. Die Untersuchung wurde erst abgeschlossen, als keine weiteren
Kinder und Jugendlichen mehr gefunden werden konnten. Insgesamt wurden
1'154 Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 18 Jahren erfasst und befragt;
weitere 18 wurden angetroffen, waren aber nicht bereit, sich an der Studie zu
beteiligen. Vier Fünftel der erfassten Kinder und Jugendlichen lebten bei der
Familie, während ein Fünftel (243; 21%) angaben, auf der Strasse zu leben. In-
nerhalb der letzteren Gruppe gab es wesentlich mehr Jungen als Mädchen, näm-
lich 213 Jungen (88%) und 30 Mädchen (12%). Damals an der Untersuchung
Beteiligte berichten, dass die meisten der 30 Mädchen bereits älter als 14 Jahre
waren und mit älteren Jungen oder jungen Männern zusammen auf der Strasse
lebten. Bei den Jungen war hingegen das ganze Altersspektrum von 6 bis 18
Jahren vertreten und war ein grosser Teil weniger als 14 Jahre alt. Der Projekt-
koordinator Fernando de Gois begründet die geringere Anzahl von Mädchen,
welche ganz auf der Strasse leben, wie folgt69:

68
Movimento Nacional de Meninos e Meninas de Rua.
69
Verschiedene Gruppen von Mädchen werden im Volksmund oder auch von Hilfsorganisationen
als „Strassenmädchen“ bezeichnet, darunter in der organisierten Prostitution arbeitende Mäd-
chen. Gemäss der vorgestellten Definitionen kann der Begriff auf diese Mädchen jedoch nicht
angewendet werden, da sie sich weder den grössten Teil der Zeit auf der Strasse aufhalten noch
dort leben. Ihre Situation ist oft noch schlimmer als die der Strassenkinder und der Zugang zu
ihnen noch schwieriger. Das jüngste der organisierten Prostitution entronnene Mädchen, das die

118
Es gibt Mädchen auf den Strassen, aber es ist halt so, die Familien haben eine An-
zahl von Kindern, und in unserer kapitalistischen Gesellschaft geht der Junge Fuss-
ball spielen, Drachen steigen lassen, und die Mutter geht arbeiten und lässt das
Mädchen [zu Hause], und es ersetzt die Mutter; manchmal ist das Mädchen [nur]
sieben oder acht Jahre alt und übernimmt die Rolle seiner Mutter im Haus. So arbei-
tet das Mädchen mehr und kommt schlussendlich auf weniger Ideen (...) und so
kommt es, dass es, wenn man heute eine Zählung durchführt, wesentlich mehr Jun-
gen auf den Strassen gibt als Mädchen. (Vortrag Uniandrade, 22. April 2004)

Leider gibt es keine Studie über die Anzahl der ganz auf der Strasse lebenden
Jungen und Mädchen in Curitiba, die neuer ist als diejenige von Gomide (1995).
Der Augenschein der Autorin auf der Strasse sowie die Aussagen von Jungen
und Mitarbeitenden der Chácara, welche Kontakt mit Kindern und Jugendlichen
auf der Strasse pflegen, lässt jedoch vermuten, dass die Gesamtzahl sowie die
Zahl der sehr jungen Kinder (< ca. 9 Jahren) und der Mädchen eher angestiegen
ist. So sind etwa seit dem Jahr 2001 gelegentlich auch gemischte Gruppen von
Kindern und Jugendlichen beider Geschlechter anzutreffen, welche auf der Stras-
se leben.

4.1.3.2 Lebensfelder

Im April 2003, zu Beginn der vorliegenden Forschungsarbeit, wurde mit 15


Jungen im Alter von 7 bis 13 Jahren aus dem Vierten Haus der Chácara, welches
Neuankommende und Jüngere aufnimmt, eine „Gincana“, ein Wettbewerb mit
verschiedenen spielerischen Elementen durchgeführt70. In einer der Übungen
wurde fünf Jungen die Frage gestellt: „Wie warst Du, bevor Du in die Chácara
kamst?“ Da die meisten von ihnen noch nicht schreibsicher waren, wurden sie
gebeten, ihre Antwort in einer Zeichnung festzuhalten und diese dann „dem Auf-
nahmegerät in einigen Sätzen zu erklären“.
In ihren Antworten auf diese sehr offen gehaltene, aber auf persönliche Ei-
genschaften ausgerichtete Frage, stellten sich die Jungen als Akteure in Ge-
schichten und Kontexten dar:

Ich habe gezeichnet – ja, dass es eine Person gab, die so die alten Frauen bestahl, und
die den Unterricht schwänzte, [und] nicht in die Schule ging. (12-jähriger Junge)

Autorin antraf, war sieben Jahre alt. Es hatte in einem Bordell in einer anderen brasilianischen
Stadt gearbeitet, das von Politikern protegiert wurde.
70
Siehe auch Kapitel 3.4.4.

119
Ich habe gezeichnet, wie ich um ein paar Münzen bettle, und dann ist [einer] ge-
kommen – und dann hat der Typ gesagt: „ich habe nichts“, und dann ist der VW-Bus
der Sozialbehörde71 gekommen, und dann hat mein Freund gesagt, ich soll wegren-
nen, [und] dann bin ich weggerannt. (12-jähriger Junge)

Ich habe mich gezeichnet, wie ich war, lange bevor ich hierher kam; ich habe ge-
zeichnet, wie ich Leim schnüffle und Zigaretten rauche, und dann ist ein Polizist ge-
kommen, hat die Waffe auf mich gerichtet, [und] dann wollte er mich schlagen,
[und] dann bin ich drangekommen und musste ihm Drogen geben, und er schlug
72
mich immer weiter (...) ; ich bin hierher in die Chácara gekommen und habe das
Leben geändert. (12-jähriger Junge)

Ich war auf der Strasse und schnüffelte Leim, da kam der VW-Bus der Chácara und
73
hat mich in die Chácara gebracht. Ich bin [jetzt] schon gross und habe geheiratet .
(8-jähriger Junge)

Ich habe gezeichnet, wie ich einen Drachen steigen lasse, ein Haus, einen Baum, ei-
ne Wolke und eine Sonne. (11-jähriger Junge)

Auch als die Autorin im Jahr 1999, lange vor der vorliegenden Forschungsarbeit,
die Kinder und Jugendlichen fragte, ob sie für ein Poster eines Benefiz-Anlasses
eine Zeichnung eines Strassenkindes anfertigen würden, erhielt sie nicht etwa
Einzeldarstellungen von Personen, sondern Zeichnungen von Geschichten und
Kontexten:

71
Resgate social.
72
Nicht verständlich.
73
Er stellt sich hier sein künftiges Erwachsenenleben vor.

120
Abbildung 4: Es ist Nacht. Ein Polizist hat einem Jungen den Leim wegge-
nommen (er steht auf der Kühlerhaube des Polizeiautos) und
erschiesst nun den Jungen. (Zeichnung und Beschreibung eines
11-Jährigen der Chácara, Februar 1997)

121
Abbildung 5: Vor dem Busbahnhof von Curitiba. Von links: Hotels, ein Bus,
die Bushaltestelle (Ponto), ein Junge, der eine Handtasche stiehlt,
die bestohlene Person ruft: Hilfe, fangt den Dieb! Jemand kommt
mit einer Pistole gerannt, schiesst (vermutlich ein Polizist aus
dem Polizeiauto zwischen den Bäumen). Zwei Jungen sitzen auf
einer Bank unter einem Baum und halten Säckchen mit Leim in
der Hand. Auf der Wiese zwischen dem grossen Baum und dem
Hotel rechts haben Jungen ein Feuer gemacht. Vor dem Hotel ein
Junge, der Leim schnüffelt. Kommentar des Zeichners zur Stelle
mit dem Feuer: „Hier wohnten wir.“ Texte oben: Geh nicht auf
die Strasse. Nimm keine Drogen. (Zeichnung und Beschreibung
eines 13-Jährigen der Chácara, Februar 1997)

122
Abbildung 6: Zwei zentrale, nebeneinander gelegene Plätze in Curitiba: Praça
Ozório (oben), Praça Rui Barbosa mit Bushaltestelle (unten).
Zuunterst, von links: das weiter entfernte Projekt Piá der Präfek-
tur von Curitiba mit dem grossen Baum, über den die Jungen
jeweils über die Mauer aus dem Projekt kletterten, um auf die
Strasse zu gehen, zwei Jungen und der Satz: „Fangt den Dieb“,
ein Haus, ein Polizeiauto, ein Junge, der vor einem Haus steht,
drinnen hat eine grosse, dicke (erwachsene?) Person mit einer
Pistole gerade eine kleine Person erschossen („morto“), daneben
die Bushaltestelle der Rui Barbosa. Darüber eine Bank, auf der
drei Erzieher der Chácara sitzen (im Original mit Namen be-
zeichnet) und eine Person schläft. Darüber der Sandplatz der
Ozório, auf der fünf Jungen Fussball spielen, im einen Tor der
Zeichner, im anderen sein bester Freund (im Original alle mit
Namen bezeichnet). (Zeichnung und Beschreibung eines ca.
12-Jährigen, Februar 1997)

123
Da sich die Jungen als Teil eines (und möglicherweise mehrerer) Kontexte be-
schreiben, scheint es der beste Weg der Annäherung an sie zu sein, eine Analyse
dieser Kontexte durchzuführen sowie der Art, wie sie sich darin beschreiben und
positionieren. Zu diesem Zweck wurden 132 Selbstzeugnisse in der Länge von
einem Satz bis zu ein bis zwei gedruckten A4-Seiten in Hinblick auf die Kontex-
te, die sie erwähnen, analysiert. Mehr als die Hälfte der Selbstzeugnisse wurde
unabhängig von der vorliegenden Forschung und grösstenteils vor deren Beginn
verfasst. Die übrigen Aussagen stammen aus 9 Interviews mit Jungen, 1 Inter-
view mit einem ehemaligen Jungen, aus Aussagen aus der bereits erwähnten
„Gincana“ und einem Text, den ein jugendliches Mitglied des Forschungsteams
für die Forschungsarbeit verfasste.
Die analysierten 132 Texte bestehen aus insgesamt 590 Textstellen, welche
sich 13 verschiedenen Kontexten zuordnen lassen (alphabetische Reihenfolge),
wovon 8 (bzw. 974) Lebensräume der Kinder darstellen und 5 weitere Bereiche
sind, welche die Kinder erwähnen:

Lebensräume:

Andere Familien Eigene Kernfamilie Natur (als Wohnort)


Andere Kinderprojekte Eigene Favela Strasse
Chácara Gefängnis/Gericht Zukunft

Weitere Bereiche:

Arbeitswelt Schule Zivilorganisationen75


Kirche Staat

Der auffälligste Aspekt der Texte der Jungen sind jedoch nicht die einzelnen
Kontexte, welche sie erwähnen, sondern die grosse Anzahl von Wechseln inner-
halb oder zwischen Kontexten. In insgesamt 154 Textstellen erwähnen die Kin-
der und Jugendlichen eine Vielfalt von Wechseln, nämlich 35 verschiedene
Kombinationen von Ausgangs- und Ankunftskontexten, welche sie bereits erlebt
haben.

74
Die Zukunft ist nicht ein Lebensraum, aber sie umfasst unter anderem, in welchem Lebensraum
sich der Jugendliche nach dem Verlassen der Chácara sieht. Um diesen darstellen zu können,
wird "Zukunft" hier als "virtueller Lebensraum" geführt.
75
Z. B. Unicef, Nationale Strassenkinderbewegung Movimento Nacional de Meninos e Meninas de
Rua (MNMMR) etc.

124
Es sind dies (in alphabetischer Reihenfolge):

Andere Familie Ö Andere Familie


Andere Familie Ö Chácara
Andere Familie Ö Conselho Tutelar76
Anderes Projekt Ö Chácara
Anderes Projekt Ö Eigene Kernfamilie77
Anderes Projekt Ö Strasse/Stadtzentrum
Andere Familie Ö Anderes Projekt
Andere Familie Ö Eigene Kernfamilie
Andere Familie Ö Strasse/Stadtzentrum
Chácara Ö Anderes Projekt
Chácara Ö Eigene Kernfamilie
Chácara Ö Strasse/Stadtzentrum
Conselho Tutelar Ö Anderes Projekt
Conselho Tutelar Ö Fundação Ação Social78
Eigene Favela Ö Eigene Favela
Eigene Favela Ö Eigene Kernfamilie
Eigene Favela Ö Spital
Eigene Favela Ö Strasse/Stadtzentrum
Eigene Kernfamilie Ö Andere Familie
Eigene Kernfamilie Ö Chácara
Eigene Kernfamilie Ö Eigene Favela
Eigene Kernfamilie Ö Strasse/Stadtzentrum
Fundação Ação Social Ö Conselho Tutelar
Gefängnis Ö Chácara
Gefängnis Ö Strasse/Stadtzentrum
Land Ö Stadt
Strasse/Stadtzentrum Ö Andere Familie
Strasse/Stadtzentrum Ö Anderes Projekt
Strasse/Stadtzentrum Ö Chácara
Strasse/Stadtzentrum Ö Eigene Kernfamilie
Strasse/Stadtzentrum Ö Fundação Ação Social
Strasse/Stadtzentrum Ö Eigene Favela
Strasse/Stadtzentrum Ö Gefängnis
Strasse/Stadtzentrum Ö Vila Lindóia
Vila Lindóia79 Ö Chácara

76
Conselho Tutelar: von der Bevölkerung gewählte und von den Stadtbehörden bezahlte Personen,
welche in jeder Region der Stadt erste Anlaufstelle im Fall von Verletzungen der Rechte des
Kindes sind.
77
Eigene Kernfamilie: mindestens 1 biologischer Elternteil.
78
Sozialbehörde der Stadt. Existiert mit demselben Namen auch auf Niveau des Staates Paraná.

125
Betrachtet man die Liste der in den Texten erwähnten Lebensräume sowie dieje-
nige der beschriebenen Ortswechsel, so wird klar, dass es noch eine Anzahl wei-
terer Kombinationen von Ausgangs- und Ankunftskontexten gibt, welche in den
analysierten Texten jedoch nicht erwähnt wurden. Diese Beobachtung wird ge-
stützt durch die Nennung anderer Kombinationen, welche in informellen, in
diese Forschung nicht miteinbezogenen Aussagen von Kindern und Jugendlichen
erfolgte. Hier nicht aufgeführt, für die Jungen jedoch ebenfalls von Bedeutung,
sind im Weiteren die geographischen Wechsel, welche sie zum Beispiel in Zu-
sammenhang mit der innerbrasilianischen Migration zusammen mit ihren Fami-
lien erleben.
Die meisten Kinder haben eine grössere Anzahl solcher Wechsel von Le-
bensraum – und damit auch von Bezugspersonen – erlebt, also von Brüchen, bei
denen bisherige Orientierungen und Bindungen an Bezugspersonen verschwan-
den und neue erschienen oder gefunden werden mussten. Ihr Leben ist zum Teil
seit ihrer Geburt ein „Hin-und-Her“ zwischen verschiedenen Lebensräumen.
Dieses ist keineswegs linear und progressiv, hat im Fall der Verfasser der analy-
sierten Texte zuletzt jedoch immer zum Wohnort Strasse geführt, von wo aus
kaum oder gar kein Kontakt mit den eigenen Kernfamilien bestand.80 So weist
die folgende Erzählung eines Jungen innerhalb von 13 Lebensjahren 11 Wechsel
des Lebens- und Beziehungsraumes auf, wovon 9 im Alter von 8 bis 12 Jahren,
also innerhalb von 4 Jahren erfolgten:

Mein Name ist L., ich bin 13 Jahre alt und habe eine ziemlich komplizierte Ge-
schichte. Ich bin in Curitiba geboren und wurde von meinen Onkeln registriert und
ging zu meiner Grossmutter wohnen. Das alles geschah, weil ich keinen Vater hatte
und meine Mutter minderjährig war. Als ich sieben Jahre alt war, lernte meine Mut-
ter einen Typen namens M.B.P. kennen und hatte einen weiteren Sohn mit ihm. Ein
Jahr danach starb meine Grossmutter, und mein Leben wurde noch seltsamer. Ich
ging zu meinen Tanten wohnen, und es war eine von ihnen, die mich registrierte;
beinahe hätte ich schon ihren Namen vergessen, er ist C.F.G., und sie hatte einen
anderen Sohn in meinem Alter, und wegen des Sohns konnte sie mich nicht mehr
bei sich behalten. So musste ich zu meiner Mutter wohnen gehen, die ich nicht ein-
mal richtig kannte, und zu meinem Stiefvater, der so tat, als ob er gut sei, der sich in
Wahrheit aber mit der Zeit als wildes Tier herausstellte. Sie bekamen noch ein Baby,
dieses Mal ein kleines Mädchen, dessen Name C. war, und der erste Sohn hiess M.
Sobald C. zur Welt gekommen war, fing mein Stiefvater an zu trinken, meine Mutter
zu beschimpfen und zu sagen, dass ich nicht sein Sohn sei. Ich sagte ihm wiederholt,
er solle sie in Ruhe lassen, aber ich war ihm nicht so wichtig, wie die eigenen Kin-

79
Gemeint ist hier die Vila Lindóia als Zwischenstation zwischen der Strasse und einem anderen
Ort.
80
Dieses Resultat bestätigt die in Kapitel 2.2 aufgeführten Feststellungen von Lucchini.

126
der, die sie hatten. Je mehr ich sagte, desto mehr mochte sie ihn. So kam es, dass ich
beschloss, bei dem Onkel zu wohnen, der mich [ursprünglich] registriert hatte. Aber
er hatte auch schon eine andere Beziehung.
Während der Zeit, in der ich bei meinem Onkel lebte, lernte ich, arbeitete ich und
machte ich Kurse. In derselben Zeit bekam meine Mutter noch einen Sohn, B. Weil
sie schon zwei [Kinder] hatte und jetzt noch dieses, bat sie mich schlussendlich, zu-
rückzukommen, und ich Dummkopf stimmte zu. Mein Stiefvater trank immer noch
und beschuldigte mich zu guter Letzt, Dinge getan zu haben, die nicht meine Schuld
waren. So beschloss ich, von zu Hause wegzugehen. Ich versuchte, zu meinem On-
kel zurückzukehren, aber er wollte nicht; er sagte nur, dass er mich an einen Ort
bringen könnte, wo meine Probleme gelöst würden. Da ich nur 10 Jahre alt war und
nicht richtig überlegen konnte, sagte ich zu. Er nahm mich mit und gab mich beim
Conselho Tutelar ab. Dort sagten sie mir, dass ich, weil ich aus Curitiba war, zur
Sozialbehörde ("FAS", "Fundação de Ação Social) transferiert würde. Bei der FAS
sagten sie, dass sie nicht viel für mich tun könnten, und transferierten mich einfach
81
wieder zum Conselho Tutelar von Pinheirinho .
Dort befragten sie mich zu meinem Leben und begleiteten mich in die erste Insti-
tution, in die ich kam, welche [nennt den Namen eines evangelikalen Projektes]
hiess. Dort blieb ich drei Monate, ging dann schlussendlich aber auf die Strasse we-
gen der grösseren Jungen, welche Macht über mich haben wollten. Auf der Strasse
lernte ich viele Jungen kennen und gewöhnte mich an dieses leichte Leben, und dies
machte es mir schwer, in anderen Institutionen zu bleiben, weil die Drogen und die
Freundschaften von der Strasse stärker waren. Ich suchte die Institutionen nur im
Winter auf, weil es dann schlimm war, auf der Strasse zu schlafen. Ich blieb einein-
halb Jahre und lernte mit bereits 12 Jahren die Chácara Padre Eduardo Michelis
kennen, bekannter unter dem Namen "Meninos de Quatro Pinheiros". Heute, im Al-
ter von 13 Jahren, mache ich Kurse und gehe zur Schule. Ich habe viel von meinen
Freunden und auch von den Erziehern gelernt, und nachdem ich jetzt schon 10 Mo-
nate in der Chácara bin, kann ich sagen, dass ich meine wahre Familie getroffen ha-
be. (In eigener Initiative erstellter Text eines Mitglieds des Forschungsteams der
Jungen zuhanden der Forschung, April 2003)

Zusammengefasst, beschreiben sich die Jungen der Chácara, von denen die meis-
ten ehemals auf der Strasse lebten, in Bezug auf geographische und soziale Kon-
texte, und zwar auf eine mehr oder minder grosse Anzahl von solchen Kontex-
ten, welche sie zwischen der eigenen Familie, anderen Familien, Institutionen
und der Strasse durchlaufen.

81
Stadtteil von Curitiba.

127
4.1.3.3 Kontext „Eigene Familie“

Der chronologisch erste Kontext, den die Jungen verlassen, ist derjenige der
Familie. Er wird hier deshalb anhand der Beschreibungen der Jungen der Cháca-
ra dargestellt.
Eine induktive Analyse von 130 Textstellen über das Leben in der Familie,
welche die Jungen grösstenteils unabhängig von der vorliegenden Forschungsar-
beit aufgezeichnet hatten, zeigt, dass Gewalt (26 Nennungen), Drogen/Alkohol
(21 Nennungen) und Armut/Arbeit (18 Nennungen) die am häufigsten erwähnten
Aspekte des Familienlebens waren, während vorwiegend positiv konnotierte
Aspekte wie Schulbesuch (6 Nennungen) und Freizeit/Spielen (5 Nennungen)
wesentlich weniger häufig erwähnt wurden.
Gewalt, die wie in Abbildung 6 (übernächste Seite) gezeigt, häufig von den
Kindern als letzter Auslöser für ihren Gang auf die Strasse bezeichnet wird,
erscheint in den meisten Texten verknüpft mit den Aspekten Drogen/Alkohol
sowie Arbeit/Armut, nämlich a) als Folge von Drogen und Alkohol, b) im wirt-
schaftlichen Zusammenhang, wenn ein Elternteil oder die Kinder nicht genügend
Geld von der Arbeit, dem Betteln oder Stehlen heimbringen und c) als Strafe für
als ungebührlich betrachtetes Verhalten der Kinder.
Wenn hier nun Beispiele von Aussagen der Jungen zitiert werden, dann
wird gleichzeitig zu bedenken gegeben, dass nicht alle Kinder und Jugendlichen
der Chácara ständig und mit allen Elternteilen belastende Erfahrungen gemacht
haben, sondern dass ihre Texte auch positive Erfahrungen anführen. Allerdings
ist es tatsächlich so, dass das Familienleben häufig als schwierig und/oder
schlimm bezeichnet wird, und dass die Jungen extreme Situationen erlebt ha-
ben82. Die ersten fünf Zitate stammen aus dem Buch der Jungen „Histórias das
Nossas Vidas“ (Fundação E., 1999, S. 20-26):

Mein Leben in der Familie war sehr schlimm; ich kam nachmittags nach Hause und
sie liessen mich nicht ins Haus hinein. Nebenan gab es eine verlassene Baustelle.
Dort schlief ich in einem alten Kleiderschrank zusammen mit den Hunden.

Meine Familie hat viele Schwierigkeiten, so, wie fast alle Familien der Kinder [in
der Chácara]. Meine Familie hatte ein sehr schwieriges Leben. Auch ich hatte ein
sehr schwieriges Leben, weil meine Mutter lange Zeit arbeitslos war. Aber Gott sei
Dank gelang es ihr, eine Arbeit zu finden. Mein Vater trank viel, verspielte fast alles
Geld und half fast gar nicht mit den Kosten zu Hause. (...) Bald ging ich von zu

82
Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass die familiären Vernachlässigungen und Misshandlungen
nicht selten in ihrer Schwere über die hier zitierten, von den Jungen schriftlich festgehaltenen
Beispiele hinaus gehen. Dies zeigen vertrauliche mündliche Mitteilungen, welche der Autorin
über die Jahre ihrer Zusammenarbeit mit der Chácara von Jungen gemacht wurden.

128
Hause weg, weil mein Vater mich immer schlug, und auch meine Brüder gingen.
Und es wurde noch schwieriger, als mein Vater von drei Kugeln getroffen wurde,
weil er Dinge getan hatte, die er nicht hätte tun sollen.

Als ich acht Jahre alt war, litt ich sehr unter der Sucht meines Stiefvaters. Er ohrfeig-
te mich, meine Mutter und meine Geschwister wegen der kleinsten Dinge. Meine äl-
teste Schwester war dreizehn, und mein Stiefvater kam betrunken nach Hause und
versuchte, ihr Schlechtes anzutun. Eines Tages kam er betrunken nach Hause, um
wieder dieselbe Sache zu tun, und da flüchtete sie. Als meine Mutter dies entdeckte,
zeigte sie ihn bei der Polizei an.

Wenn mein Vater zur Arbeit ging, kaufte meine Mutter eine Flasche Schnaps und
versteckte sie im Haus, damit mein Vater sie nicht finden würde. Mein Vater kam
dann nach Hause, merkte, dass meine Mutter nach Schnaps roch, und fing an, mit ihr
zu diskutieren. Sie stritten und zerbrachen alles im Haus. Mein Vater schlug meine
Mutter, meine Mutter floh und nahm uns alle mit, drei Jungen und zwei Mädchen.

Ich machte viel Unfug, und deshalb wurde ich, wenn ich etwas anstellte, von meiner
Mutter geschlagen; meine Mutter schlug mich schon mit dem Stiel eines Hammers,
einer Kette und einem Gummischlauch.83

Bei mir zu Hause machten wir manchmal Schwierigkeiten durch; manchmal ass
man, manchmal ass man nicht, es gab keine Sachen zum Spielen, es gab nicht viele
Kleider zum Anziehen. (20-jähriger Junge, in Chácara seit dem 22.12.1994, Inter-
view, November 2003)

Ich fing sehr früh an zu arbeiten. Mit fünf Jahren war ich schon auf der Strasse, wo
ich Süssigkeiten verkaufte, um meiner Familie zu helfen. Mein Vater trank viel, und
wenn er nach Hause kam, schlug er alle, die zu Hause waren. Damals hatte ich zwei
ältere Brüder, welche schlussendlich von zu Hause flohen und auf die Strasse woh-
nen gingen, weil sie zu Hause dermassen Hiebe bekamen í schaut, mein Vater
schlug uns nicht mit dem Gürtel, er schlug uns mit Stromkabeln und Holzruten. Ich
blieb nur, um zu Hause zu helfen. Ich erhielt nie ein Geschenk von meinem Vater,
das heisst, doch, ich bekam eine Kiste, um Süssigkeiten zu verkaufen, und ich arbei-
tete jeden Tag. (Aus einem Vortragstext eines 21-jährigen Jungen, der im Alter von
11 Jahren in die Chácara gekommen war; Oktober 2004)

Im Rahmen ihrer Ziele beschränkt sich die vorliegende Arbeit auf die Berichte
von Jungen der Chácara über die Umstände, welche sie in ihren Familien erlebt
haben, ohne sich einer Analyse der Ursachen für diese Umstände widmen zu
83
Dass manchmal Schläge als gerechtfertigte Bestrafung für „Fehlverhalten“ angesehen wird, zeig-
te sich der Autorin im Jahr 1999, als ein etwa 14-jähriger Junge in einem anderen Projekt mit ei-
ner „Flip-Flop“-Sandale in der Hand zum dortigen Projektkoordinator kam und ihn aufforderte,
ihn damit zu schlagen, weil er „etwas angestellt habe, wofür er bestraft werden müsse“.

129
können. Aus den Zitaten der Jungen geht hervor, dass es sich bei den Ursachen
um komplexe Zusammenhänge verschiedener Aspekte handeln muss, darunter
materielle Not, Überforderung der Eltern oder Betreuungspersonen in der eige-
nen Lebensführung und im Umgang mit anderen sowie Suchtprobleme. Es gilt
aber auch zu erwähnen, dass im Kontakt der Chácara mit den Familien der Jun-
gen sichtbar wird, dass viele der Mütter und Väter das Schicksal ihrer Söhne mit
Schuldgefühlen und grosser Sorge verfolgen, dass sie sich – wenn ein gangbarer
Weg aufgezeigt wird – im Rahmen ihrer Möglichkeiten für diese einsetzen und
sich glücklich zeigen, wenn sie sich gut entwickeln und zum Beispiel erfolgreich
die Schule besuchen.

4.1.3.4 Gründe, auf die Strasse zu gehen, und Gründe, sie zu verlassen

Weshalb übersiedeln die Jungen auf die Strasse, und weshalb verlassen sie sie
wieder? Diese Frage ist von besonderem Interesse für ein auf freiwilliger Teil-
nahme beruhendes Projekt wie die Chácara, muss doch angenommen werden,
dass Kinder und Jugendliche dann in einem Projekt verbleiben, wenn es mit den
Gründen in Einklang steht, welche sie benötigen, um die Strasse zu verlassen
und an einem neuen Ort zu bleiben. Auch zur Beantwortung dieser Frage wurden
die Aussagen der Jungen der Chácara beigezogen.
Es sind insgesamt 69 Aussagen in den bereits erwähnten Selbstzeugnissen,
welche induktiv analysiert wurden, und welche einen Auslöser oder Grund für
den Gang auf die Strasse nennen, und 99 Aussagen, die begründen, aus welchem
Anlass die Strasse verlassen wurde. Mit wenigen Ausnahmen entstanden die
Aussagen im Rahmen von frei von den Jungen gestalteten Texten und kaum
strukturierten Interviews, also nicht als Antworten auf eine spezifisch gestellte
Frage nach den Ursachen. Der Lebensraum „Strasse“ wurde deshalb für die Ana-
lyse gewählt, weil, wie bereits erwähnt, die meisten Jungen der Chácara (73%)
zuvor auf der Strasse gelebt hatten und eine Mehrzahl der anderen bereits einen
beträchtlichen Zeitanteil auf der Strasse verbracht hatte. Bei der Analyse der
Gründe wurde nicht unterschieden, ob es sich um einen kurz- oder längerfristi-
gen Feldwechsel handelte, da vor allem die Art der von den Jungen genannten
Auslöser interessierte.
Sowohl beim Gang auf die Strasse als auch beim Verlassen der Strasse zeig-
ten sich drei Dimensionen von erwähnten Auslösern oder Beweggründen. Der
Wechsel kann 1. von anderen Personen erzwungen sein, 2. durch den Jungen als
Flucht vor als unerträglich empfundenen Umständen erfolgen und 3. durch den
Jungen wegen der wahrgenommenen Attraktivität des neuen Feldes erfolgen.

130
Häufig trifft mehr als eine dieser Dimensionen auf den Wechsel eines Jungen
von einem Feld in ein anderes zu.

Dimen- Feld- Kategorien Zahl Text-


sion wechsel (in Klammern Anzahl Textelemente) elemente
1. Von Gang Von Familie vertrieben (2), von Familie verlassen 9
anderen auf die (2), von Sozialbehörde auf Strasse geschickt (1),
erzwun- Strasse kein Platz in Projekt (3), Projekt wird geschlossen (1)
gen Verlas- Von Polizei/Behörden gefangen und in Projekt 6
sen der eingeschlossen (6)84
Strasse
2. Flucht Gang Gewalt zu Hause (14), Gewalt in anderen Projek- 24
auf die ten (3), Diebstahl in anderen Projekten (1), nicht
Strasse spezifizierte Schwierigkeiten zu Hause und in
anderen Projekten (3), Eingesperrtsein im Ge-
fängnis/in Projekten (3)
Verlas- Kälte, Mangel an Kleidern und Hygiene (3), 12
sen der Gewalt (1), Drogen (5), nicht spezifisch genannte
Strasse Gründe (3)
3. Anzie- Gang Verdienstmöglichkeit (14), Freunde/mit Freunden 36
hung auf die mitgegangen85 (13), um Drogen zu nehmen86 (6),
durch Strasse um sich zu amüsieren (2), aus Neugier (1)
neues Feld Verlas- Ort für teilzeitigen oder vollständigen Aufenthalt 81
sen der vorhanden (27), von Erwachsenen eingeladen87
Strasse (22), mit Freunden/Geschwistern mitgegangen
(12), um ein künftiges Projekt kennenzulernen/
zu prüfen (7), Bindung an die Familie (3), Mög-
lichkeit eines Lebens in der Natur/mit Tieren (3),
um das Leben zu ändern (2), um zu lernen (2),
um das künftige Wohnhaus in einem Projekt zu
bauen (2), um Geld nach Hause zu bringen (1)
Abbildung 7: Auslöser für den Gang auf die Strasse und für das Verlassen
derselben

84
Häufig werden Kinder und Jugendliche von den Sozialbehörden eingefangen und ohne weitere
Unterstützung zur Familie zurückgebracht. Wie die Jungen selbst immer wieder erwähnen, nützt
dies nichts, da sich die Situation dort nicht verändert hat und sie deshalb innerhalb von wenigen
Stunden oder Tagen wieder auf die Strasse ziehen.
85
Dies häufig in Zusammenhang mit der Flucht; man flüchtet gemeinsam mit einem Nachbarn, ei-
nem Bruder, einem Cousin o.ä.
86
Häufig beim Verlassen eines Projektes/einer Institution.
87
Im Gegensatz zu Zwang.

131
Die vorstehende Übersicht zeigt diese drei Dimensionen mit ihren Kategorien
und der Anzahl dazugehöriger Textelemente.
In Bezug auf den Gang in den Kontext „Strasse“ sowie das Verlassen des-
selben erwähnen die Jungen der Chácara als Grund für die von ihnen selbst voll-
zogenen Kontextwechsel in erster Linie das Verlassen von für sie untragbaren
Bedingungen. Solche für Leib und Leben bedrohliche Bedingungen finden sie
zumeist sowohl im Kontext der eigenen Familie (siehe auch Kapitel 4.1.3.3), von
welchem sie direkt oder mit Umwegen auf die Strasse flüchten, als auch auf der
Strasse selbst. So sagte der Koordinator der Chácara bei einer öffentlichen Ver-
anstaltung:

Niemand ist auf der Strasse, weil es dort gut ist, aber die Strasse ist der Weg für die-
jenigen, die keinen Weg mehr haben, die keinen Ausweg mehr haben. (Vortrag Uni-
andrade, 22. April 2004)

Sowohl beim Gang auf die Strasse als auch beim Verlassen derselben scheinen
Beziehungen oder Bindungen zu anderen Personen wichtig zu sein: Beim Gang
auf die Strasse das Zerbrechen der Beziehungen zwischen einem oder beiden
Elternteilen und dem Kind respektive die Anregung und/oder Begleitung durch
andere Kinder und Jugendliche, welche ebenfalls auf die Strasse gehen oder
schon dort sind; beim Verlassen der Strasse die Anregung und Begleitung durch
andere Kinder und Jugendliche sowie die Begleitung und die ohne Zwang, son-
dern über eine Bindung erfolgte Einladung durch Erwachsene.

4.1.3.5 Kontext „Strasse“

Die meisten Jungen der Chácara lebten vor ihrem Eintritt in diese auf der Stras-
se. Hier interessierte, wie sie diese erlebten.
Es sind 129 Textstellen in zumeist unabhängig von der Forschungsarbeit er-
stellten Texten der Kinder und Jugendlichen, welche Aspekte des Lebens auf der
Strasse beinhalten. Sie zeigen, dass die Jungen auf der Strasse nach wie vor in
einem Umfeld mit lebensbedrohlichen physischen und materiellen Bedingungen
leben, wo sie sich vor allem von der Polizei, aber auch von anderen Erwachsenen
bedroht, statt geschützt und unterstützt, sehen.
Die nachstehende Tabelle zeigt die Bedingungen auf, welche die Jungen der
Chácara bezüglich des Kontexts „Strasse“ erwähnen, sowie deren Bewertung
durch die Jungen:

132
Bedingung Bewertung durch die Jungen
88
Frieren (11) Negativ
Hunger (10) Negativ
Angst (9) Negativ
Leiden (8) Negativ
Kein Ort zum Schlafen (7) Negativ
Sterben (6) Negativ
Freiheit (5) Positiv
Schmutz (2) Negativ
Nässe (1) Negativ
Gefahr (1) Negativ
Keine Kleider (1) Negativ
Ungerechtigkeit (1) Negativ
Drogeneffekte auf das Hirn (1) Negativ
Verletzungen/Wunden (1) Negativ
Vieles fehlt (1) Negativ
Ungeziefer (1) Negativ
Keine Möglichkeit des Schulbesuchs (1) Negativ

Gibt Dinge, die es zu Hause nicht gibt (1) Positiv

Abbildung 8: Physische und materielle Bedingungen des Umfelds „Strasse“


(68) (in Klammern Anzahl Erwähnungen)

Zusätzlich zu den vorwiegend lebensbedrohlichen Bedingungen auf der Strasse


beschreiben sich die Jungen auch als dort von der Polizei und weiteren Erwach-
senen bedroht und nicht unterstützt, wie die folgende Tabelle zeigt:

88
Zwischen Juni und Oktober kann es in Curitiba bei gegen 100% Luftfeuchtigkeit bis zu 0° Cel-
sius kalt werden.

133
Verhalten der Polizei (42)89 Verhalten anderer Erwachsener (18)
Bedrohen/üben Gewalt gegen Kinder
Verprügelt Kinder (15)90
aus (8)
Verhaftet/sperrt Kinder ein (7) Töten Kinder (4)
Verlangt kriminelle Handlungen v. Kindern (3) Bringen Essen (3)

Misshandelt Kinder physisch/sexuell (3)91 Behandeln Kinder schlecht (1)

Bestiehlt Kinder (3)92 Zeigen keine Liebe/Fürsorge (1)


Bedroht Kinder (2) Sehen Kinder nicht als Bürger (1)
Tötet Kinder (2)
Übt Gewalt gegen Kinder aus (2)
Entführt Kinder (1)93
Erpresst Kinder (1)
Mag Kinder nicht (1)
Versucht, Kinder zu erschiessen (1)
Hat keine Gefühle (1)

Abbildung 9: Verhalten anderer Menschen im Umfeld „Strasse“ (60)


(in Klammern Anzahl Erwähnungen)

Die in den Tabellen zum Ausdruck kommende negative Einschätzung der Situa-
tion der Kinder und Jugendlichen, welche ganz auf der Strasse leben, wird von

89
Zum Thema des Verhältnisses zwischen der Polizei und Kindern auf der Strasse empfiehlt sich
die Studie von Bondaruk (2005).
90
Bei allen Aspekten mit Ausnahme des letzten sind der Autorin mehrere konkrete Fälle bekannt.
91
Es wird auch von äusserst schweren Vergehen wie mehrfacher Vergewaltigung, teils unter Be-
nützung stark verletzender Gegenstände, und der Anwendung von Elektroschocks berichtet.
92
Sogar in Projekten lebende Jungen, die nicht (mehr) stehlen, erzählen, dass ihnen Polizisten, wel-
che sie wiedererkannten, Kleider und Geld für den Eigengebrauch abnahmen. Von Kindern auf
der Strasse werden Fälle berichtet, bei denen Polizisten ihnen Drogen abgenommen haben, um
diese selbst zu konsumieren. Mehrfach wurden Kinder von Polizisten zum Drogenverkauf und
zur darauf folgenden Übergabe des Geldes gezwungen.
93
Um sie „loszuwerden“ (aus den 1990er Jahren sind Fälle bekannt, zum Beispiel wenn eine
„wichtige“ Delegation von Personen der Wirtschaft oder Politik die Stadt besuchte), aber auch,
um sie zu vergewaltigen und/oder zu töten.

134
einem Chácarabewohner im Buch der Jungen (Meninos de Quatro Pinheiros,
1999) so zusammengefasst:

Die Strasse ist der Feind der Kinder und Jugendlichen.

Ein weiterer Junge sagte in einem Interview:

Also auf der Strasse ist es ein anderes Leben. Auf der Strasse ist es Leben oder Tod.
(Interview, 6. Mai 2003, 16-jähriger Junge, Eintritt Chácara 23.1.2003)

Da es keine zuverlässige Statistik über die Anzahl der auf der Strasse lebenden
Kinder gibt, gibt es auch keine Zahlen zur Anzahl der Todesfälle unter ihnen.
Aufgrund seiner Erfahrung erwähnte der Koordinator der Chácara im Jahr 1997,
dass etwa 80% der ganz auf der Strasse lebenden Kinder und Jugendlichen vor
dem Erreichen des 18. Lebensjahres den Tod fänden.94

4.1.3.6 Erlebte Gesellschaft

Was bringt denn diese ganze Propaganda in der Zeitung / die besagt, dass hier die
95
Hauptstadt des Sozialen ist, / wenn ich auf der Strasse lebe, frierend und verlassen, /
und dir dies egal ist?
Refrain: Ich will, dass Du dich nicht hinter deinem schicken Anzug versteckst, /
sondern mir deine brüderliche Liebe zeigst.
Was bringt denn ein Stück Brot, wenn ich keinen Ort zum Schlafen habe. / Ich will
Ausbildung und das Recht, mich frei zu bewegen. / Ich will nur, dass du, der Du ge-
rade vor mir stehst, / siehst, wer ich wirklich bin und wie gross mein Leid ist.
Refrain.
Ich gehe durch die Strassen, werde Marginaler genannt, / Aber am meisten schmerzt,
dass die Gesellschaft ihre Augen verschliesst. / Ich ertrage es nicht mehr, dass Du an
mir vorbeigehst, / und so tust, als ob Du mich nicht siehst, und mich einfach sein
lässt.
Refrain.
(Selbstgeschriebenes Lied der Jungen der Chácara, Entstehungsdatum unbekannt,
ev. 2. Hälfte der 1990er Jahre)

94
Mündliche Mitteilung an die Autorin, Februar 1997.
95
Die Stadt Curitiba, aus der die meisten Jungen der hier untersuchten Chácara stammen, wird in
der relativ intensiv betriebenen Propaganda als fortschrittliche Stadt gefeiert, unter anderem mit
den Bezeichnungen „Hauptstadt des Sozialen“„Hauptstadt der Ökologie“ oder früher auch „Stadt
des Lächelns“.

135
Jungen und Gründungsmitglieder der Chácara berichten in ihren Aussagen wie-
derholt davon, wie sie das Verhältnis der Gesellschaft gegenüber den auf der
Strasse lebenden Kinder und Jugendlichen erlebt haben. Es war anzunehmen,
dass ein Projekt für diese Kinder sich in irgendeiner Form auf deren soziale In-
tegration beziehen würde. Deshalb wurden entsprechende Hinweise dem Daten-
material entnommen und sollen hier die hauptsächlich erwähnten Punkte aufge-
führt werden.
Für Kinder und Jugendliche repräsentieren Erwachsene die Gesellschaft.
Die Analyse der Aussagen der Jungen der Chácara zeigt, dass sowohl der Kon-
text „eigene Familie“ als auch der Kontext „Strasse“ vorwiegend von Erwachse-
nen besetzt ist, welche die Kinder und Jugendlichen mit Gewalt angehen
und/oder missbrauchen und ihnen die für das Überleben nötige Versorgung und
Fürsorge nicht zukommen lassen können oder wollen. Dasselbe gilt für die ande-
ren Kontexte, welche die Jungen erwähnen, seien es „andere Projekte“ (z. B. des
Staates oder solche religiöser Ausrichtung), „andere Familien“ oder das „Ge-
fängnis“.96 Sie erleben zudem häufig eine Gesellschaft von Erwachsenen, welche
sie benützen und manipulieren, Versprechungen abgeben und diese nicht halten
oder ihnen nicht beistehen. Dies zeigen Aussagen wie zum Beispiel die in Kapi-
tel 4.1.2 aufgeführte, wonach Politiker sich im Rahmen des Wahlkampfes mit
den Kindern fotografieren und filmen liessen, ihnen den dafür versprochenen
Geldbetrag nicht oder in wesentlich geringerem Umfang als versprochen bezahl-
ten, oder aber Kinder zum Filmen irgendwohin mitnahmen, ohne in irgend einer
Weise für ihren Rücktransport zu sorgen.
Dieselbe Teilnehmerin der Gemeinde Profeta Elias, welche dies berichtete,
erzählt auch von Fällen der Zurückweisung der Strassenkinder durch Kirchen-
vertreter:

Es war schwierig, denn es waren so kleine Kinder, es gab Kinder, die noch den
Schnuller im Mund hatten, und nach einiger Zeit der Arbeit gab es einige Kinder,
(...) die getauft werden wollten. "He ... Tante, wir glauben, dass wir den Teufel im
Leib haben, und darum klappt es nicht für uns auf der Strasse" (...). Wir gingen und
sprachen mit dem Bischof, sogar mit dem Bischof sprachen wir. Im ersten Moment
war der Bischof nicht sehr überzeugt [von der Idee]: "Die Jungen, in dieser Situati-
on, in der sie leben, in der sie stehlen und was sonst noch, wie sollten wir ihnen das
Sakrament reichen können?“ (Interview, 26. April 2004)

96
Ab dem Alter von 13 Jahren können Jugendliche in Jugendstrafanstalten überwiesen werden.
Der Autorin sind Fälle bekannt, in denen Strafanstalten (welche von Menschenrechtsorganisatio-
nen stark kritisiert wurden) überfüllt waren und die Jugendlichen deshalb in Erwachsenenge-
fängnisse überwiesen wurden.

136
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Kinder und Jugendlichen der
Strasse vorwiegend eine Gesellschaft erleben, welche den bereits zitierten Arti-
kel 277 der brasilianischen Verfassung, in dem Kindern und Jugendliche „abso-
lute Prioriät“ einräumt, wenig oder gar nicht einhält.97
Die Kinder und Jugendlichen werden, zusammen mit anderen Gruppen, von
vielen Einzelpersonen, Medien und zum Teil in den Verlautbarungen politischer
Organe „Marginale“ und „Ausgeschlossene“ 98 genannt, also als nicht zur Ge-
sellschaft gehörende Personen. Oft werden sie dabei als ein „Übel“ gesehen, das
die Gesellschaft verunstaltet und bedroht, so dass diese sich gegen sie wehren
muss. In diesem Zusammenhang erscheinen sie nicht als junge, in der Entwick-
lung befindliche Menschen, welche Lösungen für die Probleme ihrer Lebens-
situation brauchen oder gar aktiv zu solchen Lösungen beitragen könnten. So
führte im Jahr 1999 ein auswärtiger Kandidat für die Wahlen in der Gemeinde,
in der die Chácara liegt, seine Wahlkampagne mit dem Versprechen, „diesen
Dreck aus der Chácara wegzuräumen“99, sobald er gewählt sei. Während der
Politiker in diesem Fall von der darüber aufgebrachten lokalen Bevölkerung
vertrieben wurde, wurden die Kinder, Jugendlichen und Betreuer eines Strassen-
kinderprojektes in einer anderen Ortschaft ebenfalls im Zusammenhang mit den
Lokalwahlen im Beisein der Autorin vom Bürgermeister bedroht. Dieser führte
einen Umzug teils bewaffneter Leute vor das Haus des Projektes, beschimpfte
die dort Anwesenden, spuckte ihnen vor die Füsse, drohte ihnen mit dem Tod,
liess sie nachts durch seine schiessenden Schergen erschrecken und anderntags
durch die Polizei aus dem Ort vertreiben.100
Die mangelnde Fürsorge, Zurückweisung, Bedrohung, Verletzung und
Misshandlung durch Erwachsene – und damit durch die Gesellschaft – wird in

97
Der Verfassungsartikel, welcher die Familie, die Gesellschaft und den Staat verpflichtet, mit
absoluter Priorität die Rechte der Kinder und Jugendlichen zu wahren sowie diese u.a. vor Ver-
nachlässigung, Diskriminierung und Gewalt zu schützen, findet sich vollständig in Kapitel 2.3.
Constituição da República Federativa do Brasil 1988, http://www.planalto.gov.br/CCIVIL_03/
Constituicao/Constitui%C3%A7ao.htm (5. Februar 2007).
98
Marginais (dieser Begriff wird in Zeitungen oft auch als Synonym für “Kriminelle” verwendet),
Excluídos.
99
Mündliche Mitteilung durch Mitarbeitende der Chácara, Oktober 1999.
100
Ein weiteres Beispiel für stereotype Negativ-Ansichten über Strassenkinder wurde bei Vorträgen
von Jungen und Mitarbeitenden der Chácara an Universitäten und/oder vor Personen aus sozia-
len Berufen (in beiden Fällen zumeist mehrheitlich Frauen) beobachtet. Hier prasselten häufig
als erstes Fragen nach der Sexualität auf die Jungen ein. Dabei wurden 12-jährige und jüngere
(häufig in der Vergangenheit von Erwachsenen sexuell missbrauchte) Jungen von den Anwesen-
den nach sexuellen Abenteuern auf der Strasse und Empfindungen dabei befragt, und zwar in ei-
ner Art, welche die Autorin nicht nur als dem Alter und der Situation der Kinder unangemessen,
sondern auch als indiskret, aggressiv und sensationslüstern empfand.

137
der Frustration und Abscheu reflektiert, welche die Kinder und Jugendlichen der
Strasse oft zum Ausdruck bringen, so zum Beispiel ein Junge in Curitiba:

Ich habe schon Staatsanwälte, Richter, Patres, den Bischof und Nonnen um Hilfe
gebeten, und keiner wollte mir helfen. Aber lass nur, ich werde mich der Polizei aus-
liefern, dann lande ich sicher im CEDITE101 und dort bleibe ich dann halt, und wenn
ich dort nicht sterbe, dann werde ich, wenn ich wieder [heraus]komme, diese Stadt
fertig machen. (Miranda & Stoltz, 1999, S. 15)

4.1.3.7 Rollen, Aktivitäten und Fähigkeiten

Wie in Kapitel 2.2.2 im Rahmen der Einführung in Themenbereiche und Theorie


dargestellt, gibt es verschiedenste Auffassungen darüber, was Kinder und Ju-
gendliche der Strasse täten und wie sie geartet seien. Nur wenige davon gründen
auf tatsächlichen Untersuchungen. Lucchini, dessen Publikationen in der Biblio-
graphie aufgeführt sind, hat in diesem Zusammenhang Pionierarbeit geleistet.
In der vorliegenden Forschungsarbeit betonten vor allem Personen, welche
im Rahmen der Gemeinde Profeta Elias oder später der Chácara mit den Kindern
und Jugendlichen auf der Strasse gearbeitet hatten, die grosse Bedeutung der
Rollen, Aktivitäten und Fähigkeiten, welche die Jungen in der Familie und auf
der Strasse inne gehabt hatten. Von Relevanz sind diese Aspekte wohl in erster
Linie deshalb, weil die Jungen bei Eintritt in die Chácara diese Rollen und Fä-
higkeiten sowie teilweise auch ihre bevorzugten Aktvititäten mitbringen. Ent-
sprechend stellt sich die Frage, inwieweit diese Rollen, Fähigkeiten und Aktivi-
täten in die Organisation integriert werden sollten und könnten.
Obwohl die Jungen sich sowohl bezüglich des Kontextes „eigene Familie“
als auch bezüglich des Kontextes „Strasse“ als Personen, die mit sehr schwieri-
gen Bedingungen konfrontiert sind, beschreiben, stellen sie ihre Rolle in den
beiden Kontexten unterschiedlich dar: als zumeist passive Empfänger von fami-
liären Problemen und Misshandlungen im Kontext „eigene Familie“, aber als
aktiv Handelnde im Kontext „Strasse“, welche Schritte (insgesamt 242 Erwäh-
nungen) unternehmen, um unter den dort äusserst bedrohlichen Bedingungen zu
überleben. Hier werden in den untersuchten Texten vor allem die materielle
Versorgung (81 Erwähnungen) sowie die Selbstorganisation (39 Erwähnungen)
genannt. Arbeiten, Betteln und Stehlen dienen der Sicherung des physischen
Überlebens. Im Rahmen der Selbstorganisation werden Bildung und Gestaltung
einer Gruppe auf der Strasse genannt, inklusive das Finden und die Gestaltung

101
Centro de Estudos e Diagnósticos e Indicação de Trabalho (eine Art Jugendgefängnis/Erzie-
hungsanstalt).

138
von Aufenthaltsorten, die Organisation des Tagesablaufs, die Verwaltung von
Finanzen sowie die Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten. Dass die Gruppe
ein wichtiger sozialer Referenzrahmen ist, zeigt sich auch in den Aussagen zum
Zusammenleben (39), von denen sich die meisten auf Freundschaft, einige je-
doch auch auf Gewalt und Diebstahl beziehen.
Der Suchtmittelkauf und -konsum findet ebenfalls relativ häufig Erwähnung
(59 Erwähnungen). Er wird von den Jungen mit verschiedenen Bedeutungen
genannt, einmal als etwas, was den Hunger stille, die Angst nehme und Schwie-
rigkeiten vergessen lasse, dann als etwas, was zur Gruppe auf der Strasse und in
gewisser Weise zum „Unfug treiben“ gehöre, sowie als etwas, was sie in der
Vergangenheit getan hätten und was für sie schädlich gewesen sei. Spielen und
„Unfug treiben“ (Elemente, welche zum „Kind-Sein“ gerechnet werden könnten;
11 Erwähnungen), die Suche nach Lösungen (10 Erwähnungen), die Flucht vor
Bedrohung (2 Erwähnungen) und die Unterstützung anderer (zum Beispiel alter
Obdachloser) sind weitere, von den Jungen genannte Handlungen auf der Strasse.
Die Tabelle auf der folgenden Seite zeigt diese Handlungen im Überblick.
In den hier präsentierten Daten erweist sich, dass die Jungen der Chácara,
welche bei ihren Familien und auf der Strasse mit Situationen extremer Bedro-
hung konfrontiert waren, besonders während ihrer Zeit auf der Strasse eine Viel-
zahl von Handlungen durchgeführt haben, die dazu dienten, ihr Überleben zu
sichern. Leider ist es im Rahmen der vorliegenden Forschung nicht möglich, eine
vertiefte Analyse aller Kompetenzen und Eigenschaften durchzuführen, welche
Kindern und Jugendlichen im Alter von 6 bis 18 Jahren diese Überlebenshand-
lungen ermöglichen. Es kann jedoch vermutet werden, dass sich auf einer Liste
dieser Kompetenzen und Eigenschaften Fähigkeiten der Beobachtung und des
schnellen Einschätzens von Situationen und Personen, physische und psychische
Kraft respektive Geschicklichkeit finden würden, ebenso Fähigkeiten des Ler-
nens, der Organisation, des „Wirtschaftens“, des Entscheidens und des Führens.
Eine besondere Überlebensfähigkeit, welche der Autorin im Kontakt mit
den Jungen der Chácara aufgefallen ist, ist diejenige des „Nach-Vorne-Sehens“.
Mehrfach sagten ihr Jungen der Chácara noch vor Forschungsbeginn, es stimme,
ihre Vergangenheit sei schwer gewesen und die Erinnerung daran sei immer
präsent. Jedoch bleibe ihnen nichts anderes, als nach vorne zu schauen. Wenn
man den „alten Geschichten“, den „Dingen des Todes“ verbunden bleibe, sterbe
man über kurz oder lang. Als Grund für die letztere Aussage gaben sie zum Bei-
spiel an, dass man „in den alten Geschichten gefangen“ verbittert würde. Man
würde auf Verhaltensweisen, wie man sie in diesen „Geschichten“ erlebt habe,
zurückfallen, so zum Beispiel auf Aggression, Drogenkonsum oder Gewalt, also
Verhaltensweisen, welche bald zum Tod führen würden.

139
A. Materielle Versorgung (81) D. Zusammenleben in der Gruppe (39)
Dritte bestehlen (45) Freunde haben (24)
Essen kaufen/erbetteln/im Abfall Konfrontiert sein mit Gewalt in der Gruppe
finden (12) (8)
Betteln (11) Diebstahl in der Gruppe (6)
Konfrontiert sein mit allgemeinen
Arbeiten (6)
Problemen (1)
Kleider/Decken kaufen (3) E. Spielen/„Unfug treiben“ (11)
Geld verdienen (2) Spielen (6)
Bewaffneter Überfall/Diebstahl (2) „Unfug treiben“ (4)
B. Suchtmittel kaufen und konsumie-
Abenteuer erleben (1)
ren (59)
C. Organisation/Gruppengestaltung
F. Lösungen suchen (10)
(39)
Aufenthaltsort finden/gestalten
Projekte kennen lernen (3)
(17)
Erfahrene führen Neue ein (12) Für kurze Zeit in Projekte gehen (2)
Gruppe bilden (5) Ein besseres Leben anstreben (2)
Befehlen/gehorchen (3) Rückkehr zur Familie überlegen (1)
Tagesablauf gestalten (1) Einander auf Projekte hinweisen (1)
Geld zusammenlegen (1) Beten (1)
G. Flucht vor Bedrohung (2)
H. Anderen helfen (1)

Abbildung 10: Aktivitäten der Jungen auf der Strasse (242) (in Klammern
Anzahl Erwähnungen)

Solche Aussagen und in die gleiche Richtung weisende Beobachtungen in der


Chácara, in anderen Projekten und auf der Strasse lassen erkennen, dass die Kin-
der und Jugendlichen wohl per Definition als schwer und wiederholt traumati-
siert betrachtet werden können, dass sie selbst jedoch, nachdem sie lange auf der
Strasse überlebt haben, nicht in erster Linie auf ihre „Traumata“ fokussiert sind,

140
sondern sich „nach vorne“, auf ihr Überleben, auf „Dinge des Lebens“, wie sie
sagen, ausrichten102.
Im Widerspruch zu Bertolt Brechts Satz: „Zuerst kommt das Fressen, dann
kommt die Moral“ beziehungsweise der Maslow’schen Bedürfnispyramide
scheinen die Kinder und Jugendlichen der Strasse in Curitiba im Weiteren die
Eigenschaft zu haben, nicht nur das physische Überleben und die materielle
Versorgung zu den „Dingen des Lebens“ zu zählen, sondern auch ideelle oder
spirituelle Aspekte. So gestalten sie zum Beispiel gemeinsame Feiern und stellen
bei verschiedenen Gelegenheiten Freundschaft und Gemeinsamkeit über das
materielle Ergehen. Ein Junge hielt in einem selbstverfassten Text fest:

Auf der Strasse schnüffelten wir an Weihnachten Leim. Manchmal stahlen die Jun-
gen, um Fleisch und Getränke kaufen zu können. Sie gingen in den Unterschlupf
(mocó), suchten Ziegel und Holz zusammen und machten ein Feuer, um das Fleisch
zu braten. So war die Weihnacht der Strassenkinder in den Unterschlüpfen, wenn sie
nicht im Gefängnis waren. Es war sehr traurig, das Leben der Kinder auf der Strasse.
(Text eines 15-jährigen Jungen, November 1996)

Im Rahmen der Organisation der Gruppe sind Solidarität und die Fähigkeit, zu
teilen, wichtige Werte, wie die ersten Beteiligten an der Strassenarbeit beobach-
ten konnten:

Sie [die Kinder] fingen bald an, es uns zu sagen, wenn sie krank waren, oder darauf
hinzuweisen, dass diese oder jene Person krank sei oder Fieber habe; dann fingen sie
an, uns in ihre Unterschlüpfe mitzunehmen, dorthin, wo die kranke Person war. Der
Unterschlupf ist der Ort, wo sie sich vor aller Welt verstecken, und dort verstecken
sie manchmal auch irgendetwas, was sie gestohlen haben. Wir sahen, dass sie unter-
einander sehr einig waren. Manchmal, wenn sie sich nicht verstanden, gab es für sie
kein Halten, dann stritten sie fürchterlich miteinander. Es gab grosse Gewalt, aber
das Miteinander-Teilen ist bei ihnen auch sehr zentral; einer zieht sein Hemd aus,
um es dem anderen zu geben; wenn einer krank ist, dann kümmern sie sich um ihn.
(Interview mit einer an der Strassenarbeit beteiligten Frau, 26. April 2004)

Die Solidarität kann auch gegenüber Personen ausserhalb der Gruppe der Kinder
und Jugendlichen spielen. So berichtet ein 24-jähriger Erzieher der Chácara,
welcher im Jahr 1993 als einer der ersten Jungen in die Chácara eingezogen war:

102
Der Koordinator Fernando de Gois erwähnte der Autorin gegenüber, was die Jungen der Chácara
sich von den dort anwesenden Erwachsenen am meisten wünschten, sei, in Momenten der Frust-
ration oder der Wut von dem drohenden Rückfall in „alte Geschichten“ und entsprechende Ver-
haltensweisen mit deren Konsequenzen abgehalten zu werden (informelle, mündliche Mitteilung,
ca. 2004).

141
Als ich auf der Strasse lebte, half ich immer den anderen Jungen, denen, die schwä-
cher waren; ich gab ihnen mehr Schutz, damit die Grösseren sie nicht schlugen und
misshandelten. (…) und weil ich bei den grösseren Jungen Einfluss hatte und gut mit
ihnen befreundet war, (…) setzte ich mich immer dafür ein, dass die anderen, grös-
seren nicht die kleineren missbrauchten oder sie bestahlen – denn sie nahmen ihnen
ihr Geld und ihre Drogen weg. Ich setzte mich immer ein, auch für die Bettler, sie
taten mir leid, und ich wollte ihnen helfen, aber ich konnte nicht, weil ich selbst auf
der Strasse war und auch Hilfe brauchte. Aber wenn ich einen Alten sah, jene kran-
ken Personen, die um Almosen bettelten, dann schockierte mich das immer. Und
auch in der Favela hatte ich dies schon, als ich zu Hause war. Ich ging mit fünf Jah-
ren von zu Hause weg wegen des Elends. Wir waren wirklich sehr arm, wir hunger-
ten sogar, und ich kannte diese Dinge. Dann ging ich auf die Strasse, und dort [ist es
nochmals] ein anderes Leben, dort siehst Du viel Ungerechtigkeit, viel Leiden, und
daran wächst Du auch, Du setzt dich dafür ein, zu helfen … meine Solidarität wuchs
so beträchtlich. (Interview, 6. Mai 2003)

Wie weit diese Solidarität gehen kann, zeigt die Geschichte eines Mädchens der
Strasse, welche in einem Interview von einer der Begründerinnen der Chácara
erzählt wird:

Zum Beispiel gab es ein Mädchen, das wir auf der Strasse kennen gelernt hatten,
sein Name war B. Ich glaube, sie war neun Jahre alt und übersiedelte auf die Strasse,
und wir sorgten uns um sie (…). Sie war ein gutes Mädchen, sie war nicht von Ab-
scheu getrieben, sie war nicht gewalttätig und nahm keine Drogen. Sie war erst vor
kurzem auf die Strasse gegangen, und wir wollten wissen, weshalb sie auf die Stras-
se gegangen war. Der Vater war weggegangen, und die Mutter hatte einen anderen
gefunden, und sie hatte ein querschnittgelähmtes kleines Schwesterchen. Eines
Nachts wachte sie auf und sah, wie der Stiefvater Verkehr mit dem [kleinen] Mäd-
chen hatte, und so ging sie nie mehr nach Hause zurück. Dies schockierte sie sehr,
und sie fing an, zu stehlen und das Geld nach Hause zu bringen. Sie tat das Geld in
ein Stück Papier, auf das sie geschrieben hatte: „Dies ist, um Milch für das Baby zu
kaufen“, und schob es unter der Tür hindurch. (Interview, 26. April 2004)

Der Autorin sind auch mehrere Fälle bekannt, in denen Kinder oder Jugendliche
trotz teils drastischer Folgen für das eigene Wohlergehen zugunsten eines ande-
ren auf einen Platz in einem Projekt verzichteten mit der Bemerkung, dieser habe
den Platz nötiger als sie. Sie kennt zudem Fälle, in denen Kinder und Jugendli-
che der Strasse Geschwistern, Verwandten oder Freunden im eigentlichen Sinne
das Leben gerettet haben.

142
4.2 Handlungsbasis

Es war nicht nur eine Analyse der Situation und der Eigenschaften der Kinder
und Jugendlichen auf der Strasse und der gesellschaftlichen Rahmenbedingun-
gen, welche in dieser Phase der Organisation noch vor der Gründung der
Chácara stattfand. Der Prozess der Kontaktnahme auf der Strasse und der daran
anschliessenden, mehrjährigen Arbeit muss auch als Aufbau und Entwicklung
der Handlungsbasis verstanden werden, aufgrund derer später eine weiterführen-
de, konkrete Initiative – die Chácara – aufgebaut werden sollte. Die in Kapitel
4.1.2 beschriebenen Aktivitäten können vier verschiedenen Aspekten der Bil-
dung dieser Handlungsbasis zugeordnet werden:

ƒ Der Stärkung und Entwicklung der Fähigkeiten und Kenntnisse der Gruppe
der Strassenarbeit.
ƒ Der Aktivierung der Kinder und Jugendlichen und dem Aufbau einer ge-
meinsamen, solidarisch interagierenden Gruppe.
ƒ Der Stärkung und Entwicklung der Kinder und Jugendlichen sowie von
ihren Fähigkeiten.
ƒ Der Willensbildung und Vorbereitung zur Lancierung einer konkreten,
weiterführenden Initiative.

Es konnte keine organisationspsychologische Studie gefunden werden, welche


sich mit der „Organisation vor der Organisation“ beschäftigt. Dies mag unter
anderem daran liegen, dass sich die meisten Studien mit bereits bestehenden
Wirtschaftsbetrieben beschäftigen, sowie damit, dass die Menschen in solchen
Betrieben als „Ressource“ verstanden werden, das heisst, nicht als eigentliche
Träger und Betreiber der Firma. Entsprechend entsteht der Eindruck, es werde
eine organisationale Struktur konzipiert (die Frage von wem oder weshalb spielt
kaum eine Rolle), welche dann mit Menschen gefüllt werde. Es ist sicher kein
Zufall, wenn sich in der Folge psychologische und betriebswirtschaftliche Unter-
suchungen sowie Managementstudien mit Fragen der Identifikation der Mitar-
beitenden mit der Firma und ihrer Motivation, für diese zu arbeiten, beschäfti-
gen. Der Aufbau der Handlungsbasis der Chácara suggeriert, dass eine aus einer
Bürgerinitiative herauswachsende Institution den umgekehrten Verlauf nimmt
oder nehmen kann: dass sie nämlich zuerst eine aus bestimmten Personen gebil-
dete, lernfähige, motivierte und auf eine bestimmte Art funktionierende Gruppe
ist, welche dann institutionelle Strukturen und Prozesse aus sich heraus und um
sich herum gestaltet. Entsprechend ist es möglicherweise kein Zufall, dass im
Umfeld von Basisorganisationen die Frage der angemessenen Gestaltung von

143
organisationalen Strukturen und Prozessen sowie der Institutionalisierung häufig
betont wird.
Da keine Beschreibung einer organisationalen „Vor-Phase“ bekannt ist, soll
hier auf die einzelnen Aspekte dieses Abschnitts im Aufbau der Organisation
Chácara etwas näher eingegangen werden.

4.2.1 Stärkung und Entwicklung von Kenntnissen und Praxis

Die erwachsenen und jugendlichen Mitglieder der Gruppe, welche mit den Kin-
dern und Jugendlichen auf der Strasse arbeiteten, hatten zuvor im Rahmen der
Bürgerbewegung in der Vila Lindóia eine ähnliche Arbeit erlebt. In diese waren
sie jedoch selbst als Zielgruppe involviert gewesen. Nun nahmen sie neu die
Rolle der Initianten und Koordinatoren an einem neuen Ort und gegenüber einer
neuen Zielgruppe ein.
Die bisher in diesem Kapitel aufgeführten Zitate über das Kennenlernen und
die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen auf der Strasse erwähnen alle Er-
fahrungen, die in der Praxis gemacht, und Erkenntnisse, die dabei gewonnen
wurden. Es scheint jedoch, dass die Gruppe sich über das unmittelbar Erlebte
hinaus bewusst war, sich in einem Lernprozess zu befinden, und dass sie diesen
aktiv gestaltete. So wurden zum Beispiel nach jedem Aufenthalt auf der Strasse
ganz im Sinne von Freires (1973) „Bewusstmachung“103 positive und negative
Erlebnisse und Erfahrungen diskutiert:

Die Reflexion über das Erlebte gehört regelmässig zur Praxis der Gruppe: darüber,
wie jeder sich gefühlt hat, über Schwierigkeiten und über neue Wege. (Miranda &
Stoltz, 1999, S. 13)

Das Erlebte und Wissen des Einzelnen wurde so zu explizitem, diskutiertem,


konsolidiertem und damit nutzbarem Wissen in der Gruppe in einem Vorgehen,
das sowohl an Supervision als auch an einen Ablauf von Handlung, Evaluation,
Planung und erneuter Handlung erinnert. Im Sinne eines „Lernens an der Praxis“
und „Lernen Lernens“ konnten Wissen und Praxis so laufend überprüft und wei-
ter entwickelt werden.

103
Conscientização.

144
4.2.2 Aktivierung der Kinder und Jugendlichen und Aufbau einer gemeinsamen,
solidarisch interagierenden Gruppe

Ein wichtiges Element der Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen auf der
Strasse war deren Aktivierung und die Bildung einer gemeinsamen, solidarisch
zusammenarbeitenden Gruppe aus ihnen und den Personen der Initiantengruppe
der Gemeinde Profeta Elias. In einem ersten Schritt war es den Mitgliedern der
Gruppe der Strassenarbeit wichtig, dass sich die Kinder und Jugendlichen selbst
für eine Verbesserung der eigenen Situation engagierten, anstatt in eine Haltung
von Almosen-Empfängern zu verfallen. Wie eine solche, von Gemeinsamkeit
und gegenseitiger Solidarität geprägte Beziehung zustande kam, schildern Mi-
randa und Stoltz (1999) aufgrund der Erzählungen von damals Beteiligten:

Einmal hatten die Erzieher104 Schwierigkeiten, das Geld zusammenzubringen, wel-


ches sie für das Busticket brauchten, um am Sonntag zur Strassenarbeit zu gehen.
Sie versammelten sich und beschlossen, dass sie in den Quartieren und im Stadtzen-
trum Papier sammeln würden, um dieses Problem zu lösen, aber auch, um die Reali-
tät der Kinder der Strasse und der Armensiedlungen, welche dank Abfall überleben,
besser zu erfühlen. Die Gruppe ging jede Woche mit zwei Holzwagen los, und das
Geld des Papierverkaufs wurde für das Notwendige aufgespart. Als die Kinder der
Strasse davon hörten, glaubten sie es nicht, aber dann gingen sie in die Gemeinde
[Vila Lindóia/Profeta Elias] und sahen, wie die Erzieher mit den Wagen loszogen.
Da zeigten sie sich solidarisch (denn die Gruppe brachte ein Opfer, um ihnen helfen
zu können) und vereinbarten ein Treffen mit der Gruppe im Stadtzentrum, um ge-
meinsam Papier sammeln zu gehen. (S. 20)

Zum Engagement der Kinder und Jugendlichen der Strasse trug wohl auch bei,
dass die Gruppe aus der Gemeinde Profeta Elias ihnen in schwierigen und ge-
fährlichen Situationen beistand und diese zum Teil mit ihnen zusammen durch-
litt, so zum Beispiel bei Bedrohung und Misshandlung durch Polizisten. Die
bereits zitierte Frau berichtet dazu:

Wir wurden von den Polizisten angegangen; manchmal nahmen sie uns die Musik-
105 106
instrumente weg, liessen uns alle an die Wand stehen , und manchmal hatte es
Oberschichtskinder gleich neben uns, die Haschisch rauchten, und [die Polizisten] un-
ternahmen nichts, aber sie nahmen sich die Jungen [der Strasse] vor, die mit uns zu-

104
Mit der Zeit übernahmen die Gruppenmitglieder die Bezeichnung "Erzieher" bzw. "Strassen-
erzieher" (educador de rua). Zu Rolle und Tätigkeiten von Strassenerziehern siehe zum Beispiel
Graciani (1999).
105
Sie wurden im Kontakt mit den Kindern verwendet.
106
In der „Durchsuchungsposition“: Gesicht gegen die Wand, ausgebreitete Arme und gespreizte
Beine.

145
sammen waren und Leim schnüffelten, und manchmal auch anderes. Und [die Polizis-
ten] kamen und gingen uns an, entrissen den Jungen den Leim, warfen ihn auf den Bo-
den, gaben den Jungen manchmal vor unseren Augen Fusstritte. (Interview, 26. April
2004)

Die Annahme, dass den Kindern und Jugendlichen auf der Strasse nur geholfen
werden könne, wenn sie willens und in der Lage seien, sich selbst zu helfen,
wurde von den Gruppenmitgliedern der Gemeinde Profeta Elias auch direkt
angesprochen. Dieselbe Frau erzählt zum Beispiel:

Sie [die Kinder] fingen an, mehr Vertrauen zu uns zu haben, und begannen, an den
Märschen in der Gemeinde [Vila Lindóia/Profeta Elias] teilzunehmen, an den Pro-
zessionen und Demonstrationen, und so fingen wir an, das Thema Religion etwas
mit ihnen aufzunehmen. Am Anfang gab es einige, die empört waren: „Wie können
wir auf Gott zählen? Wenn Gott liebt und so sehr unser Bestes will, weshalb befin-
den wir uns dann in dieser schändlichen Lage?“ So gab es einige, die empört waren.
Da sagten wir: „Nein, wir müssen auf die Hilfe Gottes zählen, darauf vertrauen, dass
[die Dinge] bald besser werden, aber wir müssen auch unseren Teil dazu tun. Es ist
nicht so, dass Gott allein seinen Teil tun soll (...), auch wir müssen unseren Teil
tun.“ (Interview, 26. April 2004)

Der spätere Koordinator der Chácara, Fernando de Gois, lebte und schlief in
dieser Zeit teilweise auf der Strasse, um die Strassenkinder besser beobachten
und kennen lernen zu können. Er berichtet in einem Interview:

Antwort: Schau, die grösste Herausforderung war die Gewalttätigkeit der Polizei, die
Misshandlungen; die Drogen weniger, aber die grösste Herausforderung war die
Gewalt. Ich erinnere mich gut, dass zu einer Zeit, als die [Nationale Strassenkinder-]
Bewegung viel Arbeit machte, V. gefangen genommen wurde, und im ganzen Land
wurden Strassenkinder exterminiert107, die ganze Zeit, auch hier in Curitiba; das war
auch die Zeit, in der ich gefangen genommen wurde108; es ging soviel vor sich, die
Bedrohung durch die Polizei war gross, es gab viel Gewalt.
Frage: Welchen Effekt hatte dies auf Dich als Person?
Antwort: Der Effekt, den dies hatte, war, dass ich [erkannte, dass ich] noch mehr ar-
beiten müsste. Ich war nie verängstigt wegen der Gewalt, im Gegenteil, ich weiss,
dass ich heute geboren bin und morgen sterben werde; niemand stirbt vor seiner
109
Zeit . Weißt Du, ich trug mir Sorge, aber [das Ganze] spornte mich an, mehr Din-
ge zu tun, nicht, die Situation war so schwierig, und ich hatte ja noch Schutz, aber

107
Extermínio, die organisierte „Ausrottung“ von Strassenkindern.
108
Ein Zeitungsartikel belegt diese Darstellung. Er zeigt ein Photo von Fernando, der erschöpft aus-
sieht. Der Kommentar besagt, dass dieser von Polizisten zusammengeschlagen wurde.
109
Wörtlich: am Vorabend.

146
die Strassenkinder hatten keinen. So ging ich zur Staatsanwaltschaft110, zum An-
waltsverband und zur Presse, um jegliche Art von Gewalt zu denunzieren. (Inter-
view, 20. April 2003)

Aus den hier zitierten Aussagen entsteht der Eindruck, dass die Gruppe der
Strassenarbeit vorlebte, dass Solidarität, Engagement und praktisches Handeln
für Veränderungen in sozialen Situationen verantwortlich seien (und nicht, wie
oft erwartet, materielle Mittel und der Einfluss „mächtiger“ Personen). Informel-
le Äusserungen der Kinder und Jugendlichen jener Zeit legen die Vermutung
nahe, dass diese sich besonders durch den Gedanken angesprochen und motiviert
fühlten, etwas bewirken zu können, obwohl sie nichts besassen. Dies überrascht
nicht, schliesst diese Vorstellung doch an das aktive, lebenserhaltende Verhalten
der Kinder und Jugendlichen auf der Strasse an. Obwohl der Impuls von der
Gruppe der Gemeinde Profeta Elias – also von aussen – kam, wurde eine ge-
meinsame Gruppenorganisation entwickelt, in welcher das Zielpublikum gleich-
zeitig Mit-Träger und -Besitzer der Organisation und für die eigene Entwicklung
verantwortlich war.

4.2.3 Stärkung und Förderung der Kinder und Jugendlichen

Um die Rolle als Mit-Träger der Organisation und für die eigene Entwicklung
Verantwortliche wahrnehmen zu können, mussten die Kinder und Jugendlichen
ihre Fähigkeiten einsetzen und entwickeln können. Die Gruppe der Strassenar-
beit förderte die Kinder und Jugendlichen darin so, wie sie es selbst zuvor in der
Vila Lindóia erlebt und getan hatte. Dabei oktroyierte sie nicht völlig neue Ele-
mente auf, sondern stützte sich auf bereits vorhandene Fähigkeiten und Ressour-
cen der Kinder und Jugendlichen. Die Frau, welche im Interview über die dama-
ligen Aktivitäten berichtete, sagte dazu aus:

Wir sahen, dass etwas, was die Kinder mögen, was alle mögen, die Musik ist, die
Capoeira, und deshalb fingen wir an, Musikinstrumente auf die Strasse mitzuneh-
111
men: einen Berimbau , ein Tamburin, die Mundharmonika; A. [ein Mitglieder der
Gruppe] kam mit der Mundharmonika, er spielte Tanzmusik auf der Strasse, machte
einen [richtigen] kleinen Ball; sie machten Capoeira, und viele Leute hielten an, um
zuzusehen, und die Leute applaudierten und begannen, [den Kindern] ihre Wert-
schätzung zu zeigen: „Meine Güte!! Du machst das sehr gut!“ Sie fingen an, Wert-
schätzung zu zeigen, für das, was die Jungen konnten. (Interview, 26. April 2004)

110
Ministério Público.
111
Ein einsaitiges Rhythmus- und Melodieinstrument, das für die Capoeira verwendet wird.

147
Ebenfalls wie bereits zuvor in der Vila Lindóia arbeitete die Gruppe mit Paulo
Freires Idee der Bewusstmachung von Zusammenhängen durch Diskussionen
der erlebten Praxis sowie mit Célestin Freinets Ansatz, welcher die Kinder mit
den ihnen eigenen Fähigkeiten als hauptsächliche Ressource für deren Lernpro-
zess sieht.112 Ein Beispiel hierfür lässt sich mit den Gesprächen anführen, die
jeweils anschliessend an die gemeinsamen Papiersammelaktionen stattfanden:

Die Erzieher und Kinder der Strasse machten auf diesen Wanderungen jeweils Fei-
ern auf dem Gras vor den grossen Herrenhäusern und reflektierten über die Un-
gleichheit der Gesellschaft, in der wenige viel haben und viele nichts haben und
auch noch vom Abfall abhängig sind, um zu überleben. Dabei kam auch wieder ein
Satz auf, den die Kinder und Jugendlichen der Gemeinde Prophet Elias kreiert hat-
ten: "Der Abfall der Reichen ist der Luxus der Armen"113. (Miranda & Stoltz, 1999,
S. 20–21)

Ein weiteres Beispiel waren die Besuche der Kinder der Strasse in der Vila
Lindóia, bei denen sich die Kinder und Jugendlichen im Kontakt mit den dorti-
gen Familien ihrer Bedürfnisse stärker bewusst wurden:

In der Gemeinde wurden sie freundlich aufgenommen; sie besuchten die Familien;
im einen Haus frühstückten sie, in einem anderen duschten sie und assen zu Mittag,
und sie spielten mit den Kindern, die schon in einem organisierteren Prozess stan-
den. Dies führte dazu, dass sie begannen, das Bedürfnis zu spüren, wieder eine Fa-
milie zu haben. Die Erzieherinnen und Erzieher etablierten deshalb eine Arbeit, in
der sie einige der Kinder [der Strasse] begleiteten, welche [daraufhin] zu ihren Fami-
lien zurückkehrten, und führten auch eine Reflexion darüber durch, weshalb und wie
die Familien sich auflösen (...)." (Miranda & Stoltz, 1999, S. 18)

Wie zuvor in der Vila Lindóia und in der Gruppe der Strassenarbeit wurde auch
hier von Bestehendem ausgegangen, entdeckten die Kinder und Jugendlichen
mehr von sich selbst, von ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten und wurde ein
Prozess gefördert, in welchem die Bedürfnisse der künftigen Zielgruppe der
Chácara sichtbar und explizit wurden.

112
Siehe z. B. Freire, P. (1973).
113
“O lixo do rico é o luxo do pobre.”

148
4.2.4 Vorbereitung einer konkreten Lösung

Aufgrund des bisher beschriebenen Prozesses gewannen die Gruppenmitglieder


zunehmend den Eindruck, dass sie den Kindern und Jugendlichen ein konkretes
Projekt anbieten sollten, wie Miranda und Stoltz (1999) berichten:

Im Verlauf der Arbeit auf der Strasse fühlten sich die Erzieherinnen und Erzieher oft
bedrückt, weil sie keine Antworten auf die Sorgen und Fragen der Kinder der Stras-
se hatten, die immer wieder fragten, was das Ziel der Arbeit auf der Strasse sei, ob
die Erzieherinnen und Erzieher sie von der Strasse holen würden, ob sie ein Haus für
sie finden würden und so weiter. Die Erzieherinnen und Erzieher wussten im Prin-
zip, dass die Arbeit auf der Strasse im Rahmen ihrer Gruppe anfänglich das Ziel hat-
te, die Jungen und Mädchen der Strasse zu begleiten, sich mit ihnen solidarisch zu
zeigen, die Situationen der Gewalt, welche sie auf der Strasse erlitten, anzuzeigen
und einiges zu veranlassen, um dieses und andere Probleme des täglichen Lebens
auf der Strasse zu lösen, sowie zu versuchen, mit ihnen zusammen Alternativen und
Lösungen zu finden, um die durchlaufene Marginalisierung rückgängig zu machen.
Aber die Bedrückung kam [immer] dann auf, wenn die Erzieherinnen und Erzieher
gewahr wurden, dass es nicht in Ordnung war, die Kinder und Jugendlichen auf der
Strasse immer zu begleiten, ohne ihnen ein konkretes Projekt anzubieten, das ihren
dringlichsten Bedürfnissen auf eine konkretere Weise gerecht würde. (S. 17)

Mit diesem Wunsch nach einem weiterführenden, konkreten Projekt bewegte


sich das Arbeitskonzept über die Stufe der Bewusstseinsweckung und Aktivie-
rung hinaus. Freire (1973), aber auch Graciani in ihrem Buch über die Strassen-
arbeit „Pedagogia Social da Rua“ (1999) und andere Autoren beziehen sich aus-
schliesslich auf die Phase der Bewusstseinsweckung und Aktivierung. Es sind
hingegen kaum Aussagen dazu zu finden, was geschehen solle, wenn Bewusst-
seinsweckung und Aktivierung von Kindern und Jugendlichen der Strasse einmal
erfolgt sind.
In diesem Zusammenhang muss auch die „Nationale Strassenkinderbewe-
gung“ (Movimento Nacional de Meninos e Meninas de Rua) erwähnt werden.
Diese wurde im Jahr 1985 gegründet, umfasste bald das ganze Land und widmet
sich der Bewusstseinsweckung und Aktivierung von Strassenkindern. Aufgrund
von verschiedenen informellen Gesprächen mit gegenwärtigen und ehemaligen
Mitarbeitenden und Beobachtern entsteht gut 20 Jahre nach der Entstehung die-
ser Bewegung der Eindruck, dass die Organisation kaum längerfristige, konkrete
Lösungen mit den Kindern oder für sie entwickelt hat. Einen Hinweis darauf
erhielt die Autorin im Jahr 2003 von einem etwa 17-jährigen Jungen, der seit
mehreren Jahren in einer brasilianischen Stadt von etwa 500'000 Einwohnern auf
der Strasse lebte. Dieser merkte an, dass es in seiner Stadt lediglich 7 ganz auf
der Strasse lebende Jungen gebe (eine Zahl, die vom Leiter der dortigen Nationa-

149
len Strassenkinderbewegung bestätigt wurde). Er erzählte, dass er schon lange in
einem Haus leben möchte. Die Jungen würden jedoch von der Leitung der Be-
wegung dazu angehalten, als „Militantes“ (militante Kämpfer) weiterhin auf der
Strasse zu leben.114 Es sei ihm und zwei anderen nun gelungen, hinter dem Rü-
cken der Leiter in ein Haus zu ziehen. Es ist zu hoffen, dass es sich hierbei um
einen isolierten Fall handelt. In der Einschätzung der Autorin deutet er jedoch,
wenn auch überspitzt, eine Einstellung von Personen in der Strassenarbeit mit
Kindern und Jugendlichen an, die nicht ganz selten ist.
Um herauszufinden, wie ein konkretes Projekt aussehen könnte, wandten
die damals an der Strassenarbeit Beteiligten ein Vorgehen in drei Schritten an,
wie Miranda und Stoltz (1999) aufgrund der von ihnen zusammengefassten Er-
zählungen festhalten:

ƒ Befragung der Kinder und Jugendlichen der Strasse: Die Gruppe der Vila
Lindóia/Profeta Elias sammelte sowohl während der eigenen Strassenarbeit
als auch im Rahmen einer Untersuchung des Instituts für Forschung und
Stadtplanung von Curitiba IPPUC115 über die Interessen der Präfektur hin-
ausgehende, zusätzliche Informationen über die Wünsche, die tatsächlichen
Bedürfnisse und die Vorstellungen, welche die Kinder und Jugendlichen auf
der Strasse von einer idealen Institution hatten. Im Weiteren befragten sie
Kinder und Jugendliche der Strasse von der berühmten Praça da Sé, dem
Platz vor der Kathedrale von São Paulo, und nahmen an Anlässen mit Stras-
senkindern in verschiedenen Städten teil.
ƒ Erfahrungsaustausch mit erfahrenen Praktikern: Die Gruppe baute einen
Erfahrungsaustausch mit Erzieherinnen und Erziehern auf, welche auf der
Praça da Sé in São Paulo mit Kindern und Jugendlichen der Strasse arbeite-
ten.
ƒ Einbezug von weiteren Fachleuten: Die Gruppe bezog eine Anzahl von
weiteren Fachpersonen in ihre Arbeit ein, darunter Unversitätsprofessorin-
nen (u.a. der Pädagogik und Psychologie), Studentinnen und Studenten, ka-
tholische Seminaristen und Mitglieder verschiedener Orden, Ärzte und ei-
nen jungen Staatsanwalt.

Der Zeitpunkt des Beginns der weiterführenden Arbeit – der Gründung der
Chácara – war nicht im Voraus geplant. Die Gruppe befand in einem konkreten
Moment, dass die Zeit dafür jetzt gekommen sei. Unmittelbarer Anlass dafür war

114
Dazu muss ergänzt werden, dass der Leiter der dortigen Bewegung nie auf der Strasse gelebt
hatte und mit seiner Familie in einem Haus wohnte.
115
Instituto de Pesquisa e Planejamento Urbano de Curitiba.

150
das Schicksal eines kleinen Jungen auf der Strasse, wie eine damals an der
Gruppe beteiligte Frau berichtet:

Und dann starb ein Junge auf der Strasse vor lauter Leimschnüffeln; es waren zwei
ganz kleine Brüderchen, und es war der ältere, der starb, und der Tod jenes Jungen
... rüttelte uns alle auf, vor allem uns, die wir die Jungen begleiteten, und auch die
Jungen selbst. Und der Kleine war sehr verzweifelt; was uns aufrüttelte, war die
Verzweiflung des Kleinen, denn er hatte gar keine Möglichkeit, nach Hause zurück-
zukehren, wegen der Gewalt im Haus, und so war die einzige Sicherheit, die er auf
der Strasse hatte, sein Bruder, und nun war der Bruder gestorben. Die Verzweiflung
jenes Jungen schockierte alle, sein grosses Leiden, und so sagten wir: "Wir könnten
ein Theaterstück machen, [über] den Zyklus der Marginalisierung, wo er über dem
Schwächsten zerbricht". Die Kinder und Jugendlichen der Strasse erfanden dieses
Theaterstück und fingen an, es aufzuführen, an allen Schulen, den Universitäten
[und] in den Kirchen, mit der eigentlichen Absicht [des Aufbaus] der Chácara, eines
Hauses. (Interview, 26. April 2004)

Im Jahr 1991 begannen so die Arbeiten zum Aufbau der Chácara, welche im
Oktober 1993 offiziell eröffnet werden konnte.

4.2.5 Organisationale Gemeinsamkeiten der vorbreitenden Phasen

Die Organisation Chácara entstand nicht aus dem Nichts und nicht aufgrund
einer Planung auf einem Reissbrett in einem weit von der Strasse entfernten
Büro, sondern als gut vorbereitete, zeitlich dritte Phase einer Initiative zugunsten
von benachteiligten Kindern und Jugendlichen. Diese folgte auf die erste Phase
der Gemeindearbeit in der Vila Lindóia und die zweite Phase der Arbeit von
jugendlichen und erwachsenen Mitgliedern der Gemeinde Profeta Elias der Vila
Lindóia mit den Kindern und Jugendlichen auf der Strasse. Bei beiden Vorgän-
geraktivitäten ging es, wie später auch bei der Chácara, darum, ein Segment der
„Erwachsenengesellschaft“ aufzuschliessen und den Kindern und Jugendlichen
die Möglichkeit zu geben, sich dieser Organisation ihrerseits zu öffnen, damit
gemeinsam konkrete Lösungen für ihr Leben und ihre Entwicklung erarbeitet
werden konnten. Dazu sollten die Kinder und Jugendlichen mit ihren Fähigkeiten
beitragen und so auch selbst Verantwortung übernehmen. Es waren jeweils die
Beteiligten und die Zielgruppe des früheren Prozesses, welche den neuen Prozess
zusammen mit der neuen Zielgruppe gestalteten. Die zwei Phasen oder Prozesse
„Vila Lindóia“ und „Arbeit auf der Strasse“ weisen trotz jeweils unterschiedli-
chem Umfeld grosse Ähnlichkeiten auf:

151
ƒ Zielpublikum: Sowohl bei der Gemeinde- als auch bei der Strassenarbeit
besteht das Zielpublikum aus von der Gesellschaft ausgeschlossenen, von
den öffentlichen Institutionen vernachlässigten und zum Teil verfolgten
Personen, die sehr arm sind und kaum über formale Bildung verfügen.
ƒ Ziel: In beiden Fällen besteht das Ziel darin, diese Menschen zu befähigen,
ihr Bewusstsein von Rechten und sozialen Zusammenhängen sowie ihre
Organisation zugunsten eines eigenständigen Lebens zu fördern.
ƒ Ressourcen: Wichtigste Ressource ist jeweils das Zielpublikum selbst mit
seinen Fähigkeiten und Potentialen; weitere Ressourcen werden über ein
Netzwerk gewonnen, das sich in alle Gesellschaftsschichten hinein er-
streckt. Spiritus rector für den Aufbau und die Koordination der Gruppen ist
dieselbe Person, Fernando de Gois, ein ehemaliger Karmeliter-Mönch aus
armen Verhältnissen mit Universitätsabschluss. Materiell kommen beide
Prozesse mit sehr wenig aus.
ƒ Ablauf: Bei beiden Initiativen geht es zuerst um ein respektvolles Kennen-
lernen der Zielgruppe. In einem zweiten Schritt werden aufgrund von deren
Fähigkeiten und Bedürfnissen gemeinsam Aktivitäten zur Förderung ihrer
Potentiale und zur Bewusstwerdung von sozialen Zusammenhängen einge-
leitet, mit einem starken Fokus auf Solidarität und Übernahme von Verant-
wortung nicht nur für das eigene Leben, sondern auch gegenüber der
Gesellschaft. In einem ständigen Zyklus von Evaluationen („Reflexionen“
genannt) definiert die Gruppe Ziele, zu deren Erreichung sie sich immer
mehr organisiert. Auffällig ist, dass diese Reflexionen sehr stark an der Pra-
xis orientiert und in diese integriert sind, so sehr, dass ihnen über eine Form
des intellektuellen Lernens hinaus der Charakter einer gemeinschaftlichen,
real ablaufenden Sozialisierung zugeschrieben werden kann.
ƒ Resultate: Beide Initiativen sind auf langfristige Entwicklung ausgerichtet,
bestehen aber aus vielen kleinen Schritten, die immer wieder zu konkreten,
positiven „Resultaten“ führen, welche in der Folge Anerkennung und Un-
terstützung aus der weiteren Gesellschaft anziehen.

Die Organisation Chácara entstand so im Jahr 1993 als Fortsetzung eines Kon-
zeptes, welches während mehr als neun Jahren durch „von der Gesellschaft aus-
geschlossene“ Kinder, Jugendliche und Erwachsene entwickelt und erprobt wor-
den war. Diese verfügten über keine oder nur sehr geringe formelle Schulbildung
und hatten kaum finanzielle und materielle Ressourcen. Sie erfuhren jedoch die
Unterstützung des Koordinators Fernando de Gois und der bereits in Organisati-
on erprobten Mitglieder der vorhergegangenen Initiativen sowie eines wachsen-
den Netzwerkes von engagierten Fachpersonen. Dies trug dazu bei, dass sie ihre

152
eigenen Bedürfnisse und Möglichkeiten erkennen und Aktivitäten in ihrem Sinne
und zu Gunsten der ihnen vorschwebenden Ziele entfalten konnten.
In den nächsten Kapiteln soll nun auf die Definition der Zielgruppe, die Ge-
staltung der Ziele und der dazu gegründeten Organisation Chácara näher einge-
gangen werden.

4.3 Zielgruppe und Ziele

Aufgrund der bereits erwähnten Situationsanalyse und der Bildung, Mobilisie-


rung und Entwicklung einer Gruppe, welche Strassenkinder in verschiedenen
Situationen umfasste, definierten die Beteiligten nun, welcher Zielgruppe die
Chácara dienen sollte. Daraufhin formulierten sie die Ziele des Projektes auf der
Basis von Erkenntnissen und Bedürfnissen, welche sich im Verlauf der Strassen-
arbeit gezeigt hatten. Hier nun eine Übersicht über die Zielgruppe und die Ziele
der Chácara.

4.3.1 Zielgruppe und Aufnahmekriterien

Bei der Definition der Zielgruppe der Chácara wurde vor allem von den Erfah-
rungen der Strassenarbeit und der im Jahr 1993 durchgeführten Studie ausgegan-
gen (Gomide, 1995). Es wurde beschlossen, die am stärksten gefährdeten Kinder
und Jugendlichen auf der Strasse anzusprechen. Dies führte zur Aufnahme von
„Kindern und Jugendlichen der Strasse“, also von Personen, welche ganz auf der
Strasse lebten. Innerhalb dieser Gruppe wurden Jungen im Alter von 6 bis 18
Jahren aus Curitiba und Region ausgewählt, welche freiwillig bereit waren, sich
an der Chácara zu beteiligen. Die folgenden Abschnitte geben Einblick in die
Charakteristika der Zielgruppe.

4.3.1.1 Kinder und Jugendliche der Strasse

Die von Gomide (1995) im Jahr 1993 zusammen mit Mitgliedern der Gruppe der
Strassenarbeit der Vila Lindóia/Gemeinde Profeta Elias durchgeführte Studie
hatte ergeben, dass es in Curitiba insgesamt 243 Kinder und Jugendliche gab,
welche im Rahmen der von Gomide verwendeten Unicef-Definition von 1985
als Kinder und Jugendliche der Strasse zu bezeichnen waren:

153
Kinder der Strasse sind alle Jungen und Mädchen, für welche die Strasse (im weite-
ren Sinne des Wortes, also unbewohnte Häuser und leer stehende Grundstücke ein-
schliessend) zur gewohnten Wohnstätte und/oder Quelle des Überlebens geworden
ist, und die nicht über Schutz, Betreuung oder Anleitung einer verantwortlichen er-
wachsenen Person verfügen. (Unicef-Definition von 1985, zitiert in Gomide 1995,
S. 6)

Zum Zeitpunkt der Gründung der Chácara gab es wenige oder gar keine Organi-
sationen in Curitiba, welche Kindern und Jugendlichen, die ganz auf der Strasse
lebten, eine längerfristige Aufnahme und Perspektive boten. Die Autorin hörte in
den Jahren ihrer Tätigkeit auch wiederholt die von Mitarbeitenden anderer Orga-
nisationen oder von Sozialbehörden vertretene Ansicht, bei solchen Kindern und
Jugendlichen, welche ganz auf der Strasse lebten, „sei Hopfen und Malz verlo-
ren“ und bestehe keine Hoffnung mehr. Bei einem Besuch im Jahr 1997 in einer
Organisation, welche im Nordosten des Landes gemäss eigener Aussage „Stras-
senmädchen“ tagsüber spielerische Aktivitäten anbot, stellte sie fest, dass von
etwa 40 Mädchen, welche jeden Tag in die Institution kamen, nur ein einziges
wirklich auf der Strasse lebte oder gelebt hatte. Obwohl dieses Mädchen mit
seiner Lebhaftigkeit, seinem Interesse und seiner Intelligenz aus der Gruppe
herauszuragen schien (und von den anderen auch als eine Art „Anführerin“ be-
handelt wurde), wurde der Autorin auch hier von den Projektverantwortlichen
beschieden, bei Jugendlichen mit „einer solchen Geschichte“ gebe es „keine
Hoffnung auf ‚Besserung’“. Es ist ihr seither aufgefallen, dass viele lokal oder in
der internationalen Entwicklungszusammenarbeit als „Strassenkinderprojekte“
bezeichnete Organisationen bei näherem Besehen nicht mit Kindern auf der
Strasse arbeiten, sondern Präventionsarbeit leisten mit Kindern, welche zu Hause
leben, aber gefährdet sind, auf die Strasse zu gehen. Die Gruppe der Kinder und
Jugendlichen, welche ganz auf der Strasse leben, wird von vielen sogenannten
Strassenkinderprojekten nicht aufgenommen, obwohl diese dem grössten Risiko
an Leib und Leben unterworfen ist.
Es ist diese am wenigsten geschützte, den grössten existentiellen Gefahren
ausgesetzte Gruppe von Kindern und Jugendlichen auf der Strasse, welche ge-
mäss den Statuten aus dem Jahr 1995 in der Chácara aufgenommen wird. Bei
besonderer individueller Gefährdung werden zudem auch Kinder und Jugendli-
che aufgenommen, welche noch in einem familiären Umfeld leben, jedoch be-
reits kürzere oder längere Phasen ohne Begleitung durch verantwortliche Er-
wachsene auf der Strasse verbringen, wo sie arbeiten, betteln oder stehlen. In
einzelnen Fällen werden im Weiteren Kinder aufgenommen, die sich noch kaum
der Strasse angenähert haben, aber extremer Vernachlässigung oder Misshand-
lung ausgesetzt sind. Im Zweckartikel der Statuten werden die Mitglieder der
Zielgruppe als „Jungen und Mädchen der ‚Klassen des (einfachen) Volkes‘

154
(‚classes populares) und zwar vor allem diejenigen der Strasse“ umschrieben
sowie als „Kinder und Jugendliche, welche sich in Risikosituationen116 befinden
und/oder verlassen117 sind“.

4.3.1.2 Jungen

Die Chácara nimmt nur Jungen auf. Als hauptsächlicher Grund dafür wird von
Mitgliedern der Chácara die von Gomide koordinierte Studie von 1993 genannt,
welche ergab, dass wesentlich weniger Mädchen (30) als Jungen (214) auf der
Strasse lebten.118
Die Initianten und Initiantinnen der Chácara hatten vor deren Gründung in
der Vila Lindóia, einer Favela in Curitiba, Gemeindearbeit mit Kindern und
Jugendlichen beider Geschlechter geleistet sowie auf den Strassen von Curitiba
mit Jungen und Mädchen gearbeitet. Da sie diese Vorgängeraktivitäten zunächst
aufrecht erhielten und auch die Absicht hatten, in einer späteren Phase der
Chácara zusätzlich zu den Jungen Mädchen aufzunehmen, nannten sie ihre Or-
ganisation "Pädagogische Stiftung Jungen und Mädchen [Hervorhebung der
Autorin] der Strasse Profeta Elias". Sie kamen letztlich jedoch zum Schluss, dass
weder den Mädchen noch den Jungen gedient sei, wenn aufgrund der geringen
Zahl auf der Strasse lebender Mädchen einzelne von ihnen in eine Gruppe von
zwanzig oder mehr Jungen eingegliedert würden, zumal sie aus der Arbeit auf
der Strasse wussten, dass die meisten Kinder und Jugendlichen beider Ge-
schlechter bereits sexueller Gewalt und/oder Prostitution ausgesetzt gewesen und
deshalb in Bezug auf das andere Geschlecht verunsichert sind. So gehen sie
davon aus, dass sich Jungen und Mädchen auf der Strasse je in einer geschlechts-
spezifischen Lage mit geschlechtsspezifischen Bedürfnissen befinden119. Dazu
wieder der Koordinator Fernando de Gois:

Und mit den Mädchen, die auf den Strassen sind, ist es viel schwieriger, zu arbeiten,
als mit den Jungen; Du kannst es sehen, sogar die religiösen Gemeinschaften ent-
scheiden sich für die Jungen und nicht für die Mädchen. Warum? Weil, wenn das
Mädchen auf die Strasse geht, dann hat es gewöhnlich schon alles verloren, es wur-
de vom Vater, Stiefvater oder anderen vergewaltigt, und es geht total zerstört [auf

116
„Situação de risco“.
117
„Situação de abandono“.
118
Siehe auch Kapitel 4.1.2.1.
119
Die Autorin teilt diese – im Rahmen der vorliegenden Forschung nicht vertieft untersuchte –
Einschätzung aufgrund ihrer eigenen Anschauung bei Besuchen in gemischt-geschlechtlichen
Sozialprojekten und Unterkünften für Jugendliche der Strasse sowie von ihr von Jugendlichen
beider Geschlechter zugetragenen anekdotischen Beispielen.

155
die Strasse], und wenn es auf die Strasse geht und gar nichts mehr zu verlieren hat,
dann ist der Grad der Zurückweisung und der Gewalt dieses Mädchens [gegenüber
der Gesellschaft] sehr hoch. (Vortrag Uniandrade, 22. April 2004)

Er illustriert diese Einschätzung mit einer Anekdote:

Einmal machten wir ein Treffen, da gab es Jungen und Mädchen der Strasse. Die
Jungen kamen in der Gemeinde [Vila Lindóia] an, duschten, wuschen ihr Haar, ver-
wandelten sich, und die Mädchen taten dasselbe, sie gingen und machten sich schön.
Die Jungen [aber] schlossen die Mädchen aus und gingen mit den Mädchen der Ge-
meinde flirten, und riefen erstere mit Namen wie „Piranha“ (Hure), mit jenen [ab-
schätzigen] Namen, die alle Leute für ein Mädchen verwenden. Dabei lebten diese
[Mädchen der Strasse] ja mit den Jungen der Strasse. Es ist, was man von den Män-
nern sagt: „Er schüttelt das Hemd, und alle Flecken fallen heraus“, aber die Frau
bleibt für den Rest ihres Lebens gezeichnet. So nahmen sich die Jungen der Strasse
ihre Freundinnen aus der Gemeinde, und die Mädchen wurden ausgeschlossen, und
am Ende des Treffens nahmen sie [die Mädchen der Strasse] Steine, Messer, und
wollten die Mädchen [der Gemeinde] töten. Sie sagten: „Dies sind die letzten Män-
ner, die wir haben, und ihr wollt sie uns stehlen.“
Da versammelten wir alle und redeten darüber, und der Schmerz dieser Mädchen
war so gross, stellt euch vor, sie waren schon so zurückgewiesen, wie man es nur
sein kann, wenn man auf der Strasse lebt. Auf die Strasse flüchten sie vor der Ge-
walt zu Hause. Sie kommen auf der Strasse an und erfahren von der Polizei Gewalt,
das Verhalten der Polizei den Jungen und Mädchen gegenüber ist aggressiv, geprägt
von Respektlosigkeit gegenüber den Mädchen. Und in den Unterschlüpfen [auf der
Strasse] zwingen die Jungen die Mädchen die Wäsche zu waschen, sie reproduzie-
ren, was sie von zu Hause kennen; sie müssen das Essen für die Jungen machen,
müssen Sex machen, wenn die Jungen es wollen, ihre Turnschuhe reinigen. So ist es
schwierig für die Jungen auf der Strasse, aber für die Mädchen ist es noch schwieri-
ger, es ist sehr kompliziert. (Vortrag Uniandrade, 22. April 2004)

Auch wenn in der Chácara selbst keine Mädchen der Strasse aufgenommen wer-
den, so wird doch der Kontakt mit einigen anderen Institutionen gepflegt, welche
Mädchen aufnehmen, und werden in einzelnen Fällen Mädchen dorthin vermit-
telt120.
Mitglieder der Chácara und anderer Institutionen sowie auch die Autorin
selbst haben etwa seit dem Jahr 2002 auf der Strasse den Eindruck gewonnen,
dass mehr und auch jüngere Mädchen ganz auf den Strassen von Curitiba leben
als in den 1990er Jahren. Die Mitarbeitenden der Chácara zeigen sich darüber
120
Gemäss der Auskunft des Projektkoordinators der Chácara gibt es jedoch eine noch geringere
Anzahl von angemessenen und nachhaltigen Angeboten für Mädchen als für Jungen, und noch
weniger Frauen (die es in erster Linie brauchen würde) und Männer, die bereit sind, mit Mäd-
chen zu arbeiten, als solche, die sich für Knaben engagieren.

156
sehr besorgt und haben der Autorin gegenüber wiederholt geäussert, etwas für
diese Mädchen tun zu wollen. Sie sind der Meinung, dass man im Fall der Mäd-
chen wiederum auf die Strasse gehen, sie in ihrer Eigenart und ihren Bedürfnis-
sen kennen lernen und mit ihnen zusammen eine neue Projektidee erarbeiten
müsste, wie dies beim Aufbau der Chácara für die Jungen geschehen war. Bisher
fehlt es aber an Ressourcen (vor allem Zeit), die es den Chácara-Mitgliedern
ermöglichen würde, diese Anstrengungen zu leisten. Einer der ersten im Jahr
1993 in die Chácara eingetretenen Jungen hat nach einigen Jahren der Arbeit als
Erzieher in der Chácara im Jahr 2004 begonnen, ein Projekt in einer Favela auf-
zubauen, welches weniger als 14 Jahre alten, noch bei ihren Familien lebenden
Kindern Freizeitbeschäftigung und Aufgabenhilfe anbietet und versucht, sie
dabei zu unterstützen, nicht auf die Strasse zu gehen. In diesem Rahmen ist es
ihm möglich, in einer Gruppe von bisher etwa 30 Kindern hälftig Mädchen und
Jungen aufzunehmen.

4.3.1.3 Alter

Im bereits zitierten Zweckartikel der Statuten der Chácara wird erwähnt, dass
Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 6 und 18 Jahren sowie in Ausnahme-
fällen Kinder, welche jünger als 6 Jahre sind, aufgenommen würden. Die obere
Altersgrenze entspricht dem brasilianischen Kinderrechtsstatut121, welches Per-
sonen im Alter von weniger als 14 Jahren als Kinder definiert, Personen zwi-
schen 14 und 17 Jahren als Jugendliche und Personen, welche 18 Jahre oder älter
sind, als Erwachsene. Die Mitglieder der Chácara legen Wert darauf, dass Ju-
gendliche nicht einfach mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres aus der Chácara
weggewiesen werden, mit dem Hinweis, dass „man dies bei einem eigenen Kind
ja auch nicht tun würde“.122

4.3.1.4 Herkunft

Mit einigen wenigen Ausnahmen nimmt die Chácara Jungen auf, welche in der
Stadt Curitiba und Agglomeration sowie in der an diese angrenzende Stadt São
José dos Pinhais auf der Strasse lebten und in den meisten Fällen auch aus dieser
Region stammen bzw. dort Verwandte haben. Mitglieder der Chácara betonen,
dass die Kinder und Jugendlichen sich nicht allzu weit von ihren Verwandten

121
Estatuto da Criança e do Adolescente ECA, siehe www.eca.org.br/ecai.htm, 24.7.2004. Kom-
mentierter Text in Originalsprache: Cury, Amaral e Silva & Mendez, 1992.
122
Wiederholt gehörte Aussage des Projektkoordinators und weiterer Mitglieder der Chácara.

157
entfernt aufhalten sollten, damit der Kontakt zwischen Kindern und Verwandten
sowie Sozialarbeit mit beiden möglich sei123. Im Kontrast dazu erinnert sich die
Autorin an eine Sitzung mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Institu-
tionen für Kinder aus armen Verhältnissen, an der sie etwa im Jahr 1998 in Curi-
tiba teilnahm. An dieser erwähnte eine Nonne, in ihrer kirchlichen Organisation
gebe es eine hohe Mauer, damit die dort lebenden Mädchen nicht mit den
schlechten Einflüssen der Aussenwelt in Berührung kämen, und entsprechend
werde ihnen auch der Kontakt mit ihren Verwandten und allem, was an ihr frühe-
res Leben erinnere, verboten.124

4.3.1.5 Freiwilligkeit

Anders als dies in den meisten anderen Organisationen der Fall ist, halten sich
die Jungen freiwillig in der Chácara auf. Entsprechend ist in den Statuten der
Chácara festgehalten, dass nur Kinder und Jugendliche aufgenommen werden,
welche durch die Vermittlungs- und Vorbereitungsarbeit der eigenen Strassener-
zieher (darunter ehemalige Strassenkinder) an diese gelangen. Kinder, welche
ohne vorgängige Arbeit und gegen ihren eigenen Willen von der Polizei, Ver-
wandten oder Sozialbehörden zur Chácara gebracht werden, werden dort nicht
aufgenommen.

4.3.2 Ziele

In der Phase der Strassenarbeit vor Beginn der Chácara, in den Gesprächen mit
den Kindern und den Jugendlichen der Strasse, aber auch über den Austausch
innerhalb des entstandenen Netzwerks von Fachleuten war zunehmend die Idee
einer konkreten Alternative für die Kinder und Jugendlichen entstanden. Die
Chácara sollte als erstes von möglicherweise künftig mehreren Projekten einer
Stiftung gegründet werden. Dafür mussten bereits vorgängig Statuten vorliegen,
in denen unter anderem Stiftungszweck und -ziele festgehalten waren. Aufgrund
ihrer Analyse der Lebenssituationen, Bedürfnisse und Stärken der Jungen auf der
Strasse formulierten Mitglieder der Gruppe der Strassenarbeit deshalb die Ziele
der künftigen Organisation unter Beizug sowohl der Jungen als auch erfahrener
Praktiker und weiterer Fachleute. Nach der Errichtung der Organisation kam es
dann zu einer stetigen weiteren Spezifizierung der Ziele. In der Folge sollen nun
die Resultate der Analysen zu Zielkonzept und Zielen der Organisation Chácara
123
Informelle, mündliche Mitteilungen.
124
Informelle, mündliche Mitteilung.

158
dargestellt werden, ebenso wie die Erkenntnisse zu den Zusammenhängen und
Abstimmungen zwischen den Zielen der Organisation und den individuellen
Zielen der betreuten Jungen.
Die Statuten der Stiftung haben sich seit Gründung der Chácara nicht sub-
stantiell verändert125. In ihnen wird festgestellt, dass die Ziele der Stiftung so-
wohl nicht profitorientiert als auch philanthropisch seien. Der Zweckartikel lau-
tet wie folgt:

Jungen und Mädchen126 der „Klassen des einfachen Volkes“ („classes populares“)
und vor allem denjenigen der Strasse ganzheitliche Unterstützung und Erziehung zu
gewähren, in einem partizipativen und befreienden Prozess, der sie zu Protagonisten
ihrer eigenen Förderung macht.

Das hauptsächliche Ziel der Chácara ist es also, die Kinder und Jugendlichen zu
„Protagonisten ihrer eigenen Förderung zu machen“127. Es war jedoch bis zum
Ende der Feldforschung in der Chácara noch kein Schriftstück erstellt worden, in
welchem dieses Ziel explizit und detailliert definiert worden wäre. Deshalb wur-
de im Rahmen der Datenanalyse nach indirekten Beschreibungen von Zielen
gesucht, aus denen das Konzept, welches diesen zugrunde liegt, abgeleitet wer-
den könnte. Solche Beschreibungen fanden sich bei der Analyse des Jahresbe-
richts 2004. Die dort aufgeführten Beschreibungen der durchgeführten Aktivitä-
ten enthalten auch Hinweise auf die Komponenten des Ziels „Protagonisten ihrer
eigenen Förderung“ sowie auf die Inhalte der Aktivitäten der „ganzheitlichen
Unterstützung und Erziehung“ sowie auf die Aspekte, welche den Prozess der
Organisation zu einem „partizipativen und befreienden“ machen. Die beiden
letzteren Aspekte werden in den Kapiteln 4.4 und 4.5 behandelt, während nach-
folgend der Fokus auf der Auswertung der Hinweise zum Ziel „Protagonisten
ihrer eigenen Förderung“ liegt.
Bei der Analyse des Jahresberichts 2004 wurden all jene Erwähnungen als
„Ziele“ verstanden, bei denen es um etwas ging, das die Jungen erlernen, erwer-
ben oder zukünftig erhalten sollten. Es sind insgesamt 45 Textstellen, bei denen
eine Absicht bzw. ein Ziel in Zusammenhang mit bestimmten Aktivitäten oder
allein stehend erwähnt wird. Mit der Software Atlas Ti induktiv analysiert, erge-
ben sich 10 verschiedene Dimensionen des Ziels der Chácara, welche drei ver-
schiedenen Bereichen zugeordnet werden können.
125
Die einzige Änderung zwischen den Jahren 1993 und 2005 bezieht sich auf die Nationale Stras-
senkinderbewegung, welche nicht mehr wie am Anfang per Statuten eine(n) Vertreter(in) im be-
ratenden Gremium der Chácara stellt.
126
Die Mädchen werden in den Statuten erwähnt, um der Stiftung die Möglichkeit offen zu halten,
sich in der Chácara oder in einer zusätzlichen Initiative für Mädchen einsetzen zu können.
127
„Agentes da sua própria promoção“.

159
Die nachstehende Tabelle gibt einen Überblick über die 10 Dimensionen und die
ihnen zugeordneten, aus den entsprechenden Textstellen des Jahresberichts 2004
gebildeten Kategorien. Die Namen der Kategorien bestehen dabei aus Paraphra-
sierungen (in Kurzform) der in ihnen zusammengefassten Textstellen.

Bereich Dimension Kategorien/beabsichtigte Teilziele

A. Fähigkeiten Lern-/Refle- • Schulisches Lernen


xionsfähigkeit • Verstärkte allg. Lernfähigkeit
• In der Gruppe lernen können
• Reflexionswille
Fähigkeiten des • Verhalten in der Schule
Zusammen- • In Gruppe leben und miteinander teilen
lebens • In Gruppe zusammenarbeiten
• In der Gemeinde zusammenleben
• Freundschaft
• Gruppengeist, Kollegialität, Brüderlichkeit
Fähigkeiten als • Verantwortungsgefühl
Bürger • Eigene Rolle verstehen
• Sinn für Bürgerrechte und -pflichten
Veränderungs- • Gestaltungswille
fähigkeit • Führungsfähigkeiten
• Gesunder Ehrgeiz
B. Persönliche Schulisches, • Schulisches Wissen
Grundlagen berufliches und • Berufsbildung
gesellschaftli- • Regeln und Grenzen des Zusammenlebens
ches Wissen kennen
• Soziale Realität kennen
• Wissen, was für Veränderung zu tun ist
Gesundheit • Frei von Sucht
Werte • Werte der Strasse
• Zusätzliche Werte
• Ohne Streit
• Das Leben respektieren
• Harmonie mit der Natur
kulturelle Ver- • Eigene Wurzeln wieder finden
ankerung • Eigene Kultur pflegen
Arbeit/ • Beschaffung von Arbeitsstellen
Einkommen • Finanzieller Selbsterhalt
• Familie unterstützen können
familiäre • Wiederhergestellte Bindung an die Familie
Verankerung

160
C. Gesellschaft- Aufnahmebe- • G. kennt die Situation der Kinder
liche Bedingun- reitschaft und • G. schätzt die Kinder
gen -fähigkeit der • G. bietet weitere Projekte f. Kinder
Gesellschaft
Abbildung 11: Aufgrund des Jahresberichts 2004 gebildete Dimensionen und
beabsichtigte Teilziele

Die hier genannten Ziele sind im Jahresbericht 2004 nicht mit der Absicht einer
vollständigen Übersicht erwähnt, sondern werden dort lediglich im Rahmen der
Begründung der einzelnen Aktivitäten aufgeführt. Entsprechend wird davon
ausgegangen, dass die Chácara möglicherweise weitere Teilziele hat, die im
Jahresbericht nicht explizit erwähnt sind. Aus der teilnehmenden Beobachtung
ist zum Beispiel bekannt, dass die gesundheitliche Basis, welche die Chácara den
Jungen zu geben versucht, nicht nur Suchtfreiheit, sondern unter anderem auch
Aspekte wie zum Beispiel Hygienebewusstsein und Prävention von Krankheiten
(beides durch Kurse gefördert) umfasst.
Trotz ihrer Unvollständigkeit geben die im Jahresbericht erwähnten Absich-
ten und Teilziele interessante Einblicke in die Philosophie der Chácara und tra-
gen zum besseren Verständnis des Oberziels „Protagonisten ihrer eigenen Förde-
rung“ bei. Besonders aufschlussreich scheint dabei die Möglichkeit der Gruppie-
rung der Teilziele in drei Bereiche A bis C:

Abbildung 12: Im Jahresbericht 2004 erwähnte Ziele und Absichten:


Dimensionen und Bereiche

161
Die Aktivitäten der Chácara zielen darauf ab, die Jungen bei der Entwicklung
von persönlichen, sozialen und staatsbürgerlichen Fähigkeiten zu fördern (A),
sicherzustellen, dass sie über die persönlichen Grundlagen verfügen, welche sie
zur Ausübung dieser Fähigkeiten benötigen (B), sowie dazu beizutragen, dass
die Gesellschaft die Jungen als gleichwertige Bürger aufnimmt und nicht aus-
schliesst (C).
Aus den Inhalten der drei Bereiche ist ersichtlich, dass diese sich sowohl
ergänzen als auch gegenseitig bedingen. So können zum Beispiel die Fähigkeiten
der Jungen nicht gefördert werden, wenn die Jungen nicht gesund sind, materiell
überleben und über Wissen verfügen. Umgekehrt können die Jungen sich Wissen
nicht aneignen, wenn sie nicht über eine gute Lernfähigkeit verfügen, und sie
können keine Rolle als aktive Bürger in der Gesellschaft übernehmen, wenn sie
nicht über Fähigkeiten des Zusammenlebens und des bürgerlichen Handelns
sowie über entsprechendes Wissen verfügen. Gleichzeitig nützen ihnen ihre
Fähigkeiten und Grundlagen wenig, wenn sie sich in einer Gesellschaft befinden,
welche sie konsequent ausschliesst; es wird sich aber eine Gesellschaft mit sol-
chen Tendenzen auch nicht verändern, wenn es keine Menschen gibt, welche
über die Fähigkeiten und Grundlagen verfügen, die Gesellschaft als aktive Bür-
ger zu gestalten.
Diese Interdependenz verlangt von einer Organisation, welche alle drei Be-
reiche fördern will, dass diese in der täglichen Praxis präsent sind und die zuge-
hörigen Aktivitäten von den Jungen ausgeführt und geübt werden können. Dies
ist in der Chácara vor allem dank der sehr weit gehenden Partizipation der Jun-
gen an der Organisation und all ihren Funktionen möglich, wie aus den im Jah-
resbericht 2004 enthaltenen Aktivitäten und Zielen ersichtlich ist und in Kapitel
4.4 weiter ausgeführt wird. Paraphrasiert könnte das Konzept der Chácara wie
folgt beschrieben werden:
„Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ haben eine Lebensperspektive, ei-
nen Lebensentwurf, einen „Traum“128 und sind persönlich sowie aufgrund der
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der Lage, sich für dessen Realisierung
einzusetzen.
Um die Jungen dazu zu befähigen hat die Chácara das Ziel, die Fähigkeiten
und Grundlagen der Jungen soweit zu fördern, dass sie:

ƒ Lern- und reflexionsfähig (eine mögliche Paraphrasierung wäre „entwick-


lungsfähig“) sind.
ƒ Angemessen und brüderlich/solidarisch mit anderen Menschen zusammen-
leben und agieren.
128
In der Chácara selbst wird der Begriff des „Traums“ häufig verwendet, im Sinne davon, dass die
Jungen ihre Träume entwickeln und mit entsprechenden Aktivitäten unterstützt werden sollen.

162
ƒ Sich in der Gesellschaft bzw. im Staat als verantwortungsvolle, aktiv mitge-
staltende Bürger mit Rechten und Pflichten verhalten.
ƒ Über die dafür nötigen persönlichen und wirtschaftlichen Grundlagen ver-
fügen, das heisst über:
í schulisches, berufliches und gesellschaftliches Wissen
í physische und psychische Gesundheit
í Werte
í kulturelle Verankerung
í Arbeit/Einkommen
í familiäre Verankerung
ƒ Über die dafür nötigen gesellschaftlichen Voraussetzungen bzw. Rahmen-
bedingungen verfügen, das heisst, Zugang zu einer Gesellschaft haben, wel-
che sie integriert und nicht ausschliesst.

Betrachtet man das so entstandene Konzept der „Protagonisten ihrer eigenen


Förderung“, fallen einige Besonderheiten auf. Erstens ist es in gewissem Sinne
ein inhaltsleeres Konzept, denn es umfasst nicht eine Doktrin, was die Jungen in
Zukunft denken und tun sollen, sondern die Idee, dass jeder von ihnen in der
Lage sein soll, eigenständig zu denken, zu handeln und sein Leben zu gestalten.
Dies illustriert auch die Aussage einer im Jahr 2003 in den Vorstand der Chácara
eingetretenen Lehrerin:

Das ist es, was den Unterschied [zu anderen Organisationen] macht. Wir dachten
Folgendes: Die Chácara ist nicht ein Labor, und wir arbeiten nicht in ihr, um den
Jungen zu formen und ihm zu sagen: Du wirst dieses oder jenes sein. Natürlich sind
die Erzieherinnen und Erzieher eine gewisse Referenz für den Jungen, aber nicht in
diesem Sinne, und ich bin der Meinung, dass es dies ist, was den Unterschied [zu
anderen Organisationen] ausmacht. (Interview, 16. April 2004)

Zweitens zeigt die Analyse, dass sich das Ziel „Protagonisten ihrer eigenen För-
derung“ besonders auf das zukünftige, eigenständige Erwachsenenleben der
Jungen bezieht, also auf den Zeitpunkt des Austritts aus der Chácara und danach.
Es geht dabei also um eine Befähigung für eine Zukunft, deren Umsetzung
schliesslich in den Händen der Jungen liegt.
Im Weiteren fällt bei der vorgestellten Analyse auf, dass in der Konzeption
der Chácara zweimal die Absicht vorkommt, die Gesellschaft zu verändern: das
eine Mal direkt durch die Chácara, wie unter C erwähnt, und das andere Mal
indirekt durch die Jungen, welche als „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“
willens und fähig sein sollen, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten und zu ver-
ändern. Wie in Kapitel 4.5.2.2 näher dargestellt, verfügt die Chácara über ein
Konzept der gegenseitigen sozialen Integration von Chácara und Gesellschaft.

163
Hinter diesem steht ein zusätzliches, über die Jungen hinausgehendes, überge-
ordnetes Ziel der Veränderung der Gesellschaft im Sinne der Erreichung einer
solidarischen, gleichberechtigten Gesellschaft im bürgerrechtlich-demokra-
tischen Sinn. Ein solcher Wandel ist von vielen Beteiligten und Faktoren abhän-
gig und kann von der Chácara bestenfalls unterstützt und gefördert, nicht aber
sichergestellt werden.
Der Koordinator der Chácara hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die
Chácara unter anderem vom Gedankengut des oft als „Befreiungspädagoge“
bezeichneten Brasilianers Paulo Freire geprägt worden sei. Ein Zitat aus dessen
bekanntestem Buch, „Pädagogik der Unterdrückten – Bildung als Praxis der
Freiheit“ (1973) kann als Kommentar zum Begriff der „Protagonisten ihrer eige-
nen Förderung“ gelesen werden:

Das also ist die grosse humanistische und geschichtliche Aufgabe der Unterdrück-
ten: sich selbst ebenso wie ihre Unterdrücker zu befreien. Die Unterdrücker, die
kraft ihrer Macht unterdrücken, ausbeuten und rauben, können in dieser Macht nicht
die Kraft finden, die Unterdrückten oder sich selbst zu befreien. Nur die Macht, die
der Schwäche der Unterdrückten entspringt, wird so stark sein, beide zu befreien.
(...) Wer ist besser dafür präpariert, die entsetzliche Bedeutung einer unterdrückeri-
schen Gesellschaft zu verstehen, als die Unterdrückten? Wer durchleidet die Aus-
wirkungen der Unterdrückung mehr als die Unterdrückten? Wer kann die Notwen-
digkeit der Befreiung besser verstehen? Diese Befreiung wird ihnen nicht zufällig
zuteil, sondern durch die Praxis ihres Ringens darum, durch ihre Erkenntnis der
Notwendigkeit, dafür zu kämpfen. (S. 32í33)

In Kapitel 4.1.3 ist unter anderem beschrieben worden, wie die Kinder und Jugend-
lichen auf der Strasse aktiviert und gefördert wurden, und wie mit ihnen zusammen
eine Gemeinschaft gebildet wurde, aus deren Bedürfnissen und Erfahrungen die
Ziele der künftigen Organisation Chácara hergeleitet wurden. Vor diesem Hinter-
grund stellt sich natürlich die Frage, ob und inwieweit die nun besprochenen Ziele
der Chácara mit den Zielen der Jungen in Zusammenhang stehen.
Es war im Rahmen dieser Studie nicht möglich, auf der Strasse lebende
Kinder und Jugendliche nach ihren Zielen zu befragen. Hingegen lag ausführli-
ches Material der Jungen der Chácara vor, so zum Beispiel das bereits erwähnte,
von ihnen geschriebene Buch „Histórias das nossas vidas“ (Fundação E., 1999)
und weitere Texte, sowie einige Interviewaussagen. Dieses Material war vorwie-
gend ausserhalb der Forschung entstanden. Die Aussagen waren nicht als Ant-
worten auf die spezifische Frage nach Lebenszielen hin entstanden, sondern
wurden im Rahmen von offenen Fragen oder Themen abgegeben. Insgesamt wur-
den 228 Textstellen zu eher langfristigen bzw. Lebenszielen analysiert, wovon 26
Kommentaren über Ziele entsprachen und 202 konkrete Ziele bezeichneten.

164
Wie die nachstehende Tabelle zeigt, dreht sich ein Grossteil der von den Jungen
erwähnten Ziele um die Dimensionen Familie (64 Erwähnungen), Beruf und
Arbeit (38 Erwähnungen) und „Anderen helfen“ (32 Erwähnungen), gefolgt von
der Dimension Erziehung/Bildung (18 Erwähnungen) und der Dimension „Posi-
tion in der Gesellschaft“ (15 Erwähnungen).

Dimen- Ober- Kategorie Teilkategorie


sion kategorie
Familie Herkunfts- • Zur Herkunftsfamilie • Ja (13)
(64) familie (42) zurückgehen (21) • Nicht sicher (7)
• Nein (1)
• Behandlung der Herkunfts- • Ihr helfen (12)*129
familie durch den Jungen • Sich gut mit ihr verstehen
(18) (3)
• Ihr Freude bereiten (2)
• Will verwandte Kinder zu
Bürgern erziehen (1)*
• Klima in Herkunftsfamilie • Soll in Eintracht leben (3)
(3)
Eigene • Eigene Familie haben (14) • Familie gründen (9)
Familie (22) • Eigene Kinder haben (3)
• Heiraten/Frau haben (2)
• Behandlung der eigenen • Für eigene Familie sorgen*
Familie durch den Jungen (5)
(6) • Eigene Familie glücklich
machen (1)*
• Klima in eigener Familie • Soll anders als in Her-
(2) kunftsfamilie sein (2)
Beruf/ Beruf (23) • Berufsarten (23) • Fussballspieler (11)
Arbeit • Lastwagenfahrer (5)130
(38) • Arzt (2)
• Erzieher (2)
• Mechaniker (2)
• Richter (1)
Arbeit (15) • Arbeiten allgemein (12) • Arbeiten/Stelle finden (9)
• Arbeiten statt stehlen (2)
• Arbeit für Eltern finden (1)*
• Resultat der Arbeit (2) • Geld verdienen (2)
• Arbeitsweise (1) • Viel arbeiten (1)

129
Mit * markierte Teilkategorien werden zusätzlich der Oberkategorie „Anderen helfen“ zugeordnet.
130
Ein von den Jungen immer wieder zitierter Grund, weshalb sie Lastwagenfahrer werden wollen,
ist, dass sie dann „überall hinreisen“ und „die Welt sehen“ könnten.

165
Anderen Zielgruppen • Herkunftsfamilie (14) • Herkunftsfamilie helfen
helfen (32) (12)
(32) • Arbeit für Eltern finden (1)
• Verwandte Kinder zu
Bürgern erziehen (1)
• Arme Menschen (7) • Den Armen helfen (7)
• Eigene Familie (6) • Für eigene Frau und Kinder
sorgen (5)
• Eigene Familie glücklich
machen (1)
• Strassenkinder (5) • Strassenkindern besseres
Leben geben (4)
• Projekt wie die Chácara
machen (1)
Erzie- • Viel lernen (5)
hung/ • Ausbildung machen (4)
Bildung • Universität besuchen (4)
(18) • Schule besuchen (3)
• Erziehung als Bürger
erhalten (1)
• Englischkurs (1)
Position Position (6) • Als Bürger gesehen, nicht
in der marginalisiert (4)
Gesell- • In passender Schicht leben
schaft (1)131
(15) • Viele Leute kennen (1)
Status (6) • „Jemand sein im Leben“
(4)
• Beachtet werden (1)
• Limousine fahren (1)
Behandlung • Nicht flüchten müssen (1)
durch Ge- • Nicht misshandelt/unter-
sellschaft (3) drückt werden (1)
• In Würde leben können (1)
Ort zum Was? (7) • Eigenes Haus (7)
Leben Wo? (3) • Von Strasse entfernt (2)
(11) • In einem schönen Umfeld
(1)
Wie? (1) • Ohne Mangel (1)
Gesund- Ohne Sucht • Keine Drogen (9)
heit (9) (9)

131
Dabei handelt es sich um ein Zitat von einem Jungen, der sagte, dass er sich unter wohlhabenden
Leuten nicht wohl fühle bzw. „unter Seinesgleichen“ leben wolle.

166
Persönli- • Eigene Lebensweise ver-
che Ent- ändern (4)
wicklung • Sich ändern, wachsen, sich
(6) entwickeln (2)
Chácara Der Chácara
(5) helfen* (3)
Kontakt • Mit Chácara (1)
aufrecht- • Mit Freunden in Chácara
erhalten (2) (1)
Welt • Welt kennenlernen (1)
kennen-
lernen (1)
Werte (1) • Gott treu sein (1)
Abbildung 13: Lebensziele der Jungen der Chácara (in Klammern die Anzahl
Erwähnungen132)

Betrachtet man die Ziele der Jungen, fällt auf, dass diese im Gesamten inhaltlich
konkreter sind als diejenigen der Organisation Chácara. Es zeigt sich, dass die
Ziele der Chácara den Zielen der Jungen nicht absolut entsprechen. Eher sind sie
diesen vorgeschaltet. Die meisten inhaltlichen Ziele der Jungen können schluss-
endlich nur die Jungen selbst erreichen, besonders wenn man aus der obigen
Übersicht gewahr wird, dass sich der Grossteil davon auf soziale Beziehungen
ausrichtet: diejenigen in der Herkunftsfamilie, in der künftigen eigenen Familie
sowie in der Gesellschaft und anderen benachteiligten Menschen gegenüber.
Sind die Organisationsziele der Chácara erfüllt, so die implizite Annahme, leis-
ten sie einen Beitrag dazu, dass die Jungen ihre spezifischen Lebensziele (in der
Chácara wie erwähnt „sohnho“, Traum, oder „proposta de vida“, Lebensentwurf
genannt) definieren und sich ihnen möglichst gut annähern können.
Bei einer solchen Zielstruktur liegt die Vermutung nahe, dass die Ziele der
Chácara denjenigen der Jungen nicht nur vorgeschaltet sind, sondern dass sie
diese auch beeinflussen und von diesen beeinflusst werden. Ein Zeichen dafür ist
die Tatsache, dass alle Dimensionen der Ziele der Jungen in den Dimensionen
der Ziele der Chácara gespiegelt sind. Stehen zum Beispiel für die Jungen künf-
tige Beziehungen an erster Stelle, so legt die Chácara grossen Wert auf die För-
derung von Fähigkeiten des Zusammenlebens und des Handelns als Bürger in
der Gesellschaft.
Ein Beispiel hierfür ist die Frage der Solidarität. Viele Jungen äussern den
Wunsch, anderen – vor allem ihren Herkunftsfamilien oder anderen Kindern auf

132
Bei gleicher Anzahl: alphabetische Reihenfolge.

167
der Strasse – zu helfen; gleichzeitig ist Solidarität und der Einsatz für Andere ein
expliziter Zielwert der Chácara. So schilderte deren Koordinator der Autorin
nicht nur, wie sehr ihn die Solidarität unter armen Menschen immer beeindruckt
habe, sondern auch, wie er beobachtet habe, dass viele Menschen, sobald es
ihnen besser gehe, auf diejenigen herabsehen würden, die sich noch in derselben
Situation befänden wie sie früher. Deshalb sei es ihm wichtig, das Thema der
Solidarität und des sozialen Engagements mit den Jungen ständig zu behandeln.
In einem Interview sagte er:

Es gilt, die Jungen zu befähigen, dass sie durch die Denkfähigkeit und Intelligenz,
welche sie haben, durch das Leben, das sie hatten, sich für ihre Zukunft, für ihr Le-
ben einsetzen können, aber mit einer Vision der Solidarität, der Bewusstseins-
weckung ... Du hast D. [ein 15-jähriger Junge] gesehen, als ihn die Leute von der
Kirchgemeinde fragten: „Sagen wir mal in zehn Jahren, wie wollt ihr, dass euer Le-
ben dann ist?“ [Er antwortete:] Ich will heiraten, ich will meine Familie, und, das
will ich hier auch sagen, ich will Fussballspieler werden und ich will ein Projekt wie
dieses hier aufbauen.“ Das heisst, obwohl die Jungen zur Schule gehen und heute in
einer besseren Lebenssituation stehen, sollen sie sich erinnern, dass es noch mehr
Kinder auf der Strasse gibt, dass wir in einer Welt des Konflikts und der Widersprü-
che leben, und dass wir Agenten der Transformation sein müssen.
[Das heisst:] Ich kann nicht schweigen im Angesicht der Ungerechtigkeit, nicht
wahr. Ich kann nicht [einfach] mein Haus haben, meine Familie haben, und damit ist
dann alles gut. Es ist gut, aber ich muss darüber hinausgehen; ich muss wissen, dass
ich bei einer Gewerkschaft mitmachen kann, bei einem Verein, bei einer Stiftung,
nicht nur, um Dinge zu spenden, sondern um dafür zu sorgen, dass es eine Diskussi-
on gibt, dass man eine Politik hat, und dass man Einfluss ausübt, um die Normen der
Ungerechtigkeit zu verändern, und dass man [so] anfängt, eine gerechte Gesellschaft
aufzubauen, von dem Ort aus, an dem man sich befindet; so sehe ich es für die Jun-
gen. (Interview, 20. April 2003)

Aus diesem Diskurs wird ersichtlich, dass die Solidarität und das soziale bzw.
staatsbürgerliche Engagement ein Ziel der Organisation Chácara ist, aufgrund
dessen auch auf die Jungen eingewirkt wird und ihnen Zusammenhänge näher
gebracht werden.
Ein gewisses „Auseinanderklaffen“ zwischen den Zielen der Chácara und
denjenigen der Jungen ist vor dem Hintergrund der Entwicklungsphase der Jun-
gen durchaus sinnvoll. Gerade die Jungen von der Strasse haben bisher wenig
Begleitung und Beratung erhalten und verfügen deshalb über einen eher einge-
schränkten Vorstellungsradius davon, was in ihrer Zukunft alles möglich sein
könnte. Dies zeigt sich gut in der Aussage eines Jungen, der mit 11 Jahren in die
Chácara kam und zum Zeitpunkt des Interviews 19 Jahre alt war, im Verwal-

168
tungssekretariat der katholischen Universität arbeitete und erfolgreich Betriebs-
wirtschaft studierte:

Frage: Dachtest du, dass Du eines Tages studieren und an der Universität arbeiten
würdest?
Antwort: (lacht) An der Universität arbeiten! Ich wusste nicht einmal, dass die Uni-
versität existiert. Ich wusste nicht, was eine Universität war; als ich hierher kam,
wusste ich nur, was Schule war; nicht einmal, was die Oberstufe ist, wusste ich. (In-
terview, 27. März 2003)

Nach dem Gespräch kam er noch einmal zur Autorin und sagte:

In Wirklichkeit wussten wir [beim Eintritt in die Chácara] gar nicht, was wir uns al-
133
les erträumen könnten. (Mündliche Mitteilung, 27. März 2003)

So ist vorstellbar, dass ein Junge eine gut bezahlte Arbeit zum Ziel hat, jedoch
aufgrund seines Alters, seiner Kenntnisse oder seines Entwicklungsstandes nicht
weiss, dass schulische und berufliche Ausbildung Bedingung dafür ist. Die Chá-
cara hingegen hat das Ziel, ihm nicht nur zu einer Arbeitsstelle zu verhelfen,
sondern ihn auch in seiner allgemeinen Lernfähigkeit zu fördern und ihm schuli-
sches, berufliches und soziales Wissen zu vermitteln.
Die Chácara nimmt die Ziele der Jungen auf und misst ihnen eine grosse
Bedeutung bei. Dies zeigt sich, wenn das Buch, welches die Jungen verfasst
haben (Fundação E., 1999), über ein separates Kapitel mit dem Titel „Zukunft“
verfügt, in welchem die Verfasser über 12 Seiten ihre Erwartungen und Ziele
schildern. Es zeigt sich, wenn jeder Jahresbericht die Ziele der Jungen für das
neue Jahr enthält, und wenn verschiedene Räume der Chácara mit Zeichnungen
dekoriert sind, die, unterschrieben von jedem Jungen, dessen Traumberuf zeigen.
Wie wichtig die Ziele der Jungen in der Organisation Chácara sind, zeigt
sich im Weiteren jeder Person, welche in der Chácara eine Aktivität anstossen
möchte, so auch der Autorin, als sie die Idee der nun vorliegenden Forschung
und andere Vorhaben vorschlug. Über die Jahre waren es mehrere verschiedene
Vorschläge, welche sie dem Koordinator gegenüber in der Hoffnung auf eine
Reaktion erwähnte. Seine Antwort war immer dieselbe: „Sprich mit den Jungen
und den Erzieherinnen und Erziehern darüber und sieh, was sie von diesem Ziel
halten.“ Es liegt nahe, daraus abzuleiten, dass die – informierten, geförderten, in
der Diskussion entwickelten – Ziele der Jungen in gewisser Weise der Massstab
sind, an dem in der Chácara die Ziele, welche andere Personen „zugunsten“ der
Jungen erreichen möchten, gemessen werden.

133
„Na verdade, a gente nem sabia com o que poderia estar sonhando.“

169
Gleichzeitig reflektieren die Mitarbeitenden der Chácara die Ziele mit den Jun-
gen, zeigen ihnen weitere Möglichkeiten und streben eine Stärkung der Jungen
bei der Erarbeitung ihrer eigenen Ziele an. Sie tun dies auf die verschiedensten
Weisen, so zum Beispiel einmal im Jahr im Rahmen einer Wallfahrt nach
Aparecida do Norte, dem 13 Busstunden entfernten wichtigsten Wallfahrtsort
Brasiliens. Auf diese Wallfahrt bereiten sich die Jungen bereits einen Monat im
Voraus vor. Im Rahmen verschiedener Wettbewerbe und Gespräche in grösseren
und kleineren Gruppen denken die Jungen über ihre Ziele und Wünsche nach
sowie darüber, ob sie das, was sie das letzte Mal beim Anzünden einer Kerze zur
Erreichung ihres Ziels zu tun versprochen hatten, auch tatsächlich gehalten ha-
ben. Kurzfristige Ziele für die Jungen und für die Chácara als Organisation wer-
den in wöchentlichen Sitzungen diskutiert und vereinbart sowie bezüglich ihrer
Erreichung evaluiert. Auch die seit dem Jahr 2004 durchgeführte, mittel- und
langfristige strategische Planung umfasst das Element der Befragung der Kinder
und Jugendlichen und der Aufnahme ihrer Zielvorschläge in Gleichberechtigung
mit denen der erwachsenen Mitglieder der Chácara.134
Im Folgenden soll nun aufgrund der Forschungsresultate auf die organisa-
tionale Struktur eingegangen werden, welche die Beteiligten der Chácara auf-
grund der Analyse der Ausgangslage, der Bildung einer starken Gruppe und der
Definition von Zielgruppe und Zielen verliehen haben. Der Übersichtlichkeit
halber sollen hierfür die identifizierten Ziele der Chácara noch einmal abschlies-
send angeführt werden:

ƒ Übergeordnetes Oberziel: eine solidarische, gleichberechtigte Gesellschaft


im bürgerrechtlich-demokratischen Sinn.
ƒ Oberziel: die Jungen als „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“, im Besitz
eines Lebensentwurfs und persönlich sowie seitens der Gesellschaft in der
Lage, sich für dessen Realisierung einzusetzen.
ƒ Organisationsziele bezüglich der Jungen:
í Ihre Fähigkeiten zu fördern: Lern-/Reflexionsfähigkeit, Fähigkeiten des
Zusammenlebens, Fähigkeiten als Bürger, Veränderungsfähigkeit.
í Ihre persönlichen Grundlagen zu stärken: Schulisches, berufliches und
gesellschaftliches Wissen, Gesundheit, Werte, kulturelle Verankerung,
Arbeit/Einkommen, familiäre Verankerung.
í Ihre gesellschaftlichen Bedingungen zu verbessern: Aufnahmebereit-
schaft und -fähigkeit der Gesellschaft.

134
Diese Planung fand nach Abschluss der Feldforschung statt und ist nicht Gegenstand der vorlie-
genden Arbeit.

170
Mit der umfassenden Analyse der Ausgangslage und den, wenn auch impliziten,
so doch geteilten Zielkonzepten verfügt die Chácara über die beiden gemäss
Organisationsmodell in Kapitel 3.3.3 zentralen Pfeiler, zwischen denen Organi-
sationen aufgespannt sind und funktionieren.

4.4 Struktur

Die Mitglieder der Chácara untersuchten vor der Gründung ihrer Organisation
die Situation und Eigenart der auf der Strasse lebenden Kinder und Jugendlichen
und definierten auf dieser Basis sowie mit Hilfe von weiteren Expertenmeinun-
gen die Zielgruppe sowie die Ziele der zu gründenden Organisation. Hier soll
nun die Organisation beschrieben werden, welche die Mitglieder der Chácara
zwischen ihrer Analyse der Ausgangslage und den von ihnen gewählten Zielen
aufgespannt und gestaltet haben.
Die induktiven Auswertungen des Datenmaterials haben gezeigt, dass sich
die Beteiligten der Chácara auf zwei Strukturen der Organisation beziehen: eine
materielle, sichtbare Struktur in einem real existierenden physischen Raum mit
geographischer Lokalisierung, und eine nicht sichtbare, ideelle, soziale Struktur,
welche die physische Struktur nützt und sich in ihr ausdrückt, sie jedoch in Be-
deutung und Wirkung transzendiert.
Zur Orientierung soll nun zuerst die materielle, sichtbare Struktur der
Chácara dargestellt werden, bevor in einem zweiten Schritt auf deren ideelle,
soziale Struktur eingegangen wird, wie sie aus Interviews mit Beteiligten und
Dokumenten der Organisation hervor geht.
Bei beiden Teilen der Struktur wird sich zeigen, dass sie nicht zufälliger Art
sind, sondern auf den Bedürfnissen und Potentialen der Ausgangslage und spezi-
ell der Jungen aufbauen sowie auf die Erreichung der Organisationsziele ausge-
richtet sind.

4.4.1 Physische Struktur

Zur Chácara als physischer Struktur in einem Raum mit geographischer Lokali-
sierung wurden in den Interviews von den am Projekt beteiligten Erwachsenen
nur wenige Aussagen gemacht. Trotzdem soll diesem Aspekt hier als erstem
nachgegangen werden, um einen Einblick in deren Erscheinungsbild zu gewin-
nen.

171
Erwachsene und Jungen bezeichnen den physischen Raum und die geographi-
sche Lokalisierung der Chácara als sehr wichtig. Gleichzeitig weisen Erwachse-
ne in einiger ihrer Aussagen auf die Grenzen dieser Wichtigkeit hin:

Wir bemühen uns, die Philosophie der Arbeit nicht zu verlieren, denn sonst tun wir
das, was den Familien [der Jungen] geschehen ist: Diese füllen [das Haus] mit Kin-
dern und haben die physische Struktur nicht, um sich um alle zu kümmern. Im Ge-
gensatz zur Chácara wollen manchmal (...) [bestimmte Leute135] helfen, mehr und
mehr [Gebäude] zu bauen und 100 oder mehr Jungen hierher zu bringen. Aber wir
können uns nicht nur um den physischen Aspekt der Chácara kümmern. Wir müssen
uns um die Betreuung der Jungen kümmern. Nicht nur um den physischen Aspekt,
sondern vor allem um den sozialen. (Frau aus der ehemaligen Strassenar-
beit/Gründungs- und Vorstandsmitglied, Interview, 26. April 2004)

Die Organisation Chácara ist ein real existierendes physisches Gebilde aus Bau-
ten und Anlagen in einem real existierenden geographischen Raum. Es kann
angenommen werden, dass diese physische Existenz und geographische Lokali-
sierung von besonderer Bedeutung ist für eine Organisation, welche obdachlose
Kinder und Jugendliche aufnimmt, die mit der Strasse einen Ort verlassen, an
dem ihr Leben sowohl durch Umweltbedingungen (Kälte, Nässe, Schmutz etc.)
als auch durch bestimmte soziale Bedingungen (Nähe zu Drogen, Gewalt etc.) in
höchstem Masse gefährdet ist.
Diese Bedeutung für die Organisation zeigt sich darin, dass das physische
Erscheinungsbild der Chácara und ihre geographische Lokalisierung von den
Wünschen der vor der Gründung der Chácara befragten Kinder und Jugendlichen
der Strasse geprägt wurden, wie der Koordinator Fernando de Gois in einem
öffentlichen Vortrag an einer Universität erwähnte:

So kam die Idee einer Chácara (eines kleinen Landgutes) auf, und da fragte ich wa-
rum, [und sie sagten]: ‚Eine Chácara zuerst einmal deshalb, weil, als unsere Fami-
lien auf dem Land wohnten, sie viel mehr Kinder hatten, weil alle in der Landwirt-
schaft arbeiteten – sie hatten sieben oder acht Kinder – aber alle waren stark, weil
sie mähten und pflanzten und alle zusammen waren.’ Das heisst, dass die Rückkehr
auf das Land, in die Landwirtschaft, für diese Jungen wichtig war.
Eine andere Sache, die für sie wichtig war – eine für uns sehr massgebliche Sa-
che – war das Zusammenleben mit der Natur und mit den Tieren. Was Tiere anbe-
langt, so kann man dies in den Favelas und auch auf den Strassen beobachten: Man
sieht den Papiersammler mit zwei oder drei Hunden oder sogar mit einer Katze.
Weshalb? Dies ist so, weil, wenn wir unter uns Menschen leben, wir immer eine
vertikale Beziehung haben gegenüber demjenigen, der [mehr] weiss, [mehr] kann

135
Nennt die betreffende Personengruppe.

172
und [mehr] hat (...). Wir alle wollen zuoberst sein, auch wenn dies heisst, dass wir
die anderen niedertreten; das wichtigste ist, ganz oben zu sein. Wenn man jedoch
mit Tieren zusammen lebt, dann hat man eine horizontale Beziehung. Und der dritte
Punkt, den sie erwähnten, war die Frage der Drogen. (...). Nicht zuletzt darum woll-
ten sie eine Chácara, um fern der Drogen leben zu können. (Vortrag Uniandrade,
22. April 2004)

Die Chácara liegt abgelegen am Rande von „Quatro Pinheiros“, einem zum Ort
Mandirituba gehörenden Weiler136. Damit liegt sie eine gute Stunde Autofahrt
südlich des Zentrums der Stadt Curitiba mit ihren 2.7 Millionen Einwohnern137.
Quatro Pinheiros ist eine ländliche Siedlung in einer hügeligen Region auf etwa
1000 m.ü.M., in welcher der Atlantische Nebelwald zum grössten Teil gerodet
wurde, in Nischen, wie Hügelkuppen oder schlechter zugänglichen Mulden und
Bachtobeln, mit seinen typischen hohen, kandelaberförmigen Araukarien, einer
Pinienart, jedoch noch existiert. Hier leben etwa 300 Familien mit meist niede-
rem oder gar geringem Einkommen in relativ verstreut liegenden Holz- oder
einfachen Backsteinhäusern. Gerade in der Gegend der Chácara sind es Klein-
bauernfamilien, welche Mais, Maniok, Bohnen und Gartengemüse anpflanzen
und wenige Milchkühe sowie Kleintiere halten. Der Weiler hat Zugang zur öf-
fentlichen Elektrizitäts- und Wasserversorgung sowie zum Schulbus und, in der
Chácara, zu günstiger, lokaler Arzt- und Zahnarztversorgung, verfügt über 3
öffentliche und einzelne private Telefonanschlüsse und umfasst im Weiteren
zwei katholische und zwei evangelikale Kirchen, ein Postbüro, zwei Bars, ein
kleines Geschäft, welches die notwendigsten Grundnahrungsmittel verkauft, und
an der 20 Fussminuten von der Chácara entfernten, geteerten Hauptstrasse eine
Haltestelle der Busse nach Mandirituba und Curitiba. Im etwa 15 Autominuten
entfernten Hauptteil von Mandirituba gibt es die Infrastruktur einer kleinen Stadt
mit Schulen, Spital, Supermarkt, Banken und so weiter. Die Stadt Curitiba, in der
die Jungen auf der Strasse gelebt hatten, befindet sich etwa 90 Minuten Busreise
entfernt.
Die Distanz zur Stadt entspricht tatsächlich den Wünschen der Jungen. So
ergab die induktive Analyse von 172 Textstellen aus Interviews sowie von zu-
meist unabhängig von der Forschung erstellten Texten der Jungen 37 Textstellen
zu diesem Thema. In 33 von ihnen kritisieren die Jungen andere Organisationen
bezüglich ihrer Nähe zur Strasse und zwar in zweierlei Hinsicht: einerseits, dass
sich diese nahe dem Drogenmarkt und anderen, auf der Strasse lokalisierten
Risiken und Gefahren befinde, und anderseits, dass die Nähe dazu führe, dass
136
Im Jahr 2000 hatte Mandirituba im Dorfkern 6'268 und in den vielen, zum Teil recht weit ent-
fernten Weilern weitere 11'272 Einwohner (http://www.pr.gov.br/comec/ormc.html, 18.8.2005).
137
Diese Zahl bezieht sich auf die „Região Metropolitana de Curitiba“, das heisst, auf Stadt und
Agglomeration.

173
Probleme der Strasse wie Gewalt, Drogenkonsum und Diebstahl in die Projekte
hineingetragen würden. Die folgenden zwei Zitate stammen aus dem Buch „His-
tórias de nossas vidas“ der Jungen (Fundação E., 1999):

Es gab ein Projekt, das X138 hiess, aber dieses brachte nichts, es war wie ein Hotel;
die Jungen kamen, duschten und assen, und dann gingen sie schon wieder auf die
Suche nach Drogen; sie gingen hinaus und auf dem direkten Weg Leim kaufen. (S.

Ich bin in keinem anderen Projekt geblieben, weil die Projekte dort in Curitiba nahe
der Favelas und derjenigen Orte sind, an denen grosse Mengen von Drogen ver-
schoben werden, und es gelingt einem nicht, so nahe bei den Drogen zu wohnen und
sie nicht zu nehmen. (S. 84)

Bezüglich der Distanz zur Stadt merkt ein Junge allerdings an, dass diese gleich-
zeitig geographische Distanz zu den Familien bedeute. Tatsächlich muss die
Chácara aufgrund davon einiges an Ressourcen aufwenden, um Besuche der
Kinder bei ihren Familien bzw. Besuche der Familien in der Chácara zu ermögli-
chen. Auch in der praktischen Arbeit beim Aufbau einer anderen Organisation
für Strassenkinder hat die Autorin die Erfahrung gemacht, dass ein Gleichge-
wicht zwischen Distanz und Nähe von der Stadt nötig ist. Distanz ist wegen der
von den Jungen genannten Gründe sinnvoll. Zu weite Entfernung von grösseren
Siedlungen mit ihrer Infrastruktur – Spital, Schulen etc. – und, noch wichtiger,
mit ihrer gesellschaftlichen Struktur, erschwert die Verwirklichung von Zielen
der Betreuung, Förderung und gesellschaftlichen Integration der Jungen jedoch,
ja, kann diese sogar verunmöglichen.
Eine „Chácara“ ist ein kleines Landgut, und auf eben einem solchen befin-
det sich auch die untersuchte Organisation gleichen Namens. In seiner Lage und
seiner Gestaltung entspricht es den Wünschen der Jungen, wie die nachstehende
Skizze des etwa 24’000 m2 messenden Areals und seiner wichtigsten Teile zeigt:




138
Ein von der Stadtregierung geführtes, residentielles Projekt für Jungen der Strasse in nächster
Nähe eines grossen Drogenumschlagplatzes in einer Favela, des Busbahnhofs und des Stadtzen-
trums.

174
Abbildung 14: Die Chácara im Überblick (Stand 03/2006; Wohnhäuser: Baujahr
in Klammern)

Gemäss Aussagen von Jungen und Erziehenden ist das 1. Haus als das zuerst
erstellte der wichtigste Ort der Chácara, da hier die ersten Jungen lebten und die
Chácara mit ihrer Arbeit begann. In praktischer Hinsicht ist das 5. Haus mit dem
Büro und dem Theater- und Versammlungssaal seit seiner Erstellung das Zen-
trum der Organisation; da aber die einzelnen Wohnhäuser und dort lebenden
Gruppen eine gewisse Autonomie haben, stellt jedes Wohnhaus seinerseits ein
kleines Zentrum dar. Das 4. Haus nimmt die neu eintretenden, jüngeren Kinder
auf. Es befindet sich 10 bis 15 Minuten zu Fuss entfernt von den anderen Häu-
sern auf dem gegenüber liegenden Hügel, was den Kindern die Möglichkeit gibt,
sich langsam einzuleben, während die bereits eingespielten Gruppen der Älteren
nicht zu stark destabilisiert werden. Dieses Wohnhaus ist damit ein Beispiel
dafür, dass die physische Form der Chácara auf die Eigenschaften des Zielpubli-
kums und die Organisationsziele ausgerichtet ist.
Neben Wohnhäusern sind Teiche, Wiesen und Wald vorhanden, welche –
wie die Fussballplätze, der Saal im 5. Haus und einzelne Fernsehräume – der
Freizeitgestaltung der Jungen dienen; dazu landwirtschaftliche Elemente wie
Pflanzungen und Tierställe sowie Werkstätten für Automechanik, Töpferei und
(nicht markiert, weil noch nicht über einen festen Standort verfügend) Schreine-

175
rei, Schneiderei und Siebdruckwerkstatt. Im 4. und 5. Haus befinden sich Schul-
räume für Nachhilfe, Computerkurse und Englischunterricht sowie je eine Bibli-
othek. Die von Freiwilligen geführte Arzt- und Zahnarztpraxis, das Waschhaus
sowie die Waschküche beim 4. Haus tragen zu Gesundheit und Hygiene bei,
während die Mahlzeiten in der Gemeinschaftsküche im 5., in der Küche im
4. Haus und, bei grösseren Anlässen, in der Grossküche zubereitet werden. Seit
Anfang des Jahres 2005 mietet die Chácara zusammen mit der benachbarten
Organisation ABAI139 ein Haus in Curitiba, welches von beinahe und ganz er-
wachsenen Jungen der Chácara und Abgängern der Alkohol- und Drogenthera-
piestation der ABAI bewohnt wird, die in der Stadt arbeiten und/oder studieren.
Ausser der Miete tragen sie alle Kosten für Haus und Unterhalt selbst. Ende des
Jahres 2005 erhielt die Chácara leihweise einen kleinen Hof in der Region, auf
dem von der Strasse kommende Kinder und Jugendliche zuerst in einer betreuten
Kleingruppe einige Wochen der Akklimatisierung verbringen, bevor sie in die
Chácara übersiedeln.
Die Chácara ist, im Gegensatz zu den meisten brasilianischen Institutionen
für Kinder und Jugendliche, nicht durch einen Zaun oder eine Mauer von der
Aussenwelt abgeschlossen. Die nächsten Nachbarn, 9 Kleinbauernfamilien, kön-
nen innerhalb von 1 bis 5 Minuten zu Fuss erreicht werden, und der Durch-
gangsweg (die kleine Strasse links im Bild) verläuft mitten durch das Zentrum
der Chácara. Allerdings dauert der Marsch zu Hauptstrasse und Bushaltestelle 20
Minuten und die Busfahrt in die Stadt weitere 90 Minuten. Die Jungen sind an-
gehalten, je nach Alter um Erlaubnis zu fragen bzw. zu informieren, bevor sie
kurzfristig an einen anderen Ort gehen. Will ein Junge die Chácara ganz verlas-
sen, lässt er dies zumeist vorher wissen, worauf Erzieherinnen und Erzieher, aber
spontan auch andere Jungen mit ihm ausführliche Gespräche führen. Es wird
jedoch nie ein Junge physisch daran gehindert, die Chácara zu verlassen. Wie die
Jungen wiederholt bestätigt haben, trägt dies dazu bei, dass sie in der Chácara
bleiben, beziehungsweise nach einem Weggang in diese zurückkehren wollen.
So berichtet ein ehemaliger Junge der Vila Lindóia, Mitglieder der Strassenar-
beit, Gründungs- und heutiges Vorstandsmitglied der Chácara von einem Ereig-
nis zu Beginn der Chácara:

Fernando reiste zu seinen Eltern, nur für eine Woche, und weil wir noch ganz am
Anfang standen, hatten wir keine Erfahrung, und die Jungen, die gerade erst von der
Strasse gekommen waren, dachten sich: „Wir sind hierher gekommen, um alles zu
haben, und jetzt haben wir kein Fleisch zum Mittagessen, und wir haben keine an-
ständigen Kleider“. Sie wollten Kleider, Geld, um Kleider zu kaufen, Dinge zum Es-
sen, und ich sagte, dass wir nichts solches hätten, dass wir alles gemeinsam aufbau-

139
Associação Brasileira de Amparo à Infância.

176
en müssten. Da organisierten [zwei Jungen] die anderen Jungen und sagten: „Ent-
weder kauft ihr Kleider für uns, oder ihr gebt uns das Geld [für den Bus], damit wir
auf die Strasse gehen und stehlen können [was wir brauchen]. Was sollten wir da
tun? Wir hatten keine Alternative, und so sagten wir: „Gut, ihr wollt das Geld für
den Bus, und wir geben es euch.“ Ich weiss nur noch, dass von zwölf Jungen ledig-
lich vier in der Chácara blieben. Als Fernando zurückkam, erzählten wir ihm, was
passiert war. Wir kamen zum Schluss, dass wir das Beste getan hatten, das wir hät-
ten tun können, denn sie dort [in der Chácara] festzuhalten, sie gefangen zu halten,
war nicht unser Konzept. Und in gewisser Art und Weise half dies [den Jungen], ein
besseres Urteil zu fällen, denn nachdem sie in die Chácara zurückgekehrt waren, ge-
lang es ihnen, den Raum „Chácara“ und den Raum „Strasse“ zu beurteilen; es ge-
lang ihnen von einer Woche auf die nächste den Unterschied [zwischen den beiden
Räumen] zu erkennen. Danach floh weder der eine noch der andere Junge [welcher
die Gruppe angeführt hatte] jemals wieder. (Gruppendiskussion, 20. April 2004)

Einer der erwähnten beiden Jungen – zu Abschluss der vorliegenden For-


schungsarbeit Universitätsstudent, Koordinator eines eigenen Präventionsprojek-
tes für Kinder einer Favela und Mitarbeiter in einer staatlichen Institution für
jugendliche Straftäter – nennt in einem Interview als inzwischen Erwachsener
den Grund, weshalb er trotz Mangels in der Chácara blieb: deren Lage in der
Natur:

Es gab nichts hier, nur jenes Haus; es gab kein Essen, es gab nichts, es gab keine
Betten ... es war sehr, sehr bescheiden, wirklich sehr ärmlich. Aber es gefiel mir
hier; es gefiel mir wegen der Natur. (...) Was mich am meisten bezauberte, war die
Natur, zum Beispiel die Bäche, in denen wir spielen konnten; dieser Teil gefiel mir
sehr (...). (Eintritt die Chácara Oktober 1993; zum Zeitpunkt des Interviews
24-jährig, 6. Mai 2003)

Tatsächlich ist die Lage der Chácara fern der Strasse und inmitten der Natur ein
Aspekt, den die meisten Jungen positiv erwähnen, wie auch das folgende Zitat
zeigt:

Die Jungen bleiben in der Chácara, weil sie ein Ort ist, an dem es viel Natur gibt,
Bäche, Bäume und viele Tiere. Und auch wegen der Ruhe. Hier gibt es nicht viel
Lärm, und wir können ruhig schlafen, ohne Angst vor Räubern oder anderen Din-
gen. Hier ist ein sehr guter Ort zum Wohnen. (Fundação E., 1999, S. 69)

Zusammengefasst kann zur geographischen Lokalisierung und zum physischen


Raum der Chácara gesagt werden, dass diese in hohem Grad den Bedürfnissen
der Jungen zu entsprechen scheinen. Sie können sogar einen wichtigen Grund für
die Übersiedelung eines Jungen in die Chácara und seinen Wunsch, dort zu blei-
ben, darstellen.

177
4.4.2 Soziale Grundkonzeption

Mir war immer klar, dass das Wichtigste an einem Projekt nicht die materielle
Struktur ist, nicht das Geld und die Häuser. Manchmal sind Besucher gekommen
und haben gesagt: „Ach, diese Häuser sind so schön“. Und da habe ich gedacht:
„Oje, die haben keine Ahnung; ein Haus zu bauen, ist einfach, aber das, was darin
passiert, der Geist, der in den Menschen ist, das ist schwierig [zu bewirken]. (Inter-
view, 2. April 2004)

Diese Aussage stammt von Marianne Spiller-Hadorn, Leiterin des sich ebenfalls
in Mandirituba befindenden Projektes ABAI (Associação Brasileira de Amparo à
Infância, „Brasilianische Vereinigung der Unterstützung für die Kindheit“). Sie
bezog sich dabei unter anderem auf ihre 25-jährige Erfahrung, die sie beim Auf-
bau einer Pionierorganisation mit Sozialwaisenhäusern und einer grossen Anzahl
weiterer Angebote gewonnen hatte, aber auch auf das „Schwesterprojekt“
Chácara, dessen Akzeptanz und Entwicklung in Mandirituba sie unterstützt und
begleitet hatte.
Aus vielen Aussagen von an der Chácara Beteiligten geht hervor, dass die
Organisation auch für sie mehr ist als deren physische Struktur. So bezogen sich
lediglich 11 von 276 Textstellen der offenen Interviews und weiteren Quellen
von Mitarbeitenden sowie externen Fachleuten und Unterstützenden auf die
Chácara als physische Struktur. Bei den Jungen erwähnten nur 19 von 158 Text-
stellen die physische Struktur dieser Organisation. Alle anderen Aussagen bezo-
gen sich dagegen nicht auf physische Aspekte der Organisation, sondern auf
deren soziale Gestalt, darauf, „was im Haus drin passiert“, und auf den „Geist
der Menschen“, welche die Organisation bilden.
Die Chácara hat das hauptsächliche Ziel, Jungen der Strasse zu „Protagonis-
ten ihrer eigenen Förderung zu machen“. Wie in Kapitel 4.3.2 gezeigt, umfasst
dieses Konzept, dass sie lern- und reflexionsfähig sind, angemessen und brüder-
lich/solidarisch mit anderen Menschen zusammenleben und agieren, sich in der
Gesellschaft bzw. im Staat als verantwortungsvolle, aktiv mitgestaltende Bürger
mit Rechten und Pflichten verhalten und über die dafür nötigen persönlichen und
wirtschaftlichen Grundlagen sowie über einen Zugang zu einer integrierenden
und nicht ausschliessenden Gesellschaft verfügen.
Die Analyse der Daten hat ergeben, dass die Chácara von ihren Mitgliedern
und Beteiligten in erster Linie als sozialer Rahmen verstanden wird, in dem die
Entwicklung auf dieses Ziel hin stattfinden können soll. Es zeigte sich, dass die
Chácara von ihnen als eine Art „Gesellschaft en miniature“ gesehen und gestaltet
wird. Die hier vorgefundene Gemeinschaft erklären sie mit Begriffen, welche
Konzepten der Menschenwürde und der demokratischen Staatsbürgerlichkeit mit
ihren Rechten und Pflichten entsprechen. Diese Konzepte sind zwar weitgehend

178
in der brasilianischen Gesetzgebung verankert, jedoch nach Ansicht der Befrag-
ten in der brasilianischen Gesellschaft noch ungenügend verwirklicht.
Die hauptsächlichen Aspekte dieser Grundkonzeption – Schuler (2004)
würde sie als Kulturmerkmale im Sinne von geteilten Grundannahmen und Wer-
ten bezeichnen – sind Gegenstand dieses Kapitels und sollen in der Folge auf-
grund der Forschungsresultate näher erläutert werden.
Die Professorin, welche bereits Teile der Strassenarbeit und daraufhin die
Chácara seit Anbeginn begleitete, sagte auf die Frage, was die Chácara sei, Fol-
gendes:

[Die Chácara] ist keine wohltätige Institution, sie ist ein Ort zum Wohnen, ein Ort
zum Zusammenleben, zum Lernen des Zusammenlebens. (Interview, 5. Mai 2003)

Viele der befragten erwachsenen Beteiligten äusserten im Verlauf der Interviews


in ähnlichem Wortlaut und mit Nachdruck, dass die Chácara „keine wohltätige
Institution“ sei, sondern ein „Ort zum Zusammenleben“. Diese Kontrastierung
wirkte auf die Autorin zunächst überraschend, könnte doch eine Organisation
wie die Chácara durchaus als „wohltätig“ (da sie sich an benachteiligte Personen
richtet) und als „Institution“ (da sie über Statuten, Vorstand, Angestellte, Infra-
struktur etc. verfügt) bezeichnet werden.
Obwohl in verschiedenen Interviews Teilaspekte davon etwas ausgeführt
wurden und auch in einigen Dokumenten Hinweise auf sie gefunden werden
konnten, lag weder mündlich noch schriftlich eine explizite Beschreibung dieser
Kontrastierung an sich und ihrer konkreten Umsetzung in der Chácara vor. Erst
die induktive Analyse der Interviews sowie einiger Dokumente erlaubte es, die-
ses Konzept zu erfassen und festzustellen, dass sich in Äusserungen wie der
gerade zitierten die eigentliche soziale Grundkonzeption der Chácara widerspie-
gelt. Einen wichtigen Hinweis gab eine Aussage eines brasilianischen Staatsan-
walts und Spezialisten für die Rechte des Kindes, welcher die Chácara ebenfalls
seit deren Anfängen begleitet, auf die Frage, was ihm an dieser besonders gefal-
le:

Es ist ganz besonders diese Art und Weise, in der man dort [in der Chácara] die Jun-
gen so sehen kann, wie sie sind. Nicht als Diebe („pivete“), nicht als Bandenmitglie-
der („trombadinha“), nicht wie diese Etiketten [suggerieren], welche die Gesell-
schaft diesen Wesen aufdrückt, die in Wirklichkeit auf einem Lebenskurs sind, den
sie nicht gewählt haben, und der einer Lebensweise entspricht, die niemand je frei-
willig wählen würde. Ich bin der Meinung, dass das Perverseste an dieser Situation,
welche sie erleben, die Haltung ist, sie für ihre eigene Randständigkeit verantwort-
lich zu machen, in der sie sich befinden, als ob sie sich freiwillig dafür entschieden
hätten, am Rand der Güter und Dienstleistungen zu leben, welche die Gesellschaft

179
produziert. Das Buch von Rossato140 zeigt, wozu sie gemacht werden: entweder zu
„Mini-Banditen“ oder zu „armen Seelen“, die lediglich Wohltätigkeit verdienen. Als
bezeichnend für die Chácara sehe ich, dass die Jungen dort eine Identität haben, ei-
nen Namen, eine Geschichte, eine Zukunft, dass sie ein Lebensprojekt errichtet se-
hen und auch eine Beziehung der Solidarität, die dort entsteht (...). Dies ist ein be-
sonderer Umstand, den die Chácara anbietet, anders als die „totalitären Institutio-
nen“, anders als die offiziellen Institutionen, in denen dem Menschenwesen keine
Entwicklung erlaubt ist und nicht einmal die Identifikation dessen, was es in Tat und
Wahrheit ist: ein Wesen in Entwicklung, ein Kind oder Jugendliches wie jedes ande-
re, das dieselben Wünsche hat und dieselben Verhaltensweisen wie jedes andere,
wie ein normales Kind oder Jugendliches. (Interview, 6. Mai 2004)

Aus diesem Zitat wird eine von den an der Chácara beteiligten Personen wahr-
genommene Dualität sichtbar: Dort, wie in den Kapiteln 2.2, 2.3 und 4.1.3 wer-
den eine Gesellschaft und ihre „totalitären Institutionen“ beschrieben, welche die
Kinder und Jugendlichen in eine periphere, untergeordnete beziehungsweise
abgewertete Position verweisen, in der ihnen lediglich Strafen oder Almosen
zukommen. Hier eine Gemeinschaft – die Chácara – in welcher die Jungen Iden-
tität, Namen, Geschichte und Zukunft haben, eine Position im Zentrum und nicht
am Rand erhalten, mit anderen in einer Beziehung der Solidarität (und nicht der
Abwertung/Unterdrückung) verbunden sind und ein eigenes Lebensprojekt ent-
wickeln. Diese Dualität wird nicht nur von den beteiligten Erwachsenen wahrge-
nommen, sondern auch von den Jungen der Strasse, wie dies bereits in Kapitel
4.1.3 dargelegt wurde.
Der Koordinator der Chácara bezieht sich auf diese Dualität und den Auf-
trag, den sich Projekte geben, in der folgenden Erzählung:

Antwort: Es gab ein Paar aus Rio Grande do Sul141; sie arbeitete in der Nationalen
Strassenkinderbewegung142. Er war Ingenieur, und er sagte, dass die Institutionen
die Kinder und Jugendlichen normalerweise einem ganzen Prozess der Bewusst-
seinsveränderung unterwürfen, weil sie auf der Strasse sehr viel zorniger, sehr viel
gewalttätiger seien, und wenn sie in die Institutionen kämen, würden sie dort zur
Bravheit umerzogen (…). Gemäss seiner Aussage – und ich gehe mit ihm einig – ist
es so, dass der ganze Kampfgeist [der Jungen zugrunde gerichtet wird]. Man sieht
viele Projekte, welche auf der Religiosität beruhen, und die Religion verbietet alles,
und so betet man die ganze Zeit, diese ganzen Zustände …
Einwurf der Interviewerin: … sie produzieren „brave Arme“ …
Antwort: Genau! Man sieht, dass der Grossteil der Projekte darauf ausgerichtet ist,
die Gesellschaft nicht zu verändern, sondern darauf, mit noch mehr Projekten wei-

140
Gemeint ist Rossato (2003 a).
141
Teilstaat südlich des Teilstaates Paraná.
142
Movimento Nacional Meninos e Meninas de Rua.

180
terzufahren, um mehr Kinder und Jugendliche zu betreuen, und sie zur Bravheit zu
erziehen. Natürlich gibt es auch Projekte, die in dieser Hinsicht politisch sind, die
sich für Veränderungen, für Information einsetzen, aber leider haben die meisten
Projekte eine Sicht der Welt, dass sie gut sei, so wie sie ist, und dass das, was man
ändern müsse, die Kinder und Jugendlichen seien und nicht die Gesellschaft. (Inter-
view, 20. April 2003)

Die Definition der Chácara als Gemeinschaft, deren soziale Struktur sich bezüg-
lich der Identität, der Position und der Beziehungen ihrer Mitglieder von der
Struktur der Gesellschaft und deren staatlichen Institutionen unterscheidet, be-
ziehungsweise als Reaktion und Gegenstück zu dieser gedacht ist, findet sich
auch im „Pädagogischen Konzept“ der Chácara aus dem Jahr 1995:

Das Konzept ist, Kindern und Jugendlichen aus Curitiba und Umgebung Erziehung
und umfassende Unterstützung zu bieten, mittels eines partizipativen und befreien-
den Prozesses, der sie zu Protagonisten ihrer [eigenen] Förderung macht. Ein päda-
gogisches Konzept für Kinder und Jugendliche (welche ehemalige Jungen der Stras-
se sind) muss klar und objektiv sein. Seine Erarbeitung muss mit deren Beteiligung
derselben geschehen, und es muss ein Konzept sein, welches die Staatsbürgerlich-
keit der Jungen wieder erstehen lässt. Es muss ein „alternatives“ und „alteratives“
Konzept143 sein, welches unsere Gesellschaft transformiert und welches dazu führt,
dass die Jungen als Subjekte ihrer eigenen Geschichte behandelt werden.
Dieses pädagogische Konzept muss sich der autoritären Pädagogik, der Pädago-
gik der Almosen, der Pädagogik der Unterwerfung, der Resozialisierung, der Umer-
ziehung und der Reintegration entgegenstellen.
144
Das Konzept der Stiftung ist eine Arbeit in einem offenen Betreuungssystem ,
welches den Jungen das Zusammenleben in einer Gruppe anbietet, in der die Regeln
und Grenzen mit ihnen und den Erziehenden abgesteckt werden, und in dem immer
beachtet wird, dass das Konzept der Chácara für die Jungen existiert, und dass die
Erziehenden nur „Facilitatoren“ des pädagogischen Prozesses sind, beziehungsweise
Animatoren der Gruppe.

Hier wird stipuliert, dass die Position und Rolle der Jungen in der Chácara derje-
nigen von „Subjekten“, von Staatsbürgern mit Rechten und Pflichten entspre-
chen und damit zu einer Transformation der Gesellschaft beitragen soll. Das
pädagogische Konzept der Chácara soll eine Alternative darstellen zur „autoritä-
ren Pädagogik, der Pädagogik der Almosen, der Pädagogik der Unterwerfung,
der Resozialisierung, der Umerziehung und der Reintegration“, welche den Jun-
gen eine Position und Rolle als „Objekte“ der Interessen und Absichten Dritter

143
Die Chácara wird in einigen Texten auch als „alternative und alterative Gemeinschaft“ bezeich-
net.
144
Im Gegensatz zu einem auf Zwang basierenden, geschlossenen System.

181
zuweist und – so lässt sich aus dem Diskurs ableiten – das herrschende gesell-
schaftliche Ungleichgewicht weiter zementiert, anstatt zu seiner Verringerung
beizutragen.
Die in den hier aufgeführten Zitaten genannten Aspekte lassen sich über das
Konzept der Staatsbürgerlichkeit hinaus mit dem Grundprinzip der Menschen-
würde in Bezug setzen, wie es bereits Kant in seinen Schriften (1785; 1986)
definiert hat und wie es in den UNO Menschenrechten und, in verschiedenen
Formulierungen, in den Verfassungen einer Grosszahl von Ländern mit demo-
kratischem Staatssystem verankert ist, darunter auch von Brasilien und der
Schweiz. Dieses Grundprinzip umfasst die Achtung vor dem Anderen, die Aner-
kennung seines Rechts zu existieren sowie die Anerkennung der prinzipiellen
Gleichwertigkeit aller Menschen. Es sieht den Menschen als Zweck an sich, der
keinem fremden Zweck unterworfen werfen darf (der also, wie im zitierten Pä-
dagogischen Konzept erwähnt, Subjekt und nicht Objekt ist).
Die Verankerung des „Pädagogischen Konzepts“ der Chácara in Konzepten
der Menschenwürde und demokratischen Staatsbürgerlichkeit suggeriert unter
anderem, dass die Chácara von den an ihr Beteiligten als eine Gemeinschaft
gesehen wird, welche so ist, wie die brasilianische Gesellschaft aufgrund ihrer
Verfassung und Gesetze eigentlich sein sollte. In diesem Sinne stellt sie eine
Alternative zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen Umständen dar, welche den
Jungen (und weiteren Mitgliedern der brasilianischen Gesellschaft) Menschen-
würde und Staatsbürgerlichkeit verwehren. So sagte der Koordinator in einem
Interview:

Wir hielten es für notwendig, die Chácara als Referenz aufzubauen, nicht als Mo-
dell, aber als eine kleine Referenz für den Staat, für die sich organisierende Zivilge-
sellschaft, [als Beweis dafür,] dass man ein Projekt gestalten [kann], in dem Men-
schen als Subjekte [behandelt werden], dafür, dass man die Staatsbürgerlichkeit
wiedergewinnt, aber dass man all dies mittels Partizipation zu erreichen sucht. (In-
terview, 20. April 2003)

Auf die in diesem Rahmen entstandene soziale Struktur soll nun näher eingegan-
gen werden.

4.4.3 Soziale Struktur

Wenn die eben beschriebenen Annahmen und Werte der sozialen Grundkonzep-
tion der Chácara nicht nur Lippenbekenntnis sind, dann müssten sie – wiederum
im Sinne der Kulturmerkmale Schulers (2004) – die Gestaltung der sozialen
Strukturen und Prozesse der Organisation prägen.

182
Hier sollen nun aufgrund der Datenanalyse die Akteure der Gruppe der Erzie-
henden und Koordination in Hinblick auf ihre Herkunft, Motivation und weitere
Charakteristika dargestellt werden.
Für die Gruppe der Erziehenden ist typisch, dass ihre Mitglieder (zum Zeit-
punkt der Feldforschung mit einer einzigen Ausnahme) bzw. ihre Familien auf
der Suche nach besseren (wirtschaftlichen) Überlebensmöglichkeiten vom Land
in die Stadt migriert sind. Sie tragen zwar noch Spuren ländlicher Kultur in sich,
sind jedoch vor allem von städtischen, wirtschaftlich sehr armen Verhältnissen
geprägt145 und haben – wie zum Beispiel die ehemaligen Jungen der Chácara
unter ihnen – zum Teil selbst auf der Strasse gelebt. Der Koordinator verfügt
über dieselbe Herkunft. Ein weiteres Merkmal dieser Gruppe ist die bereits er-
wähnte starke Identifikation der Erziehenden mit den Jungen, welche diese mit
ihrer eigenen Geschichte begründen. Viele der Erziehenden kennen den Koordi-
nator seit den 1980-er Jahren, als sie selbst als Kinder, Jugendliche oder junge
Erwachsene an der von ihm koordinierten Gemeindearbeit in der Vila Lindóia
und der Arbeit mit den Kindern auf der Strasse teilnahmen und diese mit ihm
zusammen aufbauten und gestalteten. Aussagen wie: „Es wurde uns geholfen,
nun helfen wir!“, oder wie die im folgenden Zitat von einem Erzieher und ehe-
maligen Jungen der Chácara gemachten, lassen eine besonders starke Motivati-
on, den Jungen zu helfen, vermuten:

Frage: Was ist das Wichtigste, was ein Erzieher in seiner Arbeit mit den Jungen ha-
ben muss?
Antwort: Ich glaube, dass es die Liebe ist für das, was er tut. Ich glaube, das ist die
Hauptsache. Den Rest der Schwierigkeiten ... mit denen können wir umgehen, nicht
wahr. Ich glaube, dass es darum geht, die Arbeit aus Liebe tun zu wollen. Es bringt
nichts, wenn der Erzieher – was hier nicht der Fall ist – [nur] an Geld denkt; er muss
[die Arbeit? die Jungen?] wirklich mögen. Es bringt nichts, wenn er nur herkommt,
um herzukommen, nur aus Gründen des Geldes, wegen eines Salärs. Er braucht ei-
nes, nicht wahr ... aber brauchen: jedermann braucht es, aber man muss ... so wie
ich, ich arbeitete in einer Firma (...) und verdiente dort (...), aber ich sah, dass dies
nicht meine Sache war, in der Industrie (...) zu arbeiten. Ich wollte hier sein, Fernan-
do helfen, den Jungen helfen. Jeden Tag ging ich ins Stadtzentrum und traf dort
meine Freunde, auf der Strasse, die so lebten, wie ich damals, und [ich wollte], dass
sie wie ich die Möglichkeit hätten, diese zu verlassen. (Interview, 6. Mai 2003)

Als weitere Begründung für den Beizug von Erziehenden, welche selbst aus
wirtschaftlich sehr benachteiligten Verhältnissen kommen und/oder einige Zeit
selbst auf der Strasse gelebt hatten, wird vorgebracht, dass diese die betreuten
Jungen besser verstehen könnten und diesen gegenüber über eine hohe Glaub-

145
Siehe auch Kapitel 4.1.1.

184
würdigkeit sowie eine besondere Eignung als Vorbild verfügten, wie derselbe
Erzieher beschreibt:

Ich bin der Meinung, dass [die Gruppe der Erziehenden] eine gute Gruppe ist, eine
Gruppe, die gut arbeiten kann. Logisch, Schwierigkeiten haben alle [mal], aber wenn
man die Personen ansieht, die Fernando auswählte, die bereits der Arbeit mit ihm in
der Vila Lindóia entstammten und von denen einige schon dort von ihm betreute
Kinder waren – L., B. – das waren Jungen, denen er half, die er dort in der Siedlung
aufzog – dann sind das Leute, welche die Problematik schon erlebt haben, sie immer
noch erleben. Das macht es einfacher, mit den Jungen zu arbeiten. Warum, denkst
du, hat Fernando nicht diese ausgebildeten Erzieher ausgewählt, diese staatlich ge-
prüften? Weil die meisten von ihnen ein ... ein ausgewogeneres Leben haben. Ich
glaube, dass sie nicht so viele Schwierigkeiten durchlebt haben – klar, einige
schon – aber ich glaube, dass sie schon ein viel besseres Leben haben (...). Diejeni-
gen, die wirklich aus der Favela kommen, von denen es nicht einmal allen gelungen
ist, die Mittelstufe abzuschliessen, die höchstens bis zur fünften Klasse gekommen
sind ... so, wie die Mehrheit unserer Erziehenden, die höchstens bis zur siebten Klas-
se gekommen sind ... danach sind sie in die Abendschule gegangen und haben den
Abschluss gemacht ... dies sind Leute, die schon aus dem Leid kommen.
Es gab immer schon eine Arbeit dort in der Siedlung, und als Fernando kam, be-
gann er, dort [auch] eine Arbeit zu machen, und [die Leute] beteiligten sich immer
daran, darum sind es bereits gut vorbereitete Leute. Logisch, sie brauchen mehr
Vorbereitung [meint formelle Ausbildung], müssen immer danach streben, sich wei-
ter vorzubereiten, und es gibt da und dort immer wieder einmal ein Problem, aber es
ist eine sehr gute Gruppe hier. (...) Ich mag die Gruppe der Erziehenden hier. Jeder
hat wieder eine andere Art, zu arbeiten, alle sind unterschiedlich (...). Was ihre Ar-
beitsmotivation anbelangt, so ist es ihr Anliegen, den Jungen zu helfen ... denn,
wenn sie dies nicht tun, wer wird es dann tun? Immerhin sind sie hier und kümmern
sich [um die Jungen]146. (Interview, 6. Mai 2003)

Das Verständnis, welches die ebenfalls aus wirtschaftlich armen Verhältnissen


stammenden Erziehenden den Jungen entgegenbringen, spricht ein weiterer Er-
zieher an, der als Kind und Jugendlicher an der Jugendarbeit in der Vila Lindóia
sowie an der Arbeit mit den Kindern auf der Strasse beteiligt gewesen war:

146
Die Arbeit mit Strassenkindern und anderen benachteiligten Gruppen ist in Brasilien keine
populäre, von vielen Stellensuchenden begehrte Arbeit. Wer sich eine Ausbildung aneignen
konnte, die den Zugang zu einer gut bezahlten, mit gesellschaftlichem Prestige versehenen Ar-
beitsstelle ermöglicht, wird zumeist nicht eine geringer bezahlte Stelle annehmen wollen, die zu-
dem von vielen Personen als mit dem „Stigma“ der Nähe zu benachteiligten Personen behaftet
wahrgenommen wird. Natürlich gibt es Ausnahmen; es ist jedoch für solche Projekte schwierig,
gute Mitarbeitende zu finden.

185
Tatsächlich ergab die Datenanalyse, dass sich die soziale Grundkonzeption der
Chácara in ihren Akteuren und Beteiligten sowie in deren Position, Rollen und
Beziehungen spiegelt und dass sie sowohl im hauptsächlichen sozialen Prozess
der Organisation abgebildet ist als auch durch diesen konstruiert und aufrechter-
halten wird. In diesem Kapitel sollen deshalb drei für die soziale Struktur der
Chácara charakteristische Aspekte auf der Basis der Daten dargestellt werden,
nämlich

ƒ Gruppen von Akteuren und weiterer Beteiligte


ƒ Position der Jungen
ƒ Beziehungen und Bindungen unter den Akteuren und vor allem gegenüber
den Jungen

4.4.3.1 Akteure und weitere Beteiligte

Eine soziale Struktur wird von Personen gebildet. Hier sollen nun diejenigen
Personengruppen mit ihren Charakteristika beschrieben werden, auf welchen die
soziale Struktur der Chácara beruht.
Die im Rahmen der Forschungsarbeit befragte, systemisch arbeitende Psy-
chologin, welche für die Supervision der Mitarbeitenden der Chácara zuständig
ist, spricht von drei Subsystemen von Akteuren innerhalb der Chácara: den Jun-
gen, den Erzieherinnen und Erziehern sowie der Koordination (welche zum Zeit-
punkt der Befragung aus einem einzelnen Koordinator bestand).
Diese drei „Subsysteme von Akteuren“ wurden zur Zeit der Feldforschung
in der Chácara explizit als Gruppen behandelt. So wurde zum Beispiel die Su-
pervision der Erzieherinnen und Erzieher in Kleingruppen durchgeführt, wobei
die Gruppe selbst Thema war, und nahm der Koordinator an separaten Supervi-
sionssitzungen teil. Die Jungen ihrerseits beteiligten sich an einer Grosszahl von
durch Erziehende oder externe Pädagoginnen durchführten Aktivitäten, welche
unter anderem Verhalten und Beziehungen innerhalb ihrer Gruppe zum Thema
hatten.
Die Gruppe der Jungen wurde vor allem in Kapitel 4.1.3 bereits ausführlich
beschrieben. Wie gezeigt werden konnte, sind diese nicht nur junge Menschen in
Entwicklung, welche eine von Armut, Gewalt, Vernachlässigung und auch Dro-
gengebrauch geprägte Geschichte erfahren haben, sondern zeichnen sie sich
durch den Willen, bessere Lebensumstände zu erreichen, eine starke Bindungs-
orientierung sowie verschiedene (Über-)Lebensfähigkeiten, darunter organisato-
rische und gestalterische, aus.

183
Ich habe lange dank Abfall überlebt, als ich Altpapier sammelte, und so habe ich
mich immer mit dieser Realität identifiziert und fällt es mir heute leicht, diese besser
zu verstehen. So bin ich der Meinung, dass ich heute mit den Jungen hier in der
Chácara in einem sehr guten Dialog stehe. Ich identifiziere mich ihnen; es ist eine
echte Identifikation. Dazu kommt, dass ich auch sehr gerne spiele, Witze erzähle …
und ich spüre immer wieder, dass sie sich in meiner Nähe wohl fühlen, so, wie ich
mich wohl fühle, weil ich mit ihnen zusammen bin, im Gespräch, beim Spiel. Des-
halb ist es mein Ziel, viele solche Momente des Spiels, der Musik zu schaffen, denn
ich weiss, dass diese Realität, die wir durchmachten, als wir klein waren, sehr
schwierig war, und deshalb brauchen wir viel Fröhlichkeit, um diese ganze Traurig-
keit der Vergangenheit zu vergessen. (Interview, April 2004)

Eine weitere Gruppe, welche ebenfalls längere Perioden innerhalb der Chácara
verbringt, wird bisher in der Chácara nicht oder kaum als Gruppe von Personen
in einer spezifischen Situation oder mit spezifischen Anliegen bezeichnet. Zu ihr
gehören diejenigen Angestellten, welche zumeist an fünf Tagen pro Woche vor-
wiegend in Küche und Wäscherei sowie zum Teil in der Landwirtschaft tätig
sind und so ihrerseits einen Beitrag zur Sicherstellung des Betriebs der Chácara
leisten. Für sie ist unter anderem charakteristisch, dass sie aus der unmittelbaren
Umgebung der Chácara stammen, nämlich aus der Gemeinde Quatro Pinheiros.
Auch sie leben in wirtschaftlich sehr bescheidenen Verhältnissen, im Gegensatz
zu den Erziehenden sind sie jedoch noch stärker von einer ländlichen und klein-
bäuerlichen Kultur geprägt. Diese Personen sind, wie weitere Nachbarinnen und
Nachbarn, welche die Chácara besuchen oder sporadisch Aufgaben darin über-
nehmen, von grosser Bedeutung für die Integration des Projekts und der aus der
Stadt stammenden Jungen in der Gemeinde. Zudem tragen sie Dienstleistungen,
welche die Chácara der Gemeinde anbietet, in diese hinein.
Eine ganze Reihe von weiteren Gruppen ist an der Chácara beteiligt. Als
Beteiligte werden dabei Personen und Gruppen bezeichnet, welche zur Chácara
eine Art von Beziehung unterhalten, die einen Austausch und/oder gewisse ge-
meinsame Aktivitäten miteinschliesst. Personen und Gruppen, welche zum Bei-
spiel einen reinen Besichtigungsbesuch in der Chácara machen oder Geld spen-
den, jedoch durch keine einen Austausch oder ein Miteinander umfassende Akti-
vitäten mit der Chácara verbunden sind, werden nicht zu den Beteiligten gezählt.
Charakteristisch für die Gruppe der Beteiligten sind ihre grosse Vielfalt sowie
die Tatsache, dass sie ein grosses, alle Teile der Gesellschaft abdeckendes Netz-
werk darstellt. In einem nahe an der Chácara gelegenen Kreis befinden sich der
Vorstand der Chácara beziehungsweise der Fundação Educacional Meninos e
Meninas de Rua Profeta Elias, das übergeordnete Steuerungsgremium der
Chácara, in dem neben dem Koordinator Fernando de Gois mehrere Grün-
dungsmitglieder und weitere Fachleute einsitzen.

186
Weiter umfasst das Netzwerk die Familien der Jungen und die Gemeinden Quat-
ro Pinheiros (Mandirituba) und Profeta Elias bzw. Vila Lindóia, Ehepaare einer
Kirchgemeinde in einer „reichen“ Gegend von Curitiba, Mitglieder von Univer-
sitäten, Schulen und Berufsbildungsinstituten, Unternehmer, Behördenmitglieder
(Beauftragte für Soziales, Sicherheit und Kinderrechte, RichterInnen, Staatsan-
wältInnen, Polizisten etc.), Fachleute aus Sozialwissenschaften und Medizin
(Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Medizin, Zahnmedizin etc.), Glaubensge-
meinschaften, Service-Clubs von Geschäftsleuten, eine Gruppe von Patinnen und
Paten der Jungen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, andere Kinder- und
Sozialprojekte und -institutionen, Mitarbeitende verschiedener Medien, Vertreter
von Nichtregierungsorganisationen und zum Teil von Hilfswerken, einen Erst-
Liga-Fussballclub, ausländische Freiwillige und Zivildienstleistende vor allem
aus der Schweiz und Deutschland sowie andere mehr. Anhang 1 gibt einen etwas
detaillierteren Überblick über die Beteiligten und ihre Rollen in Bezug auf die
Chácara.
Auch die Beteiligten tragen sowohl zur Integration der Chácara in die Ge-
sellschaft als auch zur Integration von Impulsen der Chácara in der weiteren
Gesellschaft bei. Sie leisten zudem einen wichtigen Beitrag an die Arbeit der
Chácara sowie an das Wohlergehen und die Zukunft der dort lebenden Jungen.
Auf die Integration der Chácara und der weiteren Gesellschaft wird zudem in
Zusammenhang mit dem hauptsächlichen sozialen Prozess der Chácara in Kapi-
tel 4.5.2.2 ausführlicher eingegangen.
Eine vollständige Untersuchung über den in der Chácara angestrebten und
beobachteten Prozess der gegenseitigen Integration überstiege den Rahmen der
vorliegenden Arbeit. Eine entsprechend ausgerichtete weiterführende Studie
könnte für diese und andere Organisationen, welche ihrerseits mit einer grossen
Zahl verschiedener Beteiligter und Interessengruppen konfrontiert sind, von
Interesse sein.

4.4.3.2 Position der Jungen

Die Position der Akteure in der Organisation ist ebenfalls ein Aspekt von deren
sozialer Struktur. Aufgrund der Interviews, der vorliegenden Texte und Doku-
mente sowie der partizipativen Beobachtung der Autorin kann gezeigt werden,
dass es in den Augen der Beteiligten ein charakteristisches Merkmal der sozialen
Struktur der Chácara ist, dass die Jungen eine zentrale Position einnehmen.
So erwähnten die befragten erwachsenen Mitglieder und Beteiligten in ei-
nem grossen Teil ihrer beschreibenden Aussagen zur Chácara, nämlich in 77 von
276 Textstellen, entsprechende Aspekte der Position und Rolle der Kinder und

187
Jugendlichen in der Chácara. In diesen werden die Jungen unter anderem als
Besitzer und Verantwortliche der Chácara bezeichnet, als diejenigen Akteure,
welchen es obliegt, das Projekt Chácara zu zeigen und zu erklären, als Bürger,
als Personen mit dem Recht, an diesem Ort sich selbst zu sein und ihre Individu-
alität zu verwirklichen, als ‚für voll genommene’ Personen mit Potential, als
Subjekte (und nicht Objekte), die an der Führung beteiligt sind. Die folgenden
Zitate dokumentieren diese Aussagen:

Der zentrale Wert ist, dass der Junge als Subjekt behandelt wird, nicht als Opfer,
und auch nicht als „armer Kleiner“, sondern als Subjekt. (Koordinator, Interview,
19. April 2004)

Das ist es, was von der Institution [Chácara] her am meisten erarbeitet wird: zu zei-
gen, dass sie Bürger sind, dass sie Personen sind mit denselben Rechten wie jede
andere Person auch, und dass sie geliebt werden. (…) Ich sehe, dass sie den Raum
haben, um sich selbst zu sein, sogar in denjenigen Dingen, mit denen wir nicht ein-
verstanden sind (…). Ganz im Gegenteil, es gibt Spiele [der Jungen], die nicht an-
gemessen sind, es gibt Gewohnheiten, die nicht einer perfekten Erziehung entspre-
chen, aber [die Jungen] werden respektiert. Ihre Transition ist sehr graduell, und das
setzt gewisse Limiten. Das Ziel ist nicht, die Jungen als Frucht einer formellen Er-
ziehung in grosse Intellektuelle zu verwandeln. Sie entwickeln ihr menschliches Po-
tential unter besonderer Berücksichtigung ihrer Individualität. (Vorstandsmitglied
und Lehrerin, Interview, 16. April 2004)

Das „Pädagogische Konzept“ der Chácara aus dem Jahr 1998 enthält mehrere
Hinweise zur Position der Jungen in der Chácara. Es besagt unter anderem, dass
es sich dabei um eine zentrale, derjenigen der Erziehenden (als „Facilitatoren“
bzw. „Animatoren“) vorgelagerte Position handle, die nicht einer Position der
Unterwerfung oder Unterdrückung entsprechen solle. Die Stellung der Jungen,
welche nicht als passive Objekte, sondern als Subjekte mit eigenen Rechten
angesprochen werden, entspricht der bereits erwähnten Konzeption der Men-
schenwürde. Deren zentrale Verortung schliesst an die ebenfalls bereits erwähnte
„absolute Priorität“ an, welche die brasilianische Verfassung und das brasiliani-
sche Kinderrechtsstatut Kindern und Jugendlichen einräumen. Die zentrale Posi-
tion der Jungen wird besonders deutlich in der Rolle, die sie in der Chácara spie-
len und die in Kapitel 4.5.2.1 ausführlich beschrieben wird.

4.4.3.3 Bindungen und Beziehungen

Ein weiterer, häufig erwähnter und deshalb als charakteristisch zu bezeichnender


Aspekt der sozialen Struktur der Chácara ist, dass diese „eine Art Familie“ dar-

188
stelle. In diesem Zusammenhang wurde in den Aussagen der befragten Personen
vor allem die Art der Bindungen und Beziehungen der Erwachsenen gegenüber
den Jungen genannt, und zwar in 40 der bereits oben genannten 276 Textstellen
in den Interviews mit den erwachsenen Beteiligten147. In einer Gruppendiskussi-
on machten fünf Erzieherinnen und Erzieher auch einige Angaben zur Art der
Beziehungen, welche sie untereinander pflegen.
Die Bindungen der Erwachsenen gegenüber den Jungen werden von den
Erziehenden zum Teil mit ihrer eigenen Geschichte begründet, so im Fall eines
der ersten aufgenommenen Jungen der Strasse, der als Erwachsener als Erzieher
in der Chácara tätig ist:

Frage: Was scheint Dir besonders wichtig in der Betreuung der Jungen? Du hattest
148
gesagt, dass man sie immer ermutigen muss ...
Antwort: ... Ja, man muss ihnen zeigen, dass dies hier der beste Weg für sie ist; sie
aus jenem anderen Leben heraus holen. Ich selbst, der ich schon Junge der Strasse
war, ich weiss, dass es hier die Möglichkeit einer besseren Zukunft gibt, als auf der
Strasse zu bleiben, und so zeigen wir dies den Jungen. Man muss immer mit ihnen
reden, immer das Gespräch suchen, denn es ist auch schwierig für die Jungen. Sie
sind sehr jung und haben noch nichts von dem, was sie für sich möchten, definiert.
Darum ist es wichtig, dass wir immer mit ihnen reden, denn sie sind schon durch so
viele Projekte gegangen und es hat nichts [gebracht] – sie gingen hin, kehrten auf die
Strasse zurück, gingen hin, kehrten zurück, waren wieder auf der Strasse ... und dann
kommen sie hierhin. Das Projekt hier ist anders (...). Die Erziehenden wissen, wie
mit den Jungen zu arbeiten ist, aber auch so ist es schwierig für diese. Da muss man
sie immer ermuntern, immer mit ihnen reden. Vor allem muss man an sie glauben.
Für mich [ist dies das Wichtigste], an sie zu glauben, dass sie dieselbe Chance erhal-
ten, die ich hatte, oder sogar noch eine grössere, aus diesem Leben [auf der Strasse]
herauszukommen. (...) Man muss immer versuchen, sie zu ermutigen. Man gibt sie
149
[wirklich] niemals auf, nicht wahr! (Interview, 6. Mai 2003)

Diese Art von engagierter Bindung wird – zusätzlich zur bereits beschriebenen
zentralen Position der Jungen – als von besonderer Wichtigkeit für das Funktio-
nieren der Organisation gesehen. So antwortete eine im Vorstand tätige Lehrerin
auf die Frage, was ihrer Ansicht nach die Chácara zu Fall bringen könnte:

147
Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Zentralität der Jungen nicht nur der vom Kinder-
rechtsstatut vorgeschriebenen „absoluten Priorität“ entspricht, sondern, dass sie ein fest veran-
kertes, orientierendes Element im Denken (und wie in Kapitel 4.4.3 und 4.4.3.2 ausführlicher be-
schrieben, im Handeln) der erwachsenen Beteiligten der Chácara ist.
148
„Incentivar“.
149
„Agora você nunca desiste deles, né!“

189
Ich bin der Meinung, [dass dies geschehen könnte], wenn die Chácara diese persön-
liche Bindung der Erziehenden an die (…) Jungen verliert. Das würde sie wirklich
zerbrechen, (…) die gesamte Struktur der Arbeit würde sich auflösen, denn alle dort
sind Väter, Mütter, ältere Brüder; ihre Bindung an die Jungen ist familiär. Es ist an-
ders als [im Fall] einer Hausmutter150. Trotz des Namens sieht man [bei jenen] einen
klaren Unterschied. Ich habe schon von Projekten gehört, in denen eine Familie im
Haus lebte, Vater, Mutter und deren leibliche Kinder, zwei oder drei Kinder (…),
und dann noch die Kinder des Sozialprojektes, und das leibliche Kind bekam Ge-
schenke und die anderen nicht. Das heisst, in einem solchen Projekt trete ich als
151
„Hausmutter“ ein, aber in Tat und Wahrheit bin ich Fachkraft , denn die Bezie-
hung, die ich mit jenen [betreuten] Kindern habe, ist nicht familiär. In der Chácara
entsteht eine Bindung, die weniger idealisiert wird. Man ist nicht Mutter, aber man
tut vieles, das der Rolle einer Mutter entspricht; man ist nicht Vater, aber man tut
vieles, was der Rolle eines Vaters entspricht. (…) Wenn man heute eine Ausschrei-
bung machen würde, um zum Beispiel Personen mit Universitätsausbildung anzu-
stellen, aber diese Form der Bindung nicht aufbauen könnte, würde man die ganze
Arbeit verlieren. Wenn die Chácara zum Beispiel [dem äusseren Druck] nachgege-
ben hätte und sehr viele Jungen aufgenommen hätte, ohne zuvor die ganze Arbeit zu
strukturieren, die diesen Unterschied [in der Bindung zu den Jungen] ausmacht (…),
glaube ich, dass sie nicht funktionieren würde. Das ist es, was heute in den meisten
Projekten geschieht; man nimmt heute ein Kind auf, morgen tritt es aus, und es
kommt ein anderes, ohne dass je eine Bindung aufgebaut würde; das ist ein grosses
Problem der Institutionen. Die Chácara hat nicht diesen Charakter; sie hat eher den
Charakter einer Gemeinschaft, einer Kernfamilie, mit Vätern, Müttern, Kindern. Al-
les wird miteinander geteilt und besprochen, es gibt Versammlungen, und sie ist
immer noch eine funktionierende Gemeinschaft. (Interview, 16. April 2004)

Diese Bindung zwischen den Erwachsenen und den Jungen ist in der Chácara
deutlich sichtbar. So sitzen beim Essen Erwachsene und Jungen vermischt an
den Tischen und danach miteinander auf der Veranda. Die am Morgen ankom-
menden Erziehenden begrüssen alle Jungen, denen sie begegnen (und von denen
sie bereits erwartet werden) mit einer Umarmung152, mit einem Winken, dem
Namen, ohne, dass dies irgendwie vorgeschrieben wäre. Ein 19-jähriger, kürzlich
aus der Chácara ausgetretener, aber dort noch als Freiwilliger mitarbeitender
Junge sagte in einem Interview:

Antwort: Die Rolle von Fernando ist wie die eines Vaters, für alle. Eines Vaters, ei-
ner Mutter. [Eine Rolle], mit welcher er der Gruppe hilft, mit welcher er all das gibt,

150
„Mãe social“, entspricht einem Konzept wie z. B. demjenigen in Kinderdörfern, wo jedes Haus
über eine Hausmutter und eventuell einen Hausvater verfügt, welche eine Kleingruppe betreuen.
151
„Técnica“.
152
Hier muss berücksichtigt werden, dass Gesten körperlichen Kontaktes in Brasilien stärker Teil
der normalen, nicht intimen Kommunikation sind als z. B. in der Deutschschweiz.

190
was einem Vater, einer Mutter nicht gelungen ist, zu geben, was [diese] wegen des
Alkohols nicht geben können. Aufmerksamkeit, Zärtlichkeit, Liebe, Erziehung – das
ist es, was er dort [in der Chácara] tut, das ist seine Rolle: Ein Vater zu sein, eine
Mutter für alle Jungen.
Frage: Und die anderen Erzieher?153
Antwort: Die Erzieher sind in Tat und Wahrheit [wie] ältere Brüder, also: Fernando
ist der grosse Vater, und die Erzieher sind die älteren Brüder. Sie sind es, die die
Gruppe begleiten, die kleinen Brüder, und versuchen, ihnen zu zeigen, was richtig
ist und was falsch. (Interview, 27. März 2003)

Dieser vertraute, herzliche Umgang steht in starkem Kontrast zu Szenen, welche


die Autorin in von der Stadt Curitiba betriebenen Häusern für Kinder und Ju-
gendliche der Strasse beobachtet hat. Eine typische Szene in einem mehrfach
besuchten solchen Haus sieht so aus, dass die dort tagsüber anwesenden Jungen
und Mädchen im Gras ausserhalb des Gartentors sitzen, miteinander schwatzen
oder mit gefundenem Abfall ein Spiel spielen. Die angestellten Männer und
Frauen stehen derweil in leuchtend orangen Westen, auf denen der Name der
verantwortlichen Behörde steht, im Gartentor selbst. Sie kehren den Kindern und
Jugendlichen den Rücken zu, rauchen und unterhalten sich zum Teil lauthals
über „die da“. Mehrmals, davon zweimal im Jahr 2005, beobachtete die Autorin
zudem, wie ein männlicher Angestellter einem halbwüchsigen Mädchen Negati-
ves und sehr Anzügliches nachrief. Die den Kindern und Jugendlichen ganz oder
beinahe unbekannte Besucherin wird am selben Ort, sobald sie Interesse zeigt
und das Gespräch aufnimmt, von ihnen umringt, herzlich empfangen und zum
Mittagessen eingeladen. Es ist spürbar, dass sie den Kontakt und die Bindung
suchen. Die Angestellten stehen derweil weiterhin desinteressiert beisammen, bis
die Besucherin sie anspricht. Während dreier Besuche innerhalb von vier Wo-
chen, welche zwischen einer halben Stunde und zwei Stunden dauerten, konnte
die Autorin nie ein Gespräch zwischen einer mitarbeitenden Person und einem
Kind oder Jugendlichen beobachten, das über einen Befehl „von oben nach un-
ten“ hinaus ging.
Begriffe wie „Liebe“ und „Zuneigung“ erscheinen oft im Diskurs der Mit-
arbeitenden der Chácara, so auch in folgenden Aussagen:

Es ist so, ich arbeitete für die Stadt, aber das war vollkommen anders. [Hier in der
Chácara] hat es mehr Liebe, nicht wahr. Wir hängen wirklich an ihnen (den Jungen),
ob wir wollen oder nicht, wir hängen an ihnen (die Sprecherin und die anderen fünf
anwesenden Erzieherinnen und Erziehern strahlen alle bei dieser Äusserung) … wer
hier [in die Chácara] eintritt, bleibt entweder, weil es ihm gefällt – und dann klappt

153
Während des Aufenthalts dieses Jungen in der Chácara arbeiteten dort nur männliche Erzieher.

191
es auch – [oder er tritt wieder aus]. (Erzieherin, Gruppendiskussion, 25. November
2003)

Die Priorität der Chácara (…) ist, dass der Junge angenommen wird, dass er respek-
tiert wird, dass er Zuneigung spürt. Deshalb umarmen wir gerne die Jungen, spielen
mit ihnen … auch Spielereien, in denen wirklich ein Kontakt entsteht, eine Zärtlich-
keit, ein Lachen, ein Necken … zeigen ihnen wirklich auch diese Seite der Liebe,
[aber natürlich] auch mit Grenzen; es ist [auch] nötig, zu korrigieren, und wir korri-
gieren liebevoll. Ich bin der Meinung, (…) dass man die grösstmögliche Liebe zei-
gen muss, die man für das Menschenwesen, für sein Kind hat, aber man muss auch
korrigieren; man muss beides tun. (Mitglied der Arbeit in der Vila Lindóia und auf
der Strasse, Gründungsmitglied, Vorstandsmitglied, Interview, 26. April 2004)

Ich bin der Meinung, dass es nicht in erster Linie um Dinge geht, sondern um die ei-
gentliche Liebe, darum, jedem Jungen, der dort [in der Chácara] ist, Liebe und Be-
sorgtheit zu zeigen, unabhängig von seinen Schwierigkeiten und seiner Vergangen-
heit, damit er Vertrauen haben kann zu den Personen, die dort sind, und (…) merkt,
154
dass niemand von ihnen aus Eigennutz dort ist, dass niemand mit finanziellen Ab-
sichten dort ist, sondern für ihn selbst, für diesen Jungen, damit er ein würdiges Le-
ben erlangen kann. (Mitglied der Arbeit in der Vila Lindóia und auf der Strasse,
Gründungsmitglied, Vorstandsmitglied, Interview, 26. April 2004)

Ein weiteres Zeichen für die Zuneigung und das Engagement der Erziehenden
für die Jungen ist in den Augen der Autorin, dass viele von ihnen an freien Wo-
chenenden oder Feiertagen mehrere Jungen – vor allem neuere, die noch mit den
Schwierigkeiten des Einlebens in der Chácara zu kämpfen haben – mit zu sich
nach Hause nehmen, obwohl sie selbst nur knapp über genügend Mittel verfü-
gen, um sich und ihre leiblichen Angehörigen mit Nahrung zu versorgen. So
sollen diese auch Gelegenheit erhalten, sich in einer kleinen Gruppe und in ei-
nem „normalen“ Haushalt ausserhalb der Institution aufzuhalten.
In den Augen der Erziehenden der Chácara ist es gerade die familiäre Bin-
dung, welche bei den Jungen zu Veränderungen führt, wie ein Erzieher in einer
Gruppendiskussion erwähnte:

Schau, was im Leben eines Jungen einen grossen Unterschied macht, ist in erster
Linie, dass er in ein familiäres Umfeld und Klima hineinkommt. Vor allem, wenn er
etwas anderes antrifft, als er auf der Strasse erlebte: Zuneigung, Aufmerksamkeit,
jemanden, der ihm eine andere Vision aufzeigt, der sich um ihn bemüht, [ihm Din-
ge] zeigt und in dem Moment korrigierend eingreift, in dem er Schwierigkeiten hat.
(Erzieher, Gruppendiskussion, 25. November 2003)

154
„Segundas intenções”, „hidden agenda“.

192
Denselben Aspekt erwähnt die an der Chácara beteiligte Pädagogikprofessorin:

[Die Jungen] brauchen Werte, welche dauerhafte Bindungen darstellen. Dies bedeu-
tet, dass die Leute dort [in der Chácara] sein sollen, weil sie die Jungen mögen und
weil sie gerne mit ihnen zusammen sind, und zwar unabhängig von jeder spezifi-
schen Handlung [, unabhängig vom Gedanken, dass:] „dieses oder jenes getan wer-
den muss“, sondern deshalb, weil sie gerne mit ihnen zusammen sind (…). In die-
sem Sinne [geht es] um dauerhafte Werte: Zuneigung, Wahrhaftigkeit, korrektes
Handeln, im Sinne eines korrekten Verhaltens ihnen gegenüber, Friedens, des sich
dort Wohlfühlens (…), der Verantwortung. (Interview, 5. Mai 2003)155

Diese Bindung aufzubauen, ist jedoch nicht immer einfach, wie die für die Su-
pervision der Mitarbeitenden verantwortliche Psychologin aus der Betreuung
von einheimischen, freiwillig in der Chácara tätigen Studentinnen weiss:

Ja, weil [die Studentinnen] neue Personen [in der Chácara] waren, die eine Bin-
dungsmöglichkeit anboten, wurden sie auch als Bedrohung gesehen, das heisst, sie
erlebten zum Teil sehr starke und auch sehr widersprüchliche Reaktionen. Es ist
manchmal schmerzlich und beschwerlich, diese Bindung zu erlangen, und zwar ge-
nau deshalb, weil es eine Bindung ist, die dazu neigt, sich zu entwickeln, sich zu
vertiefen. Und [der Junge] hat Angst, sich dieser [Bindung] zu überlassen, sich ihr
zu öffnen. Gerade weil das Konzept eines der Präsenz, des Dabeiseins war, zeigten
die Jungen Reaktionen von grosser Anhänglichkeit, gleichzeitig aber auch von Dis-
tanz. Das heisst, sie reagierten gegenüber [den Studentinnen] so, wie sie im Allge-
meinen gegenüber der Gesellschaft reagieren, das heisst, sie haben ein grosses Be-
dürfnis, dazuzugehören, aber gleichzeitig auch eine grosse Wut auf die Personen,
denen sie Zuneigung entgegenbringen. Es ist eine stark von Ambivalenz geprägte
Bindung, wie sie aufgrund ihrer Lebenssituation auch nicht anders zu erwarten ist.
(Interview, 3. April 2004)

Wie in Kapitel 4.1.3.4 dargestellt, ergab die Auswertung der Gründe, weshalb
die Jungen von einem Lebenskontext in einen anderen wechseln, dass Bindungen
zu anderen Menschen eine wichtige Rolle spielen. So überrascht es nicht, dass in
Gesprächen ausserhalb der Feldforschung zur vorliegenden Arbeit Jungen der
Autorin gegenüber mehrfach erwähnten, dass es diese Bindungen gewesen seien,
welche sie von der Strasse weggeholt und ihnen den Aufbau eines anderen und
eigenständigen Lebens ermöglicht hätten. Einige heute bereits erwachsene Jun-
gen, sagten gar, dass sie ohne die Bindungen, welche Menschen der Chácara zu

155
Diese Überlegungen gehören zu einem Konzept der „Pädagogik der Präsenz“ (Pedagogia da
Presença), zu welcher die Chácara gemeinsam mit der Universidade Federal do Paraná im Jahr
2005 über mehrere Monate eine Weiterbildung für Personen aus staatlichen und nicht-staatlichen
Institutionen und Ämtern anbot, die von etwa 40 Personen besucht wurde.

193
ihnen aufgebaut hätten, heute nicht mehr am Leben wären156. In den Interviews
und Texten äusserten sich die Jungen kaum direkt zur Art der Beziehung zwi-
schen ihnen und den Erziehenden; allerdings wurde auch nicht explizit danach
gefragt. In insgesamt 38 Textstellen in Interviews und Texten sprachen sie je-
doch über die persönliche Einstellung von Erziehenden in der Chácara und in
anderen Projekten. Die Auswertung ergab, dass die Jungen die folgenden Ein-
stellungen und Haltungen seitens der Erziehenden – welche alle mit der konkre-
ten Ausübung wahrgenommener beziehungsweise existierender Bindungen in
Zusammenhang gebracht werden können – als positiv beurteilen157 und/oder sich
wünschen (in Klammern die Anzahl Erwähnungen):

ƒ Echtes Interesse, Liebe, Zuneigung, Geduld; keine Niedertracht, keinen


Hass, keine Verachtung (8).
ƒ Keine Gewalt, keine Aggression, kein Fluchen/Beschimpfen, keine Miss-
handlung, keine Grobheit (12).
ƒ Mit den Jungen reden können und wollen, Konflikte im Gespräch lösen (7).
ƒ Gerechte Behandlung: Nicht nur Tadel, sondern auch Lob, Belohnung oder
Dank, lehrreiche Strafen (7).
ƒ Ansprechpersonen im Konfliktfall, bei Krisen Hilfe gebend, als Vorbild und
Respektspersonen wirkend (4).

Aus den Aussagen von Jungen wird deutlich, dass sie eine Bindung zu den in der
Chácara tätigen Erwachsenen empfinden, welche nicht dem Verhältnis eines
Institutionszöglings gegenüber einem Fachmitarbeiter, sondern einer familiären,
von gegenseitiger Zuneigung und Anerkennung getragenen Beziehung ent-
spricht:

Fernando, die Person von Fernando. Es war so, dass er das, was er tat, aus Liebe tat;
wir spürten dies daran, wie er uns behandelte … das gefiel mir, und so blieb ich hier.
(Ehemaliger Junge, Eintritt Oktober 1993, zum Zeitpunkt des Interviews 23-jährig
und Erzieher in der Chácara, Interview, 6. Mai 2003)

Die Chácara gab mir eine Schulbildung, sie gab mir ein Haus, in dem ich wohnen
konnte, sie gab mir eine Familie. Ich hatte zwar eine Familie bei mir zu Hause, aber
nicht so eine, wie ich hier in der Chácara habe. Die Chácara hat mir alles gegeben,
was ich bis heute in meinem Leben erhalten habe. (20-jähriger Junge, Eintritt
22.12.1994, Mitarbeiter einer Firma und Universitätsstudent, Interview, November
2003)

156
Informelle, mündliche Äusserungen gegenüber der Autorin.
157
In einigen Fällen wurde auch das Gegenteil der erwähnten Haltung als schlecht oder uner-
wünscht bezeichnet.

194
Eine Person, die ich sehr, sehr, sehr, sehr gern habe, ist Fernando. Ich mag alles an
ihm. Die Art, wie er uns behandelt. Manchmal ist er nervös, aber das ist nichts
Schlimmes. Er behandelt uns gut; er redet mit uns, wenn wir ein Problem haben, er
fragt … es gibt so viele Dinge ... wenn Du traurig bist, wenn etwas passiert ist, dann
kommt er und fragt, was geschehen sei, es ist super. (…) Ich würde sagen, dass das
Wichtigste hier ist, dass die Leute uns gut aufnehmen, wenn wir hierher kommen.
Die Leute behandeln uns gut. (16-jähriger Junge, Eintritt 22. Mai 2000, Interview,
6. Mai 2003)

Ich habe hier gezeichnet, dass ich, als ich hier ankam, [zu den Leuten] hinging und
sie grüsste, und sie begrüssten mich richtig! (12-jähriger Junge, Eintritt 2002, Grup-
penübung, 27. April 2003)

Aber ich habe auch die Jungen der Chácara sehr gern, und ich mag die Erzieher. Ich
habe auch Fernando sehr gern, der mich hier in der Chácara akzeptiert hat.
(Fundação E., 1999, S. 115)

Interessant ist, dass viele der Erziehenden tatsächlich miteinander verwandt sind
und/oder einander seit Kindertagen kennen. Auch die Beziehung der drei als
Erzieher arbeitenden ehemaligen Jungen zu den anderen Erziehenden ist famili-
är, sind sie doch während bis zu zehn Jahren in der Betreuung einiger von ihnen
herangewachsen. Informell haben mehrere Erziehende erwähnt, dass die Bluts-
verwandtschaft gelegentlich auch Schwierigkeiten mit sich bringen kann, so zum
Beispiel, wenn zwei Geschwister in der Chácara arbeiten und das ältere eine
Führungsrolle über das Jüngere beansprucht. Gleichzeitig sagten sie aber aus,
dass das Vertrauen und die soziale Kontrolle, welche über die engen, (nicht nur
blutsverwandten) familiären Bindungen möglich sei, die Arbeit erleichtere. Im
Allgemeinen bezeichnen sie die Qualität der Bindungen und Beziehungen in der
Gruppe der Erziehenden als positiv. Ein Beispiel für ihr diesbezügliches Erleben
zeigt sich im folgenden Dialogausschnitt dreier Erzieher und zweier Erzieherin-
nen auf die Frage: „Was gefällt Euch am besten an der Gruppe der Erziehenden“
in einem Gruppengespräch:

Erzieher 1: Gut, ich würde sagen, unser Zusammenleben (...) hier, im Haus, in unse-
rer Gruppe. Ich glaube, dass wir am meisten die Tatsache schätzen, dass wir unsere
eigenen Lösungen finden können. (...) Wenn wir uns [gemeinsam] hinsetzen, wirk-
lich hinsetzen [und miteinander reden], das gefällt mir. Diese Klarheit (...), dass wir
uns vertraut genug fühlen, um uns zusammenzusetzen [und zu sagen]: „Kommt Leu-
te, lasst uns dies einmal [miteinander] ansehen“ – natürlich soweit, wie möglich –
„dieser Punkt ist gut“ ... dass wir einen Moment miteinander teilen und Revue pas-
sieren lassen können, was gerade abläuft, und miteinander reden können, das ist sehr
gut.

195
Erzieher 2: Ah, was ich das Beste an unserer Gruppe finde, ist die Freundschaft. Die
Freundschaft, dass man mit allen reden kann, sich nicht streitet, nicht schlecht über-
einander redet. Das ist es, was ich empfinde, und gut finde. Ich finde, die Hauptsa-
che ist, dass wir uns untereinander gut verstehen. Wenn wir uns untereinander gut
verstehen, dann können wir eine bessere Arbeit zugunsten der Jungen machen, denn
die Jungen ahmen uns ja nach. Ich finde es gut, dass ich mit den einzelnen Erziehen-
den reden kann. Manchmal gibt es eine Schwierigkeit im Umgang mit den Jungen,
und dann kann ich mit jedem einzelnen der Gruppe Ideen austauschen. Der eine oder
andere weiss immer etwas, das hilft. Das gefällt mir sehr gut an der Gruppe hier.
Erzieherin 1: Ich bin derselben Meinung. Was mir am besten gefällt, ist die Art und
Weise. Manchmal haben wir ein Problem, über das wir reden; wir versammeln uns
dafür jeden Freitag (...) und reden miteinander.
Erzieherin 2: Auch für mich ist es unsere Freundschaft. Und die Einfachheit. Wir
können uns in einer einfachen Art ausdrücken, alle als einfache, bescheidene Perso-
nen, und wir fühlen uns ungezwungen, frei, gleichberechtigt ... ähnlich, wie die Jun-
158
gen. Es gibt hier keine Majestäten .
Erzieherin 1: Keiner will sich über den anderen erheben.
Erzieherin 2: Keiner ist besser, keiner ist grösser als der andere, (...) und das führt
dazu, dass wir uns [hier] wohl fühlen. Ich mag auch unsere Freundschaften, diesen
Kontakt; (...) es ist wirklich eine Gruppe von Freunden. Wie schon gesagt wurde,
wenn jemand Schwierigkeiten hat, dann treffen wir uns, sprechen die Sache an, re-
den darüber, lösen sie, ohne Intrigen.
Erzieher 3: Ich mag auch dies: Wenn man etwas zu tun hat, kann man auf jeden ein-
zelnen [der Gruppe] zählen. Sie sind nicht [einfach nur] Erziehende, die eine be-
stimmte Arbeit machen. Sie sind in schlechten und in guten Zeiten [zu allem] bereit
– wenn es darum geht, Nachhilfeunterricht zu geben, wenn man aufs Feld muss,
wenn ein Schwein aus dem Schweinestell geholt werden muss; alle stehen bereit,
ohne zu reklamieren. Was ich am meisten an unserer Gruppe von Erziehenden
schätze, ist diese Spontaneität: dass sie zu allem bereit sind, und dass ich jederzeit
auf sie zählen kann.

4.4.3.4 Zusammenfassung

Zusammenfassend konnte in diesem Kapitel aufgrund der in der Chácara ge-


wonnenen Daten gezeigt werden, dass die befragten erwachsenen Akteure in
dieser eine soziale Struktur wahrnehmen, der sie mehr Bedeutung beimessen als
der physischen Struktur. Die soziale Struktur wird als „Ort des Zusammenle-
bens“ bezeichnet und besteht aus Menschen, welche bestimmte Positionen und
Rollen innerhalb der Organisation innehaben und durch bestimmte Beziehungen
miteinander verbunden sind. In den Aussagen der Befragten wird diese Struktur

158
„Grandeza“.

196
der Chácara im Kontrast zur Struktur „wohltätiger“, „offizieller“ und „totalitä-
rer“ staatlicher Institutionen beschrieben. Diese werden als Repräsentanten und
Aufrechterhalter der ungleichen Gesellschaft gesehen, welche die betreuten Kin-
der und Jugendlichen als fremdbestimmte Objekte einer Pädagogik der Autorität,
der Almosen, der Unterwerfung, der Resozialisierung, der Umerziehung und der
Reintegration unterwerfen. Im Gegensatz dazu wird die Chácara als „alternative
Gemeinschaft“ bezeichnet, in welcher die Jungen eine zentrale Position als
Staatsbürger mit Rechten und Pflichten einnehmen und ihre Menschenwürde
respektiert sehen.
In einem zweiten Teil des Kapitels wurde auf die verschiedenen Gruppen
von Akteuren, die Position der Jungen und die wechselseitigen Beziehungen in
der sozialen Struktur der Chácara eingegangen. Im engeren Kern können die
Akteure drei „Subsystemen“ zugeordnet werden: den Jungen, den Erzieherinnen
und Erziehern sowie der Koordination (welche zum Zeitpunkt der Befragung nur
aus einer Person bestand). Zum Bestand des Projektes tragen aber auch in der
Küche und Landwirtschaft angestellte Personen sowie ein Netzwerk weiterer
Beteiligter bei. Im Rahmen von allgemeinen Beschreibungen der Chácara mach-
ten die Befragten auffallend viele Bemerkungen zur Art der Bindung und der
Beziehungen, welche die Erwachsenen in der Chácara gegenüber den Jungen
pflegen. Diese wurde als familiär sowie von Liebe, Zuneigung und Respekt ge-
prägt beschrieben und als fundamental für das Funktionieren der Chácara und die
Entwicklung der Jungen gesehen. Die Interviewpartnerinnen und -partner hielten
aber auch fest, dass der Aufbau und die Aufrechterhaltung dieser Bindung nicht
einfach ist, da die Jungen aufgrund ihrer Erfahrungen sie sowohl wünschen als
auch zurückweisen.
Eine Auswertung der Einstellungen und Haltungen von Erziehenden, wel-
che die Jungen positiv beurteilen und/oder sich wünschen, weist darauf hin, dass
sie ähnliche Bindungen und Beziehungen suchen wie diejenigen es sind, welche
ihnen die Erziehenden anbieten. Anhand von einigen Aussagen aus Interviews
wurde gezeigt, dass die Jungen eine Bindung zu den in der Chácara tätigen Er-
wachsenen empfinden, welche nicht dem Verhältnis eines Institutionszöglings
gegenüber einem Fachmitarbeiter, sondern einer familiären, von gegenseitiger
Zuneigung und Anerkennung getragenen Beziehung entspricht.
Im Weiteren wurde anhand eines Ausschnitts eines Gruppengesprächs von
Erziehenden gezeigt, dass diese sich auch untereinander als eine Gruppe mit
familienähnlicher Struktur empfinden und dies überwiegend als Vorteil für ihre
Arbeit sehen.
Nachdem die Struktur der Organisation Chácara in ihren hauptsächlichen
Zügen dargestellt worden ist, soll nun auf den Prozess eingegangen werden, der
in dieser Struktur abläuft.

197
4.5 Transformationsprozess

Die beschriebene soziale Struktur der Chácara macht es möglich, dass der zentra-
le Prozess der Organisation überhaupt ablaufen kann. Gleichzeitig bildet sie,
zusammen mit der physischen Struktur, den Raum, in dem dieser Prozess ab-
läuft. Der zentrale Prozess ist ein Transformationsprozess, welcher die in den
Kapiteln 4.1 und 4.2 geschilderte Ausgangslage der Organisation und deren
Zielpublikum in die in Kapitel 4.3.2 beschriebene Ziellage überführen soll. Jun-
gen in einer lebensbedrohlichen Lage, aber mit dem Willen, ein besseres Leben
zu führen, sowie mit einer Anzahl von Bedürfnissen und Kompetenzen ausge-
stattet, sollen zu „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ im staatsbürgerlich-
demokratischen Sinne werden.
Dieser Prozess besteht zunächst aus einzelnen, in der Chácara durchgeführ-
ten Aktivitäten, deren Inhalte hier aufgrund der Datenanalyse beschrieben wer-
den sollen. Die Datenanalyse machte jedoch deutlich, dass der Transformations-
prozess der Chácara noch stärker als durch das inhaltliche „Was“ der Aktivitäten
durch deren „Wie“, das heisst durch gewisse Ausführungsmodalitäten, bestimmt
wird. Daraus wurde gefolgert, dass die Chácara in ihrer Eigenart nur ungenügend
charakterisiert würde, wollte man deren Beschreibung auf die Auflistung von
Aktivitätsbereichen beschränken, wie dies zum Beispiel in betriebswirtschaftlich
orientierten Organisationsanalysen oft getan wird. Der zweite Teil des vorliegen-
den Kapitels befasst sich deshalb mit diesen für die Chácara charakteristischen
Ausführungsmodalitäten, während in einem dritten Teil Aspekte des eigentlichen
Transformationsprozesses dargestellt werden.

4.5.1 Aktivitäten und Tätigkeitsfelder

Im Zweckartikel der Statuten der Chácara ist festgehalten, dass die Kinder und
Jugendlichen mittels „ganzheitlicher Unterstützung und Erziehung“ zu „Protago-
nisten ihrer eigenen Förderung“ werden sollten. In diesem Zusammenhang inte-
ressierte, welche Aktivitäten die Organisation Chácara durchführt und wie diese
gestaltet sind, damit sie einer „ganzheitlichen Unterstützung und Erziehung“
entsprechen. Aktivitäten haben eine zentrale Bedeutung in einer Organisation, da
sie es sind, die zwischen dem „Vorher“ (der Ausgangslage) und dem „Nachher“
(den Zielen) stehen, ja, die Erreichung dieser Ziele überhaupt erst bewirken.
Als Aktivitäten der Chácara werden Tätigkeiten verstanden, welche die
Mitglieder der Organisation oder auch weitere Beteiligte im Auftrag oder im
Namen der Organisation ausführen. Im Folgenden werden die hauptsächlichen
Aktivitäten im Sinne von Tätigkeitsfeldern der Chácara dargestellt, und zwar

198
aufgrund einer Analyse administrativer Dokumente der Organisation sowie er-
gänzender Informationen.
Der vollständigste Bericht der Chácara über ihre Aktivitäten ist ihr Jahres-
bericht. Als Basis der Aktivitätenanalyse wurde der bei Abschluss der Feldfor-
schung aktuellste vorliegende Jahresbericht gewählt, derjenige des Jahres 2004.
Entsprechend stellt die nachfolgende Analyse eine Momentaufnahme des
11. Existenzjahres der Chácara dar, und zwar bezüglich tatsächlich stattgefunde-
ner Aktivitäten. Es muss hier angemerkt werden, dass es in den ersten Jahren der
Chácara eine geringere Anzahl an Aktivitäten gab, welche auch nicht so umfas-
send ausgestaltet waren, wie dies im Jahr 2004 möglich war.
Zur Auswertung des Jahresberichtes wurde ein induktives Vorgehen ge-
wählt, das heisst, die Aktivitäten (im Bericht „atividades“ genannt) wurden ent-
sprechend ihrer Erwähnung im Jahresbericht kategorisiert und gruppiert. Dieses
Vorgehen ergab zunächst zwei Arten von Aktivitäten oder Tätigkeitsfeldern in
der Chácara, nämlich:

1. Aktivitäten, welche sich direkt auf die Jungen in der Chácara beziehen.
2. Aktivitäten, welche zusätzlich auf andere Gruppen ausgerichtet sind bzw.
diese einbeziehen: die Jungen, welche (noch) auf der Strasse leben, die Fa-
milien der in der Chácara lebenden Jungen, die lokale Gemeinde und die
Öffentlichkeit bzw. Gesellschaft.

Die Aktivitäten, welche sich direkt auf die Jungen der Chácara beziehen, werden
im Jahresbericht 2004 auch so benannt und wie folgt aufgelistet:

1.1 Schule
1.1.1 Schulbesuch der Jungen
1.1.2 Zusammenarbeit mit Lehrpersonal
1.1.3 Aufgabenhilfe
1.1.4 Stützunterricht (inhaltlich)
1.1.5 Lernunterstützung (Lernfähigkeit)
1.1.6 Fortbildung des Lehrpersonals
1.2 Pädagogische Aktivitäten
1.2.1 Spiel
1.2.2 Lehre
1.2.3 Sport
1.2.4 Erziehung durch Arbeit

199
1.3 Freizeit
1.3.1 geplante Freizeit
1.3.2 spontane Freizeit
1.4 Kultur
1.4.1 Theater
1.4.2 Musik
1.4.3 Lokale Bräuche
1.5 Haushalt
1.5.1 Organisation/Aufräumen
1.5.2 Putzen
1.6 Kurse
1.6.1 Informatik
1.6.2 Englisch
1.6.3 Fussballschule eines Erstligisten
1.6.4 Automechanik
1.7 Geburtstagsfeiern
1.8 Religion159
1.8.1 katholische und ökumenische Messen
1.8.2 Katechese (auf Wunsch)
1.8.3 Jahresthema Kirche (z. B. „Wasser“)
1.9 Ausbildung
1.9.1 Ausbildung der Erziehenden
1.9.2 Ausbildung der Jungen
1.9.3 Gemeinsame Ausbildung

Abbildung 15: 1. Aktivitäten mit den Kindern und Jugendlichen der Chácara

Die Erziehung und Ausbildung der Jungen wird im Jahresbericht 2004 der
Chácara als besonders wichtig bezeichnet:

159
Besuche evangelischer und evangelikaler sowie jüdischer Gruppen führen oft spontan oder orga-
nisiert zu Momenten gemeinsamer Reflexion und Einblicks in diese Glaubensrichtungen. Indi-
gene und afrobrasilianische Traditionen, darunter auch solche religiöser Natur, werden in der
Chácara ebenfalls präsentiert, zum Beispiel durch die Tupi-Indianer einer Landbesetzung bei Curi-
tiba. Seit dem Jahr 2006 wird zudem zweimal monatlich von Brasilianern japanischer Abstammung
eine freiwillige, gerade bei sehr lebhaften Jungen beliebte buddhistische Meditation angeboten.

200
Die Erziehung und Ausbildung160 ist die grosse Priorität der Stiftung, wenn es um
die Erlangung der Bürgerrechte der Kinder und Jugendlichen geht, welche in der
Chácara leben.

Aus den oben aufgelisteten Aktivitäten ist ablesbar, dass eine Grosszahl ver-
schiedener pädagogischer Aktivitäten durchgeführt wird, welche sowohl ver-
schiedene Lernebenen und -themen (wie z. B. schulisches Wissen, Persönlich-
keitsentwicklung, Zusammenleben in der Gruppe etc.) als auch verschiedene
Lernumfelder (wie z. B. Schule, Freizeit, Haushalt, Arbeit, Organisation der
Chácara, Austausch mit verschiedensten Beteiligten etc.) sowie damit zusam-
menhängend verschiedene Lernmethoden (Unterricht, Diskussionen, Theater,
Musik, Sport, Mitarbeit etc.) umfassen. Auch erstreckt sich die Erziehung und
Ausbildung nicht nur auf die Kinder und Jugendlichen, sondern auch auf die
Erzieherinnen und Erzieher. So ist deren Ausbildung gemäss Jahresbericht Teil
der „Aktivitäten mit den Kindern“, sie ist also eng mit dieser verbunden und
verschmilzt im Fall der Ausbildungen, an denen Erziehende und Jungen gemein-
sam teilnehmen, sogar mit ihr. Im Weiteren erstreckt sich die Erziehung und
Ausbildung auch auf Kreise ausserhalb der Chácara, so zum Beispiel auf die
Lehrerinnen und Lehrer der öffentlichen Schulen, denen teilweise Weiterbil-
dungskurse angeboten werden, welche indirekt dann wieder den dort unterrichte-
ten Jungen der Chácara zugute kommen.
Die Aktivitäten, welche andere Gruppen miteinbeziehen, betreffen Kinder,
welche noch auf der Strasse leben, die Familien der Kinder in der Chácara, die
lokale Gemeinde sowie die Öffentlichkeit als Ganzes. Im Jahresbericht 2004
werden sie wie folgt erwähnt und geordnet:

2.1 Arbeit mit Kindern auf der Strasse


2.2 Arbeit mit Familien der Kinder der Chácara
2.1.1 Hausbesuche bei den Familien
2.1.2 Besuche der Familien in der Chácara
2.1.3 Ausbildungstreffen für die Familien
2.1.4 Teilnahme an Festen der Chácara
2.3 Arbeit mit lokaler Gemeinde
2.3.1 Gemeinsame Aktivitäten

160
Das Wort „educação“ kann sowohl mit „Erziehung“ als auch mit „Ausbildung“ übersetzt wer-
den; gemeint sind hier beide Bedeutungen, wie aus der Aufgliederung der Aktivitäten im Jahres-
bericht 2004 hervorgeht.

201
2.3.1.1 Teilnahme an Festen in der Chácara
2.3.1.2 Freizeit und Gesundheitsausbildung
2.3.1.3 Teilnahme an Kursen der Chácara
2.3.1.4 Teilnahme an Feiern in Gemeinde
2.3.1.5 Fussballspiel in Chácara
2.3.2 Zahnarztpraxis
2.4 Öffentlichkeitsarbeit
2.4.1 Medienkontakte
2.4.2 Wiss. Video Chácara u. Jugendstrafanstalt161
2.4.3 Vorträge u. Diskussionen an Universitäten
2.4.4 Wiss. Forschung durch Universitäten
2.4.5 öffentl. Musik- und Theaterpräsentationen
2.4.6 Bingo für Finanzierung der Arbeit
2.4.7 Anlässe am Tag des Kinderrechtsstatuts
2.4.8 Partizipation im nationalen Kinderrechtsrat u. ä.
2.4.9 Verfassung universitären Lehrmaterials
2.4.10 Öffentliche Diskussionsrunden
2.4.11 Von Chácara verfasste Bücher

Abbildung 16: 2. Aktivitäten, welche andere Gruppen miteinbeziehen

Ohne dass dies im Rahmen der vorliegenden Arbeit weiter ausgeführt werden
kann, soll hier darauf hingewiesen werden, dass es, soweit der Autorin bekannt,
nur wenige residentielle Organisationen mit derselben oder einer ähnlichen Kli-
entel gibt, welche eine so durchdachte und strukturierte Familienarbeit durchfüh-
ren, wie sie in der Chácara üblich ist. Diesen Eindruck hat auch die bereits früher
zitierte Leiterin des benachbarten Kinderprojektes ABAI, Marianne Spiller, ge-
wonnen, welche die „Szene“ der Institutionen für Kinder und Jugendliche in der
Region Curitiba und darüber hinaus seit dem Jahr 1979 kennt:

Es ist sehr eindrücklich, wie dieses Projekt eben systemisch ist, also mit der ganzen
Familie arbeitet, und es ist ganz erstaunlich, dass Fernando mit seinen Mitarbeiten-

161
Eine Unversität stellte mit der Chácara zusammen ein Video für die wissenschaftliche Lehre für
Pädagoginnen und Pädagogen her, in welchem sowohl die Chácara als auch die Jugendstrafan-
stalt im Sinne von zwei verschiedenen Modellen portraitiert wurden.

202
den nicht einfach nur die Mühe auf sich genommen hat, die auseinander gerissenen
Familien wieder zusammenzusuchen – das ist ja eine grosse Anstrengung – sondern
dass er mit diesen Familien sogar noch eine Art Elternschulung macht. Ich glaube,
dies ist etwas Einmaliges; ich habe dies nie [irgendwo sonst] realisiert gesehen. Es
ist doch so – heutzutage vielleicht weniger, aber früher hat man das immer wieder
einmal gesehen –, dass sich die Leute eben zum Beispiel mit den Kindern identifi-
zieren und dann gegen die Eltern sind, [das heisst,] dass sich die Leute nicht dem
ganzen System der Familie in der Gesellschaft zuwenden können. Und in dieser
Hinsicht hat die Chácara einen sehr guten familientherapeutischen Ansatz. (Inter-
view, 2. April 2004)

Eine weitere, in der Chácara sehr ausgeprägte Aktvitität, welche im Rahmen der
vorliegenden Untersuchung nicht ausführlicher beschrieben werden kann, ist die
Öffentlichkeitsarbeit. Diese hat nicht nur das Ziel, die Chácara – zum Beispiel
zwecks Spendengewinnung – bekannt zu machen. Vielmehr wird sie auch zu-
gunsten der Stärkung der Rechte des Kindes eingesetzt, zur sozialen Ausbildung
von Kindern und Jugendlichen auch wirtschaftlich privilegierter Herkunft sowie
zur Unterstützung und Ausbildung von Mitarbeitenden bzw. Fachleuten anderer
Organisationen. Ein besonderes Beispiel dieser Arbeit, an der auch die Jungen
stark beteiligt sind, ist das von den Jungen verfasste Buch über ihr Leben und
über die Chácara (Fundação E., 1999), welches zu den in das Datenkorpus der
vorliegenden Arbeit aufgenommenen Texten gehört. Die Öffentlichkeitsarbeit ist
Bestandteil einer Serie von Aktivitäten, welche als Austausch und Miteinander
zwischen der Chácara und der weiteren Gesellschaft verstanden werden können,
ein Vorgang, welcher in Kapitel 4.5.2.2 näher beschrieben wird.
Aufgrund des Augenscheins und der praktischen Arbeitserfahrung in der
Chácara fiel der Autorin auf, dass im Jahresbericht diejenigen Aktivitäten, wel-
che direkt mit den Leistungen der Chácara gegenüber ihrer/ihren Zielgruppe(n)
in Zusammenhang stehen, vollständig aufgeführt wurden. Andere jedoch, welche
Aufbau, Erhalt und Weiterentwicklung der Organisation an sich dienen, wurden
dagegen nur ansatzweise erwähnt. Diese Beobachtung wurde durch den Beizug
eines Interviews mit einem in der Projektkoordination tätigen Erzieher weiter
geprüft. Dieser erwähnte tatsächlich administrative Aktivitäten, welche im Jah-
resbericht nicht vermerkt sind. Das im Jahresbericht 2004 dokumentierte
Aktivitätenuniversum der Chácara wurde deshalb um den folgenden dritten Tä-
tigkeitsbereich ergänzt (S. Abb. 17 auf der folgenden Seite).
Auch auf diese Aspekte kann in der vorliegenden Arbeit nicht näher einge-
gangen werden, mit Ausnahme der in der Tabelle unter 3.3 aufgeführten Aktivi-
tät der Organisationsplanung. Auf Aspekte derselben wird in Kapitel 4.5.2.3 in
Zusammenhang mit der evaluativen Gestaltung der Aktivitäten näher eingegan-
gen.

203
3.1 Verwaltung
3.1.1 Personalbetreuung/-verwaltung
3.1.2 Finanzmittelbeschaffung
3.1.3 Finanzverwaltung
3.2 Mobilien/Immobilien: Bereitstellung/Pflege
3.3 Organisationsplanung und -kontrolle
3.4 Berichterstattung an Ämter, Rechtliches

Abbildung 17: 3. Führung und Verwaltung der Chácara

Es fällt im Weiteren auf, dass in der Chácara Aktivitäten stattfinden, welche in


den Statuten wohl angedeutet werden, im Jahresbericht jedoch nicht erwähnt
sind. Obwohl es sich dabei um die Basisversorgung der Kinder und Jugendlichen
handelt, sind diese Aktivitäten auch der – in der Chácara seit Jahren praktisch
involvierten – Autorin erst nach einiger Zeit der strukturierten Analyse aufgefal-
len, und dies erst, nachdem sie bemerkt hatte, dass die unter „3. Führung und
Verwaltung“ zusätzlich zitierten Aktivitäten im Jahresbericht fehlten. Werden
diese Aktivitäten, welche einen grossen Teil der Arbeitszeit der Erzieherinnen
und Erzieher in Anspruch nehmen, als so selbstverständlich und alltäglich ange-
sehen (etwa im Sinne von Garfinkels (1967) „taken for granted“), dass sie gar
nicht aufgeführt werden? Oder werden sie weniger als Aktivitäten, denn als
Grundbedingung, als Form eines familiären Zusammenlebens etwa, gesehen?
Die Aktivitäten, welche die Chácara im Zusammenhang mit der Basisversorgung
der Kinder und Jugendlichen durchführt, werden ebenfalls ergänzend ins
Aktivitätenuniversum der Chácara eingefügt, und zwar wegen ihrer grundlegen-
den Bedeutung an erster Stelle:

1.X Basisversorgung
1.X.1 Unterbringen
1.X.2 Betreuung
1.X.3 Ernährung
1.X.4 Kleidung
1.X.5 Seelische Unterstützung
1.X.6 Rechtliche Unterstützung

Abbildung 18: Ergänzung zu 1. Aktivitäten mit den Kindern und Jugendlichen


der Chácara

204
Mit den beiden Ergänzungen „1.X Basisversorgung“ und „3. Führung/Verwal-
tung“ ergibt sich aus dem Jahresbericht 2004 nun ein Gesamtbild aller Aktivitä-
ten und ihrer Anordnung im Aktivitätenuniversum der Chácara.162

4.5.2 Ausführungsmodalitäten

Ich sage jeweils, dass die Chácara ein Raum ist. Sie ist ein Ort, ein Raum des Le-
bens und des Zusammenlebens, und darum ein Raum des Lernens und des Lehrens,
und hauptsächlich des Lernens und des Lehrens der Menschlichkeit. Wie man zu ei-
nem Menschenwesen wird. Im Sinne eines Miteinander-Teilens von Schwierigkei-
ten, Lösungen, Erfolgen und Traurigem [sowie] des Einbezugs von Personen [in all
ihrer] Verschiedenheit. Es ist im Umgang damit, dass man zu jemandem wird, zu ei-
163
nem Menschenwesen. (Pädagogikprofessorin, Interview, 5. Mai 2003)

Dieses Zitat ist die Antwort einer der an der Chácara beteiligten Pädagogikpro-
fessorinnen auf die Frage, wie sie jemandem die Chácara beschreiben würde, der
diese nicht kenne. Es lässt sich dahingehend verstehen, dass der zentrale bzw.
der Transformationsprozess der Chácara in erster Linie ein Lernprozess ist, der
aus dem Zusammenleben und der gemeinschaftlichen Bewältigung und Gestal-
tung des Lebensalltags entsteht.
Der Begriff des „Zusammenlebens“ erscheint auch in einer Antwort, welche
der Koordinator der Chácara der Autorin ausserhalb der vorliegenden For-
schungsarbeit wiederholt gegeben hat, und zwar auf die Frage, bei welchen Ak-
tivitäten der Chácara von ihr vermittelte ausländische Freiwillige mitarbeiten
sollten: „Die hauptsächliche Aktivität ist das Zusammenleben mit den Jungen.“
Seine Aussage kann so verstanden werden, dass es eine Aktivität gibt, die
den vorgängig inhaltlich geschilderten übergeordnet ist beziehungsweise diese
vereint im – ganzheitlichen – Begriff des Zusammenlebens. Diese Interpretation
ist nachvollziehbar, wenn man den Begriff des Zusammenlebens als prozessuale
Spiegelung der bereits dargestellten strukturellen Elemente der Chácara als
„Gemeinschaft“ bzw. „Gesellschaft en miniature“ sieht, in der die affektiven
Bindungen von besonderer Bedeutung sind. In ihrer Arbeit als Freiwillige in der
Chácara hat die Autorin zudem selbst erlebt, dass die verschiedenen Aktivitäten
tatsächlich als Einzelteile eines Grösseren, nämlich des Zusammenlebens und

162
Die Aktivitäten werden im Jahresbericht 2004 teils numerisch, teils lediglich inhaltlich geglie-
dert. Im Rahmen der Analyse wurde auch die inhaltliche Gliederung in eine numerische umge-
wandelt.
163
Der Ausdruck könnte auch mit „zu einem wahren Menschen“ bzw. „zu einem rechten Men-
schen“ übersetzt werden.

205
gemeinsamen Betreibens des „familiären Haushaltes“ Chácara gesehen und be-
handelt werden.164
Die Summe der Inhalte der einzelnen, vorgängig geschilderten Aktivitäten
macht allein weder das Zusammenleben in der Gemeinschaft Chácara noch den
Transformationsprozess aus. So führt die Tatsache, dass die Jungen zur Schule
gehen, Theater spielen, einen Automechanikerkurs besuchen, in der Hühnerzucht
oder bei der Öffentlichkeitsarbeit und Verwaltung der Chácara mithelfen, nicht
automatisch dazu, dass sie zu „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ werden.
Die Inhalte der verschiedenen Aktivitäten sind wohl wichtig. Noch wichtiger als
ihr „Was“ ist jedoch ihr „Wie“: die Art bzw. die Modalitäten ihrer Ausführung,
damit die Ziele erreicht werden können. Es kommt darauf an, wie die Aktivitäten
in ihrer Planung und Ausführung gestaltet werden. Darauf weist ein Satz hin,
welchen die Autorin im Rahmen ihrer praktischen Arbeit in der Chácara als
Freiwillige immer wieder von Erziehenden gehört und welcher sich ihr als ein
pädagogischer Leitsatz eingeprägt hat. Dieser erwähnt eine allen Aktivitäten
gemeinsame Ausführungsmodalität, nämlich deren pädagogische Gestaltung und
Bedeutung: „Jede Aktivität ist eine pädagogische Aktivität.“
Ergänzt wurde dieser Satz jeweils mit der Bemerkung, dass es in der
Chácara nicht einzelne, als pädagogisch bezeichnete Aktivitäten gebe, während
andere als „nicht pädagogisch“ betrachtet würden. Vielmehr seien alle Handlun-
gen pädagogisch und stellten sich als Lerngelegenheit dar, ob es sich nun um das
Abwaschen von Geschirr, das Fussballspielen, das Erledigen von Hausaufgaben,
das Vorführen eines Theaterstückes oder das Miteinander-Plaudern handle.
So ist am einfachen Beispiel der Hühnerzucht leicht vorstellbar, dass diese
in unterschiedlicher Weise zur Erreichung der Ziele der Chácara beitragen wür-
de, je nachdem, wie die Aktivität gestaltet wäre. Wenig beitragen oder sogar
schaden würde sie, wenn die Jungen zum Beispiel dazu gezwungen würden,
lange Stunden in der Hühnerzucht zu arbeiten (was im übrigen ungesetzlich

164
Dies dürfte einen Einfluss auf die Wahrnehmung einzelner Aktivitäten als „Arbeit“ – bzw. als
„bezahlbare“ Arbeit oder „professionalisierbare“ Arbeit - haben. In den Anfangsjahren der Chá-
cara hat die Autorin oft gehört, hier zu arbeiten, sei kein „Job“, sondern eine „Proposta de Vida“,
ein Lebenskonzept. Entsprechend gibt es seit jeher einen Diskurs unter den Beteiligten darüber,
ob die Chácara z. B. „die Familie aller Beteiligten“ sei, inwieweit die Aufgabe des Privatlebens
der Beteiligten bzw. dessen Einbezug in die Chácara verlangt werden könne oder solle, wieweit
„professionalisiert“ werden könne oder müsse. Es scheint, dass sich an diesem Punkt zwei Kon-
zepte in einem scheinbaren Widerspruch gegenüber stehen, mit dem sich die Organisation ausei-
nander setzen muss: der familienähnlichen „Gemeinschaft“ einerseits und der „Institution“ im
Sinne der organisatorischen Strukturen und Abläufe, die für die Führung der ständig wachsen-
den, komplexer werdenden Chácara nötig sind, anderseits. Die Autorin hat den Eindruck gewon-
nen, dass in der Bewältigung und Nutzung dieses scheinbaren Widerspruchs zweier interdepen-
denter Konzepte die hauptsächliche Herausforderung und Entwicklungschance der Chácara (und
möglicherweise auch anderer Organisationen) liegt.

206
wäre), ohne auch andere Aktivitäten zur Auswahl zu haben. Mehr beitragen kann
sie, wenn die Jungen, wie im Fall der Chácara, bereits die Idee der Hühnerzucht
mitentwickelt und beim Bau des Stalls mitgeholfen haben, wenn sie dazu auf
freiwilliger Basis höchstens ein bis zwei Stunden pro Tag und entsprechend ihrer
physischen Fähigkeiten mitwirken sowie in ihrer Arbeit begleitet und bezüglich
von Anforderungen wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Fleiss und Hygiene ge-
meinschaftlich beurteilt sowie an den Einnahmen beteiligt werden.165
In der Folge soll nun auf drei für die Chácara charakteristische Ausfüh-
rungsmodalitäten des Transformationsprozesses eingegangen werden. Es sind
dies die Partizipation der Jungen, die gegenseitige soziale Integration mit allen
Teilen der Gesellschaft sowie die evaluative Gestaltung der Handlungen.166 Da-
raufhin soll dann der Mechanismus des Transformationsprozesses zusammenfas-
send beschrieben werden.

4.5.2.1 Partizipation

Das bereits zitierte „Pädagogische Konzept“ der Chácara spricht – wie deren
Statuten auch – von einem „partizipativen Prozess, der [die Kinder und Jugendli-
chen] zu Protagonisten ihrer eigenen Förderung macht“.
Gemäss Eade und Williams (1995, S. 15) kann Partizipation in der Entwick-
lungszusammenarbeit heissen, dass die „Betroffenen“ Informationen erhalten,
konsultiert werden, in Entscheide und Projektausführung involviert werden
und/oder selbst Projektinitiativen ergreifen (anstatt auf Initiativen von aussen zu
reagieren). Der Begriff der Partizipation umfasst also Aspekte von Rollen. Je
nachdem, um welche Form der Partizipation es sich handelt, kommt den Han-
delnden eine andere Rolle zu.
Bezüglich der Rolle der Jungen wird im „Pädagogischen Konzept“ der
Chácara angemerkt, dass diese handelnde Subjekte (und nicht passive Objekte)
seien und dass sie an der Gestaltung des pädagogischen Konzeptes selbst sowie
an der Definition von Regeln und Grenzen beteiligt sein sollten. Während erste-
rer Aspekt wie bereits erwähnt einem allgemeinen Konzept von Menschenwürde
entspringt, entspricht letzterer – die Mitgestaltung der Umwelt, in der sie leben,

165
Die Beteiligung an den Einnahmen wird auch genützt, um die Jungen mit dem Anlegen eines
persönlichen Sparheftes einerseits und der Freigabe eines Anteils zum freien Gebrauch anderer-
seits beim Lernen des Umgangs mit Geld und beim Aufbau von Ersparnissen zu unterstützen.
166
In Kapitel 5.3.2 wird zudem die Bedeutung dieser Ausführungsmodalitäten in Zusammenhang
mit der Kapazität und Adaptivität und damit mit der Qualität und Nachhaltigkeit der Organisati-
on diskutiert werden.

207
sowie ihrer Regeln und Grenzen – dem ebenfalls erläuterten demokratisch-
bürgerrechtlichen Konzept der „alternativen Gemeinschaft“ Chácara.
Aussagen wie die folgenden weisen darauf hin, dass die an der Chácara Be-
teiligten – ob Erziehende, Koordinator oder externe Fachleute í von einem nach
der Skala von Eade und Williams (1995) sehr hohen Grad der Partizipation der
Jungen im Sinne der Übernahme einer Rolle als mitverantwortliche Chácara-
und Staatsbürger ausgehen:

Und man muss immer eher die Jungen die Chácara zeigen lassen, sie erzählen las-
sen, wie sie sich in der Chácara fühlen. Es obliegt nicht dem Erzieher, zu sagen:
„Dies ist ein guter Junge“ und so fort; der Junge [selbst] wird erklären, wie es ihm
geht, ob es ihm gut geht oder nicht. So überlassen wir es immer dem Jungen; er wird
[die Leute] empfangen, er wird sie herumführen. Und er wird immer erzählen, wie
es hier für ihn ist, ob es für ihn gut ist. (Im Projekt tätige Sozialarbeiterin und Vor-
standsmitglied, Interview, 14. April 2004)

Ein weiterer Aspekt ist die gemeinsame Verwaltung. Auch wenn Ideen noch so sehr
in Fernandos Kopf entstanden sein mögen, stellt er sie doch zur Diskussion mit dem
Ziel, dass jeder einzelne Junge sich als Protagonist fühlen kann. (Pädagogik-
professorin, Interview, 5. Mai 2003)

Das Wenige, was ich von anderen Institutionen kenne, ist, dass diese sehr stark über
den Kopf der Jungen hinweg geplant werden. Und manchmal – ich habe nur sehr
wenige Besuche gemacht – sieht man, dass die Arbeit den Jungen gegenüber aus-
schliesslich mit Autorität und von oben herab gemacht wird: „Ich befehle und du
[gehorchst]“. Nein, hier in der Chácara gehört alles euch [Jungen], wer befiehlt, das
seid ihr selbst. Wer befiehlt? Jeder, der hier wohnt, hat das Recht zu sagen, wie [die
Chácara] sein soll, und wie sie nicht sein soll. (Mitglied der Gruppe der Strassen-
arbeit, Mitgründerin und Vorstandsmitglied, Interview, 26. April 2004)

Interessant war natürlich die Frage, wie die Jungen selbst ihre Rolle in der
Chácara wahrnehmen. Zur Beantwortung wurden insgesamt 120 Textstellen aus
Interviews und Texten der Jungen kategorisiert, welche sich auf Aspekte von
Position und Rolle bezogen. Die meisten dieser Aussagen waren nicht aufgrund
spezifischer Fragen nach Position und Rolle gemacht worden. Die nachstehende
Tabelle gibt eine Übersicht über die genannten Aspekte:

208
Dimension Kategorien Unterkategorien 1 Unterkategorien 2
Jungen nehmen • Gehen zur Schule
an Aktivitäten (21)
für die Jungen • Spielen (16)
teil (57) • Machen Berufskur-
se (5)
• Machen Ausflüge
(5)
• Nehmen an päda-
gogischen Aktivi-
täten teil (3)
• Arbeiten auswärts
(3)
• Machen Hausauf-
gaben (1)
• Nehmen an Stütz-
unterricht teil (1)
• Studieren an Uni-
versität (1)
• Gehen zur Messe
(1)
Jungen helfen • Arbeiten im Be- • Arbeiten in Haus
bei/überneh- trieb der Chácara und Hof mit (24)
men Aufgaben mit (25) • Arbeiten als
der Organisati- (Hilfs-) Erzieher
on Chácara (1)
(55)167
• Helfen beim Bau
der Chácara (12)
• Arbeiten in der • Machen Öffent- • Laden andere
Führung der lichkeitsarbeit (8) Leute ein (2)
Chácara (13) • Laden Strassenkin-
der ein (2)
• Repräsentieren
Chácara bei Anläs-
sen (1)
• Arbeiten mit der
lokalen Gemeinde
zusammen (1)

167
All diese Tätigkeiten finden nach den Vorschriften der brasilianischen Gesetzgebung und des
Kinderrechtsstatuts, insbesondere zu Fragen der Kinderarbeit statt, das heisst, sie sind klar nicht
als Kinderarbeit zu bezeichnen.

209
Dimension Kategorien Unterkategorien 1 Unterkategorien 2
• Empfangen Leute
aus dem Ausland
(1)
• Danken Spendern
und informieren sie
(1)
• Besitzen/führen/ • Besitzen die
gestalten die Chácara (3)
Chácara (5) • Haben Idee, weite-
res Haus für Kin-
der zu bauen (1)
• Sollten fähig sein,
auch ohne Erwach-
sene Chácara zu
führen (1)
• Allgemein (5) • Helfen den Erzie-
henden (2)
• Helfen Fernando
(1)
• Helfen der Chácara
(1)
• Arbeiten in der
Chácara mit (1)
Jungen sind • Sind frei (2)
frei (4) • Können weggehen,
wann sie wollen
(2)
Jungen organi- • Lösen Probleme
sieren sich untereinander (2)
selbst (3) • Organisieren sich
(1)
Jungen versu-
chen, Gesell-
schaft zu än-
dern (1)

Abbildung 19: Aspekte von Rollen der Jungen in der Chácara aus deren eigener
Sicht (Anzahl Nennungen in Klammern)

Die Aussagen der Jungen bestätigen den hohen Grad von deren Partizipation an
der Chácara. So berichten sie in etwa gleichen Teilen, dass sie an dem für sie
vorgesehenen Angebot teilnehmen (47.5%) respektive an Aufgaben des Betriebs,

210
der Verwaltung und der Führung der Organisation mitwirken (45.8%). Auch ihre
Ausdrucksweise – zum Beispiel das selbstverständliche „wir haben“ – weist
darauf hin, dass sie sich als mitverantwortlich für die Chácara sehen:

Ich gehe morgens zur Schule, und ich arbeite zwei Stunden am Tag. Wir bauen ei-
nen Stall für 9000 Hühner. Hier in der Chácara haben wir Enten, Gänse, Ziervögel
etc. Wir gehen zum Schwimmen in den Bach; wir gehen in die Kirche; wir spielen.
Wir haben drei Häuser, 22 Jungen, Erzieher, eine Siebdruckerei, einen Tischfuss-
ballkasten, einen Fussballplatz, ein Auto, einen Gemüsegarten, einen Blumengarten,
Bienen, einen Fernseher und ein Videogerät, Waschmaschinen, eine Parabolantenne,
eine Garage und ein Telefon. Dona Ana kocht jede Woche das Essen für uns.
(Fundação E., 1999, S. 70)

In diesem Jahr hatten die Jungen, die bereits in der Chácara wohnten, die Idee, ein
zweites Haus zu bauen. Als der Hausbau begann, kamen wir Jungen der Strasse, um
[jeweils] während einigen Tagen zu helfen, aber wir mussten [immer] auf die Strasse
zurückkehren, wo wir nicht wussten, ob wir noch am Leben sein würden, wenn das
Haus fertig gestellt wäre. (20-jähriger Junge, Eintritt: 22. Dezember 1994, Universi-
tätsstudent und Mitarbeiter einer Firma, Text für öffentlichen Anlass, April 2004)

Am Anfang war die Arbeit hier sehr mässig, aber als [Erzieher] N. hierher kam,
wurde sie besser. Wir fingen an, uns ernsthaft um den Hühnerstall, die Pflanzungen
und auch um das Reinigen des Hauses und das Aufräumen der Zimmer zu kümmern.
(Fundação E., 1999, S. 91)

Jetzt gerade haben wir von der Chácara eine Gruppe von Nonnen eingeladen, die ei-
ne Woche mit uns verbringen werden, und wir laden auch gleich die Gemeinde ein,
zu kommen und einen Nachmittag mit uns zu verbringen. Wir werden einen Wett-
bewerb machen mit der Gemeinde. (Fundação E., 1999, S. 104)

Jetzt wohne ich seit drei Jahren in der Chácara. Ich bin in der sechsten Klasse, und
es geht mir viel besser als zuvor. Ich arbeite in der Chácara, gehe zur Schule und be-
suchte auch schon einen Englisch-Kurs. Ich bin mit dem Movimento Nacional dos
Meninos e Meninas de Rua nach Brasília gereist und auch nach São Paulo, zusam-
men mit [einem Erzieher] und [einem weiteren Jungen], um an der Fernsehdiskussi-
onsrunde im „Programa Livre“ von Serginho Groismann (bekannter Moderator)
teilzunehmen. Es geht mir sehr gut. Wir bauen gerade das vierte Haus, in welchem
Strassenkinder leben werden. (Fundação E., 1999, S. 74)

Ja, es gibt hier Fernando, der zutiefst der Arbeit verpflichtet ist, die er tut, aber mei-
ner Ansicht nach könnten die Jungen die Chácara betreiben, wenn es Fernando nicht
gäbe, denn wer sein Leben verändern will, ist nicht Fernando, sondern es sind die
Jungen. Und machmal denke ich, dass es wirklich eine sehr grosse Rolle ist, die
Fernando wahrnimmt, wenn er die Jungen von der Strasse holt, und trotzdem gibt es

211
noch einige, die herkommen und nur blöd tun wollen. Das Projekt gehört nicht Fer-
nando. Es gibt Leute, die sagen: „Hier ist das Projekt von Fernando“, und dann den-
ke ich: Es ist das Projekt der Chácara, es ist das unsrige (sagt dies strahlend und mit
tiefer Freude in der Stimme). (16-jähriger Junge, Englischlehrer in privater Sprach-
schule und Chácara, Eintritt: 16. Januar 1996, Interview, 27. April 2003)

Gemäss einem bereits früher erwähnten Zitat einer Frau, welche in der Arbeit
mit den Kindern und Jugendlichen auf der Strasse tätig war und seit Anbeginn
der Chácara für diese als Vorstandsmitglied arbeitet, waren es die Jungen, wel-
che wünschten, sich in einem Haus selbst zu organisieren und die Regeln des
Zusammenlebens aufzustellen, also in einem hohen Grade an der Führung und
Gestaltung des Hauses zu partizipieren:

Wir redeten mit den Jungen darüber (...), was sie für den Rest ihres Lebens wollten –
auf der Strasse bleiben? „Nein.“ Ja, was wollten sie dann? „Ein Haus.“ Und wie
sollte dieses Haus sein? Da fingen sie an, zu erzählen, dass es ein Ort sein sollte, an
dem sie sich selbst organisieren würden, wo sie ihre Regeln haben und die Regeln
des Hauses aufstellen würden. (Mitglied der Gruppe der Strassenarbeit und des Vor-
standes, Interview, 26. April 2004)

Zu den Regeln, welche die Jungen mitbestimmt haben, gehört zum Beispiel das
Rauchverbot. Im Jahr 2001 oder 2002 beschlossen die Jungen gemeinsam mit
den Erziehenden, das Rauchen in der Chácara ganz zu untersagen. Zuvor durften
die sich zumeist bereits im Teenager-Alter befindenden Jungen, welche bereits
als Raucher von der Strasse gekommen waren, drei Zigaretten pro Tag rauchen.
Es wurde jedoch mit Aufklärung über die gesundheitlichen Folgen des Rauchens
sowie mit verschiedenen Motivationsschritten – zum Beispiel der Teilnahme am
Fussballtraining, in welches nur sportliche Nichtraucher aufgenommen wurden –
dazu beigetragen, dass die meisten Jungen sich mit der Zeit auch von den Ziga-
retten lösen konnten. Die Gruppe führte deshalb das Rauchverbot für alle Perso-
nen der Chácara, auch für Erziehende und Besucher, ein, unter anderem damit
die nicht (mehr) rauchenden Personen nicht erneut „in Versuchung geführt“
würden.
Auch aus dem Jahresbericht 2004 geht hervor, dass die Jungen an Ausbil-
dungen und Konferenzen teilnehmen und dort die Chácara repräsentieren, zum
Beispiel mit dem von ihnen entwickelten Theaterstück „Auf der Strasse gibt es
kein Leben“ und dem von ihnen geschriebenen Buch „Geschichten aus unserem
Leben“ (Fundação E., 1999), in welchem sie von ihrem Leben zu Hause, auf der
Strasse und in der Chácara berichten und ihre Gedanken dazu äussern. Ältere
Jungen übernehmen einzelne Erzieheraufgaben – zum Beispiel die Betreuung
des Hauses der Kleinsten in der Nacht – oder werden bei Volljährigkeit als Mit-

212
arbeitende angestellt, und haben damit einen starken gestaltenden Einfluss auf
die Chácara. Im Jahr 2005 sind 5 ehemalige Jungen im Alter von zwischen 18
und 26 Jahren im Erziehungsteam tätig, von denen drei auch starken Einfluss auf
Koordinationsbelange nehmen, während ein weiterer 23-Jähriger seit zwei Jah-
ren als Mitglied des Stiftungsrates amtet. Im Jahr 2002 wurden zwei Jungen im
Alter von 12 und 14 Jahren aufgrund ihrer guten Partizipation in Schule und
Chácara von der brasilianischen Pfadfinderbewegung ausgewählt, um zusammen
mit zwei Mädchen ihr Land Brasilien an einem Jugendanlass der Unicef und der
Fifa an der Fussballweltmeisterschaft in Korea zu repräsentieren.
Die Analyse des Jahresberichts 2004 ergab, dass die Chácara gewisse Akti-
vitäten auch mit dem Ziel verfolgt, die Jungen in ihrer Partizipationsfähigkeit zu
stärken und damit auch in ihrer Fähigkeit, die Chácara mitzugestalten, wie zum
Beispiel das folgende Zitat aus dem Jahresbericht 2004 zeigt:

Wenn immer möglich, werden länger andauernde Wettspiele durchgeführt, bei wel-
chen erzieherisch wertvolle und kontroverse Themen behandelt werden und bei de-
nen die Jungen lernen, zu arbeiten und in Gruppen zu partizipieren, wobei sich auch
einige Führungspersönlichkeiten unter ihnen offenbaren.

Die Partizipation wird nicht nur bei Wettspielen, sondern bei den meisten, wenn
nicht allen Aktivitäten zum Thema gemacht und eingeübt. So heisst es im Jah-
resbericht:

Die Jungen erledigen zusammen mit den Erziehenden und Freiwilligen168 die ganze
Organisation und Arbeit in den Häusern, und zwar so, wie sie es in der Gruppe ver-
einbart haben.

Konkret bedeutet dies, wie die Autorin selbst als Freiwillige in der Chácara ge-
lernt hat, dass das Ziel wohl ist, zum Beispiel ein Haus zu reinigen, dass jedoch
diesem Ziel die Ausführungsmodalität übergeordnet wird, es sei dies gemeinsam
mit den Jungen zu vereinbaren und durchzuführen. Dies macht den Prozess für
die Erziehenden und Freiwilligen um vieles anspruchsvoller, als es der doch eher
einfache Inhalt dieser Aktivität vermuten liesse. Im Rahmen der Aktivitäten
manifestieren sich somit Aspekte der Partizipation sowie auch des Sozialverhal-
tens und der Persönlichkeit der Jungen. Ihre von Erwachsenen begleitete Aus-
führung erlaubt es den Jungen, diese Aspekte bewusster wahrzunehmen, zu

168
Dabei handelt es sich zumeist um einzelne Personen aus dem Ausland, vorwiegend aus der
Schweiz und aus Deutschland (letztere u.a. im Rahmen des Zivildienstes) sowie aus mehreren
anderen Ländern.

213
strukturieren, zu entwickeln, einzuüben und zu reflektieren. So heisst es im Jah-
resbericht 2004:

Die Erzieherinnen und Erzieher sind bei allen an die Jungen gerichteten Aktivitäten
anleitend, helfend und teilnehmend dabei. Diese Arbeitsweise der Chácara ist sehr
belastend, da sie ganzheitliche Hingabe verlangt.

Zusammenfassend kann angemerkt werden, dass die Jungen in der Chácara eine
Rolle innehaben, welche im Gesamten so hoch partizipativ ist, dass die Jungen
nicht nur als Begünstigte, Nutzniesser oder Zielpublikum gesehen werden kön-
nen, sondern darüber hinaus als wichtige Ressource und prägende Mitgestalter
der Organisation Chácara angesprochen werden dürfen.
Zu dieser Rolle muss angemerkt werden, dass sie nicht bei allen Gelegen-
heiten für alle Jungen gleich hoch partizipativ gestaltet ist bzw. sein kann. So
können zum Beispiel ältere Jungen in anderer Art und Weise partizipieren als
jüngere und müssen gewisse Aufgaben oder Tätigkeiten wegen der Anforderun-
gen, die sie an die Ausführenden stellen, in unterschiedlichem Grad den Jungen
überlassen werden. Gleichzeitig hat die Autorin in ihrer praktischen Tätigkeit als
Freiwillige in der Chácara immer wieder den folgenden Leitsatz von Erziehen-
den gehört: „Jeder ist in jedem Moment Erziehender und Lernender.“169
Ergänzend wurde sie durch den Koordinator darauf hingewiesen, dass diese
Annahme unter anderem dem Ansatz des Befreiungspädagogen Paulo Freire
entspricht, welcher sich gegen die autoritäre Erziehung von „oben“ nach „unten“
wendet. Er sieht diese als Mittel zur Aufrechterhaltung von ungleichen sozialen
Verhältnissen und plädiert für ein gemeinsames Lernen von Kindern und Er-
wachsenen als Partner, welche wohl über verschiedene, aber grundsätzlich
gleichwertige Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen. Tatsächlich erwähnen Er-
ziehende in der Chácara immer wieder, dass sie ihrerseits viel von den Jungen
lernten, ein persönlicher Eindruck, den die Autorin aufgrund ihrer praktischen
Arbeit als Freiwillige in der Chácara teilt.170 In den Augen der Mitglieder der
Chácara ist diese Art eines gleichwertigen Verhältnisses – welches sich wie
bereits zitiert zum Beispiel in der gemeinsamen Ausführung aller Aktivitäten
zeigt – von grosser Bedeutung, damit die Jungen die Erziehenden als glaubwür-
dige, ihrerseits lernende Vorbilder sehen können, an deren Beispiel sie selbst
wachsen können.
169
Wiederholte mündliche Aussage des Koordinators und verschiedener Erziehender in der Chácara.
170
Sie ist im weiteren der Meinung, mit der vorliegenden Forschungsarbeit analog den Mitgliedern
der Chácara ebenfalls in gewissem Sinne eine Rolle als Lernende und Erziehende übernommen
zu haben, in dem sie anstrebt, aus den Erfahrungen der Jungen und Erwachsenen der Chácara zu
lernen und die so gemachten Erkenntnisse unter anderem zugunsten des Lernens in der Chácara
wieder in diese zurückzuführen.

214
Gemäss Aussagen des Koordinators ist es zudem wichtig, dass auch er – und mit
ihm alle anwesenden Erwachsenen – bei allen Arten von Arbeiten in Haus und
Hof mitanpackt. Tatsächlich sieht man ihn trotz seines grossen Aufgabenpen-
sums zum Beispiel oft gemeinsam mit einer Gruppe von Jungen jäten oder put-
zen. Es geht den Mitgliedern der Chácara nicht nur um einen hohen Grad der
Partizipation der Jungen, sondern darum, dass alle Mitglieder gleichwertig an der
Gemeinschaft teilhaben.
Der hohe Grad der Partizipation der Jungen ist jedoch nicht nur aus pädago-
gischen Gründen sinnvoll, sondern auch deshalb, weil die Jungen dadurch in der
Lage sind, Mitverantwortung für die Chácara zu übernehmen. Gerade in schwie-
rigeren Situationen hat die Autorin immer wieder erlebt, dass die Jungen die
Chácara und deren Betrieb gut kennen und sich verantwortungsbewusst und
zuverlässig verhalten. Ein Beispiel dafür war ein Abend im März 2004, an dem
ein einziger Erzieher, der zudem erst kürzlich eingetreten war, und die Autorin
etwa 40 Jugendliche des ersten, zweiten und fünften Hauses betreuten. Ein so-
eben neu eingetretener Junge verhielt sich sehr nervös, begann einen Streit mit
einem anderen, lief in die Küche, wo er ein Messer fand, und rannte mit diesem
seinem Widersacher nach. Ohne dass der Erzieher oder die Autorin etwas gesagt
hätten, waren sofort um die zehn Jugendliche im Alter von etwa 14 bis 17 Jahren
zur Stelle, trennten die beiden Jungen ohne Gewalt, nahmen dem einen das Mes-
ser ab, hielten beide fest, bis sie sich beruhigten, teilten ihnen mit, dass Konflikte
mit Worten und nicht mit Gewalt zu lösen seien, führten die beiden in zwei ver-
schiedene Zimmer zur weiteren Beruhigung und zu einem Gespräch und sorgten
wenig später, als der Projektkoordinator zurück kam, dafür, dass die beiden Jun-
gen mit ihm sprechen konnten.
Der Koordinator bemerkte in einem informellen Gespräch mit der Autorin
lange vor der vorliegenden Forschung sogar, dass die damals 24 Jugendliche
beherbergende Chácara niemals nur mit ihm und einem zweiten ständig dort
lebenden Erzieher auskommen würde, wenn sie nicht auf die Ressource zählen
könnte, welche die Jungen mit ihren Fähigkeiten und ihren Gruppenstrukturen
darstellten. Er ergänzte, dass die Chácara die Organisationsformen und -fähig-
keiten der Jungen der Strasse und ihrer Gruppen nütze und diesen lediglich ande-
re Arten von Aktivitäten anbiete würde, als ihnen auf der Strasse zur Verfügung
gestanden hätten.
Einige erwachsene Beteiligte sowie beinahe oder schon ganz erwachsene
Jungen haben angesichts der Verdoppelung der Zahl der betreuten Kinder und
Jugendlichen in den Jahren 2004 und 2005 die Sorge geäussert, dass aufgrund
dieses Wachstums und der komplexer gewordenen sowie stärker strukturierten
Organisation die Mitsprache und Mitgestaltung der Chácara durch die Jungen
bedroht sein könnte. So sagte in Anwesenheit einer Pädagogikprofessorin und

215
der Autorin, die als Moderatorin fungierte, ein Mitglied einer Gruppe von sechs
Erziehenden (vier Männer, darunter ein ehemaliger Junge, und zwei Frauen):

Es braucht mehr Partizipation der Jungen, so, wie im Leitbild vorgesehen. Diese ist
dabei, sich etwas zu verlieren. Wir müssen den Jungen zu allen Themen eine Stim-
me und eine Mitsprachegelegenheit geben, und nicht nur dann, wenn wir eine Zu-
sammenkunft einberufen, um über die Dinge sprechen, welche [die Jungen] nicht so
getan haben, wie sie sollten. (Protokoll der ersten Sitzung zur kurzfristigen strategi-
171
schen Planung 2005, 19. April 2005 )

In der Folge formulierte die Gruppe – neben einer Anzahl anderer – entsprechen-
de Ziele der Chácara für das Jahr 2005, wie das Protokoll einer weiteren Sitzung
zeigt:

Eine echte Partizipation der Jungen an allen Themen der Chácara (wieder) herstel-
len.
Die Vision, Planung, Evaluationen und Ausführung verbessern, vor allem bezüg-
lich der Beteiligung durch die Jungen selbst. Die Verfasserin dieses Satzes merkte
im Weiteren mündlich an, dass bereits eine strategische Planung durchgeführt wer-
de, was einer grossen Notwendigkeit entspreche, dass jedoch die Jungen in deren
Rahmen vermehrt gehört werden sollten. Es wurden Beispiele dafür zitiert, wie die
Jungen früher bei den Evaluationen und Planungen mitgemacht hätten. (Protokoll
der zweiten Sitzung zur kurzfristigen strategischen Planung 2005, 26. April 2005)

In einer als Teil der Feldforschung durchgeführten Gruppendiskussion zur Ge-


schichte der Chácara172, an welcher vier Vorstandsmitglieder (drei Frauen und
ein Mann) und zwei Erzieher teilnahmen, wurde die Frage gestellt: „Was lernen
wir aus der Geschichte der Chácara für deren Zukunft?“ Zwei der weiblichen
Vorstandsmitglieder schrieben als Antwort darauf auf einen Poster:

Die „Raison d’Être“ der Chácara, nämlich die Jungen, muss immer bewahrt werden.
Die Berufung der Chácara: der Protagonismus der Beteiligten. Dies am Leben erhal-
ten und dafür sorgen, dass die Professionalisierung es nicht auslöscht (im Sinne von
‚den Geist töten’). Die Verfasserin dieser Aussage ergänzte hierzu mündlich: Sie
denke bei diesem Kommentar an die zunehmende Institutionalisierung der Chácara
im Sinne einer stärkeren Strukturierung, einer besseren und effizienteren Organisa-

171
Die Autorin moderierte die Planungssitzungen sechs Monate nach Abschluss der Feldforschung
zur vorliegenden Arbeit. Für die Aufführung der beiden ausserhalb der Forschung entstandenen
Zitate wurde die Einwilligung der Chácara eingeholt.
172
Da es in der Gruppendiskussion um die Geschichte – und damit auch um Themen wie Identität
und Entwicklung – der Chácara ging, wünschten die Teilnehmenden, dass diese im Saal der Ge-
meinde Profeta Elias in der Favela Vila Lindóia in Curitiba stattfinden solle, dem Geburtsort der
Strassenarbeit und der Chácara.

216
tion und eines vielfältigeren Angebots. Diese Aspekte könnten dem Protagonismus
der Jungen entgegenwirken. (Gruppendiskussion, vgl. Anm. 172, 20. April 2004)

Auf die Frage, was andere Projekte aus der Geschichte der Chácara lernen könn-
ten, wurden von denselben Personen folgende Antworte notiert:

Die Bedürfnisse der Jungen anhören, um sie betreuen zu können, und zulassen, dass
sie an der täglichen Praxis der Projekte partizipieren (an den Entscheidungen und
Aufgaben). (Gruppendiskussion, 20. April 2004)

Eine Sozialarbeiterin, welche im Vorstand sowie als Freiwillige in der Chácara


tätig ist, erwähnte in einem Interview gar, dass es von allen Chácaramitgliedern
und -beteiligten die Jungen seien – in diesem Fall die älteren und erwachsen
gewordenen –, welche die Philosophie der Chácara und speziell deren Ausrich-
tung auf ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten am stärksten aufrechterhielten und
verteidigten:

Frage: Welches sind die Personen, welche die Philosophie der Chácara verteidigen?
Antwort: Ich bin der Meinung, dass es die Jungen selbst sind, die diese am meisten
verteidigen, und die Erzieher, die zuvor Jungen [der Chácara] waren, wie zum Bei-
spiel [nennt zwei Namen]. Sie sind es, die sich am stärksten dafür einsetzen, dass die
Strassen- und Vorbereitungsarbeit [mit den von der Strasse kommenden Jungen]
gemacht wird. Sie stellen [davon abweichendes] Vorgehen immer wieder in Frage:
„Ah, aber dieser Junge ist hier angekommen, und es wurde keine Strassen- und Vor-
bereitungsarbeit mit ihm gemacht“. Vor allem einer von ihnen [nennt Namen] stellt
dies oft in Frage. Und wenn er die Strassen- und Vorbereitungsarbeit macht, dann
kommt er und sagt: „Ich habe nun soundsoviele Jungen, die ich in die Chácara brin-
gen kann.“ Also kennt er die Philosophie der Chácara, und deshalb übernimmt er die
Strassen- und Vorbereitungsarbeit. Wer am meisten zugunsten der Philosophie strei-
tet, sind wirklich die Jungen selbst, welche hier [in der Chácara] drin sind, welche
wissen, dass die Philosophie ist, wie sie ist, und weil sie das Leben auf der Strasse
kennen. (Interview, 14. April 2004)

Es scheint, dass der hohe Grad der Partizipation der Jungen an der Chácara von
den an ihr beteiligten Personen einerseits als zentrales Element und Errungen-
schaft gesehen wird. Anderseits wird er aber auch als eine Komponente beurteilt,
welche von der Komplexität und der – an sich positiv bewerteten – professionel-
leren oder strukturierteren Organisation der im Vergleich zu ihren Anfängen
wesentlich grösseren Chácara bedroht wird. Unter einer „professionelleren und
strukturierteren Organisation“ wird dabei unter anderem eine verstärkte Speziali-
sierung einzelner Personen auf spezifische Aufgaben, das heisst, eine stärkere
Aufgabenteilung verstanden. Die Autorin vermutet in diesem Zusammenhang,

217
dass die in der Chácara als staatsbürgerlich verstandene Partizipation der Jungen
an der Organisation nicht ein statischer Aspekt der Organisation ist, sondern ein
Aspekt, der in seiner Ausprägung und praktischen Anwendung immer wieder
neu gestaltet werden muss, und zwar nicht zuletzt als Reaktion auf sich entwi-
ckelnde und verändernde organisationale Strukturen und Prozesse.
Zusammenfassend gilt in den Augen der Mitglieder und Beteiligten der
Chácara für die Aktivitäten der Chácara die Ausführungsmodalität, dass diese
unter einer so hohen Partizipation der Jungen wie nur möglich durchgeführt
werden müssen, damit sie zu einem Zusammenleben im bürgerrechtlich-
demokratischen Sinn der „alternativen Gemeinschaft“ Chácara führen. Der Grad
der Partizipation der Jungen an der Chácara scheint so hoch zu sein, dass Partizi-
pation eigentlich ein unzureichender Begriff für ihre Rolle ist, werden sie doch,
wie zitiert, unter anderem als Besitzer und Mitverantwortliche der Chácara be-
zeichnet. Während der Begriff „Partizipation“ suggeriert, dass Personen zur
Teilhabe an etwas zugelassen werden, das jemand anderem gehört, scheint die
hier beschriebene Rolle und Bedeutung der Jungen in der Chácara es eher zu
verlangen, dass diese als gleichwertige Partner in der Organisation und Gemein-
schaft der Chácara bezeichnet werden.
Der Koordinator der Chácara stellte im November 2006 die rhetorische Fra-
ge, wie denn ein in einer Institution aufgewachsener Erwachsener mit seinem
Austritt aus der Institution plötzlich selbständig sein könne, wenn er zuvor in der
Institution immer gegängelt worden sei.
Die Autorin ist der Meinung, dass aufgrund der hier dargestellten Aspekte
der Partizipation davon ausgegangen werden kann, dass die Chácara einen Bei-
trag zur Entwicklung der Jungen als „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“
leistet, und zwar vor allem dadurch, dass sie diese bereits im Projekt als Protago-
nisten der Organisation und Gemeinschaft Chácara versteht und anleitet. Sie
ermöglicht ihnen damit, ihren Protagonismus in einer „Gesellschaft en miniature“
zu leben, zu lernen und zu üben. Damit befähigt sie sie, ihr zukünftiges Leben als
Erwachsene in die eigenen Hände nehmen zu können.

4.5.2.2 Gegenseitige soziale Integration

Heute gibt es in Brasilien Menschen, die nicht schlafen können, weil sie einen gros-
sen Besitz haben und fürchten, dass dieser nachts gestohlen werden könnte, und es
gibt Menschen, die zu grossen Hunger haben, um schlafen zu können. Das sind zwei
Extreme, und solange diese Extreme nicht zusammenkommen und nicht zusammen-
arbeiten, werden wir diese widersprüchliche Gesellschaft haben. Aber wenn man
sich an denselben Tisch setzt, von Angesicht zu Angesicht, einander gegenüber,
dann fängt man an, eine neue [Art von] Gesellschaft einzuüben, und das ist es, was

218
ich – natürlich eingedenk all meiner Einschränkungen – anstrebe, zu tun. (Koordina-
tor, Interview, 20. April 2003)

Im Kapitel über die Ausgangslage der Jungen wurde beschrieben, dass diese eine
Gesellschaft wahrnehmen, welche sie zurückweist. Im Kapitel über die Ziele der
Chácara wurde dargestellt, dass die Mitglieder und Beteiligten der Chácara der
Meinung sind, dass sich die Gesellschaft verändern müsse, damit eine wahre
Integration und Verbesserung des Lebens der Jungen möglich sei. Und im Kapi-
tel über die soziale Grundkonzeption der Chácara wurde aufgrund der Datenana-
lyse erläutert, dass die Chácara von Mitgliedern und Beteiligten als eine „alterna-
tive Gemeinschaft“ gesehen wird, eine „Gesellschaft en miniature“, in der nach
Überlegungen zu Menschenwürde und bürgerlich-demokratischer Staatsbürger-
lichkeit so zusammengelebt und gehandelt wird, wie es in der weiteren brasilia-
nischen Gesellschaft aufgrund von Verfassung und Gesetzgebung eigentlich der
Fall sein sollte.
Trotz, oder, wie die eingangs zitierte Aussage des Koordinators der Chácara
zeigt, gerade wegen dieser wahrgenommenen Kluft zwischen verschiedenen
Teilen der Gesellschaft – hier Personen, denen der Zugang zu den Ressourcen
der Gesellschaft in vielen Teilen verwehrt bleibt, dort Personen, welche dazu
vollumfänglich Zugang haben – setzen die Mitglieder und Beteiligten der
Chácara auf einen Ansatz der gegenseitigen Integration dieser beiden „Seiten“.
Dies äussert sich darin, dass versucht wird, möglichst alle Gruppen der Gesell-
schaft miteinzubeziehen, wie in Kapitel 4.4.3.1 mit der Erwähnung der verschie-
denen an der Chácara beteiligten Personengruppen gezeigt wurde. Der Aspekt
der gegenseitigen Integration wird – wie die gerade beschriebene Partizipation
der Jungen – von der Autorin als weitere wichtige Ausführungsmodalität der
Aktivitäten der Chácara und damit als charakteristischer Aspekt des Transforma-
tionsprozesses verstanden. Er soll in der Folge aufgrund der Analyse von Aussa-
gen in Interviews, im Jahresbericht 2004 sowie in einem anlässlich des Jubilä-
umsfestes von 2003 entstandenen Bericht beschrieben werden.
Gemäss den Berichten von Beteiligten begann die Chácara als soziale und
physische Struktur unter anderem mit zwei Ereignissen, welche unter dem As-
pekt der Integration der Chácara in die Gesellschaft und der Teilhabe der Gesell-
schaft an der Chácara verstanden werden können. So berichtet die Leiterin des
benachbarten Projektes ABAI, Marianne Spiller-Hadorn, Folgendes von ihrer
ersten Begegnung mit Beteiligten der Chácara:

Eines Tages haben ein paar Leute an unsere Tür in der ABAI geklopft (…), die mir
173
dann erzählten, dass sie ein neues Projekt aufziehen wollten. Fernando war nicht

173
Der künftige Koordinator der Chácara.

219
dabei. Was mich vom ersten Moment an sehr beeindruckte, war die Tatsache, dass
es Leute von verschiedenen Organisationen waren, die gemeinsam etwas tun woll-
ten. Da war jemand von der Minderjährigenpastorale, vielleicht jemand von einem
staatlichen Projekt und jemand von einem katholischen Orden – da waren drei bis
vier Organisationen vertreten. Und das gewann vom ersten Moment an meine Sym-
pathie, die Tatsache, dass es ein Projekt ist, das vernetzt arbeitet, und ich dachte,
wenn dieses den Strassenkindern helfen will, und wenn sich da verschiedene Orga-
nisationen die Hand geben und gemeinsam etwas tun wollen, dann will ich das auch
unterstützen. (…)
Ich habe beobachtet, wie Fernando, wie das neue Projekt, [wie sie] die Bevölke-
rung am Ort behandelten. Wenn er nur den Strassenkindern hätte helfen wollen und
nicht auch sehr viel Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen für die lokale
Bevölkerung gehabt hätte, dann hätte ich es nicht unterstützt. Weil er dies eben hatte
– und das ist ein ganz wichtiges Kriterium, die Akkulturation am Ort – hatte [die
Organisation] in meinen Augen bereits gut angefangen. (Interview, 2. April 2004)

Tatsächlich war die Integration der Chácara in die Gesellschaft beziehungsweise


die Akzeptanz und Unterstützung der Chácara durch die Gesellschaft notwendig,
damit die Organisation überhaupt beginnen und dann erfolgreich arbeiten konn-
te. Eine noch 13 oder 14 Jahre später von damaligen Mitarbeitenden und Betei-
ligten mit Gusto erzählte Geschichte zeigt deutlich, wie kritisch diese Situation
der Integration sein konnte:

Ich erinnere mich, dass es darum ging, das Grundstück [für die Chácara] zu kaufen.
Die Schwestern der Göttlichen Vorsehung174 hatten einen Teil des Geldes gegeben,
und da ging Fernando zu einer katholischen Vereinigung. Dort wurde eine Frau sich
des Anliegens bewusst und wollte den [noch nötigen] Restbetrag geben. Sie war die
Besitzerin eines Wohnblockes am Tiradentes-Platz, dort, wo das Kino Glória und
der Schuhmacher Lima waren. Ich weiss nur, dass zwei Jungen dort einbrachen, um
Schusterleim zu stehlen, und anfingen, ihn dort zu schnüffeln, und dann einschlie-
fen. Es gab [da] eine Kerze oder so; ich weiss nur, dass das Gebäude daraufhin Feu-
er fing.
Und am folgenden Tag – wir wollten schon [den Kaufpreis] zahlen (…) – da sag-
te Fernando: „Die Jungen haben das Gebäude abgebrannt, und jetzt wird diese Frau
auf keinen Fall das Geld geben.“ Aber sie engagierte sich trotzdem und gab das
Geld, und wir nützten es, damit die Chácara anfangen konnte, denn, wenn sie es
nicht gegeben hätte … es war so, es fehlten nur wenige Tage [bis zum Ablauf des
Kaufvertrages], und wenn wir nicht in dem Moment das Geschäft gemacht hätten,
hätten wir den Kauf verloren. Soviel ich weiss, war sie es wirklich, die dafür sorgte,
dass jenes Stück Land zur Chácara wurde, durch ihren guten Willen. Das ist von

174
Ein ursprünglich in Deutschland von einem Pater Eduard Michelis gegründeter katholischer
Frauenorden. Nach diesem Pater wurde in den ersten Jahren das Landstück der Chácara als
„Chácara Padre Eduard Michelis“ benannt.

220
ganz grosser Bedeutung für die Chácara. (Mitglied der Strassenarbeit, Gründerin
und Vorstandsmitglied, Interview, 26. April 2004)

Der Koordinator ergänzte diese Geschichte bei einem Vortrag an einer Universi-
tät mit der Erinnerung, dass die betreffende Frau damals gesagt habe, der Vorfall
sei für sie ein Zeichen dafür, dass es wirklich nötig sei, ein Projekt für Kinder der
Strasse zu eröffnen.
Wie diese Frau gab es von Anfang an Personen aus Curitiba, welche die
Chácara unterstützten, jedoch auch Personen, welche sich gegen diese stellten.
So berichteten zum Beispiel Augenzeugen in informellen Gesprächen mit der
Autorin davon, dass einige Polizisten, welche einzelne Jungen zuvor für Dieb-
stähle und Drogenhandel eingesetzt hatten, sich sehr dagegen wehrten, dass diese
nun ausser Reichweite in einer Chácara leben sollten. Die Begegnung zwischen
Besuchern und Beteiligten aus der Stadt Curitiba und den Jungen der Chácara
war und ist auch für letztere nicht immer einfach, wie die folgende Aussage eines
zum Zeitpunkt des Interviews 15-jährigen Jungen bezüglich dieser oft wirtschaft-
lich besser gestellten Personen zeigt. In ihr kommen die Wahrnehmung eines
gesellschaftlichen Ungleichgewichts und die Internalisierung der erlebten Positi-
on des gesellschaftlichen Ausschlusses zum Ausdruck. Gleichzeitig kann sie als
Hinweis auf die Wichtigkeit solcher Begegnungen verstanden werden:

Antwort: [Die Besucherinnen und Besucher] lernen, mit uns zusammenzuleben, und
wir lernen, mit ihnen zusammenzuleben.
Frage: Und wie ist es, mit diesen Personen zusammenzuleben?
Antwort: Es ist gut, aber es ist schwierig.
Frage: Was ist schwierig?
Antwort: Es ist schwierig, nahe bei einer reichen Person zu sein, die man nicht gut
kennt; sie mit neuen Kleidern und du mit alten Kleidern, sie ganz elegant sprechend
und du mit Fehlern sprechend. Das ist schwierig für uns.
Frage: Was fühlst du in einem solchen Moment?
Antwort: Dass sie intelligenter sind als wir. Sie haben studiert, und wir nicht.
Frage: Aber sind sie deswegen bessere Menschen?
Antwort: Ja, sie sind bessere Menschen, denn sie haben studiert, haben Arbeit, ver-
dienen Geld, und wir verdienen keines. (Interview, 27. März 2003)

In Quatro Pinheiros, dem Weiler, in dem die Chácara liegt, waren die Bedenken
der lokalen Bevölkerung gegenüber der Ankunft von Kindern der Strasse zu-
nächst gross. Mitglieder der Gruppe um die Chácara machten während Monaten
Besuche bei den lokalen Familien, um sie für das Vorhaben zu gewinnen. So
berichtete ein Nachbar in einem vom Forschungsteam der Jungen im Rahmen
der vorliegenden Arbeit geführten Interview:

221
Es ist so, wir sind hier auf dem Land, und wir sind [auf so etwas] nicht vorbereitet.
Im Allgemeinen würde jede Familie erschrecken, wenn eine fremde Person er-
scheint, und so auch wir, wenn jemand, von dem wir nicht wissen, wer er ist, in un-
serer Nähe ein Stück Land kauft. Und als ihr hierher kamt … ihr kennt den Ruf der
„Strassenkinder von Curitiba“; es ist ein sehr schlechter Ruf. Und als ihr hierher
kamt, wussten wir nicht, wie uns geschehen würde, aber ihr kamt, und wir sind
Freunde geworden. (…) Ich und meine Gattin, wir kamen mit nach Aparecida do
Norte und halfen, die Jungen zu betreuen, und wir waren in jener Kirche auf der
Praça da Sé175, wo der Bruder von Fernando Pater war.
Ich fühlte und fühle mich sehr wohl mit euch. Aber am Anfang waren wir ziem-
lich erschrocken, wir wussten nichts, wir waren es nicht gewohnt, aber bald wurde
auch ich gerufen, bei einigen Aktivitäten mit euch in der Chácara mitzumachen, und
meine Frau arbeitete in der Schule – ihr asst die Mahlzeiten, welche sie dort als Kö-
chin zubereitete – und so wurde es immer besser, und heute sind wir gute Freunde,
und ich kann nur Gutes über euch berichten, nichts Schlechtes. (von der For-
schungsgruppe der Jungen geführtes Interview, November 2003)

Es waren einige Personen in Quatro Pinheiros, welche die Chácara von Anfang
an besuchten und nach Möglichkeit unterstützten. Besonders berührt war die Au-
torin bei ihrem ersten Einsatz als Freiwillige von einer in grösster Armut in ei-
nem kleinen Bretterhaus im Wald lebenden, geistig leicht behinderten Nachba-
rin, welche selbst mehrere beinahe oder ganz erwachsene Kinder hatte. Sie
brachte vom ersten Moment an jeden Samstag den damals ebenfalls in Armut in
der Chácara lebenden Jungen und Betreuern einen Blumenstrauss (und tut dies
auch 11 Jahre später immer noch), was von diesen als eine wichtige moralische
Unterstützung empfunden wurde.
Über gemeinsame Aktivitäten und die Öffnung des Angebotes der Chácara
für die lokale Bevölkerung wurde diese über die Zeit immer stärker mitein-
bezogen. Wie sehr es dabei um eine eigentliche Bedingung oder Ausführungs-
modalität der Chácara geht, zeigen Zitate wie das folgende:

Bei allem, was in der Chácara passiert, gibt es nie diese Haltung: „Wir machen hier
nun eine Arzt- und Zahnarztpraxis nur für die Jungen, oder wir machen hier eine
Automechanikerwerkstatt für die Jungen, oder wir machen hier einen Fussballplatz
für die Jungen …“ Es gibt hier keine solch verschlossene Mentalität. Es gibt immer
den Einbezug der lokalen Gemeinde. (Lehrerin und Vorstandsmitglied, Interview,
16. April 2004)

Ebenfalls wird im Sinne einer Ausführungsmodalität darauf geachtet, dass sich


die Chácara in der lokalen Gemeinde engagiert und an deren Anlässen teilnimmt.
175
Kathedrale von São Paulo (vor der sich jeweils viele obdachlose Kinder und Erwachsene aufhal-
ten).

222
Der Koordinator erwähnt in der praktischen Arbeit immer wieder einmal, dass
sich externe Beteiligte deshalb in der Chácara engagierten, weil sie von dieser in
irgendeiner Weise auch etwas erhielten. So führte die Chácara zum Beispiel in
den Jahren 2004 und 2005 einmal pro Monat ein Bingo für die Frauen von
Quatro Pinheiros durch. Dieses umfasste jeweils einen Vortrag und eine Frage-
stunde mit einem Arzt, eingeleitet von Vertretern der Gemeinde und der Cháca-
ra, welche darauf hinwiesen, dass das Wohlergehen der Jungen und überhaupt
aller Kinder die Aufgabe aller in der Gemeinde sei. Einige Jungen übernahmen
dabei jeweils die Aufgabe, in einer Umkehrung der zumeist in der Familie erleb-
ten Rollenverteilung den teilnehmenden Frauen Kaffee und Gebäck zu servieren.
Im Jahresbericht 2004 steht im Zusammenhang mit solchen Aktivitäten:

Mit dem Ziel eines besseren Miteinanders mit der Gemeinde haben es die Mitglieder
der Chácara nie unterlassen, an den Aktivitäten des religiösen, sozialen und politi-
schen Lebens der Gemeinde teilzunehmen, wie sie auch immer die Mitglieder der
Gemeinde einladen, an allen Aktivitäten [in der Chácara] teilzunehmen und bei die-
sen mitzuhelfen, zugunsten der Jungen der Chácara und der Gemeinde.

Gemeinsame Anlässe verbinden häufig die Landbevölkerung von Quatro


Pinheiros mit Personen aus dem Nachbarprojekt ABAI sowie verschiedensten
Beteiligten aus der Stadt Curitiba, Familienmitgliedern der Jungen, einzelnen
ausländischen Freiwilligen und anderen mehr. So wird wiederum das getan und
gleichzeitig eingeübt, was durch die Chácara erreicht werden soll: eine Integrati-
on von verschiedenen Gruppen der Gesellschaft zugunsten der Entwicklung und
Förderung der ehemaligen Jungen der Strasse. So heisst es zum Beispiel von den
Festivitäten zum 10-jährigen Bestehen der Chácara im Jahr 2003:

Die Familien einer Anzahl von Jungen nahmen an den Festivitäten des 10-jährigen
Jubiläums der Chácara und an der Einweihung des Gemeinschaftssaales teil, mit ei-
nem lebhaften Ball am 11. Oktober 2003. Die Familien blieben jeweils noch einen
Tag länger in der Chácara und halfen, die Häuser zu putzen. (Schriftlicher Festbe-
richt der Chácara, Oktober 2003)

Wie im Zusammenhang mit der Einladung zum Bingo für die Frauen erwähnt,
bedarf die Begegnung zwischen den Jungen, den Mitarbeitenden der Chácara
und externen Beteiligten und Besuchern einer gewissen Moderation. Diese wird
von Mitarbeitenden der Chácara oder bereits stark involvierten externen Beteilig-
ten wahrgenommen und dient dazu, die verschiedenen Gruppen einander ver-
ständlich zu machen, fast möchte man sagen, in einem interkulturellen Sinn. Es
ist ihnen so gelungen, das bereits erwähnte, grosse Netzwerk mit ganz verschie-
denen Personen und Gruppen aufzubauen, welche die Chácara unterstützen.

223
Gleichzeitig haben sie den Fokus auf die Jungen nie verloren. Eine Lehrerin,
welche als Vorstandsmitglied der Chácara tätig ist, bemerkte dazu in einem In-
terview:

Ich glaube, das Ziel war immer, wirklich einen Mittelweg zu finden, denn die
Chácara wächst, und deshalb ist es nötig, der Hilfe interessierter Personen grosse
Wertschätzung entgegenzubringen. Deshalb war es nie so, dass man zum Beispiel
sagte: „Die Geschäftsleute (eine Gruppe von lokalen Spendern) sind nichts als In-
vestoren; wir entscheiden alles und sie zahlen lediglich.“ Es herrscht wirklich die
Idee vor, dass [die Chácara] ein Projekt ist, welches durch seine Existenz zu Modifi-
kationen in der Gesellschaft führt, und deshalb haben auch die anderen Personen der
Gesellschaft, welche [Unterstützung für] das Projekt übernehmen, ihr Recht auf eine
Stimme und darauf, dass man im Rahmen des Möglichen auf sie eingeht. Gleichzei-
tig wird die absolute Priorität immer bei den Jungen liegen. Dies verbalisiert Fer-
nando mit aller Klarheit in jedwelcher Situation.
Wenn du dort [in der Chácara] ankommst, dann bist du Gast (in der brasiliani-
schen Kultur eine Person, der besondere Aufmerksamkeit gebührt), aber, falls er
einmal vor der Wahl steht, dir Aufmerksamkeit zu geben oder einem Jungen [der
diese gerade benötigt], dann wird er seine Aufmerksamkeit dem Jungen geben.
Wenn du im pädagogischen Handeln mit dem Jungen irgendeinen Konflikt erlebst,
dann wird [Fernando] die Haltung und die Bedürfnisse [von dir als] Freiwillige nicht
ignorieren, aber [er wird wissen wollen, in welcher Lösung] der Vorteil für den Jun-
gen liegt, welche Probleme diese [Situation] für den Jungen mit sich bringt, welches
die Gründe sind, dass dieser aufgibt oder sich verweigert. In diesem Sinne ist er sehr
auf die Jungen ausgerichtet. So glaube ich, dass er wirklich einen Mittelweg zwi-
schen den externen Unterstützern und den Jungen sucht, aber ich glaube auch, dass
es ein Mittelweg ist, der immer mehr zugunsten der Jungen ist (…). (Interview,
16. April 2004)

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit konnte der Prozess der gegenseitigen Inte-
gration, welchen die Chácara betreibt, nicht vertieft untersucht werden. Eine
künftige, entsprechend ausgerichtete weiterführende Studie könnte jedoch so-
wohl für diese als auch für andere Organisationen von Interesse sein.
Während in den ersten Jahren der Schwerpunkt eher stärker auf der Integra-
tion der Chácara in der Gesellschaft lag, ersuchten in den letzten Jahren immer
mehr Mitglieder der weiteren Gesellschaft um Integration in der Chácara, wie
zum Beispiel die Aussage einer an der Chácara beteiligten Pädagogikprofessorin
in einem Interview zeigt:

Damals [als die Jungen der Chácara an der Universität ein Theaterstück aufführten],
war es sehr berührend, denn die Chácara musste die Leute der Universität für sich
gewinnen (…). Heute ist es umgekehrt: Wir, die wir von ausserhalb der Chácara
sind, müssen die Chácara für uns gewinnen, wir müssen um einen Platz kämpfen, an

224
dem wir akzeptiert werden; wir wollen dort akzeptiert sein. So ist es: Sie kämpften
so sehr, um akzeptiert zu werden, und heute ist es so, dass wir dort [von ihnen] ak-
zeptiert werden wollen. Das ist etwas ganz Besonderes. (Interview, 5. Mai 2003)

Auch der Jahresbericht 2004 nimmt Bezug auf den positiven Effekte für beide
„Seiten“, Universität und Chácara, im Sinne einer gegenseitigen Integration und
eines Beitrags zur Veränderung der Gesellschaft:

In Tat und Wahrheit ist dies eine Art, welche die als Freiwillige [in der Chácara] ar-
beitenden [Pädagogik-] Professorinnen gefunden haben, um der Bevölkerung näher
zu sein und die Universität zugänglicher und volksnäher zu machen, wenn schon
nicht alle diese besuchen können, und so geht [die Unversität hier] zum Volk hin.
(Jahresbericht 2004)

In den Statuten ist von der Chácara als alternativer und „alterativer“, also als
andersartiger und transformierender Gemeinschaft die Rede. Mit der hier be-
schriebenen Ausführungsmodalität formen diese beiden Eigenschaften nun nicht
mehr einen Gegensatz, sondern eine Einheit: Einerseits bezeichnen sie die
Chácara als „Gesellschaft en miniature“, welche versucht, so zu sein, wie die
Gesellschaft eigentlich sein sollte; anderseits erfassen sie deren Funktion als
Transformatorin der Gesellschaft. Der dabei angestrebte Wandel soll nicht durch
Opposition und Ab- beziehungsweise Ausgrenzung, sondern durch Integration,
durch ein „An-Einen-Gemeinsamen-Tisch-Holen“ der verschiedensten Mitglie-
der und Gruppen der Gesellschaft und den Aufbau gemeinsamer Aktivitäten
zustandekommen, welche alle auf das Wohl der Jungen und damit – so wird es in
der Chácara gemäss informellen Aussagen verstanden – auf das Wohl der gegen-
wärtigen und zukünftigen Gesellschaft ausgerichtet sind.

4.5.2.3 Evaluative Gestaltung der Handlung

Die Analyse der Forschungsdaten, ergänzt um teilnehmende Beobachtungen, hat


ergeben, dass ein grosser Teil der Aktivitäten der Chácara Elemente der Evalua-
tion und Reflexion beinhaltet. Hauptabsicht dieser Evaluation und Reflexion ist
die Förderung sowohl des persönlichen als auch organisationalen – und damit
gemeinschaftlich-gesellschaftlichen – Lernens der Mitglieder und Beteiligten der
Chácara. So steht gleich in den ersten Sätzen der Einleitung zum Jahresbericht
2004:

Zusätzlich dazu, dass dieser Bericht als Dokumentation darüber dient, wie die Stif-
tung die Mittel anwendet, welche sie durch Projektfinanzierung und andere Arten

225
der Unterstützung erhalten hat, ist er auch ein Instrument des Lernens aus den Irrtü-
mern und Erfolgen, von welchen über die Jahre berichtet wurde, mit der Absicht ei-
ner künftigen Vervollkommnung der pädagogischen Praxis.

Allein im Jahresbericht 2004 fanden sich 20 verschiedene Textstellen, dazu in


den Interviews mit Jungen, Erziehenden und Beteiligten weitere 24, bei denen es
um Analysen und Beurteilungen ging. Diese beziehen sich auf das Verhalten der
Jungen, das Verhalten der Mitarbeitenden sowie auf die Analyse der Ausgangs-
lage, die Einhaltung der Philosophie sowie die Planung und Zielerreichung der
Chácara. Dazu kommen, zum Beispiel bei Anlässen mit den Familien der Jun-
gen, Evaluationen über die Qualität der Beziehung zwischen Jungen, Verwand-
ten und Chácara oder, bei solchen mit der lokalen Gemeinde, über Beziehungen
und Kontakte zwischen Einwohnern, Jungen und Chácara. Charakteristisch für
die Evaluationen ist, dass alle Mitglieder der Chácara sich gegenseitig evaluie-
ren, so dass Meinungen und Ansichten der Jungen, aber auch Überlegungen der
Erziehenden, des Koordinators und weiterer Mitarbeitenden sowie häufig auch
weiterer Beteiligten miteinfliessen. Ein Beispiel für eine von den Jungen vorge-
nommene Evaluation findet sich in einem eigens diesem Thema gewidmeten
Kapitel im Jahresbericht 2004:

Evaluation der Jungen:


In der letzten Jahresversammlung der Jungen wurden Gruppen gebildet, um die Eva-
luation der Aktivitäten vorzunehmen, welche in der Chácara während des Jahres
durchgeführt wurden. Für die Evaluation wurden [gemeinsam] Fragen zur individu-
ellen Beantwortung entwickelt, welche die hauptsächlichen Aktivitäten der Chácara
umfassten. Nachstehend zitieren wir die Zusammenfassung der Antworten der Jun-
gen:
1. Wie war das Zusammenleben dieses Jahr?
Im Allgemeinen fanden die Jungen, dass es schlecht war; [es gab] viel Fluchen,
Streit und Mangel an Respekt zwischen den Jungen und den Erziehenden gegenüber.
2. Wie war die Arbeit mit den Familien dieses Jahr?
Die Jungen fanden, dass sie gut war, weil die Gruppe [von katholischen Ehepaaren
einer wirtschaftlich wohlhabenden Region] die Familien [der Jungen] anhörte, die
Treffen die Familien zusammen- und einander näherbrachte, und weil die Leute
Ideen austauschten darüber, wie man die Familien und die Chácara verbessern könn-
te. Das Gute dieser Arbeit ist, dass sie die Familien lehrt, wie sie verhindern können,
dass die Kinder auf die Strasse gehen.
3. Wie fandest du die Schule?
„Sie war gut, weil einige Jungen sich anstrengten, das Schuljahr zu bestehen.“
„Der Stützunterricht mit einer Studentin und einem Studenten half, weil es uns ge-
lang, viel zu lernen.“
„Es wurde viel geschwänzt, und einige zeigten wenig Interesse.“
4. Wie war es dieses Jahr mit dem Rauchen?

226
Die Jungen fanden, dass, wer Probleme habe, die Erziehenden bitten müsse, ihn zur
Psychologin zu schicken. Es müsse mehr Dialog und Toleranz geben, und die Erzie-
henden müssten mehr mit den Jungen reden, welche [diesbezüglich] Schwierigkei-
ten haben, und es müsse [dazu] mehr Bewusstseinsbildung und pädagogische Akti-
vitäten geben.
5. Was hieltest du von den Erziehenden dieses Jahr?
Die Jungen fanden, dass die Erziehenden ihnen mehr Aufmerksamkeit geben müss-
ten, sich mehr mit ihnen unterhalten und mehr mit ihnen spielen sollten, vor allem
mit den Jungen, welche mehr Schwierigkeiten haben.
6. Was braucht es, um die Chácara zu verbessern?
Es braucht mehr Arbeit mit Psychologinnen, mehr pädagogische Aktivitäten für die
Bewusstseinsbildung; die Regeln und Grenzen des Zusammenlebens müssen verbes-
sert werden, es soll mehr Ausflüge geben, und die Streitereien und das Fluchen müs-
sen beendet werden.

Evaluationen wie die gerade dargestellte werden häufig im Rahmen von


Gincanas, von Spielen mit pädagogischem Inhalt, gemacht. Obwohl es dabei um
ernsthafte Themen geht, sind diese Spiele die von den Jungen wohl am meisten
geliebte Aktivität. Ein Jugendlicher beschrieb eine Gincana wie folgt:

Frage: Was geschieht typischerweise in einer Gincana?


Antwort: (Spricht sehr angeregt, strahlt) Ah, wenn man so spielt, dann vergisst man
wirklich alles. Man verwandelt sich von Neuem in ein Kind. (…) Auch die Erzieher,
wenn sie mit uns spielen, dann sind alle gleich, dann sind alle von gleicher Grösse.
Keiner ist Erzieher, keiner ist Junge, keiner ist Fernando, alle sind gleich.
Frage: Geht es in der Gincana nur ums Spielen?
Antwort:Fernando macht etwa einmal im Monat eine Gincana. Zuerst macht er eine
Gincana auf dem Papier, bei der man über das [eigene] Leben schreibt, über die [ei-
gene] Geschichte, darüber, was geschehen ist, was man sich für die Zukunft vor-
stellt, was in der Chácara geschieht, wie man denkt, dass das Leben der [ausländi-
schen] Freiwilligen ist und so weiter, und dann, nachdem wir schon viel geschrieben
haben, kommen die Spielereien, Fussball, ein Spiel mitten in der Wildnis, eine
Schatzsuche, (…) das ist super. (16-jähriger Jugendlicher, Englischlehrer in einer
privaten Sprachschule und in der Chácara, Eintritt in die Chácara, 16. Januar 1996,
Interview, 27. April 2003)

Ziel der Evaluationen beziehungsweise der Gincanas ist unter anderem die Un-
terstützung der Jungen darin, zu lernen, in einer Gruppe und Gemeinschaft zu-
sammenzuleben und ihren Alltag dort zu gestalten, wie es die zwei folgenden
Zitate aus dem Jahresbericht 2004 beschreiben:

Es war der Stiftung immer ein Anliegen, die Jungen hinsichtlich ihrer Basisbedürf-
nisse zu unterstützen, aber sie unterliess es auch nie, sich um die Ausbildung der

227
Jungen als Individuen und staatsbürgerliche Subjekte mit Rechten und Pflichten zu
kümmern. Deshalb nehmen Aktivitäten zur Ausbildung des Bewusstseins der Jun-
gen immer einen grossen Platz in ihrem Programm ein, damit diese eine Vorstellung
der Realität haben, in welcher sie sich befinden, und davon, was sie tun müssen, um
diese zu transformieren.

Und:

Es wurden zwei Gincanas im ersten Semester realisiert und zwei im zweiten. Be-
handelt wurden die Themen Organisation, Hygiene, Aufnahme neuer Jungen, Dro-
gen und Zusammenleben. Die Gincanas gehören zu den hauptsächlichen Aktivitäten,
welche bei den Jungen den Wunsch auslösen, ihren Alltag zu erschaffen, neu zu ge-
stalten, über ihn nachzudenken und ihn neu zu sehen, mittels Sport, pädagogischer
Spiele, Geschicklichkeitsspielen und eines gesunden Wettbewerbs, was in ihnen
Gruppengeist, Kameradschaft und Brüderlichkeit auslöst.

Ein evaluatives beziehungsweise auch dialektisches Vorgehen wird jedoch nicht


nur in dieser im Voraus geplanten Form, sondern auch situationsbezogen im
Zusammenhang mit gewissen Verhaltensweisen einzelner Jungen verwendet.
Dabei wird gemeinsam mit ihnen evaluiert, was die Vor- und Nachteile be-
stimmter Verhaltensweisen für sie und für die Gruppe sind. Im selben evaluati-
ven Stil werden die Jungen darin begleitet, diesen ihrerseits zugunsten einzelner
Jungen und der Gemeinschaft anzuwenden, wie aus dem Interview mit einem
bereits 19-jährigen, seit einem halben Jahr aus der Chácara ausgetretenen Jungen
hervorgeht:

Fernando entdeckte [dass ein Junge etwas getan hatte, das er nicht hätte tun sollen],
und das legte er dann der Gruppe vor. Er versammelte alle und sagte zur Gruppe:
„Hört mal, dieser Junge hat Folgendes getan, und jetzt? Wir Erziehenden habe eine
Idee, was getan werden könnte, aber ihr seid seine Freunde, ihr lebt mit ihm, und ihr
entscheidet, was eine [gute] Strafe für ihn wäre, damit er lernt, dass er dies nicht in-
mitten der Gruppe tun kann, weil es schlussendlich alle beeinträchtigt. (…)
Frage: Und auf welche Weise entschied sich die Gruppe für eine Strafe?
Antwort: Ja, es gab einige Jungen, die wollten den Kerl einfach fertig machen. Sie
dachten nicht an die gute Seite der Sache, sondern wirklich nur an die schlechte Sei-
te und wollten ihn fertig machen. Aber dann dachte die Gruppe: Besser ist, was für
die [ganze] Gruppe gut ist und für ihn, damit er lernt, dies nicht mehr zu tun (…).
Sie fingen an, Folgendes zu tun: Wenn jemand etwas Falsches getan hatte, dann
musste er eine Arbeit für die Gruppe tun, zum Beispiel Gras schneiden, diese Dinge,
die es in der Chácara zu tun gab, und darüber hinaus musste er etwas erforschen.
Zum Beispiel, wenn es ein Streit gewesen war, dann musste er eine Untersuchung
zum Thema Gewalt machen und diese dann der Gruppe präsentieren, der ganzen
Gruppe. (Interview, 27. März 2003)

228
Die beiden zitierten Aussagen weisen darauf hin, dass bei den Evaluationen von
der im Moment existierenden Situation ausgegangen wird. Die Wahrnehmungen
und Ressourcen sowie der Gruppenzusammenhalt und die Gruppendynamik die-
nen dabei als Basis für den entstehenden Reflexionsprozess, werden aber durch
diesen auch weiter trainiert. Auffällig ist dabei, dass negative Vorfälle als Lern-
möglichkeiten und Entwicklungschancen wahrgenommen und genützt werden.
Ein analoges Vorgehen wird, wie folgender Ausschnitt aus dem Jahres-
bericht 2004 zeigt, von den Erziehenden angewandt, wenn sie jeweils ihre Arbeit
auf den Erfahrungen der vergangenen Woche aufbauend planen:

[Es werden] wöchentliche Versammlungen der Erziehenden [abgehalten], um die


durchgeführten Aktivitäten der vergangenen Woche zu evaluieren und die kommen-
de Woche zu planen.

Interessant ist, dass die Evaluation nicht nur dazu dient, die Einhaltung vorgege-
bener Abläufe und Ziele zu garantieren, sondern vor allem auch dazu, die päda-
gogische Praxis – wenn auch mit konstantem Fokus auf die Jungen – ständig zu
überdenken und neu zu gestalten, wie aus den folgenden Zitaten aus dem Jahres-
bericht 2004 hervorgeht:

Alle zwei Wochen nehmen die Erziehenden in zwei Gruppen aufgeteilt bei der Psy-
chologin [Name der Psychologin] daran [an der Supervision] teil, um individuelle
Anliegen der Erziehenden aufzunehmen sowie ihr Miteinander in der Gruppe, ihre
Kommunikation, Organisation und ihre Beziehungen untereinander und mit den
Jungen und auch das pädagogische Konzept immer wieder zu überdenken, dessen
Raison d’Être die Jungen sind.

Und:

Die Ausbildung [der Erziehenden] hat das Ziel, ein Moment der Evaluation, Refle-
xion und Konstruktion der pädagogischen Praxis zu sein, in dem die Erziehenden ih-
re Arbeit überdenken und neu gestalten können.

Auch bei den Erziehenden wird die Selbst-Evaluation als eine Selbst-Befähigung
gesehen, als ein Lernen und eine Entwicklung der Person auf der Basis von Er-
fahrungen, Kenntnissen und Fähigkeiten, über welche sie bereits verfügt:

Die Stiftung ist darum bemüht, den [Erziehenden] einige separate Momente der
Freizeit und der Ausbildung zu ermöglichen, damit diese sich ihre praktische tägli-
che Arbeit besser vor Augen führen und sich so [selbst] evaluieren und befähigen
sowie ihre Aktivitäten planen können. (Jahresbericht 2004)

229
Wie bereits erwähnt, beurteilen sich in der Chácara die verschiedenen Mitglieder
gegenseitig. Eine Erzieherin beschreibt dies in einem Interview und bezeichnet
dabei die gegenseitige Evaluation von Jungen und Erziehenden als einen „Aus-
tausch von Demut“. Dieser Begriff spiegelt vermutlich das bereits geschilderte
Konzept einer Gemeinschaft, in der keiner „besser“ ist, als der andere, und in der
„jeder in jedem Moment Erziehender und Lernender“ ist:

So, wie ein Junge zu uns kommt [und fragt]: Wie war ich heute? Habe ich es heute
gut gemacht? Heute habe ich es gut gemacht, nicht wahr? Darum ist es uns auch ein
Anliegen, uns untereinander zu evaluieren. Wie wir die Arbeit gemacht haben. Dies
haben wir auch schon mit den Jungen gemacht. Wir haben sie gefragt: „Was haltet
ihr von [unserer] Arbeit? Was muss verbessert werden?“ Nicht wahr, wir evaluieren
die Jungen, und sie evaluieren uns. Dieser Austausch von … Demut176 tut gut.
(Gruppendiskussion, 25. November 2003)

In Kapitel 4.1.2 wurde dargestellt, wie Evaluation und Reflexion der Praxis be-
reits in der ursprünglichen Strassenarbeit ein wichtiges Element waren. Aus
vielen Aussagen entsteht der Eindruck, dass auch in der Chácara Evaluationen
nicht nur spezifische Ereignisse sind, die zu bestimmten Zeitpunkten stattfinden,
sondern dass sie im Sinne einer dialektisch-kritischen, oder man könnte auch
sagen, einer gemeinsamen, bürgerrechtlich-demokratischen Gestaltung eine Aus-
führungsbedingung der meisten, wenn nicht aller Aktivitäten sind. Als solche
stellen sie einen für die Mitglieder der Chácara selbstverständlichen Bestandteil
ihres Alltags dar.177 Wie in Kapitel 3.1 angemerkt, erleichterte diese Tatsache die
Arbeit an der vorliegenden Forschung wesentlich, waren doch die Mitglieder der
Organisation bereits gewohnt, sich selbst, ihre Arbeit und ihre Organisation mit-
tels Evaluationen zu „erforschen“ und zu bewerten.

4.5.3 Prozess

Wie bisher gezeigt wurde, ist die Chácara als sozialer, von Konzepten der Men-
schenwürde und demokratischen Bürgerrechtlichkeit geprägter Raum respektive
als alternative Gemeinschaft konzipiert. Diese wird von zum grössten Teil aus
wirtschaftlich sehr armen Verhältnissen und/oder von der Strasse stammenden
Menschen – Jungen, Erziehenden, Koordinator und weiteren Mitarbeitenden –
gebildet, welche einander in von echter Zuneigung, Respekt und Engagement

176
„Humildade“.
177
Auf den Zusammenhang der evaluativen Gestaltung der Handlung mit der Organisationsent-
wicklung und Organisationsqualität wird in Kapitel 5.4 eingegangen.

230
geprägten Beziehungen verbunden sind. Die zentrale Position in dieser Gemein-
schaft nehmen die Jungen ein.
In diesem Raum läuft ein Prozess ab, der als Transformationsprozess cha-
rakterisiert werden kann, da es sein Ziel ist und – wie im nächsten Kapitel im
Zusammenhang mit Resultaten und Qualität gezeigt werden wird – da er tatsäch-
lich dazu beiträgt, dass die aufgenommenen Jungen der Strasse zu „Protagonis-
ten ihrer eigenen Förderung“ werden. Dieser Prozess besteht wohl aus einzelnen
Aktivitäten mit vorwiegend pädagogischem Inhalt; es wurde jedoch festgestellt,
dass die Ansammlung solcher Aktivitäten ihn allein nicht ausmachen und nicht
zur Erreichung seiner Ziele führen würde. Es sind bestimmte Ausführungsmoda-
litäten, das „Wie“ der Handlungen in der Organisation, welche den Transforma-
tionsprozess mit hervorrufen. Als hauptsächliche Modalitäten wurden die Parti-
zipation der Jungen als Mitgestalter der Organisation sowie das gemeinsame, als
gleichwertig betrachtete Handeln aller Akteure der Chácara geschildert, die ge-
genseitige Integration zwischen den Jungen beziehungsweise der Chácara und
allen Teilen der Gesellschaft sowie die dialektisch-evaluative Prägung des Han-
delns.
Aus den hier genannten Elementen lässt sich nun der Transformationspro-
zess in seinen hauptsächlichen Zügen rekonstruieren. Zunächst fällt auf, dass er
von der sozialen Grundkonzeption sowie der Struktur der „alternativen Gemein-
schaft“, ihren Eigenheiten und Ressourcen geprägt wird und in dieser abläuft.
Gleichzeitig bringt er die soziale Struktur, die „alternative Gemeinschaft“ hervor,
und gestaltet sie ständig neu. Dies geschieht durch die Mitwirkung von verschie-
denen Mitgliedern der Gesellschaft – den ehemaligen Jungen der Strasse, den
zumeist aus wirtschaftlich armen Verhältnissen stammenden Erziehenden sowie
des Koordinators und der weiteren, aus den unterschiedlichsten sozialen Kreisen
stammenden Beteiligten. Der Transformationsprozess entspricht einer Entwick-
lung des Einzelnen als Persönlichkeit und Staatsbürger mit demokratischen
Rechten und Pflichten im Austausch mit einem von Konzepten der Menschen-
würde geprägten, demokratischen Rechtsstaat (wie er in der brasilianischen Ver-
fassung und Gesetzgebung vorgesehen ist). Dabei wird zugleich die Aufrechter-
haltung, Gestaltung und Weiterentwicklung der Gesellschaft durch ihre Bürge-
rinnen und Bürger angestrebt.
Die Jungen haben, wie bereits beschrieben, die zentrale Position im sozialen
Raum der Chácara inne. Dieser Raum, diese Gemeinschaft, wird als ihr eigener
Lebens- und Gestaltungsraum gesehen und über ihre Partizipation auch als sol-
cher gestaltet. Eine als Vorstandsmitglied und Freiwillige in der Chácara tätige
Sozialarbeiterin lokalisiert diesen sozialen Raum bezüglich der Jungen zwischen
Recht (eigener, familiärer Ort der Aufnahme, der Wertschätzung, der Liebe und
der familiären Bindung) und Pflicht (eigener Ort, der gepflegt werden muss, für

231
den Verantwortung übernommen werden muss). Aus ihrer Aussage geht hervor,
dass es die Gestaltung dieses Raumes, der Gemeinschaft Chácara durch die Jun-
gen ist, welche dazu führt, dass diese in der Chácara bleiben wollen und sich
entwickeln:

Das ist etwas, das ich in der Chácara sehe, [und] das gut ist: Wir arbeiten mit den
Jungen, aber sie präsentieren, was ihnen gehört. Es wird jederzeit betont, dass die
Chácara ihnen gehört, dass es ihr Raum ist, dass es ein familiärer Raum ist, ein
Raum des Wachstums, welcher nicht Fernando gehört und auch niemand anderem,
sondern ihnen, damit sie ihn pflegen, weil er ihnen gehört. Es hilft den Jungen, zu
wissen, dass der Raum ihnen gehört. Es hilft ihnen, sich in ihrem Wert geschätzter
zu fühlen und geliebter. Und wenn ein Junge keine familiäre Bindung zu Hause hat-
te, wenn der Junge auf die Strasse ging, weil er keine Bindungen hatte, (…), dann
fühlt er sich [hier] gut aufgenommen, weil es sein Raum ist, den er pflegen muss,
und so laufen die Dinge dann auf eine andere Art für ihn, nicht wahr. So kann er in
diesem Sinne auch den Erzieher in Frage stellen; er kann dem Erzieher sogar helfen,
sich zu entwickeln, durch die Erfahrung die er (der Junge) hat. (Interview, 14. April
2004)

Die Jungen sind, wie mehrfach betont, schon in der Chácara selbst Protagonis-
ten – Mitverantwortliche, Handelnde – ihrer eigenen Förderung, haben die Gele-
genheit, aufgrund ihrer Fähigkeiten und Ressourcen die Dinge zu tun und mitzu-
gestalten, die sie lernen sollen, und stärken ihre diesbezüglichen Fähigkeiten
durch das dialektisch-evaluative Vorgehen, an dem sie teilhaben, und welches
nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Gemeinschaft und deren Organisation
Chácara sowie die weitere Gesellschaft betrifft.
Die Entwicklung der Jungen findet innerhalb der Gemeinschaft und Organi-
sation Chácara statt. Deren Struktur, Eigenschaften und Prozesse haben einen
fördernden und gestaltenden Einfluss auf ihre Entwicklung der Jungen. Umge-
kehrt üben die Jungen und ihre Entwicklung einen fördernden und gestaltenden
Einfluss auf die Struktur, Eigenschaften und Prozesse der Gemeinschaft und
Organisation Chácara und deren Entwicklung aus. Die Entwicklung der Jungen
und die Entwicklung der Organisation sind untrennbar miteinander verbunden,
bedingen und spiegeln einander gegenseitig.
Die in Kapitel 5.3.1 enthaltenen Darlegungen zur organisationalen Kapazi-
tät weisen denn auch auf einen Zusammenhang zwischen Organisationsentwick-
lung und persönlicher Entwicklung der Mitarbeitenden hin. Im Rahmen ihrer
praktischen Erfahrung in der Chácara sowie in einem anderen brasilianischen
Projekt, an dessen Aufbau nach Vorbild der Chácara die Autorin in den Jahren
1998 bis 2001 aktiv beteiligt war, beobachtete sie ebenfalls, dass die Entwick-
lung der Organisation stark von der persönlichen Entwicklung und Entwick-

232
lungsfähigkeit der für die Koordination und Erziehung verantwortlichen Perso-
nen (und hauptsächlichen Vorbildfiguren der Kinder und Jugendlichen) abhängig
ist. Persönliche Beeinträchtigungen von Koordinierenden und Erziehenden wie
zum Beispiel aus inneren oder äusseren Gründen wiederholt auftretende psychi-
sche Probleme sind entsprechend sowohl der Entwicklung der Organisation als
auch der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen abträglich.178

4.6 Die Organisation im Licht theoretischer Überlegungen

Erstes Ziel der vorliegenden Arbeit war es, eine Phänographie der Organisation
Chácara zu erstellen. Entsprechend sind in diesem Kapitel die hauptsächlichen
Strukturen und Prozesse der Chácara mit ihren Charakteristika dargestellt wor-
den. Abschliessend soll hier die so entstandene Phänographie im Sinne der Re-
flexion und des Beitrages an die Wissenschaft in Bezug zu den in Kapitel 2 auf-
geführten theoretischen Erkenntnissen gesetzt und diskutiert werden. Dafür wird
zunächst Bezug auf die ersten beiden Forschungsfragen nach organisationalen
Strukturen und Prozessen der Chácara und deren Begründungen genommen und
anschliessend die dritte Frage nach dem Gestaltungsprozess der Organisation
soweit möglich beantwortet.
Im Anschluss daran wird in Kapitel 5 das zweite Ziel der vorliegenden Ar-
beit behandelt, indem die in der Phänographie enthaltenen organisationalen
Strukturen und Prozesse in Bezug zu Fragen der Qualität und Nachhaltigkeit
gesetzt werden. Dabei geht es neben herkömmlichen und neu entwickelten Di-
mensionen von Qualität und Nachhaltigkeit unter anderem um Resultate und
Adaptations- bzw. Entwicklungsprozesse der Organisation.
In Kapitel 2.4 wurde ein gebräuchliches Rahmenkonzept der Organisation
vorgestellt. Dieses besagt, dass Organisationen soziale Gebilde sind, die von
Menschen geschaffen und aufrechterhalten werden, um ein Ziel zu erreichen.
Innerhalb dieses Gebildes laufen Aktivitäten ab, welche zugunsten der Errei-
chung dieses Zieles strukturiert und koordiniert werden. (siehe Rollinson &
Broadfield, 2002, S. 3)
Die in diesem Kapitel vorgestellte Phänographie der Organisation Chácara
beruht vorwiegend auf Daten aus explorativen und deshalb offenen (d. h. nicht
strukturierten) Interviews oder aber aus Dokumenten der Chácara, welche unab-

178
Strassenkinderprojekte in Brasilien arbeiten in einem schwierigen Umfeld, in dem es zu psy-
chisch belastenden Ereignissen kommen kann. Aus den im Text genannten Gründen soll Projek-
ten an dieser Stelle empfohlen werden, der psychischen Gesundheit der Mitarbeitenden bei der
Selektion und Ausbildung sowie in der Gestaltung des Arbeitsalltags und der Zurverfügungstel-
lung von Dienstleistungen wie zum Beispiel Supervision die nötige Beachtung zu schenken.

233
hängig von der Forschung entstanden sind. Dabei zeigt sich, dass in der Organi-
sation Chácara von den Mitgliedern geteilte gedankliche Konzepte von Organi-
sation vorhanden sind. Diese betreffen die Ziele, die physische und soziale
Struktur, sowie einen Transformationsprozess, der nicht nur aus Aktivitäten
besteht, sondern über bestimmte Eigenschaften verfügt, welche dazu beitragen,
dass er von der Ausgangs- zur Ziellage zu führen vermag. Sie entsprechen so
dem genannten Rahmenmodell der Organisation bei Rollinson & Broadfield
(2002, S. 3) und damit auch den in Kapitel 2.4 dargestellten, in der Entwick-
lungszusammenarbeit bzw. in Bezug auf Nichtregierungsorganisationen verwen-
deten Rahmenmodellen der Organisation (DEZA, 1996, 1997, 2000a, 2000b;
Fowler, Goold & James, 1995; Sülzer & Zimmermann, 1996).
Die Konzepte der Chácara können aus folgenden Gründen von den Mitglie-
dern als geteilt (und deshalb für den organisationalen Charakter als charakteris-
tisch) bezeichnet werden:

ƒ Sie beinhalten, wie gezeigt wurde, Impulse aller Gruppen von Mitgliedern
und näheren Beteiligten – insbesondere auch der Zielgruppe der betreuten
Jungen.
ƒ Viele ihrer Teile wurden gemeinsam gestaltet und vereinbart.
ƒ Sie bestimmen tatsächlich die alltägliche Handlungspraxis der Organisation,
wo sie für alle Mitglieder erlebbar sind und von ihnen in einzelnen Teilen
auch benannt und diskutiert werden.
ƒ Teile der Organisation wurden explizit in Dokumenten und Interviews ge-
nannt, und es wurden Aspekte ausführlich beschrieben, welche sich Teilen
der Organisation zuordnen liessen.

Bis zu Beginn der Workshops zur strategischen Planung, welche nach Abschluss
der Feldforschung vom Koordinator gewünscht wurden, wurde in der Chácara –
soweit der Autorin bekannt – nie über Organisationsmodelle gesprochen. In den
Befragungen und entsprechenden Analysen im Rahmen der vorliegenden Arbeit
wurde augenscheinlich, dass das in der Chácara vorhandene organisationale
Wissen teilweise implizitem Handlungswissen entspricht. Gleichzeitig zeigt die
Analyse der Daten, dass die Chácara über eine detaillierte und reichhaltige orga-
nisationale Konzeption und entsprechende Praxis verfügt. 179
179
Wie organisationales und anderes Vorwissen des Koordinators und anderer Personen in die
Basisbewegung in der Vila Lindóia, die Strassenarbeit und die Chácara eingebracht wurde,
konnte im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht untersucht werden. Ein wichtiger Schlüssel da-
zu dürfte in der Literatur des Volkserziehers Paulo Freire (1966/1973) liegen, der sich mit der
„Bewusstmachung“ oder „Bewusstseinsweckung“ der benachteiligten, kaum an der Gesellschaft
partizipierenden Gruppen befasste. Clodomir Santos de Morais baute auf Freires Überlegungen
basierend Organisationswerkstätten für solche Gruppen auf, bei denen Organisationen ebenfalls

234
Aufgrund der präsentierten Ergebnisse der Analyse und der hier aufgeführten
Überlegungen kann angenommen werden, dass die Chácara von ihren Mit-
gliedern tatsächlich als Organisation verstanden wird (auch wenn es sich dabei
teilweise um implizites Handlungswissen handelt): als ein Gebilde in einem
bestimmten Umfeld und mit einem bestimmten Daseinsgrund und Ziel, welches
über Komponenten verfügt, welche es aktiv zu gestalten gilt, damit die Ziele
erreicht werden können.
Bei ihren regelmässigen Kontakten mit Personen aus verschiedenen Institu-
tionen für Kinder und Jugendliche im Staat Paraná hat die Autorin wiederholt
den – empirisch nicht weiterverfolgten – Eindruck gewonnen, dass Organisatio-
nen gar nicht als solche wahrgenommen werden und häufig weder implizit noch
explizit Konzepte der Organisation vorhanden sind. Ein Hinweis in diese Rich-
tung ist das grosse Interesse, das von diesen Kreisen der vorliegenden For-
schungsarbeit entgegen gebracht wird und die oft beobachtbare „Aha-Reaktion“,
welche durch die Aussage ausgelöst wird, dass Institutionen für Strassenkinder
Organisationen seien, die aktiv gestaltet werden müssten. Es ist schwer vorstell-
bar, dass eine Organisation effektiv geführt und gestaltet werden kann, wenn sie
von ihren Verantwortlichen und/oder Mitglieder nicht als Organisation verstan-
den wird.
Was bisher auch in der Chácara fehlte, war eine explizite, strukturierte Ge-
samtkonzeption der hauptsächlichen Teile der Organisation Chácara. Eine solche
ist nun im Rahmen der vorliegenden Studie entstanden. Geteilte, implizite Kon-
zepte von Aspekten der Organisation sind durch die Art der Datenanalyse expli-
zit gemacht worden. Zusammen mit in der Chácara bereits expliziten Konzepten
oder Konzeptteilen sind sie entlang eines Rahmenmodelles der Organisation
strukturiert worden, das heisst benannt sowie konzeptionell zusammengefügt und
zueinander in Bezug gesetzt worden.

4.6.1 Strukturen, Prozesse und ihre Begründungen

Mit der Phänographie liegen nun auch mit Inhalten gefüllte Beschreibungen der
Teile der Organisation Chácara vor, die in diesem Kapitel aufgrund der Daten-
analyse ausführlich dargestellt wurden. Dabei zeigt sich, dass der Begründung
der beschriebenen Strukturen und Prozesse der Chácara eine Konzeption der
Gesellschaft sowie der Positionen und Rollen ihrer Mitglieder zugrunde liegt.

aus der Praxis heraus und auf natürlichen Zusammenhängen beruhend entwickelt werden. Leider
ist diese – in einigen Ländern Lateinamerikas und Afrikas, unterdessen aber auch in Grossbri-
tannien – erfolgreich eingesetzte Praxismethode noch kaum beschrieben worden. Teilweise Be-
schreibungen finden sich in Carmen & Sobrado (2000).

235
Diese beruht ihrerseits auf einer Kenntnis von Verfassung und Gesetzen des Lan-
des sowie auf einer mehrjährigen, sorgfältigen Analyse der Situation der Kinder
und Jugendlichen der Strasse und der weiteren Gesellschaft. Schliesslich wird
eine Gesellschaft angestrebt, an der alle Mitglieder partizipieren und im bürger-
rechtlich-demokratischen Sinne ihre Rechte und Pflichten wahrnehmen.
Diese Zusammenhänge spiegeln sich direkt in der Tatsache, dass die soziale
Struktur der Chácara im Sinne einer „Gesellschaft en miniature“ beschrieben
wird. Die betreuten Jungen werden als Personen wahrgenommen, die bisher von
ihrer Staatsbürgerlichkeit und von ihrer Integration in der Gesellschaft weitge-
hend ausgeschlossen worden sind. Deshalb erhalten sie in der Chácara eine zen-
trale, an allen Aktivitäten beteiligte Protagonistenrolle. Diese Rolle verschafft
nicht nur den Bedürfnissen der Jungen die nötige Aufmerksamkeit. Sie sorgt
auch dafür, dass die auf der Strasse und in der Familie erworbenen und trainier-
ten Fähigkeiten, wie sie in Kapitel 4.1.3.7 aufgrund der Datenanalyse angespro-
chen wurden, Eingang in die Organisation finden und zugunsten der Entwick-
lung der Jungen genützt werden können. Diese Tatsache entspricht den Erkennt-
nissen und Empfehlungen von Lucchini (1998) und unterscheidet die Chácara
von Institutionen wie den von Rossato (2003a) beschriebenen, in denen das Kind
als deviant und folglich entweder als zu bestrafender Krimineller oder als zu
rettende Seele betrachtet wird. In diesen Institutionen – gemäss Rossato in Brasi-
lien die Mehrheit – wird das Kind in Widerspruch zur Verfassung und zum Kin-
derrechtsstatut als Objekt und nicht als staatsbürgerliches Subjekt mit Rechten
und Pflichten verstanden, und werden bestehende soziale Ungleichheiten repli-
ziert statt gelindert.
Ein zweites Element wird ebenfalls als charakteristisch für die soziale
Struktur der Chácara genannt und aufgrund seiner Wichtigkeit betont: die liebe-
vollen Beziehungen der Erziehenden zu den Jungen sowie ein echtes persönli-
ches Engagement, welches über die ebenfalls genannten pädagogischen Kompe-
tenzen hinausgeht. Auch in diesem Sinne sind die Jungen nicht zu verwaltende
Objekte, sondern sie erscheinen als junge Menschen in Entwicklung, welche
entlang liebevoller, erzieherischer Beziehungen und nach dem Vorbild der sie
betreuenden Erwachsenen wachsen. Damit wird nicht zuletzt die Anhänglichkeit
der Jungen an die Organisation, in der sie sich freiwillig aufhalten, gefördert,
zeigen doch die in Kapitel 4.1.3.4 beschriebenen Resultate unter anderem, dass
die Jungen positive zwischenmenschliche Beziehungen und Bindungen zu ande-
ren – besonders auch zu erwachsenen – Personen als Basis und Kraftquelle für
ihre Abwendung von der Strasse und den Aufbau eines anderen Lebens nennen.
Der aus der Analyse der Jungen hervor gegangene Befund zur Bedeutung von
Beziehungen und Bindungen entspricht der Feststellung Lucchinis (2003, S. 22),
dass ein Kind dann die Strasse zu verlassen beginnt, wenn das von ihm ge-

236
wünschte Selbst- oder Idealbild nicht mehr mit der Lebensweise auf der Strasse
vereinbar ist. Wie in Kapitel 2.2.2 aufgeführt, kommentiert er dazu:

Dieses Bild wird häufig aufgrund einer positiven Referenz konstruiert. Diese Refe-
renz ist eine Person, deren Respekt das Kind erlangen möchte, welche nicht auf der
Strasse lebt, und welche die Tatsache, dass das Kind auf der Strasse lebt, nicht be-
grüsst.

Dem gesellschaftlichen Konzept entsprechend sind die Ziele der Chácara darauf
ausgerichtet, die Jungen mit den Fähigkeiten und Grundlagen auszustatten, die
sie brauchen, um eine staatsbürgerliche Rolle ein- und ihre Rechte und Pflichten
wahrzunehmen. Dabei sind die Ziele nicht ideologisch oder sonstwie determinis-
tisch geprägt. Innerhalb des staatsbürgerlichen Rahmens sollen die Jungen eine
eigene Lebensperspektive entwickeln und sich für deren Erreichung einsetzen
können. Ebenfalls in Einklang mit der Wahrnehmung der existierenden gesell-
schaftlichen Bedingungen sind die Ziele im Weiteren auf einen gegenseitigen
und gemeinsamen sozialen Integrationsprozess von Jungen und weiteren Teilen
der Gesellschaft sowie eine gesellschaftliche Öffnung für die Jungen ausgerich-
tet.
Es wurde gezeigt, dass in der Chácara vielfältige und umfassende Aktivitä-
ten angeboten werden, welche von ihrem Inhalt her zur Förderung der Fähigkei-
ten, Kenntnisse und Lebensgrundlagen der Jungen beitragen. Es wurde jedoch
ebenfalls nachgewiesen, dass dem „Wie“ dieser Aktivitäten auf dem Weg zur
Zielerreichung noch grössere Bedeutung zugemessen wird als dem „Was“. So
wird Wert darauf gelegt, dass alle Aktivitäten unter den Ausführungsmodalitäten
der Partizipation, der gegenseitigen sozialen Integration und – im Sinne der
„Bewusstmachung“ von Freire (1973) – der evaluativen Gestaltung der Hand-
lung durchgeführt werden. Dies entspricht wiederum der Konzeption der Chá-
cara als einer „Gesellschaft en miniature“ und bedeutet unter anderem, dass die
gegenseitige Integration von Jungen und Gesellschaft sich im Verhältnis zwi-
schen den Jungen und der Organisation spiegelt: Die Organisation fördert die
Jungen und ist gleichzeitig so angelegt, dass sie von ihnen mitgestaltet wird.
Es fällt im Weiteren auf, dass die organisationalen Strukturen und Prozesse
der Chácara von ihren Mitgliedern und daran Beteiligten in offenen Interviews
überhaupt begründet werden. Während ihrer Tätigkeit in Firmen hat die Autorin
die Erfahrung gemacht, dass Strukturen und hauptsächliche Prozesse als „gege-
ben“ verstanden und von den Organisationsmitgliedern normalerweise im Ar-
beitsalltag nicht begründet werden. Dies dürfte einer der Unterschiede zwischen
einer aus einer Bürgerbewegung herausgewachsenen Basisorganisation und einer
Firma sein, sind doch in ersterer die Mitglieder stärker mitverantwortlich für die

237
Gestaltung von Organisationsstruktur und -prozess der gesamten Organisation,
als die Angestellten einer Firma es sein können.

4.6.2 Aspekte des Gestaltungsprozesses

Die dargestellten Forschungsresultate zeigen, dass der Gründung der Organisati-


on Chácara eine mehrjährige Phase voran ging, welche unter anderem der Analy-
se der Ausgangslage und, darauf aufbauend, der Definition der Organisationszie-
le diente. Die Ziele sind dabei, wie gezeigt, Teil eines umfassenden und differen-
zierten Zielkonzeptes, welches nicht nur die betreuten Jungen selbst, sondern die
Gesellschaft im weiteren Sinne betrifft. Die lange Analysephase und die Diffe-
renziertheit des Zielkonzeptes können als Hinweis darauf verstanden werden,
dass den beiden Eckpfeilern – der Ausgangslage und der Ziellage – zwischen de-
nen die Chácara aufgespannt ist, grosses Gewicht beigemessen wurde. Dies kann
als Manifestation einer soliden Verankerung der Organisation verstanden wer-
den, im Sinne der „Identität“ und der „Wurzeln“, welche Mitglieder und Betei-
ligte der Chácara immer wieder erwähnten.
Die Festlegung der Eckpfeiler der Chácara hat drei charakteristische Merk-
male. Erstens fand sie nicht in reiner Gedankenarbeit etwa in einem Fachbüro
fern von der Zielgruppe und ihrem Aufenthaltsort statt. Vielmehr wurde sie im
Rahmen einer gedanklich reflektierten Praxis vorgenommen, in der Ideen immer
wieder umgesetzt, getestet, evaluiert und angepasst wurden, und dies auf der
Strasse sowie bei und mit den Kindern und Jugendlichen.
Zweitens basiert sie nicht nur auf festgestellten Defiziten der Kinder und
Jugendlichen und ihrer Situation, sondern baut ausdrücklich auf den Fähigkei-
ten, Ressourcen, Möglichkeiten, Motivationen, Wünschen und Potentialen der
Kinder und Jugendlichen auf. Dieses Vorgehen steht in Einklang mit den Emp-
fehlungen Lucchinis (1993, 2003), auf die Spezifizitäten der Person und Situati-
on einzugehen und deren Ressourcen zur Verbesserung ihrer Verhältnisse zu
nutzen. Zudem wurde sie auch auf der Basis einer Analyse der weiteren Gesell-
schaft realisiert, und auch hier wiederum nicht nur in Hinblick auf Defizite und
Bedürfnisse, sondern auch auf Möglichkeiten, Ressourcen und Potentiale. Orga-
nisatorisch gesehen reflektieren die Pfeiler der Organisation damit nicht die Ein-
stellung eines „Tabula-Rasa-Ansatzes“, bei dem in der impliziten Annahme, es
herrschten nur Defizite am Handlungsort, der Versuch unternommen wird, die-
sem externe Lösungen aufzuoktroyieren. Ganz im Gegenteil wird ein ressour-
cenorientierter Ansatz angewandt, der suggeriert, dass mögliche Lösungen als
der zu verändernden Ausgangslage inhärent verstanden werden und auf dieser
aufbauen.

238
Das dritte charakteristische Merkmal der Eckpfeiler der Chácara ist, dass sie
nicht nur auf sachlichen Überlegungen und Definitionen fussen, sondern von
einer hinsichtlich ihrer Kompetenz sowie Handlungsfähigkeit und -willigkeit
bewusst geförderten Gruppe von Menschen getragen werden.
Vor der Gründung der Chácara wurden also die Ausgangslage analysiert,
eine umfassende Vision der Gesellschaft und des Platzes der Jungen in ihr ent-
wickelt, darauf aufbauend die Ziele definiert sowie eine Gruppe gebildet und
gestärkt, welche diesen Prozess durchführte und verantwortete und die Organisa-
tion Chácara nach deren Gründung ebenfalls gestalten und verantworten würde.
Dabei kommen die in Kapitel 2.3 beschriebenen Erkenntnisse und Empfehlun-
gen von Freires (1973) „Erziehung als Praxis der Freiheit“ zum Tragen. Die
Kinder und Jungen der Strasse sollen durch einen Prozess der Bewusstwerdung:

... in den geschichtlichen Prozess als verantwortliche Subjekte ein[...]treten, das


Streben nach Selbstbehauptung auf[...]nehmen ... (S. 25)

und, wie Lancellotti (1999) schreibt,

... zusammen mit ihren Erzieherinnen und Erziehern einen Raum der Freiheit und
Mitverantwortung [konstruieren], der die Unmöglichkeit einer Situation und einer
Zeit in Frage stellt. (in Graciani, 1999, Klappentext)

Wie die Analyse der Chácara gezeigt hat, geht diese jedoch über eine Bewusst-
machung hinaus. Von Erziehenden und Jungen der Strasse wurde eine Gruppe
formiert, welche sich durch eine gemeinsame Praxis und deren ständige Evalua-
tion in ihrer Kompetenz stärkt und zur Handlung in Form der Schaffung einer
alternativen Struktur – der Organisation Chácara – befähigt. Erst nachdem diese
Gruppe bestand, welche die Organisation tragen würde, und nachdem deren Eck-
pfeiler definiert worden waren, kam es zur Gründung und Strukturierung der
Organisation Chácara.
Dieses Vorgehen entspricht den Prinzipien einer „gesunden Nichtregie-
rungsorganisation“, welche Fowler, Goold und James (1995) in ihrem Rahmen-
konzept beschreiben. Ihr diesbezüglicher, in Kapitel 2.4 zitierter Kommentar soll
hier der Übersicht halber noch einmal aufgeführt werden:

According to this model, first principles for a healthy NGO would be to be clear
about its identity and attitude to the world, which in turn shapes its vision of our so-
ciety and its purpose in it, which in turn shapes its strategies to be adopted and the
tasks to be carried out, which in turn defines the structures and systems that need to
be in place and the staff to be employed, the skills and abilities they need, and the
whole is then supported by adequate resourcing. Put slightly differently, form fol-

239
lows function. Inevitably, these phases do overlap and are repeated at different stag-
es of an organisation’s development. (S. 6)

Das Vorgehen der Chácara, zuerst das „Woher“ und das „Wohin“ zu definieren,
bevor die Strukturen und Aktivitäten (und damit der Transformationsprozess) der
Organisation gestaltet wurden, kann auch mit den Planungsebenen des von der
Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) verwende-
ten, in Kapitel 2.5 dargestellten Planungs- und Evaluationsmodells und den
Planungsstufen des in Kapitel 2.4 erwähnten „Logical-Framework-Approach“
vereinbart werden. Diese beiden Modelle umfassen dieselbe Logik der Organisa-
tionsgestaltung. Sie enthalten jedoch nicht die von Fowler, Goold und James
(1995) erwähnten Rahmenaspekte der Identität, der Einstellung gegenüber der
Umwelt, der Vision der Gesellschaft und der Aufgabe und Rolle der Organisati-
on in dieser, welche in der Analyse der Daten der Chácara so deutlich hervorge-
treten sind.
In der Einführung in Themenbereiche und Theorie in Kapitel 2 wurde auch
die Erkenntnis von Katz und Kahn (1978) aufgeführt, dass Organisationen auf-
grund ihres Systemcharakters und ihrer Offenheit für Einflüsse von aussen stän-
dig in Bewegung sind. Die Analyse der Chácara hat ergeben, dass die Organisa-
tion nicht etwa ein einziges Mal bei ihrer Gründung „erfunden“ wurde, sondern
dass ihrem kontingenten und dynamischen Charakter fortwährend Rechnung
getragen wird. Zu dieser Schlussfolgerung führt die Überlegung, dass die er-
wähnten organisationalen Aspekte der Evaluation und Partizipation sowie der
Fokus auf die Zielgruppe der Jungen und den Einbezug aller Teile der Gesell-
schaft unter anderem dazu beitragen, dass die äusseren und inneren Faktoren der
Kontingenz und Dynamik der Organisation nicht nur erfasst, sondern auch ge-
nützt werden können. Motivation und Arbeitsgrundsätze der Organisation kön-
nen im Verlauf der Zeit immer wieder neu hinterfragt, die Ausgangslage der
Zielgruppe und Gesellschaft immer wieder neu analysiert und Ziele sowie die zu
ihnen führenden Aktivitäten neu definiert werden.
Aufgrund der hier dargestellten Aspekte entsteht der Eindruck, dass die Or-
ganisation Chácara sowohl über eine starke „Verwurzelung“ und Identität ver-
fügt als auch gleichzeitig einen grundsätzlich adaptiven Charakters aufweist.
Auf den adaptiven Charakter und weitere Aspekte des Entwicklungsprozes-
ses der Organisation Chácara soll im folgenden Kapitel zu Organisation, Qualität
und Nachhaltigkeit vertieft eingegangen werden.

240
5 Organisation, Qualität und Nachhaltigkeit:
Erkenntnisse und Empfehlungen

Sollte unser Strassenkinderprojekt Ihrer Meinung nach auch eine Hühnerzucht ha-
ben, damit es ein gutes Projekt ist? (Frage des designierten Leiters eines Projektes in
der Region Curitiba an die Autorin anlässlich seines Besuches in der Chácara, April
2004)180

Was konstituiert ein „gutes“ residentielles Projekt für Kinder und Jugendliche
der Strasse? Und welche organisationalen Strukturen und Prozesse tragen zu die-
ser „Güte“ bei?
Absicht der vorliegenden Arbeit ist es, einen Beitrag zur Organisation, Qua-
lität und Nachhaltigkeit von residentiellen Projekten für Kinder und Jugendliche
der Strasse in Brasilien zu leisten. Als Grundlage hierfür wurde in den vorange-
henden Kapiteln aufgrund der Resultate einer empirischen Forschung die
Phänographie eines solchen Projektes – der Chácara der Jungen von Quatro Pin-
heiros – erstellt. Um diese für die Praxis sowohl der Chácara als auch anderer
Organisationen verstärkt nutzbar zu machen, soll sie nun in einem zweiten
Schritt in Bezug zu Fragen der Qualität und Nachhaltigkeit gesetzt werden. Dies
kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit im Sinne einer ersten, grundsätzlichen
Diskussion getan werden. Eine wichtige Aufgabe der künftigen Forschung wäre
es, die in dieser Arbeit präsentierten Erkenntnisse über die Qualität am Beispiel
der Chácara, aber auch anderer residentieller Institutionen weiter zu vertiefen bis
hin zur Entwicklung und zum Einsatz von spezifisch auf diese Art der Organisa-
tion angepassten Systemen und Instrumenten qualitätsorientierter Organisations-
gestaltung und -entwicklung.
In der vorliegenden Arbeit wurden im Zusammenhang mit Qualität und
Nachhaltigkeit die folgenden beiden Fragen formuliert:

ƒ Wie können Qualität und Nachhaltigkeit für eine solche Organisation defi-
niert werden?
ƒ Wie können die Strukturen und Prozesse der Organisation gestaltet werden,
um zur Erreichung dieser Qualität und Nachhaltigkeit beizutragen?

180
Mündliche Mitteilung, Handnotiz.

241
Diese beiden Fragen sollen hier anhand der im vorhergegangenen Kapitel prä-
sentierten empirischen Organisationsanalyse der Chácara sowie des in Kapitel 2
aufgeführten theoretischen Wissens diskutiert werden.
In der Folge werden drei Konzepte der Qualität und Nachhaltigkeit für
residentielle Projekte für Kinder und Jugendliche der Strasse vorgeschlagen:
In Kapitel 5.1 wird das in der Entwicklungszusammenarbeit gebräuchliche,
sich auf Referenzwerte und damit letztlich auf die Ziele der Organisation bezie-
hende Konzept von Qualität übernommen. Diskutiert werden die Dimensionen
Relevanz, Effektivität und Nachhaltigkeit. Dabei wird, soweit möglich, auch eine
entsprechende Bewertung der Chácara vorgenommen.
In Kapitel 5.2. wird ein zusätzliches Konzept von Qualität neu entwickelt.
Dieses geht aus den Aussagen der Beteiligten und speziell der Jungen der Cháca-
ra hervor. Es bezieht sich zwar ebenfalls auf Referenzwerte, jedoch nicht auf die
Ziele der Organisation, sondern auf Eigenschaften des Alltags in der Organisation.
Die Tatsache, dass die beiden angeführten Konzepte sich auf Referenzwerte
beziehen, heisst, dass es darin um eine Bewertung der Organisation hinsichtlich
von Zielgrössen geht. Diese kann immer nur im Sinne einer Momentaufnahme
oder gegebenenfalls einer Serie von Momentaufnahmen erfolgen. In Kapitel 2.4
wurde im Rahmen der Darstellung theoretischen Wissens auf den systemischen,
kontingenten und dynamischen Charakter von Organisationen hingewiesen.
Rollinson und Broadfield (2002) fassten dies in ihrer bereits zitierten Aussage
zusammen:

... the most appropriate structure for an organisation is the one that best suits its par-
ticular circumstances. (S. 512)

Auf das eingangs dieses Kapitels angeführte Beispiel angewandt, bedeutet dies,
dass eine Hühnerzucht in einem Projekt „appropriate“, also angemessen und sinn-
voll sein kann, während sie in einem anderen Projekt keinerlei Nutzen bringt. Es
bedeutet ebenfalls, dass eine Hühnerzucht im selben Projekt heute sinnvoll sein
kann, morgen jedoch aufgrund veränderter externer und interner Bedingungen
keinen positiven Beitrag zur Erreichung der Ziele – gemäss Sülzer und Zimmer-
mann (1996) „Raison d’Être“ jeder Organisation – mehr zu leisten vermag.
Qualitätskonzepte, welche sich auf Referenzgrössen beziehen, haben durch-
aus ihren Nutzen und werden deshalb auch für die Überlegungen im Rahmen der
vorliegenden Arbeit eingesetzt. Eine ausschliessliche Ausrichtung auf Referenz-
grössen, welche in Momentaufnahmen bewertet werden, scheint jedoch der Kon-
tingenz und Dynamik des Gegenstandes Organisation nicht vollumfänglich ge-
recht zu werden. Bei einer Organisation wie der Chácara, deren Ziele sich auf
Persönlichkeitsentwicklung und Befähigung beziehen, scheinen Momentauf-

242
nahmen zusätzlich unbefriedigend, weil diese nicht linear ablaufen und sie sich
zudem in nur schwer bewertbaren Zügen zeigen.
Das dritte, hier in Kapitel 5.3 dargestellte Konzept, welches in der vorlie-
genden Arbeit ebenfalls neu entwickelt wurde, wird der Kontingenz und Dyna-
mik des Gegenstandes Organisation eher gerecht. Es hat prozessualen Charakter
und bezieht sich nicht auf Referenzwerte, sondern auf Charakteristika organisa-
tionaler Strukturen und Prozesse, welche als qualitäts- und nachhaltigkeitsorien-
tiert verstanden werden. Es stellt die Fähigkeit der Organisation dar, sich an
innere und äussere Veränderungen anzupassen. Es bildet damit eine wichtige
Ergänzung zu den ersten beiden vorgestellten Konzepten und ist, wie in Kapi-
tel 6 gezeigt wird, von besonderem Interesse für die Praxis, da es sich darauf
bezieht, wie eine Organisation in ihren Strukturen und Prozessen gestaltet wer-
den muss, damit sie die ersten beiden Arten von Qualität überhaupt erreichen
kann.

5.1 Relevanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit

Wie in Kapitel 2.5 dargelegt, wird in der Entwicklungszusammenarbeit vorwie-


gend ein Qualitätskonzept verwendet, welches sich auf Referenzwerte und letzt-
lich auf die Ziele der Organisation bezieht. Die Schweizer Direktion für Ent-
wicklung und Zusammenarbeit gibt folgende Definitionen an (DEZA, 2002):

ƒ Relevanz: Die Übereinstimmung der Ziele eines Vorhabens mit den Be-
dürfnissen der Nutzniesser, des Landes und globalen Prioritäten.
ƒ Effektivität/Wirksamkeit: Das Ausmass, in dem die Ziele eines Vorhabens
erreicht werden.
ƒ Effizienz: Die Wirtschaftlichkeit, mit der die finanziellen, menschlichen und
materiellen Ressourcen in Leistungen und Produkte umgewandelt werden.

Eine weitere aus der Entwicklungszusammenarbeit übernommene Definition ist


diejenige der Nachhaltigkeit:

ƒ Nachhaltigkeit: Eine dauerhafte Fortsetzung der erzielten Nutzen und Wir-


kungen eines Vorhabens auch nach dessen Beendigung (im Sinne von Be-
griffen wie Lebensfähigkeit, Weiterentwicklungsfähigkeit, Dauerhaftigkeit
etc.).

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird Nachhaltigkeit als Dimension von


Qualität verstanden, das heisst Qualität wird als Oberbegriff behandelt, welcher

243
Nachhaltigkeit umfasst. Gleich zu Beginn soll hier angemerkt werden, dass es
sich bei diesen Aspekten um Teile eines einzigen Qualitätskonzeptes handelt.
Dies bedeutet, dass eine Organisation idealerweise von hoher Relevanz, Effekti-
vität, Effizienz und Nachhaltigkeit ist. Kombinationen wie Relevanz ohne Nach-
haltigkeit, Effizienz ohne Effektivität oder Effektivität ohne Relevanz sprechen
für niedrige Qualität oder sogar Kontraproduktivität einer Organisation.
Hier soll nun vor allem auf die Aspekte Relevanz, Effektivität und Nachhal-
tigkeit eingegangen werden. Dabei sollen die oben aufgeführten Definitionen aus
der Entwicklungszusammenarbeit übernommen und anhand des Beispiels der
Chácara, wie sie in den in Kapitel 4 aufgeführten Forschungsresultaten erscheint,
erläutert werden. Anschliessend soll die Organisation Chácara – soweit aufgrund
der Datenlage möglich – bezüglich dieser Aspekte bewertet werden.
Da der Fokus der vorliegenden Arbeit nicht auf Fragen der Finanzierung
und administrativen Verwaltung gerichtet ist, wird das für die Qualität der Orga-
nisation ebenfalls wichtige Thema der Effizienz hier nicht weiter ausgeführt. Es
soll lediglich angemerkt werden, dass gemäss Auskunft des Koordinators ein
Junge in der Chácara pro Monat 630 Reais koste (Angabe vom 12. Februar 2007,
entspricht etwa 388 Franken). Damit seien die Kosten eines Jungen in der
Chácara wesentlich geringer als diejenigen Jugendlicher mit einem vergleichba-
ren Profil in den staatlichen Institutionen.
Ebenfalls nicht weiter eingegangen wird auf die Einhaltung von Gesetzen
als Qualitätsdimension. In Kapitel 1 wurden die Gesetzesverstösse erwähnt,
welche gemäss Studien der brasilianischen Regierung sowie Auskünften von
Betroffenen in vielen staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen für Kinder
und Jugendliche in Brasilien festgestellt werden. Die brasilianische Gesetz-
gebung, darunter das Kinderrechtsstatut ECA, sind Produkt demokratischer Pro-
zesse und entsprechen internationalen Standards. Entsprechend muss und kann
die Einhaltung von Gesetzen als eine absolute, von einer Organisation nicht
individuell ausgestaltbare qualitative Anforderung gesehen werden, welche ohne
Abweichung eingehalten werden muss.

5.1.1 Relevanz

Die Qualitätsdimension „Relevanz“ bewertet das Ausmass, in dem die Ziele


eines Vorhabens mit den Bedürfnissen der Nutzniesser, des Landes und globalen
Prioritäten übereinstimmen.

Die Relevanz stellt die Frage nach dem Sinn der Ziele der Organisation und
damit nach der eigentlichen Daseinsberechtigung der Organisation. Sie bedeutet

244
jedoch nicht, dass jede Organisation Ziele auf allen drei Ebenen – einzelner
Nutzniesser, Land und Welt – haben müsste, sondern vielmehr, dass die Ziele ei-
ner Organisation sinnvoll in diese Ebenen eingefügt sein müssen.
Es wurde im vorhergehenden Kapitel dargestellt, dass die Mitglieder der
Chácara diese tatsächlich von sich aus als Organisation wahrnehmen. Wie in
Kapitel 4.1 aufgezeigt, berichten Mitglieder und Beteiligte der Chácara davon,
wie die Ziele der Organisation aufgrund eines Prozesses der Analyse von Jungen
und Gesellschaft entstanden sind. Des Weiteren belegen die in Kapitel 4.3.3 auf-
geführten Resultate der Analyse der Ziele der Organisation und der Jungen, dass
die Organisationsziele zugunsten einer Erreichung persönlicher Ziele durch die
Jungen gestaltet sind sowie zugunsten einer Verbesserung der gesellschaftlichen
Bedingungen insgesamt.
Hieraus kann zunächst abgeleitet werden, dass die Mitglieder und näheren
Beteiligten der Chácara der Relevanz der Ziele ihrer Organisation Bedeutung
zumessen und dass sie deren aktive Gestaltung anstreben. Im Gegensatz dazu hat
die Autorin hat im Verlauf ihrer Arbeit im Umfeld von Strassenkinderprojekten
aber auch in einer internationalen Grossfirma sowie bei der Lektüre von Literatur
der Organisationslehre den subjektiven Eindruck gewonnen, dass die Frage der
Relevanz von Organisationszielen oft eher vernachlässigt wird.
Es ist der Autorin im Weiteren aufgefallen, dass in den Broschüren vieler
Hilfswerke und Projekte, welche sich an Strassenkinder richten, sowie in Zei-
tungsartikeln über solche Institutionen als Zeichen einer erfolgreichen Organisa-
tion häufig erwähnt wird, diese habe im letzten Jahr eine bestimmte (grosse)
Anzahl Kinder „von der Strasse geholt“. Solche Formulierungen suggerieren,
dass das Ziel dieser Institutionen primär im „Wegholen der Kinder von der
Strasse“ liegt. Eine sinnvolle Inbezugsetzung zu Zielen der Kinder und zur un-
mittelbaren und weiteren gesellschaftlichen Situation ist zumindest in dieser
Formulierung nicht erkennbar181. Im Gegenteil ruft diese Formulierung die von
Rossato (2003a) beschriebenen, in Kapitel 2.3 erläuterten „bestrafenden“ und
„rettenden“ Ansätze von Organisationen in Erinnerung, welche (eher kurzfristi-

181
Es empfiehlt sich, bei solchen Formulierungen seitens von europäischen Hilfswerken darauf zu
achten, welche Dienstleistungen den „von der Strasse weg geholten“ Kindern tatsächlich ange-
boten werden. Häufig handelt es sich dabei um Essensausgabe, Nachhilfestunden, Freizeitaktivi-
täten und ähnliches, also um eine zeitweise Beschäftigung der Kinder beziehungsweise um Ver-
sorgung mit Dingen, die sie auf der Strasse nicht erhalten. Solche Dienstleistungen können
durchaus ihre Berechtigung haben. Es fragt sich jedoch, ob die Bezeichnung „von der Strasse
wegholen“ ihnen angemessen ist, und dies umso mehr, als sie zumindest in Brasilien in den
meisten Fällen Kindern angeboten werden, welche nicht Kinder der Strasse, sondern in Favelas
unbetreut sind, während ihre Eltern arbeiten. Es geht bei ihnen also um Unterstützungsangebote
an Kinder, welche unter anderem als Prävention verstanden werden können, damit diese Kinder
nicht auf die Strasse gehen oder gar dorthin übersiedeln.

245
ge) Bedürfnisse von bestimmten Teilen der Gesellschaft aufnehmen, die Bedürf-
nisse der Kinder und Jugendlichen der Strasse sowie der Gesellschaft als Gesam-
tes jedoch kaum oder gar nicht berücksichtigen.182
Der Unterschied zwischen dieser Art von Einstellung und derjenigen der
Chácara kommt in einer Interviewaussage eines auf Kinderrechte spezialisierten
Generalstaatsanwaltes zur Sprache, welcher die Chácara seit Anbeginn beratend
begleitet:

Zu Beginn lag [die Chácara] noch in beinahe allem ganz in den Anfängen, aber ich
glaube, dass das, was es [bereits] gab, klar definiert war, nämlich (...) das Ziel der
Chácara, diese Idee (...) der Annäherung an die Jungen: dass man nicht die Praxis
der „sozialen Müllabfuhr“ reproduzieren wollte, mittels derer Kinder von der Strasse
weggerissen werden, sondern dass man die Kinder und Jugendlichen überzeugen
und zunächst eine Beziehung zu ihnen aufbauen würde, entdecken würde, wer sie
sind, woher sie kommen, was ihre Bedürfnisse sind, und ihnen vorschlagen würde,
zu kommen und sich an dem Projekt in Quatro Pinheiros zu beteiligen. Ich glaube,
dass dies ein wirklicher Unterschied ist [zu anderen Institutionen] [und] vor allem
zur behördlichen Praxis, bei der es darum geht, die Strassen zu „reinigen“, [die Kin-
der] um jeden Preis [von der Strasse] wegzubringen, besonders an Weihnachten und
Ostern und ähnlichen Daten, wenn die Kinder auf der Strasse nicht zu den offiziellen
Slogans der „schönen und gerechten Stadt“, der „Hauptstadt der Ökologie“, der
„Hauptstadt des Sozialen“ etc. passen. (Interview, 6. Mai 2004)

Der Zielfokus der Chácara ist also weit gefasst. Wie in Kapitel 4.3.2 gezeigt,
beziehen sich die Ziele zum Beispiel nicht in erster Linie auf den geographischen
Aufenthaltsort der Jungen mit seinen schwierigen Überlebensbedingungen und
dem Verhalten, das die Jungen dort entwickeln. Vielmehr richten sie sich auf
deren gesamte Lebenssituation, in der sie am Rande der Gesellschaft stehen,
kaum Zugang zu Ressourcen und Förderungsmöglichkeiten haben und – gerade
auch als Minderjährige – negativen und schädlichen Handlungen Erwachsener
ausgeliefert sind. Als „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ sollen sie Ein-
gang in den gesellschaftlichen Raum finden und ihr Leben aktiv und eigenver-
antwortlich gestalten können. In dieser weiten, auf die Gesellschaft ausgerichte-
ten Perspektive beziehen sich die Ziele der Chácara auf die drei Ebenen
menschlicher Existenz: die individuelle Ebene (die Entwicklung der einzelnen
Kinder und Jugendlichen), die interpersonale Ebene (das Zusammenleben und
-handeln in Gruppen) und die Ebene gesellschaftlicher (darunter auch familiärer)
und staatlicher Strukturen. Damit verbindet die Chácara die Bedürfnisse der
direkten Nutzniesser – der Jungen – mit denjenigen der weiteren Gesellschaft

182
In diesen Überlegungen und dem folgenden Zitat scheint im Übrigen die Tatsache auf, dass die
Relevanz der Ziele eine Bedingung für die in Kapitel 5.1.3 besprochene Nachhaltigkeit ist.

246
sowie mit globalen Prioritäten, indem sie eine gegenseitige Integration von Jun-
gen und Gesellschaft anstrebt, in welcher alle Beteiligten ihre Rechte und Pflich-
ten in einem staatsbürgerlich-demokratischen Sinne wahrnehmen.
In Kapitel 4.3 wurde dargestellt, dass es sich bei den Zielen der Chácara
nicht nur um ein Lippenbekenntnis handelt, sondern dass gegenseitige Integrati-
on von Jungen und Gesellschaft sowie staatsbürgerliches Handeln tatsächlich
grundlegende Elemente der sozialen Struktur und der Praxis der Chácara sind.
Beide Elemente entsprechen nicht einmaligen Vorkommnissen, sondern ständig
ablaufenden, adaptiven Prozessen. Durch die bewusste Einführung ihrer Dyna-
mik in die Chácara wird unter anderem eine ständige Überprüfung und damit
Sicherstellung der Relevanz dieser Ziele durch die Organisationsmitglieder be-
günstigt. Im Weiteren sind die Ziele auf eine allgemeine Verbesserung gesell-
schaftlicher Zustände ausgerichtet, und nicht auf eine Zementierung bestehender
Ungleichheiten.
Vor diesem Hintergrund müssen die Ziele der Chácara als sehr relevant be-
urteilt werden und als von höherer Relevanz als diejenigen von Organisationen,
die lediglich darauf ausgerichtet sind, Kinder und Jugendliche von der Strasse zu
entfernen. Sie müssen ebenfalls als relevanter angesehen werden als die Ziele der
von Rossato (2003a) beschriebenen Projekte „bestrafender“ und „seelenretten-
der“ Couleur, welche nicht die Entwicklung der Jungen als eigenständige,
gleichberechtigte Staatsbürger und eine positive, nachhaltige gesellschaftliche
Veränderung anstreben, sondern eine kurzfristige „Symptombekämpfung“ im
Interesse dominanter Teile der Gesellschaft.
Im Weiteren beruhen die Ziele, wie in Kapitel 4 gezeigt wurde, auf einer
ausführlichen Analyse nicht nur der Defizite und Grenzen, sondern auch der
Potentiale und Möglichkeiten der Ausgangssituation und der Jungen sowie wei-
terer involvierter Personen. Sie entsprechen so einem realen Bedürfnis und rea-
len Möglichkeiten, und sind nicht etwa ideologisch-dogmatisch vorgegeben. Sie
sind darauf ausgerichtet, Defizite zu beheben und Potentiale zu nutzen. Grenzen
und Möglichkeiten der Situation sind in die Definition der Ziele miteinbezogen
worden, so dass diese grundsätzlich erreichbar sind.
Anliegen, Erfahrungen und Erkenntnisse verschiedenster Teile der Bevölke-
rung, von den Kindern und Jugendlichen der Strasse selbst über Praktizierende in
anderen Organisationen bis hin zu universitären Fachleuten und Behördenvertre-
tern flossen in die Definition der Ziele ein. Es muss angenommen werden, dass
dieses Vorgehen zu einer Aggregation von Wissen und einer erhöhten Relevanz
der Ziele im geschilderten Sinne führte. Darüber hinaus stärkte es vermutlich die
Identifikation der Beteiligten mit den Zielen sowie die Bereitschaft, für Konzep-
tion und Umsetzung Verantwortung zu übernehmen. In der Annahme, dass Re-
levanz der Ziele nicht genügt, wenn sich niemand für diese engagiert, wurde

247
damit wohl eine wichtige Basis geschaffen, dass diese in der Realität zum Tra-
gen kommen konnten.
Zusammenfassend können die Ziele der Chácara als relevant bezeichnet
werden, weil sie:

ƒ Echten Bedürfnissen und Möglichkeiten der Zielgruppe sowie der weiteren


Gesellschaft entgegenkommen.
ƒ Nicht einen deterministischen Charakter aufweisen, sondern auf eine Förde-
rung der eigenständigen persönlichen Entwicklung durch die Jungen der
Zielgruppe und der gemeinsamen gesellschaftlichen Entwicklung durch die
Zielgruppe und die weitere Gesellschaft ausgerichtet sind.

Bezüglich der Beurteilung der Relevanz von Zielen in Projekten im Allgemeinen


soll hier noch eine ergänzende Anmerkung angebracht werden: Bei der Lektüre
von Unterlagen anderer, staatlicher und nicht-staatlicher Institutionen für Kinder
und Jugendliche der Strasse in Brasilien ist der Autorin wiederholt aufgefallen,
dass die dort formell festgehaltenen Ziele der Organisation häufig durchaus rele-
vant scheinen. Die in Kapitel 1 zitierten staatlichen Untersuchungen und Berich-
te von Kindern und Jugendlichen haben jedoch gezeigt, dass in vielen solchen
Institutionen Vernachlässigung, ungenügende Förderung oder gar Misshandlun-
gen vorkommen. Dies führt zur Vermutung, dass die Ziele wohl auf dem Papier
vorhanden sind, dass die Mitarbeitenden sie jedoch nicht kennen, in ihrer kon-
kreten Bedeutung nicht verstehen, nicht verinnerlicht haben oder nicht für wich-
tig halten183. In solchen Fällen müsste davon ausgegangen werden, dass die Mit-
arbeitenden der Organisation bewusst oder unbewusst auf individuelle und/oder
andere als die offiziellen Organisationsziele hinarbeiten. Aufgrund dieser Über-
legungen wird dringend empfohlen, dass bei einer Analyse der Relevanz von
Zielen nicht nur in Dokumenten der Organisation schriftlich formulierte Ziele
betrachtet werden, sondern dass auch überprüft wird, inwieweit diese in der
Wahrnehmung und Arbeit der Organisationsmitglieder wirklich verankert sind.

5.1.2 Effektivität

Die Qualitätsdimension „Effektivität“ beurteilt das Ausmass, in dem die Ziele


eines Vorhabens erreicht werden.

183
Siehe z. B. Silva (2004): Leitende der Institutionen kennen Vorschriften des Kinderrechtsstatuts,
führen diese jedoch nicht bei sich ein.

248
Aus der Organisationsanalyse der Chácara ist, wie in Kapitel 4.3.2 dargestellt,
hervorgegangen, dass diese die nachstehenden Ziele verfolgt:

ƒ Übergeordnetes Oberziel: eine solidarische, gleichberechtigte Gesellschaft


im bürgerrechtlich-demokratischen Sinn.
ƒ Oberziel: die Jungen als „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“, Verfasser
eines Lebensentwurfs und Personen, die aus eigener Initiative sowie seitens
der Gesellschaft in der Lage sind, sich für dessen Realisierung einzusetzen.
ƒ Organisationsziele bezüglich der Jungen:
í Ihre Fähigkeiten zu fördern: Lern-/Reflexionsfähigkeit, Fähigkeiten des
Zusammenlebens, Fähigkeiten als Bürger, Veränderungsfähigkeit.
í Ihre persönlichen Grundlagen zu stärken: Schulisches, berufliches und
gesellschaftliches Wissen, Gesundheit, Werte, kulturelle Verankerung,
Arbeit/Einkommen, familiäre Verankerung.
í Ihre gesellschaftlichen Bedingungen zu verbessern: Aufnahmebereit-
schaft und -fähigkeit der Gesellschaft.

Aus dieser Aufstellung geht hervor, dass die Chácara über eine Hierarchie von
Zielen verfügt, zu deren Erreichung sie in grösserem oder geringerem Masse
einen Beitrag leisten kann. In den Statuten ist das Oberziel erwähnt, die Jungen
in ihrer Entwicklung zu „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ zu unterstüt-
zen. Das Konzept war zum Zeitpunkt der Feldforschung in der Chácara noch
nicht explizit beschrieben worden, ist jedoch, wie in Kapitel 4.3.1 gezeigt wer-
den konnte, aus Dokumenten wie dem Jahresbericht 2004 in recht grossem De-
tail ableitbar. Im Februar 2006 wurde in der Chácara gemäss Auskunft des Ko-
ordinators damit begonnen, ein detailliertes Zielkonzept niederzuschreiben. Die
Aussage eines Erziehers, der sich bereits als Kind in der Vila Lindóia an den
Arbeiten des Projektkoordinators beteiligt hatte und die Chácara seit ihrer Grün-
dung begleitet, lässt vermuten, dass dieses Konzept die unter anderem im Jahres-
bericht 2004 implizit enthaltenen Organisationsziele festhalten wird. Gemäss der
Aussage des Erziehers ist mit der Zeit klar geworden, dass es sich sowohl bei
dem Ziel der Jungen als „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ als auch bei
dem übergeordneten Ziel einer solidarischen, gleichberechtigten Gesellschaft
tatsächlich um Oberziele handelt, zu denen die Chácara lediglich einen langfris-
tigen, partiellen Beitrag leisten kann. Für die Praxis des Projektes müssen diese
Oberziele in konkrete Projektziele heruntergebrochen werden, auf deren Errei-
chung die Organisation unmittelbarer Einfluss nehmen kann.

Frage: Gab es Veränderungen am Konzept [der Chácara] in den zehn Jahren [seit
der Gründung]?

249
Antwort: Schau, ich bin der Meinung, dass das Konzept immer einer Veränderung
unterworfen ist. Es erneuert sich jeden Tag. Als wir hier anfingen, hatten wir nicht
diese umfassende Sichtweise von dem, was wir wollten. Wir hatten in Versammlun-
gen festgelegt, dass es unser Ziel war, mit den Jungen zu arbeiten, aber häufig, wenn
wir [ein Ziel] auf dem Papier festhalten, ist es ein sehr utopisches Ziel. Das Ziel ist:
„Die Bürgerschaft der Kinder und Jugendlichen wieder erlangen, damit sie Protago-
nisten ihres Lebens als Bürger sein können“. Das heisst, es ist eine sehr utopische
Sache, es ist keine Sache, die greifbar wäre. Heute haben wir ein Konzept, ein Ziel,
das klarer ist, nämlich, dass der Junge, wenn er hier weggeht, einen Ort hat, an dem
er wohnen kann, etwas zu essen hat, einen Beruf hat, und es ist uns klar, dass dieser
ganze Rest, diese ganze Utopie, als Resultat davon geschehen wird, von diesem ers-
ten Schritt, der gemacht wurde. Der Junge wird eine Bewusstheit für sein Leben
entwickeln, und das ist ein natürlicher Prozess, denn er wird selbst die Notwendig-
keit verspüren, die Arbeit weiterzuführen, die hier in der Chácara begonnen hatte.
Wir sehen bei vielen Jungen – den grösseren, nicht wahr – dass sie die Notwendig-
keit verspüren, den kleineren zu helfen, ihnen Ratschläge zu geben. Es kommt häu-
fig vor, dass [nennt einen gerade erwachsenen Jungen, der als Hilfserzieher arbeitet],
dass [nennt einen zweiten erwachsenen Jungen, der als Hilfserzieher arbeitet] überall
Ratschläge geben und sich um die Jungen sorgen. Das ist eine wirklich tolle Sache;
es ist eine Veränderung des Konzeptes, ein Resultat der Veränderung des Konzeptes,
das schon nicht mehr dieses langfristige Konzept ist, das man ansah, um dann zu sa-
gen: „Meine Güte, wann wird dies [dereinst] eintreten?“. Wir wollen die Gesell-
schaft verändern und wir sehen, dass dies nicht so einfach geht [sinngemäss über-
setzt]. Es ist schwierig, das Bewusstsein der Leute zu verändern; dies wird langsam
geschehen. Es gibt heute viele Leute, die sich aufgrund eines veränderten Bewusst-
seins in der Arbeit [der Chácara] engagieren, aber es ist ein sehr langsamer Prozess,
und bis er wirklich geschieht, wissen wir, dass wir viel mehr für diese Jungen tun
können, greifbare Dinge, konkrete Dinge, und das ist, was wir heutzutage anstreben,
etwas Konkretes, und darauf baut unser Konzept auf. (Ehemaliger Junge aus der
Gemeindearbeit in der Vila Lindóia und Erzieher, Interview, April 2004)

Diese Konkretisierung der Projektziele entspricht einerseits dem Anspruch einer


jeden Organisation, besteht eine solche doch mit dem Zweck der Erreichung von
Zielen und muss sie, soll sie ihrer „Raison d’Être“ gerecht werden, über konkrete
und an sich erreichbare Ziele verfügen. Nur solche Ziele können auch bezüglich
der Effektivität, mit der sie erreicht weden, beurteilt werden.
Im Falle eines Sozialprojektes, welches Menschen – im Fall der Chácara
ehemalige Jungen der Strasse – in ihrer Entwicklung fördert, kommt eine
Schwierigkeit hinzu: Die Erreichung der Projektziele liegt nicht vollumfänglich
in der Hand des Projektes. So kann dieses zum Beispiel wohl Schulunterricht
offerieren und Jungen zum Schulbesuch anhalten, mit dem Ziel, ihnen schuli-
sches Wissen zu vermitteln; es ist jedoch darauf angewiesen, dass die Jungen die
entsprechenden Fähigkeiten auch entwickeln und in ihrem Handeln zeigen.

250
Wie steht es nun um die Effektivität der Chácara? Aufgrund der Erkenntnisse der
Organisationsanalyse kann diese als positiv beurteilt werden. Schwieriger zu
beantworten ist die Frage, als wie positiv sie beurteilt werden kann, beziehungs-
weise zu welchen Referenzgrössen sie in Bezug gesetzt werden kann. In der
Folge soll nun auf die Effektivität bezüglich der Erreichung der einzelnen Ziele
der Chácara, soweit es die Datenlage erlaubt, näher eingegangen werden.

5.1.2.1 Aufnahme und Verbleib der Jungen in der Chácara

Wie gezeigt wurde, hat die Chácara Ziele, welche um einiges über die Aufnahme
und den Verbleib der Jungen in der Chácara hinausgehen. Beiden Momenten
kommt trotzdem insofern eine grosse Bedeutung zu, als ohne die Anwesenheit
der Zielgruppe in der Organisation jedwelche Effektivität – also die Erreichung
von Zielen bezüglich der Zielgruppe – unmöglich wäre.
In den Jahren ihres Bestehens ist es der Chácara gelungen, ihre Kapazität
der Aufnahme von Jungen stetig zu erhöhen. Wie administrative Unterlagen zei-
gen, erfolgten grosse Wachstumsschritte insbesondere in den Jahren 1994/1995,
1998 und 2004/2005. Im Oktober 1993 zog eine erste Gruppe von etwa 8 Ju-
gendlichen in die Chácara ein. Weitere 12 Jungen im Alter von 9 bis 11 Jahren
wurden um die Jahreswende 1994/1995 aufgenommen. Bis ins Jahr 1998 kamen
dann einzelne Jungen hinzu, bis im Jahr 1998 ein zusätzliches Gebäude die Auf-
nahme von weiteren 14 unter 14-jährigen Jungen erlaubte. Zu Beginn der Feld-
forschung im Jahr 2003 lebten 43 Jungen im Alter von 6 bis 18 Jahren in der
Chácara, und ab Mitte des Jahres 2004 kamen weitere 28 Jungen hinzu. Während
der Schlussphase der Feldforschung im Mai 2005 lebten insgesamt 71 Jungen in
den Häusern der Chácara, und im August 2006 waren es um die 80.
Die administrativen Unterlagen der Chácara zeigen, dass die 71 Kinder und
Jugendlichen, welche im Juni 2005 in der Chácara lebten, tatsächlich zu der in
den Statuten definierten Zielgruppe gehörten. So hatten die meisten von ihnen
vor Eintritt in die Chácara ganz auf der Strasse gelebt (52, bzw. 73%). Weitere
12 (17%) waren dabei gewesen, ganz auf die Strasse zu gehen und/oder waren zu
Hause grober Vernachlässigung und/oder Misshandlung ausgesetzt, während 7
(10%) direkt aus anderen Institutionen in die Chácara übergetreten waren und
sich früher in einer der beiden genannten Situationen befunden hatten.
Viele der Jungen, die in den ersten Jahren in die Chácara zogen, hatten sehr
lange ganz auf der Strasse gelebt. In der Zwölfer-Gruppe, welche Ende 1994
eintrat, gab es zum Beispiel mehrere Jungen, welche vom Alter von 5 oder 6
Jahren bis in ein Alter von 11 oder gar 14 Jahren auf der Strasse überlebt hatten.
Zehn Jahre später ist das Angebot von städtischen und Nichtregierungsorganisa-

251
tionen grösser, welche Kinder und Jugendliche in „Risikosituationen“ aufneh-
men. Entsprechend scheinen heute Fälle von Kindern und Jugendlichen, welche
drei oder mehr Jahre ohne Unterbrüche ganz auf der Strasse gelebt haben, selte-
ner vorzukommen; Zahlen liegen dazu jedoch keine vor.
Ebenfalls im Einklang mit den Statuten wurden Kinder (unter 14 Jahren)
und Jugendliche (unter 18 Jahren) aufgenommen. So lebten im Juni 2005 gemäss
dieser Definition 39 Kinder (55%), von denen 8 weniger als 10 Jahre alt waren,
in der Chácara sowie 29 Jugendliche (41%) und 3 erwachsen gewordene Jungen
(4%) im Alter von je 18, 21 und 22 Jahren.
Leider verfügt die Chácara nicht über eine seit Anbeginn geführte Fluktua-
tionsstatistik. Aussagen von an ihr Beteiligten sowie der umfassende Einblick
der Autorin in das Projekt während 11 Jahren ergeben jedoch das Bild, dass ein
Grossteil der Jungen über längere Zeit, zumeist bis zur Erreichung des Erwach-
senenalters, in der Chácara verbleibt. Eine grössere Zahl von ihnen hat zuvor
eines oder mehrere andere Projekte durchlaufen, hat diese jedoch wieder verlas-
sen. Die in der Chácara bestehende, im Vergleich zu anderen Projekten in der
Einschätzung der beteiligten Jungen und Erwachsenen jedoch geringere Fluktua-
tion konnte über die Jahre reduziert werden.
Bei den insgesamt 71 im Juni 2005 in der Chácara lebenden Jungen handel-
te es sich um eine relativ neue Population, von denen die meisten (45) im Jahr
2004 und in der ersten Hälfte des Jahres 2005 eingezogen waren. Von den übri-
gen Jungen lebten 15 seit zwei bis fünf Jahren in der Chácara und weitere 11 seit
sechs bis elf Jahren. Hauptgrund für den grossen Anteil neuer Jungen in der
Chácara ist einerseits ein vor allem in den Jahren 2002 und 2003 abgelaufener
Generationenwechsel. Viele der in den Jahren 1994 bis 1997 eingezogenen Jun-
gen zogen ganz oder beinahe volljährig mit Beginn der selbständigen Arbeitstä-
tigkeit aus. Gleichzeitig wurden im Jahr 2004 ein weiteres Gebäude und zusätz-
liche Zimmer in renovierten Gebäuden sowie Anfang 2005 ein Haus in der Stadt
bezugsbereit, wodurch um die 30 weitere Jungen aufgenommen werden konnten.
Mit der Intensivierung der Arbeit mit den Familien der Jungen, dem Ausbau
der Dienstleistungen für die Gemeinde, in der sich die Chácara befindet und der
Unterstützung von anderen Projekten und Behörden in der Arbeit mit Strassen-
kindern hat die Chácara zudem den Kreis von zusätzlichen Nutzniessern in einer
Art erweitert, welche sowohl den direkt beteiligten weiteren Personen als auch
wiederum den Kindern und Jugendlichen der Strasse zugute kommt.
Zusammenfassend kann deshalb die Chácara bezüglich der Erreichung ihres
Zieles, Jungen der Strasse aufzunehmen, als effektiv beurteilt werden.
Ein residentielles Projekt für Kinder und Jugendliche der Strasse kann nur
wirksam sein, wenn diese in ihm verbleiben. Wie in Kapitel 4.1.2 aufgeführt,
besteht die (Über-) Lebensstrategie der Kinder und Jugendlichen unter anderem

252
darin, dass sie Umfelder, in denen die Lebensbedingungen aus ihrer Wahrneh-
mung untragbar sind, verlassen und/oder Umfelder aufsuchen, in denen sie ihre
Ansprüche an Lebensqualität und Zukunft eher verwirklichen zu können glau-
ben. Es muss deshalb angenommen werden – und die Praxiserfahrung der Auto-
rin in Projekten entspricht dieser These – dass die Kinder und Jugendlichen eines
residentiellen Projektes, wenn es ihnen physisch möglich ist, „mit den Füssen
stimmen“ und gegebenenfalls ein Projekt verlassen.
Um diesen Aspekt besser zu kontrollieren und über eine Grundlage für et-
waige Anpassungen innerhalb der Organisation zu verfügen, wird an dieser Stel-
le der Chácara und anderen, auf Freiwilligkeit basierenden residentiellen Institu-
tionen für Kinder und Jugendliche der Strasse empfohlen, eine Fluktuations-
statistik zu führen und wenn immer möglich Austrittsgründe der Kinder und
Jugendlichen zu erfassen. Dies bedeutet, dass auch die Erwartungen bezüglich
der optimalen Aufenthaltsdauer im Projekt definiert werden müssen. Ergänzt
werden können derartige Informationen durch die Befragung der im Projekt
lebenden Kinder und Jugendlichen nach ihren Gründen für den Verbleib und
durch die Befragung von Kindern und Jugendlichen auf der Strasse danach, was
sie in einer residentiellen Organisation erwarten. Diesem letzteren Aspekt der
Qualität bzw. Qualitätserhebung ist Kapitel 5.2 gewidmet.

5.1.2.2 Förderung der Fähigkeiten der Jungen

Wie in Kapitel 4.4 dargestellt, unternimmt die Chácara eine Grosszahl von Akti-
vitäten und beteiligt sie die Jungen in hohem Masse an der Gestaltung der
Chácara mit dem Ziel, ihre Fähigkeiten im Bereich des Lernens und der Reflexi-
on, des Zusammenlebens, des staatsbürgerlichen Handelns und der Veränderung
zu fördern. Vor dem Hintergrund pädagogischen und entwicklungspsychologi-
schen Wissens muss auf Grund der Art und Gestaltung der Aktivitäten ange-
nommen werden, dass sich diese positiv auf die genannten Fähigkeiten der Jun-
gen und damit auf die diesbezügliche Effektivität der Chácara auswirken. Da die
Definition des Zieles der Förderung von Fähigkeiten jedoch erst als Resultat der
empirischen Untersuchung entstand, konnte im Rahmen der vorliegenden Unter-
suchung nicht strukturiert untersucht werden, inwieweit die Chácara bezüglich
dieser Ziele effektiv ist.
Bezüglich der schulischen Fähigkeiten lässt sich zeigen, dass alle Jungen
die Schule besuchen und zwar mit dem Ziel des Abschlusses der Oberstufe. Im
Juni 2005 besuchten die meisten in der Chácara lebenden Jungen, nämlich 33,
die Unterstufe. Dies entspricht der Tatsache, dass in den Jahren 2003 bis 2005
eine grössere Anzahl eher jüngerer Jungen neu in die Chácara eingetreten war.

253
Weitere 27 besuchten die Mittel- und 5 die Oberstufe. Insgesamt 3 kürzlich ein-
getroffene Jungen standen noch vor der Einschulung, während 1 Junge die Ober-
stufe abgeschlossen hatte und zwei Jungen an der Universität studierten. Die
Entwicklung bezüglich Leistung und Verhalten in der Schule wird, wie in Kapi-
tel 4.4.1 erwähnt, durch eigens dafür in der Chácara mitarbeitende Pädagoginnen
überwacht und begleitet sowie durch verschiedene unterstützende Massnahmen
wie Nachhilfeunterricht, Aktivitäten zur Förderung der Lernfähigkeit, inhaltlich
erweiterten Unterricht und psychologische Gruppenarbeit sowie Einzelbetreuung
gestärkt. Der Chácara liegen organisierte Daten zu Schulleistung und -verhalten
ihrer Jungen vor, aus welchen hervorgeht, dass gute schulische Fortschritte er-
zielt werden. Viele der Jungen holen gar in wenigen Jahren den ganzen Schul-
stoff nach, wie Beispiele von Jungen zeigen, welche im Alter von 11 oder noch
mehr Jahren nicht lesen und schreiben konnten und mit 20 Jahren eine gute Uni-
versität besuchen.
Von den älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen gingen im Juni
2005 insgesamt 6 neben ihrer schulischen oder universitären Ausbildung (welche
nachts stattfindet) einer bezahlten Tätigkeit nach.

Alter Schulniveau Tätigkeit


16 Oberstufe Banklehre/-mitarbeit
17 Oberstufe Buchhaltungsbüro
Büro der Chácara, zuvor 2 Jahre
18 Oberstufe
Banklehre
19 Oberstufe Industriebetrieb
3. Jahr Universität (Business Admi-
21 Erzieher in der Chácara
nistration)
22 2. Jahr Universität (Rechnungswesen) Industriebetrieb

Abbildung 20: Berufliche Tätigkeiten in der Chácara lebender Jungen (Stand


30.6.2005)

Im Jahr 2005 traten ein dann 24-jähriger ehemaliger Junge, der bereits als Erzie-
her in der Chácara arbeitete, und im Jahr 2006 der oben erwähnte 18-jährige als
nun 20-jähriger in die Universität ein. Ersterer studiert Sozialarbeit und führt ein
eigenes Präventionsprojekt für Kinder seiner Favela, letzterer absolviert ein Stu-
dium der Touristik. Im Dezember 2006 arbeiteten insgesamt 15 ältere Jugendli-
che und junge Erwachsene in Firmen, davon vier bei Banken im Rahmen von
Ausbildungsprogrammen. Alle führten daneben ihre schulische oder universitäre
Ausbildung fort.

254
In der Beobachtung der Jungen sowie in wiederholten Gesprächen mit ihnen –
zum Teil über nunmehr 11 Jahre – ist der Eindruck entstanden, dass diese nicht
nur bezüglich ihrer schulischen Fähigkeiten tatsächlich eine Entwicklung durch-
machten. Ein Beispiel für eine Veränderung von Fähigkeiten lässt sich mit einem
Erlebnis der Autorin mit der Ende 1994 eingetretenen Gruppe der Jungen illus-
trieren. Als sie die Jungen im Mai 1995 kennen lernte, lösten diese die meisten
Alltagsfragen mit viel – gelegentlich auch aggressiv getönter – Lebhaftigkeit und
Lärm, mit der Durchsetzung der einen und dem Rückzug oder dem Nachgeben
anderer Jungen. Ein Jahr später kam die Autorin an einem Abend zum Haus der
Gruppe und hatte zunächst den Eindruck, dass diese nicht zu Hause sei, weil es
so still war. Als sie eintrat, erblickte sie die Gruppe der zwölf 11- bis 14-Jährigen
zu ihrer grossen Überraschung um einen Tisch sitzend, jeder mit Papier und
Bleistift vor sich, in eine Diskussion über die Planung der Chácara vertieft, bei
der einer nach dem anderen sprach, Argumente ausgetauscht und schliesslich ein
Konsens gefunden wurden. Da immer wieder Gespräche zwischen Erziehenden
und Jungen beobachtet werden konnten, in denen gesagt wurde, dass sich „alles
mittels Reden lösen lasse“184, und Evaluation und Planung, wie in Kapitel 4.5.2.3
beschrieben, ständig in der Praxis eingeübt und durchgeführt werden, ist die
Autorin überzeugt, dass die pädagogischen Massnahmen der Chácara tatsächlich
Veränderungen im Verhalten der Jungen im Sinne der Ziele bewirken.
Auf anekdotischer Basis liegen zahlreiche Evidenzen für Veränderungen
seitens der einzelnen Jungen und der Jungengruppen vor. Die folgenden Zitate
werden in ihrer ganzen Länge aufgeführt, weil der Diskurs der beiden Jungen die
seitens der Chácara vorgebrachten Argumente für eine Veränderung und deren
Wirkung aufzeigt, also in beiden Fällen die Effektivität der Chácara bezüglich
Sozialverhalten aus der Sicht der Jungen belegt:

Frage: Wie warst Du, als Du hier ankamst?


Antwort: (...) Lass mich sehen ... ich war gewalttätig, und zwar ziemlich [stark ge-
walttätig].
Frage: Wann warst Du gewalttätig?
Antwort:Ah, so mit den Jungen, wenn wir Streit anfingen, dann habe ich ... den Kopf
verloren (lacht etwas verlegen). Ich war ziemlich gewalttätig. Jetzt bin ich es nicht
[mehr]. Jetzt bin ich ganz ruhig. In Frieden mit allen. Deshalb habe ich hier viele
Freunde. Es war so ... als ich hier ankam, kannte ich auch kaum jemanden; ich
sprach mit niemandem, [und] jetzt kennen mich alle ... ich glaube, alle mögen mich
... einige nicht, nicht wahr ... [aber] ich glaube, die Mehrheit [schon].
Frage: Und was geschah, dass Du die Gewalt bleiben liessest?

184
„Tudo se resolve pela conversa.“ In der Chácara viel gehörter, vom Koordinator, den Erziehen-
den, aber auch von Jungen geäusserter Satz.

255
Antwort: Ah, es war mit den Erziehenden, im Gespräch; Fernando, der mit mir
sprach, und so begann ich, die Gewalt bleiben zu lassen. (...) Ich beschloss, nicht
mehr mit den Jungen zu streiten. Ich hatte auch viele Freundschaften wegen Streite-
reien verloren, also brachten diese nichts. Ich verlor deswegen viele Dinge. Also
hörte ich auf damit. Jetzt bin ich nicht mehr gewalttätig. Jetzt bin ich ganz ruhig. (...)
Ja, es gab viele Dinge. Die Ausbildungstreffen, zu denen ich ging ... an denen über
Gewalt gesprochen wurde ... so lernte ich es. (16-jähriger Junge, Eintritt 22. Mai
2005, Interview, 6. Mai 2003)

Und:

Frage: Und wie war jene Gruppe der Jüngeren im zweiten Haus?
Antwort: Ah, sie waren alle ... „lass uns Unfug anstellen“ ... alles Kinder, nicht
wahr, viele Streitereien (...), wir waren Kinder, nicht wahr, wir mussten unsere
Kindheit leben, die wir bis zu jenem Moment nicht gehabt hatten, und für die es hier
nun eine Möglichkeit gab – also taten wir dies.
Frage: Welchen Einfluss hatte dies auf das Zusammenleben im Haus?
Antwort: Um die Wahrheit zu sagen, wollte am Anfang jeder mächtiger als der an-
dere sein, denn so hatten wir schon im Stadtzentrum gelebt. Es kam nicht darauf an,
ob einer klein oder gross war, aber jeder wollte den anderen herum kommandieren,
schon von klein auf, und hier [in der Chácara] war es nicht anders. Dann lehrten uns
die Erziehenden, dass es so nicht geht, dass wir gleichberechtigt leben müssten und
keiner den anderen herumbefehlen solle. Wir müssen um Gleichberechtigung kämp-
fen, nicht wahr, denn ausserhalb [der Chácara] ist es ja anders. [Die Erziehenden]
waren es, die unsere Denkweise veränderten [und uns beibrachten], dass die Welt
schon voll von dieser Machtorientierung („maioral“) ist, dass jeder mächtiger als der
andere sein will, und so versuchten sie, uns etwas anderes beizubringen. So fingen
wir an, es zu lernen.
Frage: Und als ihr dann schon einige Zeit in der Chácara verbracht hattet, etwas äl-
ter wart und die Chácara besser kanntet, wie war da das Zusammenleben?
Antwort: Ja, da war es besser, denn, je mehr wir uns entwickelten, desto mehr wurde
uns bewusst, dass wir ein gutes Zusammenleben haben mussten, denn [zuvor] waren
wir diskriminiert worden und vieles mehr, und deshalb mussten wir einander helfen
und nicht jeder den anderen fertig machen. Je grösser wir wurden, desto vernünftiger
wurden wir. (19-jähriger Junge, Eintritt Anfang 1995, Austritt ca. Oktober 2002, In-
terview, 27. März 2003)

Vorhandene schriftliche Zeugnisse wie die gerade erwähnten sowie die sich über
11 Jahre erstreckenden Beobachtungen sind für die Autorin klare Hinweise da-
rauf, dass die Chácara die Fähigkeiten der Jungen im schulischen und Verhal-
tensbereich, aber auch in der Übernahme von Verantwortung stark fördert.
Das Thema der Stärkung derjenigen Fähigkeiten, welche die Jungen als
„Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ im Sinne der Definition der Chácara

256
benötigen, bietet sich für eine künftige Studie mit entwicklungspsychologischer
Ausrichtung an. Ein Element einer solchen Studie könnte der Versuch sein, diese
Fähigkeiten genauer zu definieren und die diesbezügliche Effektivität der
Chácara empirisch zu erheben.
Anderen Organisationen kann empfohlen werden, festzustellen, ob sie über
ein Konzept der Entwicklung der betreuten Kinder und Jugendlichen verfügen,
welche innerhalb ihrer Strukturen ablaufen bzw. gefördert werden soll. In Kapi-
tel 1 wurden Erkenntnisse kürzlich erstellter Studien zitiert, die darauf hinwei-
sen, dass eine beträchtliche Anzahl von entsprechenden Institutionen keine oder
ungenügende Förderungsmassnahmen anbieten. Die Einführung solcher Mass-
nahmen bedingt, dass ein grundlegendes Konzept der Entwicklung vorliegt, die
gefördert werden soll. Im Rahmen der Massnahmen selbst dürfte es für Instituti-
onen interessant sein, analog der Chácara nicht defizit-orientiert zu handeln (also
Massnahmen nicht auf eine Behebung „devianten“, „kriminellen“ oder „mora-
lisch verdorbenen“ Verhaltens auszurichten), sondern auf dem aufzubauen, was
die Betreuten an persönlichen Ressourcen und Potentialen mitbringen.

5.1.2.3 Stärkung der persönlichen Grundlagen der Jungen

Wie in der Aktivitätenanalyse in Kapitel 4.5.1 gezeigt wurde, führt die Chácara
eine grosse Anzahl von Aktivitäten durch, um die persönlichen Grundlagen der
Jungen zu stärken. Dabei werden besonders das schulische, berufliche und ge-
sellschaftliche Wissen, die Gesundheit, die Entwicklung von Wertvorstellungen,
die kulturelle Verankerung, Arbeit und Einkommen sowie die familiäre Veranke-
rung der Jungen berücksichtigt. Auf die schulische Ausbildung ist im vorherigen
Kapitel bereits eingegangen worden.
Zu den Resultaten, welche in diesem Zusammenhang erreicht werden, lie-
gen von Seiten der Chácara keine umfassenden und detaillierten Daten vor. Den-
noch gibt es Hinweise, die sich zum Beispiel aufgrund der Ausbildungen und
Berufstätigkeit erwerbstätiger Jungen, aber auch in Hinblick auf die Zusammen-
arbeit mit ihren Familien herleiten lassen. Folgende Momente legen die Annah-
me nahe, dass persönliche Grundlagen der Jungen gestärkt worden sind:
Berufsausbildungen wurden unter anderem durch Kurse ermöglicht, die in
der Chácara durchgeführt wurden. So schloss im Jahr 1995 eine Klasse von 12
Jugendlichen einen in Zusammenarbeit mit einem öffentlichen Bildungsinstitut
durchgeführten Elektrikerkurs mit dem Diplom ab. Andere Jungen nahmen an
öffentlichen, anerkannten Kursen zur allgemeinen oder spezifischen Vorberei-
tung auf Berufstätigkeiten innerhalb und ausserhalb der Chácara teil.

257
Dank des aufgebauten Netzwerkes, welches auch eine Anzahl von Geschäftsleu-
ten umfasst, gelingt es der Chácara zudem seit einigen Jahren, Jugendlichen im
erwerbsfähigen Alter Arbeitsplätze im formellen Sektor zu vermitteln. Ausser
der Junge wünsche dies selbst, trennt sich die Chácara von keinem Jungen im
erwerbsfähigen Alter, ohne diesem eine Arbeitsstelle vermittelt zu haben. Eine
Anzahl erwachsen ausgetretener Jugendlichen arbeitet tagsüber und besucht
nachts die Schule, mit dem Ziel, später ein Studium aufzunehmen. Einige von
ihnen besuchen bereits nachts die Universität. Weitere Angaben zum Werdegang
ehemaliger Jungen finden sich in Kapitel 5.1.3 zum Thema der Nachhaltigkeit.
Nach Einschätzung von Mitgliedern der Chácara kann und muss die Effek-
tivität im Bereich der beruflichen Ausbildung und Berufstätigkeit noch gesteigert
werden. Vor dem Hintergrund von Informationen aus anderen Organisationen –
zum Beispiel denjenigen der in Kapitel 1 zitierten staatlichen Studien, welche
befanden, dass viele der untersuchten Institutionen für Kinder und Jugendliche
keine solche, den Anforderungen des Kinderrechtsstatuts entsprechende Vorbe-
reitung auf das Berufsleben bieten – entsteht der Eindruck, dass die diesbezügli-
che Effektivität der Chácara jedoch um einiges höher ist als in einer Anzahl von
anderen residentiellen Projekten für Kinder und Jugendliche der Strasse.
Was die familiäre Verankerung der Jungen betrifft, hat die Chácara seit An-
beginn grossen Wert darauf gelegt, die Familien, mit denen die meisten Jungen
jeden Kontakt verloren hatten, wieder aufzufinden. Die auf die Familie bezogene
Arbeit mit den Jungen und ihren Angehörigen hat dazu geführt, dass mit weni-
gen Ausnahmen die meisten Jungen einen Teil ihrer Schulferien und bestimmte
Wochenenden bei Verwandten verbringen können. Familiäre Schwierigkeiten,
welche mit zum Gang der Jungen auf die Strasse geführt hatten, konnten zum
Teil erheblich gemildert werden, sei es durch begleitende Gespräche, ermöglich-
te Therapien bei Suchtproblemen oder die Vermittlung von Ausbildungsmög-
lichkeiten und Arbeitsplätzen für Familienangehörige. Mitglieder der Chácara
beklagen jedoch, dass nicht genugend finanzielle Ressourcen vorhanden seien,
um die Arbeit mit den Familien nach ihren Wünschen weiter auszubauen.
Vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit in Brasilien, der erst lang-
samen Einführung von Konzepten der Berufslehre, den schlechteren Startbedin-
gungen für Personen aus armen Verhältnissen und der gemäss staatlichen Studi-
en ebenfalls spielenden Diskrimination von Personen, die nicht weisser Hautfar-
be sind (wozu die meisten Strassenkinder gehören), kommt der Frage der Be-
rufsausbildung und Integration in die Arbeitswelt besondere Bedeutung zu. In
der Chácara werden zum Zeitpunkt der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit
eine Anzahl von weiteren Schritten diskutiert, darunter: eine noch stärkere
Fokussierung auf die Vermittlung von allgemeinen, in der Berufswelt nötigen
Einstellungen und Fähigkeiten, Berufsberatung und Schnupperlehren für Jugend-

258
liche, ein noch systematischeres Vorgehen bei der Kontaktaufnahme und Be-
treuung der Geschäftsleute, welche Stellen vermitteln können, und eine systema-
tische Begleitung der arbeitenden älteren Jungen und jungen Erwachsenen185.
Für andere Organisationen wird empfohlen, dass sie Vorhandensein und In-
halt eines Konzeptes dessen prüfen, was mit den von ihnen betreuten Kindern
und Jugendlichen geschehen soll, wenn sie die Organisation als Erwachsene
verlassen. Die Vorbereitung auf einen Beruf und die Hilfe beim Erlangen einer
Arbeitsstelle müssen hier als Grundbedingung für ein eigenständiges (und durch
legale Tätigkeiten finanziertes) Erwachsenenleben bezeichnet werden. Analog
der Chácara empfiehlt sich der Aufbau guter Kontakte zu Firmen und die ständi-
ge Beschaffung von Informationen über entsprechende Initiativen seitens der
Regierung, von Arbeitgeberverbänden und anderen Instanzen. Auch die Förde-
rung allgemeiner, für Berufsausbildung und Arbeit notwendiger Fähigkeiten
sowie Berufsberatung und die Begleitung in entsprechenden Ausbildungen oder
Anstellungen befindlicher Jugendlicher und junger Erwachsener sollten vermehrt
in Betracht gezogen werden.

5.1.2.4 Verbesserung der gesellschaftlichen Bedingungen

Wie gezeigt wurde, hat die Chácara ebenfalls das Ziel, die gesellschaftlichen
Bedingungen zugunsten der Jungen derart zu beeinflussen, dass die Jungen auf
eine aufnahmebereite und -fähige Gesellschaft zählen können. Mit ihrem in Ka-
pitel 4.4.3.1 beschriebenen grossen Netzwerk von Personen aus den verschie-
densten Bereichen der Gesellschaft, welche aktiv an der Chácara teilhaben, trägt
sie tatsächlich zu einer solchen Verbesserung bei.
Während der Feldforschung konnte die Autorin mehrfach beobachten, dass
Mitglieder staatlicher Behörden die Chácara aufsuchten. So waren zum Beispiel
bei den Feiern zum zehnjährigen Bestehen der Chácara im Oktober 2003 unter
anderem der für sämtliche sozialen Leistungen gegenüber Kindern und Jugendli-
chen – inklusive den Jugendstrafvollzug – zuständige Staatssekretär für Arbeit,
Beschäftigung und soziale Förderung des Staates Paraná anwesend, aber auch
der für die gesamte Arbeit der Polizei verantwortliche Staatssekretär für öffentli-
che Sicherheit des Staates Paraná, zwei Staatsanwälte, mehrere (Jugend-) Richte-
rinnen und Richter, der gesamte Gemeinderat und weitere Behördenmitglieder
der Gemeinde Mandirituba sowie Mitglieder der Sozialbehörden der Stadt Curi-
tiba.

185
Diese Diskussion wurde unter anderem von der Autorin vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung im
Personalwesen mitausgelöst.

259
In einem Land wie Brasilien, welches stark von einem schichtspezifischen Den-
ken geprägt ist, das heisst, über eine Gesellschaft verfügt, in der ein tiefer nicht
nur wirtschaftlicher, sondern auch sozialer Graben zwischen privilegierteren und
weniger privilegierten Schichten liegt, ist die Anwesenheit von Personen wie den
gerade genannten in einem Projekt für Strassenkinder ein eher ungewöhnliches
und darum umso bedeutsameres Ereignis.
Zwei Aussagen sollen hier als anekdotische Hinweise darauf zitiert werden,
dass die Effektivität der Chácara bezüglich der Herstellung eines die Jungen
aufnehmenden sozialen Umfelds als positiv beurteilt werden kann. Sie stammen
von zwei der erwähnten Personen. Beiden wird ein hoher sozialer Status zuge-
schrieben und beide haben direkten Einfluss auf die Chácara und/oder auf die
Politik gegenüber Kindern und Jugendlichen auf der Strasse. Ihre Aussagen
können in gewissem Sinne als eine Umkehrung von herkömmlichen sozialen
Haltungen verstanden werden. So dankt der Bürgermeister dafür, dass er und die
Gemeindebehörden in die Chácara eingeladen worden sind, bezeichnet die Jun-
gen nicht als Strassenjungen, sondern als Söhne und die Chácara als Haus für
ganz Mandirituba:

Vielen Dank, Fernando, für die Einladung und für die Gelegenheit, welche Du der
Exekutive und Legislative hier in deinem Haus gibst, im Haus deiner Söhne, einem
Haus, welches zu einem Haus für Mandirituba geworden ist. (Luiz Carlos Chimin
Claudino, Bürgermeister von Mandirituba, öffentliche Ansprache zum zehnjährigen
Jubiläum der Chácara, 4. Oktober 2003)

Gemäss der Aussage des Generalstaatsanwaltes sind die Jungen verantwortlich


für den Erfolg der Chácara und verdienen dafür den Beifall der Gesellschaft. Er
betont die grosse Anstrengung, die sie unternommen haben, und sagt, dass die
Jungen die Staatsanwaltschaft von Paraná viel gelehrt hätten:

Die hauptsächlichen Verantwortlichen für den Erfolg des Projektes [der Chácara]
sind die Jungen; sie verdienen den Applaus, allen nur erdenklichen Applaus, der
Gemeinde Mandirituba, der Gesellschaft von Paraná und von Brasilien. Sie sind das
Beispiel, dass sie, wenn sie die richtige Chance erhalten, für sich und ihre Angehöri-
gen ein besseres Leben aufbauen können. Wer eine der grössten Ehrungen hier er-
halten muss, sind die Kinder der Strasse, Herr Staatssekretär [für Arbeit, Beschäfti-
gung und soziale Förderung]; sie sind es, die uns vieles gezeigt und gelehrt haben.
Ich sage, dass ich viel von den Jungen von Quatro Pinheiros gelernt habe. (...) Ich
habe viel von den Jungen von Quatro Pinheiros gelernt, und die Jungen von Quatro
Pinheiros haben meine Institution viel gelehrt; die Staatsanwaltschaft des Staates Pa-
raná hat viel von den Jungen von Quatro Pinheiros gelernt. (Dr. Olímpio de Sá Sotto

260
Maior Neto, Generalstaatsanwalt für Kinderrechte des Staates Paraná, öffentliche
186
Ansprache zum zehnjährigen Jubiläum der Chácara, 4. Oktober 2003)

Wie ein Protokoll von einem weiteren Anlass des zehnjährigen Jubiläums der
Chácara zeigt, gibt es auch Vertreterinnen der Sozialbehörde der Stadt Curitiba,
welche angeben, von der Chácara zu lernen:

[Die Vertreterin der Sozialbehörde] sagte, dass die Stadtbehörden die Chácara mit
einem kleinen bisschen unterstützten und dass die Chácara in Tat und Wahrheit ei-
nen grösseren Beitrag an [die Arbeit der Behörden von] Curitiba geleistet habe als
umgekehrt. Sie sagte, dass die Stadtbehörden viel von Fernandos Arbeit gelernt hät-
ten, zum Beispiel hinsichtlich der „Casa do Piá“ (staatliches Haus für Jungen der
Strasse in Curitiba, welches früher unter anderem von Jungen stark kritisiert wurde),
in der sie früher gearbeitet habe. Sie erinnerte sich daran, wie sie Fernando zu Be-
ginn seiner Arbeit jeweils durch die Strassen von Curitiba habe wandern sehen, wo
er viel erreichte, obwohl er über keinerlei physische oder materielle Struktur verfüg-
te. Sie erinnerte sich auch, dass die Stadtbehörden damals eine sehr gute physische
Struktur [für die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen der Strasse] hatten, und
dass sie sich fragte, weshalb diese [in ihren Institutionen] nicht so viel erreichten wie
Fernando und die Gruppe der Chácara. Sie sagte, sie sei sehr glücklich und beein-
druckt, wenn sie die Chácara und die Jungen jetzt sehe, und hoffe, dass sich ein ver-
stärkter Erfahrungsaustausch aufbauen lasse, um die Betreuung der Kinder und der
Jugendlichen [seitens der Stadtbehörden] noch mehr zu verbessern. Sie sagte, sie sei
immer froh, wenn ein Junge in die Chácara gebracht werde, denn diese mache eine
Arbeit, die funktioniere. (Protokoll der Chácara des Jubiläumsanlasses vom 10. Ok-
tober 2003)

Die Tatsache, dass es, wie bereits erwähnt, heute Geschäftsleute gibt, welche
Jungen der Chácara als gewissenhafte und gute Arbeitskräfte schätzen und ihnen
in einem Arbeitsmarkt Stellen anbieten, in welchem Personen armer Herkunft
und besonders auch afrobrasilianischer Herkunft meist benachteiligt sind, kann
nach Erachten der Autorin ebenfalls als positives Resultat im Rahmen der Ver-
besserung der gesellschaftlichen Bedingungen für die Jungen gesehen werden,
ebenso die Tatsache, dass Jungen und Familien im möglichen Rahmen wieder
zueinander gefunden haben.
Die hier beschriebenen Erfahrungen der Chácara zeigen, dass ein aus einer
Bürgerbewegung in einer Favela entstandenes Projekt verschiedene Bereiche der
Gesellschaft positiv beeinflussen kann, darunter auch für Sozialpolitik, Jugend-
strafvollzug und Jugendfürsorge zuständige Behörden. Ein interessanter und
nützlicher Schritt könnte es sein, diese Kontakte und Wirkungen strukturiert zu
186
Die Autorin kennt beide Redner und ist der Überzeugung, dass die hier zitierten Aussagen ernst
gemeint und nicht etwa Höflichkeitsfloskeln sind.

261
dokumentieren und zwar sowohl aus der Sicht der Organisation als auch aus der
Sicht der beteiligten Personen, Behörden und Firmen, und daraus eine Art Rat-
geber für die Interaktion zwischen diesen verschiedenen Akteuren zu erstellen.
Damit könnte der Blick auf mögliche gemeinsame gesellschaftliche Fortschritte
geöffnet werden.

5.1.3 Nachhaltigkeit

In Wirklichkeit war die Chácara die Türe, die offene Türe zu unserer Zukunft. Die
Chácara war meine Familie, sie half mir, dass ich zu dem wurde, was ich heute bin,
die mir Kraft gab, sich um mich kümmerte. Ja, sie war alles, sie war meine Mutter,
sie war mein Vater, sie war meine Geschwister. Sie war alles für mich, sie war eine
mehr als nur wichtige Sache in meinem Leben. Sie war etwas, das mich geprägt hat,
das mein Leben verändert hat, das nicht so einfach ausgelöscht werden kann, nie-
mals, und alles, was ich von jetzt an erreiche, werde ich dank der Chácara erreichen.
(19-jähriger Junge der Chácara, Eintritt mit 11 J., Austritt mit 19 J., Student der Be-
triebswirtschaft und seit 2004 Erzieher und Englischlehrer der Chácara. Interview,
27. März 2003)

Hohe Nachhaltigkeit wird, wie eingangs dieses Kapitels erwähnt, als „eine dau-
erhafte Fortsetzung der erzielten Nutzen und Wirkungen eines Vorhabens auch
nach dessen Beendigung“ definiert.

Im Fall der Chácara bedeutet dies, dass sich das Konzept der Nachhaltigkeit
darauf bezieht, wie sich das Leben der Jungen nach ihrem Austritt aus dem Pro-
jekt entwickelt.
Ein Hinweis auf die so definierte Nachhaltigkeit ergibt sich aus informellen
Notizen über die zweite Gruppe der Jungen, welche die Autorin bereits im Jahr
1997 für ihre praktische Arbeit in der Chácara und nicht spezifisch für die For-
schungsarbeit zu erstellen begann, weshalb sie nicht vollständig bzw. vollständig
detailliert sind.
Zum Zeitpunkt eines Aufenthaltes der Autorin in der Chácara im Jahr 1997
lebten dort 21 Jungen. Die meisten von ihnen (ca. 12) waren zwischen 13 und 15
Jahre alt, die Mitglieder von zwei kleineren Gruppen (ca. 4 bzw. ca. 3) waren
zwischen 9 und 12 beziehungsweise zwischen 16 und 18 Jahre alt.
Im Jahr 2006, also neun Jahre später, war die Lebenssituation dieser, unter-
dessen bis auf zwei aus der Chácara ausgetretenen Jungen, gemäss den Auskünf-
ten, welche die Autorin beschaffen konnte, die folgende:
Von den 21 Jungen verblieben 15 bis zum 18. Lebensjahr bzw. bis zur Be-
rufstätigkeit in der Chácara, während sechs Jungen das Projekt kurz vor Errei-

262
chung des 18. Lebensjahrs auf eigenen Wunsch verliessen. Es hat sich gezeigt,
dass das Alter von etwa 16 bis 17 Jahren insofern ein kritisches ist, als sich die
Jungen oftmals bereits erwachsen und auf ein eigenständiges Leben vorbereitet
wähnen, dies jedoch noch nicht wirklich sind. Aufgrund der erwähnten Austritte
unternimmt die Chácara seit mehreren Jahren verstärkte Anstrengungen in Rich-
tung der Bindung der Jungen in diesem Alter an das Projekt, indem in der
Chácara motivierende Aufgaben zur Verfügung gestellt und der schulischen
Ausbildung und beruflichen Förderungen zusätzliche Aufmerksamkeit geschenkt
werden. Obwohl gelegentlich noch ein älterer Junge die Chácara verlässt, kommt
dies gemäss den Auskünften von Mitarbeitenden inzwischen nur noch selten vor.
Die der Chácara in Kapitel 5.1.2.1 vorgeschlagene Erstellung einer Fluktuations-
statistik und Erhebung von Austrittsgründen könnten hier weitere Klarheit schaf-
fen.
Was die Jungen betrifft, welche bis zur Erreichung der Volljährigkeit bzw.
der Berufstätigkeit in der Chácara verblieben, waren der Autorin Anfang des
Jahres 2006 folgende Informationen bekannt: Insgesamt acht Jungen standen,
zum Teil seit Jahren, im Arbeitsleben im formellen Sektor. Gegenwärtige und
vorhergegangene Arbeitsbereiche umfassten unter anderem Tätigkeiten in Ad-
ministration/Sekretariat in grösseren Firmen der Region sowie der katholischen
Universität und der Chácara, die Beschäftigung in einer Bäckerei, in einer Bank,
in der Autozulieferindustrie, Englischunterricht in der Chácara und in einer pri-
vaten Sprachschule sowie Stellen als Erzieher in der Chácara, in einem Projekt
der Halbgefangenschaft, als Gründer und Leiter eines Präventionsprojektes für
Kinder in einer Armensiedlung und als Fussballtrainer eines Erstligisten in der
Chácara. Neben ihrer Arbeitstätigkeit besuchten wie bereits erwähnt drei Jungen
die Universität, davon einer in Betriebswirtschaft (3. Jahr), einer in Rechnungs-
wesen und Sport (3. Jahr) und einer in Sozialarbeit (2. Jahr). Häufig üben diese
Jungen mehrere Tätigkeiten nebeneinander aus. So arbeitete der Student der
Sozialarbeit zunächst tagsüber als Erzieher in der Chácara und ist nun als Mitar-
beiter in einem Projekt der Halbgefangenschaft tätig. Er besucht nachts (jeweils
von 19 bis gegen 24 Uhr) die Universität und führt in seiner Freizeit das Projekt,
welches er in der Armensiedlung seiner Herkunft mit seiner Frau und weiteren
Freiwilligen aufgebaut hat und welches etwa 30 Kindern im Alter von etwa 7 bis
12 Jahren Beschäftigung und Nachhilfe ausserhalb der Schulzeit anbietet sowie
Lebensoptionen fern von Drogenhandel und Strasse aufzuzeigen versucht.
Weitere drei Jungen, welche bis zur Erreichung der Volljährigkeit und Be-
rufstätigkeit in der Chácara verblieben waren, übten verschiedene, meist eher
kurzfristige Tätigkeiten aus, und zwar teils im formellen, teils im informellen
Sektor. Einer von ihnen war teilweise in den Bereich illegaler Aktivitäten ge-
rutscht und versuchte, sich wieder davon zu lösen. Ein weiterer hatte sich nach

263
einigen Schwierigkeiten, welche mit seiner ursprünglichen Drogenabhängigkeit
in Verbindung standen, sowohl in seinem beruflichen als auch im familiären
Leben wieder gefangen. Der dritte hatte länger erfolgreich gearbeitet, war dann
jedoch, ausgelöst durch familiäre Probleme, in eine Armensiedlung gezogen, in
der er unter den Druck der dortigen Banden geriet. Nach seinem mit Hilfe der
Chácara verwirklichten Weggang hatte er Mitte des Jahres 2006 wieder einen
festen Wohnsitz sowie einen Arbeitsplatz gefunden.
Von den übrigen vier Jungen, welche bis zur Erreichung der Volljährigkeit
und Berufstätigkeit in der Chácara geblieben waren, konnten zwei beruflich nicht
längerfristig Fuss fassen. Gemäss den Auskünften anderer Jungen stand dies
unter anderem in Zusammenhang mit dem finanziellen Druck, dem die Familien
der Jungen ausgesetzt waren, sowie mit den (illegalen) Einkommensmöglichkei-
ten, welche in den Siedlungen, in die sie zurückkehrten, offen standen. Während
einer von ihnen deshalb zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, verstarb der
andere im Jahr 2004, also drei Jahre nach seinem Austritt aus der Chácara, im
Alter von 21 Jahren im Spitaltrakt eines Gefängnisses an einer Lungenentzün-
dung, die möglicherweise im Zusammenhang mit AIDS aufgetreten war. Ein
weiterer Junge wurde nach seiner Rückkehr zu seiner Familie HIV-positiv und
konsumierte Drogen. Der vierte Junge dieser Gruppe, der im Jahr 1995 als
9-Jähriger in die Chácara gekommen war, hatte sich über die gesamte Zeit seines
Aufenthaltes sehr gut entwickelt. Er lebte zuletzt im Haus der „grossen“ Jungen
in Curitiba, arbeitete und schloss die Schule ab, mit der Absicht, danach die
Aufnahmeprüfung an die Universität zu machen. Im Mai 2005 übersiedelte er in
eine Favela, mit dem Wunsch, dort lebende Verwandte zu unterstützen und ein
selbständiges Erwachsenenleben zu führen. Vermutlich im Zusammenhang mit
dort existierenden Banden sowie finanziellen Problemen, aber auch aufgrund
eines gewissen jugendlichen Übermutes, begann er, Geschäfte zu überfallen und
Kassen auszurauben. Ende Dezember 2005 wurde er im Alter von 19 Jahren
zusammen mit einem Kollegen im Anschluss an einen Raub in einem Super-
markt im Haus, in dem er sich versteckt hatte, von einem Grossaufgebot von
Polizisten erschossen.
Es ist angeführt worden, dass sechs Jungen der im Jahr 1997 in der Chácara
lebenden Gruppe vor Erreichung des Erwachsenenalters ausgetreten sind. Einer
dieser Jungen führte ein von Alkohol und Drogen, aber auch Gewalt geprägtes
Leben auf der Strasse und verbüsst eine längere Gefängnisstrafe. Ein weiterer
verliess die Chácara und kehrte zu seiner Familie zurück, übersiedelte jedoch im
Zusammenhang mit finanziellen Schwierigkeiten und Drogenkonsum nach eini-
ger Zeit wieder auf die Strasse. Wegen Taschendiebstahls und anderer Kleinver-
gehen verbrachte er daraufhin, mit jeweils mehrmonatigen Unterbrüchen, insge-

264
samt drei Jahre in Gefängnissen187. Er hält, ob auf der Strasse oder im Gefängnis,
weiterhin Kontakt mit der Autorin und schreibt ihr, wenn immer dies möglich
ist. Im Jahr 2004 nutzte er einen Aufenthalt in Freiheit dazu, die Chácara aufzu-
suchen und mit den dort lebenden Jungen ein langes Gespräch über seine (äus-
serst beklemmenden) Erfahrungen im Gefängnis zu führen. Dabei riet er ihnen,
ihre Chance in der Chácara besser zu nützen, als er selbst dies getan habe. Über
den Verbleib eines weiteren Jungen ist nichts bekannt; möglicherweise ist er
nicht mehr am Leben. Er war wiederholt zwischen Chácara, Verwandten und
Strasse hin und her gependelt.188 Weitere drei der vorzeitig ausgetretenen Jungen
leben in Favelas bei ihren Familien oder in der Nähe derselben und erhalten sich
mittels Gelegenheitsarbeiten im informellen Sektor. Einer von ihnen teilte der
Autorin im Jahr 2003 mit, dass er es sehr bereue, die Schule nicht beendet zu
haben, und, dass er versuchen wolle, dies nun nachzuholen. Ob ihm dies wirt-
schaftlich möglich sein wird, scheint fraglich.
Wie ist nun die Nachhaltigkeit der Chácara am Beispiel dieser Gruppe zu
beurteilen? In Kapitel 4.3.1.1 wurde erwähnt, dass viele Organisationen Jungen
wie diejenigen der Chácara, welche als „Jungen der Strasse“ ohne erwachsene
Begleitung ganzzeitlich auf der Strasse gelebt hatten, nicht aufnehmen würden,
da die Meinung verbreitet ist, dass bei solchen Jungen keine Hoffnung auf eine
Verbesserung ihrer Situation bestehe. Die Tatsache, dass zwei Drittel (14) der
Jungen der damaligen Gruppe neun Jahre später ein eigenständiges Leben (u.a.
ohne illegale Tätigkeiten) führen, davon acht im formellen Beschäftigungssektor,
dass drei Jungen erfolgreich ein Universitätsstudium absolvieren, vier als Erzie-
her in der Chácara tätig sind und einer, nach mehreren Jahren als Erzieher in der
Chácara ein eigenes Präventionsprojekt für Kinder aufbaut und führt, zeigt ein
ganz anderes, wesentlich positiveres Bild vom Potential dieser Zielgruppe.
Jungen, welche zum Zeitpunkt der Feldforschung im Gefängnis sassen, auf
der Strasse lebten oder in illegale Tätigkeiten involviert waren, konnten nicht
strukturiert zu ihrer Beurteilung der Chácara befragt werden. Es gibt jedoch
verschiedene Hinweise darauf, dass die Chácara auch auf Jungen eine positive
Wirkung gehabt hat, welche als ältere Jugendliche oder junge Erwachsene nach
ihrem Austritt in Schwierigkeiten gerieten. Dazu gehören Aussagen in persönli-

187
In Brasilien gibt es eine „Zero-Tolerance-Policy“. Wer ein zweites Mal bei einem kleinen Verge-
hen wie zum Beispiel einem Taschendiebstahl erwischt wird, erhält automatisch eine bis zu
zweijährige Gefängnisstrafe. Der Autorin sind mehrere Gefangene bekannt, die wegen eines –
wiederholten – Diebstahls (zum Beispiel eines Pullovers und eines T-Shirts) zu zwei Jahren Ge-
fängnis verurteilt wurden und eine noch längere Strafe als diese absitzen mussten, weil vergessen
wurde, sie nach Ablauf der Strafe zu entlassen.
188
Bevor er, beinahe volljährig, endgültig austrat, sorgte er dafür, dass einer seiner Cousins und
über diesen dessen jüngerer Bruder von der Strasse in die Chácara eintreten konnten. Beide sind
in der Chácara geblieben und entwickeln sich persönlich, schulisch und beruflich positiv.

265
chen Briefen des oben erwähnten Jungen, der als junger Erwachsener wiederholt
Gefängnisstrafen wegen Kleinkriminalität abgesessen und mit Drogenabhängig-
keit zu kämpfen hat, sowie die Tatsache, dass er eine Haftentlassung zur Bera-
tung der noch in der Chácara lebenden Jungen nützte. Aufschlussreich erscheint
zudem die Beobachtung, dass die meisten Jungen, welche länger in der Chácara
lebten und später in schwierige Situationen gerieten, mit wenigen Ausnahmen
den Kontakt mit dem Projekt aufrechterhalten und sich positiv über dieses äus-
sern.
Wie schwierig Nachhaltigkeit jedoch zu bewerten ist, zeigt der Fall des
Jungen, welcher sich während etwa acht Jahren in der Chácara persönlich und
schulisch sehr gut entwickelte und dann im Anschluss an einen Raub in einem
Supermarkt zu Tode kam. In einen Raub war er beim Eintritt in die Chácara als
kleiner Junge nie verwickelt gewesen. Während sechs oder sieben Jahren war er
einer der sich sehr gut entwickelnden Jungen, der häufig als positives Beispiel
erwähnt wurde. An seinem Fall zeigt sich besonders dramatisch, dass die
Chácara die Entwicklung und das Schicksal eines Jungen nicht vollständig und
nicht für immer positiv beeinflussen kann. So schreibt der ältere, ebenfalls in der
Chácara aufgewachsene Bruder des Jungen in seinem Nachruf:

[Mein Bruder] war etwas Besonderes für alle, die ihm begegneten. Er gewann Men-
schen leicht für sich. Es gelang ihm, zu einer Person mit Gefühlen, Charakter und
Haltung zu werden. Die Chácara machte ihn zum Mann und rechten Menschen.
Aber Menschen begehen Fehler. Seiner kostete ihn das Leben. [Mein Bruder] hatte
eine gute Ausbildung, aber er liess sich mit den falschen Leuten ein. Er begann,
Drogen zu nehmen, und, als wir kein Geld hatten, zu stehlen. (...) Am Tag des Rau-
bes, bei dem er starb, stritten wir beinahe, weil ich nicht wollte, dass er hinging. Er
sagte, dies sei der letzte. Er werde Geld beschaffen für Essen, Miete und einen Aus-
weis für eine Bewerbung. (21-jähriger ehemaliger Junge, Eintritt Ende 1994, Aus-
tritt Ende 2002, Brief an den Verein Freunde brasilianischer Strassenkinder, Mai
2006)

So stellt sich bezüglich der Nachhaltigkeit die Frage, welcher Grad der Nachhal-
tigkeit angestrebt werden kann und soll, und in welchem kleineren oder grösse-
ren Zeitraum nach Austritt des Jungen aus der Chácara diese beurteilt werden
soll.
Obwohl die Chácara aufgrund der hier erwähnten Informationen als nach-
haltig bezeichnet werden kann, wäre eine spezifische Untersuchung der Nachhal-
tigkeit ihrer Wirkung auf die Jungen sehr wünschenswert. Dazu würde gehören,
sinnvolle und realistische Kriterien der Nachhaltigkeit einer solchen Organisati-
on zu definieren, welche die Entwicklung der von ihr betreuten Personen stark
fördern, deren Zukunft jedoch nicht vollumfänglich beeinflussen kann.

266
5.2 Wahrgenommene Lebensqualität in der Organisation

Ich stand mit dem Auto an einer roten Ampel in Curitiba und hatte das Fenster her-
untergelassen. Da kam ein etwa dreizehnjähriger Junge ans Fenster. Er hielt ein
Messer in der Hand und sagte mit rauer und bedrohlich klingender Stimme: „He,
rück dein Geld heraus!“ Ich sagte: „Kenne ich dich nicht aus der Chácara der Jungen
von Quatro Pinheiros?“ Da wurde er sofort ganz rot im Gesicht vor Verlegenheit,
versteckte das Messer hinter seinem Rücken und sagte: „Tut mir leid, Tante189, bitte
entschuldige.“ Dann ging er vom Auto weg an den Strassenrand. Dort drehte er sich
noch einmal um und winkte mir zu.
Frage: Kanntest Du ihn denn von der Chácara?
Nein (schmunzelt), aber die meisten Jungen der Strasse wissen von der Chácara und
halten sie für ein gutes Projekt, in dem die Jungen gut behandelt werden. Deshalb
würden sie niemandem von dort etwas antun. (Mündliche Mitteilung einer freiwilli-
gen Mitarbeiterin der Chácara, April 2005. Zwei weitere Frauen erzählten der Auto-
rin ähnliche Geschichten.)

Im Zusammenhang mit der effektiven Zielerreichung durch die Chácara wurde


bereits erwähnt, dass diese die von ihr angestrebten Ziele nur erreichen kann,
wenn die Jungen sie für ein gutes Projekt halten, sich auch wirklich in ihr nieder-
lassen und längerfristig in ihr bleiben. Da der Aufenthalt der Jungen in der
Chácara im Gegensatz zu vielen anderen Institutionen freiwillig ist, ist die
Chácara in dieser Hinsicht besonders gefordert.

Als Qualität definiert werden soll hier deshalb der Grad der Lebens- und Orga-
nisationsqualität, welchen die Zielgruppe während ihres Aufenthaltes dem Pro-
jekt aufgrund ihrer eigenen Kriterien (sic!) zuweist. Es wird als Ergänzung zum
vorgängig vorgestellten Konzept von Qualität als Relevanz, Effektivität, Effizienz
und Nachhaltigkeit verstanden.

Im Rahmen der Forschungsarbeit interessierte, welche qualitativen Anforderun-


gen an Wohnheime für Jungen der Strasse in den Texten der Kinder und Jugend-
lichen der Chácara und in den Interviews mit ihnen genannt werden, und welche
davon sie gemäss ihren eigenen Berichten in der Chácara erfüllt oder nicht erfüllt
sehen.
Um dies zu erheben, wurden insgesamt 172 Textstellen analysiert, in wel-
chen die Jungen Aspekte der Chácara sowie anderer Organisationen, welche sie
aus eigener Anschauung kannten, explizit oder im Kontext als positiv, negativ
oder auch wichtig bezeichnet hatten. Die Textstellen umfassen den Zeitraum von

189
Mit Tante, „tia“, werden sowohl mit der Familie befreundete Frauen als häufig auch in Projekten
arbeitende Frauen angesprochen.

267
1994 bis 2004 und entstammen etwa hälftig von in Zusammenhang mit der For-
schung gemachten und davon unabhängigen Aussagen von über 40 Jungen aller
Altersstufen.
Die folgende Tabelle zeigt die aufgrund einer induktiven Analyse gebilde-
ten Dimensionen und Kategorien der Qualität, welche in den genannten Text-
stellen vorkommen. Dabei ist zu beachten, dass Textstellen häufig mehrere Aus-
sagen beinhalteten, die entsprechend in unterschiedliche Kategorien Eingang
fanden.

Projekt allgemein besser als Leben


Zusammenleben der Jungen (60)
vorher (28)
• Allgemein (10) • Besser als Strasse (14)
í Gutes Zusammenleben, gutes Mitei-
• Besser als ausserhalb des Projektes (7)
nander (9)
í Man lernt Zusammenleben (1) • Besser als Familie (3)
• Keine Gewalt, keine Misshandlung (21) • Keine Todesgefahr (2)
• Respekt füreinander und für Erziehende
• Keine Polizisten/Verhaftung (1)
(10)
í Besitz respektieren (nicht stehlen,
• Keine bösen Leute/Gefahren (1)
nicht in Sachen anderer wühlen) (4)
í Selbstrespekt (2)
Aufenthaltsbedingungen und -regeln
í Respekt für andere (2)
(22)
• Organisation, die längerfristig besteht
í Neue gut behandeln (1)
(12)
• Freiwilliger, freiheitlicher Aufenthalt
í Respekt für Erziehende (1)
(8)
• Friede, kein Streit, Ruhe (7) • Ort, an dem man bleiben will (2)
• Freundschaft, Zuneigung (6)
• Miteinander reden (5) Gesundheit (22)
• Keine Drogen, Alkohol und Zigaretten
í Fluchen nicht (3)
(16)
í Können miteinander reden (1) • Möglichkeit, sich gut auszuruhen (3)
í Verspotten einander nicht (1) • Keine Verletzungsgefahr (1)
• Halten Ordnung (1) • Von Drogen gesunden können (1)
• Bietet Hygiene (1)

268
Verhalten der Erziehenden (41) Materielle Grundversorgung (19)
• Keine Aggression, keine Gewalt (12) • Nahrung (10)
• Allgemein: hat alles, was man braucht
• Gerechte, lehrreiche Disziplinierung (8)
(4)
í Können mit Jungen reden, wissen wie
• Decken/Bett (2)
(5)
í Auch mal Lob, Belohnung, Dank (3) • Dach über dem Kopf (2)
í Keine Überreaktionen (2) • Kleider (1)
í Lehrreiche Strafen (2)
í Reden mit Jungen (1) Aktivitäten (27)
í Lösen Konflikte im Gespräch (1) • Schulbesuch (8)
í Behandeln Jungen gerecht (1) • Spielen, Freizeit (6)
• Echtes Interesse und Zuneigung (7) • Arbeit (4)
í Berufsbildung/Vermittlung von Arbeit
• Pädagogische Kompetenz allgemein (5)
(2)
í Handeln pädagogisch (2) í Mitarbeiten/mithelfen (1)
í Lernen Erziehen immer besser (1) í Keine Sklavenarbeit (1)
í Haben pädagogische Ausbildung (1) • Ausflüge (3)
í Haben pädagogische Fähigkeiten (1) • Tiere (3)
• Rolle (3) • Sport (1)
í Ansprechperson im Konfliktfall (1) • Computer (1)
í Helfen bei Krisen (1) • Musik (1)
í Sind Vorbild (1)
• Sind nicht von der Polizei (3) Ort (19)
• Organisation/Koordination (3) • Distanz zu Drogen/Strasse (15)
í Arbeiten zusammen/besprechen sich
• Natur/frische Luft (3)
(1)
í Planen Aktivitäten (1) • Keine Distanz zur Familie (1)
í Sind organisiert (1)

Abbildung 21: Dimensionen und Kategorien der von den Jungen erwähnten
Aspekte der Qualität von residentiellen Organisationen für
Jungen der Strasse (in Klammer Anzahl Nennungen)

269
Wie die Tabelle zeigt, erwähnen die Jungen Aspekte von Qualität, welche sich in
acht Dimensionen gliedern lassen. Diese stehen teilweise im Zusammenhang mit
den Zielen der Jungen, so zum Beispiel die Erreichung eines von positiven zwi-
schenmenschlichen Beziehungen geprägten Umfeldes (siehe Kapitel 4.3.2). Zu-
dem beziehen sie sich jedoch auch auf Aspekte der organisationalen Strukturen
und Prozesse. Diese betreffen die Lebensbedingungen während des Aufenthalts
in der Chácara und anderen Projekten.
Dabei fallen besonders viele Nennungen in zwei Dimensionen, bei welchen
es um die Beziehungen zwischen den in der Organisation lebenden und arbeiten-
den Menschen und speziell um das Handeln zwischen ihnen geht. (Dimensionen
„Zusammenleben der Jungen“ (60 Nennungen) und „Verhalten der Erziehenden“
(41 Nennungen). Aus den beiden Dimensionen entsteht der Eindruck, dass sich
die Jungen eine Organisation wünschen, in welcher ein Miteinander besteht, wel-
ches von echter Zuneigung und Respekt sowohl der Jungen untereinander als
auch zwischen den Erziehenden und den Jungen geprägt ist und nicht durch
aggressive und gewalttätige Interaktionen, sondern durch Gespräche reguliert
wird. Im Fall der Erziehenden scheint dies für die Jungen auch zu heissen, dass
diese eine pädagogisch kompetente Rolle einnehmen. Das folgende Zitat eines
12-jährigen Jungen illustriert dies:

Frage: Stellen wir uns vor, dass es da ein Projekt gibt, und wir gehen zum ersten
Mal dorthin und wollen wissen, ob es ein gutes Projekt ist oder ein schlechtes, was
sind dann die Dinge, die wir uns ansehen müssen oder von diesem Projekt wissen
müssen?
Antwort: Man sieht es am Zusammenleben und auch an den Erziehenden und ihrer
Organisation, wie sie ihre Sitzungen machen, wie sie leben, daran sehen wir es.
Frage: Und wie muss ein Erzieher sein?
Antwort: Ein Erzieher muss Geduld haben, um sich um 40 oder 50 Jungen zu küm-
mern, nicht wahr.
Frage: Und was dürfen Erziehende nicht tun?
Antwort: Erziehende dürfen nicht aggressiv auf einen Jungen losgehen wegen einer
Kleinigkeit; sie dürfen nicht physisch aggressiv sein. Zum Beispiel, wenn [ein Jun-
ge] ein Durcheinander auslöst und ein Erzieher kommt und ihn am Ohr zieht und
ihm ein paar haut, dann ist das nicht das Richtige. Das Richtige ist, dass er sich mit
dem Jungen hinsetzt und mit ihm spricht. (...)
Frage: Stellen wir uns vor, wir sind Erzieher. Wir können hauen, wir können ein
Gespräch führen. Wenn wir den Jungen hauen, was passiert dann?
Antwort: Ich würde mit Fernando (dem Koordinator) sprechen, und Fernando würde
mit dem Erzieher sprechen. (...)
Frage: Und wenn der Erzieher mit dir sprechen würde? Ist dann etwas anders?
Antwort: Ja! Weil er dann nur redet, nicht auf den Jungen losgeht und ihn auch nicht
verletzt, und auch, weil wir durch das Gespräch mehr begreifen. Denn, wenn alles

270
durch Schläge gelöst würde, würden wir niemals etwas begreifen. (12-jähriger Jun-
ge, Eintritt 27. August 2002, Interview, April 2004)

Ein erwachsen gewordener Junge kommentiert denselben Aspekt:

Bevor ich mit [den Erziehenden der Chácara] gesprochen hatte, dachte ich, dass sie
so seien, wie die missratenen Kerle in den anderen Projekten; ich dachte, dass sie
auf dieselbe Art „Erzieher“ seien. Als ich sie dann kennen lernte, sah ich aber, dass
sie ganz anders waren, wirklich feine Leute, die eine gute Arbeit machten. Alles an
ihnen war gut. Sie gaben uns Unterstützung, lehrten uns, was falsch ist und was rich-
tig, erzogen uns wirklich. Sie nahmen ihre Aufgabe als Erziehende wahr und schlu-
gen uns nicht. Sie erzogen uns auf die richtigste Weise, die es gibt, nämlich durch
Gespräche und durch Zeigen [wie man Dinge tut]. Nicht so, wie in den anderen Pro-
jekten, wo die Erziehung, die jene Typen auf uns anwendeten, auf Prügeln und ande-
rem mehr beruhte. (20-jähriger Junge der Chácara, Eintritt Ende 1994, Austritt Ende
2002, seit Mitte 2003 Vorstandsmitglied der Chácara. Interview, 27.3.2003)

Die Autorin vermutet, dass das Verständnis der Jungen dafür, wie ein pädago-
gisch kompetentes Verhalten seitens der Erziehenden aussieht, durch ihre Erfah-
rung in der Chácara zusätzlich gestärkt worden ist. Aus der Indignation, mit der
auch neu eingetretene Jungen über Angestellte anderer Organisationen und Insti-
tutionen, aber generell auch von anderen Erwachsenen im Umfeld der Familie
oder der Strasse berichten, von deren Hand sie Erniedrigung, Gewalt und/oder
Missbrauch erlebt haben, leitet die Autorin jedoch ab, dass sie durchaus bereits
eine Vorstellung davon mitbringen, welche Verhaltensweisen von verantwortli-
chen Erwachsenen als negativ und welche als positiv zu beurteilen sind.
Im Weiteren geht aus den Aussagen der Jungen hervor, dass für sie ein gu-
tes Wohnheim eine echte Alternative darstellt zu den Bedingungen, welche sie
andernorts erlebt haben, das heisst, dass das Leben in ihm besser ist als das frü-
here (Dimension „allgemein besser als vorher“). Der Aufenthalt darin soll auf
freiwilliger Basis möglich und freiheitlich gestaltbar sein, und zwar einerseits,
weil der Junge dies so wünscht, und anderseits, weil die Organisation ja länger-
fristig besteht (Dimension „Aufenthaltsbedingungen und -regeln“). Diese Aussa-
ge bezieht sich unter anderem klar auf die Nachhaltigkeit der Organisation an
sich, und zwar im Sinne einer einfachen Definition von Nachhaltigkeit als Be-
ständigkeit. In den Augen der Jungen muss eine Institution sowohl verfügbar als
auch (auf freiwilliger Basis) zugänglich sein, damit sie als positiv empfunden
wird.
Wichtig ist den Jungen ebenfalls, dass die Organisation ihrer Gesundheit
zuträglich ist, wozu sie vor allem das Nichtvorhandensein von Drogen, Alkohol
und Zigaretten zählen (Dimension „Gesundheit“).

271
Ein gutes Projekt stellt in den Augen der Jungen auch ihre materielle Grundver-
sorgung sicher (Dimension „Materielle Grundversorgung“) und bietet verschie-
dene Aktivitäten der Freizeit, aber auch der Berufsbildung, lässt die Mitarbeit der
Jungen zu, missbraucht deren Arbeitskraft aber nicht (Dimension „Aktivitäten“).
Im Weiteren sind die Jungen der Meinung, dass ein gutes Projekt fern von Dro-
gen und Strasse lokalisiert sein muss (Dimension „Ort“).
Auffällig ist, dass die Jungen sich im Rahmen ihrer Wünsche an die Quali-
tät im Projekt nicht in erster Linie hedonistisch äussern, und dass sie auf Aspekte
der Organisation an sich Bezug nehmen, so zum Beispiel bei der Erwähnung von
„lehrreichen Strafen“ und in detaillierten Beschreibungen der Anforderungen an
Erziehende. Aus Aussagen wie der oben zitierten entsteht der Eindruck, dass die
hier angesprochenen Jungen ein tieferes Verständnis für pädagogische Verhal-
tensweisen und für die Strukturen ihrer Organisation haben. Dies ist vermutlich
nicht zuletzt eine Folge des hohen Grades ihres Einbezugs sowohl in die konzep-
tionelle als auch in die praktische Gestaltung und Entwicklung der Chácara, wie
sie in Kapitel 4.5.2.1 beschrieben wurde.
Wie in Kapitel 4.1.3.4 gezeigt, haben die Jungen ihren Lebenskontext auf
der Suche nach besseren (Über-)Lebensbedingungen immer wieder verändert
oder verändern müssen. Es kann vermutet werden, dass diese Tatsache ihr Be-
wusstsein für Strukturen und Abläufe in den verschiedenen Kontexten zu einem
Grad gefördert hat, der signifikant über das Bewusstsein derjenigen Kinder und
Jugendlichen hinausgeht, welche nie mit solchen Situationen konfrontiert waren.
Im Weiteren geht aus den Aussagen der Jungen auch hervor, dass ihre Qua-
litätskriterien häufig auf einem Vergleich verschiedener Kontexte und besonders
auch verschiedener Institutionen basieren, in denen sie sich schon aufgehalten
haben. Die meisten Jungen haben sich vor der Chácara in anderen Institutionen
aufgehalten, die sie später wieder verliessen. Die Frage der Evaluation der Quali-
tät eines Projektes stellt sich für sie ganz konkret und ist, angesichts der in Kapi-
tel 1 zitierten Berichte über Missstände in solchen Organisationen, für ihr Wohl-
ergehen von grosser Bedeutung.
Die oben aufgeführten Dimensionen wurden induktiv aus Aussagen gewon-
nen, welche die Jungen sowohl zur Chácara, als auch zu anderen Institutionen
gemacht hatten. Wie beurteilten sie nun die Qualität der Chácara bezüglich die-
ser Dimensionen?
Das „Zusammenleben der Jungen“ in der Chácara wurde von den Jungen
mit 31 Nennungen positiv beurteilt. In 4 Kategorien wurde darauf hingewiesen,
dass sich dieses über die Zeit verbessert hätte („Selbstrespekt“, „Respekt für
andere“, „Respekt für Erzieher“ und „Miteinander-Reden“). Der Aspekt „Friede,
kein Streit, Ruhe“ wurde je viermal positiv und negativ erwähnt. Eine mögliche
Interpretation dafür ist, dass einerseits in der Chácara mehr Friede als zum Bei-

272
spiel auf der Strasse wahrgenommen wird, dass es aber trotzdem zu Streitereien
unter den Jungen kommt. In 2 Textstellen beklagten Jungen den Gebrauch von
Fluchwörtern unter den Jungen und in 1 mangelnde Ordentlichkeit der Jungen.
Im Gegensatz dazu gab es nur 1 positive Erwähnung bezüglich des „Zusam-
menlebens der Jungen“ in anderen Institutionen, jedoch 14 negative Erwähnun-
gen, wovon sich 11 auf Streit und (u.a. sexuelle) Gewalt sowie 3 auf Diebstahl
unter den Jungen bezogen. In 1 Textstelle wurde hingegen die Absenz von Dieb-
stählen unter den Jungen anderer Projekte positiv erwähnt.
Das „Verhalten der Erziehenden“ der Chácara wurde von den Jungen mit
15 Nennungen positiv beurteilt. In 3 Kategorien wiesen sie darauf hin, dass sich
das Verhalten der Erziehenden gegenüber früher verbessert habe („keine Aggres-
sion/Gewalt“, „können mit Jungen reden, wissen wie“ und „keine Überreakti-
on“). Während in 1 Textstelle erwähnt wurde, dass gutes Verhalten belohnt wer-
de, hielten 2 Textstellen fest, dass den Jungen für ihre Mitarbeit zuwenig gedankt
werde. Eine weitere Aussage bezog sich auf mangelnde Aktivitätenplanung sei-
tens der Erziehenden.
Über das „Verhalten der Erziehenden“ in anderen Projekten äusserten sich
die Jungen der Chácara mit der Ausnahme von drei Erwähnungen negativ. In
insgesamt 16 Textstellen kritisierten sie mangelnde Fachkompetenz, mangelnde
Motivation sowie in 6 Fällen Gewalt und Misshandlungen. In 3 Textstellen wur-
de im Weiteren angemerkt, dass Polizisten anstelle von Erziehenden in den Pro-
jekten arbeiteten.
Mit 27 positiven Nennungen wurde die Chácara von den Jungen als „All-
gemein besser als vorher“ geschildert. Ebenfalls positiv erwähnt wurde, dass ein
längerfristiger Aufenthalt in der Chácara möglich sei (4 Nennungen) sowie, dass
im Projekt Freiheit herrsche. Im Gegensatz dazu wurde bezüglich anderer Pro-
jekte kritisiert, dass diese nicht längerfristig Bestand hätten (12 Nennungen),
bzw. dass sie derart seien, dass man nicht längerfristig in ihnen verbleiben wolle
(2 Nennungen). In 4 Textstellen wurde erwähnt, dass den Jungen in anderen Pro-
jekten keine Freiheiten eingeräumt würden bzw. dass sie in diesen eingesperrt
seien (3 Nennungen).
Bezüglich der Dimension „Gesundheit“ in der Chácara wurde in 2 Textstel-
len erwähnt, dass es zu Beginn der Chácara noch zu Problemen mit Drogen und
Zigaretten gekommen sei. Positiv erwähnt wurde, dass hier keine Verletzungs-
gefahr bestehe. Im Gegensatz dazu kritisierten die Jungen in 4 Textstellen den in
anderen Projekten vorkommenden Drogenkonsum unter den Kindern und Ju-
gendlichen, während in 1 Textstelle ein Junge die Absenz von Drogenkonsum in
einem anderen Projekt positiv erwähnte.
Die „Materielle Grundversorgung“ in der Chácara wurde mit 12 Nennungen
positiv beurteilt; in 1 Textstelle wurde darauf verwiesen, dass zu Beginn des Pro-

273
jektes teilweise nicht genug Nahrung vorhanden gewesen sei. Ebenfalls in 12
Nennungen erwähnten die Jungen die „Materielle Grundversorgung“ in anderen
Projekten positiv.
Auch die „Aktivitäten“ der Chácara wurden von den Jungen mit insgesamt
17 Nennungen positiv beurteilt („Schulbesuch“ (7), „Spielen/Freizeit“ (2), „Be-
rufsbildung/Vermittlung Arbeit“ (2), „mitarbeiten/helfen“ (1), „Ausflüge“ (2),
„Tiere“ (2), Sport (1)). Die „Aktivitäten“ in anderen Projekten wurden in 5 Nen-
nungen negativ bewertet (keine Freizeit/Spielmöglichkeiten (3), Sklavenarbeit
(1) und keine Schule (1)). In 1 Nennung wurde hingegen die Möglichkeit des
Schulbesuchs in einem anderen Projekt positiv erwähnt.
Der „Ort“ der Chácara wurde von den Jungen in 11 Nennungen ebenfalls
positiv beurteilt („Distanz Drogen/Strasse (8), „Natur/frische Luft“ (3). In 1
Nennung wurde hingegen die geographische Distanz der Chácara von der Fami-
lie des Jungen bemängelt. Der „Ort“ anderer Projekte wurde von den Jungen kri-
tisiert, und zwar in 14 Nennungen, welche mangelnde geographische Distanz der
Projekte zur Strasse und zum Drogenhandel in den Armensiedlungen betrafen.
Ganz allgemein äussern sich die Jungen sehr positiv über die Chácara. Aus
vielen informellen Gesprächen ging hervor, dass sie in anderen Projekten nicht
geblieben waren, weil eine oder mehrere ihrer Anforderungen – wie zum Bei-
spiel der Wunsch nach Gewaltfreiheit – nicht erfüllt wurden. So erwähnten sie
wiederholt, dass die Chácara ihre letzte Chance bzw. Hoffnung gewesen sei, und
dass sie ohne diese heute wohl nicht mehr am Leben wären.
Die Anforderungen der Kinder und Jugendlichen an ein residentielles Pro-
jekt müssen erfüllt werden, damit diese im Projekt verbleiben und das Projekt
seine Arbeit in Richtung der geplanten Wirkungen entfalten kann. In welcher
Weise kann dies am besten geschehen?
Die hier erwähnten Aussagen der Jungen geben wohl einen Einblick in die
Anforderungen, welche sie an die Lebensqualität in der Chácara und in anderen
Institutionen stellen. Dieser Einblick kann jedoch nicht als vollständig bezeich-
net werden, da er nicht einer diesbezüglich gezielten Untersuchung entspringt.
Wenn zuvor die Kontingenz und Dynamik der Organisation erwähnt wurde,
muss an dieser Stelle zudem darauf hingewiesen werden, dass es sich bei den
erwähnten Aussagen um Momentaufnahmen des jeweiligen Zeitpunkts des In-
terviews oder des Verfassens eines Textes handelt sowie um die persönlichen
Ansichten einzelner Jungen. Während ihren Aufenthalten in der Chácara hat die
Autorin den Eindruck gewonnen, dass sich die Bedürfnisse der Jungen über die
Zeit ändern können. So wurden zum Beispiel im Jahr 1995 Computer in der Chá-
cara nie erwähnt, während im Jahr 2005 mehrere neu eingetroffene, jüngere
Jungen an ihrem ersten Tag forderten, am Computer- und Englischunterricht
teilnehmen zu können, da sie sonst das Projekt wieder verlassen würden. Andere

274
Forderungen, wie diejenige nach einem positiven zwischenmenschlichen Um-
gang unter Kindern und Erwachsenen oder nach einer Abwesenheit von Gewalt
und Misshandlung, scheinen eher stabil zu bleiben. In weiteren Bereichen schei-
nen die Anforderungen unter anderem vom Bewusstsein der Jungen um pädago-
gische und organisationale Fragen oder auch von ihrem persönlichen Entwick-
lungsstand abzuhängen, so zum Beispiel, wenn sie „lehrreiche Strafen“ verlan-
gen.
Diese Überlegungen führen zum Schluss, dass in einem Projekt, welches,
wie die Chácara, von seinen jugendlichen und erwachsenen Mitgliedern als Le-
bensraum verstanden wird, Qualität nicht nur hinsichtlich der Organisationsziele
beurteilt werden kann, sondern auch in Bezug zur Lebensqualität im Projekt
gesetzt werden muss. Die Anforderungen der Kinder und Jugendlichen an die
Chácara müssen als Qualitätsdimension verstanden werden, weil sie es sind, die
anwesend und motiviert sein müssen, wenn die Organisation ihre Ziele erreichen
soll. Deshalb wird hier die von den Betreuten wahrgenommene „Lebensqualität
im Projekt“ für residentielle Projekte als eigentliches Qualitätskonzept definiert,
und zwar zusätzlich zu dem in Kapitel 5.1 dargestellten Konzept von Qualität als
Relevanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit.
Es wird Organisationen mit ähnlicher Ausrichtung empfohlen, die Anforde-
rungen der jeweiligen Gruppe von Kindern und Jugendlichen (und unter Um-
ständen auch diejenigen der erwachsenen Mitarbeitenden) an die Organisation zu
erheben. Darüber hinaus sollte mit allen Beteiligten ein Dialog über Verhaltens-
weisen – darunter auch pädagogische – und über strukturelle und prozessuale
Aspekte geführt werden, welche den Organisationsalltag beeinflussen. Diese
Massnahme kann der Entwicklung des Qualitätsverständnisses und -bewusst-
seins in der Organisation dienlich sein, indem sie zum Beispiel das Verständnis
der betreuten Kinder und Jugendlichen für nötige, aber nicht in jedem Moment
angenehme Aspekte wie zum Beispiel das Aufräumen des eigenen Zimmers, den
Schulbesuch und andere mehr fördert.
Auf dieser Basis sollte ein eigentliches Management der Qualitätsdimension
„Lebensqualität in der Organisation“ möglich sein, und zwar nicht nur zur Stei-
gerung des Wohlbefindens der Kinder und Jugendlichen, sondern vor allem auch
zur entsprechenden Überprüfung und Weiterentwicklung von organisationalen
Strukturen und Prozessen, der Selektion und Ausbildung von Mitarbeitenden und
anderem mehr.

275
5.3 Adaptivität der Organisation

Die beiden bisher vorgestellten, einander ergänzenden Konzepte von Qualität


erlauben es, Aspekte der Organisation in Momentaufnahmen zu bewerten. Wie
bereits erwähnt, werden sie durch diese Charakteristik der Dynamik und der
Kontingenz von Organisationen jedoch nicht vollumfänglich gerecht.
Dynamik und Kontingenz von Organisationen bedeuten, dass in Organisati-
onen ständig adaptive Prozesse ablaufen müssen, mit denen sie an innere und
äussere Veränderungen angepasst werden. Dabei geht es sowohl um eine Auf-
rechterhaltung von Aspekten der Organisation trotz äusserer und innerer Verän-
derungen als auch um eine Anpassung von Aspekten der Organisation aufgrund
von Veränderungen. Wehner, Ostendorp & Ostendorp (2002, S. 48) sprechen da-
rum von einer „Balance zwischen Beständigkeit (...) und Wandel über die Zeit
hinweg“. Die Erziehenden der Chácara erwähnen im Zusammenhang mit der
Beständigkeit oft die „Identität“ der Chácara. Im Jahr 2003 fiel zudem auf, dass
sie begannen, den Begriff der „Veränderung“ („mudança“) der Organisation
durch den Begriff „Erneuerung“ („renovação“) zu ersetzen.
Die allgemeinen Definitionen der bereits vorgestellten Konzepte der Quali-
tät – Relevanz der Ziele, Effektivität der Zielerreichung, Nachhaltigkeit und
wahrgenommene Lebensqualität – verändern sich nicht aufgrund des organisa-
tionalen Wandels. Was sich jedoch verändert, sind die Inhalte und die organisa-
tionalen Strukturen und Prozesse, welche mittels dieser Qualitätskonzepte be-
wertet werden. Dies bedeutet, dass der organisationale Wandel aktiv gestaltet
werden muss, um die Qualität wie bisher zu erreichen oder gar zu verbessern.
Eine aktive und gesteuerte Wandlung wird als Organisationsentwicklung
bezeichnet. Dabei geht es nicht nur um Verbesserungen. Organisationen müssen
aufgrund ihrer Dynamik und Kontingenz nur schon deshalb entwickelt werden,
damit ihre bestehende Leistungsfähigkeit aufrechterhalten werden kann. Liefert
sich eine Organisation passiv und/oder ungesteuert inneren und äusseren Verän-
derungen aus, verliert sie ihre Leistungsfähigkeit und sogar ihre Daseinsberech-
tigung unter Umständen sehr schnell.
Es wurde bereits erwähnt, dass es Institutionen für Kinder und Jugendliche
der Strasse gibt, die sich ab einem gewissen Punkt nicht mehr weiterzuentwi-
ckeln scheinen. Es wird vermutet, dass dieser Punkt möglicherweise bei denjeni-
gen Institutionen, deren Mitglieder über kein Konzept der Organisation verfügen,
besonders früh in der Institutionsgeschichte auftritt. Weiter kann angenommen
werden, dass er oft dann eintritt, wenn in der Organisation der Eindruck entsteht,
man habe nun alles, was man brauche – zum Beispiel genügend Finanzen –, oder
man habe nun die Organisation in ihren Strukturen so aufgebaut, wie es gut sei.
Die Autorin hat im Staat Paraná drei einheimische Organisationen kennen ge-

276
lernt (zwei kirchliche und eine private), bei denen dies geschehen zu sein scheint.
Ein Kennzeichen war die – dank ausländischer Finanzierung – sehr gute physi-
sche Infrastruktur dieser Institutionen kombiniert mit einer rasch zurückgehen-
den Zahl von Kindern und Jugendlichen, welche in der jeweiligen Infrastruktur
lebten. Da es in diesen Institutionen keine Misshandlung und ähnliche Probleme
gab, lag die Interpretation nahe, dass sie im Gegensatz zu früher nicht mehr der-
gestalt organisiert waren, dass sie den Bedürfnissen ihrer Zielgruppen und den
Bedingungen ihrer Umwelt gerecht wurden. Unabhängig voneinander gemachte
Bemerkungen von Verantwortlichen dieser drei Institutionen unterstützten diese
Vermutung, äusserten sie doch Erleichterung darüber, dass ihre Institutionen
jetzt endlich nach Jahren des Kampfes gesichert seien und nicht mehr die gros-
sen und ermüdenden Anstrengungen der ersten Jahre unternommen werden
müssten.
Die bereits vorgestellten Qualitätskonzepte beinhalten die Bewertung des
Grades, zu dem festgelegte Anforderungen von der Organisation erreicht wur-
den. Im Zusammenhang mit den Zielen der Chácara wurde erwähnt, dass die
Definition solcher Anforderungen gerade dann schwierig ist, wenn diese sich auf
menschliche Entwicklung beziehen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen
entsteht das Bedürfnis nach einer Definition von organisationaler Qualität, wel-
che sich auf den Weg der Organisation hin zu „Relevanz“, „Effektivität“ und
„Nachhaltigkeit“ sowie „wahrgenommene Lebensqualität“ bezieht.
Dafür bietet sich der Blick auf die adaptiven Aspekte in der Organisation
an. In Kapitel 2.5 wurden im Rahmen der Einführung in die Theorie Aspekte von
Organisationen aufgeführt, welche zu deren Adaptivität – ihrer inhärenten An-
passungsfähigkeit – beitragen. Diese sind:

ƒ Die laufende Durchführung eines antizipierenden und proaktiven Organisa-


tionsentwicklungszyklus.
ƒ Die organisationale Kapazität zu dessen effektiver Gestaltung und Durch-
führung.

Es ist einsichtig, dass diese Aspekte aufgrund der Erkenntnisse der Organisati-
onslehre zu Kontingenz und Dynamik der Organisation für alle Arten von Orga-
nisationen relevant sind. In der Folge sollen sie nun anhand des Beispiels der
Chácara näher erläutert werden. Dabei werden die im vorgängigen Kapitel im
Rahmen der Phänographie dargestellten Erkenntnisse beigezogen und hinsicht-
lich der Adaptivität der Chácara diskutiert.

277
5.3.1 Organisationsentwicklungszyklus

Es muss in der Organisation ein Organisationsentwicklungszyklus vorhanden


sein, damit diese sich an veränderte äussere und innere Umstände anpassen kann.
Ein solcher besteht aus einer Abfolge von Analyse, Planung, Handlung, Analy-
se/Evaluation und erneuter Planung und Handlung. Wie in Kapitel 2.5.2 darge-
stellt, werden diese Elemente von verschiedenen Autoren unterschiedlich be-
zeichnet. Sie finden sich aber in gleicher Art und Abfolge sowohl in den Ansät-
zen der Entwicklungszusammenarbeit (welche oft auf die Aktionsforschung
bezogen werden) und der Betriebswirtschaft als auch im Konzept der von brasi-
lianischen Basisorganisationen häufig verwendeten „Bewusstmachung“ („Con-
scientização“) Freires (1973) und der darauf aufbauenden „Befähigung grosser
Gruppen“ („Capacitação Massiva“) von Morais (siehe Carmen, 1996; Carmen &
Sobrado, 2000).
Die in Kapitel 4 präsentierten Resultate der empirischen Untersuchung zei-
gen, dass in der Chácara ein Organisationsentwicklungszyklus durchgeführt
wird. Zunächst verfügt die Chácara über die wichtigste Basis dafür: Sie wird von
ihren Mitgliedern als Organisation mit Gestaltungsbedarf verstanden (siehe Ka-
pitel 4.6).
Im Weiteren entspricht der ursprüngliche Gestaltungsprozess der Chácara
einem Organisationsentwicklungszyklus, begann er doch mit einer Phase der
Analyse und der Zieldefinition, und wurden erst dann und auf dieser Basis die
Strukturen und Prozesse gestaltet, welche zur Erreichung der Ziele führen sollten
(siehe Kapitel 4.6.2).
Ebenfalls der Grundstruktur eines Organisationsentwicklungszyklus zuge-
ordnet werden kann die in Kapitel 4.5.2.3 geschilderte Ausführungsmodalität der
evaluativen Gestaltung der Handlung in der Chácara. Gerade aufgrund dieses
Moments kann geschlossen werden, dass hier ein ständiger Prozess der Organi-
sationsentwicklung abläuft, wie es Sorgenfrei und Wrigley (2005, S. 8) fordern.
Das folgende Zitat entstammt einem Gruppengespräch mit Erziehenden, in wel-
chem diese spontan auf das Thema der Veränderung und Gestaltung der Chácara
zu sprechen kamen. Es weist darauf hin, dass dieser Prozess – ebenfalls im Sinn
von Sorgenfrei und Wrigley – auch antizipierend und proaktiv ist.

Erzieherin 1: Die Chácara erneuert sich immer wieder.


Erzieher 1: Genau.
Erzieherin 2: Jeden Tag.
Erzieher 2: Entsprechend den jeweiligen Bedürfnissen.
Erzieherin 1: Wir sehen uns jeweils heute an, was gestern schlecht war; dann kön-
nen wir es morgen besser machen, um zu ändern, zu erneuern … zum Guten zu er-
neuern.

278
Frage: Und wie wisst ihr, in welche Richtung diese Erneuerung gehen soll?
Erzieherin 2: Indem wir zusammensitzen.
Erzieher 2: Und die Schwierigkeiten besprechen, denen wir im [Praxis-]Alltag be-
gegnen.
Erzieherin 2: Wir sitzen zusammen und besprechen …
Erzieher 2: … die Schwierigkeiten, denen wir uns gegenüber sehen, und finden ei-
nen anderen Weg, um zu sehen, ob dieser funktionieren wird.
Erzieher 1: Und wenn er nicht funktioniert, versuchen wir es noch einmal [mit etwas
anderem].
Erzieher 2: Wir versuchen es noch einmal.
Frage: Das heisst, dass ihr, ausgehend von der gemachten Erfahrung, besprecht, wie
es besser sein könnte?
Erzieherin 2: Genau.
Erzieher 2: Aber niemand weiss [eine garantierte Lösung]. Man muss eine Lösung
suchen und sie ausprobieren. Wenn sie nicht funktioniert, halten wir an, setzen uns
zusammen, bereden alles und probieren es dann auf eine andere Art. Denn so, wie es
war, kann es nicht bleiben.
Frage: Und wie wisst ihr es, wenn ihr eine gute Arbeit macht? Wenn es funktio-
niert?
Erzieherin 1: Wenn wir …
Erzieherin 2: … die Resultate haben.
Erzieherin 1: [Wir wissen es] aufgrund der Resultate.
Erzieher 1: Die Jungen selbst zeigen uns dies, nicht wahr. Wir sehen es durch sie.
(Gruppengespräch, 25. November 2003)

In diesem – notwendigerweise langsamen – Prozess sieht die Pädagogikprofesso-


rin, welche die Chácara seit ihren Anfängen in der Vila Lindóia begleitet, den
Grund für die Beständigkeit der Chácara und ihrer Entwicklung:

Ich glaube, dass diese Form des Vorgehens, in der alles diskutiert und einem [Refle-
xions-] Prozess unterzogen wird (...) – ich glaube, dass dieser Prozess deshalb lang-
sam ist, damit alles, was konstruiert wird und bestehen bleibt, sehr tiefe Wurzeln
hat. (Interview. 5. Mai 2003)

Hier soll nun auf die verschiedenen Aspekte und die Entwicklung des Organisa-
tionsentwicklungsprozesses in der Chácara eingegangen und der Bezug zu den
Charakteristika des in Kapitel 2.5 dargestellten Organisationsentwicklungszyklus
hergestellt werden.
Die Jungen wurden seit Beginn der Chácara in Evaluationen und Planungen
involviert, wie Jahresberichte und andere Dokumente zeigen. Dies geschah zu-
meist in der Form von „Gincanas“ (Wettbewerbsspielen). Auch das von ihnen
verfasste Buch (Fundação E., 1999) umfasst Aspekte der Evaluation der Cháca-
ra.

279
Eine Gesamtbeschreibung und -evaluation der Arbeiten der vergangenen 12 Mo-
nate wird jeweils Ende Jahr von den Mitgliedern der Chácara aufgezeichnet und
in einem Jahresbericht dargestellt. Seit dem Jahr 2001 gibt es jeweils auch nach
sechs Monaten einen kürzeren Bericht. Ebenfalls Ende Jahr werden Ausrichtung,
Aktivitäten und erforderliche Ressourcen für das neue Jahr geplant und festge-
halten. Im Rahmen der Finanzierung werden einzelne Subprojekte – zum Bei-
spiel der Bau von Häusern oder die Durchführung eines neuen pädagogischen
Moduls – ebenfalls geplant und evaluiert. Diese Aktivitäten entspringen nicht
nur dem Interesse der Chácara selbst, sondern auch Anforderungen von Gesetz
und Geldgebern.
Die im gerade aufgeführten Zitat beschriebene Alltagsplanung der Erzie-
henden und der Koordination wurde in den ersten Jahren der Chácara hingegen
oft eher informell und – so der Eindruck aufgrund von Beobachtungen – zum
Teil tendentiell eher reaktiv als proaktiv durchgeführt. In den ersten Jahren ver-
fügte die Chácara zudem nur über wenige reale Möglichkeiten der Planung.
Buchhaltungsunterlagen zeigen, dass ihre finanziellen Ressourcen damals sehr
gering waren, zumeist zu unvorhersehbaren Zeitpunkten eintrafen und zu einem
Zweck verwendet werden mussten, über den die Geldgeber ohne Konsultation
der Chácara entschieden hatte. Somit lagen kaum Mittel vor, welche die Organi-
sation hätte planend einsetzen können. Als einen der ersten Schritte führte die
Autorin deshalb damals in ihrer Rolle als Gründerin des Unterstützungsvereins
in der Schweiz eine Finanzierung ein, welche auf die Bedürfnisse der Chácara
ausgerichtet und von dieser einsetzbar war. Diese Finanzierungsart erlaubte den
Mitgliedern der Chácara, ihre organisationale Entwicklung eigengesteuert und
intensiviert zu planen (und verlangte dies in gewisser Weise auch von ihnen, da
Angemessenheit und Nutzen der Finanzierung so mit der Qualität ihrer Planung
verbunden waren).
Mit dem Wachstum der Chácara nahmen die Vielfalt der Stimmen und da-
mit das Bedürfnis der Mitarbeitenden nach vermehrter Koordination zu. Entspre-
chend wurde die Alltagsplanung formeller und wurden im Voraus angekündigte,
regelmässige Sitzungen zur Evaluation und Planung der laufenden Tätigkeiten
durchgeführt. Sitzungsprotokolle zeigen auf, dass zum Zeitpunkt des Beginns der
vorliegenden Arbeit wöchentliche Planungssitzungen der Mitarbeitenden sowie
mit den Jungen stattfanden, in denen die vergangene Woche besprochen und die
neue Woche geplant wurden. Dabei wurden auch organisationale Anpassungen
wie Umverteilung von Arbeiten, neue Aktivitäten, andere Zeitplanung etc. disku-
tiert.
Ebenfalls aufgrund der wachsenden Organisationsgrösse empfanden es Mit-
arbeitende gemäss informellen Auskünften als zunehmend schwieriger, die Or-
ganisation als Ganzes zu überblicken. Aktivitäten der Organisationsentwicklung

280
waren bisher tendentiell eher auf Teilbereiche sowie auf Evaluation und kürzer-
fristige Schritte ausgerichtet gewesen. Gerade auch im Hinblick auf die Verdop-
pelung der Anzahl der Jungen von etwa 40 auf etwa 80 in den Jahren 2004 und
2005 wuchs in der Chácara das Bedürfnis, die Aktivitäten der Organisationsent-
wicklung noch verstärkt auf die Organisation als Ganzes, auf zusätzliche Pla-
nung sowie auch auf längere Zeiträume auszudehnen.190
Im Auftrag des Koordinators gestaltete ein brasilianisches Vorstandsmit-
glied mit Erfahrung in Organisationsentwicklung zusammen mit der Autorin im
Anschluss an die Feldforschung zur vorliegenden Studie Ende des Jahres 2004
und im Jahr 2005 erstmals Workshops zur „strategischen Planung“ in der Chá-
cara. Diese umfasste eine langfristige Planung für die Jahre 2005 bis 2007 und
eine kurfristiges für das Jahr 2005 und bezog alle Mitglieder der Chácara, deren
Vorstand sowie einzelne weitere Fachpersonen direkt oder indirekt mit ein.
Angesichts des starken Wachstums der Organisation äusserten zahlreiche
Erziehende und Jungen in den Workshops und ausserhalb das Bedürfnis, festzu-
stellen, was von der Organisation beibehalten und was verändert werden sollte.
Ihr Anliegen war es dabei, über die unmittelbaren Fragen der Alltagsorganisation
hinaus deren Identität und Zukunft zu besprechen. In einem Workshop überdach-
ten die Teilnehmenden aus eigener Initiative gar die ursprünglichen hauptsächli-
chen Ziele der Chácara, beschlossen jedoch, dass diese beibehalten werden soll-
ten. Angesichts der nunmehr grossen Zahl verschiedener Aktivitäten in der
Chácara wünschten sie zudem eine wieder stärkere Fokussierung und strategi-
sche Ausrichtung der Aktivitäten auf die Ziele der Organisation.
Die zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegenden Forschungsresultate wurden
genutzt, um für die Planungsworkshops eine Gestaltung und Sprache zu wählen,
welche in hohem Grad an die Kultur der Chácara angepasst war. Diese Anpas-
sung sollte vor allem die Explizitmachung des – wie gezeigt, reichhaltig vorhan-
denen – impliziten Praxiswissens der Teilnehmenden sowie der Förderung von
deren Engagement in den Workshops und zugunsten der Planungsresultate för-
dern. Innerhalb dieser Anpassung an die Kultur der Chácara wurden jedoch
gleichzeitig erstmals die hier vorgestellten Rahmenmodelle der Organisation und
des Organisationsentwicklungszyklus eingeführt. Das erste Rahmenmodell wur-
de dabei für die Zuordnung des in die Planungsworkshops eingebrachten Pra-
xiswissens der Teilnehmenden genützt, das zweite für die Einordnung der ein-
zelnen Workshop-Aktivitäten in den Gesamtzyklus der Organisationsentwick-
lung.

190
Es wird vermutet, dass es sich hierbei nicht nur um ein Bedürfnis, sondern auch um einen fortge-
schritteneren Reifestand der Organisation handelt, welcher eine längerfristige Planung erlaubt.
Die finanzielle und teilweise auch soziale Situation der Chácara war in den ersten Jahren so un-
sicher, dass eine konkrete Planung nur für kurze Zeiträume möglich war.

281
Diese Planungsvorgänge wurden nicht wissenschaftlich beforscht. Es entstand
jedoch der Eindruck, dass das Verständnis für Fragen der Gesamtkoordination
und Gestaltung der Chácara bei den Beteiligten wuchs. So gelang es ihnen, auf-
grund sehr detaillierter, durch Erziehende und Jungen vorgenommene Analysen
der Alltagspraxis konkretere Ziele als bisher für die Organisation und ihre Ge-
staltung in den entsprechenden Jahren zu formulieren. Dies wurde von ihnen
gemäss ihrer Kommentare als nützlich für ihre Arbeit sowie als Fortschritt wahr-
genommen. Überhaupt zeigten sich die Beteiligten angeregt durch die im Rah-
men der Forschungsarbeit vorgenommenen Befragungen und durch die Pla-
nungsworkshops. Dies zeigte sich unter anderem darin, dass sie Fragen der Or-
ganisationsentwicklung vermehrt auch beim Mittagessen, in Kaffeepausen oder
im Bus in die Stadt diskutierten. Der Autorin trugen sie unaufgefordert Kom-
mentare, Ideen und Fragen zu, ausserdem führten sie eigenständig und unaufge-
fordert Befragungen bei einzelnen Gruppen durch, deren Resultate sie in den
Workshops präsentierten. Die Workshops zur kurzfristigen Planung gestalteten
sie von sich aus aktiv und in einem kooperativen Stil mit. Gemäss Aussagen wie
den folgenden empfinden die Erziehenden die Möglichkeit, ihre Organisation
Chácara mitzugestalten, als besonders positiv und motivierend:

Erzieher: Wirklich, die Chácara lässt sich nicht vergleichen mit den anderen Orten,
an denen ich arbeitete. [Ich meine dies] nicht wegen des Lohns ...
Erzieherin 1: ... wegen der Verantwortung!
Erzieher: Ja, diese ist [hier] anders. Total anders. Ich sehe hier die Möglichkeit, in
dem Bereich zu arbeiten, der einem gefällt, Arbeiten zu machen, die einem gefallen,
die eigenen Ideen umzusetzen, nicht wahr, und das ist ein Unterschied. In einer Fir-
ma gelingt einem dies zum Beispiel nicht. Man hat gute Ideen (...), aber diese wer-
den nur selten genützt.
3 weitere anwesende Erzieherinnen und Erzieher: beistimmendes Nicken. (Grup-
pengespräch, 25. November 2003)

Es ist nach Erachten der Autorin jedoch noch zu früh, um von einer starken Ver-
ankerung des Entwicklungszyklus der Organisation als Ganzes in Alltag und
Kultur der Chácara sprechen zu können. Sie glaubt, Bereiche desselben zu er-
kennen, welche noch vertieft in die Praxis der Chácara eingearbeitet werden
könnten, darunter zum Beispiel die konkrete Umsetzung der Planung und ihre
kontrollierende Begleitung.
Der Ansatz der „Bewusstmachung“ von Freire (1973) bezieht sich ur-
sprünglich auf Einzelpersonen und Gruppen, und zwar zu einem Zeitpunkt, in
welchem diese (noch) nicht Teil einer Organisation mit institutionellem Charak-
ter (also zum Beispiel eines Projekts o.ä. und mit definierten Organisationsstruk-
turen und Prozessen) sind. Das Wissen um Rahmenkonzepte der Organisation

282
und des Organisationsentwicklungszyklus stellt deshalb eine wichtige Ergänzung
und Erweiterung für Organisationen wie die Chácara dar. Es kann dazu beitra-
gen, dass die Organisation (wieder) von mehr Beteiligten als Ganzes gesehen
und gestaltet werden kann, und, dass (wieder) zusätzlicher Raum für übergeord-
nete, nicht der Alltagspraxis entspringende, sondern strategische und „visionäre“
Ausrichtungen geschaffen werden kann.
Vor dem Hintergrund des Modells staatsbürgerlich-demokratischer Integra-
tion der Chácara scheint es jedoch wichtig, dass dieser Zusatz aus der Organisa-
tionslehre gerade bei Bürgerbewegungen bzw. Basisprojekten gemeinsam mit
den Mitgliedern aus der Praxis und Kultur derselben heraus erarbeitet wird und
an deren reale Bedürfnisse anknüpft. Eine aus einer rein theoretischen Position
heraus erfolgende Einführung von Konstrukten der Organisation und Organisati-
onsentwicklung könnte von den Mitgliedern dieser Organisationen als ihrer Rea-
lität sehr fremd – und damit nicht anwendbar – oder gar als Denkkonzepte „aus
der dominanten Gesellschaftsschicht“ – und damit nicht akzeptabel – wahrge-
nommen werden.
Im folgenden Kapitel soll nun noch etwas vertieft auf die Bedingungen ein-
gegangen werden, welche positiv zur Entwicklungskapazität einer Organisation
beitragen.

5.3.2 Organisationale Kapazität

Wie in Kapitel 2 ausgeführt, haben Fowler et al. (1995, S. 7) vier Dimensionen


der Kapazität zusammengestellt, über welche eine Organisation bezüglich ihrer
eigenen Entwicklung verfügt. Es sind dies: Kompetenzen, Ressourcen, Bezie-
hungen und Lernen.
Auf die Ressourcen (Qualität, Zuverlässigkeit sowie Nutzung von Finanz-
und Sachmitteln) soll hier nicht weiter eingegangen werden, da diese nicht Ge-
genstand der vorliegenden Untersuchung waren. Erfahrungen wie die im voran-
gegangenen Kapitel zitierte zum Zusammenhang zwischen verfügbaren Finanzen
und der Möglichkeit, überhaupt planen zu können, weisen jedoch auf die Bedeu-
tung dieser Dimension hin.
Die übrigen Dimensionen – Kompetenzen, Beziehungen und Lernen – sol-
len im Folgenden in Zusammenhang mit den in Kapitel 4 dargestellten Resulta-
ten der empirischen Untersuchung gebracht werden. Dabei wird deutlich, dass
sie in der Chácara stark ausgeprägt sind und bewusst gefördert werden.
Bezüglich der Kompetenzen der Mitarbeitenden nennen Fowler et al. (1995,
S. 7) Wissen, Fähigkeiten, Motivation und Einstellungen („attitudes“). Aus den
in Kapitel 4 präsentierten Resultaten der Organisationsanalyse geht hervor, dass

283
in der Chácara bezüglich dieser Kompetenzen sowohl Mitarbeitende selektiert
als auch bestehendes Wissen und Fähigkeiten genutzt und gefördert werden. So
werden zumeist Mitarbeitende ausgewählt, welche die Situation der Kinder und
Jugendlichen der Strasse und/oder in den Favelas aus eigenem Erleben kennen
und selbst entsprechende (Über-)Lebenskenntnisse mitbringen. Durch die parti-
zipative Organisation nützt die Chácara zudem Wissen, Fähigkeiten und Zu-
kunftsvorstellungen nicht nur der mitarbeitenden Erziehenden, sondern auch der
Jungen, welche, wie gezeigt wurde, sowohl Zielpublikum wie auch Betreiber
und Gestalter der Chácara sind. Wie in Kapitel 4.5.1 dargestellt, werden vielfäl-
tige Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für die Erziehenden und die Jungen
angeboten, die unter anderem auch Fragen der Gestaltung einzelner organisatio-
naler Aspekte zum Thema haben. Durch die Beteiligung aller Mitglieder an allen
Aktivitäten – auch denen der Organisationsgestaltung – und die evaluative Ge-
staltung aller Handlungen bietet die Chácara zudem zahlreiche Möglichkeiten
des Lernens durch Tun und durch Reflektion des Tuns. Die staatsbürgerlich-
demokratische Gesellschaftskonzeption und der Einbezug von Personen aus
allen Teilen der Gesellschaft erlaubt zudem den Blick und das Lernen über die
unmittelbare Organisation hinaus.
Im Zusammenhang mit den Kompetenzen der Organisation nennen Fowler
et al. (1995, S. 7) Fokussierung und Zusammenarbeit der Mitarbeitenden. Vor
allem in Kapitel 4.2.3 wurde aufgeführt, dass bereits in der Vorphase und später
in der Chácara selbst ein Schwerpunkt der Arbeit auf der Bildung einer hand-
lungsmotivierten und –fähigen Gruppe gelegt wurde, deren Mitglieder – Mitar-
beitende, Kinder und Jugendliche – einander solidarisch verbunden waren und
alle Aktivitäten gemeinsam in Angriff nahmen. Es kann zudem vermutet werden,
dass die Ausführungsmodalitäten „Partizipation“, „gegenseitige soziale Integra-
tion“ und „evaluative Gestaltung der Handlung“ einen wichtigen Beitrag zur
Fokussierung der Chácara-Mitglieder auf die Bedürfnisse der Zielgruppe und der
Gesellschaft sowie auf Ziele und einzelne Tätigkeiten der Chácara leisten.
Was die Beziehungen anbelangt, also die Schlüsselverbindungen, welche
die Organisation in ihrem Umfeld zugunsten ihres Zweckes unterhält, kann auf
das unter anderem in Kapitel 4.4.3.1 aufgeführte grosse Netzwerk von Personen
aus den verschiedensten Teilen der Gesellschaft verwiesen werden, welches
schon vor Gründung der Chácara aufgebaut und danach erweitert aufgebaut
wurde.
Unter Lernen bzw. Lernfähigkeit verstehen Fowler et al. (1995, S. 7), wie in
Kapitel 2 aufgeführt, die Art, in der die Organisation ihre Praxiserfahrung wahr-
nimmt und ihre Leistung analysiert sowie in Bezug zu Standards und Normen
der Qualität und der ständigen Verbesserung setzt. Um dies tun zu können, un-
terstützt eine „lernende Organisation“ gemäss Britton (1998, S. 5) ihre Mitglie-

284
der in der Produktion von explizitem Wissen aufgrund von Erfahrung sowie von
implizitem Wissen und Informationen. Damit stützt sie sie in ihrer Fähigkeit,
sich als „reflective practitioners“ (Schon, 1978, zitiert in Britton, 1998. S. 5) zu
verhalten. Die „Bewusstmachung“ von Freire (1973) geht mit ihrem Konzept der
reflektierten Alltagspraxis von einem sehr ähnlichen Ansatz aus, auch wenn sie
sich in ihrem Ursprung eher auf persönliche und gesellschaftliche denn auf orga-
nisationale Analyse und Entwicklung bezieht. Sie prägt die Handlungsweise in
allen Bereichen der Chácara unter anderem durch die in Kapitel 4.5.2 beschrie-
benen Ausführungsmodalitäten Partizipation, gegenseitige soziale Integration
und evaluative Gestaltung der Handlung. Die Entstehungsgeschichte der Chácara
ist ein illustratives Beispiel für diese Lernkultur. Die in Kapitel 4.5.3 dargestellte
gegenseitige Bedingung und Abhängigkeit der Entwicklung der Jungen respekti-
ve der Entwicklung der Organisation als „Gesellschaft en miniature“ zeigt zu-
dem, wie tief die Kultur der Chácara von einem Konzept von Lernen und Ent-
wicklung nicht nur der einzelnen Person, sondern auch der Organisation durch-
drungen ist.
Während also in der Integration und Durchführung des Organisationsent-
wicklungszyklus in der Chácara noch Verbesserungen denkbar sind, kann die
Kapazität zur Organisationsentwicklung und deren Förderung aufgrund der
empirischen Resultate als ausgeprägte Stärke der Chácara verstanden werden.

5.3.3 Adaptivität als Qualitätsdimension

In Ergänzung zu den beiden bereits vorgeschlagenen Qualitätskonzepten – dem


zielbezogenen von Relevanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit und
demjenigen der von den Jungen wahrgenommenen Lebensqualität im Projekt –
soll hier aufgrund der vorangegangenen Überlegungen die Adaptivität der Orga-
nisation als Ansatz zu einem Qualitätskonzept formuliert werden. Damit sollen
der Kontingenz und Dynamik der Organisation Rechnung getragen werden und
Bedeutung und Aspekte des Wegs zu Leistung und Zielen der Organisation be-
tont werden. Wenn dieser Weg nicht über bestimmte Elemente verfügt, wird es
für die Organisation schwierig sein, gezielt Qualität in der Erreichung ihrer Ziele
und der Balance zwischen Stabilität und Flexibilität zu erreichen.
Hier muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei der Formulierung
der Adaptivität als Qualitätsansatz um einen Entwurf handelt, welcher aufgrund
der Resultate der empirischen Untersuchung der Chácara und der zitierten Litera-
tur entstanden ist. Dieser soll hier präsentiert, gleichzeitig aber zur – notwendi-
gen! – weiteren Vertiefung im Rahmen von weiterführenden, praxis- und theo-
rieorientierten Forschungsarbeiten empfohlen werden.

285
Im Ansatz der Adaptivität ist Qualität:

ƒ Das Mass, in dem die Organisation sich in ihrer Gesamtheit einem ständi-
gen Organisationsentwicklungszyklus in der logischen Abfolge seiner Ele-
mente unterzieht, der auf die Erreichung der Qualitätsdimensionen Rele-
vanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit sowie der Lebens- und Or-
ganisationsqualität ausgerichtet ist, welche die Zielgruppe aufgrund ihrer
eigenen Kriterien während ihres Aufenthalts in der Organisation fordert.
ƒ Das Mass, in dem die Organisation über organisationale Kapazität zur
Organisationsentwicklung im Sinne der von Fowler et al. (1995) definierten
Dimensionen „Kompetenzen der Mitarbeiter und der Organisation“, „Res-
sourcen“, „Beziehungen“ und „Lernen“ verfügt und diese aktiv fördert.

286
6 Gute residentielle Projekte für Kinder und
Jugendliche der Strasse in Brasilien:
Von den Forschungserkenntnissen
zum Organisationsleitfaden

6.1 Generalisierbarkeit und Anwendbarkeit der Forschungserkenntnisse

Mit der Organisation Chácara wurde ein Einzelfall untersucht. Die Theorien der
Kontingenz und der Systemhaftigkeit von Organisationen weisen darauf hin,
dass Organisationen nur beschränkt vergleichbar sind, weil sie situativ und in
ständiger Bewegung begriffen sind. Aus den zahlreichen Aussagen von Mitglie-
dern und Beteiligten der Chácara, welche hier untersucht worden sind, lässt sich
denn auch eine ganz spezifische Organisation – fast möchte man sagen Organisa-
tionspersönlichkeit – erkennen. Entsprechend ergab die empirische Untersu-
chung sehr spezifische Einblicke in die Chácara selbst, welche nun von dieser
genützt werden können.
Von besonderer Bedeutung für Wissenschaft und Praxis ist jedoch, dass ein
Grossteil der vielfältigen und reichhaltigen Merkmale organisatorischer Gestal-
tung, welche aus dem Datenmaterial hervorgegangen sind, auf ein Niveau der
Abstraktion und Formulierung geführt werden konnten, auf dem sie nach Erach-
ten der Autorin sowohl für weitere residentielle Projekte und Institutionen sowie
für die Chácara in künftigen Phasen der Organisation generalisierbar sind. Wie
die vorangegangenen Kapitel 4 (und vor allem 4.6) und 5 aufzeigen, war dies
durch eine reflektive Inbezugsetzung der Phänographie der Organisation Chácara
mit einfachen, allgemeinen Rahmenmodellen der Organisation und des Organi-
sationsentwicklungszyklus möglich. Daraus resultieren Aspekte der Organisation
und Organisationsgestaltung, welche als spezifische Erweiterung und Präzisie-
rung dieser Rahmenmodelle für residentielle Institutionen für Kinder und Ju-
gendliche der Strasse in Brasilien gelten können.
Ein Erzieher der Chácara – selbst ehemaliger Junge der Gemeindearbeit in
der Vila Lindóia, Mitglied der Strassenarbeit der ersten Jahre und Gründungs-
mitglied der Chácara, also seit über 20 Jahren involviert – betont, dass es
schliesslich kein (Detail-) Rezept oder Modell für eine solche Organisation gebe,
sondern, dass ein ständiger Lernprozess nötig sei:

287
[Die Chácara] ist eine Herausforderung für uns, etwas, wofür wir nie ein Rezept aus
der Schublade ziehen können. Es gibt nie das perfekte Modell: „Schau, genau so
müsste es sein!“, sondern du entdeckst während des Tages ständig, dass derjenige
Schritt, den du gestern für richtig hieltest, doch nicht ganz gut war, und dass er
[noch] verbessert werden kann. Das ist für mich der zentrale Punkt. (Interview, April
2004)

Eine Transferleistung wird in jedem Fall nötig sein, um die vorliegenden Er-
kenntnisse auf die Chácara oder auf weitere residentielle Institutionen für Kinder
und Jugendliche der Strasse anzuwenden. In dieser Transferleistung liegt jedoch
nach Erachten der Autorin grosser Wert. Da, wie in der Studie dargelegt, Lern-
und Adaptationsprozesse für die Überlebensfähigkeit und Qualität von Organisa-
tionen von grösster Bedeutung sind, ergibt sich mit der Notwendigkeit einer
Transferleistung die Verantwortung, aber auch die Chance, den Lernprozess und
die Lernfähigkeit der Organisation zu nützen und zu stärken und damit einen
Beitrag von fundamentaler Bedeutung an die Qualität der Organisation zu leis-
ten.
Darin liegt eine der eingangs deklarierten Absichten: Als Beitrag an die
Praxis sollte mit der vorliegenden Studie eine erste, empirisch fundierte Basis
gelegt werden für einen entsprechenden Fachdialog und Entwicklungsprozess
unter den Personen, welche direkt oder indirekt mit solchen Institutionen be-
schäftigt sind, sowie für die Diskussion und weiterführende Untersuchungen
innerhalb der Forschungsgemeinschaft191.
In diesem Sinne soll im folgenden Kapitel ein Organisationsleitfaden für
gute residentielle Projekte für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien
vorgestellt werden.
Erfahrenen Praktizierenden und Forschenden im Bereich von Organisatio-
nen wird auffallen, dass einige Aspekte des Leitfadens wohl spezifisch für
residentielle Projekte der genannten Art sind, dass jedoch viele Aspekte auch auf
die Gestaltung von Organisationen, die auf andere Ziele ausgerichtet sind, ange-
wandt werden können. Dieses Thema kann im Rahmen der vorliegenden Studie
nicht weiter verfolgt werden, bietet sich aber für eine künftige Untersuchung
oder Reflexion an.

191
Auf weiterführende Schritte in Forschung und Praxis wird in Kapitel 7 eingegangen.

288
6.2 Leitfaden: So kann eine gute residentielle Organisation für Kinder und
Jugendliche der Strasse in Brasilien gestaltet werden

Wie erwähnt, wird der Organisationsleitfaden für gute residentielle Projekte für
Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien aus der Phänographie der Orga-
nisation Chácara und ihrer Inbezugsetzung zu den genutzten Rahmenmodellen
der Organisation und des Organisationsentwicklungszyklus hergeleitet. Er ent-
spricht einer Zusammenfassung und einer Aggregation der entsprechenden
Erkenntisse auf ein „inhaltsleeres“ Niveau. Auf diesem ist er für residentielle
Projekte und Institutionen für Kinder und Jugendliche der Strasse – vorgeblich
die erwähnte Transferleistung – anwendbar, wobei jede Organisation ihre eige-
nen Inhalte zu den vorgeschlagenen Schritten definieren muss. In dieser Form
wird er hier vorgestellt. Gleichzeitig soll daran erinnert werden, dass eine Gross-
zahl weiterer, detaillierterer bzw. spezifischer auf die Chácara und Organisatio-
nen mit ähnlichem Auftrag ausgerichteter Forschungserkenntnisse zu den einzel-
nen Teilen des Leitfadens in den Kapiteln 4 und 5 aufgeführt werden.
Es hat sich gezeigt, dass die Strukturen und Prozesse der Organisation
Chácara von deren Mitgliedern in einer logischen Abfolge konstruiert wurden.
Diese Abfolge ergibt sich auch aus der in Kapitel 2.4 im Rahmen der Theorie
vorgestellten Grunddefinition von Organisationen: Diese existieren zur Errei-
chung von Zielen. Entsprechend müssen Strukturen und Prozesse auf die Errei-
chung von Zielen ausgerichtet sein. Dies ist erst möglich, wenn Ziele definiert
worden sind.192 Ziele können zudem nur erreicht werden, wenn sie machbar sind.
Die in Kapitel 5.1 dargestellte Qualitätsdimension der Relevanz repräsentiert im
Weiteren die Forderung, dass Ziele relevant sein müssen. Machbare und relevan-
te Ziele können nur aufgrund einer Analyse der Ausgangslage definiert werden.
Auch eine Einschätzung, welche Aktivitäten notwendig und möglich sind, oder
welche Ressourcen vorhanden sind oder fehlen, ist nur aufgrund einer Analyse
der Ausgangslage möglich. Zudem ist die Qualitätsdefinition der Adaptivität mit
der Forderung nach dem aktiven Umgang mit dem kontingenten und dynami-
schen Charakter der Organisation verbunden. Ein solcher ist ebenfalls nur auf-
grund einer ständigen Analyse der Ausgangslage bzw. der äusseren und inneren
Bedingungen, welche die Organisation beeinflussen, möglich. Entsprechend
werden die organisationalen Strukturen und Prozesse im nachfolgenden Leitfa-

192
Es kann angenommen werden, dass fehlende Definitionen von Zielen dazu führen, dass implizite
und/oder nicht reflektierte und/oder nicht geteilte soziale Konstruktionen zu Kindern und Gesell-
schaft verstärkt von den einzelnen Akteuren als Orientierungsgrössen für ihr Handeln in der Or-
ganisation beigezogen werden. Vor dem Hintergrund der in den Kapiteln 2.4 und 2.5 dargelegten
Konzepte von Organisation und Qualität ist klar, dass dies die Ausrichtung der Organisation auf
ihre Ziele sowie ihre Relevanz und Wirksamkeit stark beeinträchtigt.

289
den in der Reihenfolge aufgeführt, welche der logischen Abfolge der Gestaltung
entspricht. Diese Abfolge bezieht sich sowohl auf die erste Gestaltung einer
Organisation als auch die Herleitungsreihenfolge der einzelnen Organisations-
teile im Zyklus der Organisationsentwicklung. Begleitet wird der Leitfaden von
einigen Kommentaren, welche nicht integraler Teil des Leitfadens sind, sondern
als Ansätze zu Transferüberlegungen verstanden werden können.

1. Analyse der Ausgangslage der Organisation

ƒ Am Ort, wo sich die Zielgruppe aufhält.


ƒ Durch zeitweise Integration in die Lebenssituation der Zielgruppe.
ƒ Gemeinsam mit der Zielgruppe.
ƒ Unter Beibezug von Fachleuten und anderen Personen aus den verschie-
densten Teilen der Gesellschaft.
ƒ In einem ständigen Prozess der Praxis und Evaluation.
ƒ Der sich nicht nur auf die unmittelbare Zielgruppe, sondern auch auf die
weitere Gesellschaft und das Verhältnis zwischen beiden bezieht.
ƒ Der nicht nur Defizite der Zielgruppe und weiteren Gesellschaft erfasst,
sondern auch Bedürfnisse, Fähigkeiten, Ressourcen und Potentiale.

2. Bildung einer handlungsfähigen und handlungswilligen Gruppe*

ƒ Durch Stärkung und Entwicklung der Kenntnisse und Praxis der


Initiantengruppe.
ƒ Durch Aktivierung der Zielgruppe sowie Stärkung ihrer Fähigkeiten und
persönlichen Ressourcen.
ƒ Durch den Aufbau einer gemeinsamen, solidarisch interagierenden Gruppe
von Initianten und Zielpublikum.
ƒ Durch Gespräche mit der Zielgruppe über konkrete Alternativen.

* In einer nicht aus einer Basisbewegung entstehenden Organisation könnte dieser


Schritt in zwei Teile aufgeteilt werden und vor/mit Gründung erst die Initianten-
gruppe und bei Aufnahme der Zielgruppe dann auch diese umfassen. In einer be-
reits bestehenden Organisation entspricht er der Bildung einer gemeinsamen Grup-
pe von Koordinierenden, Mitarbeitenden/Erziehenden und Zielgruppe, welche fä-
hig und willens sind, gemeinsam „am selben Strick zu ziehen“.

290
3. Definition von Zielen

ƒ Hinsichtlich einer übergeordneten Zielvorstellung bezüglich des anzustre-


benden Verhältnisses zwischen Zielgruppe und weiterer Gesellschaft*
ƒ Aufgrund der vorhergegangenen Analyse von Defiziten, Bedürfnissen,
Fähigkeiten, Ressourcen und Potentialen der Zielgruppe sowie der weite-
ren Gesellschaft**, also:
í Angemessene, relevante Ziele (nicht kurzfristige Ziele oder „Symptom-
bekämpfung“).
í Erreichbare, „machbare“ Ziele.
ƒ Vor dem Hintergrund, dass die Organisation die Entwicklung von Men-
schen anstrebt und diese nicht vollständig beeinflussen kann: Ziele, die
nicht deterministisch, sondern auf die Befähigung der Zielpersonen ausge-
richtet sind, ihre individuellen Zukunftsvorstellungen im Rahmen einer
verantwortlichen staatsbürgerlichen Rolle zu definieren und umzusetzen.

* In einer wirtschaftlich ausgerichteten Firma würden hier vermutlich in erster Li-


nie Überlegungen zur weiteren Gesellschaft als Markt gemacht werden und würde
der soziale Aspekt sekundär und vor allem im Sinne des heute üblichen Stake-
holdermanagements und der Firma als „good citizen“ eine Rolle spielen.
** Die Autorin hat den subjektiven Eindruck gewonnen, dass es Firmen zumeist
näher zu liegen scheint, die Defizite und Potentiale einer Situation abzuklären, als
Organisationen mit sozialen bzw. „Entwicklungs“- Vorhaben, die oftmals stark
und zum Teil beinahe einseitig defizitorientiert zu sein scheinen. In einigen Fällen
spiegelt sich dies sogar in der Begriffswahl. So wird ein Teil der Schwellenländer
von Hilfswerken als „Entwicklungsländer“ und gleichzeitig von Finanzinstituten
als „Emerging Markets“ bezeichnet.

4. Gestaltung der Organisationsstruktur

ƒ Zugunsten der Erreichung der Organisationsziele.


ƒ Eine rechtliche Struktur, nach den gesetzlichen Vorschriften.
ƒ Eine physische Struktur, die:
í Die Zielgruppe anspricht.
í An einem Ort lokalisiert ist, welcher:
• In erreichbarer Nähe derjenigen Personen, Infrastrukturen und Dienst-
leistungen ist, welche der Erreichung der Ziele zuträglich sind.
• Sich in genügend grosser Distanz zu Personen und Aspekten der Ge-
sellschaft befindet, welche die Zielgruppe gefährden.
• Natürliche, gesunde Lebensbedingungen bietet.

291
í Vor dem Hintergrund der Verfassung (frei wählbarer Aufenthaltsort)
und der Einsicht, dass Entwicklung nicht erzwungen werden kann, son-
dern freiwillig sein muss, offen und nicht gefängnisartig geschlossen ist.
ƒ Eine soziale Struktur:
í Die als wichtiger verstanden wird als die physische.
í Die das anzustrebende Verhältnis zwischen Zielgruppe und weiterer Ge-
sellschaft vorausnimmt bzw. abbildet.
í Die über Mitarbeitende (Erziehende) verfügt, welche:
• Sich stark mit dem Organisationszweck identifizieren.
• Hoch motiviert sind.
• Die Situation der Zielgruppe aus eigener Anschauung kennen und sich
mehrheitlich aus dieser oder aus Gruppen in verwandten Situationen
rekrutieren.
• Aufgrund ähnlicher Erfahrungen und ihres persönlichen, engagierten
und integren Verhaltens bei der Zielgruppe über eine hohe Glaubwür-
digkeit verfügen und sich deshalb besonders als Vorbilder eignen.
í In welche die Familien der Zielgruppe, Nachbarn und Fachleute sowie
weitere Personen aus allen Teilen der Gesellschaft einbezogen werden.
í In welcher die Mitglieder der Zielgruppe eine zentrale Position einneh-
men, aufgrund der Einsicht, dass sie es sind, welche die von der Organi-
sation angestrebten Veränderungen in der Entwicklung ihrer Person um-
setzen müssen.
í In der echte, positive persönliche Bindungen der Mitarbeitenden (Erzie-
henden) zur Zielgruppe bestehen, welche von Zuneigung, Herzlichkeit,
Einfühlungsvermögen und Vertrauen geprägt sind.
í In der nicht gewalttätig oder aggressiv vorgegangen, sondern solidarisch
gehandelt wird und Konflikte im Gespräch gelöst werden.
í In der allen Personen (Mitarbeitenden/Erziehenden, Zielgruppe, Koordi-
nator etc.) dieselbe soziale Wertigkeit zugesprochen wird.

5. Gestaltung des Transformationsprozesses

ƒ Dessen Aktivitäten inhaltlich auf die Organisationsziele und deren Errei-


chung ausgerichtet sind.
ƒ Dessen Aktivitäten ganzheitlich gestaltet sind, d.h. vor dem Hintergrund
pädagogischer Überlegungen und des auf menschliche Entwicklung abzie-
lenden Organisationszwecks sowohl verschiedene Lernebenen (z. B. Wis-
sen, Persönlichkeitsentwicklung, Kompetenzen des Zusammenlebens etc.)
als auch verschiedene Lernumfelder (z. B. Schule, Arbeit, Freizeit etc.)

292
und verschiedene Lernmethoden (z. B. Unterricht, Diskussion, Theater,
Sport, Mitarbeit etc.) umfassen.
ƒ In dem, damit die Organisationsziele erreicht werden können, die Ausfüh-
rungsmodalitäten der Aktivitäten noch wichtiger sind als deren Inhalt (also
das „Wie“ wichtiger ist als das „Was“). Es sind dies:
í Partizipation
• Hoher Grad der Partizipation der Zielgruppe an allen Teilen der Orga-
nisation (u.a. Mitbestimmung von Regeln etc.): Mitglieder der Ziel-
gruppe sind Protagonisten und gleichzeitig Ressource.
• Alters- und situationsgemässe Partizipation (inkl. Einhaltung der Ge-
setzgebung zur Arbeit von Kindern und Jugendlichen).
í Gegenseitige soziale Integration
• Alle Gruppen der Gesellschaft werden in die Aktivitäten mitein-
bezogen.
• Die Organisation wird gut in die lokale Umgebung integriert, z. B.
durch Angebot von Dienstleistungen an diese und Einladungen zu Be-
such und Mitmachen in der Organisation.
í Evaluative Gestaltung der Handlung:
• Alle Aktivitäten enthalten Elemente von Evaluation und Reflexion
bzw. werden durch diese begleitet.
• Alle Mitglieder evaluieren sowohl alle Aktivitäten als auch sich gegen-
seitig.
• Die Evaluationen und Reflexionen werden für die Gestaltung von Ak-
tivitäten und Strukturen genutzt.
• Die Ergebnisse werden in der Organisation und, im Falle hauptsächli-
cher Ergebnisse, nach aussen kommuniziert.
• Die Evaluationen und Reflexionen werden zur Förderung von Wahr-
nehmungsfähigkeit, persönlichen Ressourcen, kooperativem und kon-
struktivem Verhalten, Gruppenzusammenhalt und positiver Gruppen-
dynamik genützt.
í In dem die Zielgruppe Verantwortung trägt und diejenigen Dinge tut und
zu tun lernt, welche sie nach Austritt aus der Organisation auch eigen-
ständig tun müssen wird.
í Der persönlich reife Mitarbeitende/Erziehende mit der Fähigkeit, sich
ständig weiterzuentwickeln, bedingt bzw. eine Förderung der persönli-
chen Entwicklung und Entwicklungsfähigkeit seitens der Organisation
sinnvoll macht.

293
6. Sicherstellung von Qualität und Nachhaltigkeit

ƒ Durchführung eines Organisationsentwicklungszyklus mit seiner Abfolge


von Analyse/Evaluation, Planung, Handlung, Analyse/Evaluation und er-
neuter Planung und Handlung etc. Dieser soll ständig durchgeführt wer-
den, einen antizipierenden und proaktiven Charakter haben sowie parti-
zipativ und in den Organisationsalltag integriert durchgeführt werden. Zu-
dem soll er auf ein möglichst hohes Mass an Relevanz, Effektivität, Effizi-
enz, Nachhaltigkeit, von der Zielgruppe wahrgenommene Lebensqualität
im Projekt und Adaptivität der Organisation ausgerichtet sein.
ƒ Nutzung und Förderung der organisationalen Kapazität, also:
í Der Kompetenzen der Mitarbeitenden/Erziehenden (Wissen, Fähigkei-
ten, Motivation und Einstellungen).
í Derselben Kompetenzen der Zielgruppe, da diese im partizipativen,
staatsbürgerlichen Paradigma auch Ressource der Organisation ist.
í Der Kompetenzen der Organisation (Fokussierung und Zusammenarbeit
der Mitarbeitenden/Erziehenden und – wiederum im partizipativen,
staatsbürgerlichen Paradigma – der Zielgruppe als Ressource der Orga-
nisation).
í Der Beziehungen bzw. Schlüsselverbindungen, welche die Organisation
in ihrem Umfeld zugunsten ihres Zweckes unterhält.
í Des Lernens bzw. der Lernfähigkeit, also der Art, in der die Organisati-
on ihre Praxiserfahrung wahrnimmt und ihre Leistungen analysiert und
in Bezug zu Standards und Normen der Qualität und der ständigen Ver-
besserung setzt.
ƒ Entwicklung von bewertbaren Kriterien von Relevanz, Effektivität, Effizi-
enz und Nachhaltigkeit sowie entsprechenden Erhebungsmethoden sowie
Einführung eines regelmässigen Monitorings, welches in den Organisati-
onsentwicklungszyklus integriert ist.
ƒ Entwicklung einer Methodik zur Erhebung der von der Zielgruppe ver-
wendeten Kriterien zur Beurteilung und Bewertung der Lebensqualität im
Projekt und Einführung eines regelmässigen Monitorings derselben, wel-
ches in den Organisationsentwicklungszyklus integriert ist.
ƒ Entwicklung einer Bewertungsweise für die Vollständigkeit und Kohärenz
des Organisationsentwicklungszyklus sowie Einführung eines regelmässi-
gen Monitorings desselben.
ƒ Entwicklung einer Bewertungsweise für die organisationale Kapazität
sowie Einführung eines regelmässigen Monitorings derselben, welches in
den Organisationsentwicklungszyklus integriert ist.

294
6.3 Drei wichtige ergänzende Bemerkungen zur Qualität

6.3.1 Relevanz: Der Unterschied zwischen Zementierung und Linderung sozia-


ler Ungleichgewichte

Aus der Entwicklungszusammenarbeit wurden die gebräuchlichen Qualitäts-


dimensionen Relevanz, Effektivität und Nachhaltigkeit übernommen, und es
wurde die Aussage gemacht, dass sie alle – inklusive der in der vorliegenden
Studie nicht behandelten Effizienz – wichtig sind. Vor dem Hintergrund der
Literatur und den in Kapitel 4 dargestellten Forschungserkenntnissen hat sich
jedoch gezeigt, dass im Kontext von residentiellen Projekten und Institutionen
für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien der Relevanz besondere
Bedeutung zukommt. Damit ist das Mass angesprochen, in dem ein Vorhaben
mit den Bedürfnissen der Nutzniesser, des Landes/der Gesellschaft sowie mit
globalen Prioritäten übereinstimmt. Sowohl die befragten Personen in und um
die Chácara als auch Autoren wie Lucchini (1998) und Rossato (2003a) kritisie-
ren Projekte für Kinder und Jugendliche der Strasse, welche implizit auf die
Ziele einzelner, gesellschaftlich dominanter Interessengruppen ausgerichtet sind
und die Bedürfnisse der Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen der Strasse
sowie die Bedürfnisse der Gesellschaft als Ganzes nicht miteinbeziehen. Diese
Projekte sind damit auf eine reine „Symptombekämpfung“ ausgerichtet und
zementieren oder verschlimmern gar die Situation der Zielgruppe und der weite-
ren Gesellschaft, welche sie vordergründig verbessern wollten. Gemäss Rossato
(2003a) fällt ein Grossteil der brasilianischen Projekte in diese Kategorie. Da es
bei dieser Thematik um die gesellschaftliche Inklusion bzw. Exklusion geht,
kann zudem angenommen werden, dass sie auch für Organisationen gilt, welche
andere Personen am Rand der Gesellschaft zum Zielpublikum haben.
Eine umfassende Analyse der Ausgangslage und Definition der Ziele in der
Art, wie sie von der Chácara vorgenommen wird, kann verhindern, dass Organi-
sationsziele wegen ungenügender Information, Kenntnissen und Reflexion und/
oder wegen mangelnder Integration im Bewusstsein aller Organisationsmitglie-
der von geringer Relevanz und damit sowohl für die Zielgruppe als auch für die
weitere Gesellschaft kontraproduktiv oder gar schädlich sind.

6.3.2 Die „Hühnerzucht“ macht nicht den Unterschied zwischen einem guten
und einem schlechten Projekt

In Kapitel 5 wurde der designierte Leiter eines Projektes in der Region Curitiba
zitiert, der die Autorin fragte, ob sie meine, sein Projekt sollte wie die Chácara

295
eine Hühnerzucht haben, um ebenfalls ein gutes Projekt zu sein. Er hat damit
unwissentlich einen wichtigen Beitrag an die vorliegende Studie geleistet, lenkte
er doch die Aufmerksamkeit der Autorin auf eine nach ihrer Wahrnehmung häu-
fig vorkommende Erwartung von Personen in und um Strassenkinderprojekte in
Brasilien. Diese besagt, dass einzelne Teile einer Organisation ohne weitere
Überlegungen in eine andere hineinkopiert werden könnten, beziehungsweise,
dass zum Aufbau eines „guten“ Projektes eine Checkliste von Aktivitäten und
physischen Strukturen genüge, welche der Zielgruppe zur Verfügung gestellt
werden sollten.
Es soll deshalb an dieser Stelle betont werden, dass es nicht die Hühner-
zucht ist, welche den Unterschied in der Qualität eines residentiellen Projektes
für Kinder und Jugendliche der Strasse macht. Die wichtigste Erkenntnis aus der
empirischen, organisationspsychologischen Erforschung der Chácara ist, dass
die Qualität eines solchen Projektes auf den Charakteristika des Prozesses be-
ruht, mittels dessen Ziele sowie Strukturen und Prozesse der Organisation ge-
staltet, ineinander und in die Umwelt integriert und weiterentwickelt werden. Es
ist also nicht die Hühnerzucht als solche, welche den Unterschied bezüglich der
Projektqualität macht, sondern es sind die Charakteristika des organisationalen
Entscheidungsprozesses für oder wider eine Hühnerzucht bzw. für oder wider
andere Aspekte der Struktur oder der Aktivitäten der Organisation.

6.3.3 Qualität ist wichtig, Imperfektion auch

Die drei hier vorgestellten Konzepte von Qualität ergänzen sich, indem sie den
Blick auf verschiedene relevante Aspekte der Organisation richten. Eingangs
wurde erläutert, dass in einer Organisation die Qualitätsdimensionen der Rele-
vanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit gleichzeitig angestrebt werden
müssen. Dasselbe gilt für die beiden weiteren Konzepte von Qualität. So sind
Relevanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit nicht erreichbar, wenn die
betreuten Kinder und Jugendlichen die Organisation für schlecht befinden und
deshalb nicht in ihr verbleiben. Sie kommen auch nicht zum Tragen, wenn die
Organisation nicht über einen Organisationsentwicklungszyklus und die nötige
Kapazität dafür verfügt.
Keine Organisation wird je den Punkt qualitativer Perfektion erreichen kön-
nen. Auch was einmal beinahe perfekt war, wird dies wegen der Kontingenz und
Dynamik der Organisation nicht lange bleiben. Gute Qualität kann immer nur
angestrebt, nie aber als ein für alle Mal erreicht verstanden werden.
Was Bestand haben kann und letztlich muss, sind die Entwicklungs- und
Lernprozesse der Organisation und ihrer Mitglieder. Sind diese intakt, dann ist

296
die Wahrscheinlichkeit gross, dass Fehler und qualitative Mängel der Organisa-
tion frühzeitig entdeckt und adäquat evaluiert und behandelt werden. Sie sind
dann keine Stolpersteine, sondern können zur eigentlichen Entwicklungschance
werden. In diesem Sinne hat sich die Chácara seit einigen Jahren ein Motto ge-
geben, welches jeweils in der Einleitung ihres Jahresberichtes steht:

Die Irrtümer der Vergangenheit sind die grosse Vorbedingung für das richtig Getane
der Zukunft.

297
7 Abschluss und Ausblick

7.1 Erkenntnisse und Beitrag an Wissenschaft und Praxis

Am Anfang der vorliegenden Studie standen Berichte über Gesetzesverstösse


und andere gravierende Mängel in residentiellen Projekten und Institutionen für
Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien, ein wachsendes Interesse in
Fachkreisen an der Qualität dieser Organisationen und ein Projekt – die Chácara
der Jungen von Quatro Pinheiros –, welches von Kindern und Jugendlichen,
Mitarbeitenden, externen Fachleuten, Medien und „Policy Makers“ häufig als
„qualitativ gut“ bezeichnet wird.
Vor diesem Hintergrund machte es sich die vorliegende Studie zur Aufgabe,
einen Beitrag an die Qualität solcher Projekte und Institutionen zu leisten. Dies
sollte mittels eines organisationsanalytischen Ansatzes erfolgen. Grund dafür
war das aufgrund der Organisationslehre gewonnene Verständnis, dass Resultate
und Wirkungen und damit Qualität und Nachhaltigkeit von Projekten und Insti-
tutionen das Produkt organisationaler Strukturen und Prozesse sind.
Da keine empirische Organisationsanalyse eines residentiellen Projektes für
Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien oder anderswo gefunden werden
konnte, wurde mit der vorliegenden Studie erstmals eine solche erstellt, und zwar
am Beispiel der Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros. Damit sollte eine
erste, empirisch fundierte Basis für einen entsprechenden Fachdialog und Ent-
wicklungsprozess unter denjenigen Personen gelegt werden, welche direkt oder
indirekt mit solchen Institutionen beschäftigt sind, sowie für die Diskussion und
weiterführende Untersuchungen innerhalb der Forschungsgemeinschaft.
Die Studie ergab reichhaltige Erkenntnisse, aufgrund derer die Aufgabe, die
sie sich gesetzt hatte, als erfüllt betrachtet wird. Mittels Feldforschung und der
Erhebung von implizitem und explizitem Praxiswissen der Mitglieder und Betei-
ligten der Chácara wurde zuerst eine Phänographie dieser Organisation mit ihren
charakteristischen Strukturen und Prozessen erstellt. Ein besonderer Fokus lag
hierbei auf dem Aspekt der Organisationsgestaltung. In einem zweiten Schritt
wurde die Phänographie in Bezug zu Aspekten von Qualität und Nachhaltigkeit
gesetzt. Die geläufigen Qualitätsdimensionen der Relevanz, Effektivität, Effizi-
enz und Nachhaltigkeit wurden bezüglich ihrer Anwendbarkeit und ihres Nut-
zens für den Forschungsgegenstand diskutiert. Zusätzlich dazu konnten aufgrund

298
der Forschungserkenntnisse zwei weitere Dimensionen vorgeschlagen werden:
die von der Zielgruppe wahrgenommene Qualität im Projekt sowie die Adapti-
vität der Organisation. Die Chácara wurde bezüglich dieser Dimensionen soweit
bewertet, wie es aufgrund der Datenlage möglich war. Mittels der Herstellung
eines Bezugs zwischen der Phänographie und je einem allgemeinen, „inhaltslee-
ren“ Rahmenkonzept der Organisation und des Organisationsentwicklungszyklus
liessen sich die Forschungserkenntnisse auf ein Abstraktionsniveau anheben, auf
dem sie auch auf andere residentielle Projekte für Kinder und Jugendliche der
Strasse in Brasilien anwendbar sein können. In der Folge resultierte aus der Stu-
die gar ein Instrument, nämlich ein Leitfaden für deren Organisation. Dieser
kann als inhaltlich spezifisch auf diese Projekte und Institutionen ausgerichtetes
Rahmenkonzept der Organisation und Organisationsgestaltung verstanden wer-
den.
Die dargestellten Resultate zeigen, dass die Studie mehrere Beiträge sowohl
an die Wissenschaft als auch an die Praxis leistet.
Den Organisationswissenschaften liegt nun erstmals eine umfassende Phä-
nographie und Organisationsanalyse einer bisher nicht untersuchten Art von Or-
ganisation vor. Die Organisationslehre hat sich bisher vorwiegend auf profitori-
entierte Organisationen in den Industrieländern Europas, in Nordamerika und in
Japan und hierbei vor allem stark auf Fertigungsbetriebe bezogen. Demgegen-
über befasst sich die vorliegende Studie mit einer sozialen Institution in Südame-
rika, welche aus einer Basisbewegung materiell armer Personen – darunter die
am wenigsten privilegierte Gruppe der ganz auf der Strasse lebenden Kinder und
Jugendlichen – entstanden ist und geführt wird und sich über ihre unmittelbaren
Ziele hinaus einen weiter gefassten gesellschaftlichen Auftrag gegeben hat.
Die Phänographie der untersuchten Organisation Chácara wird durch spezi-
fische Erkenntnisse zu Qualität und Nachhaltigkeit sowie ein ebenfalls spezifisch
auf diese Art von Organisation ausgerichtetes Rahmenkonzept der Organisation
und ihrer Gestaltung ergänzt. Somit liegt den Organisationswissenschaften erst-
mals ein Beispiel dafür vor, dass diese bisher unbeachtete Art von Organisation
auch in organisationsanalytischer Weise erfasst und beschrieben werden kann.
Damit verfügen sie nun auch über die Möglichkeit, diese Art der Organisation
vergleichend mit den bisher untersuchten Organisationsarten in Bezug zu setzen.
Damit können möglicherweise die Erkenntnisse über beide und vor allem auch
über letztere um neue Einsichten erweitert werden.
Im Weiteren leistet die Studie einen Beitrag an die Methodik und Metho-
den, welche in den Organisationswissenschaften zur Anwendung kommen. So
bestätigt sie die Möglichkeit, eine Organisation in ihren Strukturen und Prozes-
sen aufgrund von explorativen, sehr offenen Befragungen ihrer verschiedenen
Mitglieder und Beteiligten zu rekonstruieren. Dabei besteht einer der Vorteile

299
dieses Vorgehens darin, dass nicht nur explizites und formelles Wissen erhoben,
sondern auch das gemäss Sülzer und Zimmermann (1996) für die Organisation in
ihrem Funktionieren und ihrer Kultur noch bedeutsamere implizite, vielfältige
Praxiswissen an den Tag gebracht werden kann.
Wie aus Kapitel 3 ersichtlich, wurde besondere Aufmerksamkeit auf die
Anpassung der Methodik und Methoden an die Anforderungen, Möglichkeiten
und Grenzen gelegt, welche seitens der Wissenschaft, des Forschungsgegenstan-
des und der Forscherin vorlagen. Die Sorgfalt, mit der diese Bedingungen analy-
siert und in der Forschung reflektiert wurden, hat sich positiv auf Umfang, Viel-
falt und Reichhaltigkeit der erhobenen Daten sowie auf den Erkenntnisprozess
ausgewirkt. Deshalb soll an dieser Stelle zu Handen der Wissenschaftsgemeinde
die Wichtigkeit einer angemessenen und angepassten Forschungsmethodik bei
der Untersuchung von Organisationen ausdrücklich betont werden.
Zudem darf die vorliegende Studie auch als Beispiel dafür dienen, dass eine
Organisation von einem Insider untersucht werden kann. Wird die Insiderrolle
reflektiert und bewusst sowie derart gestaltet, dass sie wissenschaftlichen Güte-
kriterien genügt, können unter anderem Daten und Erkenntnisse gewonnen wer-
den, welche für eine rein externe, die Involviertheit meidende Person schwer und
teilweise gar nicht erreichbar wären. Zudem wurde gezeigt, dass eine For-
schungsrolle mit Insider- und Outsiderelementen gestaltet und aufrechterhalten
werden kann, und dass so – wieder unter Beachtung der Gütekriterien und einer
bewussten Reflexion – gar eine der Forschung besonders dienliche Positionie-
rung erreicht werden kann.
Da auch die pädagogische Konzeption der Chácara wegen ihrer Verknüp-
fung und Interdependenz mit deren Organisation zur Darstellung kam, leistet die
vorliegende Studie zudem auch einen Beitrag an die Erziehungswissenschaften.
Im Rahmen der Praxis der Projekte und Institutionen für Strassenkinder
liegt mit der Untersuchung nun eine umfassende Beschreibung des Konzepts und
der organisationalen Praxis eines residentiellen Projektes für Kinder und Jugend-
liche der Strasse vor, welches von der Unesco als „innovativ und erfolgreich“
bezeichnet und von anderen Institutionen und „Policy Makers“ als Vorbild auf
der Ebene des Bundesstaates Paraná und in neuster Zeit sogar auf nationalem
Niveau verstanden wird, das jedoch nie einer systematischen Analyse unterzogen
worden war. Damit sind die Erfahrungen der Chácara, aber auch Entwicklungs-
möglichkeiten – so zum Beispiel bezüglich des Organisationsentwicklungszyk-
lus – identifiziert und erstmals empirisch fundiert dargestellt. So sind sie klarer,
strukturierter und besser in der Chácara und anderen Organisationen diskutier-
und anwendbar. Von besonderem Nutzen dürfte hier die in Form des Leitfadens
dargestellten Erkenntnisse sein, und zwar nicht nur für bestehende, sondern auch
für neu zu gründende Organisationen, da er unter anderem Wissen aus der ur-

300
sprünglichen Aufbauphase der Chácara umfasst, die, wie gezeigt, mit besonderer
Überlegtheit und Sorgfalt gestaltet wurde.
Für die Entwicklungszusammenarbeit und Institutionen und Gruppen, wel-
che Projekte für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien finanzieren und
unterstützen, dürften die Erkenntnisse zu Qualität und Nachhaltigkeit solcher
Organisationen von Interesse sein. Besonders soll hier auf die Relevanz der Ziele
und damit der Organisationen an sich hingewiesen werden, welche den Unter-
schied zwischen der Zementierung und der Linderung sozialer Ungleichgewichte
macht. Ebenfalls von grosser Bedeutung ist, wie gezeigt wurde, ein grosses Mass
an Adaptivität im Sinne sowohl eines angemessenen Organisationsentwick-
lungsprozesses als auch einer möglichst grossen Kapazität zur Organisationsge-
staltung und -entwicklung. Diese Erkenntnis unterstützt diejenigen fortschrittli-
chen Stimmen in der Entwicklungszusammenarbeit, welche die Bedeutung des
„Capacity Building“ betonen und fordern, dass lokalem Wissen und Potential
noch wesentlich häufiger sowohl eine zentrale Rolle als auch Nutzung in Ent-
wicklungsprozessen zugestanden werden müsse, und dass gleichzeitig lokale
Verantwortung für lokale Entwicklung zuzulassen, zu fördern und zu fordern sei.

7.2 Weiterführende Schritte

Eine Anzahl von weiterführenden Schritten ist zum Teil bereits geplant und soll
durchgeführt werden, sobald die dafür nötigen Ressourcen und weiteren Rah-
menbedingungen vorhanden sind. Die Mehrheit dieser Schritte umfasst sowohl
wissenschaftliche als auch praktische Elemente. Beginnend mit einem rein wis-
senschaftlichen Schritt folgen Schritte mit hohem wissenschaftlichen Anteil im
Bereich der Sozialpolitik und der Gestaltung von residentiellen Regierungs- und
Nichtregierungsprojekten und -institutionen sowie ein Schritt für die Gestaltung
der Chácara, der wissenschaftlich begleitet werden könnte. Mögliche weiterfüh-
rende Schritte sind:

ƒ Für die Organisationswissenschaften wäre es von Interesse, die Erkenntnis-


se der vorliegenden Studie über eine zuvor nie untersuchte Art der Organi-
sation in Bezug zu denjenigen über die traditionell von der Organisations-
lehre berücksichtigten Organisationsarten zu setzen mit dem Ziel, existie-
rende Modelle der Organisation zu überprüfen und gegebenenfalls um neue
Erkenntnisse zu ergänzen.
ƒ Anlässlich der grossen Präsentation der Forschungsresultate, welche im
November 2006 unter anderem vor Fachleuten der Sozialpolitik und des
Sozialwesens gegeben wurde, stellte ein Richter die Frage, ob und in wel-

301
cher Art und Weise die Erkenntnisse über die Chácara – eine aus einer Ba-
sisbewegung, also „bottom-up“ entstandene Organisation – auf eine staatli-
che Institution anwendbar seien, die „top-down“ vorgegeben werde. Die
Autorin ist der Meinung, dass dies im Sinne des Organisationsleitfadens
durchaus möglich ist. Es wäre jedoch von grossem Interesse für die Praxis
und die Wissenschaft, die vorliegende Studie in einer oder mehreren staatli-
chen residentiellen Institution für Kinder und Jugendliche zu wiederholen.
Ziel wäre dabei nicht nur eine Reflexion bezüglich der Anwendbarkeit der
Erkenntisse aus der Chácara auf staatliche Institutionen. Vielmehr sollte
auch die Erstellung eines spezifisch auf solche Institutionen ausgerichteten
Leitfadens zur organisationalen Anpassung in Richtung von mehr Qualität
und Nachhaltigkeit ins Auge gefasst werden. Grund dafür sind nicht nur die
eingangs zitierten Studien über entsprechende Defizite, sondern die Tatsa-
che, dass immer häufige Verantwortliche den Wunsch äussern, in ihren In-
stitutionen ähnlich gute und nachhaltige Resultate erzielen zu können wie
die Chácara.
ƒ Ein weiterer künftiger Schritt, der sich empfiehlt, wäre die Durchführung
eines wissenschaftlichen und praxisorientierten Projektes, mittels welchem
ein System der Qualitätskontrolle zuhanden der für die Überprüfung der
residentiellen Regierungs- und Nichtregierungsprojekte und -institutionen
verantwortlichen Staatsanwaltschaft erstellt würde. Das Bedürfnis nach ei-
nem solchen System wurde von einer für diese Aufgabe verantwortlichen
Staatsanwältin anlässlich der Präsentation der Forschungsresultate im No-
vember 2006 geäussert. Sie bemerkte, dass die gebräuchlichen Qualitätskri-
terien von Effizienz und Effektivität bei der Überprüfung derartiger Projek-
te und Institutionen schwer anzuwenden und nicht von genügend umfassen-
der Aussagekraft seien, und äusserte die Meinung, dass die zwei in der vor-
liegenden Studie entwickelten Qualitätsdimensionen der wahrgenommenen
Lebensqualität im Projekt und der Adaptivitität der Organisation für die
Verbesserung des Monitoringsystems von Nutzen sein könnten.
ƒ In der von der Chácara im Jahr 2005 initiierten „Rede de Integração de
Abrigos“, des „Netzwerkes zur Integration der residentiellen Institutionen
[für Kinder und Jugendliche]“, sind um die 20 sowohl nicht staatliche als
auch staatliche residentielle Projekte und Institutionen in Curitiba und Re-
gion Mitglied. Unter anderem entwickeln sie gemeinsam „Best-Practice“-
Kriterien in vier Bereichen der Pädagogik und der Administration. Mittels
der vorliegenden Forschung soll hier zusätzlich das Thema der Organisation
und Qualität eingeführt werden. Gemeinsam sollen die entsprechenden
„Best-Practices“ erhoben und Schritte zur weiteren Verbesserung der Praxis
in diesen Projekten definiert und vollzogen werden.

302
ƒ In der Chácara selbst können unter Anwendung der Forschungserkenntnisse
die strategische Planung bzw. der die weiterführende Gestaltung der Orga-
nisation als Ganzes betreffende Entwicklungszyklus vervollständigt und
ganz in die Alltagspraxis integriert werden. Dazu gehört unter anderem die
Definition von Erhebungsgrössen zu den einzelnen Qualitätsdimensionen
und die Einführung eines entsprechenden, in den Entwicklungszyklus inte-
grierten Monitoringsystems.
ƒ Im Anschluss an die Publikation der vorliegenden Studie muss der erste
durchzuführende Schritt ihre – ganze oder teilweise – Übersetzung in die
portugiesische Sprache sein. Es besteht sowohl eine Nachfrage nach einer
Übersetzung des vorliegenden Originals zuhanden der wissenschaftlichen
Diskussion in Brasilien, als auch eine Nachfrage seitens der Praxis nach
Veröffentlichungen in praxisorientierter Form. Hier soll an erster Stelle der
Organisationsleitfaden zur Verfügung gestellt werden. Falls aufgrund der
Ressourcen möglich, sollen die Erkenntnisse in Papierform, über Internet
und in Workshops sozialisiert und zur Diskussion und Weiterentwicklung
gestellt werden. Zudem sollen auf der Basis der vorliegenden Studie eigent-
liche Ausbildungsworkshops für Projektmitarbeitende und Verantwortliche,
„Policy Makers“ und andere Interessierte mehr entwickelt und angeboten
werden.

303
8 Bibliographie

Anmerkungen:

Das brasilianische Namensformat wird wie folgt zitiert: z. B. Clodomir (Vorna-


me) Santos (Nachname der Mutter) de Morais (eigener Nachname): Morais,
Clodomir Santos de. Eine detaillierte Übersicht über die in dieser Studie ver-
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Anhang 1: Beteiligte und Arten der Beteiligung

Beteiligte Art der Beteiligung


Familien der Jungen Besuchen Jungen, nehmen an Familientagen/
-ausbildung teil, helfen in Chácara, nehmen Jun-
gen z. B. in Ferien zu sich etc.
Bevölkerung von Beteiligt sich an gemeinsamen Aktivitäten mit
Quatro Pinheiros Chácara, lädt Jungen z. T. zu sich ein, löst lokale
Themen zusammen mit Chácara.
Vorstand der Chácara Trägt zur Ausrichtung und Führung der Chácara
bei, bewilligt deren Vorgehen und Finanzen,
Vorstandsmitglieder arbeiten z. T. in der Chácara
als Freiwillige mit (z. B. Coiffeuse, die allen
Jungen die Haare schneidet).
Gemeinde Profeta Elias Nehmen Jungen zu Besuch bei sich auf, stellen
der Vila Lindóia Freiwillige, stellen z. T. Vorstandsmitglieder,
nehmen an gemeinsamen Aktivitäten teil.
Ehepaare der Kirchge- Begleiten Familien der Jungen.
meinde Cabral
Universitäten Stellen Freiwillige und Teilzeitmitarbeitende v. a.
in Psychologie und Pädagogik sowie Projekte,
z. B. Informatiksystem für Projektadministration.
z. T. Forschung im Auftrag der Chácara.
„Gruppe der Unter- Arbeiten teilweise an der Organisation von An-
nehmer“ lässen und Feiern in der Chácara mit, z. B. bei
den Familientagen.
Polizei Macht Aufklärungsunterricht zu Themen wie
Drogen in der Chácara. Stellt u.a. Busse für Aus-
flüge zur Verfügung. 4 Polizisten machen auf
freiwilliger Basis einmal pro Woche mit den
Jungen zusammen Musik und bauen mit ihnen
eine Band auf.

319
RichterInnen, Staats- Machen u.a. Beratung und Aufklärungsunterricht
anwältInnen zu Rechtsfragen, nehmen Ideen aus der Chácara
für die Umsetzung des Kinderrechtsstatuts (wel-
ches diese mitgestaltet hatte) und der Qualität
von Projekten und des Jugendstrafvollzugs auf.
Ein Staatsanwalt spielt manchmal Fussball mit
den Jungen.
Arbeitgeber der Jungen Rekrutieren teils weitere, über 16-jährige Jungen
als Mitarbeitende in ihre Firmen, besuchen die
Chácara teils regelmässig, beteiligen sich an
Kursen zur beruflichen Ausbildung in der
Chácara.
Berufsbildungsinstitut Gestaltet und führt zusammen mit der Chácara
des Arbeitgeberver- als Pilotorganisation einen Kurs zur Vorbereitung
bands auf die Lehre für Jugendliche der Chácara und
benachteiligte Jugendliche der Umgebung durch.
PsychologInnen, Ärz- Führen zumeist auf freiwilliger Basis Einzel- und
tInnen, ZahnärztInnen Gruppengesprächstherapien für die Kinder und
Supervision für die Erwachsenen durch sowie
Ausbildungssitzungen innerhalb der Chácara
(Themen wie Alkoholismus, Sexualität etc.) und
bieten ärztliche und zahnärztliche Versorgung für
die Chácara und die Gemeinde Quatro Pinheiros
an.

320
Anhang 2: Empfehlungen „Aprendendo com a
Chácara“ – „Von der Chácara lernen“

Das folgende Merkblatt wurde im Mai 2006 aufgrund eines Teils der damals
vorliegenden Forschungserkenntisse für einen Reader erstellt, den die Chácara
über ihre Arbeit, Konzepte und Methoden Ende 2007 publizierte. Es empfiehlt
die sorgfältige Analyse der Ausgangslage sowie die Definition relevanter und
machbarer Ziele und unterstreicht vor allem die Bedeutung einer logischen Ab-
folge in der Konzipierung der Organisation analog den Erkenntnissen in Kapi-
tel 4. Bei jedem Teilthema werden konkrete Beispiele von dessen Gestaltung in
der Chácara genannt.

Aprendendo com a Chácara dos Meninos de Quatro Pinheiros


por Anna Katharina Schmid

Certo dia, dois homens de um outro projeto, que


estavam de visita na Chácara, se aproximaram e
perguntaram: “Você acha que nós também de-
veríamos ter uma criação de frangos para o nosso
projeto ser bom?”
O que mais tenho aprendido com a Chácara é
que fazer as coisas certas é importante, sim, mas
que é mais importante ainda fazer as coisas do
jeito certo. Criar frangos pode ser o certo num pro-
jeto, enquanto que não traz nenhum benefício a um
outro. O que importa é o processo pelo qual as
atividades chegam a ser criadas, como são encai-
xadas no projeto e como se realizam. É o “como”
que faz a diferença nos resultados do projeto.
A análise científica da organização da Chácara, financiada pelo governo
suíço, que desenvolvi junto aos meninos, demais membros e colaboradores, entre
2003 e 2005, teve por objetivo descrever esse jeito da Chácara fazer as coisas. Os
resultados apontam quatro lições principais:

321
1. Ter clareza de sua origem:

Qualquer instituição ou projeto é uma organização criada por pessoas que perce-
beram alguma situação que elas desejam mudar. Antes de qualquer ação concre-
ta, precisam conhecer bem a situação, os seus déficits, exigências e potenciali-
dades. Sem esse conhecimento, sem essa raiz firme, o projeto não tem como
existir.
A maioria das pessoas que trabalham na Chácara mora em favelas ou até já
morou na rua. Antes de fundar a Chácara, conviveram e conversaram bastante
com os jovens nas ruas. Queriam construir um projeto com raiz firme na reali-
dade deles. Perceberam as necessidades deles, bem como as grandes capaci-
dades, potenciais e sonhos, graças aos quais eles conseguem sobreviver aos peri-
gos de sua situação. Consultaram a Constituição Brasileira e o Estatuto da
Criança e do Adolescente para melhor conhecer os direitos e deveres que a lei
prescreve aos jovens cidadãos brasileiros. Trocaram idéias com pessoas de todos
os setores da sociedade: famílias dos meninos, professores de escolas e universi-
dades, juizes, promotores, vizinhos da Chácara, psicólogos, colegas em outros
projetos, padres e religiosas, policiais e outros. Chegaram à conclusão de que o
Brasil tem uma sociedade dividida, com crianças e adolescentes rejeitados por
muitas pessoas que se sentem ameaçadas por eles. Ao mesmo tempo, convence-
ram-se do potencial dos próprios meninos e da sociedade para mudar essa si-
tuação.

2. Ter clareza de seus objetivos:

Os objetivos do projeto devem ser elaborados sobre os déficits, exigências e


potencialidades da situação a ser mudada. Um bom objetivo é concreto e
atingível. Tem o caráter de uma mudança verdadeira e de longa duração. Os
objetivos dão a direção ao projeto. Sem direção, não há resultado, a não ser por
acaso.
A intenção da Chácara é que cada menino possa construir a sua própria vi-
da, enquanto cidadão respeitado, que exerce os seus direitos e deveres. No seu
futuro, como adultos, os meninos querem viver num bom clima familiar (com a
família de origem e com a família que irão formar), ter uma boa profissão e um
emprego com um salário justo. Querem ajudar os outros. Querem uma posição
de respeito na sociedade, moradia e saúde, longe das drogas. Para que realizem
tais sonhos, a Chácara tem por objetivo ajudá-los a serem “agentes de sua
própria promoção”, desenvolvendo as suas capacidades e recebendo, pela Cháca-
ra, as oportunidades necessárias à construção de suas vidas. Por isso, os objetivos

322
concretos da Chácara são: promover as capacidades dos meninos para aprender,
refletir, conviver, agir de uma maneira adequada e solidária com outras pessoas e
ter uma participação social responsável; contribuir para melhorar as condições
pessoais e econômicas dos meninos, ou seja, os conhecimentos escolares, sociais
e profissionais, a saúde física e psicológica, os valores morais, o resgate das
raízes culturais, o emprego, o sustento e a integração familiar. Além disso, acre-
ditando que os meninos têm que construir a sua vida, mas precisam de uma so-
ciedade que não os exclua dos direitos e deveres de cidadãos, a Chácara tem
também o objetivo de contribuir para uma sociedade mais justa, que seja de to-
dos e para todos.

3. Criar um projeto coerente, que possa atingir seus objetivos:

O projeto deve ser organizado de um jeito que conduza aos objetivos. Qualquer
ser humano aprende pelo exemplo e pela prática. Por isso, o projeto deve ser um
espelho de seus objetivos, ou seja, deve ser coerente com eles. Deve oferecer aos
meninos a oportunidade de exercitar o que devem aprender. Qualquer ser huma-
no pode crescer quando se sente seguro, respeitado e, em particular, no caso de
crianças e jovens, quando se sentem amados. Por isso a posição, o papel das
crianças e jovens atendidos e a qualidade da relação com os adultos que ali tra-
balham têm grande importância. Pode-se ter a estrutura física mais moderna,
com funcionários muito bem formados e bem pagos, além de uma lista de ativi-
dades diversificadas, mas se faltar esta alma, esta coerência, o projeto não vai
para frente.
A Chácara é uma comunidade de todos e para todos, como prevê a Consti-
tuição Federal para a sociedade brasileira. Aqui o menino é prioridade absoluta,
sendo tratado como sujeito e cidadão em desenvolvimento, que tem suas respon-
sabilidades e deveres. A Chácara é dele. Ele não só participa das atividades edu-
cativas, mas também da manutenção, gerência e coordenação da Chácara, das
ações, regras, avaliações, planejamentos e apresentações. Sempre orientado e
acompanhado pela equipe educadora – que também põe a mão na massa! – com
carinho verdadeiro, compreensão e firmeza. Sempre respeitando a sua idade,
individualidade e capacidades, bem como o seu direito a bastante lazer. Desse
jeito, ele aprende, constrói a sua vida, ensaia para ser um cidadão responsável e,
ao mesmo tempo, contribui, com os seus conhecimentos, idéias e sonhos para
melhorar a Chácara, como um dia ele contribuirá para melhorar a sociedade. O
menino cresce com a Chácara e a Chácara cresce com o menino. Isso exige dos
adultos que ali atuam, não só conhecimentos pedagógicos, mas um compromisso
verdadeiro com o menino e boas competências sociais. E que sejam bem resol-

323
vidos, equilibrados, dispostos e capazes de desenvolver a sua personalidade. O
menino aprende pelo exemplo deles, eles aprendem com o menino e juntos con-
stroem a Chácara, que não poderia continuar se quebrasse esse processo mútuo,
com o menino no centro.

4. Garantir a sustentabilidade e a qualidade do projeto:

Um projeto precisa de dinheiro, sim. E o que é mais importante, precisa integrar-


se bem à sociedade, além de construir uma diversificada rede de colaboradores.
Sem integração e rede, ele não serve para os meninos, nem para a sociedade. E
sempre deve avaliar seus resultados, bem como as mudanças que acontecem
dentro do projeto e ao seu redor, na busca de melhorar sempre a sua prática. Um
projeto que não sabe desenvolver-se e adaptar-se, um dia será ultrapassado pela
realidade, na qual não caberá mais.
Antes do início das atividades da Chácara, em Quatro Pinheiros, os mora-
dores dessa comunidade ficaram assustados com a vinda dos meninos de rua.
Houve um longo processo de diálogo e encontros com os moradores, para que
entendessem melhor a proposta e conhecessem os meninos. Várias pessoas da
comunidade acabaram colaborando na Chácara. Os meninos e educadores parti-
cipam muito da comunidade. Além disso, a Chácara oferece vários serviços e
atividades para a comunidade e junto com ela, como, por exemplo, um con-
sultório médico-odontológico. Também busca contatos e colaborações nos diver-
sos setores da sociedade e até no exterior. E exige que o poder público assuma a
sua responsabilidade para com os meninos. Acredita que quando todos nos sen-
tamos na mesma mesa, é que começamos a ensaiar uma nova sociedade, mais
justa e, enfim, melhor para todos.
Uma vez que definiu os seus objetivos e a sua proposta, a Chácara tem co-
mo avaliar os seus resultados. E avalia também a sua prática. Todos participam
das avaliações, tanto os meninos, quanto os demais membros – cada um se auto-
avalia e avalia o grupo. Também planejam o seu trabalho para poder abordar de
forma ativa as exigências que se impõem. Se algo não deu certo, ocorrendo um
problema ou alguma crise, eles conversam, criam juntos um novo caminho e
tentam novamente. Não esperam ser perfeitos, nem enquanto pessoas, nem en-
quanto organização. Entendem a vida e a Chácara como um processo de aprendi-
zado, um processo mútuo de construção. Os problemas pesam em qualquer lu-
gar, mas na Chácara, parece que os meninos e os adultos tiram novas energias
das dificuldades, que tornam as fraquezas e erros de hoje, uma lição para
amanhã.

324
Anhang 3: Die Studie in Kürze

Mehr als 100’000 Kinder und Jugendliche leben in Brasilien in über 3’000
residentiellen Institutionen: Kinderheimen, Waisenhäusern und Jugendstrafan-
stalten. Die Qualität der Institutionen variiert stark. Das Interesse an der Weiter-
entwicklung der Heime ist seitens von Institutionen, Sozialpolitik und der weite-
ren Fachgemeinde gross.
Die vorliegende Studie präsentiert die Ergebnisse der ersten empirischen
Organisationsanalyse einer residentiellen Institution für Kinder und Jugendliche
in Brasilien oder in einem anderen Land und damit zentrale Erkenntnisse für
deren qualitätsorientierte Gestaltung.
Forschungsfeld ist die „Chácara dos Meninos de Quatro Pinheiros“ bei Cu-
ritiba in Südbrasilien für ehemalige Jungen der Strasse oder aus anderen Situati-
onen grossen Risikos. Sie wurde im Jahr 1993 von Favela-Bewohnern und Stras-
senkindern gegründet und wird von UNDP und Unesco positiv beurteilt.
Die Organisationsanalyse verfolgte zwei Ziele: Die Erstellung einer
Phänographie der Chácara mit ihren charakteristischen Strukturen und Prozessen
sowie deren Inbezugsetzung mit Aspekten von Qualität und Nachhaltigkeit.
Mittels einer qualitativen und partizipativen Methodik wurde implizites und
explizites Praxiswissen von Mitgliedern und Beteiligten der Chácara zur Organi-
sation erhoben. Ein organisationspsychologischer Ansatz diente der Rekonstruk-
tion der organisationalen Strukturen und Prozesse sowie der Zusammenhänge
mit der Qualität der Organisation.
Eine zentrale Erkenntnis ist, dass in dieser Art von Organisation teils ande-
re, oder anders betonte, organisationale Aspekte als relevant gelten als in den
Wirtschaftsorganisationen, welche meist im Fokus der Organisationslehre ste-
hen, so die Handlungsbasis der Organisation, die Ausrichtung auf Fähigkeiten
und Ressourcen der Kinder und Jugendlichen, die durchdachte soziale Grund-
konzeption und soziale Struktur sowie der Imperativ der Modalitäten Partizipati-
on, gegenseitige Inklusion und Evaluation bei allen Tätigkeiten.
Die residentielle Institution für Kinder und Jugendliche erscheint als Sozia-
lisierungsraum, in dem Konzepte sozialer Integration und sozialen Wandels,
Ziele und Entwicklung der Organisation und die Entwicklung der Kinder und
Jugendlichen untrennbar miteinander verbunden sind.

325
Anhang 4: O estudo em breve

Mais de 100.000 crianças e adolescentes vivem em mais do que 3.000 organi-


zações residenciais no Brasil, ou seja, em abrigos ou casas lares. A qualidade
destas varia bastante, e o interesse por seu desenvolvimento e por sua qualifi-
cação como serviço público é grande entre integrantes dos próprios abrigos e ser-
viços sociais, pelos representantes da política social e demais profissionais da área.
Este estudo apresenta os resultados de uma análise organizacional empírica
de uma entidade residencial para crianças e adolescentes. Sendo esta análise a
primeira deste gênero feita no Brasil ou em qualquer outro país, ela oferece
conclusões centrais com relação à orientação qualitativa deste tipo de organi-
zação.
O campo de pesquisa é a “Chácara dos Meninos de Quatro Pinheiros” em
Mandirituba, Região Metropolitana de Curitiba, PR, que acolhe meninos prove-
nientes de situações de rua e vulnerabilidade social. Fundada em 1993 princi-
palmente por moradores de uma favela e jovens de rua, é uma ONG repetida-
mente elogiada tanto por organismos locais e nacionais, bem como internacio-
nais (PNUD, Unesco).
Esta análise organizacional teve dois objetivos: o de produzir uma descrição
detalhada da Chácara com suas estruturas e processos organizacionais carac-
terísticos, e o de relacioná-los com parâmetros de qualidade e sustentabilidade.
Usufruindo de uma metodologia qualitativa e participativa, foram levantados os
conhecimentos práticos implícitos e explícitos de integrantes e demais envolvi-
dos da Chácara a respeito da sua organização. Em seguida, foi aplicada uma
abordagem baseada na psicologia organizacional para reconstruir as estruturas e
processos organizacionais e relacioná-los com os padrões de qualidade da orga-
nização.
Uma constatação central é a de que neste tipo de organização encontram-se
aspectos organizacionais diferentes, ou com ênfases diferentes, daqueles encon-
trados nas organizações comerciais tão freqüentemente enfocados pelas ciências
organizacionais, tais como: a base de ação da organização, a orientação pelas
competências e recursos pessoais das crianças e adolescentes, a concepção social
básica e estrutura social cuidadosamente pensada, além do imperativo das modali-
dades de participação, inclusão mútua e avaliação em todas as atividades realizadas.

326
A organização residencial para crianças e adolescentes emerge enquanto espaço
de socialização onde conceitos de integração e mudança social, objetivos e de-
senvolvimento da organização, bem como o desenvolvimento das crianças e dos
adolescentes são interligados inseparavelmente.

327
Anhang 5: Study abstract

More than 100 000 children and adolescents live in Brazil in over 3 000 residen-
tial institutions that include children’s homes, orphanages and juvenile detention
centres. The quality of these institutions varies greatly. Interest in their continued
development is great among institutions, social policy makers and the larger
expert community.
This study presents the results of the first empirical organisational analysis
of a residential institution for children and adolescents in Brazil or, indeed, any-
where in the world. Thus, it offers findings which are central to the quality-
oriented development of such institutions.
The research was completed at the “Chácara dos Meninos de Quatro Pinhei-
ros” which cares for former boys of the street, or from other situations of high
risk near the city of Curitiba in southern Brazil. The Chácara was founded in
1993 by the inhabitants of a shanty town and street children and has received
favourable assessment by the UNDP, Unesco and others.
The organisational analysis had two goals: to complete a phenography of
the Chácara with its characteristic structures and processes, and to relate these to
aspects of quality and sustainability. A qualitative and participatory methodology
was used to gather implicit and explicit practice knowledge about the organisa-
tion from members and stakeholders of the Chácara. An organisational psychol-
ogy approach then served to reconstruct the characteristic organisational struc-
tures and processes and to relate them to the quality of the organisation.
A central finding is that different, or differently emphasised, organisational
aspects are relevant in this type of organisation than in the business organisations
commonly featured in the organisational sciences. Examples are the organisa-
tion’s basis of action, the orientation towards the children and adolescents’ com-
petences and personal resources, the thoughtfully designed basic social concept
and social structure as well as the imperative of the modalities participation,
mutual inclusion and evaluation in all actions.
The residential institution for children and adolescents emerges as a space
of socialisation where concepts of social integration and social change, goals and
organisational design, and the development of the children and adolescents, are
interdependent and inseparably linked.

328

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