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Andreas Hepp · Rainer Winter (Hrsg.

Kultur – Medien – Macht


Medien – Kultur – Kommunikation
Herausgegeben von
Andreas Hepp, Friedrich Krotz
und Waldemar Vogelgesang

Kulturen sind heute nicht mehr jenseits von Medien vorstellbar: Ob wir an unsere eigene
Kultur oder ,fremde’ Kulturen denken, diese sind umfassend mit Prozessen der Medienkom-
munikation durchdrungen. Doch welchem Wandel sind Kulturen damit ausgesetzt? In wel-
cher Beziehung stehen verschiedene Medien wie Film, Fernsehen, das Internet oder die
Mobilkommunikation zu unterschiedlichen kulturellen Formen? Wie verändert sich Alltag
unter dem Einfluss einer zunehmend globalisierten Medienkommunikation? Welche Medien-
kompetenzen sind notwendig, um sich in Gesellschaften zurecht zu finden, die von Medien
durchdrungen sind? Es sind solche auf medialen und kulturellen Wandel und damit ver-
bundene Herausforderungen und Konflikte bezogene Fragen, mit denen sich die Bände der
Reihe „Medien – Kultur – Kommunikation“ auseinander setzen. Dieses Themenfeld über-
schreitet dabei die Grenzen verschiedener sozial- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen
wie der Kommunikations- und Medienwissenschaft, der Soziologie, der Politikwissenschaft,
der Anthropologie und der Sprach- und Literaturwissenschaften. Die verschiedenen Bände
der Reihe zielen darauf, ausgehend von unterschiedlichen theoretischen und empirischen
Zugängen, das komplexe Interdependenzverhältnis von Medien, Kultur und Kommunikation
in einer breiten sozialwissenschaftlichen Perspektive zu fassen. Dabei soll die Reihe sowohl
aktuelle Forschungen als auch Überblicksdarstellungen in diesem Bereich zugänglich machen.
Andreas Hepp · Rainer Winter (Hrsg.)

Kultur – Medien –
Macht
Cultural Studies
und Medienanalyse

4. Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 1997
2., überarbeitete und erweiterte Auflage August 1999
3., überarbeitete und erweiterte Auflage Januar 2006
4. Auflage 2008

Alle Rechte vorbehalten


© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008

Lektorat: Barbara Emig-Roller

VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe


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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg


Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany

ISBN 978-3-531-16277-5
Inhalt

Andreas Hepp & Rainer Winter


Cultural Studies in der Gegenwart 9

1. Theorien, Begriffe und Perspektiven der Cultural Studies


Lawrence Grossberg
Der Cross Road Blues der Cultural Studies 23

John Fiske
Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur 41

Ien Ang
Radikaler Kontextualismus und Ethnografie in der Rezeptionsforschung 61

Rainer Winter
Reflexivität, Interpretation und Ethnografie:
Zur kritischen Methodologie von Cultural Studies 81

Udo Göttlich
Kultureller Materialismus und Cultural Studies:
Aspekte der Kultur- und Medientheorie von Raymond Williams 93

Karl H. Hörning & Julia Reuter


Doing Material Culture: Soziale Praxis als
Ausgangspunkt einer „realistischen“ Kulturanalyse 109

Friedrich Krotz
Gesellschaftliches Subjekt und kommunikative Identität: Zum
Menschenbild von Cultural Studies und Symbolischem Interaktionismus 125

Brigitte Hipfl
Inszenierungen des Begehrens:
Zur Rolle der Fantasien im Umgang mit Medien 139
6 Inhalt

Andreas Hepp
Konnektiviät, Netzwerk und Fluss: Perspektiven einer an den
Cultural Studies orientierten Medien- und Kommunikationsforschung 155

2. Zur Rezeption der Cultural Studies


im deutschsprachigen Raum
Lothar Mikos
Cultural Studies im deutschsprachigen Raum 177

Eggo Müller & Hans J. Wulff


Aktiv ist gut, interaktiv noch besser:
Anmerkungen zu einigen offenen Fragen der Cultural Studies 193

Elisabeth Klaus
Verschränkungen: Zum Verhältnis
von Cultural Studies und Gender Studies 201

Andreas Dörner
Medienkultur und politische Öffentlichkeit: Perspektiven und
Probleme der Cultural Studies aus politikwissenschaftlicher Sicht 219

Jannis Androutsopoulos
Cultural Studies und Sprachwissenschaft 237

Ralf Hinz
Cultural Studies und avancierter Musikjournalismus in Deutschland 255

3. Analysen der heutigen Medienkultur


Rudi Renger
Populärer Journalismus 269

Ursula Ganz-Blättler
Die (Fernseh-)Fiktion als Gemeinschaftswerk(en) und kulturelle Teilhabe 285

Matthias Marschik
Verdoppelte Identitäten:
Medien- und Werbebotschaften als Konstrukteure von Authentizität 299
Inhalt 7

Mark Terkessidis
Globale Kultur in Deutschland: Der lange Abschied von der Fremdheit 311

Siegfried Jäger
Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge 327

Johanna Dorer
Das Internet und die Genealogie des Kommunikationsdispositivs:
Ein medientheoretischer Ansatz nach Foucault 353

Frank Wittmann
Globalisierung, Gewalt und Identität
im Diskurs der westafrikanischen Weltmusik 367

Klaus Neumann-Braun & Axel Schmidt


Ethnografie von Jugendszenen
am Beispiel einer Studie zur Welt der Gothics 383

Caroline Düvel
Kommunikative Mobilität – mobile Lebensstile? Die Bedeutung der
Handyaneignung von Jugendlichen für die Artikulation ihrer Lebensstile 399

Ute Bechdolf
Verhandlungssache Geschlecht: Eine Fallstudie zur
kulturellen Herstellung von Differenz bei der Rezeption von Musikvideos 425

Waldemar Vogelgesang
Kulturelle und mediale Praxisformen Jugendlicher 439

Über die Autorinnen und Autoren 455

Index 461
Cultural Studies in der Gegenwart

Andreas Hepp & Rainer Winter

1 Cultural Studies als transdisziplinäres Projekt kritischer


Kulturanalyse

Beim ersten Deutschen Soziologentag im Jahre 1910 forderte Max Weber am Bei-
spiel der Presse, die Auswirkungen ‚objektiver‘ sozialer Formen auf die moderne
Lebensführung und die subjektive Individualität zu untersuchen. Er begriff das
Zeitungswesen als ein relevantes Forschungsthema, dessen Kulturbedeutung für das
individuelle Leben zu erforschen sei. In seiner kulturwissenschaftlichen Konzeptua-
lisierung machte Weber deutlich, dass Medienforschung als Kulturanalyse betrieben
werden sollte, die sowohl Fragen des Kulturwandels als auch Fragen gesellschaftli-
cehr Machtverhältnisse zu berücksichtigen habe. Allerdings dauerte es einige Jahr-
zehnte, bis diese Einsicht wieder ins Zentrum wissenschaftlicher Forschung rückte.
Seit den 1970er Jahren knüpfen die Cultural Studies an Max Webers Vorstellung an,
die ‚subjektive‘ Bedeutung medialer Formen im Hinblick auf weitergehende kul-
turelle Zusammenhänge und Machtfragen zu untersuchen. Nach der Entwicklung
des Encoding/Decoding-Modells durch Stuart Hall, dem damaligen Direktor des
Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) der University of Birmingham,
entstanden eine Fülle empirischer Untersuchungen, in denen mittels ethnografischer
Methoden die Rezeption und Aneignung von Medien – in erster Linie des Fernse-
hens – in alltäglichen Kontexten erforscht wurde. Dabei wurde die teilnehmende Be-
obachtung mit Interviews, Gruppendiskussionen und der textuellen bzw. semioti-
schen Analyse von Medien sowie einer kritischen Machtanalytik verbunden.
Seit diesen Anfängen haben die Cultural Studies einen internationalen „Boom“
(Morris 1990/2003) erlebt, in derem Zusammenhang auch das zunehmend breite
Aufgreifen im deutschsprachigen Raum steht. Cultural Studies lassen sich sicherlich
nicht (mehr) als ‚Ansatz der Birmingham School‘ definieren, auch wenn der CCCS
bis heute als eine der wichtigen Gründungsinstitutionen der Cultural Studies gelten
muss.1 Die so genannten „British Cultural Studies“ (Fiske 1987; Turner 1996) wur-
den mehr und mehr zu einem Diskurs der internationalen Cultural Studies (vgl.
bspw. García Canclini 2001). Vor diesem Hintergrund muss man sich die Frage stel-
len, wie die Cultural Studies gegenwärtig zu fassen sind. Sicherlich ist diese Frage
nicht leicht zu klären, wie auch anhand von verschiedenen Beträgen in dem vorlie-
10 Andreas Hepp & Rainer Winter

genden Band deutlich wird – an dieser Stelle sei nur auf den Artikel von Lawrence
Grossberg hingewiesen. Dennoch erscheint gerade im Hinblick auf das Betreiben
von Cultural Studies im deutschsprachigen Raum eine solche Klärung hilfreich.
Ausgehend von an anderer Stelle publizierten Überlegungen (vgl. Winter 2001;
Hepp 2004a) möchten wir vorschlagen, die Cultural Studies nicht einfach mit der
deutschsprachigen Kulturwissenschaft gleichzusetzen, die immer wieder darum be-
müht ist, sich als ‚(Quasi)Disziplin‘ zu etablieren. Vielmehr erscheint es uns nach
wie vor zielführend, Cultural Studies als ein transdisziplinäres Projekt der kriti-
schen Kulturanalyse zu begreifen: Um die Cultural Studies zu erfassen ist es not-
wendig, sich einerseits deren transdisziplinären Projektcharakter zu vergegenwärti-
gen, andererseits deren kritischen Fokus auf Kulturanalyse. Beides ist gewisserma-
ßen die Klammer der Auseinandersetzung mit Fragen von Kultur, Medien und
Macht im Rahmen der Cultural Studies.
Kennzeichnend für die Cultural Studies ist wie gesagt deren Transdisziplinari-
tät. Wie Stuart Hall heraus gestrichen hat, haben die Cultural Studies aus seinem
Blickwinkel „keinen simplen Ursprung“ (Hall 2000: 35), sondern sind ‚multipel‘ an-
gelegt. Wie Stuart Hall in seinen Überlegungen zum „Vermächtnis der Cultural Stu-
dies“ fortfährt:
„Cultural Studies haben vielfältige Diskurse; sie haben eine Reihe unterschiedlicher Ge-
schichten. Sie sind eine ganze Reihe von Bewegungen; sie haben ihre verschiedenen Kon-
junkturen und wichtigen Momente in der Vergangenheit. Sie beinhalten verschiedene Arbeiten
[…].“ (Hall 2000: 35)
Die Cultural Studies sind demnach als eine „diskursive Formation“ oder „Projekt“
(ebd.) zu fassen, das sich nicht auf ein bestimmtes Set an Theorien oder Methoden
festlegen lässt. Hieraus kann aber nicht – wie Hall ebenfalls heraus streicht – gefol-
gert werden, dass die Cultural Studies „alles sind, was die Leute machen, die es so
nennen“ (Hall 2000: 36). Das Spezifikum von Cultural Studies seiner Argumentation
nach ist, dass sie ein auf im weitesten Sinne zu verstehende ‚politische Fragen‘
orientiertes Projekt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sind. Kulturelle Fra-
gen sind immer politische Fragen. Im Bereich der Kultur werden Machtverhältnisse
etabliert, legitimiert, aber auch in Frage gestellt.
Ganz in diesem Sinne hat auch Chris Barker betont, dass man die „Cultural Stu-
dies als einen theoretischen Zusammenhang betrachten kann, dessen Vertreter die
Produktion theoretischer Erkenntnis als politische Praxis begreifen“ (Barker 2003:
181). Erkenntnis ist in diesem Sinne für die Cultural Studies nie neutral, sondern po-
sitionsbestimmt und damit eingebettet in Fragen von Macht und gesellschaftlicher
Auseinandersetzung. Ausgehend von diesem Bezugspunkt bleiben die Cultural Stu-
dies „kaleidoskopisch“ (ebd.), d.h. sie lassen sich nicht auf eine Disziplin festschrei-
ben, sondern konkretisieren sich in verschiedenen wissenschaftlichen Kontexten auf
unterschiedliche Weise (siehe dazu exemplarisch die Beiträge in Gilroy et al. 2000).
Genau dieser Zusammenhang charakterisiert auch die Entwicklung von Cultural
Studies im deutschsprachigen Raum: Sie sind hier gerade nicht Teil der sich ent-
wickelnden deutschsprachigen Kulturwissenschaft geworden, die sich ausgehend
von philologisch-literaturwissenschaftlichen Traditionen zunehmend als Universitäts-
Cultural Studies in der Gegenwart 11

disziplin generiert (vgl. bspw. Böhme et al. 2000). Vielmehr konkretisiert sich das
‚Projekt‘ der Cultural Studies in verschiedenen disziplinären Zusammenhängen –
von der Kommunikations- und Medienwissenschaft über die Soziologie und andere
Sozialwissenschaften bis hin zur den Sprach- und Literaturwissenschaften (vgl. dazu
auch die Beiträge in Göttlich et al. 2001 und in diesem Band).
Dass Cultural Studies auch trotz aller Pluralität durch eine ‚Identität schaffende‘
Spezifik gekennzeichnet sind, verweist auf den zweiten angeführten Punkt, nämlich
den ihrer kritischen Kulturanalyse. Cultural Studies verstehen sich als der Versuch
des Betreibens einer kritisch fokussierten Kulturanalyse. Dies kann aber nicht damit
gleichgesetzt werden, Arbeiten der Cultural Studies gingen in Bezug auf Medien-
kommunikation davon aus, Menschen würden generell durch Medien ‚manipuliert‘,
seien von den Ideologien einer ‚Bewusstseinsindustrie‘ gefangen. Das vielfach zi-
tierte Encoding/Decoding-Modell von Stuart Hall und an dieses anschließende, ein-
gangs bereits erwähnte Rezeptions- und Aneignungsstudien versuchen innerhalb der
Cultural Studies in Abgrenzung zu solchen einfachen Manipulationsthesen zu zei-
gen, dass die gerade in der deutschsprachigen Kritischen Theorie in Anschluss an die
Kulturindustrietheorie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer vorschnell kri-
tisierten ‚populären Medien‘ auch Potenzial für eine produktive Lebensgestaltung
bieten und damit Orte der Auseinandersetzung um Wirklichkeitsdefinitionen sind.
Deswegen – und nicht wegen eines uni-direktionalen Manipulationsgehalts – sind
‚populäre Medien‘ ein relevanter Untersuchungsgegenstand für Cultural Studies.
‚Kritik‘ wird an dieser Stelle damit nicht als eine von einer direkten Wirkung ausge-
hende ‚Manipulationskritik‘ greifbar, sondern ist vielmehr als eine ‚multiperspekti-
vische Kritik‘ zu charakterisieren.
Um zu konkretisieren, was wir an dieser Stelle meinen, bietet es sich an, Überle-
gungen von Douglas Kellner (1995: 57f.) aufzugreifen. Kellner problematisiert an
dem Ansatz der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, dass diese ein monolithi-
sches Konzept von Ideologie hat, das letztlich davon ausgeht, Ideologien seien in
sich widerspruchsfrei und begünstigten die ökonomischen Interessen der herrschen-
den Macht. Verschiedenste Studien haben aber gezeigt, dass eine solche ökonomisti-
sche Kritik zu kurz greift, da sich ‚Macht‘ in Bezug auf Medien auch in ganz ande-
ren Zusammenhängen wie Gender, kulturelle Identität, Alter usw. artikuliert, ohne
dass man diese mit den (ökonomischen) ‚Interessen‘ einer bestimmten Klasse gleich
setzen könnte. Im Gegensatz dazu fordert Kellner eine multikulturelle Form von
Kritik, die solchen verschiedensten Konkretisierungen von Machtverhältnissen ge-
recht zu werden versucht. Diesbezüglich schreibt er:
„Such ideology critique is multicultural, discerning a range of forms of oppression of people
of different races, ethnicities, gender, and sexual preference and tracing the ways that ideolo-
gical cultural forms and discourses perpetuate oppression.“ (Kellner 1995: 58)
Wenn wir von ‚multiperspektivischer Kritik‘ sprechen, dann haben wir diesen Zu-
sammenhang im Blick, um den es auch Douglas Kellner hier geht: Eine kritische
Auseinandersetzung mit Fragen von Kultur, Medien und Macht greift sicherlich zu
kurz, wenn sie in Bezug auf Medien nur ökonomische (Besitz)Verhältnisse fokus-
siert bzw. ausgehend davon eine Kritik von in den Medien kommunizierten Ideolo-
12 Andreas Hepp & Rainer Winter

gien betreibt. Kritik ist aus unserer Perspektive immer dann zu üben, wenn Medien-
kommunikation dazu beiträgt, die Einflussmöglichkeiten und Handlungsfähigkeiten
(„agency“) von Menschen auf eine Weise zu gestalten, die andere Handlungsfähig-
keiten beschneidet. Dies kann Fragen von Rassismus betreffen, Ausgrenzungen im
Bereich von Gender, ökonomische Fragen, aber auch vielfältige weitere Machtver-
hältnisse. Multiperspektivisch meint hier also, solche unterschiedlichen Perspektiven
auf Handlungsfähigkeit in den Blick zu rücken (vgl. Hepp 2004b: 424).
Dabei muss man sich bewusst sein, dass ‚Handlungsfähigkeit‘ nicht einfach ‚in-
dividuelles Interesse‘ einzelner Personen oder Personengruppen heißt. Wie Lawren-
ce Grossberg heraus gestrichen hat, ist Handlungsfähigkeit keine Angelegenheit der
Handlungsmacht des Individuums oder der Gruppe, sondern dreht sich um den Zu-
gang zu bestimmten Orten, „Orte, an denen man die verschiedenen ‚Kräfte‘ und
Vektoren, die die Welt formen, unterbrechen und beeinflussen kann“ (Grossberg
2000: 305). Entsprechend besteht nicht eine ‚lebensweltliche Handlungsfähigkeit‘
von Menschen, die (möglicherweise) durch Medien bzw. mediale Diskurse be-
schränkt wird. Vielmehr sind Medien selbst Ressourcen der Schaffung von Hand-
lungsfähigkeit in verschiedenen Lebenswelten, indem sie kommunikativ ‚Landkar-
ten‘ oder ‚Geometrien‘ schaffen, die machtgeprägt bestimmte Räume von Hand-
lungsfähigkeit postulieren:
„[…] die Medien arbeiten als Karthografen. Eine gelebte Geografie […] ist eine Karte der In-
vestitionen und Zugehörigkeiten, der Identifikationen und Distanzen, der Identitäten und Dif-
ferenzen, der Plätze und der Vektoren, die sie miteinander verbinden (Räume). Solche Karten
konstruieren ein verstreutes Set an Plätzen als temporäre Momente von Stabilität, Orte, an de-
nen Menschen möglicherweise haltmachen und ihr ‚Selbst‘ in Praktiken installieren […].
Während die Karte oder gelebte Geografie nicht garantieren kann, wie irgendeine (kulturelle)
Praxis in einem bestimmten Platz umgesetzt wird, […] konstruiert sie doch die Linien, die die
Möglichkeiten der Menschen zu einem gegebenen Zeitpunkt strukturieren und begrenzen, die
Überschneidungen, die die ambigen Möglichkeiten definieren, Richtungen und Geschwindig-
keiten zu ändern, und die Adressen, an denen die Menschen sich nach ihrer Wahl für verschie-
dene Aktivitäten niederlassen können.“ (Grossberg 2000: 305f.)
Eine politische Kulturanalyse im Rahmen von Cultural Studies setzt damit (globale)
Medien nicht gegen eine (lokale) Lebenswelt, sondern untersucht, welchen Status
die fortschreitende Mediatisierung kultureller Praktiken für die Auseinandersetzun-
gen um gegenwärtige Handlungsfähigkeiten hat. Hierbei müssen Medien umfassend
in den Blick rücken, sowohl in Bezug auf Prozesse der Produktion, Repräsentation
als auch der Aneignung. In solcher Form eine kritische Kulturanalyse zu betreiben,
hierin besteht unseres Erachtens die Aufgabe der Weiterentwicklung von Cultural
Studies im deutschsprachigen Raum. Dass sich die verschiedenen Studien, die in
diesem in der Tradition der Cultural Studies realisiert wurden, auf dem Weg dahin
befinden – dies zeigen hoffentlich die Beiträge der dritten Auflage von „Kultur –
Medien – Macht“.
Cultural Studies in der Gegenwart 13

2 Über diesen Band

Wie bereits hervor gehoben, hat dieser nun in der dritten Auflage erscheinende Band
eine fast zehnjährige Geschichte: Die Idee für dieses Buch geht zurück auf einen in-
terdisziplinären Arbeitskreis auf der Jahrestagung 1996 der Gesellschaft für Ange-
wandte Linguistik in Erfurt. Die Beiträge dieses Arbeitskreises wurden bereits für
die Erstauflage ergänzt durch eine Reihe von weiteren einschlägigen Veröffentli-
chungen, die einerseits in Übersetzungen englischsprachiger Autorinnen und Auto-
ren eine Annäherung an das Projekt der Cultural Studies aus der Innenperspektive
ermöglichen, andererseits als charakteristisch für das Betreiben von Cultural Studies
im deutschsprachigen Raum gelten können. Für die 1999 veröffentlichte Zweitaufla-
ge von „Kultur – Medien – Macht“ wurde gerade dieser zweite Bereich von Beiträ-
gen weiter ausgebaut, um eine Darstellung der ‚deutschsprachigen Cultural Studies‘
zu ermöglichen. Für die nun vorliegende dritte Auflage haben wir uns entschlossen,
bis auf die drei Übersetzungen der grundlegenden und den Band einleitenden Auf-
sätze von Ien Ang, John Fiske und Lawrence Grossberg alle weiteren Beiträge zu
aktualisieren bzw. durch Neubeiträge zu ersetzen, die das entsprechende Thema auf
eine dem heutigen Diskussionsstand angemessene Art und Weise verhandeln. Inso-
fern haben sich manche Aufsatztitel und Namen von Autorinnen bzw. Autoren geän-
dert. Die Gliederung des Buchs ist aber dieselbe geblieben: Ein erster Teil über-
schrieben mit „Theorien, Begriffe und Perspektiven der Cultural Studies“ zielt dar-
auf ab, das Grundverständnis des Projekts der Cultural Studies greifbar zu machen.
Der erhebliche erweiterte zweite Teil „Zur Rezeption der Cultural Studies im
deutschsprachigen Raum“ geht in verschiedenen Beiträgen darauf ein, auf welche
Art und Weise und über welche Disziplinen hinweg die Cultural Studies im deutsch-
sprachigen Raum aufgegriffen worden sind. Der dritte Teil „Analysen der heutigen
Medienkultur“ schließlich stellt verschiedene Studien vor, die sich in Perspektive
der Cultural Studies mit der heutigen Medienkultur, ihren Herausforderungen, Wi-
dersprüchlichkeiten und Konflikten auseinander setzen.

Der erste Teil „Theorien, Begriffe und Perspektiven der Cultural Studies“ wird eröff-
net durch einen Beitrag von Lawrence Grossberg, der bereits in der ersten Auflage
enthalten war. Unter dem Titel „Der Cross Road Blues der Cultural Studies“ disku-
tiert Lawrence Grossberg die Grundlagen, die Besonderheiten und die politische Be-
deutung der Cultural Studies in ihrer Gesamtheit, die weit über die Medienforschung
hinausreichen. Herausforderungen der Gegenwart wie Globalisierung und Ökono-
misierung verweisen für ihn nicht nur auf die Relevanz der Cultural Studies als in-
terdisziplinärem Projekt, sondern sind auch die Folie, vor der die Begriffe von Kul-
tur und Kulturanalyse gesehen werden müssen.
Ebenfalls aus der ersten Auflage übernommen wurde der Beitrag „Populäre
Texte, Sprache und Alltagskultur“ von John Fiske. Fiske geht in seinem Artikel der
14 Andreas Hepp & Rainer Winter

Frage nach, warum bestimmte Medienprodukte Teil der Populärkultur werden und
mit welchen Merkmalen dies zusammenhängt. Medienprodukte werden dabei als
populäre Texte begriffen, die durch eine zwischen Oralität und Literalität stehende
„Produzierbarkeit“ gekennzeichnet sind. Als solche „produzierbaren Texte“ kann es
kulturindustriellen Produkten gelingen, Teil der Alltagskultur der „Leute“ zu wer-
den.
Der letzte direkt aus der Erstauflage entstammende Artikel wurde von Ien Ang
verfasst und diskutiert die für die Cultural Studies wichtige Vorstellung des Kon-
textualismus und deren Bedeutung für die ethnografische Rezeptionsforschung. Da-
bei setzt sich Ang mit der Problematik auseinander, dass die Radikalität von Kon-
textualismus in der Rezeptionsforschung nicht dazu führen darf, unhinterfragt immer
weitere Lebensbereiche in diese einzubeziehen. Vielmehr verweist radikale Kon-
textualität auf eine Positionsbestimmung kritischer ethnografischer Medienfor-
schung, durch die sich diese deutlich von nicht-kritischen Forschungstraditionen wie
der der Marktforschung abgrenzt.
Ausgehend von einem in diesen drei Beiträgen umrissenen Grundverständnis
von Cultural Studies stellt Rainer Winter in seinem Artikel anhand der Ethnografie
die kritische Methodologie der Cultural Studies vor. Fragen, die er dabei diskutiert,
betreffen die Differenz der ethnografischen Forschung in den Cultural Studies im
Vergleich zu anderen Verfahren qualitativer Sozialforschung ebenso wie die Frage,
auf welche Weise die Perspektive des bzw. der Anderen in einer solchen Forschung
berücksichtigt werden kann. Dieses methodologische Vorgehen wird anhand ver-
schiedener Beispiele greifbar gemacht.
Udo Göttlich arbeitet die Relevanz des kulturellen Materialismus von Raymond
Williams, der bereits mit seinen früheren Arbeiten wesentlich an der Herausbildung
der Cultural Studies in Großbritannien beteiligt war, für die Medienanalyse der Cul-
tural Studies heraus. Hierbei fokussiert er insbesondere die Frage, welche Anknüp-
fungspunkte der kulturelle Materialismus für eine gegenwärtige kommunikations-
und medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Medien- und Populärkultur
bietet und welche perspektivischen Entwicklungsmöglichkeiten hier bestehen.
In dem Beitrag „Doing Material Culture“ konkretisieren Karl H. Hörning und
Julia Reuter die Praxis einer u.a. an den Cultural Studies angelehnten Kulturanalyse,
die darauf abzielt, ‚Kultur‘ in ihrer alltäglichen Konkretisierung zu untersuchen. Sie
machen greifbar, dass ein solches Unterfangen nicht bei der Beschreibung abstrakter
Bedeutungssysteme ‚gesellschaftlicher Integration‘ ansetzen kann, sondern das all-
tägliche „doing“ fokussieren muss. Dies beinhaltet auch eine Auseinandersetzung
mit materialen Aspekten von Kultur.
In dem Beitrag von Friedrich Krotz rückt das Verhältnis von Cultural Studies
und Symbolischem Interaktionismus anhand des jeweiligen impliziten Menschen-
bilds in den Fokus. Friedrich Krotz zeigt dabei auf, dass es im Verständnis von Kul-
tur und Kommunikation erhebliche Bezüge zwischen beiden wissenschaftlichen Tra-
ditionen gibt – umgekehrt sich beide aber auch produktiv ergänzen. Dies trifft seiner
Argumentation nach insbesondere für eine auch perspektivische Verortung der Me-
dienforschung der Cultural Studies im deutschsprachigen Raum zu.
Cultural Studies in der Gegenwart 15

Brigitte Hipfl hebt mit Rückgriff auf die Psychoanalyse von Lacan die Rolle von
Fantasien beim Gebrauch von Medien hervor. Sie weist dabei darauf hin, dass es für
eine perspektivische Entwicklung der Cultural Studies wichtig ist, dass diese auch
nicht bewusste Prozesse in ihren Medienanalysen berücksichtigen – und gerade hier
bieten sich psychoanalytische Ansätze in der Tradition von Lacan an. Diese gestatten
es, Nicht-Bewusstes in der Medienrezeption auf differenzierte Weise zu erfassen.
Abgeschlossen wird der erste Teil des Bands mit einem Beitrag von Andreas
Hepp, in dem es ihm um Perspektiven einer an den Cultural Studies orientierten Me-
dien- und Kommunikationsforschung geht. Hierbei argumentiert er, dass die fort-
schreitende Globalisierung und Digitalisierung der Medienkommunikation ein Über-
denken des Begriffsapparats von Cultural Studies notwendig macht. Als angemes-
sene begriffliche Konzepte für Cultural Studies der Medien in diesen Kontexten
werden das der Konnektivität, des Netzwerks und des Flusses diskutiert.
Insgesamt geht es damit in den verschiedenen Aufsätzen des ersten Teils des
vorliegenden Buchs nicht nur darum, verschiedene Theorien und Begriffe von Cul-
tural Studies vorzustellen und zu diskutieren. Insbesondere unternehmen die Auto-
rinnen und Autoren den Versuch, diese Diskussion perspektivisch zu führen – d.h.
sich die Frage zu stellen, welche Konzepte für ein zukünftiges Betreiben von Me-
dienanalysen im Rahmen von Cultural Studies zentral erscheinen. Gemeinsam ist
den Beiträgen dabei, dass Theoriediskussion nicht als ein losgelöstes Theoretisieren
begriffen wird, sondern sets in Bezug auf einzelne untersuchte Phänomene im Ge-
genstandsfeld von Kultur, Medien und Macht geschieht.

Im Fokus des sich daran anschließenden zweiten Teils steht eine Auseinanderset-
zung mit der Rezeption der Cultural Studies im deutschsprachigen Raum. Eröffnet
wird dieser Abschnitt durch einen Artikel von Lothar Mikos, in dem dieser
überblickend die Hauptentwicklungen der Rezeption der Cultural Studies vor allem
innerhalb der deutschsprachigen Medien- und Kommunikationsforschung umreißt.
Hierbei skizziert er ein Aufgreifen von Cultural Studies über vier unterschiedliche
Phasen hinweg, wobei im deutschsprachigen Raum zunehmend ein eigenständiges
Betreiben von Cultural Studies an die Stelle einer wissenschaftsgeschichtlichen Re-
zeption tritt.
In dem Artikel „Aktiv ist gut, interaktiv noch besser“ befassen sich Eggo Müller
und Hans J. Wulff ausgehend von deren Überlegungen in anderen Auflagen dieses
Buchs mit in der deutschsprachigen Rezeption der Cultural Studies nach wie vor be-
stehenden offenen Fragen. Diese betreffen ihrer Argumentation nach den Status von
‚Rezipientenaktivitäten‘ beziehungsweise das Konzept des ‚Diskurses‘ im Gesam-
trahmen der Theorieentwicklung der Cultural Studies. Ihre Argumente eröffnen An-
stöße für eine Weiterentwicklung von Cultural Studies und Medienanalyse auch im
deutschsprachigen Raum.
Verschiedene Überlegungen von Lothar Mikos und Friedrich Krotz aufgreifend
setzt sich Elisabeth Klaus mit dem Verhältnis von Cultural Studies und Gender Stu-
dies in der Medienforschung auseinander. Hierbei zeigt sie einerseits, dass beide
‚Projekte‘ sich gerade im deutschsprachigen Raum erheblich und auf produktive
16 Andreas Hepp & Rainer Winter

Weise wechselseitig beeinflusst haben. Gleichzeitig weist Elisabeth Klaus kritisch


darauf hin, dass zumindest in Teilen der deutschsprachigen Cultural Studies die Tra-
dition der Gender Studies auf nicht angemessene Weise marginalisiert wurde.
Andreas Dörner setzt sich mit der deutschsprachigen Rezeption der Cultural
Studies aus politikwissenschaftlicher Perspektive auseinander. Hier rücken Fragen
der politischen Öffentlichkeit in den Mittelpunkt bzw. Forschungen der Cultural Stu-
dies, die hierfür relevant erscheinen. Andreas Dörner diskutiert disbezüglich ins-
besondere die Arbeiten von Douglas Kellner, die zwischen Frankfurter Schule und
der britischen bzw. amerikanischen Tradition der Cultural Studies eine vermittelnde
Position einnehmen und selbst Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung von Cul-
tural Studies aus politikwissenschaftlicher Perspektive sein können.
Einen sprachwissenschaftlichen Fokus hat Jannis Androutsopoulos. Er weist für
die Rezeption von Cultural Studies im deutschsprachigen Raum auf verschiedene
Schnittstellen insbesondere zur Medienlinguistik hin. Neben methodischen Bezügen
sind dies vor allem Bezüge der Theorieentwicklung und empirischen Forschung, die
sich dadurch ergeben, dass es im deutschsprachigen Raum eine breite Tradition einer
sozialwissenschaftlich orientierten, kritischen Sprachwissenschaft gibt.
Ein gänzlich anderer Fokus der deutschsprachigen Rezeption von Cultural Stu-
dies steht im Mittelpunkt des Artikels von Ralf Hinz. Dieser greift die Auseinan-
dersetzung mit den Cultural Studies im avancierten Musikjournalismus auf. Er kann
aufzeigen, dass journalistische Pop-Theorie und Cultural Studies zum Teil erhebli-
che Bezüge haben, für beide Seiten produktive Differenzen letztlich aber bestehen
bleiben. Diese ergeben sich vor allem aus dem akademischen Charakter von Cultural
Studies auch im deutschsprachigen Raum.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die verschiedenen Beiträge im zweiten
Teil dieses Bandes deutlich machen, in welcher Breite das Projekt der Cultural Stu-
dies gegenwärtig im deutschsprachigen Raum aufgegriffen und fortgeführt wird. Ar-
beiten, die sich in dieser Tradition sehen, sind nicht mehr nur in der (Medien- und
Kultur-)Soziologie bzw. Kommunikations- und Medienwissenschaft zu finden, son-
dern zunehmend auch in anderen Disziplinen und Zusammenhängen: Sprach- und
Literaturwissenschaften, (Medien-)Pädagogik, Psychologie, Politikwissenschaft,
Genderforschung und Musikjournalismus sind Beispiele dafür. Dieses Aufgreifen
hat sich mehr und mehr zu einer eigenständigen, produktiven Aneignung entwickelt,
in deren Rahmen Cultural Studies in spezifischen Formen und Weisen weiter ent-
wickelt werden.

Diese Tendenz dokumentieren auch die Beiträge im dritten Teil von „Kultur – Me-
dien – Macht“. Gemeinsam haben diese verschiedenen Artikel, dass sie in Ergebnis
und Methodik durchaus vielfältige Analysen der gegenwärtigen Medienkulturen dar-
stellen. Eröffnet wird dieser Teil durch einen Beitrag von Rudi Renger, in dem dieser
einen an den Cultural Studies orientierten Ansatz der Analyse des gegenwärtigen po-
pulären Journalismus vorlegt. In diesem Rahmen wird greifbar, dass eine angemes-
sene Auseinandersetzung mit Journalismus nur unter Einbezug auch der Aneig-
nungsperspektive geschehen kann und umfassend die Bedeutungproduktion im Jour-
Cultural Studies in der Gegenwart 17

nalismus kritisch fokussiert. Hierdurch wird boulevardorientierter Journalismus als


ein zentraler Aspekt gegenwärtiger Medienkulturen greifbar.
In dem Beitrag von Ursula Ganz-Blättler rückt das fiktionale Fernsehen in den
Fokus der Auseinandersetzung. ‚Fiktion‘ im Fernsehen wird auf verschiedenen Ebe-
nen greifbar, als soziale Praxis, rituelle Kommunikation, kommunikatives Genre und
kulturelle Teilhabe. Insgesamt zeigt der Beitrag, welchen zentralen Stellenwert po-
puläre fiktionale Inhalte für gegenwärtige Medienkulturen haben, was eine differen-
zierte theoretische und empirische Annäherung an das Phänomen erfordert.
Mit Fragen der Identität und der Relevanz von Werbung für deren Artikulation
setzt sich Matthias Marschik auseinander. Er argumentiert, dass es in heutiger Wer-
bung weniger darum ginge, Konsumentinnen und Konsumenten zum Kauf be-
stimmter Produkte anzuregen. Viel stärker steht im Vordergrund, dass bestimmte Le-
bensstile und Rituale angeboten werden, deren unhintergehbarer Teil einzelne Pro-
dukte sind, die jedoch in dieser Gesamtheit übernommen werden sollen. Mit diesem
Verständnis entwickelt Matthias Marschik einen kritischen Ansatz der Auseinan-
dersetzung mit Werbung als Teil gegenwärtiger Medienkulturen.
Aus anderer Perspektive befasst sich Mark Terkessidis mit Fragen von Identität:
Es geht ihm um das Bild des ‚Fremden‘ im Hinblick auf die Artikulation von kul-
tureller Identität. Mark Terkessidis zeigt auf, inwieweit eine an den Cultural Studies
orientierte Auseinandersetzung mit kultureller Differenz und Hybridität hilfreich ist,
kulturelle Identitäten als Aspekt gegenwärtiger Medienkulturen zu fassen.
Im Beitrag von Siegfried Jäger rückt das Konzept der ‚Multikulturalität‘ in Be-
zug auf gegenwärtige Mediendiskurse ins Zentrum der Betrachtung. Die Bedeutung
dieses Konzeptes wird greifbar, wenn man die ‚diskursiven Kämpfe‘ in den Medien
um Kultur und Rassismus fokussiert – nicht als ein selbst harmonisierendes Kon-
zept, sondern als eine Annäherung an Kulturen, die versucht, der Widersprüchlich-
keit von Kulturkontakten gerecht zu werden. In diesem Sinne sind heutige Medien-
kulturen selbst als multikulturell zu fassen.
Johanna Dorer greift in ihrem Artikel das an Foucault angelehnte Konzept des
Kommunikationsdispositivs auf und macht es nutztbar für eine Auseinandersetzung
mit dem Internet bzw. Netzkommunikation als einem Aspekt heutiger Medienkul-
turen. Hierdurch wird das Internet im Wandel verschiedener Kommunikations-
dispositive verort- und entsprechend aus historischer Perspektive fassbar. Es wird
deutlich, dass das Internet weit davon entfernt ist, eine grenzenlose Kommunikation
jenseits hierarchischer Strukturen zu ermöglichen.
Die westafrikanische Weltmusik ist Gegenstand der Untersuchung von Frank
Wittmann. Zum einen wird ‚Weltmusik‘ als eine Form populärer Musik in gegen-
wärtigen Medienkulturen gefasst. Zum anderen geht es darum, die Spezifik ‚westa-
frikanischer Weltmusik‘ im Spannungsverhältnis zwischen Demokratisierung, krie-
gerischen Konflikten und Rassismus zu verorten. Damit wird deutlich, dass eine an
den Cultural Studies orientierte Auseinandersetzung mit Musik nicht bei (westlicher)
Popmusik stehen bleiben kann, sondern sich gerade in Zeiten von Globalisierung
auch anderen Phänomenen öffnen muss.
18 Andreas Hepp & Rainer Winter

Einen gänzlich anderen Aspekt von Medienkultur fokussiert Caroline Düvel.


Die von ihr vorgestellte Studie setzt sich mit dem Status von Mobiltelefonie für den
in unterschiedlichem Maße mobilen Lebensstil von Jugendlichen und jungen Er-
wachsenen auseinander. Hierbei kann sie zeigen, dass Mobiltelefonie nicht per se
‚mehr Mobilität‘ gestattet, sondern unterschiedliche Aneignungsweisen und -kon-
texte verschiedene Handlungsfähigkeiten bis hin zur Kontrolle in Beziehungen
eröffnet. Die Studie macht die Widersprüchlichkeit von Mobilkommunikation deut-
lich.
Die Untersuchung von Klaus Neumann-Braun und Axel Schmidt ist der erste
von drei Beiträgen am Ende diesen Bandes, die sich im weitesten Sinne mit Fragen
von Jugendkultur und Szenen auseinander setzen. Im Fokus ihrer Studie steht die Ju-
gendszene der Gothics, der sie sich mit (medien)ethnografischen Methoden annä-
hern. Hierbei wird deutlich, wie es in dieser Jugendszene gerade auch durch die
Aneignung medial vermittelter Ressourcen möglich ist, in gegenwärtigen säku-
larisierten Medienkulturen ‚magische Spielräume‘ zu schaffen.
Die von Ute Bechdolf vorgestellte Fallstudie „Verhandlungssache Geschlecht“
setzt sich mit der kulturellen Herstellung von (Gender-)Differenz bei der Rezeption
von Musikvideos auseinander. Die Perspektive von Cultural Studies und Gender
Studies aufgreifend wird gezeigt, wie in der Musikvideoaneignung ‚Geschlecht‘ als
Kategorie, Differenz und Machtverhältnis in einem fortwährenden Prozess der Re-
und Dekonstruktion wirksam wird. Gender bleibt auch in heutigen Medienkulturen
ein zentraler Aspekt.
Der dritte Beitrag, der sich mit Jugendkulturen und Szenen auseinander setzt, ist
der von Waldemar Vogelgesang. Jugendkulturen und Szenen werden hier als ‚Wahl-
nachbarschaften‘ im Prozess fortschreitender kultureller Differenzierung greifbar,
als Ort von Produktivität aber auch vielfältiger Auseinandersetzungen. Eine wissen-
schaftliche Beschäftigung mit ‚Jugend‘ bedarf entsprechend eines differenzierten,
multiperspektivischen Zugangs, der die verschiedenen Aneignungsweisen und Sze-
ne-Semantiken kritisch in den Fokus rückt.
Insgesamt machen auch die Beiträge des dritten Teils von „Kultur – Medien –
Macht“ deutlich, welches Potenzial die Cultural Studies für eine kritische Analyse
mit gegenwärtigen Medienkulturen bieten. Fokus dabei sind auch im deutschspra-
chigen Raum nicht mehr nur Film und Fernsehenprodukte und deren Rezeption, son-
dern ebenso Fragen medialer Produktion (bspw. im Journalismus), digitale Medien,
Mobilkommunikation oder Jugendkulturen. Deutschsprachige Analysen in der Per-
spektive der Cultural Studies haben durchaus ihre eigene Tradition entwickelt, wenn
neben Diskussionen, Theorien und empirischen Ergebnissen der internationalen Cul-
tural Studies Arbeiten von Kommunikations- und Medienwissenschaft, Soziologie,
Politikwissenschaft, Pädagogik, Psychologie oder Sprach- und Literaturwissenschaf-
ten im deutschsprachigen Raum aufgegriffen und in spezifische ‚Cultural Studies‘
gegenwärtiger Medienkulturen integriert werden. Gerade dies macht den Reiz des
Projekts der Cultural Studies aus, das sich in verschiedenen Kontexten auf unter-
schiedliche Weise artikuliert.
Cultural Studies in der Gegenwart 19

Diese nun vorliegende dritte Auflage von „Kultur – Medien – Macht“ wäre nicht oh-
ne die Unterstützung einer Vielzahl von Personen möglich gewesen, von denen wir
einigen abschließend danken möchten. Danken möchten wir zuerst einmal der deut-
schen Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL), die es uns ermöglichte, einen
interdisziplinären Arbeitskreis zum Thema des Bandes auf ihrer Jahrestagung 1996
in Erfurt durchzuführen, aus dem dessen Erstauflage hervor ging. Wir danken den
verschiedenen Lektoren des ehemals Westdeutschen Verlags nun Verlags für Sozial-
wissenschaften, die das Buchprojekt betreuten, in allen Phasen umfassend unter-
stützten und mitunter geduldig warteten – Bernd Schäbler, Alexandra Schichtel und
Barbara Emig-Roller. Beate Köhler danken wir für die Gestaltung des Titelbildes al-
ler drei Auflagen. Für Übersetzungen der verschiedenen ausländischen Beiträge dan-
ken wir Henning Dekant, Beatrix Johnen, Susanne Hennenkemper und Silke Wölk.
Die Edition der dritten Auflage unterstützten Matthias Berg, Mareike Mika und Hei-
de Pawlik, denen wir ebenfalls danken möchten. Daneben wäre diese dritte Auflage
nicht möglich gewesen ohne die Vielzahl von Personen, die in verschiedenen wis-
senschaftlichen Kontexten im deutschsprachigen Raum Cultural Studies betreiben
und ein nachhaltiges Interesse an der Thematik haben. Auch ihnen sei gedankt.

Anmerkungen

1 Dies wird gegenwärtig an den aktuellen Ausgaben der Zeitschrift „Cultural Studies“ greif-
bar, in der in unterschiedlichen Beiträgen der Hintergrund der Einstellung eines entspre-
chenden Programms an der University of Birmingham, Großbritannien, diskutiert wird.
Die Breite, in der diese Debatte erfolgt, ist nur vor dem Hintergrund der Zentralität des
CCCS für die Etablierung der Cultural Studies verständlich.

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20 Andreas Hepp & Rainer Winter
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Winter, R. (2001): Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht. Weilers-
wist.
Teil 1:

Theorien, Begriffe und Perspektiven


der Cultural Studies
Der Cross Road Blues der Cultural Studies

Lawrence Grossberg

1 Scheidewege der Cultural Studies – Cultural Studies am


Scheideweg*

Ich kann nicht an eine wichtige Entscheidung denken (und nun stehe ich vor einer),
ohne dass mir der „Cross Road Blues“ und die Legende des Musikers Robert John-
son in den Sinn kommt, der seine Seele an den Teufel verkaufte, um der größte
Bluesmusiker aller Zeiten zu werden. Allerdings gelang es ihm nicht, sehr lange zu
spielen. Man sollte die besondere ökonomische Logik beachten, die hier am Werk
ist: Robert Johnson musste seine Seele bewahren, solange er lebte. Denn ohne Seele
kann man den Blues nicht singen. Ich habe das Gefühl, dass diejenigen von uns, die
sich den Cultural Studies verpflichtet fühlen, insbesondere in den Vereinigten Staa-
ten, einen Pakt mit dem Teufel (der neuen kapitalistischen Hochschule?) schließen,
um eine neue Position einzunehmen und mit ihr, so die Hoffnung, eine gewisse
Legitimität und Macht zu erwerben. Aber ich fürchte, dass wir unsere Seele ver-
lieren, bevor es uns gelingt, in dieser Position überhaupt etwas zu erreichen.
In allzu vielen Bereichen werden Cultural Studies in einer Weise institutiona-
lisiert, die lediglich die Struktur der Einzelfächer bzw. der sprach- und kommunika-
tionswissenschaftlichen Abteilungen reproduziert, in denen so viele von uns ausge-
bildet wurden und zu Hause sind. Eine Folge davon ist, dass ‚Interdisziplinarität‘ oft
als rhetorische Waffe gegen die Disziplinen benutzt wird, anstatt sie als produktive
Herausforderung zu begreifen, um neue Beziehungen herzustellen und unsere eige-
nen Forschungspraktiken zu verändern. Eine zweite Folge ist, dass allzuoft das
‚Wissen‘, das wir hervorbringen, anscheinend nur das bestätigt, was wir bereits wis-
sen, und in unsere pädagogische Praxis wieder einbringt, was wir bereits tun.
Zweifellos gibt es historische Ursachen, die erklären, warum progressive politi-
sche Intellektuelle (einschließlich vieler Cultural Studies-Wissenschaftler) auf diese
Weise auf den fundamentalen Wandel reagiert haben, der sich gegenwärtig im Klas-
senzimmer, an der Universität, in der Medien- und Konsumkultur, in der Nation und
in der Welt vollzieht. Hier ist der Zusammenbruch der Popular Front und der ver-
schiedenen übrigen Formationen, die an sie anknüpften, anzuführen, und wie dies
zum speziellen (und irgendwie eigentümlichen) Zustand der Neuen Linken in den
Vereinigten Staaten führte. Ebenso ist der Einfluss der – im Grunde genommen –
24 Lawrence Grossberg

Selbstdestruktion der Neuen Linken zu erörtern, und was er für die Generationen –
insbesondere der Intellektuellen – in den 1970er und 1980er Jahren bedeutete. Tat-
sächlich glaube ich, dass eine Folge davon die Vorstellung war (die sowohl Teil der
Neuen Linken war, als auch von ihr in Frage gestellt wurde), dass Radikalismus und
Reformismus Gegensätze wären. Dies brachte einen allgemeinen (allerdings nicht
gänzlichen) Rückzug von der Praxis der Politik (im weitesten Sinne) und der öffent-
lichen Debatte und damit eine Zuflucht in die Politik der Theorie und die Theorie
der Politik hervor. Ich beabsichtige sicherlich nicht, die Theorie ‚auseinander zu
nehmen‘ oder ihr vorzuhalten, dass sie oft (notwendigerweise) nicht auf die gegen-
wärtige Situation angewandt werden kann. Im Gegenteil, ich bin der Auffassung,
dass Theorie absolut notwendig ist (und dass wir eher das Problem haben, dass wir
keine adäquaten Theorien für diese Aufgabe haben). Allerdings möchte ich einige
Aspekte der Praxis einzelner zeitgenössischer Theoriebildung kritisieren.
Demgegenüber möchte ich eine andere Praxis der Theoriebildung verteidigen,
eine andere Weise der Politisierung der Theorie und der Theoretisierung der Politik1,
die meinem Verständnis von Cultural Studies entspricht. Zunächst möchte ich ver-
deutlichen, was ich unter Cultural Studies verstehe, weil es immer schwieriger wird,
sie zu definieren. Denn der Begriff wird auf alles Mögliche angewandt: auf die wis-
senschaftliche Untersuchung der Kultur bzw. auf die progressive Kulturanalyse bzw.
auf die progressive, theoretisch verankerte Kulturanalyse bzw. auf die auf Gemein-
schaft sich gründende (interventionistische), progressive sowie theoretisch veran-
kerte Kulturanalyse. Schließlich sinkt er zum Namen eines besonderen theoretischen
Paradigmas oder einer Forschungspraxis herab. Natürlich verstehe ich die Gründe,
warum der Begriff ‚Cultural Studies‘ in einem so weiten Sinne gebraucht wird, aber
ich möchte an dem festhalten, was die Cultural Studies zu einem einzigartigen
Unternehmen macht.2 Ich möchte hier nicht Definitionen festlegen (und ich denke,
dass ich hierfür weder die Macht noch die rhetorischen Fähigkeiten habe), aber ich
möchte darstellen, was ich aus eigener Erfahrung am Centre for Contemporary Cul-
tural Studies in Birmingham weiß (und warum ich denke, dass Birmingham eine
zentrale, aber nicht eine Gründungsrolle in der Geschichte der Cultural Studies
gespielt hat und weiterhin einnimmt). Außerdem möchte ich die Bedeutung der
allerbesten Beispiele für Cultural Studies aufzeigen, von denen viele keine
offensichtlichen Verbindungen zu Birmingham haben, und wie ich Raymond Wil-
liams (1989) Unterscheidung zwischen dem Projekt und den Formationen der Cul-
tural Studies verstehe bzw. das, was Paul Gilroy (1993) das „sich verändernde Glei-
che“ der Cultural Studies nennen könnte.
Als eine Forschungspraxis führen Cultural Studies uns dazu, darüber nachzu-
denken, woher unsere Forschungsfragen kommen und es abzulehnen, sowohl unsere
Theorie als auch unsere Politik für unveränderbar zu halten, als ob sie im voraus
festgelegt werden könnten. Cultural Studies sind ein Versuch, die grundlegende
Frage zu beantworten: ‚Was geht vor sich?‘ und die Theorie ist ihr Werkzeug, um in
dieser Aufgabe etwas weiter zu kommen. Cultural Studies sind der Schauplatz eines
unaufhörlichen Kampfes zwischen theoretischen Ressourcen und politischen Reali-
täten. Es geht nicht darum, Texte oder Menschen zu interpretieren oder zu beurtei-
Der Cross Road Blues der Cultural Studies 25

len, sondern zu erfassen, wie das Alltagsleben von Menschen durch und mittels der
Kultur artikuliert wird, wie sie durch die besonderen Strukturen und Kräfte, die ihr
Leben immer in widerspruchsvoller Weise organisieren, zur Handlung befähigt oder
unfähig werden, und wie ihr Alltagsleben selbst mit den und durch die Strukturen
der ökonomischen und politischen Macht artikuliert wird. Es geht sowohl um die
historischen Möglichkeiten, das Leben von Menschen und die Machtverhältnisse zu
verändern, als auch um den absolut entscheidenden Beitrag intellektueller Arbeit für
die Vorstellung und die Verwirklichung solcher Möglichkeiten. In diesem Sinne
möchte ich Cultural Studies als eine akademische, Wissen produzierende Aktivität
verteidigen. Cultural Studies sind der Auffassung, dass intellektuelle Arbeit wichtig
ist, auch wenn ihre Wirkungen nicht unmittelbar ersichtlich sind oder wahrgenom-
men werden können.
Um dies zu verwirklichen, müssen die Cultural Studies ‚diszipliniert‘ genug
sein, um die besten und rigorosten theoretischen Ressourcen, die dafür verfügbar
sind, einsetzen zu können und gleichzeitig gewillt sein, das Risiko der Interdiszi-
plinarität einzugehen. Aber ihre Interdisziplinarität ist immer praktisch und strate-
gisch orientiert, hervorgegangen aus dem Umstand, dass die Cultural Studies der
Auffassung sind, dass die Untersuchung der Kultur es erfordert, die Beziehungen
zwischen der Kultur und dem, was nicht Kultur ist, zu erforschen. Deshalb sind die
Cultural Studies nicht einfach die Ausweitung des Begriff Texts und auch nicht die
textueller Methoden.3 Wie Meaghan Morris schreibt:
„Eine durch literarische Analysekriterien geprägte Lesart einer ‚shopping mall‘, die sich nicht
ernsthaft mit deren historischen, soziologischen und ökonomischen Aspekten auseinan-
dersetzt, bleibt – wie produktiv sie auch immer ‚den‘ Kanons des Englischen transformieren
mag – eine literarische Lesart und nicht Cultural Studies“. (Morris 1997: 42)
Noch stärker formuliert, Cultural Studies müssten bekämpfen, was Conquergood
(1995) die „beinahe totale Herrschaft des Textualismus in der Akademie“ genannt
hat, und wie Said (1981) die „textuelle Verhaltensweise“ zurückweisen, welche die
schematische Autorität des Textes in den Vordergrund stellt.
„Diese Autoren [Voltaire in Candide bzw. Cervantes in Don Quichote] zeigen, dass es unmög-
lich ist, den dunklen, problematischen Zustand, in welchem Menschen leben, auf der Basis
dessen zu verstehen, was Büchertexte sagen.“ (Said 1981: 108)
Gilroy (1993) hat auf den Ethnozentrismus in der Vorstellung hingewiesen, dass
Text und Textualität als Kommunikationsweisen ein Modell für alle anderen Formen
des Austausches und der Interaktion liefern könnten. Ich möchte jedoch ergänzen,
dass die Cultural Studies nicht einfach (weder immer noch ausschließlich) mit der
Analyse der Beziehungen zwischen Texten und Publika, zwischen Publika und All-
tagsleben oder mit der Anwendung ethnografischer Methoden auf die Kultur gleich-
zusetzen sind.
Denn Cultural Studies zu betreiben, bedeutet, sie ständig neu als Antwort auf die
sich verändernden geografischen sowie historischen Bedingungen und politischen
Erfordernisse zu bestimmen. Es ist wichtig, sie in spezifischen Fächern zu veran-
kern, auch wenn sie die Legitimität der disziplinären Ausrichtung intellektueller
26 Lawrence Grossberg

Arbeit in Frage stellen. Aber auf welche Weise Cultural Studies in jedem besonderen
Projekt definiert und verortet werden, kann nur bestimmt werden, indem die Arbeit
der Cultural Studies praktiziert wird, die Beziehungen zwischen Diskursen, Alltags-
leben und den Maschinerien der Macht kartografiert bzw. rekonstruiert werden. Dies
ist die eigentümliche Logik der Cultural Studies: Sie beginnen mit einem Kontext, in
dem bereits eine Frage angelegt ist; dennoch definiert die Frage selbst den Kontext.
Daher müssen die Cultural Studies immer mit der Zuwendung zu Diskursen begin-
nen, weil sie sowohl ihr produktiver Eintritt in den Kontext als auch eine produktive
Dimension dieses Kontextes sind. Letztlich sind Cultural Studies nicht am Diskurs
per se interessiert, sondern an den Artikulationen zwischen dem Alltagsleben und
den Formationen der Macht. Infolgedessen enden sie mit einem anderen Verständnis
des Kontextes als dem, das sie zu Beginn hatten, weil sie die Vermittlungen sowohl
der Kultur (Diskurs) als auch der Theorie durchschritten haben. Cultural Studies
sind daher eine kontextspezifische Theorie und Analyse, die sich damit beschäftigen,
wie Kontexte als Strukturen von Macht und Herrschaft hergestellt, aufgelöst und neu
gestaltet werden .
So würde ich, obwohl die Cultural Studies theoretische Arbeit fordern, behaup-
ten, dass Theorie ‚billig‘ ist, während Politik (die nicht gleichzusetzen mit Ethik
oder Moral ist) kostenaufwändig ist, weil die Politik jeder besonderen Studie erst
nach der Analysearbeit verfügbar und zugänglich wird. Cultural Studies versuchen
strategisch Theorie zu entwickeln, um das notwendige Wissen zu gewinnen, einen
Kontext neu zu konstituieren in einer Weise, die vielleicht die Artikulation neuer
oder besserer politischer Strategien erlaubt. Während sie das Wissen in den Dienst
der Politik stellen, versuchen sie auch die Politik zu veranlassen, auf die Autorität
des Wissens zu hören (und daher sind sie nicht relativistisch). Ich glaube nicht, dass
diese ‚Definition‘ eine neue Mythologie schafft, welche die Cultural Studies als die
neue Rettung für die Geisteswissenschaften, die Universität oder die Welt vor-
schlägt; eher ist sie als ein bescheidenes Plädoyer für eine flexible und radikal kon-
textualisierte intellektuelle und politische Praxis zu verstehen, die die Verbindungen
zwischen der Politik der Kultur und dem, was Meaghan Morris (1988) die Politik
der Politik genannt hat, herzustellen versucht.
Aber dies verortet bereits ein Paradox im Kern der Cultural Studies: Zum einen
sind sie immer ein Versuch, auf die Fragen von Macht und Herrschaft zu antworten,
die dem bzw. der Intellektuellen durch den ‚realen‘ materiellen und diskursiven
Kontext, in welchem er oder sie arbeitet, gestellt werden. Und insofern der Erfolg
jedes Projektes daran gemessen wird, ob es im Stande ist, jenen Kontext neu zu
gestalten, indem es neue Formen, Orte und Beziehungen selbstbestimmt zu handeln
eröffnet und sogar ermöglicht, sind die Cultural Studies der Intervention und sogar,
sowohl im weiteren als auch engeren Sinn, der Politik verpflichtet. Auf der anderen
Seite weigern sich die Cultural Studies, sich auf das weit verbreitete Bemühen ein-
zulassen, jede intellektuelle Arbeit auf eine einzige Logik der Produktivität und Effi-
zienz (gewöhnlich eine funktionalistische) zu reduzieren, als ob jede geistige Arbeit
sich innerhalb derselben Zeitlichkeit vollziehen würde. Im Gegenteil, Cultural Stu-
dies glauben nicht nur an die notwendige Intervention der Theorie, sie glauben
Der Cross Road Blues der Cultural Studies 27

ebenso an die beinahe (aber nicht ganz) unvermeidliche Verlagerung der Wirkungen
jeder kulturellen Praxis, einschließlich der eigenen. Während die Cultural Studies
die Wirkungen kultureller Praktiken zu verstehen versuchen, nehmen sie also auch
an, dass jene Wirkungen nie an dem gegebenen Ort und Zeitpunkt zu finden sind,
dass sie immer irgendwo anders sind und sich zu einem anderen Zeitpunkt ereignen.
Dies gilt sicher für ihre eigenen Praktiken. Obwohl es schön wäre, wenn die Wir-
kungen intellektueller Arbeit (und Interventionen) immer so unmittelbar und
offensichtlich wären wie die einiger anderer Formen politischer Interventionen, ist
dies unglücklicherweise gewöhnlich nicht der Fall. Während die Cultural Studies
also versuchen, den Kontext ihrer eigenen Arbeit zu ändern, ist es ihnen selten ver-
gönnt, auf einen kurzfristigen Nutzen ihrer eigenen Arbeit verweisen zu können.

2 Die Herausforderung der Gegenwart

Ein Nachdenken über Cultural Studies muss also mit einer Untersuchung des gegen-
wärtigen Kontextes beginnen. Ich kann an dieser Stelle nur kurz skizzieren, dass wir
den gegenwärtigen Kontext als die Artikulation folgender historischer Entwicklun-
gen (und theoretischer Herausforderungen) begreifen sollten:
• Die Globalisierung der Kultur, die nicht zu der Ansicht verleiten darf, die gegen-
wärtigen Formen der Globalisierung seien nur intensivere Formen bereits beste-
hender räumlicher Beziehungen. Cultural Studies müssen sich mit der Globa-
lisierung der Kultur auseinander setzen, nicht nur, was die Verbreitung und
Mobilität von Texten und Publika betrifft, sondern auch mit kulturellen Bewe-
gungen jenseits der Räume jeder (spezifischen) Sprache. Folglich können die
Analytiker nicht länger selbstzufrieden annehmen, sie würden verstehen, wie
kulturelle Praktiken funktionieren. Die neue globale Ökonomie der Kultur hat
eine Deterritorialisierung der Kultur und ihre nachfolgende Reterritorialisierung
zur Folge, welche die Gleichsetzung einer Kultur mit einer spezifischen Veror-
tung, einem Ort oder einem Lokalen in Frage stellt. Cultural Studies müssen
nicht nur die Beziehung zwischen dem Lokalen und dem Globalen neu konzi-
pieren, sie müssen auch neue Weisen finden, über Kultur als eine weltumspan-
nende Struktur nachzudenken, die der des Kapitals ziemlich ähnlich ist.4
• Die Ökonomisierung (Kapitalisierung) von allem erfordert nicht nur, dass die
Cultural Studies zu ökonomischen Fragestellungen zurück kehren, die sie oft
nur am Rand behandelt haben, sondern dass sie ihren eigenen Ansatz für die
politische Ökonomie finden, der nicht zwangsläufig die Ökonomie zum fünften
Rad am Wagen macht. Ebenso darf die politische Ökonomie der Kultur nicht auf
Gesichtspunkte der Verdinglichung und der Industrialisierung reduziert werden
(vgl. Grossberg 1995).
28 Lawrence Grossberg

• Die wachsende Macht einer Politik, die um die Begriffe der Identität sowie
Theorien der Differenz5 organisiert ist und die auf einer Identifikation von Sub-
jektivität und Handlungsfähigkeit basiert, die Beteiligung an ihr und ihre zuneh-
mend unverkennbaren Grenzen. Wir müssen die geohistorischen Mechanismen
analysieren, durch welche Beziehungen auf der Basis von Differenzen gestaltet
worden sind und die Politik auf der von Identitäten organisiert worden ist. Ent-
scheidend ist dabei, welche Art von Differenzen wirksam ist und wo Differen-
zen relevant sind. Die aktuellen Theorien sind vielleicht unfähig, solche Fragen
zu beantworten. Deshalb muss die Kategorie der Identität dekonstruiert werden,
aber nicht notwendigerweise so, wie es Postmodernisten, Postkolonialisten und
Poststrukturalisten vorschwebt. Solch eine Zielsetzung müsste über die
Mechanismen und Modalitäten der Zugehörigkeit, der Verbindung und der
Identifikation nachdenken, um die Orte zu definieren, zu denen Menschen gehö-
ren und an denen sie sich zurechtfinden können. Identität wird mehr zu einer
politischen Kategorie, einer Weise der Zugehörigkeit, die mobilisiert und auf die
Anspruch erhoben werden kann. Sie impliziert an einem Ort zu sein und folglich
mit jemandem zu sein. Wenn wir die Kultur nicht mehr unter der Betrachtungs-
weise von Identität als Differenz konzipieren und verorten, ermöglicht uns das
vielleicht, über die Möglichkeiten einer Politik nachzudenken, die die Positivität
und Singularität des Anderen anerkennt und darauf aufgebaut ist.
• Die anwachsende Bedeutung, sowohl theoretisch als auch politisch, des Nicht-
Bedeutenden, ob es nun als das Materielle, der Körper oder der Affekt verstan-
den wird. Hier könnten wir einfach dadurch beginnen, dass wir anerkennen, wie
wenig diese Bereiche der Existenz bisher theoretisch behandelt wurden. Wenn
sie thematisiert werden, werden sie entweder sofort im Bereich der Repräsenta-
tion neu bestimmt und eingeordnet, oder sie werden als das Konkrete, das
Besondere und das Nicht-Theoretische behandelt. Gleichzeitig hat die ‚nordat-
lantische Modernität‘ deutlich gemacht, dass die menschliche Existenz nicht in
der Erkenntnistheorie aufgeht, aber sie hat den Überschuss schnell dem Bereich
des Irrationalen, des Unstrukturierten und des nicht Darstellbaren zugeschrieben
(zum Beispiel wie das Begehren oder die Kreativität). Interessanterweise scheint
ein Großteil der gegenwärtigen Kulturtheorie und -kritik von einer binären
Opposition auszugehen, dem Affekt/dem Körper/der Materialität und dem Kon-
kreten auf der einen Seite und der Ideologie, der Subjektivität, dem Bewusstsein
und der Theorie auf der anderen Seite.
• Die Neukonstitution einer komplexen, widersprüchlichen, hoch selbstreflexiven
und strategisch konservativen Bewegung und Ideologie, die bereits signifikante
Wirkungen gehabt hat, nicht nur auf die Politik, die Kultur und das Alltagsleben
in den USA, sondern überall in der Welt (vgl. Grossberg 1992).
• Der Zusammenbruch von jeglichem gemeinsamen Verständnis von der Art, den
Effektivitäten und den Modalitäten der Handlungsmächtigkeit (oder, in Begrif-
fen der Cultural Studies, der ‚Artikulation‘).
Der Cross Road Blues der Cultural Studies 29

• Das Infragestellen der Periodisierung: Die Debatte zwischen den Postmodernis-


ten und denjenigen, die die Gegenwart als Spätmoderne begreifen, macht deut-
lich, dass wir ein theoretisches Vokabular benötigen, das es uns ermöglicht zu
entscheiden, was und ob überhaupt irgendetwas ‚neu‘ an den gegenwärtigen
Mechanismen der Kultur und der Macht ist. Aber tiefgehender – und mehr ver-
bunden mit der vorher gehenden Frage – wäre es, wenn wir vielleicht neu nach-
denken würden über „die tatsächliche Grundlage des modernen Verständnisses
von dem, was den Wandel konstituiert“ (Morris 1994).
• Die immer mehr bewusst werdende Notwendigkeit, den politischen Kampf mit
ethischen Diskursen, die sowohl akzeptabel als auch effektiv sind, zu verbinden.

3 Über den Sieg der Kultur

Es liegt auf der Hand, dass all diese Themen bedeutsame empirische Forschungen
verlangen. Aber noch wichtiger ist meines Erachtens, dass sie nicht nur theoretische,
sondern auch philosophische Arbeit erfordern. Ich verstehe Philosophie nicht als
einen Zug weg vom Realen (als ob das Begriffliche weniger real als das Besondere
wäre), sondern als einen Weg zum Realen, als eine aktive Intervention. Cultural Stu-
dies müssen anfangen, ihre eigenen kulturellen Kategorien zu untersuchen und wie
diese in die modernen Strukturen und Technologien der Macht verwickelt sind. In
welchem Ausmaß sind wir, als Kulturforscher, eingeschlossen in genau die
Machtsysteme, die wir zu ändern versuchen. Ich schlage nun nicht vor, dass wir,
bevor wir unsere Arbeit fortsetzen, die Ergebnisse eines vollständigen Überdenkens
der philosophischen Grundlagen der Cultural Studies abwarten, sondern dass die
Cultural Studies fortsetzen sollten, was sie immer getan haben, nämlich voranzu-
schreiten, Schritt für Schritt, auf der Grundlage von Politik, Analyse und Theorie –
zusammen, wenn auch nicht im Gleichklang, in verschiedenen Räumen und mit ver-
schiedenen Geschwindigkeiten. Vor allem plädiere ich auch dafür, dass ein Teil die-
ser Arbeit, unseren ererbten philosophischen Common Sense in Frage stellen muss.
Ich glaube, dass Cultural Studies auf drei philosophischen Logiken beruhen: einer
Logik der Identität und Differenz (als einer Weise, die Zugehörigkeit und Exteriori-
tät oder das Anderssein zu konzeptualisieren) (vgl. Grossberg 1996a), einer Logik
der Zeitlichkeit (Grossberg 1996b) und einer Logik der Vermittlung.6 Im Folgenden
möchte ich nur die letzte dieser Logiken betrachten.
Ich glaube, dass ein Teil der Herausforderung, der die Cultural Studies gegen-
überstehen, gerade in ihrer Konstitution als Kulturanalyse liegt, und in der beson-
deren Weise, in der Kultur innerhalb der Cultural Studies verstanden worden ist.
Dieses Verständnis geht auf die europäische moderne Philosophie (insbesondere den
Deutschen Idealismus) im Allgemeinen und auf die Kantianische Philosophie im
Besonderen zurück.7 Raymond Williams (1958) argumentierte, dass die eigentliche
Macht des Kulturbegriffes, als er sich in Europa entwickelte, von seiner Mehrdeutig-
30 Lawrence Grossberg

keit abhing – z.B. Kultur als ein Produkt (Kunst), ein Zustand (eine gebildete Per-
son) und ein Prozess (Kreativität). Während es für Worte nicht ungewöhnlich ist,
dass sie vielfältige und sogar widersprüchliche Bedeutungen haben, ist es eher unty-
pisch, dass die Mehrdeutigkeit und sogar der Widerspruch die Quelle ihrer Produkti-
vität sind und daher für Jahrhunderte unangefochten aufrechterhalten werden.8
Die Mehrdeutigkeit findet ihren deutlichsten Ausdruck in der Distanz zwischen
der anthropologischen Konzeption von Kultur als einer „ganzen Lebensweise der
Leute“ („whole way of life of a people“) und einem ästhetisch textuellen Konzept
von Kultur. Der Begriff „Gefühlsstruktur“ („structure of feeling“) kann als Williams‘
Bemühung verstanden werden, diese Mehrdeutigkeit zu vermitteln, aber sie ist
unvermeidlich (und die Mehrdeutigkeit wird in der Beziehung zwischen der
Gefühlsstruktur und der Gemeinschaft des Prozesses — „community of process“—
reproduziert.) Sowohl die anthropologischen als auch die ästhetischen Vorstellungen
von Kultur sind kürzlich ernsthafter Kritik ausgesetzt worden. Vorstellungen einer
„ganzen Lebensweise“, insbesondere insofern sie verräumlicht sowie ethnisch kon-
zipiert sind und so eine singuläre Kultur in einem begrenzten Raum konstruieren,
werden immer mehr (insbesondere innerhalb der „critical race theory“ und der post-
kolonialen Theorie) als das Produkt der kolonisierenden und imperialistischen Pro-
jekte des modernen Europas betrachtet. Ästhetische Vorstellungen von Kultur sind
sozusagen ‚dekonstruiert‘ worden von Bourdieu und seinen Anhängern, von Femi-
nistinnen und anderen, die der Auffassung sind, dass solche Klassifizierungen weni-
ger eine selbstständige Gruppe von Praktiken mit inherentem Wert bezeichnen, als
Unterscheidungen von Wert und Macht produzieren und verkörpern. Dies untergräbt
unser Vermögen sowohl von der Existenz qualitativer Unterscheidungen innerhalb
des Bereichs der Kultur (zwischen Hochkultur und niederer Kultur) als auch von der
Existenz einer auf sich selbst beschränkten Kategorie kreativer, textueller und ästhe-
tischer Praktiken – wie der Literatur oder der Kunst – auszugehen, die außerhalb
ihrer institutioneller Regelungen und Gesetze bestehen.
Die mehrdeutige Gestalt der Kultur ist aber vielmehr als die Summe ihrer Teile,
denn nach Williams (1958; dt. 1972) schließt der Kulturbegriff, der für einen Groß-
teil der „Kultur und Gesellschaft-Tradition“, wie er sie nennt, den Anstoß gab, eine
doppelte Artikulation mit ein: auf der einen Seite der Entwurf einer Position, die
durch die zeitliche Ablösung von einigen anderen Begriffen (z.B. der Tradition) kon-
stituiert wird, durch die Wandel verstanden werden kann; andererseits die Gleichset-
zung einer solchen Position mit einem Urteilsmaßstab, der eine „totale qualitative
Bewertung“ solcher Veränderungen ermöglicht: „Die Kulturidee ist eine allgemeine
Reaktion auf eine umfassende und große Veränderung unserer Lebensverhältnisse“
(Williams 1972: 353). Dies bedeutet, dass bereits die Hervorbringung des Kulturbe-
griffs die Konstruktion eines Ortes mit einschließt, der es erlaubt, die Veränderungen
im Alltagsleben zu beschreiben und zu beurteilen. Er erfordert allermindestens, eine
„Berufungsinstanz humanitärer Interessen“ („court of human appeal“), irgendeinen
festgesetzen ‚höheren‘ Maßstab, über den Prozessen des praktischen sozialen Wan-
dels anzusiedeln.
Der Cross Road Blues der Cultural Studies 31

Eine Teillösung kann vielleicht in Williams Weigerung gefunden werden, sich


innerhalb der „Kultur und Gesellschaft-Tradition“ zu verorten. Er argumentierte,
dass der Kulturbegriff zur Hervorhebung „einer praktischen Unterscheidung be-
stimmter moralischer und intellektueller Aktivitäten von der treibenden Kraft einer
neuartigen Gesellschaft“ (vgl. Williams 1972: 19) erfunden wurde. Zum Beispiel
wird die Moderne zum Teil durch die Trennung von Kultur und Gesellschaft konsti-
tuiert. Diejenigen Autoren, die Williams in der „Kultur und Gesellschaft-Tradition“
verortet, setzen die Trennung als selbstverständlich voraus. Kultur wird einfach
angeeignet und so in eine Position verwandelt, von der aus die Trennung selbst
beschrieben und beurteilt werden kann. Williams aber wies eine solche Trennung
von Kultur und Gesellschaft zurück. Die Cultural Studies müssen Kultur wieder im
praktischen Alltagsleben der Menschen verankern, in der Totalität einer ganzen
Lebensweise. Dennoch war Williams tatsächlich nie fähig, dieser Trennung zu ent-
kommen – sowohl in seiner Bevorzugung bestimmter Formen von Kultur (Literatur)
als auch in seinem Verlangen, Kultur mit einer Art ethischem Urteilsmaßstab (der in
der „Gefühlsstruktur“ verankert ist) gleichzusetzen. Wie konnte Williams dann die-
sen Widerspruch vermeiden? Dies gelang ihm dadurch, dass er einen dritten Begriff
postulierte – nämlich jenen der Kultur als Prozess („die Gemeinschaft des Prozes-
ses“), der menschlichste aller Prozesse, der Prozess der Kommunikation. Dieser ist
gleichzeitig sowohl der Prozess der Sinnproduktion als auch der Vermittlungspro-
zess (im Sinne von Kant).
Diese dialektische Mehrdeutigkeit ist nach meiner Ansicht grundlegend für die
Geschichte der Cultural Studies und heute ein Hindernis für ihren fortdauernden
intellektuellen Einfluss. Anders gesagt, wie in anderen intellektuellen Strömungen
des 19. und 20. Jahrhunderts – z.B. in verschiedenen Theorien der Soziologie und
der Anthropologie –, wurde der Kulturbegriff benutzt, um die Besonderheit der
Moderne zu definieren. Im Gegensatz zu vielen Theorien der Entstehung der
Moderne (einschließlich der „Kultur und Gesellschaft-Tradition“) wird die Dialektik
der Kultur in den Cultural Studies weniger durch das Bild einer vollständigen und
qualitativen Transformation der Gesellschaft bestimmt (zum Beispiel durch den
Übergang von der Tradition zur Moderne oder von der Gemeinschaft zur Massen-
gesellschaft; den Cultural Studies ging es nie um die Destruktion der Gemeinschaft),
sondern eher von einem Interesse für die Folgen der neuen Formen und Stufen von
Mobilität. Oder um es anders zu formulieren: Zentral war immer die Frage nach dem
sich verändernden Charakter des universalen menschlichen Prozesses. Aber diesem
Kulturbegriff war immer eine besondere und eigentümliche Logik inne. Denn der
Kulturbegriff als eine Dialektik (die anthropologischen und ästhetischen Vorstellun-
gen werden expressiv oder kommunikativ vermittelt) reproduziert die dialektische
Rolle der Kultur, nach welcher, wie Bill Readings (1996) gezeigt hat, Kultur als
individuelle Entwicklung zwischen individuellen Beziehungen und ethnischer Nati-
onalität bzw. zwischen Identität und dem modernen Staat vermittelt.
Eine Reihe von Kritikern wie Tony Bennett (1993) und Ian Hunter (1988), die
sich auf Foucault stützen, haben die Verbindung dieser Logik mit den Diszi-
plinierungs- und Regierungsstrategien des modernen europäischen Nationalstaates
32 Lawrence Grossberg

deutlich gemacht. Die Entfaltung der Kulturidee unter ethischen Gesichtspunkten


macht die Kultur und die Kulturkritik zum Teil einer umfassenderen Technologie der
Macht. Dabei bringt das bloße Bild der Kultur eine Gestalt unerreichbarer Perfektion
hervor (und schließt die Cultural Studies in sie ein).
Diese dialektische Struktur ermöglicht auch, dass der Kulturbegriff eine magi-
sche Lösung für das Problem des besonderen Charakters der menschlichen Existenz
wird, weil jeder Ausdruck als Vermittlung definiert und anschließend die Kategorie
der Vermittlung verabsolutiert wird. Indem die Kultur in eine Logik von Mangel und
Vermittlung eingebunden wird, ist sie dem Bewusstsein als mittlerem Raum zwi-
schen Erfahrung und menschlicher Existenz nahe, wenn sie nicht sogar mit ihm
identifiziert wird. Nach Rosaldo (1989) entwickelt das moderne Denken den Begriff
der Kultur innerhalb der „völlig manichäischen Wahl zwischen Ordnung und Cha-
os“; Kultur ist das Medium der Information – das Supplement –, welches einen
Mangel ausgleicht (z.B. im genetischen Kode oder im Zugang zur Realität). Kultur
ist die Vermittlungsinstanz, durch welche das Chaos der Realität in den geordneten
Sinn der menschlichen Realität verwandelt wird. Ohne Kultur wäre die Realität ein-
fach nicht zugänglich, sie wäre nicht mehr als ein dröhnendes und brummendes
Durcheinander im Sinne von William James. Innerhalb der Kultur ist die Realität
immer bereits begreifbar. Sowohl Rosaldo als auch Zygmunt Bauman (1987) haben
darauf hingewiesen, dass die Erfindung und der Erfolg des Kulturbegriffs, seine
besondere interne Logik und seine Macht, im Kontext der wachsenden Macht Euro-
pas, der Modernität und der neuen Mittelklasse-Intellektuellen (mit Readings der
modernen Universität) verortet werden müssen.
Der Sieg der Kultur baut des Weiteren auf dem Sieg der Philosophie Kants und
ihrer Unterscheidung zwischen dem Phänomenon und dem Noumenon auf. Kant
postulierte den Bereich der Erfahrung zwischen dem Subjekt und dem Realen.
Dadurch löschte er wirksam jeden möglichen Bezug auf das Reale aus, es sei denn
als regulatives Ideal. Ich bin außerdem der Ansicht, dass eine philosophische Erb-
schaft der Kantianischen Philosophie die allseits akzeptierte Annahme der Vermitt-
lung ist, die in einer Vielzahl von Positionen, die von der gesellschaftliche Konstruk-
tion der Wirklichkeit ausgehen, zu finden ist.9 Der soziale Konstruktivismus behaup-
tet, dass jede Erfahrung der Welt (und daher jede mögliche Beziehung zur Realität)
folgende Eigenschaften aufweist:
• Sie ist vermittelt (d.h. sie beinhaltet immer drei Glieder)
• durch „menschliche“ (vielleicht subjektive) Strukturen
• die räumlich und zeitlich bestimmt
• und im weitesten Sinne expressiv (oder sinnhaft) sind
• und welche im engen Sinne bedeuten (sie vermitteln kognitive Bedeutung,
Repräsentation, semantische Referentialität, ideologische, semiotische oder nar-
rative Bedeutungen).
Der Cross Road Blues der Cultural Studies 33

Natürlich stimmen die verschiedenen Richtungen des sozialen Konstruktivismus


diesen Annahmen auf verschiedene Weise und in verschiedenen Kombinationen zu
und interpretieren sie unterschiedlich. Die Gesamtheit dieser Annahmen, die am
weitesten verbreitete Version des sozialen Konstruktivismus im zeitgenössischen
Denken, begreift Kultur nicht nur als das ‚Wesen‘ der menschlichen Existenz, sie
setzt Kultur sogar mit Kommunikation gleich.10 Daher beseitigt die Dialektik der
Kultur nicht nur das Reale, sondern sie legt jede Möglichkeit einer Produktion (Arti-
kulation) als einer besonderen Art einer – semantischen – sozialen Konstruktion im
Voraus fest. Durch die Gleichsetzung von Vermittlung mit Kommunikation beinhal-
ten alle kulturellen Praktiken notwendigerweise die Produktion von Bedeutungen,
Repräsentationen, Subjektivitäten und Identitäten (die die Form der Ideologie oder
den Inhalt des Common Sense kaum verlässt). Diese Vorstellung von Kultur als
einer Ebene kognitiver Bedeutungen macht aus jeder Praktik eine Instanz der kom-
munikativen Beziehung zwischen Text und Publikum und verwandelt jede kritische
Analyse in eine Frage individualisierter (obwohl oft durch soziale Identitäten defi-
nierter) und psychologischer Interpretationen sowie Geschmäcker.
Indem sie sich der letzten Annahme entgegenstellen, sollten die Cultural Studies
an einer kontextuelleren Idee diskursiver Praktiken und Wirkungen festhalten.
Sowohl Texte als auch Publika sollten innerhalb umfassenderer Kontexte, die die
Identität und die Wirkungen jeder Praxis artikulieren, betrachtet werden. Ein so ver-
standener Kontextualismus stellt, ohne zu leugnen, dass kulturelle Praktiken uns
ermöglichen, die Welt zu verstehen (oder wenigstens uns in einer sinnlich wahr-
nehmbaren Welt zu lokalisieren), die Reduktion der Sinnstiftung auf die kognitive
Bedeutung und Interpretation in Frage sowie das Modell von Kultur, das Kultur als
irgendwie getrennt von anderen Ebenen – und zwischen anderen Ebenen –, die es
interpretiert, auffasst. Statt dessen operieren kulturelle Praktiken immer auf vielfälti-
gen Ebenen und produzieren vielfältige Wirkungen, die nicht umfassend durch ir-
gendeine Theorie der Kommunikation, der Ideologie, des Bewusstseins oder der
Semiotik begriffen werden können.
Wenn Kultur aber mehr als eine Angelegenheit von Sinn und Kommunikation
ist, dann ist der Kampf um die ‚Kultur‘ nicht nur ein Kampf um interpretative und
kognitive Landkarten, die den verschiedenen und unterschiedlich untergeordneten
Fraktionen verfügbar sind (welche in der heutigen Welt die große Mehrheit der
Bevölkerung darstellen). Wir sollten Rosaldos Ablehnung der interpretativen Bewe-
gung ernst nehmen:
„Mein Bemühen, die Intensität (force) einer schlichten, wörtlich genommenen Aussage zu
demonstrieren, verstößt gegen die klassischen Normen der Anthropologie, Kultur als allmäh-
liche Verdichtung symbolischer Bedeutungsnetze zu erklären […] [Ich stelle in Frage] die
übliche Annahme der Anthropologie, dass das was den Menschen am wichtigsten ist, sich
stets dort befindet, wo der Wald von Symbolen am dichtesten ist. […] Beschreiben die Leute
wirklich immer das am dichtesten, was sie am meisten berührt?“ (Rosaldo 1993: 2)
Statt dessen sollte sich die Kulturanalyse durch umfassendere Untersuchungen damit
beschäftigen, wie diskursive Praktiken die vernetzten Zusammenhänge, die ein sol-
ches Verhalten (einschließlich der Art und Weise der Verbindung, der Zugehörigkeit,
34 Lawrence Grossberg

der Handlungsfähigkeit und der Mobilität) produzieren und kontrollieren, gestalten


und Teil von ihnen sind. Anstatt uns mit dem ‚Gesagten‘ zu beschäftigen oder zu
versuchen, von diesem das Sagen abzuleiten, müssen wir die Kultur ‚in Bewegung
setzen‘ (Rosaldo). Anstatt zu untersuchen, was Texte bedeuten oder was Menschen
mit Texten machen, sollten sich die Cultural Studies mit der Rolle diskursiver Prak-
tiken auseinander setzen. Wie Meaghan Morris formuliert: „Ich bin weniger an
Musik oder am Fernsehen interessiert, als daran, wie diese verschiedene Zeit/Räume
durchschneiden und organisieren, in welchen sich die Arbeit ebenso wie das Vergnü-
gen des Alltagsleben vollziehen“ (persönliche Mitteilung). Diskurse sind in dieser
Sichtweise mehr als Darstellungen, sie sind aktiv wirkende Kräfte in der materiellen
Welt der Macht.
Wenn dies selbstverständlich ein philosophisches Argument ist, so nicht in erster
Linie, denn es ist vor allem ein Versuch, auf die Erfordernisse des gegenwärtigen
Kontextes zum Teil zu reagieren. Daher haben zum Beispiel Frow und Morris
(1993) argumentiert, dass sozialkonstruktivistische Kulturvorstellungen einfach ina-
däquate Beschreibungen der Artikulation und Entfaltung von ‚Kultur‘ in der gegen-
wärtigen Politik seien. Sie sind der Auffassung, dass ‚die Kultur verändern‘ eine
„kurzfristige, aber umfassende Weise, die Lebensführung von anderen in Frage zu
stellen“, geworden ist. Es handelt sich um Verhaltenskontrolle, für Ethik oder Ästhe-
tik ist kein Platz, es sei denn als eine Disziplinierungsstrategie. Kultur erscheint „als
ein formbares Medium, das von politisch machtvollen, gesellschaftlichen Eliten
nach Belieben neu geformt und gestaltet werden kann.“ In diesem Zusammenhang
wird z.B. die ‚Kultur‘ zur bevorzugten Erklärung für das Scheitern einzelner nati-
onaler Ökonomien. Samuel Huntington (1996) ist sogar der Ansicht, dass zukünftige
Weltkonflikte weniger durch staatliche Interessen oder gar Ideologien als durch die
Kultur bestimmt werden.
Wenn die Erfordernisse der Gegenwart uns eine Abwendung vom sozialen Kon-
struktivismus nahe legen, ist es auch notwendig, einige Gegentheorien in ihrer Zus-
timmung oder Ablehnung zur weiter oben aufgelisteten Reihe von Annahmen her-
vorzuheben. Zum Beispiel zeigt Bruno Latours Netzwerktheorie (Latour 1995) die
Grenzen der Vorstellung der Vermittlung auf, indem sie zum Teil nicht nur die fünf-
te, sondern ebenso die zweite Annahme zurückweist. Obwohl dieses theoretische
Projekt eine post-anthropologische (Gilroy 1993) und post-ästhetische Kulturtheorie
zu entwickeln beginnt, glaube ich nicht, dass es der modernistischen Logik der Ver-
mittlung entkommen ist. Natürlich müssen wir andererseits auch vermeiden, Kultur
auf ein biologisches Projekt zu reduzieren, welches den produktiven Charakter der
Expression ausblendet. In meiner eigenen Arbeit habe ich mich dem philosophi-
schen Werk von Gilles Deleuze und Felix Guattari (1974; 1992) zugewandt, in dem
sowohl der soziale Konstruktivismus als auch die Vermittlung abgelehnt werden
(eine Zurückweisung der ersten, zweiten und fünften Annahme). Sie sind der Auffas-
sung, dass die Realität selbst expressiv auf den verschiedenen Ebenen ihrer Artikula-
tion in produktiver oder bedeutungsvoller Weise ist. Eine solche Expressivität ist
daher weder ausgeprägt menschlich noch vermittelnd. Die Welt selbst existiert nicht
außerhalb ihrer Expressionen.11
Der Cross Road Blues der Cultural Studies 35

Die Möglichkeit einer Kulturtheorie, die nicht auf Vermittlung beruht, kann
vielleicht realisiert werden, indem wir noch eine andere Mehrdeutigkeit bzw. einen
Widerspruch in der gegenwärtigen Kulturtheorie betrachten: nämlich die Mehrdeu-
tigkeit des Affektbegriffes. Freud folgend ist der Affekt der Bereich der Besetzung
(der mehr als nur die libidinösen Formen einschließt); nach Nietzsche ist der Affekt
der Bereich der Effektivität (die Fähigkeit zu bewirken und zum Objekt einer Wir-
kung zu werden).12 Wo liegt die Verbindung zwischen diesen beiden Verständnissen
des Affekts?13 Meiner Ansicht nach besteht sie darin, dass beide auf quantitativen
Vorstellungen von Energie-Intensitäten beruhen. Sowie Ereignisse als Intensitäts-
linien existieren (als Werden), so werden qualitativ verschiedene Ebenen von Effek-
ten als Organisationen von Intensität konstituiert. Verschiedene Formen kultureller
Affekte oder Expressionen (z.B. Stimmungen, Gemütszustände, Emotionen, das
Begehren, die Vielfalt der Lüste) unterscheiden sich durch die verschiedenen Weisen
ihrer Organisation, welche alternierend die verschiedenen Manifestationen ihrer vir-
tuellen Effekte bestimmen.14 Tatsächlich können die Signifikation (als kognitive
Bedeutung etc.) und die Ideologie selbst als affektive Zustände begriffen werden, als
Organisationen von Intensität, die besondere Effekte haben und Subjektivität,
Bewusstsein und Intentionalität hervorbringen. Daher beinhaltet nach meiner
Ansicht die Kulturfrage einen Kampf um die Kontrolle der virtuellen Affekte, die
einzelne Diskurse unter bestimmten Bedingungen vielleicht produzieren. Anders
gesagt, es ist eine Frage der Kontrolle der Wirkungen einzelner Praktiken, indem sie
in spezifisch affektiven Organisationen artikuliert werden und so die virtuelle Quali-
tät ihrer Effekte bestimmt wird. Auf diese Weise kann die menschliche Realität als
Kontinuum und in Nachbarschaft zur nichtmenschlichen Realität begriffen werden.
Ironischerweise glaube ich, dass dies uns zu früheren, wenn auch irgendwie
unklar bleibenden Versuchen im Werk von Richard Hoggart und Raymond Williams
zurückführt, Cultural Studies zu definieren. Obwohl sich beide sicherlich innerhalb
der Logik des sozialen Konstruktivismus bewegten, kann ihr Werk auch verstanden
werden als Erschließung oder mindestens als Hinweis auf eine materialistischere
oder kontextualistischere Idee von Cultural Studies als die Untersuchung „aller
Beziehungen zwischen allen Elementen“. Ich fürchte, dass die Aufgabe zu beschrei-
ben, wie eine solche Praxis der Cultural Studies aussehen könnte, an anderer Stelle
erfolgen muss.

4 Die Rückkehr des Politischen

Meine Beschreibung des Kontextes, in welchem die Cultural Studies sich verwirkli-
chen müssen, ist zu leidenschaftslos gewesen, denn ich bin kaum auf die äußerst rea-
len Einsätze in diesem Kampf eingegangen. Die Vertreter der Cultural Studies müs-
sen beginnen, sich ernsthaft den dystopischen Entwicklungslinien entgegenzustellen,
die uns alle zusammen, wie auch immer unsere Politik, Identität oder unser Status
sein mögen, ins 21. Jahrtausend führen. Zudem müssen wir versuchen zu verstehen,
36 Lawrence Grossberg

wie diese verschiedenen Entwicklungslinien und ihre verschiedenen Erfolge gestal-


tet werden. Wir müssen die Mechanismen und Kontexte der gegenwärtigen Trans-
formationen und ihre Artikulationen mit spezifischen Machtbeziehungen verstehen.
Während wir uns ständig daran erinnern sollten, dass Menschen aktiv sind und
kämpfen, sollten wir auch nicht vergessen, dass sie leiden. Wir müssen die spezifi-
schen Formen verstehen, in welchen die Herrschaft organisiert wird, wie sie gelebt,
mobilisiert und ausgeführt wird, ohne anzunehmen, dass die Herrschaft (oder sogar
die Hegemonie) immer und überall dieselbe ist. Wir können nicht für selbstverständ-
lich halten, dass die politischen Wirkungen einzelner kultureller Praktiken im Voraus
feststehen, oder sogar für verschiedene Kontexte garantiert werden können. Wir
müssen untersuchen, wie Formen, die Menschen an einem Ort zur Handlung
ermächtigen oder als Werkzeuge für Widerstand dienen, an einem anderen Ort Men-
schen entmächtigen und umgekehrt.
Betrachten wir zum Beispiel die wachsende Macht des populären Konservativis-
mus in den USA. Auf vielerlei Art stellt die Herausforderung dieses neuen Konser-
vativismus nur die Frage neu, die politische Analytiker schon so lange beschäftigt:
Warum stimmen Menschen ihrer eigenen Unterordnung zu? Oder vielleicht weniger
urteilend: Was machen Menschen, wenn sie sich bestimmten Strukturen der Macht
und der Ungleichheit unterwerfen? Welche Rolle spielt die Populärkultur nicht nur
in den gegenwärtigen politischen Kämpfen, sondern auch in der Konstruktion der
Krise selbst, die nun jene Kämpfe vorantreibt? Was trägt die Populärkultur zu den
sich wandelnden und entstehenden Formen von Führerschaft und Autorität bei? Wie
können wir die komplexen Formen beschreiben, in welchen eine neue Struktur der
Macht organisiert wird, die auf widersprüchlichen politischen, ideologischen, öko-
nomischen und kulturellen Bindungen aufgebaut ist? Wie wird politische Macht auf
eine solche Weise neu strukturiert, dass ideologische und ökonomische Unterord-
nung mit bestimmten Formen kultureller Ermächtigung artikuliert wird? Wie wird
Kultur zu einem Ort des Kampfes ebenso wie zu seiner Waffe und zu seinem Ein-
satz? Wo betreiben gegenwärtige Formen kultureller Praktik den Kampf um hege-
moniale Führung?
Obgleich progressive politische Bewegungen und Organisationen weiterhin als
Institutionen existieren, sind sie oft zu lokal, zu fragmentiert und zu zeitlich
begrenzt. Daher müssen wir auch beginnen, uns wieder darüber Gedanken machen,
wie eine breitere politische Bewegung aussehen könnte. Dies erfordert, dass wir
sowohl den Fetischismus des Lokalen als auch die Feier des Mikropolitischen ver-
meiden müssen. Muss solch eine breitere Bewegung auf geteilten Bindungen auf-
bauen, oder kann sie eher eine artikulierte Reihe sich überlappender Netzwerke sein,
oder sogar das, was Giorgio Agamben (1993) „die kommende Gemeinschaft“ (eine
Singularität gewissermaßen) genannt hat?
Wir müssen auch berücksichtigen, dass die Möglichkeiten für progressiven poli-
tischen Kampf, insbesondere für einen, der die Mikropolitik des Alltagslebens über-
schreitet, aktiv für bestimmte Fraktionen der großen Mehrheit auf (mindestens) drei
Ebenen dekonstruiert werden:
Der Cross Road Blues der Cultural Studies 37

• die Unmöglichkeit, in das Politische zu investieren (d.h. in den Glauben an die


Regierung oder an ‚das Volk‘ bzw. ‚die Leute‘ — ‚the people‘— als Kräfte des
Wandels oder an irgendein utopisches Feld politischer und ethischer Werte);
• die aktive Entmutigung jeder Vorstellung von der Möglichkeit einer politischen
Gemeinschaft (d.h. die Beziehung des Individuums zur Gruppe neu, ebenso wie
das Verhältnis von Identität und Kampf neu zu denken).
• die Unmöglichkeit, eine Theorie und Praxis der Handlungsfähigkeit zu artiku-
lieren (neu zu betrachten, wie Menschen Geschichte machen, aber unter Bedin-
gungen, die sie nicht selbst geschaffen haben).
Dies sind in erster Linie Probleme des Alltagslebens, die in Kämpfen im Populären
und um das Populäre geformt werden. Es sind auch Probleme an der Schnittfläche
des Alltagslebens und umfassenderer, langfristiger ‚tendenzieller‘ Kräfte, die darum
ringen, es zu bestimmen. Aber sie stellen auch Herausforderungen für den Intellek-
tuellen dar und ich denke, wir sind zum Scheitern verurteilt, wenn wir nicht Wege
finden, sie außerhalb der Grenzen unserer eigenen theoretischen und politischen
Positionen anzugehen, wenn wir uns als Intellektuelle nicht mittels des Populären
artikulieren können, um Alltagsleben und Kultur mit den äußerst wirklichen Kämp-
fen gegen ökonomische und politische Ungerechtigkeit zu verbinden. Tatsächlich
haben zu oft die wirklichen Schlachten, in denen wir zu kämpfen gewählt haben,
und wie wir gewählt haben zu kämpfen, zu einer Schwächung gerade der Instituti-
onen beigetragen, für die wir angeblich kämpfen. Ich hoffe, der Leser wird mir
meine rhetorischen Exzesse an dieser Stelle verzeihen, aber ich denke, es ist an der
Zeit, dass wir zugeben, dass vieles von dem, was wir (als progressive Akademiker
und Intellektuelle) machen, nicht funktioniert. Und es ist an der Zeit, dass wir fra-
gen: Warum funktioniert es nicht?

Anmerkungen

* Übersetzung von Rainer Winter. Frühere Versionen dieses Beitrags wurden auf dem Kon-
gress „Crossroads in Cultural Studies“ in Tampere (Finnland) 1996 und auf Einladung bei
der „At the Helm“-Tagung der Speech Communication Association in San Diego 1996
präsentiert. Ich danke den Organisatoren dieser beiden Ereignisse für ihre Einladung und
Unterstützung. Der Beitrag stützt sich in Teilen auf Grossberg (1997a).
1 Cultural Studies betrachten Theorie weniger als einen Kanon, sondern mehr als strategi-
sche Ressource (obwohl dies nicht die Existenz einer Gruppe von Ressourcen, aus denen
man auswählen kann, in Frage stellt). Nach dem Verständnis der Cultural Studies ist
Theorie weniger therapeutisch, Wahrheit oder Subjekte herstellend, als dass sie Hand-
lungsfähigkeit und Handeln ermöglicht. Daher mussten die Cultural Studies sich, und sie
müssen es auch weiterhin, mit den theoretischen (und politischen) Agendas des Marxis-
mus, des Feminismus, der „critical race theory“, der „queer theory“, etc. auseinander set-
zen, ohne dass sie sich dabei selbst mit der Gesamtheit dieser Gruppe von Arbeiten identi-
fizieren.
38 Lawrence Grossberg
2 Das Unbehagen, das Versuche, Cultural Studies zu definieren, oft begleitet, lässt sich
leicht verstehen, denn das, was Cultural Studies auszeichnet, ist gerade ihre Offenheit.
Damit ist nicht eine anarchistische Offenheit im Sinne eines ‚alles ist erlaubt‘ gemeint,
sondern die strategische Offenheit von ‚keine Garantien‘.
3 Cultural Studies behandeln einen Text nicht, als ob er Bedeutung auf einer einzigen Ebene
enthält oder das Wesen einer Epoche verkörpert. Sie bieten keine zusammenfassende Ein-
sicht an und eröffnen keine Möglichkeit, eine soziale Totalität durch das Ereignis eines
Textes zu entziffern. Ein Text ist kein exemplarisches oder charakteristisches menschli-
ches Ereignis (vgl. Frow/Morris 1993).
4 Die Vorstellung einer weltumfassenden Struktur beschreibt einen materiellen Körper, der
fähig ist, Grenzen zu überschreiten (vgl. Deleuze/Guattari 1974).
5 Differenz ist nach Weir (1996) eine Logik, in der die Stärkung des Selbst die Assimilati-
on/Exklusion des Objektes/des Anderen nach sich zieht. Die individuelle und kollektive
Identität sind immer und notwendigerweise auf einer ‚das Selbe und das Andere‘-Dialek-
tik gegründet und werden durch eine Logik der Exklusion oder des Opfers erzeugt.
6 Offenkundig überschneiden sich diese drei Logiken im Begriff der Kultur. Ein Beispiel
hierfür sind die komplexen Aneignungen und Debatten des ‚Multikulturalismus‘.
7 Zumindest, was das folgende Argument anbelangt.
8 Man muss nur den Spielraum betrachten, in dem der Kulturbegriff durch und gegen kon-
kurrierende politische Positionen in den gegenwärtigen Kämpfen angeeignet und entfaltet
wird.
9 Es war Kants Vorhaben zu beweisen, dass „der Mensch“ (sic!) selbst Gesetze erlässt und
deshalb nicht Objekt wissenschaftlichen Wissens werden konnte. Hierzu legte er die
Bedingungen der Möglichkeit (und daher die Grenzen) allen Wissens und aller Erfahrung
dar. Offensichtlich scheiterte dieses Projekt gerade insofern, weil es nicht nur für die phi-
losophische Anthropologie, sondern auch für die Wissenschaften vom Menschen den
Boden bereitete. Wie Foucault (1971) gezeigt hat, ist in der Erkenntnistheorie der
Moderne der Mensch sowohl Subjekt als auch Objekt des Wissens. Ich möchte drei wich-
tige Einwände vorbringen. Erstens dient Kant hier nur als eine Figur eines viel größeren
diskursiven Wandels, der in vielen diskursiven Bereichen und Regimes zu finden ist. Kant
war allerdings eine besonders wichtige Kristallisierung dieser Veränderungen; zum Teil
vielleicht deshalb, weil er wusste, dass die Logiken, die er aufstellte, zwangsläufig zu
Antinomien führen würden, die, wie Ian Hunter (1988) dargelegt hat, eine bestimmte Art
von Person hervorbringen. Zweitens erhebe ich nicht den Anspruch, eine bessere Philoso-
phie per se zu suchen, ich versuche auch nicht, den Modernismus über Bord zu werfen.
Tatsächlich, habe ich nicht den Anspruch, dass sich meine Arbeit auf irgendetwas aus-
wirkt außer auf die kontextuelle Praxis der Cultural Studies, d.h. auf das Bemühen, den
Kontext in seinem Verhältnis zur Diskursivität zu verstehen. Und schließlich, um es noch
einmal zu sagen, bin ich nicht der Auffassung, dass wir Cultural Studies nicht betreiben
sollten oder können, bis solch eine philosophische Arbeit vollendet ist. Im Gegenteil, wie
ich bereits gezeigt habe, werden Cultural Studies immer mit den besten verfügbaren Res-
sourcen durchgeführt. Zudem zweifle ich nicht daran, dass weiterhin wertvolle Arbeit in
den Cultural Studies verrichtet wird, auch wenn eine solche philosophische Arbeit nie
unternommen wird.
10 Man muss zur Kenntnis nehmen, dass keine von ihnen die Existenz der Welt (das wäre
eine Version des subjektiven Idealismus) und auch nicht die fortdauernde Funktion jener
Realität als regulatives Prinzip oder transzendentalen Begriff leugnet.
11 Auf ähnliche Weise ist auch Peirces Begriff der „reinen Erstheit“ nicht ganz außerhalb der
Vermittlung. Peirce schlug aber auch vor, indem er die Vorstellung der Vermittlung für die
„Drittheit“ reservierte, dass es eine andere Form der Expressivität gibt, die „Zweitheit“,
die sich nicht in die Logik der Vermittlung einfügt.
12 Wir müssen zwischen zeitgenössischen Theoretikern unterscheiden, die Nietzsche mit
Kant lesen, wodurch verschiedene poststrukturalistische Versionen des sozialen Konstruk-
tivismus entstehen, und denjenigen, die Nietzsche mit Spinoza lesen und Vermittlung tout
court ablehnen.
Der Cross Road Blues der Cultural Studies 39
13 In meiner eigenen Arbeit (Grossberg 1992) benutze ich den Begriff ‚Affekt‘ als eine
strukturierte Ebene von Effekten (Anlage), die alleine Handlungsfähigkeit (oder willentli-
ches Handeln) ermöglicht. Das heißt, der Affekt ist die Ebene, auf welcher jedes Einzelne
(Personen oder Praktiken sind die deutlichsten Formen der Individuierung) ermächtigt
wird, auf besondere Weise an bestimmten Orten zu handeln. Der Affekt beschreibt die
beobachtbaren Differenzen, was Praktiken betrifft, oder wie sie von verschiedenen Konfi-
gurationen populärer Diskurse und Praktiken – verschiedenen Allianzen (die nicht nur
Publika sind) – aufgenommen werden. Aber vielleicht lässt dies den Affekt als zu geistig
erscheinen, denn der Affekt ist sowohl psychisch als auch materiell. Er verlangt, dass wir
sowohl den Körper als auch die diskursiven Praktiken in ihrer Materialität betrachten.
14 Das Virtuelle ist real, aber nicht aktual (vgl. Deleuze/Guattari 1992).

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Williams, R. (1972): Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. Studien zur historischen
Semantik von „Kultur“ (Übersetzung: Heinz Blumensath). München.
Williams, R. (1989): The Future of Cultural Studies. In: Williams, R.: The Politics of Moder-
nism. Against the New Conformists. London, 151-162.
Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur

John Fiske

1 Vorbemerkungen*

Manche Texte werden von den „Leuten“ (the people)** dazu auserwählt, ein Teil der
Populärkultur zu werden, während andere abgewiesen werden. In diesem Artikel
möchte ich eine Anzahl von Merkmalen der Texte skizzieren, die populär geworden
sind. Daneben werde ich einige der Hauptkriterien untersuchen, die den Auswahl-
prozess bestimmen, durch die ein Text zu einem Teil der Populärkultur wird.

2 Der produzierbare Text

Ein populärer Text sollte produzierbar („producerly“) sein. Um diesen Ausdruck zu


verstehen, muss man auf die Merkmale Bezug nehmen, die von Roland Barthes
(1987) bei seiner Unterscheidung von lesbaren und schreibbaren Tendenzen in
Texten und den Lektürepraktiken, zu denen diese einladen, diskutiert werden. In
Kürze: Ein lesbarer Text richtet sich an einen im Wesentlichen passiven, aufnahme-
bereiten und disziplinierten Leser, der dazu tendiert, dessen Bedeutungen als schon
gegeben anzunehmen. Es handelt sich um einen relativ geschlossenen Text, der ein-
fach zu lesen ist und keine großen Anforderungen an den Leser stellt. Im Gegensatz
dazu erfordert ein schreibbarer Text vom Leser, dass dieser ihn ständig ‚neu‘
schreibt, damit er für ihn einen Sinn haben kann. Er rückt sich in seiner eigenen
Konstruiertheit in den Vordergrund und lädt den Leser dazu ein, an der Konstitution
von Bedeutung aktiv teilzuhaben. Beim Herausarbeiten dieser beiden Tendenzen,
durch die sich Texte auszeichnen können, konzentriert sich Roland Barthes Interesse
in erster Linie auf literarische Texte. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass der les-
bare Text der eher zugängliche und populäre ist, der schreibbare Text hingegen der
schwerer zu erfassende, avantgardistische, der folglich nur eine Minderheit an-
spricht.
Die Kategorie ‚produzierbar‘ ist notwendig, um den populären, schreibbaren
Text zu beschreiben – ein Text, der trotz seiner schreibbaren Tendenz nicht notwen-
digerweise schwer zu lesen ist, der den Leser nicht herausfordert, aktiv Bedeutung
42 John Fiske

zu konstituieren, der den Leser nicht durch seine gravierende Differenz sowohl zu
anderen Texten als auch zu dem gewohnten Alltag in Verlegenheit bringt. Er zwingt
dem Leser nicht seine eigenen Konstruktionsgesetze auf, die dechiffriert werden
müssen, um den Text Stück für Stück nach dessen Bedingungen anstatt der eigenen
zu erfassen. Der produzierbare Text hat die Zugänglichkeit eines schreibbaren Textes
und kann prinzipiell auf vergleichbar einfache Weise von denjenigen Lesern rezi-
piert werden, die sich mit der dominanten Ideologie arrangiert haben (für den Fall,
dass solche Leser wirklich existieren: Schauen Ölbarone Dallas?), jedoch verfügt er
gleichzeitig über die Offenheit des schreibbaren Textes. Der Unterschied besteht
lediglich darin, dass er weder die schreibende Aktivität des Leser erfordert, noch die
Regeln festsetzt, die diese kontrolliert. Vielmehr bietet er sich selbst einer populären
Bedeutungskonstitution an. Er überlässt sich, wie widerwillig auch immer, den Ver-
wundbarkeiten, Grenzen und Schwächen seiner bevorzugten Lesart. Er beinhaltet –
während er versucht, diese zu unterdrücken – Stimmen, die denjenigen, die er
favorisiert, widersprechen. Er hat lose Enden, die sich seiner Kontrolle entziehen,
sein Bedeutungspotenzial übertrifft seine eigene Fähigkeit, dieses zu disziplinieren,
seine Lücken sind groß genug, um ganze neue Texte in diesen entstehen zu lassen –
er befindet sich, im ureigensten Sinne des Wortes, jenseits seiner eigenen Kontrolle.
Die von der Kulturindustrie produzierten und verbreiteten Erzeugnisse, die zu
einem Teil der Populärkultur werden, sind diejenigen, die ‚außer Kontrolle‘ geraten,
die nicht zu disziplinieren sind. Aber sie vermitteln nicht, wie der schreibbare Text,
ein ‚Gefühl der Fremdheit‘, ihre Disziplinlosigkeit ist die Disziplinlosigkeit des All-
tagslebens, die vertraut wirkt, da sie ist ein unvermeidliches Element der populären
Erfahrung innerhalb einer hierarchischen, durch Machtverhältnisse strukturierten
Gesellschaft darstellt. Sie benötigen demnach diese Schreibbarkeit nicht, denn sie zu
benötigen bedeutet, zu disziplinieren (der schreibende Leser eines avantgardisti-
schen Textes ist diszipliniert). Hingegen erlauben produzierbare Texte das Schreib-
bare; sie sind unfähig, es zu verhindern. Die soziale Erfahrung, die die Relevanz be-
stimmt, die das Textuelle mit dem Sozialen verbindet und die die populäre Produkti-
vität antreibt, liegt jenseits der Kontrolle des Textes und zwar auf eine Art und Wei-
se, die sich von der eher festlegenden Textkompetenz und der Erfahrung des schrei-
benden Lesers eines avantgardistischen Textes unterscheidet.
Man kann hier auf die Metapher Michel de Certeaus Bezug nehmen (vgl. de
Certeau 1988; Fiske 1989a: 32-43), der das Bild der kolonisierenden Armee auf-
greift, die die Kontrolle über ein schwer zugängliches, bergiges Gebiet aufrecht
erhalten möchte und sich der Gefahr von Guerilla-Angriffen aussetzen muss – sie
kann sich selbst nur schützen, indem sie sich in ihre Zitadellen zurück zieht. Die
Populärkultur ist stets für diejenigen ein schwer zugängliches, bergiges Gebiet, die
sie kontrollieren möchten (unabhängig davon, ob aus ökonomischen, ideologischen
oder disziplinarischen Gründen), und ihre Guerilla-haften Lektüren sind eine struk-
turelle Notwendigkeit des Systems. Dem ökonomischen Bedarf der Industrie kann
nur dann entsprochen werden, wenn die „Leute“ deren Produkte als adäquate Res-
sourcen für ihre eigene Populärkultur verwenden. Es ist nur dann möglich, hege-
moniale Kräfte auszuüben, wenn die „Leute“ die Texte, die diese Kräfte verkörpern,
Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur 43

zur Lektüre auswählen und sie werden nur diejenigen Texte wählen, die auch die
Möglichkeit zum Widerstehen, Ausweichen und Empören anbieten. Strategische
Macht von oben kann nur in Momenten des Widerstands funktionsfähig sein, in
denen sie auf die taktische Macht von unten trifft. Die Populärkultur ist durchsetzt
mit Widersprüchen, und die ‚gegenläufigen‘ Elemente ihrer ‚Ausdrucksweise‘ lassen
sich auf die produzierenden Leser ihrer (unfreiwillig) produzierbaren Texte zurück-
führen.
Um populäre Texte zu analysieren, benötigt man also eine zweifache Blickrich-
tung. Auf der einen Seite muss man die Tiefenstruktur der Texte beachten und erfor-
schen und dies, indem man auf jene Methoden zurückgreift, die durch ideologische,
psychoanalytische und strukturalistische bzw. semiotische Analysen so effektiv und
einschneidend in der jüngsten Forschung erprobt wurden. Diese Ansätze offenbaren
genau, wie beharrlich und heimtückisch die ideologisch dominierenden Kräfte in
allen Produkten des patriarchalen Konsumkapitalismus am Werke sind. Verbunden
mit den Arbeiten der politischen Ökonomie und der kritischen Theorie der Frankfur-
ter Schule, enthüllen sie mit erschreckender Klarheit die Art und Weise, in der die
ökonomischen und ideologischen Erfordernisse des Systems das Alltagsleben be-
stimmen und von nahezu jedem Aspekt desselben begünstigt werden. Konzentrieren
wir uns aber nur hierauf, so führt das nicht nur dazu, dass wir einen ähnlich wichti-
gen Aspekt der Kultur kapitalistischer Gesellschaften außen vor lassen, sondern
auch zu einer Selbstbeschränkung, die in ihrem Pessimismus letztlich schädlich ist.
Eine solche Position mag durch unsere aufrichtige Abneigung gegenüber dem Sys-
tem gerechtfertigt sein, aber sie eröffnet nur wenig Hoffnung auf Fortschritt – und
nur die utopische Vorstellung von einer radikalen Revolution als letzte Möglichkeit,
es zu verändern.
Entsprechend muss man auf der anderen Seite auch seinen Blick darauf richten,
wie die „Leute“ mit dem System klar kommen, wie sie seine Texte lesen, wie sie
ausgehend von dessen Ressourcen Populärkultur konstituieren. Diese Blickrichtung
fordert uns auf Texte zu analysieren, um ihre Widersprüche, ihre Bedeutungspoten-
ziale, die sich der Kontrolle entziehen, und ihre Einladungen zur Produktion aufzu-
decken. Zu fragen ist, was in den Texten steckt, das eine populäre Billigung anzieht.
Traditionelle akademische Analysen und berufsmäßige Kritik haben sich nur selten
auf diese Weise mit populären Texten befasst. Kritiker, unabhängig davon, ob akade-
misch oder berufsmäßig, neigen dazu, wie disziplinierende Ordnungshüter zu han-
deln, da ihre traditionelle Rolle durch populäre Produktivität und populäres Urteils-
vermögen bedroht ist. Ein Ausgangspunkt für den Analytiker von Populärkultur ist
folglich, das zu erforschen, was traditionelle Kritiker in populären Texten ignorieren
oder anschwärzen, und sich auf solche Texte zu konzentrieren, die entweder der
gesamten kritischen Aufmerksamkeit entgangen sind oder nur zur Kenntnis genom-
men wurden, um diffamiert zu werden. Das gemeinsame Auftreten eines weit ver-
breiteten Konsums mit einer ebenso weit verbreiteten kritischen Mißbilligung ist ein
ziemlich sicheres Anzeichen dafür, dass eine Kulturware oder Praktik populär ist.
Des Weiteren möchte ich einen Blick auf einige der Gründe werfen, die dazu führen,
dass dieser Populärkultur abgelehnt, verspottet oder angegriffen wird und dabei
44 John Fiske

danach fragen, ob hinter diesen ‚Vulgaritäten‘ einige positive Aspekte zu finden


sind.

3 Sprache

Die Populärkultur wird häufig wegen ihres Ge- bzw. Mißbrauchs von Sprache ange-
griffen. Die Frage, die hier zur Disposition steht, ist, ob die Massenmedien und die
Populärkultur unsere Sprache verschlechtern oder sie neu beleben. Verbunden damit
müssen wir fragen, warum der populäre Gebrauch (oder ‚Missbrauch‘) von Sprache
bei so vielen eine solche Verärgerung und Besorgnis verursacht.1 Auf einen skanda-
lösen, undisziplinierten Gebrauch der Sprache will ich mich im Weiteren kon-
zentrieren – auf den des Wortspiels.
Beginnen möchte ich mit einem charakteristischen Beispiel. Ein Artikel in der
New York Post vom 5. Februar 1988 beginnt mit dem Satz: „Der erregte Senats-
GOP-Vorsitzende Robert Dole stellte gestern persönlich einen $500-Scheck für die
Nicaraguanischen Contras aus, angesichts des ‚schweren Fehlers‘ des Repräsentan-
tenhauses, ein $36 Millionen Hilfspaket abzulehnen.“ Die Überschrift lautet DOLE
ERKAUFT SICH NEUE CONTRAVER$E.***
Die Sensationspresse reproduziert keinen Umgangsjargon – dies wäre unmög-
lich, da solche Sprachmuster in hohem Maße durch Klassen-, Rassen-, Alters-,
Geschlechts- und Regionsunterschiede variieren. Aber die Sensationspresse hat eine
Form der Sprache entwickelt, die es einer Vielzahl von oralen Kulturen ermöglicht,
Anklänge der eigenen Sprachmuster in ihr zu finden, ebenso wie das Vergnügen, die
eigene Sprache und die der Presse in eine Beziehung zu setzen. Dies wird
hauptsächlich erreicht, indem sie sich von der offiziellen, korrekten Sprache abwen-
det. So zieht sich durch den hier betrachteten Artikel ein respektloser Ton, der
sicherstellt, dass Doles persönlicher Scheck an die Contras wahrscheinlich nur mit
Mühe als ein bewundernswerter, heroischer Akt gelesen werden kann. Ein Teil die-
ser Respektlosigkeit wird durch das Wortspiel „erkauft sich“ („to buy into“) übertra-
gen, bei dem der umgangssprachliche, metaphorische Gebrauch (der überraschen-
derweise nur schwer festgehalten werden kann) mit einem spezifischen, wörtlichen
Gebrauch kollidiert. Der Unterschied zwischen den vielfachen, umgangssprachli-
chen Verwendungsweisen und diesem einen wörtlichen Gebrauch ist die Differenz
zwischen umgangssprachlichen, oralen, populären Kulturen und der schriftsprachli-
chen, offiziellen, disziplinierten Kultur.
Das Wortspiel bereitet ein zweifaches Vergnügen. Da gibt es das Vergnügen, mit
den unterschiedlichen Gebräuchen der Sprache, die auf der Mikroebene das ständige
Spiel von Klasse und sozialen Unterschieden darstellen, zu spielen: Das Wortspiel
eröffnet eine Vielfalt von auf der Straße verbreiteten, umgangssprachlichen Bedeu-
tungen von „Scheck“ („check“), die sich von der Bedeutung, die Dole diesem Aus-
druck zuschreibt, in solchem Maße unterscheidet, wie die soziale Position von Dole
und den Post-Lesern; und das Wortspiel erlaubt es, die ‚vulgäre‘ Bedeutung als
Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur 45

‚wahrer‘ und demzufolge machtvoller anzusehen als die offizielle. Das Vergnügen
des Wortspiels liegt also nicht nur in seiner sprachlichen Miniaturisierung der sozia-
len Beziehungen, sondern in seiner Umkehrung der Kräfte, die diese gewöhnlicher-
weise strukturieren. Die zweite Form von Vergnügen ist die der Produktivität: Wort-
spiele laden zu produzierendem Lesen ein, es besteht ein Vergnügen im Herausfin-
den und Lösen des Wortspiels, das in das noch größere Vergnügen mündet, sich
seine eigene, zweckmäßige Bedeutung aus den in ihm kollidierenden Diskursen zu
ziehen. Wortspiele können nicht die Beziehung zwischen den gegenläufigen Dis-
kursen, die sich in ihm treffen, kontrollieren, sie verbinden diese einfach und über-
lassen dem Leser den Rest.2
Das ‚Wort‘ „CONTRAVER$E“ arbeitet anders. Die lexikalische Assoziation der
Contras mit Kontroverse mag auf einer Ebene der Trivialisierung dienen und auf
diese Weise die Respektlosigkeit gegenüber den politischen Kämpfen zeigen, die
bezüglich dieses Thema ausgefochten wurden – und diese Trivialisierung kann ein
Zeichen der Distanz dieses Themas und seiner Irrelevanz für das Alltagsleben der
Leser sein. Das Wortspiel $ anstatt S funktioniert möglicherweise auf dieselbe Wei-
se; es steht als ein Zeichen dafür, dass das große Geld weg ist (ebenso wie Doles
Scheck) und wird gesprochen mit dem Ton eines Gossen-Skeptizismus. Aber wie-
derum eröffnet das ‚Wortspielen‘ mehr als eine linguistische ‚Wieder-Erfahrung‘
einer sozialen Differenz (oder eines Unterschieds, einer Entfremdung): Es miß-
braucht auch ‚ihre‘ Sprache. Das Wortspiel ist eine Weigerung, sich einer sprachli-
chen Ordnung zu unterwerfen, eine momentane Taktik, durch die das sprachliche
System geplündert und auf respektlose, listige Weise ausgenutzt wird.
In diesem Zusammenhang ist de Certeaus Unterscheidung zwischen Lesen und
Entziffern relevant. Entziffern heißt zu lernen, wie man die Sprache eines anderen zu
dessen Bedingungen zu lesen hat. Lesen hingegen ist ein Vorgang, bei dem die eige-
ne, orale, umgangssprachliche Kultur an den geschriebenen Text herangetragen
wird. Entziffern benötigt Übung und Erziehung, die durch die gleichen sozialen
Kräfte organisiert werden, die das sprachliche System kontrollieren. Es ist Teil des-
selben strategischen Machtzusammenhangs. Seine Funktion ist es, den Leser der
Autorität des autorisierten Textes zu unterwerfen, und auf diese Weise wird der
belehrende Sprachkritiker zu einem strategischen Agenten, der von der Macht, an
der er teilhat, profitiert. Lesen jedoch erfordert eine orale Kultur, die dem Geschrie-
benen (dem Skripturalen) vorangeht, die sich jenseits der ‚offiziellen Sprache‘ oder
gegen sie entwickelt hat und entsprechend gegen deren Disziplin gerichtet ist. Das
Entziffern unterstützt, dass der Text vom Leser als ein Beispiel von ‚langue‘ aufge-
fasst wird, als eine Verkörperung des universellen Sprachsystems, dem man sich
nicht widersetzen kann, sondern das man lediglich gebrauchen kann – und dieser
Gebrauch formt auch die Nutzer. Das Entziffern schult den Leser, vom System
benutzt zu werden. Das Lesen hingegen rückt die ‚parole‘ gegenüber der ‚langue‘
stärker in den Vordergrund, die Praktik gegenüber der Struktur. Es hat mit dem all-
täglichen Gebrauch von Sprache zu tun, nicht mit deren System oder deren Richtig-
keit. Das Lesen betont Kontextualität, das einzigartige Verhältnis eines bestimmten
sprachlichen Gebrauchs zu einem bestimmten, situierten Kontext. Es ist dem zu
46 John Fiske

Folge mit dem Unbeständigen und Vergänglichen verbunden, denn Relevanz muss
vergänglich sein, da sich soziale Formationen ändern und in unterschiedlichen
Momenten und zu unterschiedlichen Zwecken anders gestaltet werden. Das Vergnü-
gen, das das Wortspiel „CONTRAVER$E“ bereitet, besteht darin, dass der Ausdruck
zuvor noch nie gebraucht wurde und auch nicht mehr gebraucht werden wird.3 Die
Einzigartigkeit, die Kontextualität, liegt in dem Bereich des Populären, sie ist Teil
der Alltagstagskultur, und als solche der Allgemeinheit entgegen gesetzt, der Norma-
lisierung und somit auch zur Disziplin. Ebenso ist sie Teil des sprachlichen Systems,
in welches ‚Korrektheit‘ eingeschrieben ist, und dessen Regeln nicht nur deshalb
wichtig sind, weil sie die Art und Weise kontrollieren, wie Sprache gebraucht wer-
den soll, sondern auch, weil die Akzeptanz dieser Regeln eine andere Form dessen
ist, wie Menschen sich selbst regieren.
Wortspiele sind umgangssprachlich, ein Teil der oralen Kultur: Schriftlichkeit
bevorzugt den seriösen, disziplinierten Gebrauch der Sprache, den Wortspiele unter-
brechen.4 Geschriebene Sprache ist linear, ihre Beziehungen sind logisch und ver-
bunden durch die Gesetze von Ursache und Wirkung. Wortspiele sind assoziativ, sie
entkommen diesen Gesetzen, denn assoziative Beziehungen sind wesentlich freier
als logische. Wortspiele heben den linearen Fluss der Gedanken auf, durch den der
Leser bei der Hand genommen und von einem Gedanken zum nächsten geführt
wird. Sie beziehen hingegen parallele Prozesse ein, die Fähigkeit, simultan verschie-
dene Informationsflüsse zu verarbeiten.
Natürlich sind Wortspiele auch für einige schreibbare literarische Texte kenn-
zeichnend: James Joyces Werk zum Beispiel ist voll von Wortspielen. In avantgar-
distischen Texten haben Wortspiele eine vergleichbar offensive Funktion wie in pro-
duzierbaren Texten, jedoch sind sie für eine andere Leserschaft bestimmt und haben
eine andere Beziehung zum Alltag. Der Leser eines avantgardistischen Textes gehört
einer Minderheit an, einer artistischen Elite, deren Aufgabe es ist, Kunst von ihren
tradierten Konventionen zu befreien und sie für neue, zukünftige Darstellungsfor-
men zu öffnen. Solche schreibbaren Werke müssen ihren Lesern die Kodes und Lek-
türepraktiken beibringen, durch die man sie verstehen kann. Sie sind ihren Lesern
voraus, ihre Originalität und Schwierigkeit bilden die beiden Seiten ein und dersel-
ben Medaille.
Produzierende Wortspiele jedoch reproduzieren auf der Ebene des Textes die
Widersprüche, die schon die soziale Erfahrung ihrer Leser sind. Sie haben folglich
keine ‚erzieherische‘ Funktion, sie sind ihren Lesern nicht voraus. Es ist das Text-
muster, das es den Lesern erlaubt, ihre soziale Erfahrung durch sie auszudrücken.
Wortspiele versuchen also nicht, die eigene Erfahrung als fremd erscheinen zu las-
sen, nur um ihren Widersprüchen einen Moment der Wahrnehmung zu gestatten.
Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass der Unterschied zwischen
schreibbaren und produzierbaren Wortspielen eher in den Lektürepraktiken als in
essenziellen Unterschieden zwischen den Wortspielen selbst liegt. „CONTRA-
VER$E“ ist tatsächlich ein Wort, das durchaus von Joyce hätte stammen können.
Greenfield (1987) weist darauf hin, dass einige der Gründe, warum viele
Erwachsene (vor allem gutbürgerlich erzogene) bei Videospielen versagen – und
Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur 47

ihnen dementsprechend auch kritisch gegenüber stehen –, darin liegen, dass die
Fähigkeit, diese zu spielen, paralleles Verarbeiten mehrerer Geschehnisse ein-
schließt, die Fähigkeit, mehrere Muster von Erfahrungen gleichzeitig aufzunehmen
und die strukturierten Beziehungen zwischen diesen Mustern eher zu erfassen als zu
analysieren. Die mentalen Prozesse sind weitgehend andere als die linearen, die in
der literarischen Elite so gut geschult werden. Die Werbung für ein Haarpflegemittel,
die den Kopf und die nackten Schultern einer jungen Frau zeigt und mit der Schlag-
zeile „Use your head, give your hair body“ versehen ist, steckt voll paralleler
Gedankengänge. „Use your head“ heißt gleichzeitig ‚denk klar‘ und ‚mach deine
Attraktivität zu einem Reiz für die Männer‘. Dem Haar Form und Körper geben
(„give your hair a body“), ist das, was das Produkt macht, genauso wie es das ist,
was der Leser in seiner Fantasie tut, indem er dazu aufgefordert wird, sich den
(nackten) Körper unterhalb der Schultern vorzustellen – und damit auch den implizi-
ten Körper des auf sie blickenden Mannes produziert. Drei Körper sind hier gegeben
und bringen sich gegenseitig hervor – die Form des Haares, der Körper der Frau und
der implizierte Körper des Mannes. Diese Werbeanzeige lesen zu können, ist keine
literarische Fähigkeit, da sie lediglich das parallele (nicht sequenzielle) Verarbeiten
von Wörtern und Bildern, von Spielen mit Wörtern und von Spielen zwischen Wör-
tern und Bildern erfordert. Das Raststättenschild

ESS HIER
TANK AUF

erlaubt keine Satzzeichen, Präpositionen oder Konjunktionen (die alle Beziehungen


strukturieren und entsprechend die Bedeutungspotenziale der geschriebenen Sprache
einschränken), die die möglichen Assoziationen zwischen diesen beiden Aktivitäten
kontrollieren. Sie können sich abwechseln, gleichzeitig bzw. aufeinander folgen oder
in keiner Beziehung zueinander stehen; und die umgangssprachliche, offensive,
wortspielerische Bedeutung ist nur deshalb zugänglich, weil solche assoziativen
Freiheiten bestehen. Diese Freiheiten konstituieren den Raum, der es ermöglicht,
dass das, was von Bakhtin (1987) als Sprache der Unterschicht bezeichnet wird, die
offizielle, korrekte Bedeutung umgeht. Die Spannung zwischen den Bedeutungen
ist, wie alle semiotischen Spannungen, sowohl sozial als auch semantisch.
In Texten von Pop Songs werden typischerweise Wortspiele gebraucht (vgl.
Fiske 1989b: 95-115). Häufig sind diese sexuell konnotiert, wobei die offizielle,
geschätzte Bedeutung unterhöhlt wird durch die weniger geschätzte sexuelle. Das
unerlaubte Vergnügen am Sexuellen wird verstärkt durch die Gegenwart eines kon-
trollierenden Diskurses: Die gegenläufige Beziehung zwischen beiden Diskursen
bereitet ein größeres Vergnügen, als wenn die sexuelle Bedeutung frei für sich zirku-
lieren würde. Bedeutungen, die ‚außer Kontrolle‘ geraten, müssen Spuren der Kon-
trolle, der sie entkommen möchten, enthalten, um populär zu werden.
In Thriller reizt Michael Jackson das Wortspiel des Titels bis zu seinen äußer-
sten Grenzen aus. Als er und seine Freundin einen Horrorfilm anschauen, singt der
Chor:
48 John Fiske
This is the Thriller, Thriller night
Cause I could thrill you
more than any ghost would dare to try
Girl this is thriller
So let me hold you tight and share a killer,
thriller night.

Das Hauptwortspiel setzt den emporkribbelnden Thrill eines Horrorfilms mit dem
explodierenden Thrill eines Orgasmus in Beziehung – ein Killer im doppelten Sinn
des Wortes. Daneben ist der ‚Junge‘ aus dem Liedtext gleichzeitig der Star Jackson
und der ‚gewöhnliche‘ Freund, den er in dem Video spielt, ebenso ist das Mädchen
gleichzeitig die ‚gewöhnliche‘ Freundin und der Fan des Stars. Die Wortspiele funk-
tionieren auf zwei Ebenen, nämlich auf der Ebene der Beziehung zwischen dem Jun-
gen und dem Mädchen und auf der parallelen Beziehungsebene zwischen Star und
Fan. Letztere eröffnet den Fans den ‚Thrill‘ einer Michael Jackson-Darbietung, eine
‚jouissance‘, ein Lesen mit dem Körper, das die eigentliche Wirkung auf die Fans
darstellt. Dieser Thrill, den Roland Barthes als Erotisierung des Textes (oder in die-
sem Fall der Darbietung) bezeichnen würde, ist sowohl sexuell als auch horrorhaft
konnotiert: Text, Orgasmus und Entsetzen klingen in dem Wort ‚thrill‘ mit. Im Video
verwandelt sich Jacksons Person parallel zu den Bedeutungen des Wortes – er oszil-
liert zwischen Jackson als gewöhnlichem Freund, Jackson als Star und Jackson als
Werwolf oder Zombie. Hinter der bekannten Bedeutung von ‚Ins-Kino-gehen‘ oder
‚Ein-Michael-Jackson-Fan-sein‘ liegen dunkle sexuelle und horrorhafte Erfahrun-
gen, die in ihrer Flucht vor Kontrolle sowohl bedrohlich als auch befreiend wirken.
„DOLE ERKAUFT SICH NEUE CONTRAVER$E“ ist das Spiel von Diszi-
plin und Undisziplin im Kleinen, ein Spiel von Kontrolle und Kreativität, von
sprachlichem System und kontextuellem Gebrauch. Diejenigen von uns, die bei sol-
chen Wortspielen seufzen oder Grimassen schneiden, sich aber trotzdem ein Vergnü-
gen nicht verkneifen können, sind gleichzeitig auf beide Ansatzpunkte dieser Span-
nung ausgerichtet. Unser Vergnügen lässt sich auf die Kreativität der Befreiung von
der sprachlichen Disziplin zurückführen, unser Missfallen auf unsere Einbindung in
das soziale System, über das sich für einen Moment empört wird.
Genau aus diesen Gründen sind Wortspiele (‚schlechte‘ Wortspiele) in der kom-
merziellen Kultur – Werbung, Überschriften, Pop Songs, Slogans – weit verbreitet.
Sie komprimieren eine Vielfalt von Bedeutungen auf kleinem Raum, diese Bedeu-
tungen schwappen über und geraten außer Kontrolle. Sie erfordern produktives
Lesen, sie sind keine Konfektionsware. Solange Wortspiele als wertloser, trivialer
Gebrauch von Sprache aufgefasst werden, verkörpern sie die Spannung zwischen
dem Richtigen und dem Spielerischen, und das Spielerische hat immer das Poten-
zial, undiszipliniert, skandalös und offensiv zu sein. Die Pizzeria, die sich selbst
„Der schiefe Turm von Pizza“ nennt und ihre Fassade mit einem Stuck-Pastiche des
Originalturms dekoriert, bietet eine Reihe populärer Vergnügen, die über jene an
ihren Produkten hinausgehen und sie überdauern.
Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur 49

Wortspiele sind hauptsächlich oral: Man muss sie laut aussprechen, um nicht nur
den Gegensatz zwischen den Diskursen zu erfassen, die sie verkörpern, sondern
auch den Gegensatz zwischen dem Oralen und dem Schriftlichen. Sie verstoßen
gegen die Schriftlichkeit, indem sie sie ‚oralisieren‘, sie verschieben die Sprech-
weise von der Disziplin des Schriftlichen zu dem weniger kontrollierten, eher kon-
textbestimmten Gebrauch einer oralen Kultur. Sie sind Teil der gewöhnlichen
geschriebenen Sprache, die weder rein oral noch rein schriftlich ist, sondern eine
Zwischenform darstellt, eine geschriebene Sprache, die sich dem Oralen annähert
und gegen das Schriftsprachliche verstößt. Man könnte sie ein oralisiertes Schreiben
nennen.
Die Disziplin des Schriftlichen manifestiert sich in seinen Normen der Korrek-
theit, insbesondere in denen der Syntax und der Rechtschreibung. Ein oralisiertes
Schreiben benötigt keine normierte Rechtschreibung oder Syntax, seine Kennzei-
chen der Oralisierung sind seine Fehler, seine Abweichungen (bewusst oder unwis-
send) von der Disziplin des Schriftsprachlichen. Oralisierungen wie Wirsing
(badisch ‚Auf Wiedersehen‘), ‚Bar-B-Q‘ und ‚Stop ‚n‘ Go‘ sind so verbreitet, dass
sie ihre Offensivität nahezu verloren haben. Sie sind absichtsvoll und nahezu akzep-
tiert. Anstoßerregender sind für manche „Leute“ ‚Missbräuche‘, die gegen die gefor-
derte Genauigkeit verstoßen, beispielsweise das im Englischen übliche Ignorieren
der Norm, dass das Apostroph der Unterscheidung von Plural- und Possesivformen
bzw. Elisionen dient. In der gesprochenen Sprache genügt der Kontext um its und
it‘s zu unterscheiden und nur Schreib-Pedanten stört es, wenn der ansässige Lebens-
mittelhändler die Frische seiner „tomato‘s“ anpreist. Die gesprochene Sprache inter-
essiert es nicht, ob Granny Smiths mit einem Apostroph versehen werden sollte, und
wenn dem so ist, ob das Apostroph vor oder nach dem s steht.
Der entscheidende Punkt ist nicht nur, dass die orale Sprache nicht mit Buchsta-
ben geschrieben werden muss, wie es beim oralisierten Schreiben der Fall ist, son-
dern dass die orale Sprache stärker kontext- und funktionsorientiert und nicht nor-
morientiert ist. Wenn man verstanden wird, ist das genug. Wie Bourdieu (1987)
herausstreicht, benötigt die Arbeiterklasse eine Kunst, die funktional ist. Das ora-
lisierte Schreiben ist funktional, es ist zweckgebunden. Ein Teil seines Zwecks ist es,
sich nicht anzupassen, sondern die Arbitrarität sprachlicher Normen bloßzustellen
und zu zeigen, dass sie nicht eine solche sozial distinguierende und disziplinierende
Funktion haben: Die Normen zu brechen, macht selten die Bedeutung einer Aussage
zunichte, sagt aber viel über die soziale Klasse aus, der man angehört. Die orale
Sprache hat sich zum Funktionalen hin entwickelt – ‚Bar-B-Q‘ ist kürzer, und selbst
in diesem minimalen Sinn funktionaler als die korrekte Schreibweise.
Diese Art von ‚Bastardisierung‘ ist eine völlig andere, als das Pentagonese, der
in hohem Maße schriftsprachliche Jargon des Pentagons. Dieser löst einzelne Worte
aus ihrem unmittelbaren Kontext bzw. von ihrem Sprecher, schreibt sie orthografisch
und grammatikalisch richtig. Er ist eine Sprache, die in solch ausschließlichem
Maße von ihren systematischen Normen abhängt, dass sie sich selbst vollständig
dekontextualisiert: Sie verweigert sich gegenüber jeder konkreten Spezifizierung,
unabhängig ob durch Sprecher, Kontext oder Referenz.
50 John Fiske

Die Abweichung von der Norm ist nicht an sich ein Kennzeichen der populären
Sprache, obwohl es häufig ein Zeichen für den Versuch ist, populär zu werden. Das
Schaufenster, das durch den Spruch „Chocolate Kreations Easter Speshals“ geziert
wird, zieht nicht die Aufmerksamkeit auf sich und dient so keinen kaufmännischen
Zwecken. Sein populäres Potenzial scheint stark beschränkt zu sein, obwohl für
manche Leser-Käufer der Spruch eine Vergnügen bereitende Differenz zwischen all-
täglichem und feiertäglichem Einkaufen signalisieren kann. Abgesehen von einer
solchen möglichen Lesart, würde der Schaufensterspruch weder besonders Vergnü-
gen bereitend noch funktional erscheinen. In diesem Punkt unterscheidet er sich von
einer anscheinend vergleichbaren Form der Abweichung, nämlich „Fer-Rückt Golf“
– geschrieben in auffallend kritzeligen Buchstaben. Hier ist es der Kontext, die
Besonderheit des Gebrauchs, der das populäre Potenzial vergrößert. Die Entbindung
von sprachlichen Normen, die diese Schreibweise manifestiert, entspricht einer Ent-
bindung von den Regeln des konventionellen Golfs, die wiederum der Entbindung
vom sozial Normalen entspricht, die in den Ferien realisiert werden kann („Fer-
Rückt Golf“ ist natürlich ein Ferienvergnügen). Der Kontext eröffnet also mehr
Möglichkeiten für offensive Vergnügen als „Easter Speshals“, deren Unterschied zu
jedem anderen Sonderangebot keine Möglichkeit für karnevaleske Sprachspiele
erlaubt.
Die orale Sprache ist kontextgebunden, und der Kontext ist nicht nur physisch,
sondern auch temporal und sozial. Die Ferien-Bedeutungen von „Fer-Rückt Golf“
funktionieren nur, wenn man zur Ferienzeit körperlich an einem Ferienort anwesend
ist und deshalb in einem angemessenen Umfeld sozialer Beziehungen steht. In solch
einem Kontext wird das oralisierte Schreiben wahrscheinlicher in die Populärkultur
übernommen (während es seine Basis im Kommerziellen bewahrt). Oralisiertes
Schreiben ist sowohl der kommerzielle Versuch, sich dem Populären anzunähern, als
auch die populäre Aneignung dieses Versuchs.

4 Exzess und das Offensichtliche

Die Populärkultur neigt dazu exzessiv zu sein; ihre Pinselstriche sind grob, ihre Far-
ben leuchtend. Diese Exzessivität lädt diejenigen, die sie ablehnen, dazu ein, sie als
‚vulgär‘ anzugreifen, als ‚melodramatisch‘, ‚durchsichtig‘, ‚oberflächlich‘, ‚sensati-
onssüchtig‘ und so weiter. Intellektuelle Kritik ist häufig bei ihren Analysen sehr
sorgfältig, irrt jedoch bei ihrer Bewertung. So kann man recht überzeugt dem zus-
timmen, dass populäre Texte exzessiv und offensichtlich sind, während man die
negative Bewertung dieser Eigenschaften ablehnt oder sogar zu einer umgekehrten
Einschätzung gelangt.
Exzessivität und Offensichtlichkeit sind zentrale Merkmale des produzierbaren
Textes. Sie stellen ein ergiebiges Rohmaterial zur Konstitution von Populärkultur
zur Verfügung. Unter Exzessivität fallen Bedeutungen, die außer Kontrolle geraten
sind, Bedeutungen, die die Normen der ideologischen Kontrolle oder die Grenzen
Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur 51

eines bestimmten Textes überschreiten. Exzess ist überflutende Semiosis, das exzes-
sive Zeichen geht zwar von der dominanten Ideologie aus und reproduziert sie dann
aber überschreitet und überflutet es sie so, indem es exzessive Bedeutungen entste-
hen lässt, die sich der ideologischen Kontrolle entziehen und dazu verwendet wer-
den können, ihr zu widerstehen oder auszuweichen. Beispielsweise übersteigt die
exzessive Aufopferung der Heldin eines Liebesromans, ihr übertriebenes Leiden an
der Hand des Helden, das ‚normale‘ Aufopfern und Leiden von Frauen in einer
patriarchalen Gesellschaft. Normen, die auf solche Weise übersteigert werden, ver-
lieren ihre Unsichtbarkeit, verlieren ihren Status als gegebener Common Sense und
werden öffentlich zur Diskussion gestellt. Exzess beinhaltet Elemente von Parodie,
welche es ermöglicht, sich über das Konventionelle lustig zu machen, sich seiner
ideologischen Hiebe zu entziehen, um deren Normen gegen sie selbst zu wenden.

Abbildung: Titelblatt Weekly World News v. 15. März 1988

Das Titelblatt von Weekly World News (15. März 1988) ist exzessiv, sensationell und
offensichtlich (vgl. Abbildung 1). Nichts ist dabei hintergründig oder feinsinnig,
aber ein typisches Muster ist vorzufinden, eine Anziehungskraft, ein Merkmal popu-
lärkultureller Vergnügen.
Das Titelblatt spricht, wie viele andere, die die Stände entlang von Supermarkt-
kassen beleben, die Unzufriedenen an. Der große amerikanische Traum ist eine bit-
52 John Fiske

tere Illusion für die Millionen Menschen, die an seinem versprochenen Wohlstand
nicht teilhaben können, die ihr eigenes Leben nicht frei gestalten können und die
Befriedigung, erfolgreiche und machtvolle Individuen zu sein, nicht erfahren. Jede
Überschrift der Seite ist ein herausragendes Beispiel für die Unfähigkeit des ‚Durch-
schnittsbürgers‘ (und entsprechend auch für die Ideologie, die diesen hervorbringt),
sich die spezifischen Instanzen des Alltagslebens zu erklären und mit ihnen fertig zu
werden. Die Welt, die dem Leser durch sie angeboten wird, ist eine Welt des Bizar-
ren, des Ungewöhnlichen. Sie erforscht die Grenzen des Common Sense mit dem
Ziel, seine Beschränkungen zu enthüllen. Und der Common Sense ist natürlich die
dominante Ideologie in Aktion. Die Titelseite ist also keine eskapistische Fantasie,
die einige ungewöhnliche Stimuli in das Grau des Alltagslebens bringt. Eine solche
ablehnende ‚Erklärung‘ der Sensationslust führt schließlich zu dem Glauben, dass
diejenigen, denen die Titelseite Vergnügen bereitet, im Grunde genommen
anspruchslos sind und über eine solch abgestumpfte Sensibilität verfügen, dass nur
die krasseste, übertriebenste Sensationssucht überhaupt zu ihnen durchdringt – eine
Sichtweise, die möglicherweise viel für das Ego derjenigen tut, die sie haben, dabei
aber die Popularität solcher Zeitschriften im gegenwärtigen Amerika nur unzurei-
chend erklärt. Solche sensationellen Enthüllungen der Unangemessenheit von Nor-
men bereiten an sich Vergnügen, ganz besonders denjenigen, deren materielle
soziale Erfahrung ‚abnormal‘ ist, also denjenigen, die – wenn sie die dominierenden
bürgerlichen Werte annehmen würden – ihr eigenes Leben als Versagen einstufen
müssten. Entsprechend bereiten die Geschichten von einem Top-Model, das einen
Leprakranken heiratet, oder von einer 77-jährigen Frau, die mit ihrem 90-jährigen
‚Freund‘ durchbrennt, deshalb Vergnügen, weil sie es denjenigen, deren sexuelle
Beziehungen von der romantischen Ideologie des ‚normalen‘ Paares abweichen,
ermöglichen, die Normen anstatt der eigenen Erfahrung in Frage zu stellen. Ebenso
bedeutet das Vergnügen an den Misserfolgen oder Unzulänglichkeiten der Wissen-
schaft (der Laserstrahl, der den Patienten eines Gehirnchirurgen in Flammen setzt,
oder die Unfähigkeit der Wissenschaftler, die Existenz einer fremdartigen Mumie zu
erklären) ein Vergnügen daran, die dominanten, kontrollierenden Welterklärungen
zusammenbrechen zu sehen. Dies alles sind Vergnügen, die besonders für diejenigen
typisch sind, die sich von der Teilnahme an den kontrollierenden Diskursen jeder Art
– ob wissenschaftlich oder nicht – ausgegrenzt fühlen. Das Sensationelle ist das
exzessive Versagen des Normalen, in dem die Normen an die Grenzen ihrer Ange-
messenheit stoßen, wodurch sie in Frage gestellt werden.
Ein ‚normaler‘, gutaussehender junger Arbeiter, der einen exzessiv abnormalen,
mumifizierten Außerirdischen in der Hand hält, ist die Illustration einer bestimmten
Alltagserfahrung, die von der gewöhnlichen Erfahrung nur in Graden und nicht
grundlegend abweicht. Es handelt sich hier um einen Augenblick, in dem die Unan-
gemessenheit der ideologischen Normen in einer abnormalen, extremen Form
erfahren werden kann. Die Abnormalität ist lediglich eine graduelle. Die Normalität
ist dabei der Misserfolg der dominanten sozialen Werte, der Alltagserfahrung von
Millionen benachteiligter Menschen gerecht zu werden.
Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur 53

Eine solche Sensationslust drückt natürlich nicht die eigentliche Erfahrung der
Unzufriedenen und Benachteiligten aus, da die Art und Weise, in der unterschiedli-
che soziale Gruppen vom Erreichen dieser ideologischen Normen abgehalten wer-
den, mannigfaltig ist und von zahlreichen sozialen Positionen abhängt, die als
‚benachteiligt‘ beschrieben werden können. Was all diesen Gruppen gemeinsam ist,
ist die Erfahrung der Unterordnung und des Ausgeschlossen-Seins. Entsprechend
sind die dargestellten Misserfolge so beschaffen, dass sie den Text für verschiedene
Leser öffnen, um ihn auf unterschiedliche Weise Bedeutung im eigenen Leben zu
verleihen. Wenn ‚das Andere‘ als negativ beschrieben wird, eröffnet dies die Mög-
lichkeit, eine Fülle von positiven Vergnügen zu konstituieren.
Die Popularität solcher sensationslüsterner Publikationen ist ein Zeichen des
Ausmaßes von Unzufriedenheit innerhalb einer Gesellschaft, insbesondere unter sol-
chen Menschen, die der eigenen Situation machtlos gegenüber stehen. Die Tatsache,
dass es beispielsweise in den USA mehrere solcher „Leute“ gibt und deren Situation
offenkundiger ist als beispielsweise in Australien oder Großbritannien, sagt mögli-
cherweise etwas über die Exklusivität der amerikanischen Ideologie aus und über
die Schärfe, mit der diejenigen behandelt werden, die sie ausschließt; dass der Kapi-
talismus in Australien und Großbritannien (trotz des Thatcherismus) mehr sozialisti-
sche Momente integriert, kann vielleicht erklären, warum es in diesen Ländern eine
geringere Zahl solcher Publikationen gibt.
Sensationell, offensichtlich, exzessiv, klischeehaft – die Eigenschaften populärer
Texte sind nahezu nicht voneinander zu unterscheiden. Im Folgenden möchte ich
darlegen, dass sich das Offensichtliche einer ‚tiefliegenden‘ Wahrheit gegenüber, die
letztendlich einen kontrollierenden Diskurs darstellt, verweigert. Das Offensichtliche
bietet keine verständnisvolle Erklärung an und bleibt selbst offen. Aber Offensicht-
lichkeit ist nicht nur eine Eigenschaft von demjenigen, mit dem man umgeht, es
betrifft ebenso die Art und Weise des Umgangs selbst – das Offensichtliche und das
Klischeehafte sind zwei Seiten derselben Medaille.
In der Zeit des Letternsatzes verstand man unter Klischee ein Wort oder eine
Phrase, die die Drucker als Ganzes gesetzt ließen – daher die Bedeutung des fran-
zösischen Wortes cliché –, weil sie wussten, dass solche Wörter oder Phrasen sehr
häufig benutzt werden. Es ist folglich nicht ausreichend, Klischees als Zeichen eines
faulen Denkens oder eines Fehlens von sprachlicher Kreativität abzuqualifizieren.
Eher sollte man fragen, warum diese Worte oder Phrasen so häufig von bestimmten
„Leuten“ zu bestimmten Zeitpunkten verwendet werden. Was haben sie an sich, das
sie so populär macht?
Klischees verkörpern den Common Sense, die Alltags-Artikulationen der domi-
nanten Ideologie. Dementsprechend ist die Metapher, die in Phrasen wie „Zeit ist
Geld“, „Zeit spenden“ (oder verschwenden) und „Zeit investieren“ zum Ausdruck
kommt, in solchem Maße ein Klischee, dass wir ihre Metaphorik vergessen haben.
Dies ist der Fall, weil die betreffende Metapher die Vorstellung von Zeit perfekt in
Übereinstimmung mit der protestantischen Ethik bringt – sie konstituiert eine kapita-
listische Bedeutung von Zeit, indem sie diese als etwas fasst, das besessen, gespart
und investiert werden kann. Zeit wird zu etwas, von dem manche Menschen mehr
54 John Fiske

als andere besitzen können, etwas, das die Tüchtigen belohnt und die Faulen
bestraft. Die Metapher ist vollkommen hegemonial, sie ist Common Sense bei der
Arbeit, verstanden als ideologische Praxis.
Ähnlich wie in obigem Beispiel spricht auch Ron Perlman, der Vincent aus der
Fernsehserie Die Schöne und das Biest, in Klischees, wenn er sagt:
„Ich denke, Frauen sind romantisch und wollen umworben werden. Sie möchten auf eine
besondere Weise behandelt werden. Sie möchten, dass man ihnen Gedichte vorliest, anstatt
einen Typen im Unterhemd neben sich sitzen zu haben, der Fußball schaut.“ (Star, 8. März
1988: 25)
Die Klischees von Frauen als feinfühlige, romantische und häusliche Wesen und von
Männern als schleimige, selbstsüchtige Draufgänger, sind auf der einen Ebene als
der Common Sense des patriarchalen Kapitalismus zu verstehen. Hinter ihnen steht
der ‚Common Sense‘, dass sich der Mann zu Hause nur deshalb so verhält, weil
seine zielorientierte Einstellung und sein dementsprechendes Verhalten rein auf die
Arbeit bezogen sind und er sich das Recht verdient hat, sich zu Hause zu entspan-
nen. Ebenso steht dahinter die Vorstellung, dass die romantische Natur von Frauen
darauf verweist, dass sie ihr wahres Glück nur in der Liebe eines Mannes finden
können, und nicht in der Karriere oder in anderen Befriedigungen.5 Liebesromane
und Romantik können als Training der Frauen für die Ehe begriffen werden (vgl.
Fiske 1989b: 115-132). Hier fällt natürlich eine schwere und relativ offensichtliche
Ironie auf und die besteht darin, dass der Preis, den Frauen bezahlen müssen, um
ihre tatsächlichen Ehen zu führen, das Auslöschen derjenigen romantischen Gefühle
ist, die die patriarchale Ideologie der Ehe an erster Stelle als unentbehrliche Ele-
mente des Femininen hervorgebracht hat. Klischees stützen ideologische Normen,
und deswegen sind sie so machtvolle Konstrukteure des Common Sense und halten
ihn am Zirkulieren. Aber dies erklärt nicht allein alle kulturellen Formen ihres
Gebrauchs: Sie können ebenso dazu dienen, die Kluft zwischen dieser Ideologie und
der Alltagserfahrung bloß zu legen. Die Widersprüche zwischen der poetischen Frau
und dem Sport besessenen Mann dienen nicht nur dazu, ein Klischee des Preises zu
konstituieren, den Frauen zahlen müssen, sondern auch dazu, diesen Preis sichtbar
und erklärlich zu machen.
So schreibt ein weiblicher Fan an Perlman:
„Bitte haltet Die Schöne und das Biest auf Sendung. Ich brauchte die Illusion, mir vorzuma-
chen, dass Vincent wirklich lebt. Ich wünschte, er wäre am Leben, aber dann würde ich viel-
leicht meinen Mann und meine Kinder verlassen und wegrennen und mit ihm leben. Und was
würde dann meine Mutter denken?“ (Star, 8. März 1988: 25)
Hier ist eine Reihe komplexer, aber typischer Aushandlungsprozesse am Werk.
Zunächst gibt es ein Erkennen der Kluft zwischen der unerreichbaren Norm und der
Alltagsrealität, die bei dem Erkennen der Differenz zwischen der medialen
Repräsentation und der Wirklichkeit reproduziert wird. Dieses Erkennen gibt der
Zuschauerin das Recht (und die Fähigkeit), diese Differenz zu leugnen und die
Repräsentation so zu behandeln, als ob sie Realität wäre, um das Vergnügen an dem
Text zu steigern. Diese Fähigkeit, sich in den Text hinein und wieder aus ihm heraus
zu bewegen, gleichzeitig seine Textualität zu bejahen und zu leugnen, bereitet Ver-
Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur 55

gnügen, da die Zuschauerin die Bewegung kontrolliert. Sie wird durch den Text
nicht getäuscht, ist aber verantwortlich für ihren eigenen Leseprozess. Diesen popu-
lären Text zu lesen, ist kein einfacher Eskapismus, innerhalb dessen man den Alltag
für einen Moment hinter sich lässt. Der weibliche Fan weiß ganz genau, dass sie –
selbst wenn Vincent ‚wirklich‘ leben würde –, nicht mit ihm weglaufen würde. Ihre
scherzhafte Referenz auf die Mutter ist einerseits eine verzerrte Anerkennung der
internalisierten Disziplin, durch die Menschen sich selbst zügeln, andererseits der
Tatsache, dass diese Disziplin das Vergnügen einschränkt und zerstört. Die Kli-
schees werden als Klischees erfahren – das heißt als ein ideologischer, durch andere
produzierter Common Sense –, aber sie wurden internalisiert, so dass sie gleichzeitig
unsere und die der anderen sind. Die Diskrepanz zwischen dem internalisierten
Anderen des Klischees und dem Einzigartigen unseres eigenen Alltagslebens ist
zweifelnd, demystifizierend.6
Klischees verneinen die Einzigartigkeit eines Textes, und deshalb werden sie in
hohem Maße durch kritische Werte, die Priorität auf die Einzigartigkeit von Texten
und die Kreativität des Autoren setzen, verschmäht. Sie lassen es zu, dass eine
bedeutungsvolle Zugehörigkeit zwischen den Besonderheiten des Alltagslebens und
den ideologischen Normen, die sie verkörpern, konstituiert wird. Das Schreiben in
Klischees ist ein normenorientiertes Schreiben, Schreiben als nackte ideologische
Praxis. Das Klischee wird gelesen, so wie sich seine Normen mit den Praktiken und
Erfahrungen des Alltagslebens kreuzen. Weit davon entfernt ein hegemoniales
Werkzeug mit einer Wirksamkeit zu sein, die der einer Gehirnwäsche gleich kommt,
enthüllt das Klischee häufig die ‚Andersartigkeit‘ der dominanten Ideologie und
weckt ein Gefühl der Befremdung gegenüber dem Ausmaß von Kompromissen, die
gemacht werden müssen, um sich dem Alltagsleben anzupassen.

5 Textuelle Defizite und Intertextualität

Hinter der Kritik des defizitären Charakters populärer Texte liegt die unhinterfragte
Annahme, dass ein Text mit großer Kunstfertigkeit geschrieben und vollkommen
sein sollte, ein sich selbst genügendes Objekt, gegenüber dem man Respekt aufbrin-
gen muss und das es verdient, erhalten zu werden. Universitäten, Museen und
Kunstgalerien sind allesamt Kuratoren solcher Texte. Aber in der Populärkultur sind
Texte als Objekte nur Gebrauchsgegenstände und als solche (um die Produktions-
kosten niedrig zu halten) häufig kaum kunstfertig gestaltet, unvollständig und defizi-
tär, bis sie in das Alltagsleben der Menschen einverleibt werden. Sie sind Ressour-
cen, die respektlos benutzt werden, keine Objekte, die man bewundert und verehrt.
In der gegenwärtigen Kulturtheorie wird in weiten Bereichen argumentiert, dass
alle Texte unvollständig sind und nur in ihrem jeweiligen intertextuellen Bezugsrah-
men und im Hinblick auf ihre Rezeptionsform betrachtet werden können. Jedoch
gewähren die sozialen und akademischen Praktiken der Textanalyse, Konservierung
und Ausstellung nach wie vor dem ‚ästhetischen‘ Text ein Maß an Vollendung,
56 John Fiske

Selbstgenügsamkeit und Respekt, was für populäre Texte unangemessen ist. Popu-
läre Texte sind dazu da, gebraucht, konsumiert und weggeworfen zu werden, denn
sie funktionieren nur als Mittel bei der sozialen Zirkulation von Bedeutung und
Vergnügen. Als Objekte sind sie verkümmert.
Eine Jeans, die in einem Museum für Mode hängt, ist nicht vollkommen sinnlos
– abhängig von ihrer Beziehung zu anderen Kleidungsstücken in der Ausstellung
kann sie eine Reihe von allgemeingültigen Vorstellungen über das Amerika des 20.
Jahrhunderts vermitteln –, jedoch bleibt sie ein verkümmerter Text. Ihre Bedeutun-
gen können nur intertextuell realisiert werden, indem die Art und Weise, wie sie
kommerziell verbreitet und gebraucht wird, wie ihre Nutzer über sie sprechen/den-
ken und welche Bedeutungen die Presse und andere soziale Kommentatoren ihr
zuschreiben, mit einbezogen werden. Mit anderen Worten ist die Erforschung der
Populärkultur die Erforschung der Zirkulation von Bedeutungen – einen Text als pri-
vilegiertes Objekt zu behandeln heißt, diese Zirkulation an einem bestimmten (mög-
licherweise vorteilhaften) Punkt einzugefrieren, überbetont aber die Rolle des Textes
bei dieser Zirkulation. Der populäre Text ist ein Mittler und eine Ressource, kein
Objekt.
So ist Madonna (vgl. Fiske 1989b: 95-132) unter einigen Feministinnen ein
Symbol für die Wiedereinschreibung patriarchaler Werte, unter einigen Männern ein
Objekt des voyeuristischen Vergnügens und unter vielen jungen weiblichen Fans ein
Repräsentant von Vitalität und Kraft. Madonna bleibt als Text – oder sogar als eine
Serie von Texten – solange unvollständig, bis sie im Kontext der sozialen Zirkula-
tion von Bedeutung betrachtet wird. Ihre Gender-Politik liegt nicht in ihrer Textuali-
tät, sondern in ihrer Funktionalität. Sie stellt einen exemplarischen populären Text
dar, weil sie so voll von Widersprüchen ist – sie verkörpert gleichzeitig die patriar-
chale Vorstellung weiblicher Sexualität und eine dem widerstrebende Vorstellung,
dass ihre Sexualität ihr selbst gehört und sie diese benutzt, wie es ihr gefällt, ohne
dazu männliche Billigung zu benötigen. Ihre Textualität eröffnet sowohl patriarchale
Vorstellungen als auch Möglichkeiten, diesen in einer begierigen, schwankenden
Spannung zu widerstehen. Sie ist exzessiv und offensichtlich. Madonna überschrei-
tet alle Normen des weiblichen Körpers und enthüllt deren Offensichtlichkeit
zusammen mit ihrer Taille. Die Sexualisierung ihres Bauchnabels ist eine Parodie
der patriarchalen Erotisierung weiblicher Körperteile – Madonna ist ein patriarchaler
Text, durchsetzt mit Skeptizismus.
Weit davon entfernt, ein sich selbst genügsamer Text zu sein, ist Madonna ein
Provokateur von Bedeutungen, deren kulturelle Folgen nur in ihren mannigfaltigen
und oftmals widersprüchlichen Zirkulationen studiert werden können. Die Populär-
kultur zirkuliert intertextuell, zwischen dem, was ich primäre Texte genannt habe
(die ursprünglichen Kulturwaren – Madonna selbst oder ein Paar Jeans), den sekun-
dären Texten, die direkt auf diese Bezug nehmen (Werbung, Zeitungsartikel, Kriti-
ken), und den tertiären Texten, die im stetigen Fluss des Alltagslebens verhaftet sind
(Unterhaltungen, die Art und Weise, wie man eine Jeans trägt oder sein Apartment
bewohnt, das Bummeln durch die Stadt oder das Aufgreifen von Madonnas Bewe-
gungen im Tanz einer Oberstufenklasse) (vgl. Fiske 1987a, 1987b). All diese Texte
Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur 57

von Madonna – primäre, sekundäre und tertiäre – sind für sich genommen unzurei-
chend und unvollständig. Madonna ist einzig in der intertextuellen Zirkulation ihrer
Bedeutungen und Vergnügen zu fassen. Sie ist weder ein Text noch eine Person, son-
dern ein Set von sich im Fluss befindenden Bedeutungen. Obwohl sie nur anhand
ihrer Texte und deren Beziehungen untereinander untersucht werden kann – da dies
die Momente sind, in denen der Fluss von Bedeutungen am sichtbarsten wird –, sind
die Texte für sich genommen nicht die signifikanten Objekte, sondern Mittler,
Instanzen und Ressourcen der Populärkultur.
Als der Film The Shining zum ersten Mal in Großbritannien gezeigt wurde, zir-
kulierten durch die Presse in verschiedenen sozialen Klassen unterschiedliche Ver-
ständnisse von ihm. Zeitungen, die auf eine gehobene Leserschaft abzielten, priesen
ihn als einen Stanley-Kubrick-Film an. Sie strichen als Hauptcharakteristika solche
heraus, die seine Handschrift trugen (zum Beispiel lange, schaurige Kamerafahrten
durch Gänge), und sie gliederten die intertextuellen Beziehungen des Films um
seinen Autor-Urheber. Die Regenbogenpresse auf der anderen Seite bezeichnet ihn
als einen Genre-Film. Sie setzte ihn nicht mit diversen Kubrick-Filmen in Bezie-
hung, sondern mit anderen Horrorfilmen, erklärte seine erschreckendsten Szenen zu
den entscheidenden und bewertete den Film mit Hilfe von auf das Genre – und nicht
den Autor – bezogenen Vergleichen. In Spare Rib, einer Zeitschrift mit feministi-
scher Leserschaft, wurde der Film als eine weitere Repräsentation des Opferungs-
mythos von Frauen gesehen, und dem zu Folge intertextuell mit dem patriarchalen
Kino im allgemeinen (und der patriarchalen Kultur) in Beziehung gesetzt – die am
weitesten gehende und am offensichtlichsten politische Bedeutung von Intertextuali-
tät überhaupt. Intertextualität ist vermutlich nicht einzigartig für die Populärkultur.
Sie ist auch für die ‚hochkulturellen‘ Lesarten von The Shining zentral, jedoch funk-
tioniert sie hier anders. Hochkulturelle intertextuelle Beziehungen, die um den Auto-
ren-Künstler strukturiert sind, schränken in stärkerem Maße ein als diejenigen, die
um Genres oder Gender-Politik strukturiert sind. Ebenso gut harmonisieren sie mit
dem Status des Textes als einem künstlerischen Objekt. In der Tat ist die Verehrung
des Autoren-Künstlers ein notwendiges Korrelativ zu der Verehrung des Textes. In
der Populärkultur ist das Objekt der Verehrung aber weniger der Text oder der
Künstler, sondern eher der Darsteller – und dieser Darsteller, wie beispielsweise
Madonna, existiert nur intertextuell. Nicht ein Konzert, Album, Video, Poster oder
Cover kann als angemessener ‚Text von Madonna‘ verstanden werden. Intertextuelle
Kompetenz ist unabdingbar für die populäre Produktivität, aus Texten Bedeutungen
zu konstituieren.
Der defizitäre Charakter des einzelnen populärkulturellen Textes hängt nicht nur
mit seinen intertextuellen Lektürepraktiken zusammen, sondern auch mit seiner
Kurzlebigkeit und seinem repetitiven Charakter. Denn es sind nicht nur die Bedürf-
nisse der Industrie, die eine ununterbrochene Reproduktion der Kulturwaren erfor-
dern, sondern auch die Kräfte der Populärkultur. Das Defizit des einzelnen Textes
und die Betonung der ununterbrochenen Zirkulation von Bedeutungen heißt, dass
die Populärkultur sich durch Repetition und Serialität auszeichnet, die es ihr u.a.
ermöglicht, sich auf einfache Weise in die Routinen des Alltagslebens einzupassen.
58 John Fiske

Zeitschriften erscheinen wöchentlich oder monatlich, Schallplatten spielen ununter-


brochen, das Fernsehen ist strukturiert in Serien und Reihen, Kleidung wird getragen
und dann abgelegt, Videospiele werden immer wieder gespielt und Sportmannschaf-
ten wird Spiel für Spiel zugesehen. Die Populärkultur basiert auf Repetitionen, denn
kein Text ist sich selbst genug, kein Text ist ein vollständiges Objekt. Die Kultur
besteht einzig aus Bedeutungen und Vergnügen, die in konstantem Fluss sind.
Auf Grund ihrer eigenen Unabgeschlossenheit haben alle populären Texte
offene Grenzen. Sie fließen ineinander über, fließen ins Alltagsleben. Unterscheidun-
gen zwischen Texten sind ebenso untauglich wie die Unterscheidung zwischen Text
und Leben. Die Populärkultur kann nur intertextuell erforscht werden, denn sie exis-
tiert nur in der beschriebenen intertextuellen Zirkulation. Die Beziehungen zwischen
primären und sekundären Texten überschreiten alle Grenzen zwischen ihnen; ebenso
überschreiten jene Beziehungen zwischen tertiären und anderen Texten die Grenzen
zwischen Text und Leben. Wie Bourdieu (1987) argumentiert, ist eines der wichtigs-
ten Unterscheidungsmerkmale von Populär- und Hochkultur die nachhaltige Verwei-
gerung der Populärkultur gegenüber jeder Distanz zwischen Ästhetik und dem All-
tag (vgl. Fiske 1989a: 129-158). Nur der vollständige, verehrte Text, der von Ange-
hörigen der bürgerlichen Schicht heiß geliebt wird, ist es, der von dieser ästhetischen
Distanz profitiert.
Texte der Populärkultur sind also voller Lücken, Widersprüche und Unzuläng-
lichkeiten. Durch diese von der ästhetischen Kritik als ‚Schwächen‘ bezeichneten
Merkmale ermöglicht der populäre Text produzierende Lesarten. Sie erlauben es, in
unterschiedlichen Kontexten und unterschiedlichen Momenten des Lesens unter-
schiedlich zu ‚sprechen‘, jedoch kämpft diese Freiheit immer gegen textuelle (und
soziale) Kräfte, die versuchen, sie zu begrenzen. Der populäre Text ist ein Text der
Auseinandersetzung zwischen Kräften der Öffnung und der Schließung, zwischen
dem Lesbaren und Produzierbaren, zwischen der Homogenität der favorisierten
Bedeutung und der Heterogenität seiner Lesarten. Er reproduziert und belebt die
Auseinandersetzungen zwischen der disziplinierenden Macht der sozialen Ordnung
und den vielschichtigen Widerständen gegen diese Macht, die vielschichtigen Kräfte
von unten, die die eher singuläre Macht von oben mannigfach anfechten.
Populäre Texte müssen populäre Bedeutungen und Vergnügen anbieten. Popu-
läre Bedeutungen werden konstituiert aus den Bezügen zwischen dem Text und dem
Alltagsleben, und populäre Vergnügen leiten sich aus der Konstitution dieser Bedeu-
tungen durch die Menschen her, aus der Macht sie zu produzieren. Es liegt wenig
Vergnügen darin, feststehende Bedeutungen zu akzeptieren, egal wie sachgemäß sie
sind. Das Vergnügen leitet sich sowohl aus der Macht und dem Prozess her, ihren
Ressourcen bestimmte Bedeutungen zuzuschreiben, als auch aus der Ansicht, dass
diese konstituierten Bedeutungen die unseren sind und im Gegensatz zu ihren ste-
hen. Populäre Vergnügen sind diejenigen der Unterdrückten, sie beinhalten Elemente
des Oppositionellen, Ausweichenden, Skandalhaften, Offensiven, Vulgären und
Widerständigen. Die Vergnügen, die die ideologische Konformität zu bieten hat,
sind gedämpft und hegemonial. Sie sind keine populären Vergnügen und stehen in
Opposition zu diesen.
Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur 59

Anmerkungen

* Übersetzung von Andreas Hepp, Silke Wölk und Henning Dekant. Eine Fassung des Bei-
trags erschien in: Fiske, John (1989b): Understandig Popular Culture. Boston, London,
Sydney, Wellington: Unwin Hyman (jetzt Routledge), 103-127 (Kap. 5 „Popular Texts“).
** Der Ausdruck „the people“ kann kaum angemessen ins Deutsche übertragen werden, da
sich dahinter ein ausdifferenziertes Konzept der Cultural Studies verbirgt, mit dem John
Fiske in Anlehnung an Stuart Hall versucht, die alltägliche Bedeutungsproduktion der
Konsumenten analytisch zu fassen. Vgl. dazu die ausführliche Darstellung von Eggo Mül-
ler (Müller, Eggo (1993): „Pleasure and Resistance“. John Fiskes Beitrag zur Populärkul-
tur. Montage/av, 2.1, 52-66). A.d.Ü.
1 Wenig verwunderlich dabei ist, dass diese dem Bildungsbürgertum angehören und ein ent-
sprechendes Interesse daran haben, ihre Kontrolle über die Erziehung und den ‚richtigen‘
Gebrauch von Sprache – den sie unterrichten – zu bewahren.
*** Im Original lautet das Beispiel von John Fiske: „DOLE BUYS INTO NEW CONTRA-
VER$Y. An emotional Senate GOP leader Robert Dole yesterday wrote a $500 personal
check to the Nigaraguan Contras in the wake of the House‘s ‚grievious mistake‘ in voting
down a $36 million aid package.“ Die deutsche Übersetzung kann die Mehrdeutigkeit der
Formulierungen nur unzureichend wiedergeben. So bedeutet „buy into“ im buchstäblichen
Sinne ‚investieren in‘, daneben aber auch ‚eine zweifelhafte Behauptung glauben‘, was
Dole in diesem Fall gemacht zu haben scheint. A.d.Ü.
2 Es mag ebenso ein weniger auffälliges, aber entdeckbares Vergnügen in der Ironie eines
republikanischen Senators bestehen, dessen Name als Wort – Dole bedeutet auf Deutsch
‚milde Spende‘ – für gewöhnlich im Alltag mit Armut und sozialer Wohlfahrt assoziiert
wird. Das Entdecken und Entschlüsseln von Ironie bietet einem Wortspiel vergleichbares
Vergnügen.
3 Das muss nicht unbedingt eine Tatsache sein, ausschlaggebend ist aber, dass sich das
‚Wort‘ selbst als einzigartig präsentiert, als spezifisch für den augenblicklichen Kontext
erfunden.
4 Welche Schule lehrt schon ihre Schüler, wie man ein Wortspiel macht? Allein die Vorstel-
lung ist beinahe undenkbar.
5 Die Tatsache, dass die meisten Männer daran scheitern, im Einklang mit den Bedürfnissen
von Frauen zu leben, kann solche Bedürfnisse jedoch nicht widerlegen und damit die
Frage nach der Ideologie, die sie produziert, aus der Welt schaffen.
6 Die Schreibende ist sich der Allgemeinheit der mangelnden Befriedigung durch Ehemann
und Kinder bewusst – sie sieht keine Notwendigkeit, diese zu rechtfertigen oder darzule-
gen, sondern kann darauf bauen, dass andere Frauen das Gefühl im Allgemeinen nachvoll-
ziehen können, wenn auch ihre Erfahrung desselben – die Form, die es bei ihrem Ehe-
mann und ihren Kindern annimmt –, allein die ihre ist oder gefühlsmäßig zumindest so
erscheint.

Literatur

Bakhtin, M.M. (1987): Rabelais und seine Welt. Volkskultur und Gegenkultur. Frankfurt a.M.
Barthes, R. (1974): Die Lust am Text. Frankfurt a.M.
Barthes, R. (1987): S/Z. Frankfurt a.M.
60 John Fiske
Bourdieu, P. (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft.
Frankfurt a.M.
de Certeau, M. (1988): Kunst des Handelns. Berlin.
Fiske, J. (1987a): British Cultural Studies and Television. In: Allen, R. C. (Hrsg.) (1987):
Channels of Discourse, Reassembled. Television and Contemporary Criticism. Lon-
don/New York, 284-326.
Fiske, J. (1987b): Television Culture. London/New York.
Fiske, J. (1989a): Reading the Popular. Boston u.a.
Fiske, J. (1989b): Understandig Popular Culture. Boston u.a.
Greenfield, P. (1987): Kinder und neue Medien. München/Weinheim.
Radikaler Kontextualismus und Ethnografie in der
Rezeptionsforschung

Ien Ang

1 Auf dem Weg zu einer holistischen Rezeptionstheorie?*

In unserem Wunsch, Näheres über die Zuschauer zu erfahren, sind wir niemals ganz
unvoreingenommen. Bestimmte Interessen und Einstellungen, materieller wie intel-
lektueller Art, prägen gewöhnlich die Herangehensweise an die Definition unseres
Studienobjektes. Ebenso bestimmen sie die Art der angestrebten Erkenntnisse,
sowohl in Form und Inhalt, als auch in Umfang und Wesen.
Momentan ist in der Medienrezeptionsforschung deutlich der Ansatz einer Krise
auszumachen: der zweideutige Titel einer größeren Konferenz, die dem Thema „Auf
dem Weg zu einer holistischen Rezeptionstheorie?“ gewidmet war, weist auf das
Vorhandensein eines Bewusstseins hin, dass es gerade an einer solchen ‚umfassen-
den Theorie‘ mangelt.1 Die Krise ist jedoch weder rein theoretischer, noch rein
methodologischer Natur (wie die Gegenüberstellung quantitativer und qualitativer
Methoden irreführenderweise nahelegt); sie ist vielmehr stark erkenntnistheoretisch
und zutiefst politisch begründet. Die gegenwärtige Popularität von Ansätzen der
Cultural Studies in der Rezeptionsforschung hat nicht nur beträchtliche erkenntnis-
theoretische Verwirrung gestiftet, was den Status des Konzepts vom ‚Publikum‘ als
Analyseobjekt betrifft. Sie hat auch dazu geführt, dass die beharrliche kritische Aus-
einandersetzung mit der politischen Bedeutung der akademischen Gelehrtheit wie-
derbelebt wurde: Was bedeutet es, ‚Rezeptionsforschung‘ zu betreiben und vor
allem, warum wird sie überhaupt betrieben?
In den letzten zehn Jahren wurde die Rezipienten-Frage insbesondere in der
Fernsehforschung verstärkt diskutiert. Dies beruht nicht allein auf der Tatsache, dass
seit den 1950er Jahren den Fernseh-Zuschauern das zweifelhafte Privileg zuteil wur-
de, im Zentrum des industriellen und wirtschaftlichen Forschungsinteresses zu ste-
hen. Es ist vielmehr prototypisch dafür, dass das ‚Rezipienten-Problem‘ im Lichte
praktischer und theoretischer Überlegungen über den Nexus der Modernität, d.h. die
Medienindustrie und die Massenkultur, an Bedeutung gewonnen hat.
Entscheidend ist allerdings die Tatsache, wie schon eingangs angedeutet, dass
die veränderte Rolle, die das Fernsehen mit dem späten 20. Jahrhundert eingenom-
men hat, unser konventionelles Verständnis des Fernsehpublikums gehörig unter
62 Ien Ang

Druck gesetzt hat. An dieser Stelle scheint es mir wichtig, den Wandel zu betonen:
Wir leben in einer Zeit von dramatischer Umgestaltung der wirtschaftlichen, institu-
tionellen, technologischen und textuellen Ordnung des Fernsehens.
Der Niedergang des nationalen Systems der öffentlichen Rund- und Fernsehan-
stalten in Westeuropa sowie der weltweit wachsende Einfluss der vielfältigen inter-
nationalen und kommerziellen Satellitenkanäle, die starke Ausbreitung lokaler und
regionaler Programme und nicht zuletzt auch die im Überfluss vorhandene Verfüg-
barkeit von Videorekordern und anderen Fernsehtechnologien, haben offensichtlich
traditionelle Modelle der Fernsehrezeption und des Fernsehkonsums gehörig durch-
einander gebracht. Verschlimmert wird dieser Tatbestand noch durch die wachsende
und immer zentraler werdende Bedeutung, die das Fernsehen bei der Darstellung
weltweiter politischer Geschehnisse einnimmt (wie wir am Beispiel des Golfkrieges
sehen konnten; vgl. Wark 1994). Dazu kommt unser steigendes Bewusstsein der
Spezifität des Fernsehens als populärer kultureller Form – mit seinen eklektischen,
aber repetitiven Berichten, seinen sozial heterogenen, aber textuell auferlegten
Adressierungsformen und nicht zu vergessen mit seiner sturen Allgegenwärtigkeit;
ein Kulturgut, das die Gültigkeit des traditionellen, literarischen Rezipienten-Kon-
zepts, in dem die einzelne Text-Leser-Beziehung die elementare Analyseeinheit dar-
stellt, anzweifelt (Fernsehen ist heutzutage wohl eher mit dem Schmökern in einem
Buch als mit dem eigentlichen Lesen des Buches zu vergleichen). Es erscheint mir,
als sollten wir die Krise der Rezeptionsforschung im Kontext dieses postmodernen
Wandels begreifen.
Es wird oft behauptet, und dies nicht ohne eine gewisse moderne Nostalgie, dass
sich das Fernsehpublikum immer mehr fragmentiert, individualisiert und vereinzelt,
so dass es nicht länger als Masse oder als ein einheitlicher Markt ansprechbar und
nicht länger als soziale Einheit zu verstehen ist, die kollektiv am gemeinsamen, wohl
definierten Akt des Fernsehens beteiligt ist. Die Ausbreitung des Fernsehens hat uns
schmerzlich verdeutlicht, dass es in der Tat wenig Sinn macht, vom Fernseh-Publi-
kum als einem sauber abgegrenzten Forschungsobjekt zu sprechen. Meiner Ansicht
nach sollten wir diese historische Erkenntnis als eine Möglichkeit betrachten, um
endlich das produktive Ende der Suche nach einer „holistischen Theorie der Rezep-
tionsforschung“ einzuläuten, die nur allzu oft das implizite Motiv unterschiedlicher
Paradigmen in der Rezeptionsforschung innerhalb der Kommunikationswissenschaft
war. Wenn wir dem Umstand Rechnung tragen, dass unser Theoretisieren und unsere
Forschung unweigerlich nur partieller** Natur sind, so wäre dies eine vertretbare
Position, die es ermöglichen könnte, die dynamische Komplexität und komplexe
Dynamik der Praxis des Medienkonsums in den Griff zu bekommen. Durch die
Anerkennung einer gewissen unerbittlichen, erkenntnistheoretischen Voreingenom-
menheit bei der Wissenskonstruktion wird zusätzlich die politische Bedeutung von
‚partial‘ als parteiisch in den Vordergrund gerückt; nämlich die soziale und politi-
sche Relevanz von Verpflichtung und Engagement in der Entwicklung unseres Ver-
ständnisses. Ich werde auf diese beiden genannten Aspekte der Rezeptionsforschung
später noch genauer eingehen.
Radikaler Kontextualismus und Ethnografie in der Rezeptionsforschung 63

Neuere Ansätze der Cultural Studies, die sich der Rezipienten-Frage nähern, sto-
ßen unmittelbar an die Grenzen des epistemologischen Ideals von Vollständigkeit.
Gemeint ist mit solchen Ansätzen eine empirische und interpretative Herangehens-
weise, die von der Erkennis ausgeht, dass der Medienkonsum eine fortwährende
Reihe kultureller Praktiken sei, die ihre Bedeutsamkeit und Wirksamkeit erst auf
„komplexem und widersprüchlichem Terrain und im multidimensionalen Kontext, in
dem Personen ihr alltägliches Leben verbringen, entfalten kann“ (Grossberg 1988:
25). Aber wie kann man nun diese Erkennis, dieses abstrakte Gebilde, in konkreteres
Wissen und ein greifbareres Verständnis umsetzen?
Die Meisten von uns würden darin übereinstimmen, dass es dafür einer radika-
leren Kontextualisierung der Medien als bisher bedarf: Wir sollten solche Konzepte
wie die des Fernsehens, des Radios, der Presse etc. nicht länger als eine isolierte
Reihe unabhängiger Variablen, die mit anderen abhängigen Variablen des Rezi-
pienten in mehr oder weniger eindeutigen Wechselwirkungen stehen, betrachten. Die
Konsequenzen, die diese Notwendigkeit einer Kontextualisierung für das Fernsehen
hat, sind in dem Forschungsprojekt von David Morley und Roger Silverstone ent-
schieden problematisiert worden, das während ihrer Zugehörigkeit zum Centre for
Research into Innovation, Culture and Technology (CRICT) der Brunel University,
London realisiert wurde. Es entspricht hier nicht meiner Absicht, dieses Projekt aus-
führlich zu diskutieren. Ich möchte es lediglich als Ausgangspunkt nehmen für eine
nähere Untersuchung sowohl der erkenntnistheoretischen und politischen Verheißun-
gen und Dilemmata dieses sogenannten „radikalen Kontextualismus“ in der kultur-
theoretischen Rezeptionsforschung, als auch der Bedeutsamkeit der Ethnografie in
dieser Hinsicht.
In ihrer umfassenden, nahezu holistischen Vision stellen Morley und Silverstone
die Behauptung auf, dass das Fernsehen als eingebettet in eine technische und kon-
sumentenorientierte Kultur zu betrachten ist, die sowohl häuslich als auch national
(und international), sowohl privat als auch öffentlich ist. Als Ausgangspunkt dieser
Betrachtung konzentrieren sich Morley und Silverstone zunächst auf zwei kon-
textuelle Aspekte: Auf der einen Seite auf die Bedeutung des Fernsehens im häusli-
chen Kontext und auf der anderen Seite auf den Status des Fernsehens als Technolo-
gie. Treibt man diese Aspekte jedoch zu ihrem logischen Extrem, so führt dies
unweigerlich zur fundamentalen Untergrabung jeder Möglichkeit, das Fernsehpubli-
kum als stabile und bedeutungsvolle psychologische oder soziologische Kategorie
anzusehen.
Vor allem erfordert die allgemeine Tatsache, dass der Fernsehkonsum meist zu
Hause stattfindet (und nicht im Labor oder im Klassenzimmer), die keinesfalls neue,
aber immer noch vernünftige Feststellung, dass „die Nutzung des Fernsehens nicht
getrennt gesehen werden kann von allen anderen Geschehnissen, die drumherum
ablaufen“ (Morley/Silverstone 1990: 35), d.h. dass die Tätigkeit, die so oft verein-
facht als „Fernsehen“ beschrieben wird, erst innerhalb des breiter gesteckten kon-
textuellen Horizonts eines heterogenen und variablen Bereiches häuslicher Hand-
lungsweisen Gestalt annimmt. Als Folge davon erliegt der Begriff des „Fernsehens“
an sich allmählich einer Zersplitterung: Die Art der Tätigkeit mitsamt ihrer Folgen
64 Ien Ang

und ihrer Bedeutung kann nicht mehr im Voraus bestimmt werden, sondern ist viel-
mehr abhängig vom Einfluss einer Vielzahl von interagierenden Zusammenhängen.
‚Fernsehen‘ ist nicht mehr als ein Kürzel für eine umfassende Mannigfaltigkeit mul-
tidimensionaler Verhaltensweisen und Erfahrungen, die in Verbindung zum Fernseh-
konsum stehen. Damit wird es schwierig werden, gegeneinander abzugrenzen, wann
wir Mitglied des Fernsehpublikums sind und wann nicht. In gewissem Sinne gehö-
ren wir als Bürger einer fernsehgesättigten modernen Gesellschaft jederzeit unwei-
gerlich dieser Kategorie an, auch wenn wir selbst persönlich vielleicht gar nicht mal
so oft Fernsehen. Auch wenn wir vielleicht niemals Dallas oder Murphy Brown
gesehen haben oder auch Saddam Husseins Fernsehauftritt verpasst haben, so kön-
nen wir doch kaum vermeiden, dass wir an derartigen Fernsehereignissen alleine
schon aufgrund ihrer allgemeinen Verbreitung in den verwobenen Netzwerken des
alltäglichen sozialen Diskurses teilhaben.
Wird Fernsehen als Technologie verstanden – anstatt lediglich als Ansammlung
verschiedener Botschaften oder Texte – verstärkt dies nur die Zersplitterung inner-
halb des Fernsehpublikums als kohärenter Kategorie. Die Betonung auf Fernsehen
als Technologie vergrößert den Umfang dessen, was allgemein als Voraussetzung für
eine ‚aktive‘ Rezeption bekannt ist. Als Kommunikationstechnologie ist Fernsehen
nach Morley und Silverstone doppelt artikuliert: da es sowohl gegenständlich exis-
tiert (z.B. in Form des Fernsehapparats in Verbindung mit technischen Geräten wie
dem Videorekorder, der Videokamera, dem Computer, der Fernbedienung, der Satel-
litenschüssel, dem Telefon usw.), wie auch als Mittler für symbolisches Material
fungiert, schafft das Fernsehen einen weiten Raum für Möglichkeiten, es in den
Haushaltsalltag zu integrieren. Dies führt zu einer recht schwindelerregenden Ver-
größerung der Kapazität der Rezipienten, Bedeutungen zur produzieren. Silverstone
formuliert es folgendermaßen:
„Fernsehen ist potenziell bedeutungsvoll und daher offen für die konstruktive Arbeit des kon-
sumierenden Zuschauers, sowohl dahingehend, wie es im Haushalt benutzt oder platziert
wird, d.h. in welchen Räumen und wo dort, zusammen mit welchen Möbeln oder Geräten, um
so als Unterhaltungsgegenstand mit unterschiedlichen Gesprächsthemen inner- und außerhalb
des Hauses zu dienen, als auch in der Hinsicht, wie die durch den Programminhalt vermittel-
ten Botschaften im Gegenzug von den rezipierenden Individuen und Haushaltsgruppen verar-
beitet werden.“ (Silverstone 1990: 179)
Die Reichweite der Rezeptionstheorie (welche die Unbestimmtheit von Textbedeu-
tung außerhalb der konkreten Interpretation durch den Zuschauer postuliert) wird
hier vergrößert, indem die Metapher der Textualität ebenso auf den technischen
Bereich angewendet wird: auch Technik, Hardware und gegenständliche Objekte
können nur durch ‚Interpretationen‘ und Nutzung seitens der Konsumenten Bedeu-
tung gewinnen. Fernsehkonsum ist, in Kürze, eine Bedeutung produzierende kul-
turelle Praktik auf zwei voneinander abhängigen Ebenen. Untersucht man Fernsehen
als häusliche Technik, so impliziert dies für Morley und Silverstone die Betrachtung
des Fernsehrezipienten als „in vielerlei Hinsicht eingebettet in eine Konsumenten-
Radikaler Kontextualismus und Ethnografie in der Rezeptionsforschung 65

kultur, in der Technik und Botschaften nebeneinandergestellt sind, beide einbezogen


in die Schaffung von Bedeutung und in die kreativen Möglichkeiten des Alltagsle-
bens“ (1990: 51).
Eben dieser Gedanke der grundsätzlichen Einbettung des Fernsehkonsums (und
des Medienkonsums im Allgemeinen) in das Alltagsleben, und damit seiner nicht zu
vermindernden Heterogenität und dynamischen Komplexität, ist ein Hauptaspekt in
der kulturtheoretisch orientierten Rezeptionsforschung, auch wenn die epistemologi-
schen Auswirkungen dieser Schwerpunktsetzung, die auf eine Art von radikalem
Kontextualismus hinauslaufen, in ihrer Bedeutung nicht immer ganz erfasst werden.
Natürlich stimmt es, dass das Erkennen der Vielfalt von Rezipientenaktivitäten
ein wesentlicher Aspekt in der sozialwissenschaftlichen Rezeptionsforschung ist, die
sich vom „uses-and-gratifications-approach“ über die Rezeptionsanalyse bis hin zu
Beobachtungsstudien des sozialen Gebrauchs innerhalb der Familie erstreckt. Aus-
gangspunkt vieler dieser Studien scheint aber immer noch ein Konzept vom Fernse-
hen als gegebenem Phänomen mit festgelegten Merkmalen und intrinsischen Poten-
zialen zu sein, das dann von verschiedenen Rezipientengruppen auf unterschiedliche
Art genutzt und interpretiert werden kann. Aus Sicht des radikalen Kontextualismus
jedoch kann die Bedeutung des Fernsehens für die Rezipienten – textuell, technisch,
psychologisch und sozial – außerhalb der multidimensionalen, intersubjektiven Net-
zwerke, in die das Objekt integriert und in konkreten kontextuellen Settings mit
Bedeutung versehen wird, nicht bestimmt werden.
Viele Forschungsprojekte sind z.B. auf der Basis der bislang nicht hinterfragten,
allgemeinen Annahme entstanden, dass Fernsehen ein Unterhaltungsmedium sei, mit
der Implikation, dass ‚Unterhaltung‘ nicht nur eine institutionalisierte oder textuelle
Kategorie, sondern auch ein psychologisches Bedürfnis oder eine psychologische
Präferenz sei und dass beide mehr oder weniger in irgendeiner funktionellen Weise
miteinander verbunden seien. Wenn wir jedoch die Position des radikalen Kon-
textualismus einnehmen, müssen wir von einer solch ahistorischen Annahme vorge-
gebener Fixiertheit dessen, was Fernsehen ist, Abstand nehmen – in Anerkennung
der Tatsache, dass die Bedeutungen von Fernsehen im häuslichen Reich nur inner-
halb kontextualisierter Rezipientengewohnheiten zum Vorschein kommen. Das
heißt, dass die genaue ‚Unterhaltungsfunktion‘ von Fernsehen nur post facto be-
stimmt werden kann: Außerhalb bestimmter Ausdrucksformen der TV-Rezipienten-
Beziehungen können wir nicht sinnvoll über den ‚Unterhaltungswert‘ von Fernsehen
entscheiden. Letztlich kann der Terminus ‚Unterhaltung‘ eine ganze Reihe unter-
schiedlicher und wechselnder idiosynkratischer Bedeutungen umfassen, abhängig
von den kulturell spezifischen Arten, in der soziale Wesen ‚Unterhaltung‘ in jegli-
cher Situation oder Umgebung erleben. Was für Einige Unterhaltung ist (z.B. Hor-
rorfilme), mag für Andere ganz und gar nicht unterhaltend sein. Und was wir unter
bestimmten Umständen unterhaltsam finden (z.B. eine Folge einer Sitcom nach
einem harten Arbeitstag), mag uns zu anderer Zeit nicht unterhalten. Allgemeiner
gesagt sind sowohl ‚Fernsehen‘ als auch ‚Publikum‘ grundsätzlich unbestimmte
Kategorien: Es ist unmöglich, a priori eine Liste aufzustellen, welche möglichen
Bedeutungen und Charakteristika jede Kategorie in irgendeiner speziellen Situation
66 Ien Ang

annimmt, in der man sich dem Fernsehkonsum hingibt. Als Ergebnis dieser Bedeu-
tungskontingenz vervielfacht sich die Bandbreite des potenziellen Spektrums von
Rezipientengewohnheiten und -erfahrungen exponentiell in unbegrenzter, wenn
nicht sogar unendlicher Weise. Welche Bedeutungen allerdings konkret aktualisiert
werden, bleibt im Unklaren, bis wir die gesamte, multikontextuell bestimmte Situa-
tion erfasst haben, in der Fernsehkonsum potenziell stattfinden kann. Aus dieser Per-
spektive heraus muss der Rezeptionsforscher ‚Beute machen‘.
Dieser epistemologische Schritt hin zum radikalen Kontextualismus wird von
einem wachsenden Interesse an der Ethnografie als einer Form der empirischen
Untersuchung begleitet. Ethnografisch orientierte Forschung ist wohl die geeignet-
ste, um die Details von Unterschied und Variation zu entwirren, die sich in konkre-
ten, alltäglichen Beispielen von Medienkonsum manifestieren. Was ethnografische
Arbeit mit sich bringt, ist eine Art von ‚methodologischem Situationalismus‘, der die
von Grund auf situierte, immer kontextgebundene Art und Weise unterstreicht, in der
Menschen im Alltag dem Fernsehen und anderen Medien begegnen, in der sie es
nutzen, interpretieren, genießen und in der sie darüber nachdenken und reden. Das
Verständnis, das sich aus dieser Form von Untersuchung ergibt, bevorzugt interpre-
tative Spezifizierung gegenüber erklärender Verallgemeinerung, historische und
lokale Konkretheit gegenüber formaler Abstraktion, ‚dichte‘ Beschreibung von
Details gegenüber extensiven, aber ‚dünnen‘ Erhebungen. Aber dieses ethnografi-
sche Interesse an der Rezeptionsforschung ist weder unverfänglich noch unproble-
matisch. Es besteht keine Notwendigkeit, hier auf die Details der Kontroverse um
die Ethnografie einzugehen – viele andere haben dies schon getan. Es genügt, an
dieser Stelle anzumerken, dass das Problem der Ethnografie nicht nur im angebli-
chen Fehlen von Systematik und Generalisierbarkeit liegt (was die konventionelle
Kritik ist, die gegen sie erhoben wird), sondern auch in ihrer potenziellen politischen
und theoretischen Relevanz als Wissensform. Kurz gesagt: Was ist der eigentliche
Punkt der ethnografischen Beschäftigung mit dem Medien-Publikum? Was ist ihre
Politik?

2 Die mehrdeutige Politik der Ethnografie

Die Tendenz zum ‚Ethnografischen‘ ist nicht nur ein akademisches Randphänomen,
sondern auch in der Höhle des Löwen selbst nachweisbar, d.h. in den kommerziellen
Kultur- und Medienindustrien. Als Beispiel dafür dient die Krise der Einschaltquo-
tenforschung, die innerhalb der Fernsehindustrie den wichtigsten und etabliertesten
Zweig der Rezeptionsforschung ausmacht. Diese Krise kam Ende der 1980er Jahre
so richtig in Fahrt. Lässt man einmal die wirtschaftlichen und institutionellen
Aspekte dieser Krise außer Acht, so konzentriert sich die Kontroverse hauptsächlich
auf den angeblichen Präzisionsmangel, der solchen Einschaltquotenanalysen, wie sie
von Mediengruppen wie z.B. A.C. Nielsen durchgeführt werden, vorgeworfen wird.
Die Folge sind erhebliche Unzufriedenheit und Widerstreit unter den Werbefachleu-
Radikaler Kontextualismus und Ethnografie in der Rezeptionsforschung 67

ten sowie im gesamten System. Die Lösung wird nun darin gesucht, noch perfektere
Messinstrumente zu entwickeln.
So experimentiert z.B. die Nielsen-Gruppe z.Zt. mit dem sogenannten „passive
people meter“. Dabei handelt es sich um eine Technik, an Hand derer sich die
Gesichter aller im Wohnzimmer anwesenden Personen mittels eines elektronischen
Bild-Erkennungssystems (in dem die Gesichter aller Haushaltsmitglieder gespei-
chert sind), identifizieren lassen. Durch Ausnutzung von Techniken der Spurenana-
lyse und künstlicher Intelligenz kann das Messinstrument die Bewegungen der Per-
sonen im Raum verfolgen und Pausen ausfüllen, wenn sich Personen vorübergehend
aus dem Erfassungsfeld herausbegeben. Der Behauptung des Präsidenten der Niel-
sen-Medienforschungsgruppe John Dimling zu Folge lassen sich mit diesem System
Rezipientenberichte der Art „John begann in dieser Minute und Sekunde und endete
in jener Minute und Sekunde mit dem Fernsehen“ (1994: 23) erzeugen. Mit dieser
Methode rückt sicherlich der utopische Traum der perfekten Überwachung ein Stück
näher, indem ein Instrument zur scheinbar unauffälligen und natürlichen Beobach-
tung aller Vorgänge im Wohnzimmer geschaffen wird, so dass letztendlich kein
Zweifel mehr darüber besteht, wer zu welcher Tageszeit welchen Kanal, welches
Programm und welche Werbesendungen ansieht (vgl. Ang 1991 für eine ausführli-
che Darstellung dieser Entwicklungen).
Diese kollektive Initiative erhält sicherlich einen ethnografischen Beigeschmack
durch den Anspruch, vermehrt empirisch-mikroskopisch zu arbeiten, um so eine
mögliche Verbesserung der Messgenauigkeit zu erzielen. Allgemeiner gesprochen ist
in der Marketing- und Werbeforschung ein steigendes Interesse an qualitativen und
interpretativen Methoden zur Messung von Konsumentenverhalten auszumachen.
Dahinter steht die Überzeugung, dass ausführlichere und lokalspezifische Kennt-
nisse benötigt werden, um Konsumenten effektiver anzusprechen, zu gewinnen und
zu verführen. Mit anderen Worten: Auch innerhalb der Marktforschung werden die
Grundsätze des radikalen Kontextualismus immer häufiger vernehmbar.
Ein solches Liebäugeln der Industrie mit qualitativen und sich auf ausführliche
Einzelheiten konzentrierenden Analysen, die charakteristisch für das ethnografische
Element der kulturtheoretischen Rezeptionsforschung sind, ist jedoch an sich schon
widersprüchlich. Trotz des steigenden Interesses an detaillierteren Informationen
über Konsumenten und Rezipienten muss die Marktforschung sich stets davor hüten,
die theoretischen Konsequenzen eines konsequenten, radikalen Kontextualismus
vollständig zu erfassen, welcher die kulturelle Wende innerhalb wissenschaftlicher
Kommunikationstheorie und -forschung unterstreicht. Wie ich bereits herausgearbei-
tet habe, tendiert eine solche radikal kontextualistische Perspektive dazu, den
Begriff des ‚Publikums‘ unaufhaltsam zu zersplittern, bis es schließlich sinnlos an
sich erscheint, dieses schlechthin Messprozeduren zu unterwerfen (auch wenn eine
solche Messung eine unerlässliche Aufgabe für ein Unternehmen darstellt, dessen
Funktionieren in starkem Maße von der Bestimmung des Wertes der ‚Ware Publi-
kum‘ abhängt). Betrachten wir z.B. einmal den Umstand, dass es sich beim Fernseh-
konsum und -gebrauch um eine multikontextuell artikulierte, einerseits unbestimm-
te, aber andererseits auch überbestimmte Menge von gleichzeitig ablaufenden, kon-
68 Ien Ang

kurrierenden und sich gegenseitig beeinträchtigenden Tätigkeiten handelt. Die


Gleichsetzung von ‚Zuschauen‘ und ‚das Gesicht auf den Bildschirm richten‘ wird
somit zu einer unsinnigen und absurden Operationalisierung – von dem praktisch
sehr gewagten Unterfangen, den zur freien Bewegung verfügbaren Raum zu defi-
nieren, mal ganz abgesehen. Es ist schwer zu begreifen, wie die Aktivitätsquantität
überhaupt bestimmt werden kann, wenn nicht auf willkürliche, d.h. diskursiv kon-
struierte Weise, was durch die jeweils zur Anwendung kommende Methode definiert
wird. Die ‚Bedeutung‘ der ‚Zuschauerschaft‘ ist eher eine diskursive Konstruktion
denn eine objektive Tatsache. Sie wird dadurch zu Stande gebracht, dass die irredu-
zible Differenz und Variation eher unterdrückt als berücksichtigt wird (vgl. Sepstrup
1986).
Da von der Marktforschung erwartet wird, aufschlussreiche Ergebnisse zu lie-
fern, die allgemeine symbolische Gültigkeit für Verhandlungen und Entscheidungs-
findungen innerhalb der Industrie besitzen können, so wäre eine zu große Ähnlich-
keit in den Ergebnissen mit der radikal kontextualistischen Art und Weise, wie Men-
schen Medien konsumieren und gebrauchen, eher kontraproduktiv. Die Anforderun-
gen an Prognose und Kontrolle, die an die Forschung innerhalb der Industrie gestellt
werden, könnten so nicht erfüllt werden. Anders ausgedrückt: Auch wenn die Markt-
forschung zwar selektiv bestimmte Methoden und Techniken aus der Ethnografie
ableitet, so impliziert dies noch nicht die Übernahme einer ethnografischen Weise
des Verstehens, i.S. eines Strebens nach Klärung der Frage, was es denn nun bedeu-
tet, in einer mediengesättigten Welt zu leben. Wir sollten uns meiner Ansicht nach in
die zuletzt angesprochene Richtung bewegen, wenn wir davon ausgehen, dass die
Annahmen des radikalen Kontextualismus einen entscheidenden Unterschied
machen in der Art und Weise, wie wir die unklare Position der Medienrezipienten in
der heutigen Gesellschaft begreifen und beurteilen.
Diese Feststellung kompliziert nun unsere Aufgabe als Forscher gewaltig. Da
die Prämisse eines radikalen Kontextualismus an sich schon die Unmöglichkeit
beinhaltet, jedwede soziale oder textuelle Bedeutung jenseits der komplexen Situati-
on, in der sie entsteht, zu bestimmen, ist es äußerst schwierig zu sagen, wo man nun
mit seiner Analyse beginnen und wo man aufhören soll. Zunächst einmal ist theore-
tisch jede Situation in einzigartiger Weise durch eine unbegrenzte Vielfalt von Kon-
texten charakterisiert, die im Voraus gar nicht alle bekannt sein können. Dazu
kommt, dass Kontexte sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern ineinander grei-
fen und miteinander interagieren, ineinander geschachtelt und letztlich auch in Zeit
und Raum unbegrenzt sind. Ein Vorhaben, das bestrebt ist, den gesamten kontextuel-
len Horizont zu berücksichtigen, in welchem heterogene Fälle des Medienkonsums
besondere Formen, Bedeutung und Wirksamkeiten hervorbringen, wäre in der Tat
ziemlich schwer durchführbar und ermüdend, wenn in seinem übertriebenen Ehrgeiz
nicht gar größenwahnsinnig. Dies mag ein Grund dafür sein, warum es anscheinend
leichter ist, über Ethnografie nur zu reden, anstatt wirkliche ethnografische Studien
mit Rezipienten durchzuführen. Und schließlich ist es auch ein Grund dafür, warum
die CRICT-Projekte trotz aller Probleme und Dilemmata so bedeutungsvoll sind. Ich
möchte im Folgenden die meiner Ansicht nach bestehenden Kernpunkte kurz skiz-
Radikaler Kontextualismus und Ethnografie in der Rezeptionsforschung 69

zieren. Wie wir sahen, haben Morley und Silverstone zwei kontextuelle Bezugsrah-
men für den Fernsehkonsum ausgewählt, nämlich den häuslichen und den technolo-
gischen. Zur gleichen Zeit stellen sie jedoch (sehr richtig) fest, dass man diese
Bezugsrahmen nicht von dem „viel weit reichenderen Kontext der sozialen, politi-
schen und wirtschaftlichen Wirklichkeit trennen kann“ (Morley/Silverstone 1990:
32). Daraus ergibt sich die verwirrende Konsequenz, dass die beiden Forscher sich
in gewisser Weise unklar darüber sind, wie denn nun die große Fülle von weiteren
theoretisch vorstellbaren Kontexten artikuliert werden soll. Explizit genannt werden
etwa Nationalität und Geschlecht; aber es wäre ein Leichtes, sich eine im Grunde
endlose und mannigfaltige Menge von weiteren Kontexten vorzustellen, die für das
Projekt zudem relevant sind: Rasse, soziale Klasse, ethnische Zugehörigkeit, regi-
onale Lage, Generation, Religion, wirtschaftliche Umstände, politisches Klima,
Familiengeschichte, Wetter etc. Wenn dies nicht irgendwie im Zaum gehalten wird,
so kann das Bewusstsein der interkontextuellen Unendlichkeit leicht zu einem außer
Kontrolle geratenem Kontextualismus führen!
Um es noch einmal anders auszudrücken: sich einen radikalen, d.h. sich endlos
ausweitenden Kontextualismus einzelner, durch den Medienkonsum erschaffener
Bedeutungen vorzustellen, würde beinhalten, als Forscher eine geradezu unmögliche
Position einzunehmen, nämlich die des stets ‚überall‘2 Gegenwärtigen, der unauf-
hörlich damit beschäftigt ist, das sich beständig ausbreitende Gebiet von kontextuel-
len, überdeterminierten, einzelnen Wirklichkeiten zu erfassen. Auch wenn eine sol-
che Position epistemologisch vielleicht logisch erscheint, ist sie letztendlich ontolo-
gisch betrachtet doch unhaltbar und kann nur pragmatisch bleiben. Keine wissen-
schaftliche Exkursion in die Wirklichkeit, egal wie ethnografisch sie auch sei, ver-
mag es, ein solches umfassendes Wissen jemals vollständig zusammen zu tragen.
Wie Jonathan Culler feststellt:
„Kontext ist grenzenlos, folglich können Erklärungen durch den Kontext niemals ganz die
Bedeutung festlegen. Zu jeder Reihe von Formulierungen sind weitere Kontextmöglichkeiten
denkbar, eingeschlossen die Erweiterung des Kontextes durch die Wiedereinschreibung seiner
eigenen Beschreibung in den Kontext.“ (Culler 1983: 128)
Wie gelangt man nun aus dieser Sackgasse hinaus? Wie können wir mit der inhärent
widersprüchlichen Natur der Forderung des radikalen Kontextualismus zurecht kom-
men, ohne dem zu erliegen, was Clifford Geertz die „epistemologische Hypochon-
drie“ genannt hat (Geertz 1988: 7)? Die Antwort, so würde ich in Anlehnung an
Geertz vorschlagen, sollte nicht in dem Bemühen gesucht werden, erkenntnistheore-
tisch perfekt zu sein, sondern in den unsicheren Wegen der Politik von Erzählen und
Erzählung, von Geschichte und Gespräch. Das heißt, mit dem Eingeständnis, dass
der Ethnograf nicht ‚überall‘ sein kann, aber immer von ‚irgendwo‘ sprechen und
schreiben muss, können wir zugunsten narrativer Arten von Argumentation und Dar-
stellung – in denen nicht nur die Zusammenhänge des Medienkonsums, sondern
auch die der ethnografischen Erzeugung von Kenntnissen selbst berücksichtigt wer-
den (vgl. z.B. Richardson 1990) – die Überreste logisch-wissenschaftlichen Denkens
(wie es in der Epistemologie des radikalen Kontextualismus verkörpert ist) als das
belassen, was sie sind.
70 Ien Ang

In dieser Hinsicht mag es erhellend sein, sich kurz einiger (meta-) anthropologi-
scher Literatur zuzuwenden, in der der Status der Ethnografie in jüngster Zeit aus-
führlicher diskutiert worden ist (vgl. z.B. Clifford/Marcus 1986; Marcus/Fischer
1986; Fox 1991). In der Praxis tendieren ethnografische Studien zum Medien-
konsum dazu, Rezipientengemeinschaften – wie z.B. die Rezipienten innerhalb einer
Familie, spezieller Subkulturen oder Fangruppen – als empirischen Ausgangspunkt
zu nehmen. Dabei behandeln sie diese als Sinn stiftende kulturelle Formationen,
ganz wie die Anthropologen jahrzehntelang die Aufgabe übernommen haben, andere
Kulturen als bedeutungsvolle Einheiten zu beschreiben und zu interpretieren. Eben
dieses Projekt der Dokumentation einer ‚Kultur‘ wird in der gegenwärtigen kulturel-
len Anthropologie jedoch zunehmend problematisiert. ‚Kultur‘ als solche kann nicht
länger, wenn sie es denn jemals konnte, als ein transparentes Objekt empirischer
Untersuchung verstanden werden, als fertige Einheit, die vom Ethnografen als sol-
che entdeckt und dokumentiert werden kann. Im Gegenteil: Die Dokumentation
einer ‚Kultur‘ ist eine Frage von diskursiver Konstruktion, die notwendigerweise
den immer partiellen wie parteiischen Blickpunkt des Forschers impliziert, unabhän-
gig davon, wie akkurat oder sorgfältig sie bzw. er bei der Datensammlung und dem
Ziehen von Schlussfolgerungen vor sich geht. James Clifford bemerkte diesbezüg-
lich:
„‚Kulturen halten für ihre Portraits nicht still. Versuche, sie dazu zu bringen, beinhalten
immer Vereinfachung und Ausschluss, die Auswahl eines Zeitpunkts, die Konstruktion einer
Beziehung zwischen Eigenem und Fremdem und das Auferlegen oder die Aushandlung einer
Machtbeziehung.“ (1986: 10)
Wir müssen uns dem weit reichenden, aber ziemlich behindernden poststrukturalisti-
schen Postulat der sich aus dieser Einsicht ergebenden Unmöglichkeit einer
Beschreibung (worauf Culler hingewiesen hatte) nicht beugen, und dennoch die
Behauptung akzeptieren, dass alle Beschreibungen, die wir abgeben, laut Definition
konstitutiv und nicht nur ein Evozieren des Objekts selbst sind, das wir beschreiben
(vgl. Tyler 1987). Eine ‚Kultur‘ zu porträtieren impliziert das diskursive Impro-
visieren eines einheitlichen Bildes aus Stückchen und Teilchen sorgfältig ausgewähl-
ter und zusammengestellter Beobachtungen, eines Bildes, das Sinn macht innerhalb
eines Rahmens einer Reihe vorgefasster Problematiken und sinngebender Konzepte,
die der Forscher für seine bzw. ihre Beschreibungen als kognitive und sprachliche
Werkzeuge benutzt.
Es mag nicht zu schwer gewesen sein, ein solches Bild für eine umfassende und
komplette Wiedergabe einer selbst genügsamen Realität romantisch aufrecht zu
erhalten, wenn die betroffene Kultur offensichtlich eine klar begrenzte, endliche
andere Kultur ist – wie im klassischen Fall der abgelegenen, primitiven, kleinen und
exotischen Insel der Anthropologie inmitten des weiten Ozeans, bewohnt von Men-
schen, deren tägliche Aufgaben relativ unberührt und unbeeinflusst von den unerbitt-
lich umgestaltenden Kräften der kapitalistischen Modernität waren. In dem heutigen
modernen Weltsystem jedoch ist es ziemlich unmöglich geworden, sich ein vollstän-
diges und umfassendes Portrait irgendeiner solchen kulturellen Formation auch nur
vorzustellen.3 Die gegenwärtige Kultur ist ein enorm komplexes und gründlich ver-
Radikaler Kontextualismus und Ethnografie in der Rezeptionsforschung 71

wickeltes Wirrwarr untereinander verknüpfter und voneinander abhängiger sozialer


und kultureller Praktiken geworden, die sich mit der Zeit unaufhörlich vermehren
und einen Platz im globalen Raum einnehmen. Mit anderen Worten: es gibt einfach
keine unberührten, isolierten, ganzheitlichen ‚Kulturen‘ mehr, die aus ihrer Umwelt
herausgelöst werden können, um für sich selbst betrachtet zu werden (vgl. Mar-
cus/Fischer 1986, Kap. 4; Hannerz 1992). Heute sind alle Kulturen in mehr oder
weniger großen Ausmaß miteinander verbunden, und mobile Menschen sind, sich
ständig in einem multidimensionalen, transnationalen Raum bewegend, in viele kul-
turelle Praktiken gleichzeitig eingebunden. In Geertz‘ Worten: „Die Welt hat noch
ihre Abteile, aber die Übergänge zwischen ihnen sind viel zahlreicher und viel weni-
ger gut gesichert“ (Geertz 1988: 132).
Diese heutige kulturelle Bedingung – postkolonial, postindustriell, postmodern,
postkommunistisch – formt den historischen Hintergrund für die Dringlichkeit, die
Bedeutung der Ethnografie zu überdenken, fort von ihrem Status als realistisches
Wissen hin in die Richtung ihrer Qualität als einer Form des Geschichtenerzählens,
der Erzählung. Dies bedeutet nicht, dass Beschreibungen aufhören mehr oder weni-
ger wahr zu sein; Kriterien wie akkurates Datensammeln und sorgfältiges Ziehen
von Schlussfolgerungen bleiben anwendbar, sogar dann, wenn ihre Bedeutung und
Wichtigkeit sowohl relativer als auch komplizierter werden mögen, dies nicht nur als
Frage der Technik, sondern vielleicht auch als eine der Ethik. Dies bedeutet, dass
unsere partielle wie parteiische Position als Geschichtenerzähler – im doppelten
Sinne ‚partial‘, wie an früherer Stelle ausgeführt – mehr denn je ernsthaft mit ihren
Konsequenzen konfrontiert und durchdacht werden sollte. Jedwede kulturelle
Beschreibung ist nicht nur konstruktiv (oder, wie manche es nennen mögen, ‚fiktiv‘),
sondern auch von provisorischer Natur, schafft eine diskursive ‚Objektivierung‘ und
Sedimentation von ‚Kultur‘ durch das Aussondern und Hervorheben einer Reihe dis-
kontinuierlicher Ereignisse aus einem fortlaufenden, niemals endenden Fluss, und
greift daher schon durch die Definition immer bereits zu kurz, fällt immer zurück.
Der Punkt ist nicht, dies als einen bedauernswerten Mangel aufzufassen, der weitest-
möglich beseitigt werden muss, sondern als einen unvermeidlichen Sachverhalt, der
das Eingebundensein und die Verantwortung des Forschers/Schreibers als Produzent
von Beschreibungen wiedergibt – von Beschreibungen, die beim Betreten des ung-
leichen, machtgeladenen Feldes des sozialen Diskurses ihre politischen Rollen als
bestimmte Sicht- und Organisationsweisen einer stets schwer faßbaren Realität spie-
len. Es ist das, was Geertz das ‚Diskurs-Problem‘ in der Anthropologie genannt hat
(1988: 83). Für Geertz ist dies letztlich ein Problem der Autorschaft, die mit dem
Erzählen von Geschichten darüber verknüpft ist, wie andere Menschen leben:
„Das Grundproblem ist weder die moralische Unsicherheit, die das Erzählen über das Leben
anderer Leute impliziert, noch die erkenntnistheoretische, solche Geschichten in wissenschaft-
liche Genres einzuordnen […]. Das Problem ist, dass nun, da solche Angelegenheiten Gegen-
stand offener Diskussionen werden, anstatt mit einer Mystik des Faches verdeckt zu sein, die
Last der Autorschaft plötzlich schwerer scheint.“ (Geertz 1988: 138)
Die Last der Autorschaft ist – so meine ich – um so schwerer, sobald wir sie nicht als
individuelle missliche Lage auffassen, sondern als zutiefst soziale und politische.
72 Ien Ang

Dies impliziert Zweierlei: Erstens ist es wichtig, den Anthropologen als Autor nicht
auf eine literarische Figur zu reduzieren, der das Schreiben von ethnografischen
Texten als selbst befriedigende, rein ästhetische Praktik betreibt. Wenn Ethnografie
keine Wissenschaft ist, ist sie auch keine Literatur.4 Der ethnografische Diskurs
sollte seine vorrangig hermeneutische Ambition beibehalten, um Bilder zur Verfü-
gung zu stellen, die es uns erlauben, das Leben anderer Leute wie auch das Unsrige
besser zu verstehen. Die Wahl dieses oder jenes Schreibstils, dieser oder jenen Form
des Erzählens, sollte, obschon es sich dabei um essenzielle Überlegungen handelt,
explizit auf diese Ambition bezogen sein.
Lassen Sie uns zweitens nicht vergessen, dass die Last der Autorschaft nicht nur
ein Problem des Schreibers in sich birgt, sondern auch eine des Lesers; es ist nicht
nur eine Frage der Produktion von Texten, sondern ebenso eine von deren Rezepti-
on. Kurz gesagt ist der soziale Kontext, in dem Ethnografien geschrieben, publiziert,
gelesen und genutzt werden, zu berücksichtigen. Welche Geschichten sollen erzählt
werden, in welcher Form, wem, wo, wann und mit welcher Intention – dies sind Fra-
gen, die sich Akademiker nicht gewohnt sind zu stellen, die aber ein zentraler Punkt
der Politik wissenschaftlicher Arbeiten sind. In dieser Hinsicht stimme ich mit Talal
Asads Argument überein, dass eine ‚Politik der Poetik‘ nicht auf Kosten einer ‚Poli-
tik der Politik‘ verfolgt weden sollte:
„Das entscheidende Thema für die anthropologische Praxis ist nicht, ob Ethnografien Fiktion
oder Wirklichkeit sind – oder inwieweit realistische Formen kultureller Darstellung durch
andere ersetzt werden können. Was wichtiger ist, sind die Arten von politischen Projekten, in
die kulturelle Schriften eingebettet sind. Nicht Experimente der ethnografischen Repräsenta-
tion um ihrer selbst willen, sondern Modalitäten der politischen Intervention sollten der vor-
rangige Zweck unserer Überlegung sein.“ (Asad 1990: 260)

3 Die Konstruktion standpunktbezogener Wahrheiten

Welchen Nutzen kann die kulturtheoretisch orientierte Rezeptionsforschung nun aus


diesem selbstreflexiven Überdenken der Ethnografie innerhalb der zeitgenössischen
Anthropologie ziehen?
Zuerst einmal sollten wir festhalten, dass Repräsentationen der ‚Zuschauer‘ in
ähnlicher Weise eine Intervention der Rezeptionsforscher sind wie Repräsentationen
von ‚Kultur‘ eine Intervention der Anthropologen sind (vgl. Wagner 1981), und zwar
in dem Sinne, dass bestimmte Profile bestimmter Zuschauer lediglich auf Grund von
Beschreibungen in den Abhandlungen der Forscher geformt werden und Gestalt
annehmen – Profile, die nicht außerhalb oder jenseits solcher Beschreibungen exis-
tieren, sondern erst durch sie konstituiert werden. In dieser Hinsicht unterscheiden
sich akademische Rezeptionsforscher nicht von Marktforschern: Sie betreiben beide
das Geschäft der Konstitution von Zuschauerprofilen. Allerdings unterscheiden sie
sich in ihrer Politik und damit auch in ihren rhetorischen Strategien und erkenntnis-
theoretischen Legitimationen – kurzum: in ihren Geschichten, die sie erzählen –,
Radikaler Kontextualismus und Ethnografie in der Rezeptionsforschung 73

was nicht zuletzt auch in ihren völlig verschiedenen institutionellen Bedingungen,


unter denen sie zu arbeiten haben, begründet liegt.
Nochmals, dies bedeutet nicht, dass in alltäglichen Situationen die Anteilnahme
von Personen an den Medien als Zuschauer nicht real oder gar nicht existent wäre.
Es bedeutet lediglich, dass unsere Repräsentation solcher Anteilnahme und ihrer
Wechselwirkungen i.S. von ‚Nutzung‘, ‚Gratifikation‘, ‚Dekodierungsprozessen‘,
‚Lesarten‘, ‚Wirkungen‘, ‚Aushandlungsprozessen‘, ‚Interpretationsgemeinschaften‘
und ‚symbolischem Widerstand‘ – um nur einige der gebräuchlichsten Konzepte der
Rezeptionsforschung zu nennen – als sehr zahlreiche diskursive Mittel betrachtet
werden sollten, um eine gewisse Ordnung und Kohärenz in die ansonsten sehr cha-
otische empirische Landschaft von dispersen und heterogenen Erfahrungen und
Praktiken der Zuschauer zu bringen. Die Frage, die sich dann stellt, ist, welche
repräsentationale Ordnung wir nun in unserern Erzählungen über Medienkonsum
etablieren wollen. Meiner Ansicht nach dürfte sich insbesondere die kulturtheoreti-
sche Rezeptionsforschung in der hervorragenden Position befinden, solche
Geschichten zu verfassen, in denen Objektivierungen des ‚Publikums‘ vermieden
werden können, während Marktforscher in ihren Bemühungen zwangsläufig bestrebt
sind, das Medienchaos für die Kulturindustrie handhabbar zu machen. Dieser zuletzt
genannte Punkt wird z.B. deutlich in der ständigen Suche nach neuen Strategien zur
‚Segmentierung der Zuschauer‘ innerhalb der Marktforschung. Und gleichzeitig
wird durch die Schwierigkeit, zufrieden stellende Wege zur Einteilung der
Zuschauer in klar abgrenzbare und distinkte Kategorien zu finden, deutlich gemacht,
dass sich auch die Marktforscher mit der immensen Eigensinnigkeit des Zuschauer-
chaos konfrontiert sehen (vgl. z.B. Diamond 1993).
In gewisser Hinsicht ist der radikale Kontextualismus aus dem sich langsam ent-
wickelnden Bewusstsein von diesem Chaos entstanden und somit ein willkommener
Versuch, ihm in unseren Repräsentationen der Handlungen und Erfahrungen von
Rezipienten gerechter zu werden. Mit den Worten von Janice Radway gesprochen,
stellt dies einen Weg dar, sich mit der „fortwährenden Wandlung und der stetigen
Neuentfaltung des Kaleidoskops unseres täglichen Lebens und der Art und Weise,
wie die Medien in den Alltag integriert und einbezogen werden, auseinanderzuset-
zen“ (Radway 1988: 366). Aber wie ich es bereits angedeutet habe, kann der bloße
Wunsch nach erkenntnistheoretischer ‚Eroberung‘, der in dem Bedürfnis, der end-
losen Kontextualisierung gerecht zu werden, enthalten ist, auch leicht zu einer Art
Ohnmacht führen und damit zu dem Diktum: ‚Praktiziere nicht Ethnografie, sondern
denke darüber nach.‘ Das gegensätzliche Extrem ‚Denke nicht über Ethnografie
nach, sondern praktiziere sie einfach‘, ist sicherlich genauso kurzsichtig (vgl. Geertz
1988: 139). Der Mittelweg könnte darin bestehen, einerseits den radikalen Kon-
textualismus im Hinterkopf zu behalten und andererseits gleichzeitig unsere Gren-
zen, d.h. unser Unvermögen, überall zur selben Zeit zu sein, als Chance zu betrach-
ten, verantwortliche und bewusst politische Entscheidungen darüber zu treffen, wel-
che Position wir nun einnehmen wollen und welchen kontextuellen Bezugsrahmen
wir für unseren Ausflug in die Welt der Medienrezipienten wählen wollen. Erkennt-
nistheoretische Überlegungen allein sind als Leitprinzipien für derartige Entschei-
74 Ien Ang

dungen zwangsläufig unzureichend, wenn nicht sogar kontraproduktiv, wie anhand


des Projekts von Morley und Silverstone deutlich wurde. Aus der erkenntnistheoreti-
schen Perspektive heraus stehen nämlich sämtliche Kontexte miteinander in Bezie-
hung, auch wenn man vielleicht theoretisch argumentieren mag, dass nicht alle Kon-
texte ähnlich und gleichermaßen wichtig seien. Genau hier erhalten die „Modalitäten
politischer Interventionen“, um eine Formulierung Asads zu gebrauchen, ihre prag-
matische Relevanz. Genau innerhalb des Bezugsrahmens einer besonderen kulturel-
len Politik können wir bedeutungsvolle Entscheidungen darüber treffen, welche
Kontexte wir als jeweils relevante in den Vordergrund stellen wollen und welche
anderen unter den gegebenen politischen Umständen vielleicht vorerst unbe-
rücksichtigt bleiben können. Der radikale Kontextualismus kann dann eine Stellung
einnehmen, die weniger von dem Wunsch geleitet wird, eine noch ‚holistischere
Theorie des Publikums‘ zu entwickeln, was per definitionem eine unerfüllbare Auf-
gabe wäre, sondern vielmehr von der anspruchsvollen Verpflichtung, die letztendli-
chen Erzählungen über den Medienkonsum so überzeugend und bestechend wie
möglich zu verfassen im Rahmen der spezifischen Problemstellungen, die aus den
einzelnen Zweigen der kulturellen Politik erwachsen. Stuart Hall bezieht sich in
seiner Argumentation genau auf diesen Aspekt, wenn er formuliert:
„Potenziell ist jeder Diskurs endlos: die unbegrenzte Semiosis der Bedeutung. Aber um über-
haupt etwas mitzuteilen, müssen wir erst aufhören zu reden. […] Die Politik der unendlichen
Zerstreuung ist die Politik gar keiner Handlung“ (Hall 1987: 45).
Deshalb ist es entscheidend, in unserer Tätigkeit als Geschichtenerzähler ‚abiträre
Schließungen‘, wie Hall es nennt, zu konstruieren (i.S. von erkenntnistheoretisch
willkürlich), auch wenn jeglicher Einhalt zunächst einstweilig ist (ebd.). Die Anthro-
pologin Marilyn Strathern hat es prägnant so ausgedrückt: „Ich muss wissen, in wes-
sen Auftrag und mit welcher Absicht ich schreibe“ (1987: 269). Das bedeutet, dass
unsere Geschichten nicht nur ‚Teilwahrheiten‘ darlegen können, sondern stets – ob
bewusst oder unbewusst – ‚standpunktbezogene Wahrheiten‘ (vgl. Abu-Lughold
1991: 142).
In dieser Hinsicht weist Strathern auf den Erfolg gegenwärtiger feministischer
Wissenschaft hin, ein Erfolg, der ihrer Ansicht nach „in der Beziehung zwischen
Wissenschaft (Genre) und Frauenbewegung (Leben) begründet liegt“ (Strathern
1987: 268). Und in der Tat übersteigt die Last der Urheberschaft in vielen feministi-
schen Studien die Grundsätze eines liberalen Individualismus, von dem die kon-
ventionelle Wissenschaftskultur erfüllt ist:
„Absichten mögen unterschiedlich wahrgenommen werden; dennoch wird die Wissenschaft
letztendlich durch eine aus dem Rahmen fallende Reihe von spezifischen sozialen Interessen
verkörpert. Feministinnen mögen – in ihren unterschiedlichen Stimmen – miteinander disku-
tieren, da sie sich auch als Interessengemeinschaft verstehen. Über diesen Zusammenhang
herrscht Gewissheit.“ (Strathern 1987: 268)
Dies ist aber nicht der Ort, um über Stratherns kühne Behauptung zu debattieren, der
Feminismus verschaffe eine Gewissheit über politische Zusammenhänge für die wis-
senschaftliche Arbeit; schließlich wird der Feminismus selber hinsichtlich seines
Status als allgemeiner politischer Rahmen für die Interessen der Frauen in Frage
Radikaler Kontextualismus und Ethnografie in der Rezeptionsforschung 75

gestellt (vgl. zu diesem Thema Ang 1996: 85-129). Nichtsdestotrotz, worauf es hier
ankommt, ist das Selbstkonzept des Feminismus als vorgestellte Gemeinschaft, das
es bewerkstelligt, einen Interessenverbund zu konstruieren, welcher es feministi-
schen Wissenschaftlerinnen ermöglicht, eine gewisse Allgemeinheit weltweiter
Interessen zu entwickeln und zu unterhalten. Für die wissenschaftliche und professi-
onelle Gemeinschaft der Rezeptionsforscher ist es sicherlich weitaus schwieriger,
den politischen Kontext ihrer Arbeit zu definieren, da sie keine eigene Interessenge-
meinschaft bilden und dies möglicherweise auch gar nicht möglich wäre. Sie bilden
in keinster Weise eine vorgestellte Gemeinschaft, die durch eine vereinende Reihe
von außer-akademischen, sozialen oder politischen Zielen und Absichten zusam-
mengehalten wird. Und das ist genau der Grund, warum es gerade umso wichtiger
für uns wird, derartige Ziele und Absichten erst zu konstruieren und die Modalitäten
politischer Interventionen, welche unser Interesse an dem Wissen über die
Zuschauer beleben können, zu definieren und des Weiteren ‚arbiträre Schließungen‘
aktiv zu erzeugen, da diese der Rezeptionsforschung eine gewisse Richtung und
Relevanz in einer wachsend ungewissen und komplizierten Welt verleihen können.
Was hier mit anderen Worten sehr vereinfacht gesagt wird, ist schlechthin, dass wir
wie nie zuvor dringend eine neue Agenda für die Rezeptionsforschung benötigen,
und zwar eine, die aufgrund von Überlegungen über die weltweiten Ziele unserer
Wissenschaft entworfen wird. Dies bringt mich schließlich zurück zu der Konjunk-
tur des Wandels in unserer gegenwärtigen Medienlandschaft, die wohl den drin-
gendsten globalen Kontext für die Rezeptionsforschung in den folgenden Jahren dar-
stellt. Es ist offensichtlich, dass die Initiativen der transnationalen Medienindustrien
zu signifikanten und verwirrenden Änderungen in den multikontextuellen Bedingun-
gen von Zuschauerpraktiken und -erfahrungen führen. Gleichzeitig haben diese wei-
treichenden strukturellen Entwicklungen die schwierige Lage der postmodernen
Rezipientenschaft noch komplexer, unklarer und schwerer einschätzbar gemacht,
nicht zuletzt auf Grund der Allgegenwärtigkeit dieser Entwicklungen. Es gibt keine
Position mehr außerhalb des Ganzen, wie sie einmal bestand, von der wir einen
allumfassenden, überragenden Überblick über das gesamte Geschehen haben kön-
nen. Unsere minimale Aufgabe in einer solchen Welt ist es, jene Welt zu erklären, ihr
einen Sinn zu geben, indem wir unsere wissenschaftlichen Fähigkeiten dazu nutzen,
Geschichten über die sozialen und kulturellen Implikationen zu erzählen, die mit
dem Leben in einer solchen Welt verbunden sind. Solche Geschichten können nicht
umfassend sein, aber durch sie können wir zumindest einige der Eigenheiten jener
Welt verstehen; sie sollten, in der Aufzählung von Geertz, „analysieren, erklären, aus
der Fassung bringen, feiern, erbauen, entschuldigen, erstaunen, zum Umsturz ansta-
cheln“ (Geertz 1988: 143f.). Sicherlich sind dies sehr liberale Ziele, aber sie bilden
die Basis für Abu-Lugholds (1991) radikalere Behauptung, dass unser Schreiben
entweder die Struktur der gewaltigen diskursiven und ökonomischen Kräfte der in
diesem Falle weltweiten Mediengesellschaften stärken oder dagegen anschreiben
kann. Wie können wir solchen Behauptungen durch die Mobilisierung des radikalen
76 Ien Ang

Kontextualismus der Ethnografie Substanz verleihen? Ich kann nur eine partielle und
parteiische Antwort auf diese Frage geben – in der Form von einigen Vorschlägen,
die meine Anliegen und Interessen widerspiegeln.
Eine politische Problematik, die in der Rezeptionsforschung kaum erwähnt
wird, bezieht sich auf das Problem der öffentlichen Politik in einer Zeit der soge-
nannten Konsumentensouveränität. In ihrer Suche nach anwendbaren Gegenmitteln
gegen die hegemoniale Logik der Kommerzialisierung haben Medienpolitik-Macher
– und ich denke hier speziell an die europäische Tradition der öffentlichen Sendean-
stalten – häufig, zum Guten oder Schlechten, zu einem Diskurs über ‚Qualität‘ und
‚Minderheiten-Programme‘ Zuflucht genommen. Damit haben es die öffentlichen
Sender aber trotzdem nicht immer geschafft, paternalistische oder elitäre Einstellun-
gen gegenüber dem Fernsehzuschauern, die die klassische Ideologie öffentlicher
Sendeanstalten durchziehen, zu überwinden. Meiner Ansicht nach ist dies das Resul-
tat der realen und symbolischen Distanz der Sender zu ihrem Publikum, einer Dis-
tanz, die dazu neigt, durch den jetzt üblichen Gebrauch quantitativer Marktfor-
schungsumfragen in diesen Kreisen intensiviert anstatt verringert zu werden. In die-
sem politischen Kontext kann ein ethnografisches Verständnis extrem nützlich sein;
z.B. könnte es das Programm für ethnische Minderheiten, das derzeit oft an einem
mangelnden Einblick in die verschiedenen und widersprüchlichen sozialen
Erfahrungen seiner ‚Zielgruppen‘ leidet, potenziell verbessern. Mit anderen Worten:
Nur mit einem Verständnis davon, wie es sich als nicht-europäischer Migrant in
Europa lebt, können professionelle Sender hoffen, Medieninhalte zu entwickeln, die
diese Menschen wirklich relevant finden. Dies soll nicht heißen, dass Ethnografie
öffentliche Sendeanstalten als Institution retten kann; was ich jedoch vorschlagen
möchte ist, dass die ethnografische Sensibilität hinsichtlich kontextualisierter Rezi-
pientenpraktiken und -erfahrungen die Praktiken der Medienproduktion verbessern
kann, deren Ziel mehr ist als das einseitige Streben nach Profit (vgl. Ang 1991:
99-152).
Natürlich muss die Konstruktion solch ‚standpunktbezogener Wahrheiten‘ (oder
der Politik der Politik) in der Rezeptionsforschung nicht immer solch direkt prakti-
sche Auswirkungen haben. Rezipienten zu verstehen ist heute gewissermaßen von
universeller Bedeutung, da die ganze Weltbevölkerung in zunehmendem Maße
Zugang zu allen möglichen Arten von Massenmedien hat, sowohl lokal als auch glo-
bal. Das Medienpublikum ist ein wesentlicher Teil unserer alltäglichen Realität
geworden. Aber obwohl wir tatsächlich zunehmend dieselbe durch Medien domi-
nierte Welt bewohnen, bleiben uns ganze Welten konkreter Praxis und Erfahrung
fremd, eben weil wir nicht ‚überall‘ sein können, weder im wörtlichen noch symbo-
lischen Sinn. Mit dem Ignorieren dieser Tatsache würden wir riskieren, uns mitrei-
ßenden Verallgemeinerungen zu beugen, die den Umfang von noch existierenden
Unterschieden und Variationen nur verringern könnten. Die Medien sind in zuneh-
mendem Maße überall, aber nicht überall auf die gleiche Weise. Ich beziehe mich
hier natürlich auf das fortgesetzte Interesse an Themen des kulturellen Imperialis-
mus und der Globalisierung, Themen die in den folgenden Jahrzehnten vermutlich
eher mehr als weniger in den Vordergrund rücken werden. Ethnografie kann uns
Radikaler Kontextualismus und Ethnografie in der Rezeptionsforschung 77

dabei helfen, das „abgestufte Spektrum durcheinandergemischter Unterschiede“


(Geertz 1988: 148) ausfindig zu machen und zu verstehen, welches mit der fort-
schreitenden Transnationalisierung des Medienpublikums einher geht: Was wir dann
untersuchen ist die Artikulation des Weltkapitalismus‘ in Situationen von Menschen,
die in einzelnen Gemeinschaften leben. Wie Abu-Lughold bemerkt, „manifestieren
sich die Auswirkungen außerörtlicher und langfristiger Prozesse nur lokal und spezi-
fisch, umgesetzt in den Handlungen von Individuen, die einzelne Leben leben, ein-
geschrieben in ihre Körper und ihre Worte“ (Abu-Lughold 1991: 150). Der radikale
Kontextualismus der Ethnografie kann in dieser Hinsicht nützlich sein im Kampf
gegen die verallgemeinernden Aussagen eines Großteils der Forschung über die Wir-
kungen der Medien-Transnationalisierung, die entweder durch unangebrachte
Romantik hinsichtlich der Konsumentenfreiheiten oder durch eine paranoide Angst
vor globaler Kontrolle motiviert sind. Um detailliertere Darstellungen zu ermögli-
chen, müssten als wesentlicher kontextueller Faktor meines Erachtens die ‚Zentrum
– Peripherie‘ Beziehungen beleuchtet werden, welche besonders für Nordameri-
kaner und Westeuropäer von Bedeutung sind, die in relativem Komfort in den
Zentren dessen arbeiten, was Ulf Hannerz (1989) die „globale Ökumene“ nennt.
Hannerz hat Recht in dem Punkt, dass aus der Sicht des Zentrums die Peripherie
häufig der Kreativität, Aktivität und Eigenheit zu entbehren scheint (vgl. Ang 1996:
133-180).
Durch das Erzählen von Geschichten über „eine Vielfalt, die sich in Bewegung
befindet, und zwar einer der Koexistenz wie auch der kreativen Interaktion zwischen
den Transnationalen und den Einheimischen“ (Hannerz 1989: 72) kann Ethnografie,
in Geertz‘ Worten,
„die Möglichkeit eines intelligiblen Diskurses zwischen Menschen vergrößern, die in Interes-
sen, Ansichten, Reichtum und Macht recht große Unterschiede aufweisen und die doch Teil
einer Welt sind, in der es zunehmend schwierig ist, dem anderen aus dem Weg zu gehen, da
die Menschen in unbegrenzte Beziehungen zueinander verwickelt sind“ (Geertz 1988: 147).

Anmerkungen

* Übersetzung von Beatrix Johnen, Susanne Hennenkemper, Rainer Winter und Andreas
Hepp. Eine Fassung des Beitrags erschien in: Ang, Ien (1996): Living Room Wars.
Rethinking Media Audiences for a Postmodern World. London, New York (Routledge),
66-81.
1 Diese internationale Konferenz fand im September 1990 an der Universität Illinois, Urba-
na-Champaign, statt, wo eine frühere Version dieses Artikels präsentiert wurde, die in dem
von James Hay, Lawrence Grossberg und Ellen Wartella 1996 herausgegebenen Sammel-
band „The Audience and its Landscape“ (Boulder: Westview Press, 247-262) erschien.
** Das englische ‚partial‘ kann zum einen als ‚partiell‘, i.S. von ‚unvollständig‘, ‚vorläufig‘,
ins Deutsche übersetzt werden, zum anderen als ‚parteiisch‘, i.S. politischer Vorein-
genommenheit. Diese Doppeldeutigkeit ist beabsichtigt, wie im weiteren Verlauf des
Textes deutlich wird. A.d.Ü.
78 Ien Ang
2 Ich übernehme diese räumliche Charaktisierung der epistemologischen Suche des radika-
len Kontextualismus von Susan Bordo (1990).
3 In dieser Hinsicht ist es nützlich, den provokativen Vorschlag der Anthropologin Lila
Abu-Lughold (1991) zu zitieren, wonach das Problem genau im Begriff von ‚Kultur‘
selbst liegt, der ihrer Ansicht nach fast unvermeidlich auf die Privilegierung organischer
Metaphern von Ganzheit und Kohärenz und holistische Methodologien verweist. Um dem
zu begegnen, schlägt sie vor, dass wir Wege des ‚Schreibens gegen Kulturen‘ entwickeln.
4 Dieser Aspekt macht einige jüngere Diskussionen über das ethnografische Schreiben pro-
blematisch. John van Maanen (1988) z.B. scheint durch die Verlockung des literarischen
Effekts zu seinen bevorzugt ‚impressionistischen Erzählungen‘ verführt worden zu sein.
Als Folge dessen neigt er dazu, die Wichtigkeit theoretischer Kategorien und politischer
Perspektiven in der Konstruktion bedeutungsvollen Verstehens im ethnografischen Dis-
kurs zu ignorieren.

Literatur

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Reflexivität, Interpretation und Ethnografie: Zur kritischen
Methodologie von Cultural Studies

Rainer Winter

1 Einleitung

Epistemologisch betrachtet, vertreten Cultural Studies wie der Pragmatismus oder


der soziale Konstruktionismus eine anti-objektivistische Sicht des Wissens. Sie
haben sich in kritischer Auseinandersetzung mit der Vorstellung entwickelt, die
„Logik der Forschung“ sei in den Sozialwissenschaften dieselbe wie in den Natur-
wissenschaften, die nach Gesetzmäßigkeiten sucht. Dagegen sind Cultural Studies
immer an partikularen lokal und historisch geprägten Kontexten orientiert (Winter
2001a). Ihre Wissensobjekte existieren nicht unabhängig von der Forschung, son-
dern werden durch sie (mit)erzeugt und als kontingente theoretische Objektkon-
struktionen betrachtet. Das Eingeständnis der „partiality“ im Sinne von Donna Hara-
way (1997), die damit sowohl die Beschränkungen der Forschung durch zeitliche,
räumliche und soziale Faktoren bezeichnet, als auch die Motivation durch Ideolo-
gien, Interessen und Begehren sowie die Verankerung in Machtstrukturen, zeichnet
diesen Ansatz aus, der nicht „Objektivität“ im klassischen Sinne, sondern Dialog,
Reflexivität und Selbstreflexivität anstrebt. Ziel ist „eine Vielfalt partialen, verort-
baren, kritischen Wissens, das die Möglichkeit von Netzwerken aufrechterhält, die
in der Politik Solidarität und in der Epistemologie Diskussionszusammenhänge
genannt werden“ (Haraway 1995: 84). So wurden seit den Anfängen von Cultural
Studies in der Erwachsenenbildung in Großbritannien Studierende dazu angeregt,
über ihre eigene Lebenssituation, ihre Herkunft und ihren Werdegang, nachzuden-
ken und diese Reflexionen in die Forschung einzubringen, um auf diese Weise die
eigene soziale Position und das Verhältnis zum Untersuchungsobjekt zu klären
(Winter 2004).
Das Eingeständnis der Positionalität des Zugangs, der Situierung und Loka-
lisierung des Wissens bedeutet nun aber nicht, dass Cultural Studies reduktionistisch
vorgehen und Ansprüche auf ein umfassendes rationales Wissen aufgeben. Im
Gegenteil: Je nach Fragestellung werden theoretische Zugänge und Methoden unter-
schiedlicher Disziplinen in Form einer Bricolage kombiniert, um facettenreich und
differenziert das Forschungsobjekt zu konstruieren (vgl. Göttlich et. al. 2001). Im
Idealfall werden kulturelle Praktiken und Repräsentationen dann multiperspektivisch
82 Rainer Winter

im Dialog unterschiedlicher Zugänge und Methoden analysiert (Kellner 1995), was


die notwendige Begrenztheit einzelner methodischer Zugänge sichtbar machen und
umgehen soll. Cultural Studies fordern, dass im Untersuchungsdesign und in der
Darstellung der Forschungsergebnisse mitreflektiert wird, dass andere Methoden
bzw. ihre Kombination, aber auch Transgressionen möglich sind, um zu neuen Per-
spektiven zu gelangen (vgl. Johnson et. al. 2004: 42). So ist im Forschungsprozess
die Realisierung von Reflexivität unerlässlich. Auf diese Weise kann zum Beispiel
deutlich werden, wie die räumliche und zeitliche Lokalisierung des Forschers seine
Untersuchung mitbestimmt. Auch der Dialog mit Anderen intensiviert die
gewünschte Reflexivität.
Vor diesem Hintergrund wurde in den Vereinigten Staaten eine neue Form von
Ethnografie entwickelt, die bewusst auf die Selbstthematisierung des Forschers setzt.
Die Welten der Anderen sollen mittels Autoethnografie, Dialog und Herausstellen
der Polyvokalität im Feld erschlossen werden. Auf diese Weise sollen die disziplinär
visuellen Strukturen der „cinematic society“ (Denzin 1995) unterlaufen und die
Textur gelebter Erfahrung angemessen erfasst werden. Hierzu ist ein hohes Maß an
Reflexivität erforderlich. An den Bespielen des reflexiven Interviews und der quali-
tativen Untersuchung der Medienaneignung von Horrorfans werde ich im Folgenden
erörtern, wie wichtig Selbstthematisierung und Dialog in der qualitativen Medien-
forschung sein können.

2 Auf dem Weg zu einer ‚neuen‘ Ethnografie

Die interpretative oder auch ‚neue‘ Ethnografie ist ein relativ junger Ansatz in der
qualitativen Sozialforschung. Ihr zentrales Merkmal ist, dass der Forscher bzw. die
Forscherin nicht nur die Erfahrungen, Praktiken und Lebensweisen von Anderen
beschreibt und darstellt, sondern dass er bzw. sie sich selbst dabei thematisiert. Die
Selbstthematisierung bleibt kein Appendix, sondern wird ein wesentliches Element
der Forschung und vor allem der Darstellung der Ergebnisse. Im Forschen und im
Schreiben entstehen die Welten, in denen wir leben und in denen wir zurechtkom-
men müssen. In der ‚Aufführung‘ der Forschungsergebnisse wird diesem konstrukti-
ven Prozess Rechnung getragen, indem er sichtbar gemacht wird und seine Möglich-
keiten ausgeschöpft werden. In ethnografischen Performance-Texten wird nicht über
oder für Informanten gesprochen, sondern es wird mit ihnen und dem Publikum
interagiert (Conquergood 2003). Daher mündet für Norman Denzin (1999, 2003),
dem wichtigsten Vertreter dieses Ansatzes, die interpretative Ethnografie in eine
performative Soziologie, deren Konturen sich abzeichnen, die aber noch näher be-
stimmt und entwickelt werden müssen. Qualitative Forschung ist im Kontext von
Cultural Studies keine Ware, die gekauft oder verkauft werden kann, sondern einge-
bunden in die moralische Gemeinschaft von Forschern und Informanten, zwischen
denen dialogische Beziehungen hergestellt werden sollen.
Reflexivität, Interpretation und Ethnografie 83

In der qualitativen Medienforschung kommt der interpretativen Ethnografie eine


wichtige Bedeutung zu (Winter 2001b). Zum einen fordern dialogische Beziehungen
den Forscher dazu auf, über seine eigenen medialen Erfahrungen und Praktiken,
seine Vorlieben und Abneigungen nachzudenken und sie kritisch zu hinterfragen.
Zum anderen werden die Informanten, die z.B. über Formen problematischen
Medienkonsums berichten, als Subjekte, die eine eigene Sicht entwickelt haben,
ernst genommen. Zudem werden sie aufgefordert, diese zur Darstellung zu bringen.
Der Forscher nimmt nicht die Rolle des unabhängigen Beobachters ein. Er ist eher
ein unterstützender Mitspieler. Seine Subjektivität wird wie die der Untersuchten
durch die medialen Praktiken der heutigen Gesellschaften, insbesondere durch die
Populärkultur, geprägt, worüber er sich im Forschungsprozess klar werden sollte:
„Popular culture matters […] precisely because its meanings, effects, consequences, and ideo-
logies can‘t be nailed down. As consumers and as critics, we struggle with this profileration of
meanings as we make sense of our own social lives and cultural identities.“ (Jenkins et. al.
2002: 11)
Als Teil des Ganzen sind auch seine Forschungsinteressen und -ergebnisse nicht
unabhängig. Damit problematisiert die interpretative Ethnografie die ideologischen
Annahmen der traditionellen Ethnografie, die einen realistischen Anspruch hat und
den „native point of view“ zur Darstellung bringen möchte. Durch direkte Beobach-
tungen können, so die Auffassung, ‚wahre‘ Aussagen über die Welt gemacht wer-
den. Um ein möglichst differenziertes Verstehen des Anderen geht es auch der inter-
pretativen Ethnografie, die jedoch den medialen Bedingungen des 21. Jahrhunderts
Rechnung zu tragen versucht.

3 Ethnografie in der „Cinematic Society“

In der amerikanischen Tradition der qualitativen Sozialforschung nimmt die Diskus-


sion um die Postmoderne und die mediale Durchdringung des Alltags eine wichtige
Rolle ein (Dickens/Fontana 1994). So schreibt Denzin:
„The postmodern is a visual, cinematic age; it knows itself in part through the reflections that
flow from the camera‘s eye. The voyeur is the iconic, postmodern self. Adrift in a sea of sym-
bols, we find ourselves, voyeurs all, products of the cinematic gaze“. (Denzin 1995: 1)
In der Tradition von Michel Foucault (1976) versucht er in seiner Geschichte von
Kino und Gesellschaft in den USA zu zeigen, dass die von diesem beschriebene
Überwachungsgesellschaft im 20. Jahrhundert durch das Kino und sein visuelles
Dispositiv verdichtet wurde. Die disziplinäre Struktur der „Cinematic Society“, in
deren Zentrum der Blick der Kamera als mobiles panoptisches Auge und die durch
ihn konstruierte Wirklichkeit stehen, bringt Subjekte hervor, die als Voyeure ihre
Mitmenschen beobachten und belauschen, jedoch jederzeit selbst zum Objekt eines
84 Rainer Winter

disziplinären Blicks werden können. Als neuer sozialer Typus begegnet der Voyeur
uns als Sozialwissenschaftler, Ethnograf, Psychoanalytiker, Gerichtsreporter, Detek-
tiv oder als sexuell Perverser.
Angesichts der steigenden Zahl von Überwachungskameras auf öffentlichen
Plätzen, die in der Regel ohne Protest akzeptiert werden, und der teilweisen Aufhe-
bung der Privatsphäre aus (nationalen) Sicherheitsgründen leuchtet Denzins Diag-
nose einer Veralltäglichung visueller Kontrolle und der Dominanz eines voyeuristi-
schen Blicks, die sich auf eine systematische Analyse von Hollywoodfilmen stützt,
unmittelbar ein. Eine Folge der Durchdringung der Gesellschaft durch den Blick der
Kamera ist auch, dass die in der Soziologie beschriebene dramaturgische Gesell-
schaft eine interaktionelle Wirklichkeit geworden ist. Alltägliche Wirklichkeiten
werden wie Medienevents inszeniert, die sich wiederum an früheren orientieren, so
dass es eigentlich kein Original gibt, sondern nur Modulationen, die nur Kraft von
als überzeugend wahrgenommenen Darstellungsleistungen als ‚real‘ interpretiert
werden (Goffman 1977). Dabei hängt deren Überzeugungskraft davon ab, wie sie im
Vergleich zu früheren Darstellungen wirken.
Dieser soziologischen Einsicht in die dramaturgische und prozesshafte Kon-
struktion der Wirklichkeit im Alltag steht die Auffassung des Realismus in der
Geschichte des Kinos und der Tradition der qualitativen Sozialforschung entgegen,
dass wir einer stabilen sozialen Welt gegenüberstehen, die mittels des Films ange-
messen wieder gegeben werden kann. Journalistische Reportagen und die naturalisti-
schen Studien der Chicago School stützten den Mythos, dass es grundlegende Sinn-
strukturen gibt, die durch sorgfältige Beobachtung und Analyse aufgedeckt werden
können. Der modernistische ethnografische Text kann daher als eine Fotografie gele-
sen werden. „It offers up fixed representations of things that have happened in a
stable, external world“ (Denzin 1997: 44).
Angesichts dessen, dass alltägliche Begebenheiten an medialen Praktiken
gemessen und im Sinne Baudrillards (1982) das Simulakrum, die endlose mediale
Reproduktion des Realen, die ‚eigentliche Wahrheit‘ darstellt, wird in der interpreta-
tiven Ethnografie der ethnografische Realismus dekonstruiert und damit auch die
Konzeption von Wahrheit, die Aussagen daran misst, dass sie Ereignisse in der rea-
len Welt angemessen wiedergibt. Diese erweist sich als Konstruktion bzw. histori-
sche Fiktion, wie die feministische Kritikerin und Filmemacherin Trinh hervorhebt:
„The belief that there can exist such a thing as an outside foreign to the inside, an objective,
unmediated reality about which one can have knowledge once and for all, has been repeatedly
challenged by feminist critics […] realism as one form of representation defined by a specific
attitude towards reality is widely validated to perpetuate the illusion of a stable world.“ (Trinh
1991: 164)
Eine hier anschließende Kritik lautet, dass der ethnografische Realismus von vorn-
herein durch die Darstellungsformen und narrativen Strategien der Massenmedien
geprägt sei und den soziologischen Diskurs in der Figur des Geschichtenerzählers
mit einem notwendigen empirischen Gerüst versorge:
Reflexivität, Interpretation und Ethnografie 85
„Indeed, realism is a fantasmatic or unconscious construction of ‚empirical reality‘, thereby
producing relays between the opposed registers of factual and fictional discourses while none-
theless maintaining their apparent opposition“ (Clough 1992: 6).
In der zeitgenössischen Medienkultur ist jedoch eine Dekonstruktion der diskursiven
Opposition von Fakten- und Fiktion erforderlich, was Erving Goffman (1977) in
seinen ethnografischen Studien der eigenen Kultur bereits vorführte. Hierzu muss
vor allem die Funktion von Erzählungen im Alltag und im soziologischen Diskurs
bestimmt werden. Wie Charles Lemert (1997) pointiert und provokativ feststellt,
besteht die Soziologie – und ähnliches gilt für die qualitative Sozialforschung – im
Wesentlichen aus Geschichten von Menschen, die sie über ihre Erfahrungen und
Erlebnisse im sozialen Leben erzählen.
Die interpretative Ethnografie entlarvt den realistischen Ethnografen als Voyeur,
der in den Dispositiven der Überwachungsgesellschaft vorgeben kann, ‚authenti-
sche‘ Darstellungen gelebter Erfahrungen wiederzugeben (Denzin 1995). Des Wei-
teren erkennt sie die narrativen Strukturen in Alltag und Wissenschaft an, arbeitet
sie heraus und experimentiert mit ihnen. Ereignisse, Erfahrungen und Erlebnisse
existieren nicht unabhängig von ihren Repräsentationen, sondern können in ihnen
Gestalt, Geschlossenheit und Kohärenz gewinnen. Deshalb kann, so die Auffassung
der neueren qualitativen Forschung, gelebte Erfahrung nicht direkt wiedergegeben
werden, sondern im Untersuchungsprozess und im Text, den der Wissenschaftler
schreibt, wird sie in gewisser Weise erst geschaffen. Eine qualitative Medienfor-
schung, die sich der interpretativen Ethnografie, bedient, wird deshalb die narrativen
Prozesse in Medien und Alltag ins Zentrum rücken, um der Perspektive der Infor-
manten möglichst gerecht zu werden.

4 Die Perspektive des Anderen

Die narrative Wende, die von der interpretativen Ethnografie vollzogen wird, schützt
sie vor der Kritik der Theorielastigkeit, die gegen einige berühmte ethnografische
Studien erhoben wurde. Innerhalb von Cultural Studies wurden vor allem die Wider-
standsstudien dahingehend kritisiert, dass Erfahrungen und Praktiken im Feld zur
Unterstützung der theoretischen und politischen Auffassung des Forschers funkti-
onalisiert würden. Der Untersuchungsrahmen gäbe vor, was entdeckt und was über-
sehen werde. Freilich lässt sich diese Kritik noch mehr an jeder Form traditioneller
Sozialforschung üben, die vorgibt, ‚objektiv‘ zu sein, aber immer eine Wirklichkeit
gemäß ihrer theoretischen (Vor-)Annahmen und Methoden schafft, die sie dann als
die Wirklichkeit ausgibt.
Die neuen Formen von Ethnografie möchten aber nicht vorher konzipierte Theo-
rien bestätigen oder widerlegen, sondern den Erfahrungen und Praktiken der
Untersuchten so gerecht wie möglich werden. Im Rahmen von Cultural Studies bzw.
der neueren Ansätze qualitativer Sozialforschung (Denzin/Lincoln 2000) bedeutet
dieser methodologische Zugang aber nicht, dass teilnehmende Beobachtung oder
86 Rainer Winter

Feldforschung im ethnologischen Sinne im Mittelpunkt stehen müssen. Narrative


Interviews, Gruppendiskussionen, biografische Interviews oder Feldnotizen können
je nach Fragestellung verwendet oder miteinander kombiniert werden (vgl. Winter
1995). Entscheidend ist, dass eine Perspektive, die von ‚außen‘ kommt, den
Untersuchten zum Objekt eines voyeuristischen Blicks macht, vermieden wird.
Denn in der neuen Ethnografie geht es darum, den Erfahrungen und gelebten Wirk-
lichkeiten möglichst nahe zu kommen und sie auch entsprechend darzustellen.
Hierzu muss sich der Ethnograf auf die Erfahrungswelt des Anderen einlassen.
Deshalb spielt die Phänomenologie eine wichtige Rolle (Maso 2001). Sie erschließt
die Erfahrungen von Anderen in Bezug auf die Ähnlichkeiten und Differenzen zu
unserer eigenen Erfahrung. Dabei gilt jedoch:
„To do […] phenomenology is to attempt to accomplish the impossible: to construct a full
interpretive description of some aspect of the life-world, and yet to remain aware that life is
always more complex that any explication of meaning can reveal“ (Van Maanen 1990: 18).
In einer dialogischen Auseinandersetzung zwischen dem Selbst des Forschers und
der Perspektive des Anderen werden die Grenzen des eigenen Verständnisses zum
Thema, mit dem Ziel, die eigene Sensibilität für fremde Welten zu steigern (Saukko
2003: 57). Im Zuge der narrativen Wende sollen Forscher hierbei auf die persönli-
chen Geschichten achten, die Menschen über die wichtigen Ereignisse in ihrem
Leben erzählen (Denzin 1989). Diese sind mögliche Anknüpfungspunkte für einen
Dialog, der auch biografische Erlebnisse des Forschers mit einbeziehen kann und
ihm hilft, die Schlüssellochperspektive des Voyeurs zu verlassen: „As lived textuali-
ties, these personal experience narratives and ‚mystories‘ recover the dialogical con-
text of meaning, placing the observer on both sides of the ‚keyhole‘“ (Denzin 1997:
47).
In diesen Prozess werden vermehrt emotionale und verkörperte Formen des
Wissens berücksichtigt, die zu persönlichen und literarischen Formen des Schrei-
bens führen können (Richardson 2000). Darüber hinaus wird in Gestalt der Perfor-
mance-Ethnografie der ethnografische Textualismus in Frage gestellt, der in distan-
zierter Weise die Kultur als offenes Buch liest. Hier wird nun die Teilnahme, der
Dialog, die Kontingenz, die kontextspezifische Artikulation von Praktiken und
Texten gefordert (Conquergood 2003). Texte, Kontexte und kulturelle Praktiken las-
sen sich in einer Performance nicht trennen, die zu einer tief gehenden emotionalen
Begegnung mit anderen Menschen und Kulturen führen kann.
Die emphatische Versenkung in intensive Erfahrungen birgt allerdings die
Gefahr, dass deren soziale Prägung aus dem Blick gerät. Gelebte Erfahrungen sind
durch soziale, institutionelle und mediale Diskurse vermittelt. Deshalb sollten im
Forschungsprozess die erlebten Wirklichkeiten auch sozial und medial kontextua-
lisiert werden. Nur auf diese Weise kann die Textur gelebter Wirklichkeiten in der
„cinematic society“ die Perspektive der Untersuchten freigeben. Ein weiterer hiermit
zusammenhängender Aspekt der interpretativen Ethnografie ist ihre Selbstreflexivi-
tät. Da davon ausgegangen wird, dass es keine unvoreingenommene Forschung
geben kann, kommt der Reflexivität die Funktion zu, für eigene Vorannahmen zu
sensibilisieren, sich der eigenen sozialen Verankerung bewusst zu werden und offen
Reflexivität, Interpretation und Ethnografie 87

für andere Perspektiven auf die untersuchten Welten zu sein. Das Selbst des For-
schers, seine sozialen und moralischen Verpflichtungen, seine Auffassungen werden
kritisch reflektiert, um der Perspektive des Anderen gerecht zu werden. Dabei impli-
ziert Selbstreflexivität aber nicht, dass ein ‚wahreres‘ Wissen der Welt möglich ist
(Haraway 1997: 16). Eher zeigt sie die Begrenzungen unserer Weltsicht auf und
dass verschiedene Interpretationen unserer eigenen und der Welt der Anderen mög-
lich sind. In den Formen kritischer Autoethnografie führt die Selbstreflexivität dazu,
dass der Forscher untersucht, welche Erlebnisse und sozialen Diskurse seine
Erfahrung bestimmt haben.
Ergänzend wird in der interpretativen Ethnografie auf Polyvokalität Wert gelegt.
Gelebte Erfahrungen sollen von verschiedenen Stimmen wiedergegeben werden, um
zu vermeiden, dass eine Stimme für die ‚Wahrheit‘ einer Erfahrung steht, und um
die Spezifität einzelner Erfahrungen angemessen zu erfassen (Saukko 2003: 64-67).
Auch in den Darstellungen der Forschungsergebnisse kommt es zu einer Interaktion
zwischen den Stimmen der Anderen und der Stimme des Forschers. Hierzu gehört
freilich auch eine Analyse des sozialen Kontextes und seiner Formen sozialer Ung-
leichheit unter globalen Bedingungen. Dann kann deutlich werden, dass diese je
nach Perspektive durchaus unterschiedlich erfahren werden können.
Im Folgenden möchte ich zeigen, welche Rolle die interpretative Ethnografie in
der qualitativen Medienforschung der Cultural Studies spielen kann. Wie die bis-
herige Diskussion gezeigt hat, ist dies ein relativ neuer Ansatz, der eine Kritik an
bisherigen Ansätzen formuliert hat und ein ambitioniertes Programm vorlegt. Vieles
befindet sich aber noch in der Diskussion, der Ansatz selbst in einer experimentellen
Phase. Für unseren Zusammenhang kommt ihm aber auch deshalb große Bedeutung
zu, weil er die Methodendiskussion im Kontext der „cinematic society“ führt, sich
also fragt, welche Methoden in einer Mediengesellschaft sinnvoll sind. Daher werde
ich zunächst die Methode des reflexiven Interviews diskutieren, die Denzin (2003:
57-76) für die „cinematic society“ empfiehlt. In einem zweiten Schritt werde ich am
Beispiel eigener Arbeiten zur Ethnografie der Medienrezeption und –aneignung die
Relevanz der interpretativen Ethnografie aufzeigen.

5 Beispiele

5.1 Das reflexive Interview

Denzin (2003: 57-76) stellt zunächst fest, dass wir in einer ‚Second-Hand-Welt‘ von
Bedeutungen leben, die durch die Medien der postmodernen Gesellschaft vermittelt
werden. Die Kultur ist eine visuell dominierte Medienkultur, in der dramaturgische
Inszenierungen und Stoffe die Oberhand gewonnen haben. Das reflexive Interview
soll nun eine Möglichkeit sein, dem Zustand Rechnung zu tragen, dass Subjektivität
immer mehr durch Geschichten vermittelt wird, die durch Interviews produziert
worden sind:
88 Rainer Winter
„The reflexive interview is simultaneously a site for conversation, a discursive method, and a
communicative format that produces knowledge about the self and its place in the cinematic
society – the society that knows itself through the reflective gaze of the cinematic apparatus.“
(Denzin 2003: 58).
Das Interview ist eine Bekenntnispraktik, die zu einer öffentlichen Form der Unter-
haltung geworden ist. Das Fragenstellen, die Aufforderung, eine Geschichte zu
erzählen, bringt situierte Erzählungen des Selbst hervor. Im Anschluss an Holstein
und Gubrium (2000) unterscheidet Denzin dann zwischen verschiedenen Formen
des Interviews, die dem Interviewer unterschiedliche Positionen zuweisen. Im
‚objektiv neutralen‘ Format benutzt er einen strukturierten oder semi-strukturierten
Leitfaden, um zu Informationen zu gelangen. Die Geschichte, die erzählt wird, wird
von ihm, so seine Auffassung, nicht beeinflusst. Im Entertainment- bzw. investi-
gierenden Format versucht der Interviewer, mit unterschiedlichen Methoden an eine
Geschichte zu kommen, die er Gewinn bringend verkaufen kann. Im auf Mitarbeit
angelegten, aktiven Format treten die Identitäten von Interviewer und Interviewten
in den Hintergrund. Eine Konversation entsteht, und eine Geschichte wird
gemeinsam erzählt. Das von Denzin präferierte Format ist das reflexive Interview,
das von einer dialogischen Beziehung getragen wird:
„In this relationship, a tiny drama is played out. Each person becomes a party to the utterances
of the other. Together, the two speakers create a small dialogic world of unique meaning and
experience. In this interaction, each speaker struggles to understand the thought of the other,
reading and paying attention to such matters as intonation, facial gestures, and word selecti-
on.“ (Denzin 2003: 67).
Am Beispiel von Filmen veranschaulicht er dann die unterschiedlichen Interviewfor-
mate.
Dabei kommt Trinhs Film Surname Viet Given Name Nam (1989) eine Schlüs-
selrolle zu, weil er den Gebrauch von ‚objektiv neutralen‘ Interviews in Doku-
mentarfilmen, die nicht dialogisch angelegt sind, kritisch vorführt. In Dokumentarfil-
men ist der Filmemacher/Interviewer ein Beobachter, der über seine Erfahrungen
und Erlebnisse mit Menschen in einer realen Welt berichtet. Die ästhetischen Strate-
gien des dokumentarischen Interviews, das auch wesentliches Element von Fernseh-
nachrichten und -reportagen ist, vermitteln dem Zuschauer den Eindruck, dass er
unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit hat (Trinh 1991: 40). Trinhs Film dagegen
ist dialogisch angelegt, die Grenzen zwischen Tatsache und Fiktion verwischen.
Ebenso entpuppen sich Bedeutungen als (politische) Konstruktionen. Die Regis-
seurin spielt mit der Rahmenstruktur von Filmen und ihren Konstruktionen von
Wirklichkeiten, um vielfältige Erfahrungen zu ermöglichen. Im Anschluss an Trinh
fordert Denzin deshalb eine Intensivierung von Reflexivität:
„I want to cultivate a method of patient listening, a reflexive method of looking, hearing, and
asking that is dialogic and respectful. This method will take account of my place as a con-
structor of meaning in this dialogic relationship […] I will use the reflexive interview as a tool
for intervention […] I will use it as a method for uncovering structures of oppression in the
life worlds of the persons I am interviewing.“ (Denzin 2003: 75)
Reflexivität, Interpretation und Ethnografie 89

Das Forschen in der „cinematic society“ erfordert neue Methoden, um deren Ideolo-
gien und Mythen zu dekonstruieren, eine gemeinsame Konstruktion von Bedeutun-
gen zu erlauben und eine Politik des Möglichen zu schaffen.

5.2 Ethnografie der Medienaneignung

Wie wichtig die interpretative Ethnografie im Rahmen von Cultural Studies sein
kann, möchte ich abschließend an einer eigenen Studie veranschaulichen. In „Der
produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozess“
(1995) untersuche ich die Rezeption und Aneignung von Horrorfilmen. Die Studie
war ethnografisch angelegt. Verschiedene Methoden (u.a. teilnehmende Beobach-
tung, problemzentrierte und biografische Interviews, Gruppendiskussionen, Fil-
manalysen, Feldnotizen und -tagebücher) wurden miteinander kombiniert. Ziel war
es, die differentiellen Prozesse der Rezeption und Aneignung zu untersuchen und
herauszufinden, welche Bedeutung die Zuschauer selbst ihren Praktiken zuschrei-
ben. Auf diese Weise sollten die Rezipienten, vor allem die Fans, von Horrorfilmen,
als Subjekte ernst genommen, ihre gelebten Wirklichkeiten so ‚authentisch‘ wie
möglich beschrieben werden. Angesichts der gewöhnlich negativen Darstellung von
Horrorfans im journalistischen oder wissenschaftlichen Diskurs, die als obsessive
Einzelgänger, psychisch gestört oder gefährdet betrachtet werden, ging es darum,
die kulturellen Praktiken der Fans aus ihrer Perspektive zu beschreiben. Sehr schnell
wurde mir klar, dass es hierzu erforderlich war, sich auf die Horrorfilme, insbeson-
dere auf das Splattergenre, intensiv einzulassen, was in der bisherigen Forschung
weitgehend unterblieben war. Über diese für mich zunächst verstörenden und nega-
tiven Erfahrungen habe ich Tagebuch geführt. Es gelang mir, fast alle wichtigen
Filme dieses Genres anzuschauen, was für mich kein Vergnügen war. Erst auf der
Basis dieser subjektiven Erfahrung war es mir aber möglich, die Praktiken der Fans
überhaupt verstehen zu können.
Die erste Phase der problemzentrierten Interviews und Gruppendiskussionen
enttäuschte mich, weil mir klar wurde, dass die Fans sich als Objekt einer wissen-
schaftlichen Untersuchung betrachteten und so über intime und tabuisierte Erfahrun-
gen nicht sprachen. Zudem befürchteten sie, dass sie keinen Einblick in die Ergeb-
nisse der Studie haben und diese – wie andere Studien – gegen sie verwendet wür-
den. Es war mühsam, ihr Vertrauen zu gewinnen und ein dialogisches Verhältnis mit
ihnen aufzubauen. Erst als ich anfing, über meine eigenen Erfahrungen mit Horror-
filmen zu sprechen, und meine Einstellung zu ihnen mit den Fans diskutierte, öffne-
ten sich diese. Als dies aber gelang, entwickelten sich mit einigen Fans im Laufe der
Zeit persönliche, sogar freundschaftliche Beziehungen. Nun konnte ich ihre kulturel-
len Praktiken im Kontext ihrer persönlichen Situation und ihrer Biografie verstehen.
Ohne eine reflexive Einstellung, die es mir erlaubte, meine Voranahmen und
Auffassungen, immer wieder kritisch zu hinterfragen, und offen zu sein für neue
Erfahrungen, wäre mir ein tieferes Verständnis ihrer gelebten Wirklichkeiten nicht
90 Rainer Winter

möglich gewesen. Auch die Forschungsergebnisse diskutierte ich eingehend mit


ihnen. Sie konnten ihre Perspektive in meiner Studie erkennen und bedankten sich
dafür, dass ich sie nicht ausgenutzt hatte. Was mir bei dieser ethnografischen For-
schung klar wurde, war, dass Autoethnografie ein wesentlicher Bestandteil empiri-
scher Forschung ist. Eine Auseinandersetzung mit den eigenen lebensgeschichtlich
geprägten Erfahrungen kann die Basis für ein Verständnis differenter Erfahrungen
und Praktiken sein. Erst die Bereitschaft, einen Dialog zu führen, kann einen Zugang
zur Perspektive des Anderen eröffnen. Qualitative Forschung hat es mit Subjekten
zu tun und beinhaltet deshalb auch moralische Verpflichtungen. Vor allem muss
man der Textur gelebter Wirklichkeiten vom Gesichtspunkt der Untersuchten her
gerecht werden.

6 Schluss

Die ‚neue‘ Ethnografie im Rahmen von Cultural Studies begreift sich nicht nur als
wissenschaftlicher, sondern auch als moralischer Diskurs. Ihre Praktiken sollen
möglichst authentisch gelebte Erfahrungen in der „cinematic society“ wiedergeben.
Dabei ist die Wirklichkeit immer schon durch symbolische Repräsentationen, durch
mediale Strukturen und durch narrative Texte vermittelt. Selbstthematisierung, neue
Formen des Schreibens und die Aufführung von Forschungsergebnissen sind die
Grundelemente einer performativen qualitativen Forschung, die die realistische
Agenda des Positivismus subvertiert und nach neuen Wegen für eine kritische Theo-
rie und Praxis in interventionistischer Absicht sucht:
„This social science inserts itself into the world in an empowering way. It uses the words and
stories that individuals tell to fashion performance texts that imagine new worlds, worlds
where humans can become who they wish to be, free of prejudice, repression, and discrimina-
tion“ (Denzin 2003: 105).
Cultural Studies werden durch eine Ethnografie, die sich der Performance und der
Interpretation verpflichtet fühlt, bereichert. Auf diese Weise wird der Untersuchte
vom Objekt zum Subjekt, dessen mediale Praktiken vom Forscher vor dem Hinter-
grund seiner eigenen Praktiken verstanden werden.

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Kultureller Materialismus und Cultural Studies: Aspekte der
Kultur- und Medientheorie von Raymond Williams

Udo Göttlich

Das fortbestehende Interesse am Cultural Studies Approach im deutschsprachigen


Raum wird neben der Neuorientierung in der Populärkultur- und Medienanalyse
auch von der intellektuellen Erfolgsgeschichte getragen, die dieser Ansatz in den
anglo-amerikanischen Ländern zu verzeichnen hat.1 Die Hinwendung zum Cultural
Studies Approach innerhalb kultur- und mediensoziologischer Forschung führt dabei
zum Kontakt mit theoretischen und methodischen Konzepten, die in der Tradition
kultursoziologischer – aber auch kulturwissenschaftlicher – Forschung in dieser
Kombination bislang nicht anzutreffen waren, wobei manche Grundfragestellungen
durchaus Parallelen aufweisen.
Gegenstand der Cultural Studies seit den 1950er Jahren stellen mit unterschied-
licher Schwerpunktsetzung jugendliche Subkulturen, die Arbeiterklasse, das Erzie-
hungs- und Schulbildungssystem, die staatliche Macht, die populären Medien und in
einem immer stärkeren Maße die Medienkultur dar. Die mit diesen Gegenständen
verbundene Hinwendung zur Funktion und Rolle der (Populär-)Kultur in der Gegen-
wartskultur wirft nicht nur Fragen nach Wechselwirkungen mit der kulturwissen-
schaftlichen Forschung, sondern auch nach den einzelnen Entwicklungspunkten
innerhalb des Cultural Studies Approach selber auf, die die Besonderheit des Ansat-
zes in der Behandlung der Populär- und Medienkultur erklären helfen (vgl. Couldry
2000).
Die Besonderheiten der Cultural-Studies-Perspektive erklären sich zu einem
Teil aus der Situation der 1950er Jahre, in der eine Reihe noch junger Kultur- und
Literaturwissenschaftler eine Reorientierung in der Kulturanalyse unternahmen. Die
britischen Cultural Studies haben ihren Ursprung, wie Andrew Milner zusammen-
fassend herausstellt
„[…] in a very specific theoretical ‚conjuncture‘, that of the 1950s, in which cultural debate
had appeared deadlocked between the cruder economic determinisms of much Communist
Marxism and the seemingly endemic political conservatism and cultural elitism of the Lea-
94 Udo Göttlich
visites. The kind of cultural theory which emerged from that deadlock would eventually be
represented in post-structuralist retrospect as ‚culturalism‘, but is more acurately described as
‚left culturalism‘“ (Milner 1994: 45).
Die weitere Entwicklung der Cultural Studies seit diesem Zeitraum lässt sich im
Schnittpunkt von kulturalistischen und strukturalistischen Theorien verorten. Dabei
ist es nicht unwesentlich, dass das kulturalistische Standbein der Cultural Studies bis
in die Frühzeit der 1950er und 1960er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückreicht,
während die Aufnahme des strukturalistischen Paradigmas wesentlich erst in den
siebziger Jahren erfolgte. Bestimmen diese beiden Theoriestränge doch auch die
unter der Leitung Stuart Halls im Centre for Contemporary Cultural Studies in Bir-
mingham (CCCS) entwickelte Kulturtheorie, von der die zentralen Impulse in der
Alltags- und auch Populärkulturforschung seit Mitte der 1970er Jahre ausgingen.
Die Bedeutung des kulturalistischen Standbeins besteht vor allem darin, der für
die Cultural Studies typischen Perspektive auf die Alltags- und Populärkultur mit
einem neuen, erweiterten Kulturbegriff („culture as a whole way of life“) den Weg
geebnet zu haben, während das strukturalistische Paradigma seinen Anteil an der
Auffassung von der gesellschaftlichen bzw. kulturellen Wirklichkeitskonstruktion
hat. Beide Positionen weisen dabei in ihrer Entstehung einen deutlichen Bezug zum
westlichen Marxismus auf, der in den Folgejahren dann mit den Bezeichungen Kul-
turalismus und Strukturalismus vor allem für nachfolgende Generationen in den
Hintergrund getreten ist. Einen nicht unerheblichen Anteil daran trägt nach Milner
(2002) gerade Halls (1981) entscheidender Aufsatz über die soeben in ihren Grund-
linien bereits angesprochenen beiden grundlegenden Cultural-Studies-Paradigmen.
Für die Entwicklung der kulturalistischen Perspektive lassen sich nach der von
Hall in diesem Text frühzeitig bereits herausgearbeiteten Unterscheidung zwei Pha-
sen unterscheiden. Neben einer als „left-culturalism“ bezeichneten Phase der 1950er
und 1960er Jahre, in denen Personen wie Richard Hoggart, E.P. Thompson und Ray-
mond Williams eine zentrale Rolle spielen, sind die 1970er und 1980er Jahre durch
den auf Raymond Williams zurück gehenden Ansatz des „kulturellen Materialis-
mus“ bestimmt. Das Produkt dieser Phase bildet den Schwerpunkt der nachfolgen-
den Betrachtung, das hier einleitend in seiner Genese wie in seinen wesentlichen
Grenzziehungen diskutiert wird.
Bei der Aufnahme der strukturalistischen Perspektive ist eine vergleichbare Pha-
seneinteilung nicht so einfach, da zumindest in England eine Reihe von Querverbin-
dungen bzw. Überschneidungen mit der kulturalistischen bzw. marxistischen Posi-
tion bestehen, wie sie sich u.a. in der Rezeption Althussers und Gramscis zeigt.
Trotz der unterschiedlichen Entwicklungslinien in den 1970er und 1980er Jah-
ren kommt den kulturalistischen und strukturalistischen Strängen nach Hall bei der
Herausbildung der Cultural Studies dennoch eine gleich gewichtige Bedeutung bei.
Beide Stränge weisen auch für ihn eine Reihe von Überschneidungen auf, die sich
im Wesentlichen auf die Integration sprachtheoretischer Elemente in die Kultur-
theorie beziehen, wobei die Theoriebildung in beiden Strängen marxistisch orientiert
blieb, nicht ohne – und das ist eine weitere entscheidende Gemeinsamkeit – mit dem
Basis-Überbaumodell zu brechen. Maßgeblicher als diese Gemeinsamkeiten waren
Kultureller Materialismus und Cultural Studies 95

in den 1970er Jahren aber die Hauptunterscheidungspunkte beider Theoriekonzepte.


Während die kulturalistischen Ansätze die Erfahrungskategorie und kulturelle Pra-
xen in den Vordergrund stellten, stand in der strukturalistischen Perspektive die
Herausarbeitung der die Erfahrung leitenden bzw. determinierenden Strukturen im
Vordergrund, die erlauben, die Erfahrungskategorie u.a. von ideologiekritischer
Seite zu differenzieren.
Ein Hauptunterschied zwischen dem strukturalistischen und dem kulturalisti-
schen Paradigma lässt sich exemplarisch an der Gramsci-Rezeption und der Einbin-
dung des Hegemoniekonzepts verdeutlichen. Im strukturalistischen Paradigma
erscheint Hegemonie vornehmlich als ideologisches oder diskurstheoretisches Pro-
blemfeld. Im kulturalistischen Ansatz – etwa bei Williams – ist Hegemonie mate-
riell, d.h. als Prozess unterschiedlicher und in Beziehung miteinander stehender kul-
tureller Praxen konzipiert. Milner fasst den daraus resultierenden Unterschied für die
Analyse kultureller Prozesse folgendermaßen zusammen: „Hegemony as culture is a
matter of material production, reproduction and consumption, hegemony as structure
is a matter for textual decoding“ (Milner 1993: 81).
Die aus den Unterschieden und Gemeinsamkeiten ableitbaren Stärken und
Schwächen, die Hall in seinem Aufsatz aus den beiden Theoriesträngen herausarbei-
tet, dienen ihm zur Begründung einer theoretischen Konzeption, die in einer Zusam-
menführung bzw. wechselseitigen Ergänzung beider Perspektiven mündet. Die For-
schungsperspektive, die Hall entwickelt hat, hat u.a. den Anstoß für die Erforschung
der Bedeutungskonstruktion von Rezipienten im Umgang mit Medienangeboten
gegeben, wobei die Beziehung mit der Produktionsseite mit im Mittelpunkt des
Interesses stand. Halls Stellungnahme zum kulturalistischen und strukturalistischen
Paradigma lässt sich auch als vorausschauende Kritik an der amerikanischen Cul-
tural Studies Entwicklung der späten 1980er und frühen 1990er Jahre sehen, in der
diese unter vorwiegend (post)strukturalistischen Vorzeichen erfolgte, was Hall als
zu einseitig erachtet, denn „[…] neither ‚culturalism‘ nor ‚structuralism‘ is, in its
present manifestation, adequate to the task of constructing the study of culture as a
conceptually clarified and theoretically informed domain of study“ (Hall 1981: 30).
Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Entwicklungslinien des Cultural Stu-
dies Approach möchte ich nachfolgend der Frage nachgehen, welche Rolle das kul-
turalistische Paradigma, so wie es im Konzept des kulturellen Materialismus von
Williams weiterentwickelt wurde, in den Cultural Studies spielen kann.
Die Frage nach der Bedeutung des kulturalistischen Paradigmas ist besonders
nach Williams Tod 1988 in zahlreichen Publikationen diskutiert worden. Andrew
Milner hat zu diesem Thema zwei umfassende Monografien vorgelegt (vgl. Milner
1993 u. 2002), die den bis hier im Überblick dargestellten Verbindungspunkten und
Wechselwirkungen detailliert nachgehen und die Stellung von Williams Konzept
des kulturellen Materialismus für die weitere Theoriebildung in den Cultural Studies
heraus arbeiten2.
Der Rolle dieses Konzepts werde ich in diesem Beitrag allein an Hand der
medientheoretischen Implikationen nachgehen. Wegen der Fülle an Beziehungs-
punkten können bei weitem nicht alle berücksichtigt werden. Für weiter führende
96 Udo Göttlich

kulturtheoretische Aspekte des kulturellen Materialismus haben meine Ausführun-


gen daher nur einführenden Charakter in die Grundlinien von Williams‘ Konzept
des kulturellen Materialismus (vgl. ausführlicher Göttlich 1996 und mit Blick auf
die medientheoretischen Bezüge ebenfalls Göttlich 1997 u. 2003).
Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen also Verknüpfungsmöglichkeiten des kul-
turellen Materialismus mit medientheoretischen Grundfragen. Die dieser Auseinan-
dersetzung zugrundeliegende These lautet: In dem vielschichtigen Beziehungsge-
füge strukturalistischer und kulturalistischer Paradigmen erlaubt der Ansatz des kul-
turellen Materialismus die Überwindung einiger begrifflicher und theoretischer Ver-
kürzungen, die in den letzten Jahren wegen der beinahe ausschließlichen Konzentra-
tion auf strukturalistische Konzepte innerhalb der Cultural Studies aufgetreten sind
und die schließlich in dem Vorwurf des „kulturellen Populismus“ gipfelten.
Der von Jim McGuigan (1992) geäußerte Vorwurf des „kulturellen Populismus“
wendete sich dagegen, dass die auf pluralistische und individuelle Einstellungen
sowie Rezeptionsweisen zielenden Untersuchungen in den „audience studies“ die
Analyse ökonomischer, soziokultureller wie technologischer Faktoren gesellschaftli-
cher Entwicklung so gut wie ausgeblendet bzw. an die Seite gedrängt hatten. Es han-
delt sich um jene Beziehungen, die in Halls Modell noch selbstverständlich mitge-
dacht waren, dann aber in Folge theoretischer Vereinseitigungen nicht mehr ausrei-
chend Behandlung fanden. Innerhalb der medienwissenschaftlichen Orientierung der
Cultural Studies richtet sich diese Kritik vor allem gegen die Arbeiten John Fiskes
(vgl. u.a. Fiske 1989a u. 1989b), dem die Ausblendung der Produktionsseite des
Medienangebots und damit auch der Fragen, wie das Publikum produziert wird, vor-
wiegend angelastet wird.
Generell bezieht sich die Kritik auf die Problemstellung, wie das Beziehungsge-
füge kultureller Praxen theoretisch zu konzeptualisieren ist, so dass die Gegebenhei-
ten materieller kultureller Produktion, Konsumtion und Reproduktion zentraler
Gegenstand der Cultural Studies sind, ohne dass die notwendige Konzentration auf
Dekodierungs- und damit Rezeptionsfragen diese anspruchsvolle theoretische Kon-
zeption zu unterlaufen drohen, wie es in den Augen mancher Kritiker bereits ge-
schehen ist (vgl. Göttlich 2003). Mit dieser Kritik war nicht ausgesagt, dass die in
den Cultural Studies erfolgte Hinwendung zum Publikum in den „Audience Studies“
eine Fehlentwicklung darstellt. Das Gegenteil ist der Fall.
Die Kritik galt aber zu Recht der Tendenz, dass mit den vorwiegend (post)struk-
turalistischen Konzepten Gesellschaft analytisch in eine Reihe unvermittelter Ebe-
nen oder Bereiche aufgelöst wird (vgl. Curran 1996: 259). Der Vorwurf des „kul-
turellen Populismus“ richtete sich besonders gegen die damit verbundenen „entpoli-
tisierenden“ Konsequenzen der Theoriebildung, die nach Ansicht der Kritiker in
eine bloße Verdopplung individualistischer Reaktionsformen mündet, ohne weiter-
führende kultur- und gesellschaftstheoretische Fragen zu stellen (vgl. hierzu erneut
Couldry 2000: 44ff).
Vor diesem theoriegeschichtlichen Hintergrund versteht sich Williams‘ Konzept
des „kulturellen Materialismus“ als eine Theorie der Besonderheiten kultureller Pro-
duktion und Reproduktion, in deren Mittelpunkt die vernachlässigten Fragen nach
Kultureller Materialismus und Cultural Studies 97

dem Zusammenhang des Kulturprozesses stehen, die u.a. auf Formen materieller
gesellschaftlicher sowie kultureller Symbol- oder Zeichenpraxis ruhen bzw. von die-
sen Prozessen ihren Ausgang nehmen. Ähnlich wie im Strukturalismus und Post-
strukturalismus ist auch bei Williams die Sprache Ausgangs- und Bezugspunkt der
kulturwissenschaftlichen Reflexion und dient einer Veranschaulichung des Verhält-
nisses bzw. der Relationen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereiche. Kul-
turanalyse wird von Williams als die Analyse von „Beziehungsmustern“ („patterns
of relationship“) eines prozessualen Zusammenhangs konzipiert, der auf unter-
schiedlichen Formen gesellschaftlicher, kultureller und damit materieller „Symbol-
oder Zeichenpraxis“ („signifying practice“) ruht.
Gegenüber strukturalistischen Positionen wird Kultur konsequent als materialis-
tischer Prozess verstanden, wobei Sprache als praktisches Bewusstsein gilt, wozu
die unterschiedlichen technischen und materiellen Gegebenheiten von „Aufschrei-
besystemen“ hinzukommen, in denen sich Sprache sozusagen in unterschiedlichen
Formen materialisiert (vgl. dazu Williams 1980: 243). Im Zentrum der Auf-
merksamkeit steht somit der in Institutionen, Organisationen und kulturellen Forma-
tionen ablaufende Gesellschaftsprozess, der zur Herausbildung unterschiedlicher
Formen gesellschaftlicher und kultureller „Symbol- oder Zeichenpraxis“ („signi-
fying practice“) führt, wobei Kultur nun ganz allgemein als „signifying system“ –
also Bedeutungssystem – verstanden wird. Diese Kulturauffassung ist das Ergebnis
einer Reformulierung der die Cultural Studies-Entwicklung mitbegründenden Kul-
turbegrifflichkeit.
Als entscheidendes Ergebnis der kulturalistischen Perspektive aus den 1950er
Jahren – die zentral mit Williams‘ Arbeiten „Culture and Society“ (1958) und „The
Long Revolution“ (1961) verbunden ist – gilt, dass ‚Kultur‘ nicht als „abstraktes
Ideal“ oder als „Korpus geistiger und imaginativer Werke“ begriffen wird, sondern
vielmehr als „whole way of life“ – der durchaus klassenbedingt ist – verstanden
wurde. Kultur steht damit nicht, wie in der romantischen oder konservativen Kul-
turauffassung der Gesellschaft oder der Industrie als separate Sphäre – oder wie im
traditionellen Marxismus, als über Produktionsweisen ausgegrenzte Sphäre – gegen-
über.
Sucht man in der Behandlung dieser Frage nach Gemeinsamkeiten in der
Genese von Cultural Studies und Kultursoziologie, dann können sie darin gesehen
werden, dass beide „Traditionen“ in den exemplarischen Personen von Herder und
Coleridge eine literaturkritisch begründete Annäherung an das Verhältnis von Kultur
und Gesellschaft auszeichnet, bei der die Kultur antithetisch den Kräften der Indu-
strialisierung und der materiellen Zivilisation gegenüber gestellt wird.
Während diese Denktradition in Deutschland über Tönnies und Weber in die
Soziologie mündete und in Konzepten wie Gemeinschaft und Gesellschaft oder
Wertrationalität und Zweckrationalität fortentwickelt und differenziert wurde, blieb
sie in England bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein der akade-
mischen Tradition der English Studies, also der Literaturwissenschaft, verbunden.
Die für die Cultural Studies-Genese wichtige Umorientierung der 1950er Jahre
geschah durch eine Kritik der kulturkonservativen Position von F.R. Leavis, der die
98 Udo Göttlich

„literarische“ Tradition mit ihrem kulturkonservativen Konzept u.a. mit der Zeit-
schrift Scrutiny vertrat, und in einer Kritik der vulgärmarxistischen Vorstellung, die
in ökonomischen Determinismus am Nachhaltigsten zum Ausdruck kam. Vor die-
sem theoriegeschichtlichen Hintergrund zielt Williams mit seiner am Ausgangs-
punkt der Cultural Studies Entwicklung stehenden Perspektive auf eine, wie er sel-
ber definiert:
„[…] gesellschaftliche Bestimmung der Kultur, in der diese als Beschreibung einer be-
stimmten Lebensweise erscheint, deren Werte sich nicht nur in Kunst und Erziehung aus-
drücken, sondern auch in Institutionen und im ganz gewöhnlichen Verhalten. Demnach hätte
eine Analyse von Kultur eine Klärung der Bedeutungen und Werte zu besorgen, die von einer
bestimmten Lebensweise, einer bestimmten Kultur implizit oder explizit verkörpert werden.“
(Williams 1977b: 45)
Der in den 1970er Jahren von Williams formulierte Ansatz des kulturellen Materia-
lismus, baut auf das Erreichte dieser Frühphase auf, geht aber an entscheidenden
theoretischen Stellen über den damaligen Lösungsansatz zur Bestimmung des
Zusammenhangs gesellschaftlicher und kultureller Strukturen hinaus und beschreitet
damit auch einen von den Cultural Studies des mittlerweile geschlossenen Birming-
hamer Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) unterscheidbaren Weg;
neben einer Reihe fortbestehender Gemeinsamkeiten (vgl. bes. Williams 1977a u.
1981). Insbesondere findet in Williams Ansatz die marxsche Basis-Überbaukonzep-
tion eine eigenständige theoretische Überwindung bzw. Reformulierung, ohne dass
er dazu auf strukturalistische Konzeptionen eingeht, wie sie die meisten Cultural
Studies-Vertreter u.a. im CCCS verfolgt haben.
Im gewissen Sinne zielte der kulturelle Materialismus zunächst auf das, was seit
den 1970er Jahren auch in anderen Reformulierungsversuchen der materialistischen
Theoriebildung mit Blick auf die Kultur- und Gesellschaftsanalyse versucht wurde:
die „Konstruktion einer angemessenen Theorie des sozialen Raums“ (Bourdieu
1985: 9). Und diese erzwang geradezu eine Überwindung des nicht umsonst schon
lange in der Kritik stehenden marxistischen Basis/Überbaumodells, dass kulturelle
Phänomene zu einer abgeleiteten bzw. determinierten Größe machte. Die für die
zahlreichen Reformulierungsversuche der materialistischen Theoriebildung ent-
scheidenden Ausgangspunkte zu einer solchen Theorie lassen sich an Hand von
Bourdieus zu Beginn der 1980er Jahre erhobenen Forderungen an die materialisti-
sche Theoriebildung im Überblick erfassen. Nach Bourdieu geht es um vier Brüche,
die die unterschiedlichen, mit der Reformulierung der marxschen Theorie befassten
Ansätze bei der „Konstruktion einer angemessenen Theorie des sozialen Raums“
(ebd.) auf ihre Art mehr oder weniger umfassend verfolgt und umgesetzt haben. Es
handelte sich zunächst um einen Bruch
„[…] mit der tendenziellen Privilegierung der Substanzen – im vorliegenden Fall die realen
Gruppen, deren Stärke, Mitglieder, Grenzen man zu bestimmen sucht – auf Kosten der Relati-
onen; Bruch aber auch mit der intellektualistischen Illusion, als bilde die vom Wissenschaftler
entworfene theoretische Klasse eine reale Klasse oder tatsächlich mobilisierte Gruppe; Bruch
sodann mit dem Ökonomismus, der das Feld des Sozialen, einen mehrdimensionalen Raum,
auf das Feld des Ökonomischen verkürzt, auf ökonomische Produktionsverhältnisse, die
damit zu den Koordinaten der sozialen Position werden; Bruch schließlich mit dem Objekti-
Kultureller Materialismus und Cultural Studies 99
vismus, der, parallel zum Intellektualismus, die symbolischen Auseinandersetzungen und
Kämpfe unterschlägt, die innerhalb der verschiedenen Felder ausgetragen werden und in
denen es neben der Repräsentation der sozialen Welt um die Rangfolge innerhalb jedes ein-
zelnen Feldes wie deren Gesamtheit geht.“ (Bourdieu 1985: 9, Herv. i.O.)
Zur Begründung einer solchen anspruchsvollen kulturtheoretischen Konzeption geht
Williams von der Rolle der Sprache im gesellschaftlichen und kulturellen Prozess
aus. Der erweiterte Kulturbegriff, mit dem Kultur als „whole way of life“ verstanden
wurde, verändert sich damit – wie dargelegt – zu einer Kulturauffassung, in der Kul-
tur schließlich als „signifying system“ – als Bedeutungssystem – aufgefasst wird. Zu
diesem Schritt heißt es bei Williams:
„Thus the distinction of culture, in the broadest or in the narrowest sense, as a realized signi-
fying system, is meant not only to make room for study of manifestly signifying institutions,
practices and works, but by this emphasis to activate study of the relations between these and
other institutions, practices and work“ (Williams 198: 208f.).
Dabei erscheint es nur konsequent, wenn Williams zur Begründung dieses Schritts
zu Beginn der siebziger Jahre an den damals verstärkt in der Diskussion stehenden
Ansatz von Voloinov anschließt. Williams verfolgt mit seiner Anlehnung an Volo-
inov eine bereits von Marx getroffene Feststellung, dass Sprache „das praktische,
auch für andre [sic!] Menschen existierende, also auch für mich selbst existierende
wirkliche Bewusstsein […]“ ist (MEW 3: 30). Ausgehend von dieser Bestimmung
gilt Sprache für Williams als ein konstitutives Element der menschlichen, sprich
materiellen (sozialen) Produktion und Reproduktion und tritt damit gleichrangig
neben die ökonomischen Faktoren gesellschaftlicher Reproduktion. Zusammenfas-
send heißt es dazu bei Williams:
„Signification, the social creation of meanings through the use of formal signs, is then a prac-
tical material activity; it is indeed, literally, a means of production. It is a specific form of that
practical consciousness which is inseparable from all social material activity. […] It is, on the
contrary, at once a distinctive material process – the making of signs – and, in the central qua-
lity of its distinctiveness as practical consciousness, is involved from the beginning in all
other human social and material activity.“ (Williams 1977a: 38, Hervorh. i.O.)
In dieser Formulierung treffen wir zugleich auch auf die nachhaltige Begründung
zur Überwindung des Basis/Überbaukonzepts. In Williams‘ Konzeption sind kul-
turelle Praxen – und zu diesen gehören danach auch Zeichensysteme – entschei-
dende Elemente der gesellschaftlichen Ordnung und nicht in irgendeiner Form von
der ökonomischen Basis determinierte oder abgeleitete Erscheinungen. Zu dieser
Konzeption führt er genauer aus:
„ […] ‚cultural practice‘ and ‚cultural production‘ […] are not simply derived from an other-
wise constituted social order but are themselves major elements in its constitution […] it sees
culture as the signifying system through which necessarily […] a social order is communica-
ted, reproduced, experienced and explored.“ (Williams 1981: 12-13, Hervorh. i.O.)
Die Annahme einer Materialität von Zeichen bedeutet demnach, dass Zeichen als
Teil dieser gesellschaftlich vermittelten psychischen und materiellen Welt verstan-
den werden können, womit diese nicht voraussetzungslos als Teil dieser Realität
vorliegen. Ein gesellschaftlich und kulturell ablaufender aktiver Bedeutungsprozess
100 Udo Göttlich

macht sie erst zu einem entscheidenden Faktor gesellschaftlicher Produktion und


Reproduktion. Dazu heißt es bei Williams:
„It is precisely the sense of language as an indissoluble element of human self-creation that
gives any acceptable meaning to its description as ‚constitutive‘. To make it precede all other
connected activities is to claim something quite different. The idea of language as constitutive
is always in danger of this kind of reduction.“ (Williams 1977a: 29)
Voloinovs Stärke liegt für Williams zu der Zeit besonders darin, dass er das
Sprachproblem in einer marxistischen Orientierung durchdacht hat und nicht darin,
dass er marxsche Konzepte zur Lösung sprachphilosophischer Probleme angewandt
hat. Die mit dieser Konzeption erfolgte Grenzziehung bzw. beabsichtigte Überwin-
dung Saussures bzw. des „abstrakten Objektivismus“ kann ich an dieser Stelle leider
nicht vertiefend ausführen.
Wichtig für die medientheoretischen Leistung des kulturellen Materialismus ist,
dass Sprache als konstitutives Element materieller sozialer Praxis gefasst werden
kann, womit die für die Theoriebildung grundlegende Auffassung von der Materiali-
tät kultureller Produktion gestützt wird (vgl. auch Milner 1994: 58f.). Medien- und
kulturtheoretisch zentral an diesem Schritt ist, dass über die Sprache die soziale und
kulturelle Praxis oder „Verständigungspraxis“ in den Mittelpunkt der u.a. auf Insti-
tutionen und die Rolle der Medien(technik) bezogenen Überlegungen gestellt wer-
den kann. Die Möglichkeit dazu ergibt sich über die im Konzept des kulturellen
Materialismus angelegte Konzentration auf die Trias von Technik, sozialen Instituti-
onen und Sprache resp. Kommunikation als materielle Organisationsform spezifi-
scher Zeichensysteme.
Von dieser Feststellung ausgehend ergeben sich dann auch die weiter führenden
medientheoretisch relevanten Schritte des kulturellen Materialismus. Denn die
Wahrnehmung der Kultur – im weiteren als auch im engeren Sinne – als Bedeu-
tungssystem (oder Zeichensystem) bereitet nicht nur Platz für das Studium bereits
bestehender Bedeutungsinstitutionen, Praktiken und Arbeiten, sondern soll auch das
Studium der Beziehung zwischen diesen und anderen Institutionen, Praxen und
Arbeiten sowie Formen und Genres ermöglichen (vgl. Williams 1981: 208).
Die an Hand von Voloinov nachvollzogene Ableitung der Materialität der
Sprache setzt Williams in der Reformulierung seines Kulturbegriffs gezielt zur theo-
retischen Profilierung der medientheoretisch relevanten Bestimmung der Sprache als
Produktionsmittel ein. Damit sind wir bei dem Ausgangspunkt seiner Theoriebil-
dung angekommen, von dem ausgehend er schließlich auch die Kommunikations-
mittel als Produktionsmittel auffasst. Die grundsätzliche kultur- und medientheoreti-
sche Fragestellung, auf die der kulturelle Materialismus eine Antwort versucht, lässt
sich folgendermaßen umschreiben:
Es geht um die Erforschung von spezifischen Informations- und Bedeutungspro-
zessen und deren Entwicklung zu institutionalisierten Informations- oder Kommuni-
kationssystemen (z.B. der Werbung), die aus Veränderungen in der Gesellschaft und
der Ökonomie erklärt werden soll, wozu besonders die Analyse der inhaltlichen
Seite gehört, deren Veränderung und Entwicklung aus unterschiedlichen organisa-
torischen Anforderungen sowie wechselnden Interessenlagen verstanden werden
Kultureller Materialismus und Cultural Studies 101

kann. Ausdrücklich ist das eine historische, wie eine auf die Erfassung gegenwärti-
ger kultureller wie gesellschaftlicher Prozesse gerichtete Aufgabe.
Die Frage der gesellschaftlichen Reproduktion wird durch diesen Schritt jedoch
überwiegend auf die symbolvermittelte Ebene der Kultur und der an ihrer Entste-
hung beteiligten materiellen Aspekte verlagert. Das Schwergewicht der Untersu-
chung wird vorwiegend auf jene Prozesse gelenkt, in denen Medien neue Beziehun-
gen zwischen unterschiedlichen Sozial- und Kulturbereichen stiften und neue Hand-
lungsformen und Interaktionsweisen von Individuen begründen helfen.
Ein Nachteil dieser Art der Theoriebildung besteht darin, dass die im Bereich
der gesellschaftlichen Arbeit angesiedelten Produktivkräfte und Produktionsmittel
nicht weiter in ihrer Rolle für die gesellschaftliche Reproduktion erfasst werden. Das
muss für einen kulturtheoretischen Zugang zunächst keine Einschränkung bedeuten.
Wenn aber Kommunikationstechniken und Sprache gleichermaßen als produktive
Faktoren verstanden werden sollen, bedarf es doch einer deutlicheren Unterschei-
dung der an der gesellschaftlichen Reproduktion beteiligten Produktivkräfte.
Williams umgeht diese Problemstellung, indem er die von ihm berührten Ele-
mente gesellschaftlicher und kultureller Reproduktion – wie gesagt – auf ihrer
Beziehungsebene thematisiert und nicht die Frage gesellschaftlicher Reproduktion
von der Rolle der Produktivkraftentwicklung aus verfolgt. Diese Stufe wird viel-
mehr sogar als gegeben vorausgesetzt. Die gesellschaftlichen und kulturellen Verän-
derungen, die auf einen Wandel der Produktionsverhältnisse zurück geführt werden
können, thematisiert und verfolgt Williams daher auch nur auf der Beziehungsebene.
Eine solche Konzeption hat entscheidende Konsequenzen für den Medienbegriff
und die Formulierung einer kritischen Medientheorie, die im kulturellen Materialis-
mus mit angelegt ist. Zur Annäherung an die Problemstellung sollte man sich fol-
gende Entwicklung der Massenkommunikation vor Augen führen.
Schon jetzt hat sich die Massenkommunikation als Folge der Kanal- und Sen-
dervermehrung derart verändert, dass das Hantieren mit fiktionalen Konstruktionen
im Vordergrund des medientheoretischen Interesses steht. Traditionelle wirkungs-
theoretische Annahmen stoßen damit bereits dort an ihre Grenzen, wo – wie nicht
zuletzt das Konzept der Polysemie aufzeigt – nicht mehr der Text oder die Bot-
schaft, sondern der Kontext über Bedeutungen entscheidet, in der der Rezipient
seine Bedeutungszuschreibungen vornimmt.
Massenkommunikation verändert sich darüber hinaus mit der schrittweisen
Herausbildung „entgrenzter Medien“ (vgl. Schulze 1995: 364), womit sich eigene
„Medienrealitäten“ bilden, die in der Alltagskultur gegenüber Bereichen unmedia-
tisierter Erfahrung immer bedeutender werden. Mit dem Übergang zu „entgrenzten
Medien“ deutet sich am offensichtlichsten die Auflösung dessen an, was wir unter
Kanal verstehen. Mit der gleichzeitigen Hinwendung zum aktiven Zuschauer kommt
verstärkt die kulturelle Alltagspraxis der Medienaneignung und Bedeutungskon-
struktion in den Blickpunkt. Das für das Verständnis der ‚Medienkultur‘ notwendige
Wechselverhältnis zwischen kultureller Formiertheit der Medien und deren Rolle in
der gesellschaftlichen Kommunikation wird in den bekannten Medienbegriffen auf
Grund begrifflicher Schwächen dabei nur unzureichend thematisiert, selbst da, wo es
102 Udo Göttlich

als existent angenommen wird und sogar im Blickfeld der Theorie steht. Dabei ist es
gerade dieses Verhältnis, was sich im aktuellen Medienwandel qualitativ ändert.
Williams‘ von der Sprache als anthropologischer wie gesellschaftlicher Voraus-
setzung ausgehende kultur- und medientheoretische Ansatz erlaubt es nun, ein zur
genaueren Beschreibung dieser Entwicklung neues Medienverständnis zu formu-
lieren, in dem ‚Medien‘ als Ausdruck und Durchgangspunkt des sich wandelnden
praktischen Bewusstseins gelten. Diesen Schluss hat Williams in seinen Arbeiten
begrifflich zwar nicht gezogen, folgern lässt er sich aber aus seinem Ansatz. Ver-
deutlichen lässt sich das vor allem an den Stellen, an denen der aktive Prozess der
Beziehungsstiftung zwischen unterschiedlichen Sozial- und Kulturbereichen im Mit-
telpunkt des Interesses steht und der Aspekt bzw. Prozess der Herausbildung neuer
Handlungs- und Informationsweisen besondere Aufmerksamkeit erfährt. Folgende
Textstelle, die Williams auf die Rolle der Sprache bezieht, deren Gehalt sich aber
von der Betrachtung der Sprache abheben und auf Medien übertragen lässt, bringt
diese Vorstellung besonders deutlich zum Ausdruck:
„A new technique has often been seen, realistically, as a new relationship, or as depending on
a new relationship. Thus what had been isolated as a medium, in many ways rightly as a way
of emphasising the material production which any art must be, came to be seen, inevitably, as
social practice; or, in the crisis of modern cultural production, as a crisis of social practice.
[…] For it is at once a material practice and a process in which many complex activities, of a
less manifestly material kind – from information to interaction, from representation to ima-
gination and from abstract thought to immediate emotion – are specifically realized.“ (Wil-
liams 1977a: 163f.)
Medien sind damit keine bloßen Kanäle mit der Aufgabe, Funktion oder Rolle
gesellschaftlicher Reproduktion, sondern Praxiszusammenhänge, in und über die die
soziale Reproduktion durch Kommunikation und kulturelle Bedeutungsprozesse
„vermittelt“ ist. Medien sind im weiteren damit auch keine Objekte oder Artefakte,
an denen und mit denen sich soziale Praxis vollzieht. Medien sind vielmehr selbst
Ausdruck praktischen Bewusstseins und formieren als Durchgangspunkte und damit
eben nicht als Kreuzungspunkte sozialer und kultureller Praxen und deren Vermitt-
lung. Medien sind damit mehr „[…] than new technologies, in the limited sense.
They are means of production, developed in direct if complex relations with pro-
foundly changing and extending social and cultural relationships: changes elsewhere
recognizable as deep political and economic transformations“ (Williams 1977a: 54).
Für die Analyse gegenwärtiger Entwicklungen ergibt sich aus dieser Konzeption
unter anderem folgende historische Aufgabenstellung:
„The complex relationship […] needs specifically historical exploration, for it is in the move-
ment from the production of language by human physical resource alone, through the material
history of the production of other resources and of the problems of both technology and nota-
tion then involved in them, to the active social history of the complex of communicative sys-
tems which are now so important a part of the material productive process itself, that the
dynamics of social language – its development of new means of production within a basic
means of production – must be found.“ (Williams 1977a: 41)
Verglichen mit strukturalistischen Konzeptionen, von denen sich der kulturelle
Materialismus abhebt, sind es keine Diskurse, die Williams in seiner Theoriebildung
Kultureller Materialismus und Cultural Studies 103

interessieren, sondern Formationen, in denen u.a. Diskurse (ent)stehen, aber nicht


Formationen, die durch Diskurse entstehen. Diese Trennung oder Unterscheidung zu
poststrukturalistischen Konzeptionen scheint mir nicht unwesentlich, weil sie wei-
terhin von der Materialität des gesellschaftlichen und kulturellen Prozesses auszuge-
hen erlaubt und den Kultur- mit dem Strukturblick auf eigenständige Art verbindet
(vgl. Bauer 2003). Es geht Williams um Materialität, die – wie man gegenüber dem
Poststrukturalismus argumentieren muss –, vordiskursiv besteht und Bestand hat und
von der auch Diskurse nicht unabhängig sind, da sie an Strukturen gesellschaftlicher
Reproduktion zurück gebunden sind, auch wenn diese nur auf der Beziehungsebene
und nicht mehr im engeren marxistischen Sinne von der Seite der Produktivkraftent-
wicklung verfolgt werden.
In der Herausarbeitung und Betonung der Beziehungsebene und von (kontextge-
bundenen) Relationen – angefangen bei der Rolle und Stellung der Medientechnik
über die Ökonomie und die Institutionen und Organisatioen – sehe ich die zentrale
Bedeutung des kulturellen Materialismus für die medienwissenschaftliche
Orientierung innerhalb der Cultural Studies. U. a. wird es so möglich, die Perspekti-
ven, die beinahe ausschließlich nur noch das Text/Leser Verhältnis beachten, auf
spezifische Art in die kultur- und medientheoretische Reflexion zurück zu binden, in
der sie auf Teile eines komplizierten Beziehungsgefüges eingehen, das auf die mate-
rialistische Ebene zu beziehen ist, um medientheoretische Ansprüche umfassend ein-
lösen zu können.
So wäre z.B. nachhaltiger als bislang in den Cultural Studies geschehen zu klä-
ren, wie Texte im kulturellen Produktionszusammenhang entstehen und wie sich das
Publikum durch die Institutionen gesellschaftlicher Kommunikation formiert bzw.
produziert wird und welchem Wandel Publikumsgruppen zu unterschiedlichen
Zeiten unterliegen. Die Cultural Studies müssen eine Möglichkeit findet, die ‚Enko-
dierungsfrage‘ wieder stärker in das Blickfeld zu bekommen und diese dann auf
neue Art mit der ‚Decodierungsfrage‘ zu verknüpfen. In Halls grundlegendem Auf-
satz „Encoding/Decoding“ (Hall 1980) sind beide Seite noch gleich gewichtig
genannt. Die Entwicklung der Cultural Studies hat sich seitdem aber stärker auf das
„Decoding-Problem“ konzentriert.
Diese von mir in Anschluss an Williams‘ Überlegungen vorgeschlagene kultur-
wissenschaftliche Ausrichtung des Medienbegriffs bedeutet nun nicht, das der
Medienbegriff aufgelöst wird und nur noch die kulturellen Praxen oder Zeichensys-
teme in ihrer Verbindung mit Techniken im Vordergrund stehen. Vielmehr geht es
darum, deutlicher als bislang in den Cultural Studies herausarbeiten zu können, dass
die spezifischen „Eigenschaften“ der unterschiedlichen Medien und ihre Technolo-
gie im Zusammenhang zu sehen sind mit den besonderen historischen und kulturel-
len Umständen und Absichten und Interessen, die in Institutionen und Formationen
gestützt und ausgebildet werden (vgl. Göttlich 2003).
Was dieser Medienbegriff oder besser dieses Verständnis von Medien als
Durchgangspunkte sozialer Praxis für die Formulierung einer kritischen
Medientheorie bedeutet, kann ich an dieser Stelle nicht im einzelnen ausführen (vgl.
dazu Göttlich 1996, 2004). Statt dessen kann ich nur einen ersten Überblick über die
104 Udo Göttlich

mit dieser Konzeption möglich gewordenen Orientierung bieten: Die Quintessenz


dieses Ansatzes besteht vereinfacht gesprochen darin, gesellschaftliche Kommunika-
tion, den Einsatz der Kommunikationstechnologien und die Zeichensysteme deutli-
cher als in Ansätzen, die etwa dem strukturalistischen Paradigma folgen, als soziale
und kulturelle Praxen auffassen zu können, die in spezifischer, d.h. gesellschaftli-
cher, ökonomischer, generell in materieller Relation miteinander stehen.
Damit gilt es die Praxismomente, die dieses Verhältnis regeln, selbst schon als
bedeutungsformierend zu erfassen. Der ‚Kanal‘ selber ist schon kulturell geprägt
und diese kulturelle bzw. materielle Prägung wirkt in die Kommunikation zurück,
bzw. ist ebenfalls diskursformierend. Aber Diskurse formieren an dieser Stelle
keineswegs die Materialität der Medien, die dem hier erarbeiteten Verständnis nach
keineswegs nur technisch ist.
Als vorrangiges Aufgabenfeld einer – folgt man Williams – so verstandenen
„Medienforschung“ ergibt sich, dass diese
„[…] [is] necessarily concerned, in historical and materialist ways, with the specific technolo-
gies which are now their dominant forms, but with these technologies as systems of signs and
not an abstracted technical level. Moreover, since at this level the technologies are necessarily
seen as new and advanced forms of social organisation, there is a basis for reworking not only
the analysis of content (which is always a content of relationships) but also the analysis of
institutions and formations (which are never independent […].“ (Williams 1976a: 505)
Für eine kritische Medientheorie stellt sich im Forschungsprozess dann u.a. folgen-
der Zusammenhang dar, den es analytisch in seinen einzelnen Beziehungsebenen zu
erfassen gilt: Das institutionell geregelte und vermittelte alltagskulturelle Hand-
lungsfeld, die „popular culture of everyday life“ ist einer der Orte, an dem die
Bedingungen des Medieneinsatzes neben den institutionellen Orten der Produktion
ausgehandelt und gestiftet werden. Mit Blick auf dieses Wechselverhältnis ergibt
sich die Möglichkeit zur institutionellen Kritik, die auf eine Rückgewinnung ent-
fremdeter Praxis- und Handlungsfelder im Sinne eines emanzipativen Medieneinsat-
zes zielt. Ausgangspunkt dafür wäre eine Analyse des fortschreitenden Rationa-
lisierungsprozesses der neuen ‚Technokultur‘, wobei sich der Blick auf die unter-
schiedlichen Integrationsweisen und Entwicklungsformen der Medientechnik in das
institutionelle Gefüge der Gesellschaft und in die Alltagskultur zu richten hat. Allge-
mein gesprochen verweist diese Perspektive darauf, dass der Kultur- und
Mediensektor im Spannungsfeld von gesellschaftlichen Rationalisierungszwängen
gegenüber Prozessen kultureller Differenzierung und Pluralisierung zu verorten ist.
Der aktuell im Mittelpunkt der Diskussionen stehende Medienkulturbegriff wäre
um diese Einsicht zu erweitern, damit er in der notwendigen Behandlung der Verän-
derung von Wirklichkeitsmodellen auch den Hintergrund gesellschaftlicher Macht-
und Herrschaftsverhältnisse, die praxisrelevant sind, mit in den Blick bekommt bzw.
im Blickfeld hält. Dies wäre eine Voraussetzung zur Erfassung der auf Grund des
Medienwandels veränderte Verbindung zwischen Kultur und Kommunikation, die
der Medienkulturbegriff als Hauptziel verfolgt, die aber erst ein am Medienbegriff
des kulturellen Materialismus orientiertes Medienverständnis einzulösen erlaubt. Zu
vermitteln wäre der Medienkulturbegriff dazu mit aktuellen Fragen und Problemen
Kultureller Materialismus und Cultural Studies 105

Kritischer Theorie, die im Begriff „reflexiver Modernisierung“ von Beck oder in der
Theorie von Giddens ihren Ausdruck finden, aber in der Medientheorie noch nicht
weiter verfolgt oder gar nutzbar gemacht wurden. Ein Stichwort dazu: Medien als
Momente und Instanzen der Selbstkritik moderner Gesellschaften.
Ich denke, eine solche Perspektive oder Kritik braucht ein neues Medienver-
ständnis, das handlungs- wie strukturtheoretische Fragen bündeln und aufeinander
beziehen kann und gleichermaßen im Blick hat. Die Auffassung von Medien als
Durchgangspunkte bzw. dieser Durchgänge als „Beziehungsebenen“ sozialer und
kultureller Praxis, in denen sich Struktur und Handlung treffen, kommt dieser For-
derung entgegen.
Abschließend sollen noch einmal kurz einige Gemeinsamkeiten bzw. Unter-
schiede mit den strukturalistischen und poststrukturalistischen Theorien beleuchtet
werden. Ausgehend von der weiter oben geschilderten sprachtheoretischen Schwer-
punktsetzung lässt sich Williams‘ Ansatz durchaus auch als ein spezifischer Vermitt-
lungsversuch des kulturalistischen mit dem strukturalistischen in Sonderheit semi-
ologischen Paradigmas erkennen. Entscheidend ist aber, dass es zu einer spezifisch
materialistisch orientierten Verbindung der beiden Paradigmen kommt. Williams
Abwendung von und seine Kritik des marxistischen Strukturalismus macht deutlich,
dass der Marxismus für ihn mit der Grundfrage des Zusammenhangs von sozialem
Sein und Bewusstsein verknüpft ist. Konkret geht es um die Erforschung gesell-
schaftlicher Bedeutungs- und Kommunikationsprozesse, die mit Blick auf die ihre
Form prägenden sozialen und kulturellen Relationen erklärt werden sollen. Williams
kultureller Materialismus erlaubt es damit eher, die Materialität bzw. die materiellen
Voraussetzungen des kulturellen Lebens herauszuarbeiten, als es die poststruktura-
listischen Diskurstheorien erlauben würden, die nur untergründig von der Materiali-
tät kultureller Zeichenprozesse und von Diskursen ausgehen.
Der Hauptunterscheidungspunkt zwischen Williams und (post)strukturalisti-
schen Ansätzen kann in der Verteidigung des humanistischen Standortes gesehen
werden. Gegenüber Aspekten und Konzepten der Mikropolitik hat Williams mit
seinem Ansatz dezidiert die Problemstellung gesellschaftlicher und kultureller Tota-
lität in den Mittelpunkt seiner Anstrengungen gestellt. Ein Hauptunterschied zwi-
schen Williams und dem Poststrukturalismus kommt nicht von ungefähr bereits in
einem seiner Buchtitel zum Ausdruck, der sein theoretisches Programm nach außen
trägt: „The Long Revolution“. Dieses implizit demokratietheoretisch begründete
Konzept betont mit Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen der letz-
ten 150 Jahre die Möglichkeit zur Makropolitik gegenüber den poststrukturalisti-
schen Konzepten der Differenz und der Mikropolitik. Letzteren Konzepten ver-
schließt sich Williams Ansatz dabei noch nicht einmal; er bindet sie theoretisch aber
anders ein.
Wie man sieht, gibt es an zahlreichen Stellen trotz unterschiedlicher theoreti-
scher Ausgangspunkte spezifische Überschneidungen, die sich für eine zukünftige
theoretische Orientierung nutzbar machen lassen sollte. In diesem Text konnte ich
dabei nur eine auf kultur- und medientheoretische Grundfragen gerichtete Betrach-
106 Udo Göttlich

tung vorlegen, die auf eine praxistheoretische Wende in der Medien- und Kommuni-
kationsforschung zielen.

Anmerkungen

1 Der Text wurde für diese dritte Auflage durchgesehen und mit Verweisen auf aktuelle
Publikationen zum kulturellen Materialismus ergänzt.
2 Eine frühe Auseinandersetzung mit dem Konzept des kulturellen Materialismus findet
sich bei Neale (1984). Was die Aufnahem des kulturellen Materialismus in Deutschland
angeht, so ist auf zwei Beiträgen von Klaus (1983 u. 1993) zu verweisen. Unterschiedli-
chen Fragen des kulturellen Materialismus gehen die in dem Sammelband von Prender-
gast (1995) vorgelegten Beiträge nach.

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Doing Material Culture. Soziale Praxis als Ausgangspunkt
einer ‚realistischen‘ Kulturanalyse

Karl H. Hörning & Julia Reuter

1 Vorbemerkung

Kulturanalysen werden immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, sich zu sehr
mit Sinn, Deutung und Symbolik zu beschäftigen und dabei die ‚Realien‘ des
Lebens zu vergessen. Diese Kontroverse wollen wir im Folgenden aufnehmen und
sie mit Hilfe eines Begriffs der sozialen Praxis in eine Richtung lenken, die die Ver-
kürzungen und Ausblendungen praxisblinder Kulturanalysen zu vermeiden hilft.

2 Kultur und soziale Praxis

In den Sozialwissenschaften richten sich Kulturtheorien im Allgemeinen auf die


Erschließung der sinnhaften Dimension des Sozialen. Der Begriff der ‚Kultur‘ dient
dabei sowohl zur Bezeichnung von Ensembles gemeinsamer Deutungen und Inter-
pretationen, die ihren Ausdruck in typischen Symbolen, Semantiken und Deutungs-
mustern finden, als auch zur Bezeichnung sinnhafter Praktiken, die in einer gege-
benen sozialen Welt anzutreffen sind. Häufig unklar bleibt das Verhältnis von Sinn
und Praxis. Dann erscheint die soziale Welt allzu leicht als ‚Text‘, als Muster von
Zeichen und Regeln oder als symbolisch strukturierte Kommunikations- und Dis-
kurssysteme, in der die sozialen Praktiken der Gesellschaftsmitglieder kulturell vor-
bestimmt und gerade nicht als kreative Hervorbringungsweisen eben dieser kulturel-
len Sinn- und Bedeutungsmuster in den Blick kommen.
Dieses Problem lässt sich besonders klar am Beispiel der bis in die späten
1980er Jahre weithin vorherrschenden und unangefochtenen Kulturtheorie, der
„Symbolischen Anthropologie“ von Clifford Geertz verdeutlichen, deren zentrales
Interesse auf Fragen der Bedeutung, der Symbolik und der Interpretation gerichtet
ist. ‚Kultur‘ ist für sie ein Komplex von Bedeutungen, in symbolischen (Ausdrucks-,
Darstellungs- und Objekt-)Formen verkörpert, mit deren Hilfe die Menschen mit-
einander kommunizieren und ihre Erfahrungen, Vorstellungen und Überzeugungen
teilen. Geertz selbst spricht von ‚Kultur‘ als ein von Menschen geschaffenes „Gewe-
110 Karl H. Hörning & Julia Reuter

be“ (Geertz 1983: 9) von Deutungen und Bedeutungen, in das diese permanent ver-
wickelt sind. Allerdings erscheint das Deutungsvermögen der Akteure eher passiv
und determiniert, da es immer schon ein zeichenhaftes und symbolisch vorstruk-
turiertes Deuten ist; es kann sich nur innerhalb eines klar umgrenzten symbolischen
Gewebes bewegen, ohne das Gewebe selbst in Bewegung zu setzen. Beeinflusst von
Ernst Cassirer (1953) und vor allem dessen Schülerin Susanne Langer (1965) sind
Symbole für Geertz Vehikel, Modelle, öffentliche Texte, die die kollektive Bedeu-
tung fixieren und aufbewahren. Unterschiedliche, widersprüchliche oder unentschie-
dene Lesarten sind hier nicht vorgesehen. Geertz interessiert das Gewebe, nicht das
Weben; der Text, nicht der Prozess des Aufschreibens und Lesens; die Struktur,
nicht die Geschichte.
Dann erscheint Kultur allzu leicht als ein selbstreferenzielles System, das Han-
deln lediglich über sinnhafte Wissensordnungen und kulturelle Kodes steuert oder
regelt, und nicht umgekehrt als Formation, die als sinnhafte Ordnung zunächst ein-
mal interaktiv hervor gebracht werden muss. Geertz ist zu sehr um ein integriertes,
einheitliches, kohärentes Bild der jeweils untersuchten Kultur bemüht. Dabei sind
auch Symbole keine Zeichen für auf Dauer gestellte eindeutige Sinn- und Bedeu-
tungszusammenhänge. Sie evozieren immer auch „multivocality, complexity of
associations, ambiguity (and ) open-endedness“ (Turner 1975: 155). Geertz sieht
zwar, dass erst „durch den Fluss des Handelns, durch ihren Einsatz im sozialen
Leben […] kulturelle Formen ihren Ausdruck“ (Geertz 1983: 25) finden, doch seine
‚kulturellen Texte‘ legen die Bedeutungen zu fest; dann wird der bedeutungshervor-
bringenden und -erschließenden Qualität des praktischen Handelns zu wenig Platz
eingeräumt.
Die Mitte der 1980er Jahre eingeläutete Diskussion um die „Krise der
Repräsentation“ hat dies für die ethnologische Kulturanalyse in besonderer Weise
erkannt, denn sie sah in der semiotischen Vorstellung von Kultur als Text eine dop-
pelte Problematik: einerseits das naive Bild geschlossener Kulturen, das nicht erst
durch moderne grenzüberschreitende Reise-, Handels- und Kommunikationsprakti-
ken permanent unterlaufen wird; andererseits die Möglichkeit ihrer ebenso vollstän-
digen wie geschlossenen Darstellung in Ethnografien, die spätestens durch die
(post)koloniale Literarizität und Autorenschaft ethnografischer Texte in Frage
gestellt wurde.1
Aus poststrukturalistischer Sicht gehört es heute zu einem ‚Allgemeinplatz‘,
nach den Prozessen des Hervorbringens, des Definierens zu fragen, während die
gesamte Symbolische Anthropologie an den Bedeutungsstrukturen, nicht an den
Verwicklungen, den Mystifikationen, den Vermittlungen, Reinterpretationen und
Kontingenzen interessiert ist (vgl. Barth 1989; Biersack 1989). Zwar stand das
Geertzsche Programm einer „dichten Beschreibung“ für eine praktische Rekonstruk-
tion der Bedeutungsmuster, schließlich wurde aus einer empirischen Perspektive der
Kulturträger und ihrer beobachtbaren Handlungsweisen argumentiert. Im Vorder-
grund standen aber längst nicht alle, sondern vor allem jene symbolischen Schlüssel-
praktiken, die in eindeutiger Weise auf dahinterliegende übersubjektive Bedeutungs-
strukturen rückbezogen wurden. So standen auch beim ‚berühmten‘ balinesischen
Doing Material Culture 111

Hahnenkampf nicht die unterschiedlichen Praktiken des Züchtens und Abrichtens


von Kampfhähnen, nicht die unterschiedlichen Formen des Gestaltens oder Geheim-
haltens der Kampfplätze, des geschickten oder weniger geschickten Diskutierens mit
dem Preisrichter im Vordergrund. Der balinesische Hahnenkampf war für Geertz
vielmehr ein eindeutiges und universales Symbol dafür, was ein Balinese „wirklich
ist“ (Geertz 1983: 208). Er wurde damit selbst zur sozialen Tatsache, die alles
erklärt: „Gerichtsverhandlungen, Kriege, politischer Wettstreit, Erbschaftsstreitig-
keiten und Streitereien auf der Straße“ (ebd.: 210).
Eine so gefasste Kulturanalyse ist zu statisch. Soziale Praxis ist dann immer
schon im Kanon von Symbolen und Bedeutungen eingeschlossen. Geertz räumt
zwar ein, dass die Hahnenkämpfe ihre Form erst aus ihrem Anlass erhalten, „aus
dem Boden, auf den sie gestellt sind“ (ebd.: 219), gleichzeitig bezieht er aber genau
diesen „Boden“, der ja schon aus Gründen der Geheimhaltung permanent wechselt,
in seiner Analyse nicht mit ein. Ansätze, die Kultur als Text oder Zeichensystem
betrachten, können schlecht mit Kontingenzen umgehen und verschieben sie allzu
leicht in Residuale. Doch Kontingenzen entstehen laufend innerhalb der Kontexte
des kulturellen und sozialen Lebens.2 Schließlich sind kulturelle Phänomene nicht
nur sinngeladene Konstrukte in symbolischer Form, sondern auch alltäglich vollzo-
gene soziale Praxis. Und auch die symbolische Formen sind selbst eingebettet in
„historisch spezifische und sozial strukturierte Kontexte und Prozesse, innerhalb und
mittels derer diese symbolischen Formen hervorgebracht, übermittelt und rezipiert
werden“ (Thompson 1990: 135).
Semiotische Kulturanalysen laufen in die ‚kulturalistische Falle‘, wenn sie die
Sinn- und Symbolkomponenten von Kultur zu Lasten kultureller und sozialer Hand-
lungsformen überbetonen, die keinesfalls in Einklang mit den symbolischen Struk-
turen stehen müssen. Ein Kulturalismus übersieht gerade auch in seiner semioti-
schen Fassung die pragmatische Dimension des Umgangs, des Gebrauchs, des stän-
digen Neu-Hervorbringens. Dann lebt der Mensch in einem von ihm geschaffenen
symbolischen Universum, und alle Wirklichkeit ist ein System von Bedeutungen
und Bezeichnungen, und jegliche Wahrnehmung von ‚Wirklichkeit‘ bezieht sich
ausschließlich auf das kulturelle System, dem er angehört.
Um zu verstehen, warum Menschen das tun, was sie tun, reicht es nicht aus, die
vorherrschenden kulturellen Konstrukte einer Gesellschaft und ihre Symbolisierung
in Riten, Artefakten oder Gegenständen zu erkennen. Es ist genauso wichtig, die
Wege und Weisen zu analysieren, wie diese Konstrukte in die sozialen Praktiken der
Menschen Eingang finden, gerade wegen des polyphonen Charakters kultureller
Realitäten. Durch die soziale Einbettung erst gewinnen Kultur und Kulturobjekte
Relevanz fürs Leben; hier verwirklichen sie sich. Dabei ist das Verhältnis doppelsei-
tig: Einmal können Kulturen durch Uneindeutigkeiten, polyphone Sinnstrukturen
oder widersprüchliche Symbolik viel Unruhe in die soziale Praxis bringen – genauso
wie die Macht der Kultur darin bestehen kann, durch ihr eindeutig-normatives Wir-
ken den Deutungsspielraum so einzuschränken, dass vieles ‚normal‘ erscheint, so als
sei nichts zu ändern und sich Gleich-Gültigkeit einstellt. Zum anderen trägt soziale
Praxis wesentlich zur Relevanz von Kultur bei, wenn in offenen Situationen neue
112 Karl H. Hörning & Julia Reuter

Handlungsstrategien gesucht und normative Vorannahmen ‚hinterfragt‘ und umge-


deutet werden. Dann können die kulturellen Symbole, Rituale und Leitbilder
erhebliche Relevanz für die soziale Praxis gewinnen, indem sie die Optionen der
Praxis vielfältiger auszuleuchten, alternativ das ‚Andere‘ ins Blickfeld zu rücken
und so zur Konstruktion neuer Handlungsstrategien beizutragen vermögen (vgl.
Swidler 1986).

3 Kultur als soziale Praxis

Diese Wechselwirkungen zwischen kulturellem Sinn und sozialer Praxis können


nicht angemessen durch die Vorstellung von Kultur als (fraglos gegebenem) Text
erfasst werden. Hierzu bedarf es einer Perspektive, die nicht von ‚ganzen Kulturen‘,
sondern eher von ‚kulturellen Formen‘ und ‚Lebensweisen‘ ausgeht und den
Schwerpunkt auf das Prozessieren und Verwirklichen dieser Formen und Lebens-
weisen in den alltäglichen Gebrauchsweisen legt. Unter Einfluss praxisbetonender
Ansätze aus Philosophie, Soziologie, Geschichts- und Kulturwissenschaften hat sich
hierfür in den letzten Jahren die Rede von Kultur als Praxis durchgesetzt (vgl. auch
Hörning 2004). Kultur als Praxis interessiert sich für das Praktizieren von Kultur, für
die konkrete Handhabung kultureller Wissensbestände in unterschiedlichen Kon-
texten; aber auch für die Genese, Verfestigung und Reproduktion von Praktiken und
praktischen Wissensbeständen. Diese auch als „Doing Culture“ (Hörning/Reuter
2004) bezeichnete Perspektive sieht Kultur in ihrem praktischen Einsatz. Dabei geht
es ihr um das interaktive Verwirklichen, nicht um die kulturelle Wirklichkeit, um die
unabgeschlossene (Re)Produktion, nicht um fertige Kulturprodukte, um die aktiven
Gebrauchsweisen, nicht um ein bloßes Reproduzieren kulturellen Sinns.
Theoretisch steht doing culture in der Tradition praxiszentrierter Ansätze, die
sich in der Soziologie vor allem unter dem Einfluss von Bourdieus Theorie der Pra-
xis (1976), Goffmans Studien zur Ordnung der Interaktion (1983) und Garfinkels
Ethnomethodologie (1967) herausgebildet haben, neuerdings aber auch Strömungen
aus Cultural Studies und Science Studies aufgreifen. Gemäß der Vorstellung, dass
das Soziale weder das Produkt individueller interessengeleiteter Akte ist noch dem
Konsens von Sollens-Regeln entspringt, wird auch Kultur in diesen Ansätzen weder
als subjektive Interpretation noch als übersubjektiver ‚Integrationskitt‘ der Gesell-
schaft betrachtet. Sie ist vielmehr in den sozialen Praktiken angesiedelt, mit denen
die Welt als sinnhafte und geordnete Welt hervorgebracht wird. Dabei fungiert der
Praxisbegriff gewissermaßen als ‚Scharnier‘ zwischen den Institutionen, kulturellen
Traditionen und Regeln auf der einen Seite und den handelnden Subjekten, ihren
Intentionen und Vorstellungen auf der anderen Seite.
Entgegen solcher Kulturtheorien, die Kultur als geistiges, ideelles Phänomen
etwa in Form kognitiv-geistiger Schemata (Schütz) oder aber als ein System von
Ideen und Weltbildern betrachten (Weber), verorten Praxistheorien die Kultur in
einem praktischen Wissen und Können, einem „knowing how“, in einem Konglo-
Doing Material Culture 113

merat an Alltagstechniken, einem praktischen Verstehen im Sinne eines „Sich auf


etwas verstehen“ (vgl. Reckwitz 2003: 289). Dabei geht es Praxistheorien nicht um
die subjektiven Erfahrungen oder Einstellungen der einzelnen Akteure, auch wenn
die Kritik an universalistischen Strukturen und die Hinwendung zu den handelnden
Subjekten dies nahelegt. Sie interessieren sich für das Hervorbringen des Denkens
im gemeinsamen Handeln: Das Denken und Wissen einzelner Akteure bleibt immer
ein in kollektive Zusammenhänge eingebettetes praktisches Denken und Wissen.
Seine ‚Logik‘ kann nicht allein aus dem Mikrokosmos einzelner Interaktionen
heraus verstanden werden, sondern offenbart sich erst in ihrer gesellschaftlichen
Kontextualisierung und Einbettung. In Praxistheorien gewinnt die Person erst durch
den ununterbrochenen Handlungsfluss ein Verständnis von der Welt, nicht durch die
bewusste und intentionale Bewegung durch Räume und Zeiten. Damit grenzen sich
praxistheoretische Kulturanalysen von zweckorientierten wie normorientierten
Handlungstheorien gleichermaßen ab (vgl. ebd.: 287). Praxistheorien zeichnen sich
gerade dadurch aus, dass sie die Praktiken nicht auf Einzelakteure und deren Hand-
lungsurheberschaft zurück führen. Akteure sind eher die Träger sozialer Praktiken,
aber nicht ihre alleinigen Urheber. Was aber genau sind dann soziale Praktiken?
Soziale Praktiken bezeichnen jene tagtäglichen Interaktionen, die eine
bestimmte vertraute Handlungsnormalität im Alltag begründen. Soziale Praktiken
umfassen reguläre, geordnete und sich wiederholende Handlungsweisen, mit denen
die Gesellschaftsmitglieder ihre Alltagswirklichkeit organisieren und Sinn erzeu-
gen.3 Soziale Wirklichkeit ist aus Sicht von Praxistheorien immer eine Vollzugswirk-
lichkeit. Obwohl soziale Praktiken dabei häufig die Gestalt von ‚Gewohnheiten‘ und
‚Routinen‘ annehmen, sind sie nicht auf eine von den vorherrschenden gesellschaft-
lichen bzw. politisch-ökonomischen Strukturvorgaben bestimmte Verhaltensform
einzuschränken. Soziale Praktiken müssen immer auch produktiv gedacht werden:
als ein stets neu in Gang zu bringendes Tun, als kreative Fortsetzung, als neuartige
Hervorbringung von Vertrautem. Jedes Handeln steht zwar in der Geschichte ver-
gangenen Handelns, aber die Re-Produktion von Sinn und Bedeutung ist nicht ein-
fach nur eine Imitation, sondern eine Wieder-Erzeugung Desselben an einem ande-
ren Ort, zu einer anderen Zeit, mit anderen Mitteln.
Pierre Bourdieu hat die in der Praxis liegende Geschichte mit dem Begriff des
Habitus bezeichnet, einem System dauerhafter einverleibter Dispositionen, die das
Denken, Wahrnehmen und Handeln strukturieren und organisieren. Im Habitus als
„praktischem Sinn“ sedimentiert sich für ihn die Praxis der Vergangenheit, die die
gegenwärtige und zukünftige Praxis „ohne Willen und Bewusstsein“ anleitet (Bour-
dieu 1987: 105). Diese treffen auf eine ganz bestimmte soziale Umwelt, das soziale
Feld bzw. Habitat. Es ist das Ergebnis der eingenommenen Position im „sozialen
Raum“, ein Ensemble objektiver historischer Beziehungen zwischen den Positionen,
die auf bestimmten Formen von Macht (bzw. Kapital) beruhen (vgl. Bourdieu/Wac-
quant 1996: 37).
Damit treten neben Fragen nach der praktischen Hereinnahme und des konkre-
ten Vollzugs vor allem auch Fragen nach der ungleichen Verteilung und Reproduk-
tion in den Vordergrund. Kultur als Praxis verbindet das Kulturelle mit dem Sozia-
114 Karl H. Hörning & Julia Reuter

len. Schließlich ist soziale Praxis immer schon mit Bewertungen, Interpretationen,
Selbst- und Fremddeutungen verknüpft. Bourdieu hat dies anhand der alltäglichen
Konsum-, Wohn- oder Kleidungspraktiken der französischen Gesellschaft der
1970er Jahre eindrucksvoll gezeigt. Macht wirkt vor allem in den selbstverständli-
chen und oftmals unreflektierten Alltagspraktiken. Diese Einsicht teilt er mit Fou-
caults Konzept einer „Mikrophysik der Macht“, in der sich die Macht eher in den
kapillaren, weit verstreuten Mechanismen und Techniken des Alltags als in tota-
lisierenden Herrschaftsverhältnissen zu erkennen gibt (vgl. Foucault 1995). Aller-
dings sind hier zwei Einwände zu formulieren.
• Das Verhältnis zwischen Habitus und Habitat wird von Bourdieu als zu
‚geschlossen‘ gedacht: Alles ist in ein System zirkulärer, reproduktiver Kausali-
täten eingespannt.4 Dadurch macht Bourdieu die soziale Praxis zu starr. Sie
erscheint als tendenziell veränderungsresistent; auch die soziale Wirklichkeit
wirkt durch das einheitsstiftende Prinzip ihrer Erzeugung – dem Habitus – selt-
sam statisch. Dabei ist es ein zentrales Kennzeichen unserer Zeit, dass Habitus
und Habitat nicht koinzidieren. Treibt doch gerade die Habitualisierung des
Handelns problematische Konsequenzen und unbeabsichtigte Nebenfolgen her-
vor, die nicht selten Problemreflexionen herbeiführen, die Entstandardisierungen
und Umdeutungen der habitualisierten Problemstellungen einläuten. Aber nicht
nur der Habitus ändert sich etwa durch biografische Brüche und Individua-
lisierungsschübe oder durch veränderte Zeit- und Raumsensibilisierungen, son-
dern auch das Habitat verliert an Eindeutigkeit: Die soziale Differenzierung
treibt Kontingenzen heraus, kollektive Zeiten und Räume zerfallen, strukturelle
Paradoxien entstehen, Entstandardisierungen schreiten im großen Umfang vor-
an.
• Soziale Praxis ist nicht gleichbedeutend mit Machtpraxis. Zwar ist Macht in
Praktiken eingelassen, doch soziale Praktiken müssen von Machtpraktiken
unterschieden werden, denn ansonsten wird allzu leicht jegliche Praktik als
‚Komplize‘ strategischer Machtverhältnisse gesehen. Foucaults Blick auf die
Praxiswelt können wir daher nur bedingt folgen, da er sich zu sehr auf die Auf-
deckung disziplinierender Praktiken beschränkt, andere Praktiken, wie Konsum-
und Gebrauchspraktiken hingegen vernachlässigt. Wir sind aber mit Michel de
Certeau der Meinung, dass es unmöglich ist, das Funktionieren einer Gesell-
schaft lediglich auf einen Haupttypus von Praktiken zu reduzieren (vgl. de Cer-
teau 1988: 109), der zudem eine zu starke Kohärenz der Praktiken voraussetzt.
Trotz ihres kapillaren und heterogenen Charakters ordnet Foucault das amorphe
Geflecht der Praxis letztlich eindeutigen Diskursen zu, etwa dem der Norma-
lisierung. Dabei ist doch die Kohärenz keine Eigentümlichkeit der Praktiken,
sondern ein methodisches Prinzip Foucaults: das der retrospektiven Geschichts-
schreibung.
Unserer Ansicht nach kann sich eine Sozial- und Kulturanalyse der Gegenwart nicht
darauf beschränken, die Nähe von Prädispositionen und Struktur, die Kohärenz von
Doing Material Culture 115

Techniken und Diskursen aufzuweisen. Sie muss auch die vielfältigen, konfliktrei-
chen Interaktionsformen beider Geschichten in der Gegenwart untersuchen. Kul-
turanalysen, die die symbolischen (Meta-) Struktur zu Lasten ihrer lebensprakti-
schen (Mikro)Logiken betonen, laufen nicht nur Gefahr, die Einbettung kultureller
Symbole, Semantiken und Diskurse in historisch spezifischen und sozial strukturier-
ten (Gebrauchs-)Kontexten aus dem Auge zu verlieren. Sie müssen sich auch
grundsätzlich den Vorwurf einer Verselbstständigung konstruktiver Prozesse gefal-
len lassen, in denen nur noch die Interpretationen, Diskurse, Narrationen und
Repräsentationen die kulturelle Wirklichkeit formen, die Organisationsleistung der
sozialen Praxis aber aus dem Blick gerät. Doing culture setzt sich daher von der lan-
gen Tradition kulturwissenschaftlicher Forschung ab, eine situations-, macht- und
zeitunabhängige Definition von Kultur vorzunehmen. Sie sieht Kultur als einen
andauernden Prozess, der nicht nur durch den strukturellen Wandel der Gesellschaft,
sondern geradewegs durch das Handeln der Akteure ‚am Laufen‘ gehalten wird.

4 Praktizierte Kultur als materialisierte Kultur

Kulturanalysen, die Kultur als Praxis fassen, sind prinzipiell an den wechselseitig
orientierten Praktiken, nicht an den einzelnen Praktikerinnen und Praktikern interes-
siert. Soziale Praktiken lassen den Akteur zwar als Teilnehmer am Sozialen, nicht
aber zwangsläufig als Urheber erscheinen. Seine Aktivitäten werden weder auf ein
zielgerichtetes Handeln noch auf ein schematisch-reproduzierendes Verhalten ver-
kürzt – es ist eher ein Mithandeln mit Anderen. Dabei sind ‚die Anderen‘ keines-
wegs nur Menschen. Vielmehr betonen praxiszentrierte Kulturanalysen, dass prakti-
zierte Kultur immer auch materialisierte Kultur ist. Sie gehen davon aus, dass die
‚geistige Welt‘ des Statusdenkens, Expertenwissens, der Heimatvorstellungen oder
des religiösen Glaubens nicht von der ‚Sachwelt‘ der Rangabzeichen und Statusob-
jekte, Computer und Labore, Landschaften und Behausungen, Kirchenbänke und
Devotionalien zu trennen ist. Beides wirkt ständig aufeinander ein.5
Stefan Hirschauer (2004) spricht davon, dass eine Kehrseite der praxistheoreti-
schen Abwendung vom intentionalen Subjekt die Öffnung zu anderen Entitäten
bereithält, die an sozialen Prozessen als Partizipanden teilnehmen können und in
ihre Dynamik verwickelt sind – Tiere und andere Lebewesen, Körper und Textdoku-
mente, Artefakte und Settings:
„[Es] sind nicht Akteure, sondern Partizipanden sozialer Prozesse. Dieser Begriffsvorschlag
bezeichnet hier […] alle Entitäten, die auf eine für sie spezifische Weise in den Vollzug von
Praktiken involviert sind“ (Hirschauer 2004: 75).
In einer solchen Praxisperspektive liegt die soziale Ordnung nicht nur in den jeweil-
igen Praktiken der Individuen. Sie existiert vielmehr in einem Netzwerk von Indivi-
duen und Artefakten, von Individuen und Objekten. Dabei übernehmen Artefakte
und Objekte häufig die Rolle von ‚Härtern‘ sozialer Ordnung, da sie soziale Rege-
lungen oder kulturelle Bedeutungen in einen mehr oder weniger dauerhaften Zu-
116 Karl H. Hörning & Julia Reuter

stand überführen. So fungieren etwa Möbelstücke wie Stühle als Stabilisatoren


sozialer Ordnung: Sie weisen dem Einzelnen einen ziemlich festen Platz im Raum
und im Verhältnis zu anderen, von Menschen besetzten und unbesetzten Plätzen zu
und beeinflussen damit über kulturspezifische Distanzmaße nicht nur die Praktiken
des Sitzens oder Wohnens, sondern auch die Praktiken des Kommunizierens oder
Vergemeinschaftens (vgl. hierzu auch Seitter 2001). Dabei spielt es natürlich eine
Rolle, ob der Stuhl in der Küche oder im Schlafzimmer, im Wartezimmer einer
Arztpraxis oder auf dem Gehsteig in der Nähe einer Mülltonne steht.
Auch wenn sich die Kulturanalyse deutlich vom Objektivismus distanziert, kann
sie doch nicht die Sachwelt ignorieren, denn die Welt, die wir formen, formt auch
uns. Dinge und Körper sind notwendige Bestandteile des Sozialen, ohne dass wir
zwangsläufig die Unterscheidung zwischen Menschen und Dingen aufgeben müs-
sen, wie es Latour (1995) in seiner „symmetrischen Anthropologie“ einfordert.
Schließlich kommt nur durch die Menschen Leben in die Dinge, und dies befindet
sich nicht wirklich im Gegenstand selbst, sondern in der Beziehung zu ihm. Dennoch
betrachten praxistheoretische Ansätze Körper und Artefakte als wichtige Teilele-
mente oder Träger sozialer Praktiken, da sie durch das in ihnen gelagerte inkor-
porierte Wissen eine Gleichmäßigkeit und Repetitivität der Praktiken über Zeit und
Raum hinweg erst möglich machen. Gerade Alltagsgegenstände fungieren als ein
soziales Gedächtnis, als Anhaltspunkte für die gewohnten Handlungsabläufe, Wege
und Rhythmen. Dabei wird in der Praxis aber immer nur ein bestimmter Teil dieses
Gedächtnisses reaktiviert, das meist eng mit den Notwendigkeiten des aktuellen
Handelns verknüpft ist. Schließlich ist für das Auslöffeln der Suppe nicht die Erin-
nerung an die Lehrzeit der Kindheit notwendig, die aus Jahren des praktischen
Übens und kulturellen Einprägens des Richtigen-Löffel-Haltens bestand (vgl. Kauf-
mann 1999: 44f.).
Genau diese materiellen Implikationen sozialer und kultureller Wirklichkeit
muss eine ‚realistische‘ Kulturanalyse zur Kenntnis nehmen, gerade in Zeiten einer
allgegenwärtigen Technisierung und Mediatisierung privater und öffentlicher
Lebensbereiche. Die Welt existiert nicht nur aus symbolischen Formen, Bedeutungs-
strukturen, Texten und Diskursen. Sicherlich führen der schnelle Wandel, die Insta-
bilitäten, die Flexibilisierung der materiell-technischen Bedingungen unseres Lebens
zu einer verstärkten ‚Semiotisierung‘ spätmoderner Gesellschaften (vgl. Lash/Urry
1994), doch gleichzeitig verwickeln sie den Einzelnen stärker als je zuvor in eine
materiell-technische Welt. Die Häuser, die Landschaften und Städte, die wir bewoh-
nen, die Instrumente und Maschinen, die wir benutzen, die materiell-technischen
Infrastrukturen, die Verkehrs- und Energiesysteme, in die wir eingebunden sind,
beeinflussen unsere Erfahrungsweisen und deren symbolische Verarbeitung. Vor
allem beeinflussen sie unsere Praktiken. Sie tragen zu neuen Handlungs- und Kom-
munikationsmöglichkeiten bei, öffnen Optionen und mischen bei den Grenzziehun-
gen mit, tragen bei zu neuen Beziehungen und Balancen zwischen Materialität und
Sozialität.
Körper und Dinge können dann nicht in einseitiger Form als Objekte der Deu-
tung, der Interpretation, der Konstruktion erfasst werden. Sie stoßen auch Deutungs-
Doing Material Culture 117

und Interpretationsprozesse an. Der Computer samt Maus und Tastatur, aber auch
das Bild, das Bett, die Blumen, der Fön, das Auto, die bewirken, dass wir auf eine
bestimmte Art und Weise denken und handeln, wenn wir sie betrachten oder
berühren. Der Objektbegriff, der dabei zu Grunde gelegt wird, steht in Kontrast zu
den Konzeptionen von ‚Arbeit‘ oder ‚instrumentellem Handeln‘, die Objekte ledig-
lich als Ware, Instrumente oder Gegenstände betrachten. Er ähnelt vielmehr dem,
was Knorr Cetina unter ‚Objektualisierung‘ versteht: Körper und Artefakte werden
zunehmend vergesellschaftet, d.h. sie treten als Anhaltspunkte, Einbettungsumwel-
ten oder gar ‚Beziehungspartner‘ zunehmend an die Seite von Menschen, sie vermit-
teln menschliche Beziehungen oder machen sie von Objektbeziehungen abhängig
(vgl. Knorr Cetina 1998: 113ff.).
So wird die Verwicklung mit der materiell-technischen Welt ein wesentliches
Element unseres Denkens und Handelns in der Welt. Eine in diesem Sinne ‚realisti-
sche‘ Kulturanalyse akzeptiert also, dass wir nur insoweit über die Realität der Welt
wissen und sprechen und sie deuten können, insoweit wir uns an ihr beteiligen und
sie in unsere Praktiken mit hinein nehmen. Die materielle Welt ist nicht bloß ‚passi-
ve‘ Ressource für soziales Handeln, sondern mischt in den sozialen und kulturellen
Prozessen der Wirklichkeitskonstruktion mit. Dabei ist sie aber keineswegs stets
Gegenstand von Reflexion bzw. expliziter Sinnzuschreibung, sondern wirkt eher
durch Einübung und Gewöhnung. Gerade im Alltagsleben tragen Gebäude, Räume,
Geräte und Automaten zur Routinisierung und Standardisierung bei und erklären
uns, warum wir so vieles für selbstverständlich halten.

5 Soziale Praktiken und der Umbruch kommunikativer Verhältnisse

Insbesondere kulturtheoretische Arbeiten innerhalb der Techniksoziologie haben


früh auf die kulturelle Formung der (technischen) Dinge in der Herstellungs- und
Gebrauchspraxis verwiesen. Entgegen der bis in die 1990er Jahre vorherrschenden
Annahme, Technik als Instrument in einem funktionalen Zweck-Mittel-Zusammen-
hang anzusiedeln, sprachen sie von Technik als Träger von Bedeutungen, die als
Ausdrucks- und Darstellungsmittel individueller und gruppenspezifischer Relevan-
zen oder Lebensstile in Erscheinung treten: Materiell-technische Objekte geben ihre
funktionale wie kulturelle Bedeutung nicht vor, sondern gewinnen diese erst in viel-
fältigen Prozessen der Aneignung. So entstanden rund um Anrufbeantworter,
Videorecorder oder Computer zahlreiche Studien, die die kulturelle Prägung der
Technik in spezifischen Arbeits-, Lebensstil- oder auch Fangruppen in den Mittel-
punkt rückten (vgl. Hörning/Ahrens/Gerhardt 1997; Wetzstein et al. 1995). Grundle-
gend für diese Studien war die Definition von Technik als kulturellem Artefakt, das
durch die alltäglichen, kommunikativ vermittelten Bearbeitungs- und Interpretati-
onspraktiken immer wieder neu ‚in Form‘ gebracht wird (vgl. hierzu auch Hörning
2001: 95ff.). Allerdings beschränkten sich viele dieser Arbeiten auf die einseitige
Bearbeitung der Technik durch die Akteure und berücksichtigten umgekehrt nicht
118 Karl H. Hörning & Julia Reuter

die Formung ihrer Praktiken durch die Sachwelt. Zudem wurde auch hier oftmals
von Technik als Symbol gesprochen, womit die Materialität der technischen Dinge
erneut aus dem Blick zu geraten drohte.
Vor allem die allgegenwärtige Computertechnik hat massive Spuren in unseren
alltäglichen sozialen Praktiken hinterlassen: Wir kommunizieren, so scheint es
jedenfalls, ohne zu sehen oder gesehen zu werden, ohne zu hören oder gehört zu
werden, ohne raum-zeitliche Bindung an Körper und Ort. Dabei ist doch die Compu-
terkommunikation längst keine vollkommen körperlose Kommunikation. Die Praxis
des Email-Schreibens, Chattens oder Programmierens verlangt eine andere techni-
schen Konditionierung des Körpers durch das Artefakt Computer als die lokal situ-
ierte Face-to-Face-Kommunikation: Eine bestimmte Beweglichkeit der Finger, eine
bestimmte Sequenzierung und Fokussierungsleistung des Blicks, eine mitunter stun-
denlange Unbeweglichkeit des Körpers, oder auch nur eine bestimmte Absentie-
rungsleistung der Ohren, schließlich will man auch im überfüllten Großraumbüro
noch aufmerksam einen Text lesen können. Hier verschmelzen ‚Sachtechnik‘ und
‚Körpertechnik‘ in der Praxis der computervermittelten Kommunikation.
Neben diesen neuen, recht elementaren Wahrnehmungs- oder Umgangsprakti-
ken konstituieren Artefakte mitunter auch neue Interaktionsmuster. Im Falle des
Computers sind dies etwa neue Arbeits- und Organisationspraktiken, prominent das
Beispiel der individualisierten Telearbeit oder vernetzten Gruppenarbeit. Aber auch
weniger offensichtliche Praktiken sind denkbar, wie bspw. neue Zeitpraktiken, die
von der strategischen Zeitplanung bis zum ereignisorientierten Zeiterleben reichen,
neue Geldpraktiken, die vom gemeinsamen Spekulieren bis zum geschickten Aukti-
onieren reichen, oder auch neue Partnerschafts- und Flirtpraktiken, die die Gestalt
von anonymen Rollenspielen oder themenspezifischen Kontaktbörsen annehmen.
All diese Praktiken erscheinen zunehmend entkoppelt vom unmittelbaren, lokalen
Kontext der Intersubjektivität. Ja, sie erscheinen stellenweise sogar entkoppelt von
Personen als Kommunikationspartnern. Hier treten abstrakte Expertensysteme und
Programmartefakte hinzu und mischen die alten Praxisverhältnisse auf.
Die Frage ist dann, wie sich Einstellungen des Vertrauens in derartige abstrakte
Systeme und Regularien ausbilden. Oft werden sie tatsächlich unter „Modernitätsbe-
dingungen […] routinemäßig in den kontinuierlichen Ablauf der Alltagstätigkeiten
eingebaut und durch die inneren Gegebenheiten des täglichen Lebens in hohem
Maße erzwungen“ (Giddens 1995: 115). Neue Regeln ruhen dann wesentlich in den
etablierten gemeinsamen Handlungsformen und Praktiken und finden auch dort ihre
kontinuierliche Interpretation und Reinterpretation. Regeln sind dann letztlich das,
was die Praktiken daraus machen – denn ohne Belebung bleiben sie tote Briefe:
„Wenn allerdings die Expertensysteme […] chronisch dazwischentreten und ‚präventiv‘ und
allumfassend intervenieren, dann werden die Praktiken, gemeinsamen Bedeutungen, Gemein-
schaft zunehmend an den Rand gedrängt und immer weniger möglich“ (Lash 1994: 151).
Dann müssen wir unsere Vorstellungen neu rahmen, dann müssen wir umfassend
und explizit formulieren, wie unsere Welt aussehen sollte, welchen Platz wir in ihr
einnehmen wollen und was wir dafür tun müssen.
Doing Material Culture 119

Ein schönes Beispiel für bildet die mobile Kommunikation via Handy (vgl. Bur-
kart 2000). Einerseits baut die Handykommunikation auf einem langen (inkorporier-
ten) technischen Wissen und Handeln beim Telefonieren auf und kann sich nahtlos
in den normalen Alltagsablauf einfügen, etwa wenn das schnurlose Mobiltelefon
lediglich das Telefon im eigenen Haushalt ersetzt. Reicht die neue räumliche Mobi-
lität des Telefonierens über die ‚eigenen vier Wände‘ aber hinaus, dann kann es zur
Kollision zwischen lokal gebundenen kommunikativen Situationen der körperlichen
Kopräsenz und Situationen der Telekommunikation kommen, in denen Intimitätsre-
geln, territoriale Regeln oder die soziale Funktion von Situationen verletzt werden.
Beispiele dafür sind das Privatgespräch im Zugabteil, das unangemessene laute
Reden am Nachbartisch im Restaurant oder das Klingeln in der Schulstunde. Hier
werden – je nach Rahmung, zeitlich-räumlicher sowie kommunikativer Struktur
sozialer Situationen Neuregulierungen der Kommunikation im öffentlichen Raum
und damit auch neue kulturelle Rahmungen des Handys notwendig. Dies kann
sowohl auf der Ebene der Praxis – etwa durch situative Sanktionsversuche, Terri-
torialkämpfe oder aber Höflichkeitsrituale – als auch auf der Ebene der Diskurse
stattfinden – etwa durch legitimatorische Notfalldiskurse des „Störers“ oder umge-
kehrt durch Gefahrendiskurse (Elektrosmog) der „Gestörten“ (vgl. ebd.: 223f.).
Ähnliches lässt sich auch anhand der computervermittelten Kommunikation ver-
deutlichen. Praktiken des Emailens oder Chattens beruhen im Wesentlichen auf den
Kommunikationsformen Brief und Klatsch und folgen in den meisten Fällen ganz
gewöhnlichen Standards von Authentizität und gegenseitiger Bekanntschaft, d.h.
entweder persönlicher Vertrautheit oder Kenntnis über Position und Herkunft des
Kommunikationspartners (vgl. Schultz 2001: 96). Kollidieren sie aber mit anony-
men Kommunikationsformen, etwa Formen des Bietens in virtuellen Auktions-
häusern oder Formen des Rollenspiels in „Identity Workshops“ (Turkle 1998), müs-
sen neue kulturelle Konventionen geschaffen und neue Formen des angemessenen
Umgangs miteinander gefunden werden, die sich nicht unmittelbar aus der eigenen
Lebenswelt erschließen lassen. Vertrauensbildende Maßnahmen, wie virtuelle Zerti-
fizierungs- und Bewertungsverfahren oder ‚Netiquette-Regeln‘, um ‚Cyberschurken‘
aus dem Weg zu gehen, bilden erste Versuche. Inwieweit sie erfolgreich sind, hängt
aber nicht nur von der ‚technischen Finesse‘ der Programmartefakte, sondern wei-
thin von der praktischen Belebung durch ihre Nutzer ab.
Moderne Medien vervielfältigen die Ebenen, auf denen wir uns bewegen, in
denen wir Beziehungen zu Personen und Sachen herstellen, in denen wir inter-
agieren und Wertmaßstäbe anwenden. Sie schaffen neue Spannungsfelder von Dis-
tanz und Nähe, von Anwesenheit und Abwesenheit, von Persönlichem und Abstrak-
tem, von Sichtbarem und Verborgenem, von Vertrautem und Unvertrautem. Neue
Abmachungen müssen getroffen werden, neue Grenzen gezogen werden, die alten
vertrauten Praktiken werden mit neuen, öffentlich vorgetragenen Ansprüchen und
Regularien konfrontiert. Auf jeden Fall intensiviert die elektronische Vernetzung die
explizite Auseinandersetzung mit Prozeduren und Verfahrensweisen. Regelverlet-
zungen werden sichtbar und damit erklärungsbedürftig. Damit rücken Formen und
Legitimität von eingeschliffenen Praktiken ins Zentrum des Handelns.
120 Karl H. Hörning & Julia Reuter

6 Folgerungen

Zwei Folgerungen sind aus dem Vorangegangenen zu ziehen: Zum einen geht es um
die materiellen Implikationen sozialer Wirklichkeit, zum anderen um die kulturelle
Verknüpfung der sozialen Praxis. Zum Ersten: Auch wenn das moderne Denken die
Dinge aus der gesellschaftlichen Konstruktion sozialer Wirklichkeit verbannt hat,
leben wir doch immer schon in Gesellschaft der Dinge, die es als Teilnehmer sozia-
ler Praktiken mit zu berücksichtigen gilt. Gerade die technischen Dinge, allen voran
der Computer, zeigen dies in dramatischer Weise, denn trotz oder gerade wegen der
zunehmenden ‚Virtualisierung‘ der Kommunikation im Zeitalter der Globalisierung
lässt sich keineswegs von einer ‚Ent-Materialisierung‘ der Kommunikation spre-
chen. Im Gegenteil: Die ‚Hardware‘ medienvermittelter Kommunikation ist omni-
präsent: In fast allen privaten wie öffentlichen Räumen stehen Computer, ob im
Schlafzimmer, in der Bibliothek oder auf dem Bahnsteig. Hier breiten sich neben
elektronischen auch materielle Netzwerke von Objekten und Dingen aus, seien es
Computerprogramme oder -tische, Disketten und CDs, oder einfach nur Steckdosen
und Kabel. Auch sie sind Teil der neuen Praktiken einer technisch vermittelten
Kommunikation, bei der nicht nur öffentliche Plätze zu individuellen Kommunikati-
onsräumen und umgekehrt mutieren oder Geräte wie das Laptop oder Handy als
neue Statussymbole in Erscheinung treten können, sondern auch ‚Naturräume‘, wie
Strand, Berg oder Garten zu technisch vermittelten Kulturräumen transformieren
(vgl. Burkart 2000: 216). Das Konzept der sozialen Praktiken macht klar, dass die
Objektwelt immer schon an der Formung der Sozialwelt Teil hat.
Naive Kulturansätze übersehen das; sie machen die Sachwelt in einseitiger
Weise zu bloßen Objekten der Deutung, der Symbolisierung, der sozialen Konstruk-
tion, ohne das ‚Mitspielen‘ der Dinge an Situationen und Praktiken in den Blick zu
nehmen. Doch gerade für die Rhetorik raum-zeitlich entgrenzter oder auch deloka-
lisierter Kommunikationsverhältnisse gilt es, die Gesellschaft der Dinge mitzu-
berücksichtigen: Erst durch die Vermittlung der Dinge sind menschliche Interakti-
onen de-lokalisiert; erst durch das Mitwirken der Dinge sind Interaktionen über
Räume und Zeiten hinweg möglich:
„Jedes Mal, wenn eine Interaktion in der Zeit andauert und sich im Raum ausweitet, dann
heißt das, dass man sie mit einem nicht-menschlichen Akteur geteilt hat“ (Latour 2001: 248).
Wir können nicht das Subjektive und Intersubjektive als quasi-natürlichen Endpunkt
unserer soziologischen Analyse nehmen, sondern müssen sie um das Konzept der
„Interobjektivität“ ergänzen. Ansonsten deklarieren wir Kommunikation via Email
oder SMS vorschnell als Abweichung, Verzerrung oder gar Niedergang der ‚wah-
ren‘, ‚reinen‘ intersubjektiven Face-to-Face-Kommunikation, ohne uns klar zu
machen, dass auch die Face-to-Face-Kommunikation objekt-vermittelt ist: durch
Position und Aussehen der Körper, durch Raum-, Licht- und Lärmverhältnisse,
Doing Material Culture 121

durch Kleidung, Brillen oder Hörgeräte oder einfach nur durch die Möbel, Bilder
und Wände.6 Auch das heute Intersubjektive ist eine bestimmte historische Hervor-
bringung sozialer und kultureller Praxis inmitten der Dinge, die allenfalls durch ihre
Inkorporierung und Routinisierung vergessen wurden.
Zum Zweiten: Wenn sich viel von uns und unserer Welt in oft nicht artikulierten
sozialen Praktiken ‚auslebt‘, dann muss auch vieles von unseren Vorstellungen von
der Welt als implizit in unserem Alltagshandeln ausgedrückt gesehen werden. Etli-
ches von unserem Weltverständnis ruht in unseren Praktiken, nicht in Texten, in
einem impliziten Handlungswissen, nicht in expliziten Fakten- und Lösungswissen,
in informellen accomplishments, nicht in formalen Vorgaben und Regeln. Kultur
und kulturelles Wissen erscheinen dann als sozialer Prozess, in dessen Verlauf sich
immer häufiger unterschiedliche, auch widersprüchliche Wissensregister und Sinn-
muster im gleichen Akteur kreuzen. Gerade im Zuge weltweiter Vernetzung und
großer Migrationsbewegungen von Waren, Menschen und Bedeutungen gewinnen
kulturelle Überlagerungen und Überschneidungen zunehmend Normalität. Lange
Zeit kompatible kulturelle Wissensbestände zersplittern und mischen sich neu,
indem sie von den Akteuren mit zunehmender Routine in die alltäglichen Praktiken
eingebracht und dem gemeinsamen Handeln unterlegt werden. Hier sind solche
‚Experten des Alltags‘ gefragt, die neue Kompetenzen entwickeln: Ein Gespür für
Differenz, was den Einfluss bisher gültiger Konventionen und Normen auf gegen-
wärtige und zukünftige Handlungen angeht, aber auch die Fähigkeit, mit Ambigui-
tät, Unbeständigkeit, Kurzfristigkeit und Vorläufigkeit zu ‚leben‘, sie für sich zu nut-
zen. Wer diese kompetenten ‚Experten des Alltags‘ sind und ob es ihnen auf Dauer
gelingt, die Gleichzeitigkeit von Anpassung und Autonomie, die bestimmte Unent-
scheidbarkeiten aushalten kann, zu praktizieren, ist eine empirisch offene Frage.

Anmerkungen

1 Vgl. hierzu klassisch Marcus/Clifford (1986).


2 Für die Schwierigkeiten der Soziologie mit dem Phänomen der Kontingenz vgl. u.a. Hör-
ning (1989).
3 Richtungsweisend sind in diesem Zusammenhag Harold Garfinkels ethnomethodologi-
sche Arbeiten zur Aufwertung des impliziten Alltagshandelns (1967). Alltagshandeln
untergliedert sich für ihn in eine Vielzahl tagtäglicher Handlungsprozeduren, Vorgehens-
weisen und Techniken, derer sich die Mitglieder einer Gesellschaft bedienen, um die
Geordnetheit, Rationalität und Darstellbarkeit des Alltagslebens herzustellen bzw. erkenn-
bar zu machen. In allen Definitionsversuchen liegt daher der Schwerpunkt auf der Tatsa-
che, dass die praktischen Handlungen als Hervorbringung sozialer Wirklichkeit (accom-
plishment) angesehen werden.
4 Bourdieu selbst spricht von einer Art „ontologischer Komplizenschaft“ zwischen Habitus
und der ihn determinierenden Welt, die die Welt und die Geschichte in gewisser Weise
mit sich selbst kommunizieren lässt, indem nur solche Akteure ständig die objektivierte
Geschichte aktivieren, die durch die in ihnen einverleibte Geschichte dafür prädisponiert
sind.
122 Karl H. Hörning & Julia Reuter
5 So beeinflussen vorhandene Bauwerke die Planung derjenigen, die das nächste Haus bau-
en. Aber auch die vorhandenen Bauwerke früherer Praktiken erfahren durch den aktuellen
Rückgriff fast immer eine Umdeutung. Sie werden – je nachdem – zu ‚Musterobjekten‘
oder ‚abschreckenden Beispielen‘. Ulla Johansen hat dies in ihrer viel diskutierten Kritik
an der einseitigen Auseinandersetzung der Ethnologie mit der Materialität der Kultur am
Beispiel des Kölner Doms illustriert: „Gegen Ende des Mittelalters wurde er zum Lobe
Gottes und sicher auch, um die Attraktion der Stadt für Pilger an den Dreikönigsschrein
zu steigern, begonnen, am Ende des vorigen Jahrhunderts im Auftrag eines Kaisers aus
Preußen als Zeichen nationaler Größe vollendet und bildet heute auch für Atheisten und
Gegner jeden Nationalismus in Köln ein wesentliches, wenn nicht das wichtigste Symbol
ihrer Ortsbezogenheit“ (Johansen 1992: 9).
6 Hier kann derselbe Kommunikationsinhalt, etwa die Frage nach der sozialen Herkunft, an
der Theke als ‚Flirt‘, in der Kantine als ‚Affront‘ und am Schreibtisch als ‚Vorstellungs-
gespräch‘ gelten.

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Friedrich Krotz

1 ‚Kultur‘ als umkämpfter Begriff und die Cultural Studies

Seit dem ersten Erscheinen des vorliegenden Textes 1997 haben sich die Cultural
Studies in Deutschland zwar nicht etabliert, aber sie nehmen doch einen festen Platz
in der Wissenslandschaft und in der Vorstellung der Wissenschaftlerinnen und Wis-
senschaftler ein. Die Reihe der damals schon vorliegenden einführenden Texte
(Angerer/Dorer 1994; Krotz 1992b, 1995) hat sich vermehrt (z.B. Hepp 1998,
2004a), es liegen auch mittlerweile über den Aufsatz von Morley (1996) hinaus
zahlreiche weitere übersetzte Originaltexte vor, die den Diskurs der Cultural Studies
aufzeigen und zum Teil auch anbieten, in die Diskussion mit einzusteigen (Bromley
et al. 2003; Hepp/Winter 2003). Dazu hat sicher auch der vorliegende Band beige-
tragen.
Gleichwohl sind die Cultural Studies – Mitte der 1990er Jahre sprach man noch
vom „Cultural Studies Approach“ – in der deutschen Wissenschaftslandschaft kaum
etabliert: Sie verfügen nur über wenig institutionellen Rückhalt in den Universitäten
und wissenschaftlichen Vereinigungen, und auch auf Verbandstagungen oder in wis-
senschaftlichen Journalen sind explizit ihnen erkennbar zuzurechnende Aufsätze
eher selten zu finden.
Dafür gibt es viele Ursachen, nicht zuletzt auch Streitigkeiten und Abgrenzun-
gen innerhalb der Gruppe derer, die sich den Cultural Studies zurechnen. Das liegt
aber vor allem daran, dass die Cultural Studies unter einen allgemeinen Begriff der
Kulturwissenschaft operieren – und damit beanspruchen sie einen Platz in einem
umkämpften Feld. Als Akteure lassen sich auf diesem Feld die klassische deutsche
Kultursoziologie, die Kritische Theorie, die literatur- und sprachwissenschaftlich
fundierte Medien- und Kulturwissenschaft sowie Teile der sozialwissenschaftlichen
Kommunikationswissenschaft identifizieren.
Die klassische deutsche Kultursoziologie, die beispielsweise an Simmel und
dem später von der nationalsozialistischen Soziologie verdrehten Ferdinand Tön-
nies, an Karl Mannheim und anderen anknüpfen kann und anknüpft, ist nach dem
Zweiten Weltkrieg eher randständig geblieben; sie hätte auf viele Fragen eine gute
126 Friedrich Krotz

Antwort, die aber selten auf die heutigen Fragestellungen hin zugespitzt zu sein
scheint.1 Die Attraktivität der Cultural Studies als einem interessanten Newcomer in
der Wissenschaftslandschaft bietet sich da an, diesen Ansatz einzugemeinden – was
aber angesichts der Komplexität der Cultural Studies nicht einfach ist und nur dann
möglich wäre, wenn die klassische Kultursoziologie sich wirklich öffnete. Eine
kreative Kooperation könnte beiden nützen.
Die Kulturindustrietheorie von Adorno und Horkheimer (1971) hat viele
Berührungspunkte mit den Cultural Studies – beispielsweise zählen beide Marx und
Freud zu ihren Orientierungspunkten, wenn auch in unterschiedlicher Form: Georg
Lukács als undogmatischer Theoretiker des realen Sozialismus auf der einen Seite,
Antonio Gramsci als undogmatischer Theoretiker des Klassenkampfes im Kapitalis-
mus, der auch auf kultureller Ebene stattfindet, auf der anderen; eher orthodoxe
Schüler Freuds auf der einen Seite, die meist audiovisuelle Filme mit den Instru-
menten der Traumdeutung analysieren, Lacan und seine Anhänger auf der anderen
Seite, die in der Tradition der französischen Psychoanalyse eine viel direktere Bezie-
hung zwischen Medien, Kommunikation und Mensch unterstellen und viel übergrei-
fendere Schlussfolgerungen ziehen (Schirato/Yell 2000). Auch die dialektische
Methode bei der Analyse Adornos und Horkheimers ist ebenso ein Verbindungs-
glied wie das Konzept der Kulturindustrie generell, das sich in den Cultural Studies
– zum Beispiel – darin wieder findet, dass hier der Umgang mit Medien als Konsum
und damit wesentlich breiter als bloß als Rezeption oder gar als Nutzung gefasst
wird. Als Hauptunterschied wird meist die Differenz zwischen Adornos Wertschät-
zung der Hochkultur und der Betonung Populärkultur im Rahmen der Cultural Stu-
dies herausgestellt. Dazu ist aber zu sagen, dass sich weder Adorno nur mit Hoch-
kultur noch die Cultural Studies ausschließlich mit Populärkultur beschäftigt haben.
Letzteres sieht man leicht, wenn man die Schriften von Williams und insbesondere
auch von E.P. Thompson und Richard Hoggart ansieht. Obendrein besteht auch hier
eine wesentliche Gemeinsamkeit, nämlich die, dass die jeweilige Betonung auf der
Ausschnitt von Kultur liegt, dessen aktivierende Funktion gegen den Kapitalismus
betont werden soll. Also wäre auch an dieser Stelle eine gegenseitige Befruchtung
möglich, die sich auf verschiedene Anknüpfungspunkte beziehen könnte, wobei für
die Cultural Studies die Arbeiten in Anlehnung an Habermas, für die Kulturindu-
strietheorie die Auseinandersetzung mit Fiske und anderen und den darauf gründen-
den empirischen Ergebnissen fruchtbar wären.
Die literaturwissenschaftlich fundierte Medienwissenschaft in Deutschland
betont ihre Affinität zu den Cultural Studies dadurch, dass sie darauf verweist, dass
sie sich mit dem Gleichen beschäftigt wie die Cultural Studies, allerdings ohne einen
derart griffigen Titel verwendet zu haben. Dieses Argument hat eine gewisse
Berechtigung darin, dass die Cultural Studies erst relativ spät zur empirisch fundier-
ten Sozialwissenschaft wurden, wie die oben zitierten Darstellungen der Cultural
Studies und ihrer Entstehung deutlich machen, und dies immer auch nur zum Teil
ist. Daraus lässt sich aber natürlich nicht schließen, dass der Begriff der Kultur im
Zusammenhang mit Kommunikation nur von einem medienwissenschaftlichen
Standpunkt aus verwendet werden darf – Kultur, Medien, Kommunikation sind zu-
Gesellschaftliches Subjekt und kommunikative Identität 127

gleich geistes- und sozialwissenschaftlich zu theoretisierendes Phänomene, deren


Verstehen ohne diese Dualität immer einseitig bleibt. Es ist ein grundsätzliches und
in allen Disziplinen zu findendes Missverständnis, die Cultural Studies durch
Exklusion der Anderen zu definieren – ihr besonderer Charakter und ihre Attraktivi-
tät liegen gerade in der theoretisch basierten Inklusion. Hier könnten sich kommuni-
kations-/sozialwissenschaftliche und medien-/literatur-/sprachwissenschaftliche An-
sätze auch in Deutschland mit Aussicht auf reichlich Synergien begegnen. Wenn sie
denn wollten.
Die sozialwissenschaftlich orientierte Kommunikationswissenschaft schließlich
hat sich in den letzten Jahrzehnten viel zu sehr auf einen zu engen Kommunikations-
begriff konzentriert und diskutiert immer noch über die Frage, ob es außer dem
Kernbereich der öffentlichen Kommunikation und seiner Bedeutung für die Formen
des menschlichen Zusammenlebens tatsächlich noch andere, gleichwertige Fragen
für sie geben kann. Dass die These von der Informations-, Wissens- oder Medien-
gesellschaft, in der wir heute leben, viel weitergehende Ansprüche an die Kommuni-
kationswissenschaft stellt, wird dabei ignoriert. Die meisten derer, die hier für eine
Öffnung argumentieren, gehen von einem engen Zusammenhang zwischen Kultur
und Kommunikation aus und verweisen auf den Erfolg der Cultural Studies im
angelsächsischen Raum (vgl. hierzu auch Karmasin/Winter 2003). Dieser Erfolg ist
nicht nur ein konjunktureller, sondern besteht auch darin, dass ein hochkomplexer,
integrativer und kulturell adaptionsfähiger Theorieentwurf im Entstehen ist, der hel-
fen kann, die Komplexität der sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen
Entwicklungen der Gegenwart in ihrem Kontext zu begreifen. Das ist auch der Aus-
gangspunkt des vorliegenden Textes, der von daher für eine breit angelegte Theo-
rieentwicklung argumentiert.
In diesem Feld also versuchen sich die Cultural Studies in Deutschland zu insti-
tionalisieren. Wie es ihnen darin weiter ergeht, darauf kann man gespannt sein. Not-
wendig wäre es für ihre Protagonisten, offen für die bereits vorhandenen Player zu
sein und in der Kooperation mit ihnen das eigene und besondere der Cultural Stu-
dies, nämlich ihre kritische Integrationsfähigkeit herauszuarbeiten. Wichtig dafür
wäre es, wenn die Cultural Studies ihre eigene Theorie ernst nähmen, nämlich dass
Gesellschaft, Kultur und Entwicklung konfliktbasiert und damit weder exkludierend
noch dogmatisch stattfinden – mit einer darauf bezogenen Analyse der eigenen
Möglichkeiten käme man vielleicht zu einer vernünftigen Strategie, auch im deut-
schen Sprachraum. Während sie sich im angelsächsischen mittlerweile zu einem
Sammelbecken qualitativer, ethnografischer, phänomenologischer, symbolisch-inter-
aktionistischer und sonstiger nicht dem sozialwissenschaftlichen Mainstream zuzu-
rechnender Ansätze entwickelt haben, in dem sie fast schon in ihrer Besonderheit zu
verschwinden drohen, bleiben sie hier zu Lande eher klein und für sich. Hier wäre
anzusetzen und in den Dialog mit verwandten Ansätzen einzutreten, die sich eigent-
lich gerade auch in den deutschen geistes- und sozialwissenschaftlichen Traditionen
finden.
Zu einer derartigen Auseinandersetzung will auch der hier vorliegende Text bei-
tragen, indem er sich mit dem Menschenbild der Cultural Studies beschäftigt und es
128 Friedrich Krotz

mit dem Menschenbild des Symbolischen Interaktionismus kontrastiert. Jede sozial-


wissenschaftliche Theorie hat explizit oder implizit ein Verständnis davon, was
Menschen sind und was für eine Rolle sie für das spielen, was also Thema dieser
Theorie ist. Das Konzept ‚Menschenbild‘ eignet sich folglich gut dazu, unterschied-
liche Theorien miteinander zu vergleichen, insofern es Unterschiede auf den Punkt
bringt und damit Möglichkeiten eines weiterführenden Diskurses eröffnet. Dabei ist
im vorliegenden Fall selbstverständlich klar, dass sich beide Ansätze voneinander
deutlich unterscheiden: während der Symbolische Interaktionismus eine konstrukti-
vistisch orientierte Handlungstheorie ist, müssen die Cultural Studies als kon-
textorientierte, kulturell dependente, aber hoch komplexe und integrationsfähige
Strukturtheorie verstanden werden. Da sie aber auf einem gemeinsamen Grund beru-
hen, ist eine gegenseitige Befruchtung möglich.
Im Folgenden wird dazu zunächst für beide Ansätze gemeinsam der Zusammen-
hang zwischen Kommunikation und Kultur aufgezeigt, um damit deutlich zu
machen, dass Cultural Studies und Symbolischer Interaktionismus nahe beieinander
liegende Theorien sind. Dann wird zunächst das Menschenbild der Cultural Studies,
danach das des Symbolischen Interaktionismus herausgearbeitet. In einem abschlie-
ßenden Teilkapitel werden Schlussfolgerungen aus der Gegenüberstellung gezogen.

2 Kommunikation und Kultur

Ausgangspunkt ist in dieser Hinsicht die These, dass die Welt des Menschen symbo-
lisch vermittelt bzw. der Mensch Bewohner einer rein symbolischen Welt ist. Im
Gegensatz zur Vorstellung vom Menschen als Maschine und zum Pawlowschen
Hund, dessen Speichelproduktion durch das Klingeln seines Betreuers unmittelbar
und automatisch angeregt wird, handeln Menschen im Normalfall nicht automatisch
oder reaktiv im Hinblick auf beobachtbares Geschehen, auf Reize oder genormte
Zeichen, sondern auf Grund der Bedeutungen, die ein Objekt, ein Geschehen, ein
Reiz oder allgemein, ein Zeichen für sie hat. Und dies ist eine Differenz, die für das
Verhältnis zwischen Mensch und Tier fundamental und charakteristisch ist. Der
Mensch ist folglich Mensch nur dadurch, dass er über Kommunikation, symbolisch
vermittelte Interaktion und über Sprache verfügt. Deshalb sind Menschen symboli-
sche Wesen oder Wesen, die auf den Umgang mit Symbolen fundamental ange-
wiesen sind. Durch die Möglichkeit und die Wirklichkeit des Hantierens mit Zeichen
und Symbolen auf der Basis von aktiv und kommunikativ konstituierten Bedeutun-
gen und insbesondere durch die Sprache unterscheiden sie sich vom Tier. Ohne die-
ses ontologisch differenzierende Vermögen wäre der Mensch nicht lebensfähig, weil
er biologisch bei der Geburt als unfertiges und für die direkte Bewältigung der
Umwelt unfähiges Wesen angesehen werden muss, das von sozialen, symbolisch
vermittelten Beziehungen existenziell abhängt und sich nur darüber selbst als Teil
der Gesellschaft erschaffen kann. Mit seiner Geburt steht er folglich vor der Not-
wendigkeit, Kommunikation zu lernen, und dafür ist er biologisch gerüstet. Und er
Gesellschaftliches Subjekt und kommunikative Identität 129

konstituiert seine Welt durch sein gesellschaftlich bezogenes Handeln in Bezug auf
Symbole (Berger/Luckmann 1980). Norbert Elias hat diesen Bezug zu Symbolen als
Charakteristikum der Menschen besonders betont:
„As one may see, human beings do not live in a four-dimensional, but in a five-dimensional
world. They locate objects of communication in accordance not only with their position in
space and time, but also with their position in the speakers‘ own world as indicated symboli-
cally by the sound-pattern which represents them in the speakers‘ language“ (Elias 1989:
514f., Hervorhebung im Original, vgl. auch ebenda: 200).
Er spricht in diesem Zusammenhang auch von dem doppelten Charakter unserer
Erfahrungswelt,
„as a world independent of, but including, ourselves and as a world mediated for our under-
standing by a web of human-made symbolic representations predeterminded by their natural
constitution, which materializes only with the help of processes of social learning“ (Elias
1989: 518).
In dieser Perspektive lassen sich jede Art von Kommunikation, ganz gleich ob
mediatisiert oder nicht, ob mit anderen Menschen, intelligenten Maschinen und Soft-
wareprogrammen (wie etwa Computerspielen) oder mit standardisierten Produkten
wie beim Lesen von Zeitungen oder dem Hören von Radio als Menge von kulturell
geprägten Praktiken, Konventionen und Formen begreifen, wie man hört und sieht,
spricht, denkt und träumt, wie man interagiert und auf andere gerichtete Interaktion
erlebt.2 Kommunikation ist also nicht nur Austausch von Informationen, sondern
basaler und komplexer symbolischer Prozess, durch den Realität erzeugt, aufrechter-
halten, korrigiert und weiterentwickelt wird (Carey 1989: 23). Die für die Kom-
munikation verwendeten Symbole haben danach einen Doppelcharakter: Sie sind ‚of
reality‘, indem sie Realität begrifflich bezeichnen – hier ist die Informationstrans-
porteigenschaft angesiedelt, auf die sich die Mainstream-Kommunikationswissen-
schaft bezieht (Maletzke 1978; Noelle-Neumann und andere 1994) –, und zugleich
‚for reality‘, indem sie sie damit auch generieren, weil sie erst durch einen Begriff
erfahrbar werden. Damit erweisen sich Kultur und Kommunikation als untrennbar
miteinander verbunden. Denn einerseits ist Kultur das „geordnete System von
Bedeutungen und Symbolen […], vermittels dessen gesellschaftliche Interaktion
stattfindet“ (Geertz 1991: 99), Kommunikation bedient sich also kulturell eingebet-
teter Symbole. Andererseits entsteht und entwickelt sich die Bedeutung der Dinge
bzw. der auf sie verweisenden Symbole aus der sozialen Interaktion, die die Men-
schen mit ihren Mitmenschen betreiben, in den interpretativen Prozessen, in denen
sie sich mit ihrer immer symbolisch konstruierten Umwelt auseinandersetzen (Carey
1989; Hall 1980; Blumer 1973). Ohne Rückgriff auf kulturelles Wissen wäre Kom-
munikation nicht möglich, und ohne Kommunikation könnte Kultur weder existieren
noch sich entwickeln. Ohne Sprache als Struktur gäbe es kein Sprechen und Denken
als Handlung und ohne Sprechen und Denken als Praxis gäbe es keine Sprache.
Deshalb muss ein kulturwissenschaftliches Konzept von (Medien-)Kommunika-
tion mindestens drei Bedingungen erfüllen: Es muss einmal darstellen können, wie
Kommunikation zwischen Menschen bzw. zwischen Menschen und Medien funkti-
oniert. Es muss zum zweiten über eine adäquate Sozialisationstheorie verfügen, um
130 Friedrich Krotz

Genese sowie gesellschaftliche und historische Bedingungen von Interpretations-


kontexten und Bedeutungszuweisungen erkennbar zu machen, sodass der Mensch zu
allererst als kommunikatives Wesen kenntlich wird. Und es muss schließlich zum
dritten eine Sichtweise auf die Gesellschaft als ‚fassbare Form der permanenten
Interaktionsprozesse, als das Interaktionssystem selbst‘, wie Geertz (1989: 99)
soziale Struktur von Kultur abzugrenzen versucht hat, entwickeln.
Diese Bedingungen kann m.E. derzeit keine der existierenden Theorien allein
erfüllen. Erst in einer Kombination kann hier eine Basistheorie entstehen, die der
Bedeutung von Kommunikation für das Zusammenleben der Menschen und ihren
Bezug zur Kultur als Netz von Bedeutungen gerecht wird.

3 Cultural Studies: Hegemonie, Gesellschaftsstruktur und der


kommunizierende Mensch

Die Cultural Studies verstehen Kommunikation als Bezugnahme und Einordnung


und damit Rekonstruktion von strukturellen gesellschaftlichen und kulturellen
Bedingungen durch das gesellschaftlich positionierte Subjekt. Diese Ausrichtung auf
Strukturen ergibt sich schlüssig aus der Orientierung der Cultural Studies an der
Semiotik bzw. Sprachwissenschaft und aus ihrer von Beginn an gestellten Frage
danach, wie denn ein Text, eine Medienbotschaft gemeint ist.
Dabei gilt Struktur in zweierlei Hinsicht als prioritär. Zum einen grundsätzlich
im Sinne der Sapir-Whorf-Hypothese (Whorf 1969), nach der jedes Denken und
Handeln sprachlich vermittelt ist. Jedes Sprechen und Denken verweist damit auf
eine vorgegebene Kultur und eine strukturierte Gesellschaft. Es ist ohne diesen Ver-
weis nicht zu verstehen. Zum anderen als Prämisse einer kritischen Gesellschafts-
theorie, die darauf besteht, dass die je praktizierten Lebens- und Umgangsformen
immer auch gesellschaftlich vermittelt und dementprechend von den gesellschaftli-
chen Machtbedingungen durchsetzt sind: Rezeption und Interpretation verweisen
deshalb auf kulturell und gesellschaftlich vorgegebene Diskurse, sie sind – in
Abwandlung eines Worts von Habermas – systematisch verwirrt.
In der Sichtweise der Cultural Studies produzieren Medien kodierte Botschaften
in Form eines bedeutungsvollen Diskurses. Basis für den Kodierungsprozess sind
die Wissensbestände auf der Produktionsseite, die sozialen und ökonomischen
Beziehungen der Produktion und ihre technische Bedingungen, insgesamt also die
dadurch konturierten „meaning structures“ (Hall 1980). Diesem Kodierungsprozess
ist damit auch eine spezifische Leseweise mitgegeben, ein Verweis, wie und in
Bezug auf welche gesellschaftlichen Diskurse ein ‚idealer Leser‘ die Botschaft zu
lesen hat. Beispielsweise weiß jeder mehr oder weniger genau, wie man einen Hol-
lywood-Film oder wie man Nachrichten rezipieren soll, – nicht nur im normativen
Sinn und in Abhängigkeit von den jeweiligen Inhalten, sondern auch ganz allgemein
nach der Anlage des Genres, das als eine Art kommunikative Gattung spezifische
Haltungen und Umgangsweisen nahe legt. Dieses von Seiten der Kommunikatoren
Gesellschaftliches Subjekt und kommunikative Identität 131

mitgelieferte „preferred reading“ ist als eine Art im Text angelegte Empfehlungs-
struktur, als eine Folge von Verweisen, die eine Interpretationsweise fördern und
andere erschweren (Fiske 1987: 65), zu begreifen. Die psychoanalytische Film-
theorie (Metz 1994; Zeul 1994) und die frühen Rezeptionsvorstellungen der Cultural
Studies haben sich auf diese Vorgabe konzentriert (Moores 1993; Morley 1992) und
versucht, diesen idealen Leser zu beschreiben und die im Text angelegte Leseweise
als eine Art Normalrezeption zu begreifen.
Aber mit der Textvorgabe allein kann der Rezeptionsprozess nicht verstanden
werden, wie es vor allem das Encoding/Decoding-Modell Halls (1980) postuliert.
Texte stehen nicht für sich, es geht auch nicht vorrangig um ihre manifesten, in
Inhaltsanalysen erhebbaren Inhalte, denen auf der Seite der Rezipienten Konsumti-
ons- oder Geschmacksprozesse gegenüberstehen. Vielmehr sind sie, ebenso wie bei-
spielsweise Kunstwerke, nichts als Notationen, die von den Rezipienten aktiv inter-
pretiert, also kontextbestimmt dekodiert werden müssen und die erst in dieser Inter-
pretation zu untersuchbaren Kommunikaten werden. Mediale Texte sind folglich
dadurch bestimmt, wie die Menschen mit ihnen umgehen: Jeder Text verweist auf
spezifische gesellschaftliche Praktiken, die mit anderen Praktiken und Praxisberei-
chen der Menschen in Verbindung stehen. Die Frage nach dem Umgang der Men-
schen mit den Medien kann sich demnach nicht an einem Modell der nutzbringen-
den Verwendung einer als objektiviert gedachten Mitteilung orientieren, wie es etwa
der Uses-and-Gratifications-Ansatz (Rosengren et al. 1985) annimmt, sondern muss
die Konstruktion des Textes als soziale Tatsache durch den Leser, also die aktive
Interpretation als gesellschaftliche Praxis in den Vordergrund stellen.
Texte appellieren also in der Perspektive der Cultural Studies einerseits an rela-
tiv stabile, spezifische kulturell geformte Subjektivitätsebenen des Rezipienten, inso-
fern sie bestimmte Lesarten nahelegen. Denen stehen andererseits ebenfalls zeitlich
und gesellschaftlich stabile Interpretationsweisen des rezipierenden Subjekts gegen-
über, das zur Interpretation in (für es) relevanten Kontexten entstandenes und
erfahrenes Wissen und seine Denkweisen heranzieht. Im Spannungsverhältnis dieser
beiden deutungsprägenden Ebenen entsteht der subjektiv konstruierte Text, der als
interpretierter in den Wissensvorrat des Subjekts integriert und so zur sozialen Tat-
sache wird. So lässt sich also das damit entworfene Konzept der Cultural Studies
gegen die analytische Trennung von medialem Angebot und Rezeption mit dem
prägnanten Satz „texts are made by their readers“ auf den Punkt bringen (vgl. auch
Wren-Louis 1983).
Die mögliche Vielfalt, wie ein Text interpretiert werden kann, darf dabei nicht
als pluralistisch verstanden werden. Denn nicht alle Bezugsrahmen, in die der Text
eingeordnet werden kann, sind gesellschaftlich gleichwertig – hier wird der Bezug
auf das Gramscische Hegemoniekonzept (Gramsci 1991; Williams 1983a) sichtbar.
Nach Gramsci meint Hegemonie, dass eine dominierende Klasse ihre Interessen so
zur Geltung bringt, dass auch subalterne Klassen die ihren in gewissem Ausmaß
darin wiederfinden. Dies wird nicht als Zustand gesehen, sondern als ein kontinuier-
licher Prozess der Reproduktion der Gesellschaft, auf den dementsprechend auch
Einfluss genommen werden kann:
132 Friedrich Krotz
„Vielmehr handelt es sich dabei um einen ganzen Korpus von Praktiken und Erwartungen, um
all das, worauf wir unsere Energie verwenden, um unser Verständnis von Welt und Mensch.
Es handelt sich um ein Bündel von Bedeutungen und Werten, die, da sie als Praktiken
erfahren werden, sich gegenseitig zu bestätigen scheinen. Und dies konstituiert für die meis-
ten Menschen der Gesellschaft einen Sinn von Realität, von absoluter, da erfahrener Realität,
über den sie in ihrem normalen Lebensbereich nur schwer hinausgehen können.“ (Williams
1983b: 190f.)3.
Das Individuum wird von den Cultural Studies folglich als kulturell vermitteltes und
gesellschaftlich situiertes verstanden, das freilich durch seine Formung unter dem
Einfluss unterschiedlicher gesellschaftlicher Agenturen gebrochen und widersprüch-
lich ist, und dessen Handeln und Interpretieren vor allem diskurs- und perspektiven-
abhängig ist. Die gesellschaftliche Positionierung des Individuums erscheint
dadurch als zentraler und prägender Kontext jeder Medienrezeption. Der Rezipient
interpretiert vor allem im Hinblick auf seine materielle Lebensbasis und seine wei-
teren wesentlichen Lebensbedingungen wie Generation und Geschlecht, sein sozia-
les Beziehungsgefüge und seine Interessen, indem er die dadurch geprägten Sicht-
und Deutungsweisen an das Kommunikat heranträgt.4
Anders ausgedrückt heißt dies, dass medienbezogene Kommunikation in der
Sicht der Cultural Studies ihren Bezug immer in spezifischen gesellschaftlichen Dis-
kursen findet, verstanden als „socially located and politically interested way of
making and circulating a particular sense of social experience“ (Fiske 1994: 471).
Leser und Leserin beziehen sich auf gesellschaftliche Diskurse (denen sie mögli-
cherweise fragmentiert gegenüberstehen), und ihre Rezeption findet durch das
‚Zitieren‘ dieser Diskurse als Interpretationsfolie statt. Die Cultural Studies, so lässt
sich daraus folgern, tendieren zu einem kulturellen Determinismus, der die kom-
munikativen Aktivitäten der Individuen recht rigide auf die kulturelle Wirklichkeit
eines strukturierten gesellschaftlichen Lebens bezieht. Diese Sichtweise verweist
dann wieder auf die enge Beziehung dieses Ansatzes zu einer strukturell angelegten
Semiotik.
In diesem Sinn haben die Cultural Studies ein sehr spezifisches und insgesamt
einseitiges Menschenbild: Über eine Vorstellung, wie der konkrete Kommunikati-
onsprozess in konkreten Situationen zwar als gesellschaftlich präformiertes und ent-
scheidend bestimmtes Geschehen, aber zugleich doch auch als individuelles kreati-
ves Handeln verläuft, die zur Korrektur dieses Menschenbildes beitragen könnte,
verfügen die Cultural Studies nicht. Die Besonderheiten individuellen Handels und
individueller Kommunikation auf der Basis individueller Biografiekonstruktion und
Identität geraten ihnen so nur als Randbedingungen in den Blick.
Gesellschaftliches Subjekt und kommunikative Identität 133

4 Symbolischer Interaktionismus: Kommunikation als konkretes und


situatives Handeln und Erleben

Komplementär zu den Einsichten der Cultural Studies hat sich der ebenfalls als kul-
tursoziologisch zu apostrophierende Symbolische Interaktionismus (Krotz 1992a,
1996a, 1996b, 2001a, 2001b) nun gerade mit dem beschäftigt, was als Leerstellen
der Cultural Studies bezeichnet werden muss. Der symbolische Interaktionismus
begreift Kommunikation als kreative Leistung des methodisch und regelgeleitet han-
delnden Individuums und konzentriert sich auf die situationalen und personalen
Kontexte von Kommunikation. Soziales Handeln und jede Form der Kommunika-
tion haben danach ihren Ursprung in als prozessual gedachten, konstruierten Vis-à-
Vis-Situationen, in denen die beteiligten Individuen in Rollen miteinander inter-
agieren. Dabei werden im Prozess des Aushandelns dessen, was die Situation ist,
Bedeutungszuweisungen und Interpretationsregeln angewandt, überdies werden sie
dabei auch immer wieder neu erzeugt. Situation5 darf dabei nicht als das in externer
Perspektive Beobachtbare, als das objektiv hier und jetzt Vorhandene missverstan-
den werden. Vielmehr muss sie in der Perspektive des Akteurs als ein konstruiertes,
strukturiertes Ganzes begriffen werden, dessen Horizont genau das einschließt, was
für den Akteur von Bedeutung ist (Halas 1985: 160) bzw. was ihm von anderen
Beteiligten als bedeutsam nahe gelegt wird. Situation als Entität in der Perspektive
der Akteure beinhaltet insbesondere auch eine spezifische Interpretation der indivi-
duellen Geschichte und der gewachsenen Identität des jeweiligen Akteurs. Und
natürlich wird sie im Hinblick auf kulturelle und gesellschaftliche Regeln, Normen
und Werte definiert, wie zum Beispiel die mikroanalytischen Untersuchungen Goff-
mans (1973, 1977, 1982) deutlich machen. Die Definition der Situation, die jeweil-
igen Rollen, in denen die Beteiligten auftreten, ihre aktuellen Interessen und Absich-
ten und ihre spezifische Identität, all dies beruht auf strukturellen, beispielsweise
über Sozialisation zur Geltung kommenden Einflüssen wie etwa der sozialen Defini-
tion des Geschlechts und der gesellschaftlichen Position. Diese strukturieren die
Interpretationen und die Konstruktion von Wirklichkeit, aber sie determinieren sie
nicht, weil dafür auch personal bestimmte, mehr oder weniger individuelle, situative
Bedeutungszuweisungen und Gefühlslagen relevant sind. Welche Rolle etwa die
vom Individuum vorgängig gemachten und verarbeiteten Erfahrungen und die dar-
auf konstituierte Identität dabei spielen, beschreiben Miebach (1991) sowie Burkitt
(1991) im Rahmen der Darstellung und Bedeutung des Sozialisationskonzepts des
Symbolischen Interaktionismus.
Dem ist hier nur noch kurz anzufügen, dass der Symbolische Interaktionismus
auf der Basis der Arbeiten Meads (1969, 1973) ein eigenständiges handlungstheore-
tisch orientiertes Kommunikationskonzept beinhaltet. Es unterstellt auf der einen
Seite die Produktion von Symbolen, die aber nur dadurch verstanden werden kann,
weil und insofern der Rezipient in der aktuellen Situation imaginativ die Rolle des
134 Friedrich Krotz

Anzeigenden übernimmt und darin auf der Basis seiner eigenen Erfahrungen in der
gleichen Gesellschaft, also letztlich traditionell gestützt, einen Entwurf machen
kann, was das Symbol wohl bedeuten soll. Die Kraft der Meadschen Theorie liegt
darüber hinaus darin, dass sich dort auch Hinweise darauf finden, wie durch die
menschlichen Interaktionen und ihre Bedingungen typisch menschliche Entitäten
wie Bewusstsein und Selbstbewusstsein entstehen, ohne die das Besondere des ver-
gemeinschafteten Menschen nicht bestimmbar wäre (vgl. hierzu auch Krotz 2001a).

5 Einige Schlussfolgerungen

Symbolischer Interaktionismus und Cultural Studies berühren sich – wenn auch


nicht explizit – im Begriff der Bedeutung und im Begriff der Kultur als lebensprakti-
sches Netz von Bedeutungen als zentrales Konzept dafür, was für das Individuum
handlungsleitend ist. Dabei ist unter ‚Bedeutung‘ nicht ein Zusatz, eine Art von
außen hinzugefügtes surplus etwa eines Objekts zu verstehen, sondern eine Wahr-
nehmungsweise, in der sich dieses Objekt überhaupt erst als eigenständiges Phäno-
men, als ‚Faktum‘ konstituiert. Bedeutungen legen also Handlungs-, Denk- und
Sprechweisen hinsichtlich eines Objekts fest, durch sie entsteht das Objekt als
Gegenstand menschlichen Handelns und Erlebens (Lindesmith/Strauss 1983). Die
Cultural Studies fassen dies in ihrem Begriff der Kontexte, über die Bedeutung und
Verstehen von Kommunikation vermittelt ist. Menschen leben dementsprechend in
beiden Theorieansätzen in einer Welt aus gedeuteten Symbolen, die sie aber in der
einen Theorie als Gesellschaftswesen, aber anderen im Hinblick auf die ihnen
eigentümliche und nur ihnen eigene Identität in ihren Interaktionen konstruieren.
Weil soziales Geschehen und soziale Strukturen aus dem sozialen Handeln der Men-
schen und damit aus ihren Interaktionen entstehen, wird damit das Bild einer durch
und durch sozialen Welt unterstellt.
Eine am Konzept der Bedeutung und nicht am Modell vom Informationstrans-
port ansetzende Kommunikations- und Medientheorie muss deswegen von einer
„Soziologie der sozialen Objekte“ (McCarthy 1989) in der Perspektive der Indivi-
duen ausgehen und an diesem – individuellen wie überindividuellen – Prozess der
Bedeutungskonstruktion und Interpretation anknüpfen: Wissen entsteht nicht als
Abbildung der Wirklichkeit, sondern in der Anwendung der Sprache und in der Pra-
xis sozialen Handelns unter realen Bedingungen und innerhalb von Beziehungen in
sozialen Situationen: „Things are the signs of words“ (Carey 1989: 25). Dinge sind
dementsprechend nicht nur sich selbst erklärende (materiale) Objekte, sondern
immer auch sprachlich und kulturell vom Individuum in der Gesellschaft gedeutete
Gegenstände, der Mensch wird hier als aktiv und kreativ handelndes Kulturwesen
kenntlich (vgl. hierzu auch Krotz 1996b, 1998).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Symbolischer Interaktionismus und
Cultural Studies (Medien-)Kommunikationstheorien entwerfen, die sich einerseits
auf die gleichen Grundlagen, nämlich die Bedeutungskonstruktion durch die Men-
Gesellschaftliches Subjekt und kommunikative Identität 135

schen, beziehen und die sich andererseits ergänzen, insofern sie je Sprechen und
Sprache, situatives Handeln und Aktualisierung von Struktur, individuelle Kreativi-
tät und gesellschaftlich geprägten Diskurs betonen. Die beiden kulturwissenschaftli-
chen Ansätze gehen im Grunde zusammenhängenden Fragen nach, nehmen dabei
aber unterschiedliche, oft komplementäre Sichtweisen ein. Wo ihre Inkompatibilitä-
ten liegen, wäre vertiefend zu klären (vgl. auch Krotz 2001). Aus ihnen gemeinsam
kann aber eine kultursoziologische Medienkommunikationstheorie entstehen, die
offen und wohl auch kompatibel mit Theorien wie denen ist, wie sie Bourdieu oder
Elias entworfen und belegt haben. Im Hinblick auf eine adäquate Empirie lässt sich
ergänzend sagen, dass menschliches Handeln und die dadurch erzeugte soziale Welt
prinzipiell immer rekonstruktiv und sinnverstehend untersucht werden müssen;
quantitative Verfahren, die Handeln als Verhalten von außen betrachten, eignen sich
nur zur Beschreibung von Rahmenbedingungen.
Hinzu käme, dass eine solche Zusammenschau eine prozessorientierten Perspek-
tive auf das ermöglicht, was Kommunikation und was soziale und kulturelle Ent-
wicklung ist. Statt Kommunikation und Interaktion zu verdinglichen, wie es im
Modell vom Informationstransport am Auffälligsten ist, und statt die sich rapide ver-
ändernde Gesellschaft und allgemeiner, die Formen menschlichen Zusammenlebens
als einen Endzustand, als eine irgendwie zu erreichende Gesellschaft zu beschreiben,
ist es in einem solchen Ansatz möglich, Kommunikation handlungstheoretisch als
Prozess und Gesellschaft als sich weiter entwickelndes Produkt von Metaprozessen
zu behandeln – der Symbolische Interaktionismus stellt hier die handlungstheoreti-
sche Perspektive bereit, die Cultural Studies verfügen mit ihrem Konfliktkonzept
dazu über eine theoretische Sichtweise, die das Zustandekommen und die Interak-
tion von Metaprozessen theoretisierbar machen könnte (vgl. hierzu auch Krotz
1993).
Eine derartige vereinigte kultursoziologische Perspektive wäre m.E. in der Lage,
die derzeitigen gesellschaftlichen und medialen Entwicklungen adäquat zu erfassen,
die unter Etiketten wie Digitalisierung, Individualisierung, Globalisierung oder
Mediatisierung bisher für sich untersucht werden. Insofern sich Biografie, Selbst-
bild, Alltag und Handlungsbedingungen der Individuen verändern, verändern sich
nicht nur die transportierten Informationen, sondern auch die Umgangsweisen der
Menschen damit. Und durch die neuartigen Möglichkeiten einer interaktiven Kom-
munikation, die gewissermaßen zwischen zwischenmenschlicher Interaktion und
medienbezoger Rezeption angesiedelt ist, entstehen neue Interaktionsbedingungen
und verändert sich das kommunikative Handeln der Menschen. Hier läge ein wichti-
ger Schwerpunkt einer kommunikationssoziologischen Forschung, die auf ein Ver-
ständnis der sich immer stärker auch durch Medien verändernden Welt ausgerichtet
ist.
136 Friedrich Krotz

Anmerkungen

1 Um diese Behauptung nicht so offen stehen zu lassen: Viele der theoretischen Ansätze der
Soziologie wie zum Beispiel die Individualisierungsthese oder die Globalisierungsdiskus-
sion wären mit einer kultursoziologischen Reformulierung (wie sie Beck ja auch ange-
mahnt hat), besser und gesellschaftlich relevanter zu diskutieren.
2 Vgl. zum Folgenden insgesamt auch Krotz 1998 sowie Krotz 2001.
3 In diesem Bezug auf Hegemonie als Bündel von Bedeutungen und Werten und ihrer
Bestätigung als erfahrene Praxis ist ein weiterer wichtiger Gedanke enthalten. Nämlich
der, dass das Individuum keineswegs frei ist, sich seinen Standpunkt willkürlich zu wäh-
len. Denn das hegemonial bestimmte Denken ist mit dem Alltag untrennbar verwoben.
Die gerne von Intellektuellen vertretene These, dass beispielsweise Game- oder soge-
nannte Kuppelshows im Fernsehen ganz generell auf ironische Weise rezipiert werden,
geht deswegen an der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorbei, ist vielleicht auch Teil der
gesellschaftlichen Ideologie. Eine etwa reflexive Distanz zu dem, was normal und üblich
ist, ist per Entschluss allein nicht zu gewinnen.
4 Das Individuum, das als Teil des Publikums in der traditionellen Nutzungsforschung mehr
oder weniger als abgegrenzte Einheit behandelt wird, wird dadurch in unterschiedliche
gesellschaftliche ‚Komponenten‘ aufgelöst, die durch einen spezifischen medialen Text
angesprochen werden können bzw. von denen her rezipiert werden kann.
5 Vgl. auch das sog. Thomas-Theorem: Wenn Individuen eine Situation als real für sich
definieren, dann ist diese Situation für sie auch real (Thomas/Thomas 1973).

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Inszenierungen des Begehrens: Zur Rolle der Fantasien im
Umgang mit Medien

Brigitte Hipfl

1 Vorbemerkungen

Wenn ich in meinen Lehrveranstaltungen den Bereich der Medienrezeption bearbei-


te, bekunden die Studierenden immer wieder ihr Interesse an den unbewussten Pro-
zessen, die bei Medienerlebnissen involviert sind. Mehr noch, sie gehen davon aus,
dass diese eigentlich eine zentrale Rolle in der Erklärung von Medienrezeption ein-
nehmen müssten. Wenn sie sich dann den verschiedenen theoretischen Ansätzen
zuwenden, die gegenwärtig den mehrheitlich akzeptierten Kanon der Medienrezepti-
onsforschung bilden, finden sie darauf keine zufrieden stellenden Antworten. Entwe-
der wird dort die Kontextabhängigkeit der Bedeutungskonstruktionen betont und der
Fokus auf bewusste Prozesse gerichtet, eventuell ergänzt um den Hinweis, dass bei
den ‘aktiven Rezipientinnen und Rezipienten‘ auch unbewusste Elemente zum Tra-
gen kommen, ohne diese jedoch genauer zu beschreiben. Oder es kommt, wie etwa
in den psychoanalytischen Filmtheorien, zu einer Fixierung auf die Subjektpositi-
onen, die in den Medienangeboten vorliegen, wobei die Menschen, die sich den Fil-
men zuwenden, vernachlässigt werden. Auch die Cultural Studies werden häufig –
und das ist wohl noch eine Auswirkung der heftigen Kontroversen zwischen der
psychoanalytisch fundierten „Screen Theory“ und den Cultural Studies in den
1970er Jahren in Großbritannien – in Gegenposition zu den psychoanalytischen
Filmtheorien gesetzt (vgl. etwa Stacey 1994).
Gleichzeitig wird aber immer wieder ein Anliegen geäußert (vgl. Donald 1991;
Stacey 1994; Camera Obscura 1989), das auch mich (aus einer Position innerhalb
der Cultural Studies) schon länger beschäftigt (vgl. auch Hipfl 2001): Wie kann ein
fruchtbarer Dialog von Cultural Studies und Psychoanalyse eingeleitet werden, der
dazu führt, dass in der Auseinandersetzung mit kulturellen Phänomenen und kul-
turellen Praktiken auch die so wichtige Rolle unbewusster Prozesse ernst genommen
wird?
In den Cultural Studies ist das Hauptaugenmerk auf die in einer Gesellschaft
existierenden Denkmuster, Lebensformen und kulturellen Produktionen sowie auf
die sozialen Unterschiede, ökonomischen Bedingungen und Machtbeziehungen, die
darin wirksam werden, gerichtet. Die zentralen Grundannahmen lassen sich schlag-
140 Brigitte Hipfl

wortartig folgendermaßen zusammenfassen: Unsere Kultur ist gekennzeichnet durch


die Zirkulation von Bedeutungen. Diese Bedeutungsangebote, die vor allem über die
diversen Medien in Umlauf gebracht werden, sind Ausdruck bestimmter Diskurse
und damit verbundener Interessen und Machtverhältnisse. Die verschiedenen Bedeu-
tungen sind insofern ‚umkämpft‘, als es darum geht, möglichst viele Menschen dazu
zu bringen, die jeweilige Sicht und Denkweise und/oder bestimmte kulturelle Prakti-
ken zu übernehmen und diese damit zu reproduzieren. Uns Menschen kommt hier
ein aktiver Part zu, als es an uns liegt, dieses Angebot – aus unserem je spezifischen
soziokulturellen Kontext heraus – zu interpretieren und bedeutungsvoll zu machen.
Das Wissen um die Wirkweise kultureller Prozesse wird mit dem politischen
Anspruch von „Empowerment“ und Handlungsfähigkeit verknüpft (vgl. z.B. Edi-
torial der Zeitschrift „Cultural Studies“; die Klassiker der Cultural Studies wie Tur-
ner 1990; Nelson/Treichler/Grossberg 1992; Kellner 1995, aber auch die Texte, mit
denen die Cultural Studies im deutschen Sprachraum eingeführt wurden wie z.B.
Engelmann 1999; Hepp 1999/2004; Hall 2000; Lutter und Reisenleitner 2001; Win-
ter 2001).
Bei den Arbeiten zur Medienrezeption, die in den Cultural Studies ethnografisch
ausgerichtet sind, besteht eine Tendenz, die Ergebnisse in erster Linie als Beispiele
für die aktive Bedeutungskonstruktion der Mediennutzerinnen und -nutzer zu inter-
pretieren und mit Widerständigkeit gegenüber den nahe gelegten Bedeutungen
gleich zu setzen. Hört die Analyse an dem Punkt auf, wird damit die Chance vertan,
sich näher mit den Prozessen zu befassen, die die Menschen dazu veranlassen,
bestimmte Subjektpositionen einzunehmen. Wollen wir dem politischen Anspruch
der Cultural Studies gerecht werden, sollten wir unser Interesse aber gerade auf
diese Prozesse richten, weil sie uns deutlich machen, wie wir uns in bestimmte Ideo-
logien einarbeiten.
Hier liegt es meiner Meinung nach nahe, auf die Psychoanalyse als theoreti-
schen Diskurs zurückzugreifen, „[…] mit dessen Hilfe Erkenntnisse (vor allem über
die Struktur des Subjekts) zu erlangen sind, welche in anderen Diskursen nicht auf-
tauchen“ (Sturm 1996: 286). Ich versuche in diesem Beitrag die Fruchtbarkeit eines
Dialogs von Cultural Studies und Psychoanalyse am Beispiel der Fantasien, die eine
wichtige Rolle bei der Rezeption von Medien spielen, aufzuzeigen. Dazu werde ich
mit der Konzeption des Subjekts, wie sie vor allem in der Psychoanalyse von Jac-
ques Lacan entwickelt wurde, beginnen, um die zentrale Rolle der Imaginationen für
die Subjektbildung verständlich zu machen. In den Ausführungen zu den Fantasien
kommt dem Modell von Ducrot – einer Verbindung von Sprechakttheorie und
Lacanscher Psychoanalyse – eine prominente Rolle zu. Wie insbesondere aus den
Arbeiten von Slavoj iek (1996, 1997) und Renata Salecl (1994a, 1994b) deutlich
wird, eröffnet sich damit auch ein anderer Zugang zur Frage ideologischer Wirkun-
gen. Abschließend wird die Bedeutung der Fantasien anhand von Medienrezeptions-
beispielen illustriert.
Inszenierungen des Begehrens 141

2 Das Subjekt in der Psychoanalyse

Die Psychoanalyse konzentriert sich auf das Spannungsfeld von Sozialem und Psy-
chischem bzw. auf die Rolle der Kultur als Kontrollinstanz der menschlichen Trieb-
impulse, die in gesellschaftlich akzeptierte Muster übergeführt werden. Es wird vor
allem die Bedeutung unbewusster Prozesse für Identität, Sexualität und für die
Strukturen unseres Begehrens aufgezeigt und damit das (moderne) Selbstverständnis
des vernünftigen, selbstbewussten Subjekts mit einer einheitlichen, stabilen Identität
gehörig ins Wanken gebracht (vgl. Hall 1994: 194 f.). Gerade die Weiterentwicklun-
gen der Freudschen Konzeptionen durch Lacan ergänzen die poststrukturalistische
Rede vom dezentrierten und performativ konstitutierten Subjekt (vgl. Butler 1991,
1995), die uns leicht zur Vorstellung beliebig auswechselbarer Identitätsinszenierun-
gen verleiten kann, um die „viel dunklere, verdrängte und unbewusste Seite von
Identität“ (jagodzinski 2004b: 340), die pardoxerweise das konstante Element von
Subjektivität darstellt (vgl. Fink 1995).
Mit der zusammenfassenden Darstellung der wichtigsten psychoanalytischen
Konzepte zur Subjektentwicklung bei Lacan möchte ich die zentrale Rolle der Vor-
stellungen und Bilder verdeutlichen, die im Laufe dieses Prozesses (bestimmt vom
jeweiligen soziokulturellen Kontext) entwickelt werden, und dazu führen, dass wir
uns als einheitliche und selbstbestimmte Subjekte imaginieren.1 Für Lacan ist die
Entwicklung des Subjekts der schwierige Prozess eines Kleinkindes, über die Bezie-
hung zu anderen eine Position in der Symbolischen Ordnung, die sprachlich struk-
turiert ist, zu finden. Dieser Prozess geht einher mit Trennungs- und Verluster-
fahrungen, mit denen gleichzeitig das Begehren grundgelegt wird.
Die erste Erfahrung dieser Art bezieht sich auf die schrittweise Beendigung von
Ganzheit und Einheit, die das Kind im Mutterleib, aber auch noch nach der Geburt
erlebt. Ein Neugeborenes nimmt anfangs keine Grenzen zwischen sich und anderem
wahr und unterscheidet z.B. nicht zwischen sich und der für Ernährung und Wohlge-
fühl sorgenden Mutter. Freud spricht in dem Zusammenhang vom „ozeanischen
Selbst“ des Kleinkindes. Auf Grund der spezifischen Pflege des Babys werden
bestimmte Körperpartien, und zwar die Körperöffnungen, zu den Orten, über die die
Libido kanalisiert wird. Das Kind versucht, sich die Dinge, die ihm Genuss verlei-
hen, und die mit dem Gefühl von Ganzheit, Sattheit und Befriedigung verbunden
sind, einzuverleiben. Das erste Objekt dieser Art ist üblicherweise die mütterliche
Brust. Die Brust wird zum Objekt, das, wenn es nicht vorhanden ist, vom Baby
begehrt wird. Dabei geht es aber nicht um die Brust an sich, sondern um die Befrie-
digung, die das Saugen an der Brust verschafft. Die Brust wird also zum Zeichen für
das verlorene Objekt – die Befriedigung (vgl. Cowie 1990: 158). Bereits hier werden
erstmals Fantasien entwickelt, indem ein Zusammenhang hergestellt wird zwischen
der Brust und dem, was dem Kind fehlt, damit es sich vollständig und ganz fühlt.
Dieselbe Funktion wie die Brust nehmen beim Baby auch Stimme und Blick eines
142 Brigitte Hipfl

anderen Menschen (etwa der Mutter), im weiteren Leben dann viele andere Objekte
ein. Lacan bezeichnet diese Objekte als „Objekte klein a“, deren besonderer Wert
für das Subjekt gerade darin besteht, dass sie für etwas stehen, das dem Subjekt für
sein Gefühl von Ganzheit fehlt.
Die Bilder, die in dieser frühen Phase entstehen, sind Bilder der Einheit und
Ganzheit, die dem Bereich des Imaginären zugeordnet sind. Lacan unterscheidet die-
sen Bereich der Bilder und Vorstellungen, Gefühle und Verlockungen, die vor allem
auf den Körper bezogen sind, von den zwei anderen psychischen Registern – dem
Symbolischen und dem Realen.
Das klassische Beispiel, mit dem die Rolle des Imaginären beschrieben wird, ist
das sogenannte Spiegelstadium, an dem ersichtlich wird, dass sich die Identität eines
Kindes nicht aus seinem Inneren heraus, sondern außerhalb von sich, durch die
Identifikation mit dem eigenen Körperbild, ergibt. Als Spiegelstadium bezeichnet
Lacan ein Entwicklungsstadium zwischen dem sechsten und achtzehnten Lebens-
monat, in dem das Kind noch abhängig ist von der Pflege anderer Menschen und
seine motorische Kontrolle noch sehr eingeschränkt ist. Trotzdem kann sich das
Kind als ganzes und für sich selbst stehendes Wesen erkennen. Dies wird am Bei-
spiel eines Spiegelbilds verdeutlicht, kann sich aber auch auf das Abbild im Blick
der Mutter oder auf die Spiegelung in verschiedenen Abbildungen, von denen das
Kind umgeben ist, beziehen (vgl. Silverman 1983: 160). Das Kleinkind erkennt sein
eigenes Bild im Spiegel, das es im Gegensatz zur eigenen Körpererfahrung als ganz-
heitliche Gestalt wahrnimmt. Das Kind bejubelt dies, weil es damit einen Zustand
körperlicher Koordination antizipiert, den es noch nicht erreicht hat. Das Kind
identifiziert sich hier mit einem „Ideal-Ich“, das eine zukünftige Einheit und Voll-
kommenheit verspricht. Dieses Bild vom Ich ist im Imaginären angesiedelt. Der Pro-
zess des (V)Erkennens auf der Basis eines von sich selbst getrennten Bildes ist mit
ambivalenten Gefühlen verbunden. Einerseits liebt das Kind diese kohärente Identi-
tät, die das Spiegelbild liefert, andererseits hasst es das Bild, weil es von ihm
getrennt ist. Die mit dem Spiegelstadium beschriebene narzisstische Dimension ist
nicht nur auf diese spezifische Entwicklungsstufe beschränkt, sondern steht für die
Struktur der Beziehung zum eigenen Körperbild, die im Imaginären besteht. Das
Oszillieren zwischen so gegensätzlichen Emotionen wie Liebe und Hass, das im
Spiegelstadium auftritt, ist auch für das Imaginäre bestimmend (vgl. Silverman
1988: 158).
Jeder Mensch wird in eine bereits existierende Symbolische Ordnung hinein
geboren. Selbst vor seiner Geburt ist er darin eingebunden, indem „er besprochen,
benannt, mit Fantasien besetzt und häufig auch schon mit einem Namen in die exis-
tierende sprachliche Ordnung eingeschrieben“ (Sturm 1996: 83) wird. Wird ein
Baby geboren, befindet es sich „bereits in einem in gewisser Weise strukturierten
symbolischen Raum mit einem darin für es vorbereiteten Ort“ (Leiser 1996: 34).
Mit Symbolischer Ordnung bezeichnet Lacan unter Rückgriff auf Claude Lévi-
Strauss die Gesetze und Regeln, die das Zusammenleben der Menschen, die soziale
Welt, strukturieren. Dabei spielt die Sprache eine ganz zentrale Rolle, und zwar, so
Paul Verhaeghe (1998: 55), weniger als „ein Kommunikationsmittel als ein Mittel
Inszenierungen des Begehrens 143

der Identifizierung“ (Betonung durch den Autor). Das heißt, dass jedem bzw. jeder
Einzelnen mittels Sprache ein Platz in der Symbolischen Ordnung (mit den damit
verknüpften Regeln und Erwartungen) zugewiesen wird – du bist die Mutter von
[…], Studentin, Richter, Polizist etc. Lacans Interesse ist (in Weiterentwicklung der
Zeichentheorie von de Saussure) vor allem auf diese Signifikanten gerichtet. Bedeu-
tung ist gewissermaßen der „Effekt“ der sich differenziell konstituierenden Signifi-
kanten. Das heißt, es besteht z.B. keine direkte Beziehung zwischen dem Wort
„Vater“ und der physischen Existenz eines bestimmten Vaters, vielmehr entsteht die
Bedeutung „Vater“ innerhalb eines Netzwerkes von Signifikanten aus den Differen-
zen zu anderen Signifikanten (wie etwa Mutter) sowie der Stützung durch bestimmte
Signifikanten (wie etwa Phallus, Gesetz). Der Sprache kommt damit eine realitäts-
konstituierende Funktion zu, indem sie die soziale Welt, die wir mit anderen teilen,
herstellt. Gleichzeitig steht die Sprache für eine weitere Entfremdung des Subjekts
von seinem eigentlichen ‚Sein‘, seiner Körperlichkeit und seinen libidonösen
Bedürfnissen. Lacan unterscheidet Realität vom Realen, wobei das Reale sowohl das
‚Sein‘ des Subjekts als auch die Außenwelt umfasst und für das ‚Unsagbare‘,
‚Unfassbare‘, wie etwa auch für den Tod steht.
Für die Beschreibung des Eintritts des Kindes in die Sprache greift Lacan auf
das von Freud an seinem Enkelsohn beobachtete „Fort-Da-Spiel“ zurück. In dem
Spiel wirft das Kind eine mit einem Faden umwickelte Holzspule weg, sodass sie
verschwindet. Dies wird von einem lang gezogenen o-o-o-o begleitet, dann zieht es
die Spule an dem Faden wieder zu sich und sagt bei ihrem Auftauchen freudig „Da“.
Das Kind inszeniert in diesem Spiel das Drama von Anwesenheit und Abwesenheit.
Es ist hier noch dem Imaginären verhaftet, das Spielzeug wird zu einem Objekt klein
a, das das Kind als etwas wahrnimmt, das ihm zu seiner eigenen Vollständigkeit
fehlt. Die besondere Bedeutung des Spiels liegt darin, dass das Kind mit „fort“ und
„da“ seine erste Signifikantenkette entwickelt. Das o-o-o- (das für „Fort“ steht) ist
für sich genommen bedeutungslos, es erhält seine Bedeutung erst mit dem Auftreten
seines Gegenparts „Da“. Die beiden Worte stehen hier nun als Ersatz für die An-
bzw. Abwesenheit des „verlorenen Objektes“ (die Holzspule, die Mutter etc.),
gleichzeitig entsteht im Imaginären der Wunsch nach diesem Objekt, um den Man-
gel zu beheben. Im „Fort-Da-Spiel“ zeigt sich bereits, dass in der Symbolisierung
ständig dieser Mangel reproduziert wird, da er nicht aufgehoben werden kann.
Aus diesem Mangel entwächst das Begehren, unser unbewusstes Wünschen, das
nach Lacan das Motivationsprinzip unseres Lebens darstellt. Für Lacan ist das
Begehren gewissermaßen ‚unmöglich‘, da seine Energie aus den Trieben stammt
(die nie befriedigt werden können), und seine Ziele ausgerichtet sind auf Idealvor-
stellungen aus dem symbolischen Bereich, die wir nie erreichen können. (Ein erstes
Beispiel dafür ist die Identifikation mit dem eigenen Spiegelbild, später sind es die
verschiedenen kulturellen Repräsentationen). Das Begehren ist damit im symboli-
schen Bereich, dem Bereich des Anderen, grundgelegt und wird deshalb von Lacan
auch als das „Begehren des Anderen“ bezeichnet. Das Begehren realisiert sich aber
nicht – und das zeigt sich schon im „Fort-Da-Spiel“ – in seiner Erfüllung oder
Befriedigung, sondern darin, dass es ständig reproduziert wird.
144 Brigitte Hipfl

Mit dem Eintritt in die Sprache ist nach Lacan notwendigerweise ein Entfrem-
dungseffekt verbunden, indem wir die Realität nur über Worte erfassen können, uns
aber gerade dadurch der direkte Zugang zum Realen, zum ‚Sein‘ versperrt wird. Der
Eintritt des Subjekts in die Symbolische Ordnung, auch als Feld des Anderen
bezeichnet, positioniert das Subjekt als einen Signifikanten in diesem Feld. Damit
wird seine soziokulturelle Existenz bestimmt, gleichzeitig wird sein ‚Sein‘, seine
Triebe ausgeschlossen. Hier kommt es zur Bildung des Unbewussten, das in diesem
Sinne bei Lacan ‚sprachlich strukturiert‘ ist.
Die Entwicklung des Subjekts zu einem sozialen Wesen, das in seiner
geschlechtlichen Identität einen Platz in der Symbolischen Ordnung findet, wird in
der Psychoanalyse anhand der Ödipusphase beschrieben. Diese bezieht sich auf die
Spannungen, die sich daraus ergeben, dass zur dualen Beziehung zwischen Mutter
und Kind jetzt der Vater dazukommt. Das erste Liebesobjekt des Kindes ist die Mut-
ter, doch das Kind erkennt bald, dass auch die Mutter durch einen Mangel gekenn-
zeichnet ist, da sie nicht jede Forderung des Kindes erfüllen kann. Das Kind möchte
das Objekt des mütterlichen Begehrens sein, muss aber jetzt seinen eigenen Mangel
realisieren, da es das Begehren der Mutter nicht erfüllen kann. Dieses imaginäre
Objekt des Begehrens, das immer mit dem Gefühl von Befriedigung und Ganzheit
verbunden ist, wird von Lacan als Phallus bezeichnet.2 Das Kind sieht jetzt den
Vater als Rivalen um das Begehren der Mutter. Indem der Vater gegenüber dem
Kind zum Ausdruck bringt, dass er über den Phallus verfügt, lernt das Kind, dass es
chancenlos ist in der Konkurrenz mit dem Vater und gibt diese Konkurrenz auf. Dies
führt dazu, dass in einer erfolgreichen ‚normalen‘ Ödipalisierung, in deren Verlauf
dem Kind seine sexuelle Identität von den Eltern versichert wird, der Junge sich nun
mit dem Vater identifiziert, das Mädchen – über den Umweg der Identifikation mit
dem Objekt des väterlichen Begehrens –, mit der Mutter (Queer-Theorien kritisieren
an Lacans Modell, dass damit nur die heterosexuelle Entwicklung beschrieben
wird).
Die Bilder, die in dieser Phase – zusätzlich zu den bereits bestehenden Bildern –
entwickelt werden, sind Vorbilder und Idealbilder, die sich darauf beziehen, wie das
Kind sein bzw. werden möchte. Diese Bilder werden auch als Ich-Ideal bezeichnet.
Sie sind Verinnerlichungen der Symbolischen Ordnung und bilden die Orientie-
rungsgrundlage für die Position des Subjekts in der Symbolischen Ordnung.

3 Zur Rolle der Fantasien in der Psychoanalyse

Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass Fantasien ein grundlegender
Bestandteil unserer Subjektivität und unserer Beziehung zur Welt sind. Fantasien
bilden den Kern der so genannten ‚psychischen Realität‘, die schon von Freud als
genauso wichtig eingeschätzt wurde wie die materielle, physische Realität. In der
Psychoanalyse geht es demnach überhaupt nicht um die Frage ‚realer‘ Grundlagen
dieser Fantasien (die im alltäglichen Sprachgebrauch übliche Gegenüberstellung
Inszenierungen des Begehrens 145

Realität – Fantasie erweist sich in diesem Zusammenhang als irreführend), sondern


um die Rolle der Fantasien im psychischen Haushalt des Subjekts.
Laplanche und Pontalis (1986) sehen in Freuds Konzept der Urfantasie die Basis
für die Struktur der Fantasien als Szenarium, mit dem eine Geschichte zur Verfü-
gung gestellt wird, um bestimmte grundlegende Fragen zu beantworten bzw.
Inkonsistenzen und den laut Psychoanalyse für uns Menschen konstitutiven Mangel
zu verdecken. Als die drei zentralen Fragen, mit denen sich ein Kind auseinan-
dersetzt, gelten die Frage nach dem Ursprung des Selbst, die mit der Fantasie des
Familienromans beantwortet wird, die Frage nach dem Ursprung sexueller Begierde,
für die die Fantasie der Verführung entwickelt wird, sowie die Frage nach dem
Geschlechtsunterschied, dessen Erklärung in der Fantasie der Kastration gesucht
wird.
Fantasien kommen auch ins Spiel, wenn versucht wird, dem Nicht-Symbolisier-
baren eine Gestalt zu geben. Was wir als Realität erfahren, ist nicht die Realität
selbst, sondern ihre symbolische Konstruktion, die uns eine Orientierung in dieser
Welt ermöglicht. Doch diese Symbolisierungen können niemals alles vollständig
abdecken, es besteht eine unüberbrückbare Kluft zum Realen. Das heißt, es ist nicht
möglich, das Reale zu kontrollieren, es ist gerade dieser Spalt, in dem es immer wie-
der einbricht.
Fantasien sind nicht bloß Vorstellungen oder Erzählungen, in denen es darum
geht, bestimmte Wünsche zu befriedigen. Vielmehr können sie als eine Art „Privat-
theater“ (Lippert 1995: 112) angesehen werden, in dem das Begehren des Subjekts
in Szene gesetzt wird. Fantasien fungieren somit als Schauplatz und Rahmen für das
Begehren. Das ist der Ort, wo Bewusstes und Unbewusstes, Selbst und Anderes
zusammenkommen. Unsere Faszination und unser Vergnügen an solchen Fantasien
als mis-en-scène des Begehrens liegen vor allem in der Inszenierung des Rätsels
bzw. Mangels und wie dies gelöst bzw. überwunden wird. Wir wollen zwar ein
happy ending, aber gleichzeitig soll die Geschichte nicht wirklich zu Ende sein, da
sich damit auch wieder der Mangel auftut (vgl. dazu auch Lühmann 1996). Das Sub-
jekt kann in diesen Fantasien mehrere und unterschiedliche Positionen einnehmen,
auch solche entsubjektivierter Art, wenn es sich z.B. mit der Szene selbst oder einem
bestimmten Gefühl identifiziert.
Obgleich Fantasien als etwas Individuelles, wenn nicht sogar Intimes gelten,
sind sie durch ihren intersubjektiven Charakter bestimmt. Denn das Begehren, das in
den Fantasien in Szene gesetzt wird, ist immer auf die Anderen bezogen. Konkret
geht es um die Frage, was die Anderen von mir wollen, was sie in mir sehen, wie sie
mich sehen, kurz – was ich für die Anderen bin. iek (1996: 25) verdeutlicht dies
am Beispiel eines Kleinkindes, das in das komplexe Beziehungsgeflecht der Per-
sonen, von denen es umgeben ist, eingebunden ist, wobei teilweise Konflikte und
Kämpfe über das Kind ausgetragen werden und dieses zum Objekt des Begehrens
der Anderen wird. Obwohl das Kind sehr wohl realisiert, dass ihm hier eine
bestimmte Rolle zukommt, kann es diese nicht genau verstehen. Hier sind es die
Fantasien, die ihm darauf eine Antwort liefern, indem sie seine Bedeutung für die
Anderen verdeutlichen und damit die Frage beantworten: Was möchtest du von mir?
146 Brigitte Hipfl

iek (1996: 24) weist auch auf die radikale Ambiguität der Fantasien hin.
Einerseits sind da die stabilisierenden Aspekte der Fantasien – die Vorstellungen
eines glückseligen Zustands ohne Störungen etwa in harmonischen Beziehungen,
politischer Stabilität etc. Andererseits gibt es die destabilisierende Dimension, die
sich auf all das, was mich am Anderen ‚irritiert‘, bezieht, oder – wie etwa am Bei-
spiel der Eifersucht – auf die Vorstellungen davon, was er bzw. sie alleine oder mit
jemand anderem macht. Für iek ist die glückselige Seite der Fantasien immer
befleckt von der anderen, paranoiden Seite. In radikaler Form zeigt sich dies am Bei-
spiel der harmonischen ‚Volksgemeinschaft‘ im Nationalsozialismus und seiner
Kehrseite, der Judenvernichtung.
In unserer Kultur sind es insbesondere die Medien, die uns eine Vielzahl an
Fantasieszenarien zur Verfügung stellen. Die Geschichten, die uns dort angeboten
werden, sind nach Laplanche/Pontalis unendliche Variationen, in denen mit Material
aus dem Alltagsleben die thematisch begrenzten Primärfantasien durchgearbeitet
werden. Es sind immer wieder dieselben Geschichten, die zirkulieren – Geschichten
über Identität, die Beziehung zu anderen, das Verhältnis zu Regeln und Gesetz,
deren Inszenierung es möglich macht, dass wir mit unseren Wünschen darin Platz
finden. Linda Williams (1991) sieht in Horrorfilmen, pornografischen Filmen und im
Melodram Beispiele für Genres von Geschlechtsrollenfantasien mit je spezifischen
Szenarien. Ähnliches könnte für jedes Genre entwickelt werden bzw. könnte auch
die Frage untersucht werden, welche Angebote auf gerade dominierende Fragen die
medialen Fantasien bereit stellen, wie dies etwa jan jagodzinski (2004a) am Beispiel
von Populärkultur und Jugendlichen versucht hat.
Den Fantasien kommt auch eine ideologische Funktion zu, verleihen sie doch
unserer Realität erst ihre Konsistenz. Damit sind sie in den Worten von iek auf
der Seite der Realität und strukturieren und stützen die Realität. Fantasien sind nicht
irgendwelche verrückten Ideen über die Realität, sondern ihre psychofantasmati-
schen Voraussetzungen (vgl. iek 1997). Besonders deutlich wird die ideologische
Dimension der Fantasien, wenn wir uns der Frage zuwenden, wie es überhaupt dazu
kommt, dass Menschen bestimmte Subjektpositionen einnehmen, die ihnen in der
Symbolischen Ordnung angeboten werden. Diese Frage konnte auch Althusser mit
seinen Überlegungen zur Interpellation (1977) nicht ausreichend beantworten. Als
anregend und weiterführend erweist sich hier das Modell von Oswald Ducrot (in
Salecl 1994a: 43 f. und 1994b: 32 f.), das Lacansche Psychoanalyse und Sprechakt-
theorie zu verbinden sucht. Für unseren Zweck sind Ducrots Ausführungen zu den
Adressaten von Äußerungen (und Medienangeboten) von Interesse. Er betont, dass
eine Äußerung immer auf einen Adressaten als diskursiver Figur abzielt. Dieser
Adressat ist eine bestimmte diskursive Position, die durch die jeweilige Äußerung
konstruiert wird. Eine empirische Person wird nur dann zum Adressaten, wenn sie
sich als solcher erkennt, das heißt, wenn sie die Verpflichtung, die ihr durch diese
Äußerung aufgezwängt wird, übernimmt. So kreiert z.B. die Anweisung ‚Gib mir
mein Geld zurück‘ einen bestimmten intersubjektiven Raum, in dem der Adressat
bzw. die Adressatin in die Position des Schuldners gebracht wird. Nun hängt es von
der Person in Fleisch und Blut ab, sich entweder in dieser Position zu erkennen –
Inszenierungen des Begehrens 147

und der Anweisung zu gehorchen, Widerstand dagegen zu leisten, Ausreden zu


erfinden oder ähnliches – oder die Anweisung einfach zu ignorieren und sich so zu
verhalten, als ob er bzw. sie nicht Adressat dieser Anweisung wäre. Das heißt, es
hängt von der konkreten Person ab, ob sie sich als die Figur, die vom Diskurs kreiert
wurde, erkennt und sich dadurch damit identifiziert. Zur Erklärung, wie es dazu
kommt, bietet Ducrot zwei zusätzliche Begriffe an: den „späteren Diskurs“ und die
„Vermutung“ (das Nicht-Gesagte des Sprechaktes).
Der „spätere Diskurs“ konstruiert den Ort für die Identifikation des Subjekts, die
„Vermutung“ fungiert als Platz für die Fantasien. Konkret heißt dies, dass nach
Ducrot ein bestimmtes Bedeutungsangebot immer in Bezug auf seine ideale Fortset-
zung beschrieben werden soll (so wird z.B. ein idealer Raum für eine mögliche Fort-
setzung konstruiert, die ihm rückwirkend Bedeutung verleiht). Die elementarste
Form dieses „späteren Diskurses“ ist eine Frage, mit der Adressaten verpflichtet
werden, in gewisser Weise zu antworten. Die Frage skizziert im Voraus den idealen,
fiktiven Platz der Antwort, die kommen wird.
Erfolgreich ist ein Diskurs dann, wenn er einen symbolischen Raum schafft, der
mit Bildern davon, wie wir uns gerne selbst sehen würden, mit Bildern unseres
Ideal-Ichs, gefüllt werden kann. Hier werden nun auch wieder die Fantasien wirk-
sam. Ein Diskurs braucht die Stütze durch einen fantasmatischen Rahmen, der nicht
direkt angesprochen wird, dessen entscheidende Rolle aber darin besteht, verschie-
dene Fantasien bei den einzelnen mobilisieren zu können. Dieser fantasmatische
Rahmen fungiert wie eine Art Leinwand, auf die das Begehren projiziert werden
kann. Der Platz für diese Fantasien wird von den „Vermutungen“ konstruiert, dem
Ort, an dem sich der Adressat bzw. die Adressatin in die Äußerung einschreibt. Die
Vermutung entsteht als Antwort auf die Frage, die sich der Adressat bzw. die Adres-
satin notwendigerweise stellt: Warum hat der Sprecher bzw. die Sprecherin auf diese
Art gesprochen? Warum hat er bzw. sie das gesagt? Die Vermutung bezieht sich auf
die Art und Weise, in der die Adressaten die Bedeutung dessen, was gesagt wurde,
entschlüsseln, und das geht über die Fantasien.
Ducrots Modell verdeutlicht, dass ein Diskurs, um erfolgreich zu sein, das Ima-
ginäre ansprechen muss. Diskurse bieten Positionen in der Symbolischen Ordnung
an (die dem Ich-Ideal entsprechen), die aber nur eingenommen werden, wenn sie
einen fantasmatischen Rahmen bieten, in den Bilder aus dem Ideal-Ich projiziert
werden können. iek (1996) liefert mit seiner Lesart des Schicksals von Kapitän
Bligh auf der Bounty ein Beispiel für die Folgen, die auftreten können, wenn dieser
Zusammenhang nicht gesehen wird. Bligh, ein ausgezeichneter Seemann, der sich in
besonderer Weise um die Sicherheit und Gesundheit seiner Matrosen kümmerte, hat
nicht erkannt, dass die zum Teil sehr grausamen Rituale unter den Matrosen, in
denen die älteren die jüngeren demütigten und ausbeuteten, den fantasmatischen
Rahmen für die offizielle (und damit seine) Macht bildeten. Er sah nur die
unmenschliche Seite dieser Rituale, nicht aber die Befriedigung, die auch damit ver-
bunden war. Indem Bligh diese Rituale unterband, entzog er sich selbst die Grundla-
gen seiner Macht.
148 Brigitte Hipfl

4 Fantasien in der Medienrezeption von Frauen

Den besonderen Wert der psychoanalytischen Fantasietheorien sieht Penley (1992)


darin, dass sich daraus für die Frage der Identifikationen von Frauen mit populären
Medieninhalten ein wesentlich größeres Spektrum ergibt als dies etwa beim Objekt-
Beziehungs-Modell von Nancy Chodorow der Fall ist, auf das gerne bei der
Erklärung weiblicher Medienrezeption zurückgegriffen wird (etwa bei Radway 1984
oder Modleski 1982). Weibliche Identifikationen werden dort mit der Regression in
prä-ödipale Fantasien des Umsorgt-Werdens bzw. mit der besonderen Nähe zur
Mutter erklärt. Bei einem psychoanalytischen Verständnis der Fantasien dagegen
wird davon ausgegangen, dass das Subjekt an einem Szenarium teilhat und es wie-
dererstehen lässt, und sich dabei mit verschiedenen Positionen identifizieren kann.
Hier wird keine direkte Verbindung zwischen ‚männlichen‘ bzw. ‚weiblichen‘ Posi-
tionen und der Geschlechtsidentität der Personen, die diese Positionen einnehmen,
unterstellt. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass das Unbewusste zwar den
Geschlechtsunterschied strukturiert, aber selbst nicht geschlechtlich strukturiert ist.
Anhand der Fantasien wird deutlich, wie sehr das Imaginäre und die Symboli-
sche Ordnung ineinander verwoben sind. Das Begehren, das in den Fantasien in
Szene gesetzt wird, ist auf Ziele ausgerichtet, die dem symbolischen Bereich ent-
stammen. Es sind die Bilder und kulturellen Repräsentationen, aus denen das Sub-
jekt lernt, was es zu begehren hat. Die Ausrichtung der unbewussten Wünsche der
Subjekte wird für diese vorfabriziert (vgl. Silverman 1983: 178). Ein klassisches
(Medien)Beispiel dafür ist Emma in Madame Bovary. Sie definiert sich und ihre
Wünsche ausschließlich auf der Basis der Liebesromane, die sie ständig liest.
Auch an unserem Projekt zu Filmerfahrungen von Frauen, in dem wir ver-
schriftlichte Medienerfahrungen mit der Methode der Erinnerungsarbeit analysiert
haben (vgl. Haug/Hipfl 1995), kann die Bedeutung der Fantasien als Inszenierungen
des Begehrens im Umgang mit Medien veranschaulicht werden. Dies zeigt sich
schon an den Fragestellungen, die den Ausgangspunkt des Projekts bildeten (Als
mich ein Film berührte, den ich schlecht fand; Weibliches Vergnügen an Büchern
und Filmen, in denen ausschließlich oder wesentlich Männer vorkommen; Heute
lass ich mir ein Gefühl machen; Wunsch nach traditionellen Frauen- und Männerbil-
dern im Film), und die wir später zur Thematik „sich ein Gefühl machen zu lassen“
zusammengefasst haben. Die Analysen der Filmerfahrungen zu Schlaflos in Seattle
(vgl. Haug 1995: 18 f.) lesen sich wie eine Beschreibung des In-Szene-Setzens des
Begehrens: „Der Gang ins Kino ist […] eine Entscheidung für das ‚Ausleben von
Gefühlen‘“ ; „Ein Filmbesuch bedeutet […] die Möglichkeit, sich dem Gefühl ganz
hinzugeben“; die Autorinnen „gehen in einen Film hinein“; „Überall, wo das
gesuchte Gefühl gefunden werden kann, wird ein Leben im Film möglich.“ Für das
Gefühl, um das es dabei geht – „Verlorensein und gefunden werden, suchen und
zusammengehören, geliebt sein und also zu Hause“ – bietet das Szenarium des
Inszenierungen des Begehrens 149

Films verschiedene Anknüpfungspunkte für seine Re-Inszenierung. Deutlich wird


hier auch, dass beim Schreiben über die von den Filmseherinnen als sehr intim
erlebten Gefühle Zensurmechanismen am Werk sind, die sie an die Symbolische
Ordnung anpassen.
In den Erfahrungen mehrerer Frauen mit dem Film Pretty Woman nimmt das
happy ending und damit das Fantasma der romantischen Liebe, das das Verhältnis
der Geschlechter in unserem westlichen Denken so stark strukturiert, einen ganz
besonderen Stellenwert ein. Mit dem Fantasma der romantischen Liebe ist die Art
und Weise gemeint, in der in unserer Kultur über Liebe gesprochen wird (die Dis-
kurse, die dazu in Erzählungen, Filmen etc. zirkulieren) und die von spezifischen
Fantasien gekennzeichnet sind. Es sind dies Fantasien von Glück und sexueller
Erfüllung, die Vorstellung, dass zwei Menschen zusammen ein harmonisches Gan-
zes bilden, dass in der Liebe Einsamkeit aufgehoben und die Trennung von Geist
und Körper ebenso wie diverse soziale Schranken überwunden werden. Aus den Fil-
merfahrungen mit Pretty Woman wird nun deutlich, welche ‚Wirkungen‘ dieses
Fantasma hat oder anders ausgedrückt, welche Konstruktionen entwickelt werden,
um dieses Fantasma aufrechtzuerhalten. Im Fantasma der romantischen Liebe, nach
dem auch der Film Pretty Woman strukturiert ist, ist das herrschende Geschlechter-
verhältnis und damit Dominanz und Unterordnung eingeschrieben. Dies drückt sich
in den beschriebenen Filmerlebnissen und den darin vorgenommenen Bedeutungs-
konstruktionen vor allem darin aus, in welchem Ausmaß die Frau in Beziehung zum
Mann ‚aktiv‘ sein kann. Hier werden uns verschiedene Varianten vorgeführt: Einmal
die Konstruktion einer völlig passiven Frau, die auf den Mann als Helfer und Retter
wartet, um ihre Lebenssituation, mit der sie nicht zufrieden ist, von ihm ändern zu
lassen. Oder die mit dem Kontakt mit dem Mann verbundene Wandlung einer
anfangs kompetenten und selbst bestimmten Frau zu einer, die einem konventionel-
len (Ideal)Bild der Frau entspricht – hübsch, natürlich und einfühlsam. In einem
weiteren Beispiel nimmt es die Frau für Gemeinsamkeit und eine Beziehung mit
einem Mann, in Kauf, diesem – obwohl sie es gar nicht nötig hat – die Position ihres
Retters einzuräumen. Diese Beispiele veranschaulichen, was es für Frauen vor dem
Hintergrund der nach wie vor dominanten soziokulturellen Definition von Weiblich-
keit bedeuten kann, die Symbolische Ordnung mit dem Fantasma der romantischen
Liebe in Einklang bringen zu wollen.
Dass die traditionelle Formel der romantischen Liebe auch umgeschrieben wer-
den kann zu einer Liebesbeziehung, die auf radikaler Gleichheit beruht, beschreibt
Constance Penley (1992) anhand der Fanzines, die von Frauen zur Fernsehserie Star
Trek gemacht werden. Vor allem sind es die dort entwickelten Geschichten und Illu-
strationen über eine homosexuelle Beziehung zwischen Kirk und Spock, mit denen
sie sich näher beschäftigt und sich die Frage stellt, wie es denn dazu kommt, dass
Frauen Liebesgeschichten über zwei Männer schreiben. Auch die beiden männlichen
Charaktere haben Probleme und Schwierigkeiten zu überwinden, bis sie zusammen-
kommen. Aber wenn sie dann zusammen sind, dann sind sie dies als ein Paar, das
Liebe und Arbeit teilt. Da wir nach wie vor in einer patriarchalen Kultur leben, fällt
es immer noch schwer, sich zwei Frauen in leidenschaftlicher Liebe vorzustellen,
150 Brigitte Hipfl

die gleichzeitig einmal pro Woche die Galaxie retten. Die Geschichten von Kirk und
Spock stellen nach Penley für die Frauen einen Raum bereit, in dem sie ihre eroti-
schen Fantasien ausdrücken könne, und dies gleichzeitig auch noch in sehr witziger
Form machen. In diesen Fantasien wird das Begehren in-Szene-gesetzt, außerdem
wird versucht, einen grundlegenden Mangel zu übertünchen: die Tatsache nämlich,
dass es nach Lacan keine sexuelle Beziehung gibt, dass die Geschlechter grundle-
gend antagonistisch sind. Jede Geschichte und jede Zeichnung versucht zu zeigen,
wie es zu einer sexuellen Beziehung kommen könnte. Die strikte Abgrenzung der
Fans vom Feminismus weist nach Penley darauf hin, dass diese Frauen in ihren fan-
zines bessere Möglichkeiten als etwa im Feminismus sehen, ihre Wünsche nach
einer sexuell befreiten und gleichwertigen Welt zu artikulieren. Umgangsweisen die-
ser Art mit Populärkultur werden in jüngster Zeit als „queer readings“ bezeichnet, in
denen vor allem die Fantasieszenarien ausgebaut werden, die in den heteronormati-
ven Vorstellungen keinen Platz haben (vgl. etwa Doty 2002).
Ein Beispiel, in dem auch deutlich wird, wie sich die Fantasien an Inhalten fest-
machen können, die auf den ersten Blick gar nichts mit der eigenen Lebenssituation
gemein haben, zeigte sich in unserem Projekt in der Bearbeitung des weiblichen
Vergnügens an Indianergeschichten (vgl. Ippen 1995). Dort wird eine Erfahrung
beim Anschauen eines Winnetoufilms beschrieben, bei der sich die besondere
Faszination auf die Freundschaft zwischen Winnetou und Old Shatterhand bezieht.
Es ist vor allem die Qualität dieser ruhigen, zurückhaltenden und eigentlich
‚unmännlichen‘ Beziehung, die, ohne sich sprachlicher Mittel bedienen zu müssen,
Nähe und Vertrautheit vermittelt.
Als besonders interessant wird in jüngster Zeit die Frage der Fantasien im
Hinblick auf den Umgang mit den neuen Entwicklungen im Bereich der Informati-
ons- und Kommunikationstechnologien angesehen. So ist für Marie-Luise Angerer
(1996: 78) „[…] vielleicht das Netz jener fantasmatisch neu besetzbare Bereich
geworden, wo sich das Begehren nach einem Raum, innerhalb dessen alle mögli-
chen Begehren ausprobiert werden können […] auf den Weg macht, um seine Bah-
nen zu ziehen.“ Wesentlich nüchterner fällt die Einschätzung Susanne Lummerdings
(2005: 30) aus, die sich kritisch mit den fantasmatischen Vorstellungen in aktuellen
Diskursen zum Cyberspace auseinandersetzt und deren Versprechungen von Har-
monie, Einheit und der Aufhebung von Antagonismen als etwas beschreibt, das
jeder Medienentwicklung inhärent ist. Auch hier werden wir wohl erst aus Studien
mit Nutzerinnen und Nutzer des Cyberspace konkretere Einsichten gewinnen.

Anmerkungen

1 Lacan ist vor allem deshalb für den Bereich der Cultural Studies so interessant, weil er
sich in seiner Weiterentwicklung von Freud auf die theoretischen Zusammenhänge von
Subjekt, Sprache und kultureller Ordnung konzentriert hat. Ich kann im Rahmen dieses
Beitrags keine differenzierte Auseinandersetzung mit Lacans Konzepten leisten, sondern
versuche nur, eher holzschnittartig einige seiner zentralen Grundannahmen zusammenzu-
Inszenierungen des Begehrens 151
fassen. Aus diesem Grund beziehe ich mich auch nicht auf Lacans eigene Schriften, son-
dern verweise vor allem auf die zusammenfassenden Darstellungen bei Bruce Fink
(1995), Eva S.-Sturm (1996), Kaja Silverman (1983) oder Paul Verhaeghe (1998), die alle
versuchen, die Lacanschen Positionen kulturell zu kontextualisieren. Eine ausführliche
Auseinandersetzung mit den verschiedenen Entwicklungen im Anschluss an Lacan findet
sich unter anderem bei Marie-Luise Angerer/Henry Krips (2001), Elizabeth Grosz (1990),
jan jagodzinski (1996) und Susanne Lummerding (2005).
2 Phallus ist bei Lacan ein problematischer Begriff, weil er auch mit den kulturellen Privile-
gien gleichgesetz wird, die in einer patriarchalen Gesellschaft mit männlicher Subjektivi-
tät verbunden sind. Insbesondere feministische Theoretikerinnen wie etwa Irigaray (1980)
haben an Lacan‘s Konzept die sich daraus ergebende eingeschränkte Position der Frau
kritisiert und alternative Modelle zu entwickeln versucht. Siehe dazu auch die Ausführun-
gen bei Lummerding (2005: 113-118).

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Konnektivität, Netzwerk und Fluss: Perspektiven
einer an den Cultural Studies orientierten Medien- und
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Andreas Hepp

1 Cultural Studies nach dem ‚Cultural Studies Paradigma‘

Ende der 1980er Jahre konstatierte Meaghan Morris (2003) für die englischspra-
chige Wissenschaftslandschaft – allen voran Großbritannien, Australien und die
USA – einen „Boom“ der Cultural Studies. In den 1990er Jahren führte dieser
„Boom“ dann nicht nur zur Etablierung verschiedenster Studienprogramme in die-
sen Ländern, sondern vor allem zu einer Intensivierung von Forschung und umfas-
senden Publikationsaktivitäten. Gleichzeitig setzte eine „Kontroverse“ (Hepp/Winter
2003) um die Cultural Studies ein, einerseits als interne Diskussion, wie sich dieser
Ansatz bzw. dieses Projekt im Hinblick auf dessen Erfolge entwickeln kann und
soll. Andererseits war dies aber auch eine externe Diskussion seitens der Vertreterin-
nen und Vertreter ‚traditioneller Fachdisziplinen‘, die die Cultural Studies zum Teil
nicht unerheblich kritisierten. Bezogen auf den Bereich der Medien- und Kommuni-
kationswissenschaft war – was diese Kritik betrifft – sicherlich der von Marjorie
Ferguson und Peter Golding (1997) herausgegebene Band „Cultural Studies in
Question“ in dieser Hinsicht eine Zäsur. Vorwürfe, die in dem Band geäußert wur-
den, betreffen eine Vernachlässigung (makro)politischer und ökonomischer Frage-
stellungen, was einerseits zu einer umfassenden Textfixierung geführt habe, ande-
rerseits zu einer distanzlosen ethnografischen Publikumsforschung.
Bemerkenswert als Reaktion auf die in „Cultural Studies in Question“ und ande-
ren Publikationen formulierte Kritik an der Medienforschung der Cultural Studies ist
eine Veröffentlichung von David Morley (2003). Morley führt aus, dass man die
Kontroverse um die Cultural Studies zuerst einmal positiv sehen müsse. Der Grund
dafür ist, dass sie darauf verweist, dass die Cultural Studies im Bereich der Medien-
forschung Themen und Fragestellungen in den Blick brachten – wie beispielsweise
eine Auseinandersetzung mit alltäglichem Konsum, der Artikulation von Machtver-
hältnissen durch verschiedene Mediendiskurse, die Beschäftigung mit populären
Medienprodukten etc. –, die die ‚klassische‘ Soziologie der Massenkommunikation
bzw. politische Ökonomie nicht im Blick hatten bzw. die als Gegenstand von vorn-
herein negativ konnotiert waren. Dies heißt für ihn aber gleichzeitig, dass die Cul-
156 Andreas Hepp

tural Studies nicht einfach gegen eine soziologische Auseinandersetzung mit


Medienkommunikation gerichtet sind. Vielmehr begreift er die Cultural Studies
insofern als zentral für eine sozialwissenschaftliche Medienforschung, weil sie als
„Bewahrer einer ‚verloren gegangenen‘ Tradition“ (Morley 2003: 115) fungiert
haben, nämlich die einer qualitativen, kritischen Auseinandersetzung mit Medien.
Im Hinblick darauf kann er auch nicht eine ‚Krise‘ der Cultural Studies ausmachen,
wie Ferguson und Golding dies tun. Problematisch erscheinen ihm aber Versuche,
die Cultural Studies als textanalytische Kulturwissenschaft festzuschreiben:
„Die Lösung für diese ‚Krise‘, so es sie gibt, besteht […] für mich darin, dass man in Anbe-
tracht der jüngsten ‚Textualisierung‘ der Cultural Studies an ihrem genuin multidisziplinären
Charakter festhält – was das bestmögliche Angebot an soziologischen Perspektiven mit ein-
schließt.“ (Morley 2003: 117)
Solche Diskussionen wurden von Jan Baetens (2005) wieder aufgegriffen, der damit
eine Forderung nach „Cultural Studies nach dem Cultural Studies Paradigma“ ver-
bindet. Was will Baetens mit dieser paradoxen Formulierung fassen? Zuerst einmal
versteht Baetens die nach dem Cultural Studies „Boom“ der 1990er Jahre einset-
zende Kritik an den Cultural Studies ebenfalls als Hinweis darauf, dass diese sich in
der internationalen akademischen Landschaft etablieren konnten. In ihrer Kritik des
„Paradigmas“ der Cultural Studies als ‚politisches‘ und ‚transdisziplinäres‘ Projekt
reflektieren die traditionellen Disziplinen gewissermaßen diesen Umstand (vgl. Bae-
tens 2005: 5). Umgekehrt ist es so, dass mit der Etablierung der Cultural Studies
sowohl der ‚politische‘ als auch ‚transdisziplinäre‘ Charakter einer Reformulierung
bedürfen, ohne deren Grundorientierung aufzugeben.
Bezogen auf den ‚politischen‘ oder besser ‚interventionistischen Charakter‘ der
Cultural Studies (vgl. Hepp 2004a: 18) verweisen die Argumente Baetens auf die
Diskussion, dass es darum geht, den kritischen Ansatz der Cultural Studies mit
Bezug auf gegenwärtige Probleme der Zivilgesellschaft bzw. des Alltags weiter zu
entwickeln.1 Im Hinblick auf den Aspekt der Reformulierung der Transdisziplinari-
tät der Cultural Studies treffen sich die Argumente von Jan Baetens mit denen von
David Morley. So streicht auch Baetens heraus, „interdisciplinarity is a good thing“,
setzt aber nochmals einen deutlichen Akzent dahingehend, dass damit nicht die häu-
fig aus ökonomischen Erwägungen betriebene Auflösung von universitären diszi-
plinären Einrichtungen gemeint ist: „interdisciplinarity is a good thing, which deser-
ves to be encouraged, not as a synonym of antidisciplinarity, but as the creative col-
laboration of well-established disciplinary backgrounds“ (Baetens 2005: 10). Cul-
tural Studies zu betreiben bedeutet in diesem Sinne gerade nicht, sie als eine ‚neue
Disziplin‘ zu etablieren, sondern ihre Perspektive als transdisziplinäres Projekt zu
wahren, das sich in unterschiedlichen Disziplinen multidimensional konkretisiert.
Hiermit verbunden ist auch ein verändertes Verständnis von ‚wissenschaftlichem
Fortschritt‘, das jenseits von Vorstellungen disziplinären Paradigmawechsels liegt:
„Statt diesen Prozess [des ‚intellektuellen Fortschritts’; A.H.] als lineare Abfolge von Wahr-
heiten, Paradigmen oder Modellen zu denken, die einander in triumphalem Fortschritt ablö-
Konnektivität, Netzwerk und Fluss 157

sen, sind wir besser mit einem multidimensionalen Modell bedient, das in einem dialogischen
Transformationsprozess, der zwar stellenweise selektiv, aber synergetisch und inklusiv ist,
neue Einsichten auf den alten aufbaut.“ (Morley 2003: 135)
Solche Überlegungen lassen sich für die Medienanalysen der Cultural Studies und
deren Verhältnis zur Medien- und Kommunikationswissenschaft konkretisieren. Im
Rahmen einer an den Cultural Studies orientierten Medien- und Kommunikations-
forschung geht es nicht darum, diese gegen die Medien- und Kommunikationswis-
senschaft zu positionieren. Adäquat erscheint vielmehr den Zugang der Cultural Stu-
dies in der Medien- und Kommunikationswissenschaft, verstanden als eine wissen-
schaftliche Disziplin, zu realisieren. Der Beitrag, den die Cultural Studies für die
Medien- und Kommunikationswissenschaft leisten können, besteht darin, dass sie
zum einen darauf zielen, gegenwärtige zivilgesellschaftliche Herausforderungen in
ihren Medienanalysen zu fokussieren. Zum anderen geschieht dies mit dem
Anspruch einer multiperspektivisch-kritischen Auseinandersetzung, oder – um es
mit dem Titel dieses Bandes zu formulieren – mit einem Fokus auf das Wechselver-
hältnis von Kultur, Medien und Macht.
Doch wie kann für ein solches Unterfangen ein begrifflicher bzw. analytischer
Rahmen aussehen? Welche – auch von Lawrence Grossberg in diesem Band gefor-
derten – neuen Konzepte und Ansatzpunkte erscheinen für eine auf gegenwärtige
Herausforderungen fokussierte Medien- und Kommunikationsforschung der Cultural
Studies zentral? Der bisher umrissene Gesamtrahmen der Argumentation hat deut-
lich gemacht, dass es in der Perspektive der Cultural Studies kaum möglich ist, auf
diese Frage eine einzig richtige Antwort zu geben. Deswegen müssen die im Wei-
teren entwickelten Argumente auch als eine mögliche Perspektivierung zukünftiger
Medienanalyse im Kontext der Cultural Studies verstanden werden.
Mein Ziel auf den folgenden Seiten ist es, anhand von drei miteinander in
Beziehung stehenden Konzepten theoretische und analytische Perspektiven einer
Medien- und Kommunikationsforschung im Rahmen der Cultural Studies konkret zu
machen, die insbesondere Fragen des Medien- und Kommunikationswandels fokus-
sieren. Greifbar wird dies an der Diskussion um die Globalisierung der Medienkom-
munikation bzw. anhand der Auseinandersetzung mit der fortschreitenden Digita-
lisierung von Medienkommunikation. In beiden Diskussionssträngen erscheinen mir
die die Konzepte ‚Konnektivität‘, ‚Netzwerk‘ und ‚Fluss‘ zentral. In Bezug auf diese
ist herauszustreichen, dass sie über verschiedenste Disziplinen hinweg als begriffli-
che Analyseinstrumente zunehmend Verwendung finden. Dennoch kann man
meines Erachtens argumentieren, dass diese Konzepte in den Cultural Studies auf
eine ganz spezifische Weise konkretisiert werden, was exakt der Grund ist, weswe-
gen sie Perspektiven für deren Medien- und Kommunikationsforschung im Rahmen
von Cultural Studies eröffnen. Dabei sind die drei Konzepte nur vordergründig auf
eine Auseinandersetzung mit der Netzkommunikation fokussiert. Sicherlich ist dem
zuzustimmen, dass es vor allem die Etablierung des Internets war, durch die diese
Konzepte eine erhebliche Verbreitung in der Medien- und Kommunikationswissen-
schaft erfahren haben. Eine intensivere Auseinandersetzung zeigt aber schnell, dass
sie innerhalb der Medienanalysen der Cultural Studies auch über die Netzkommuni-
158 Andreas Hepp

kation hinaus an Relevanz gewonnen haben, insbesondere im Rahmen einer Aus-


einandersetzung mit der Globalisierung der Medienkommunikation (siehe dazu
überblickend die Beiträge in Hepp et al. 2005a).

2 Konnektivität

Grundlegend kann man zuerst einmal festhalten, dass ein ‚Konnektivitätsdenken‘ in


den klassischen Arbeiten der Cultural Studies durchaus zu finden ist, auch wenn der
Begriff der ‚Konnektivität‘ erst später eine Verbreitung erfahren hat. Um diese his-
torische Dimension greifbar zu machen, möchte ich auf jüngere Argumente von
John Storey verweisen, der Konnektivitätsvorstellungen in der Artikulationstheorie
von Stuart Hall fest macht (vgl. Storey 2000: 63). Hall (2000: 65-69) operiert in
seiner Artikulationstheorie bekanntermaßen mit der Doppelbedeutung des engli-
schen Ausdrucks „to articulate“, der einerseits so viel meint wie „sich äußern“,
andererseits auch ‚eine Verbindung herstellen‘ – etwas ‚konnektieren‘. Eine Artiku-
lation ist demnach eine ‚Konnektivitätsform‘, die unter bestimmten Umständen eine
‚Einheit‘ herstellen kann, in der deren Elemente eine weitergehende Bedeutung
erfahren. ‚Äußerungen‘ sind in diesem Sinne eine ‚Artikulation‘, aber auch jedes
Kulturprodukt kann als eine ‚Artikulation‘ begriffen werden, indem es als ‚Einheit‘
auf bestehende kulturelle Ressourcen und Diskurse verweist. Apples iPod beispiels-
weise hat – ähnlich wie der Sony Walkman (vgl. du Gay et al. 1997) – seine Bedeu-
tung nicht ‚inhärent‘, sondern vermittelt durch eine auf das materielle Gerät bezo-
gene Artikulation Elemente aus Diskursen der Medien und Werbung, aber auch
lokalen Alltagsdiskursen (vgl. Hepp 2005b). Der Kern der Argumentation von Hall
ist, dass solche Artikulationen zuerst einmal immer kontextuell (und damit auch
situativ) sind, in diesen Kontexten aber auf verschiedene bestehende Diskurse und
Formationen verweisen, die diese Artikulationen vermitteln. Dies macht die Mög-
lichkeit anderer Formen der Re-Artikulation derselben Elemente greifbar, gleich-
zeitig wird in einer solchen Perspektive deutlich, dass bestehende Artikulationen
nicht beliebig sind (siehe zu den sich hieraus ergebenden Bezügen zum Symboli-
schen Interaktionismus den Beitrag von Friedrich Krotz in diesem Band).
Auch über die Artikulationstheorie von Hall hinaus lassen sich andere Überle-
gungen zu ‚kontextualisierter Konnektivität‘ als einem zentralen Aspekt von Bedeu-
tungsproduktion in den Cultural Studies finden. Beispielsweise beschreibt nicht nur
Halls (1980) Encoding/Decoding-Modell eine komplexe Konnektivitätsstruktur,
ähnliches gilt auch für die verschiedenen Ansätze zur Beschreibung des „Kreislaufs
von Kultur“ (vgl. Johnson 1986; du Gay et al. 1997; Hepp 2004b; Johnson et al.
2004). Oder McKenzie Wark (1994) versucht, im Rahmen einer solchen Begrifflich-
keit Medienereignisse zu fassen. ‚Konnektivität‘ fasst damit das Herstellen einer
spezifischen kommunikativen Beziehung, die einerseits eine konkrete Artikulation
darstellt, andererseits auf übergreifende Diskurse und Formationen verweist. Der
Begriff der ‚Konnektivität‘ verweist also – zumindest in seiner Grundstruktur – auf
Konnektivität, Netzwerk und Fluss 159

weitergehende Diskussionshorizonte innerhalb der Cultural Studies. Gleichzeitig hat


‚Konnektivität‘ auf theoretisch stärker fokussierte Weise zur Beschreibung des
Medien- und Kulturwandels in den Cultural Studies an Relevanz gewonnen. Beson-
ders deutlich wird dieser Umstand – wie gesagt – anhand der Globalisierungsdiskus-
sion. Diese Globalisierungsdiskussion möchte ich als erstes Beispiel für eine weitere
Kontextualisierung des Begriffs der Konnektivität nehmen, bevor ich als zweites
Beispiel die Diskussion um digitale Medien fokussiere.
Jüngere Arbeiten sowohl innerhalb der Cultural Studies als auch innerhalb der
Soziologie treffen sich in dem Punkt, dass Globalisierung am ehesten verstanden
werden kann als ein Metaprozess einer zunehmenden, multidimensionalen weltwei-
ten Konnektivität (vgl. Hepp et al. 2005c). Diese Formulierung versucht zumindest
drei unterschiedliche Argumente zu fassen. Wenn man erstens Globalisierung als
einen „Metaprozess“ (Krotz 2005) versteht, verweist dies darauf, dass das Konzept
der Globalisierung nicht etwas fasst, das man in dem Sinne ‚beobachten‘ könnte,
dass es sich dabei um ein einzelnes ‚empirisches Objekt‘ handelt. Eher ist Globa-
lisierung ein metatheoretisches Konzept wie ‚Individualisierung‘ oder ‚Kommerzia-
lisierung‘, das uns hilft, zumindest in Einzelaspekten widersprüchliche und paradoxe
Teilprozesse als Ganzes zu verstehen.
Zweitens ist dieser Prozess „multidimensional“ (Giddens 1990: 70; Tomlinson
1999: 13). Diese Formulierung fasst, dass Globalisierung auf bzw. in unterschiedli-
chen ‚Prozessebenen‘ oder ‚Scapes‘ operiert. Auf welche gegenwärtige Konzepte
von Globalisierung man sich auch stützt, diese treffen sich in dem Punkt, dass Glo-
balisierung nicht auf eine ‚Hauptdimension‘ reduziert werden kann – z.B. die der
Ökonomie –, die die anderen determiniert. Die unterschiedlichen Subprozesse der
Globalisierung scheinen eine jeweils ‚eigene Logik‘ zu haben bzw. durch jeweils
‚eigene Kräfte‘ gekennzeichnet zu sein. Nichtsdestotrotz scheint es vielfache Bezie-
hungen zwischen den verschiedenen ‚Prozessebenen‘ zu geben, deren „Disjunktion“
(Appadurai 1996: 27) ist relativ.
Dies verweist auf den dritten, im Zusammenhang meiner Argumentation ent-
scheidenen Punkt, der mit dem Ausdruck der ‚Konnektivität‘ verbunden ist. Wie
John Tomlinson (1999: 3-10) herausgestrichen hat, weist ‚Konnektivität‘ auf eine
vorsichtige Haltung dahingehend hin, welche Folgen mit dem Metaprozess der Glo-
balisierung verbunden werden können. Während frühe Arbeiten hierzu die Tendenz
hatten zu argumentieren, dass das Resultat der Globalisierung eine fortschreitende
globale Standardisierung, Homogenisierung, „McDonaldisierung“ (Ritzer 1998)
oder kurz eine „globale Kultur“ (Featherstone 1990) sei, wissen wir jetzt, dass kul-
turelle Nähe eine Folge von Globalisierung in bestimmten Kontexten sein kann.
Ebenso lassen sich aber mit der Globalisierung auch Prozesse der Zunahme von
Konflikten, Missverständnissen und der kulturellen Fragmentierung ausmachen:
„globalisation divides as much as it unites; it divides as it unites“ (Bauman 1998: 3).
Dies ist vor allem ein wichtiges Argument im Feld der Medien- und Kommunikati-
onsforschung: Eine zunehmende kommunikative Konnektivität bringt Menschen
nicht zwangsläufig zusammen – wie es Marshal McLuhan in seinem utopischen Ent-
wurf eines „global village“ umreißt (vgl. McLuhan/Fiore 1968) – und hat nicht eine
160 Andreas Hepp

‚weltweite Amerikanisierung‘ zur unhinterfragten Folge. Eher verweist die zuneh-


mende weltweite kommunikative Konnektivität auf quantitativer Ebene auf eine
wachsende Zahl grenzüberschreitender Kommunikationsprozesse. Betrachtet man
diese allerdings auf qualitativer Ebene, so haben diese Prozesse eine sehr unter-
schiedliche Spezifik. Entsprechend erscheint es notwendig, im Detail zu analysieren,
was die Folgen der Globalisierung der Medienkommunikation sind, indem man sich
auf spezifische Artikulationen in spezifischen Kontexten konzentriert.
Wie bereits als zweiter Punkt angemerkt, verweist das Konzept der ‚Konnektivi-
tät‘ in Bezug auf Fragen des Medien- und Kommunikationswandels aber auch über
die Globalisierungsdiskussion hinaus auf eine Auseinandersetzung mit Digita-
lisierung. Anfangs war hier der Ausdruck der „Interkonnektivität“ („interconnectivi-
ty“) eine Kategorie zur Beschreibung von technologischen kommunikativen Ver-
netzungen. Dies macht exemplarisch Pierre Lévy‘s Begriff des Cyberspace deutlich,
den er als „communications space made accessible through the global interconnecti-
ons of computers and computers memories“ (Levy 2001: 74) definiert2. Während an
diesem Zitat die Nähe zur Diskussion um die Globalisierung der Medienkommuni-
kation greifbar wird, ist in anderen Ansätzen der Begriff der Konnektivität generell
ein Instrumentarium, um den mit fortschreitender Digitalisierung verbundenen Wan-
del kultureller Räume und Orte zu fassen. Exemplarisch wird dies greifbar in den
Beiträgen des von Nick Couldry und Anna McCarthy (2004) herausgegebenen
Bands „Mediaspace“, die sich mit jüngsten digitalen Medien befassen.
James Hay und Jeremy Packer (2004) untersuchen in deren Beitrag „Crossing
the Media(-n): Auto-Mobility, the Transported Self and Technologies of Freedom“
die Art und Weise, wie gegenwärtige Vorstellungen von Intelligenten Transportsys-
temen (ITS) konstruiert werden und versuchen, solche Artikulationsprozesse über
die Kategorie der Konnektivität zu fassen. Die Besonderheit der gegenwärtigen
Repräsentation von ITS in Werbung und Technologieszenarios besteht ihrer Argu-
mentation nach darin, dass sie als doppelte – sowohl infrastrukturelle als auch kom-
munikative – Konnektivität konstruiert werden. Dies ist einerseits die Konnektivität
des „smart car“ zum technischen System der automatisch befahrenen Infrastruktur.
Andererseits werden diese „smart cars“ selbst als kommunikativ konnektierte,
mobile Orte begriffen, die In-Bewegung die Möglichkeit zum Fernsehen und Filme-
Schauen, Telefonieren, Internet-Surfen usw. bieten. Sie verbinden also die Vorstel-
lung von ‚Freiheit‘ durch (in diesem Fall automatisierten!) Individualverkehr mit der
von Freiheit umfassender Kommunikationspotenziale: „Its connectivity is imagined
as being most important to creating freedom“ (Hay/Packer 2004: 228).
Einen anderen Gegenstand fokussiert Fiona Allon (2004), sucht diesen aber wie-
derum mit dem Konzept der Konnektivität zu fassen. Ihr geht es um Konstruktionen
des „smart house“, also um Entwürfe von ‚intelligenten‘, ‚kommunikativ vernetzen‘
Häusern. Wiederum finden wir den Gedanken, dass ein und derselben (technologi-
schen) Konnektivität unterschiedliche Bedeutungen in kulturellen Auseinanderset-
zungen und Machtverhältnissen zukommt (vgl. Allon 2004: 271). Einerseits eröffnet
die digitale Technologie im „smart house“ mit der umfassenden internen und exter-
nen Konnektivität verschiedenster Endgeräte weitreichende Gestaltungsräume. Bei-
Konnektivität, Netzwerk und Fluss 161

spiele hierfür sind durch Mobiltelefone gesteuerte Beleuchtungs- oder Rollladensys-


teme oder Funknetze in allen Räumen des Hauses. Diese Technologien bieten neue
Möglichkeiten der ‚Steuerung‘ des Zuhauses, aber auch neue Räume des kommuni-
kativen Handelns nach ‚Außerhalb‘ für diejenigen, die über diese Technologien ver-
fügen und sie beherrschen. Gleichzeitig bietet die selbe kommunikative Konnektivi-
tät aber auch Möglichkeiten der Kontrolle und Überwachung, nicht nur des Hauses
als Besitz selbst (bspw. durch Webcams), sondern vor allem derjenigen Menschen,
die in diesem Haus Heimarbeit (beispielsweise am heimischen Computer) verrich-
ten. Hier wird die Technologie des „smart houses“ zu Kontrolltechnologie für neue
Formen von Ausbeutung.
Als dritter Beitrag des Bandes, in dem das Konzept der Konnektivität eine
bemerkenswerte Rolle spielt, ist der von Michael Bull zu nennen. Dieser setzt sich
auf der Basis von qualitativen Interviews mit der Aneignung von mobilen Endgerä-
ten (Autoradios, Walkmans, Mobiltelefonen etc.) auseinander. Im Fokus steht dabei
die Frage, inwieweit diese ‚devices‘ kommunikativ „mobile spaces“ (Bull 2004:
275) in der Stadt eröffnen. Bull kann zeigen, wie durch die Konnektivität mobiler
Endgeräte bewegliche individualisierte Kommunikationsräume geschaffen werden.
Ein Beispiel hierfür sind die privaten Soundwelten von mobilen Abspielgeräten, die
die Illusion von ‚beweglicher Nähe‘ vermitteln (vgl. Bull 2004: 283). Aber auch
Mobiltelefone gestatten eine mobile Konnektivität personaler Kommunikation im
städtischen Raum (Bull 2004: 286). In der Argumentation von Bull werden gegen-
wärtige städtische Strukturen personaler Kommunikation als selbst mobile indivi-
dualisierte Kommunikationsgefüge greifbar (siehe für eine ähnliche Perspektive
auch den Beitrag von Caroline Düvel in diesem Band).
Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht, dass John Tomlinson (2005)
über seine globalisierungstheoretischen Überlegungen hinaus das Konzept der Kon-
nektivität erweitert, um den Medien- und Kommunikationswandel von Mobilkom-
munikation zu fassen. Während die Terminals von physischer Konnektivität – hier
verstanden als Endorte von Reisenden – in der industriellen Moderne glamourös
gestaltete Bahnhofsgebäude waren, wurden in den letzten anderthalb Jahrhunderten
Terminals als Endgeräte ‚kommunikativer Konnektivität‘ nicht nur kleiner, vor
allem wurden sie mobil. Und auch Tomlinson argumentiert, dass diese mobile kom-
munikative Konnektivität einerseits kulturell-technologische Ängste schafft, ande-
rerseits Möglichkeiten eröffnet, die Grenzen der gelebten Lokalität kommunikativ
zu überwinden. Die Technologien mobiler digitaler Endgeräte können in diesem
Sinne als „unvollendete Instrumente [betrachtet werden], mit denen die Menschen
versuchen – unter den Bedingungen einer weltweiten Deterritorialisierung – etwas
von der Sicherheit eines kulturellen Ortes, von Beständigkeit in einer Kultur des
Flows zu erhalten“ (Tomlinson 2005).
Die bisher skizzierten Aktualisierungen von ‚Konnektivität‘ im Rahmen der
Auseinandersetzung mit Digitalisierung machen eine ähnliche Leistung des Konzep-
tes deutlich, wie im Rahmen der Globalisierungsdiskussion: ‚Konnektivität‘ ermög-
licht die Beschreibung und Analyse des Wandels von kommunikativen Beziehungen
in einer Art und Weise, die zuerst einmal vor-analytische Bewertungen dieser Kom-
162 Andreas Hepp

munikationsbeziehungen im Hinblick auf damit verbundene Machverhältnisse und


Folgen vermeidet.
Möglicherweise ist exakt dies der Grund, warum sich ‚Konnektivität‘ auf beson-
dere Weise dazu anbietet, Medien- und Kommunikationswandel zu fassen. Auf einer
abstrakten Ebene lässt sich jedes Medium als ein Instrument zur ‚Etablierung von
kommunikativer Konnektivität‘ begreifen. Sprache beispielsweise ist ein Werkzeug,
das Menschen dazu verwenden ‚kommunikativ‘ in Beziehung zu treten. So kann
man – wie es Werner Faulstich und Carsten Winter machen (Faulstich 1996; Winter
1996) – Wandermönche als „Menschmedien“ beschreiben, indem diese Reisenden
kommunikative Konnektivitäten zwischen Menschen in unterschiedlichen Regionen
herstellen. Aber auch elektronische Medien wie Film, Fernsehen, Radio und das
Internet können als Werkzeuge der Herstellung von kommunikativer Konnektivität
verstanden werden. Ihre Repräsentationen stellen symbolische Beziehungen zwi-
schen unterschiedlichen Menschen und Kulturen her.

Abbildung: Konnektivitätstheoretische Konzepte

Konnektivität

Struktur- Prozess-
aspekte aspekte

Netzwerk Fluss
• Linie/Faden • Raum
• Knoten • Verdichtung
• Schalter • Spezifik

Diese Beispiele illustrieren zwei Aspekte. Erstens ist Konnektivität ein generelles
Moment von Kommunikation. Es ist nichts Neues oder Spezifisches für elektroni-
sche Medien oder das Internet3. Eher hilft das Konzept uns, die Überlegung zu fas-
sen, dass Kommunikation auf das Herstellen einer bestimmten Art von ‚Beziehung‘
verweist, deren Folge ‚Verstehen‘ sein kann, aber ebenso auch ‚Missverstehen‘ und
‚Konflikt‘. Zweitens hat sich die Spezifik von kommunikativer Konnektivität im
Verlauf der Mediengeschichte verändert: Frühe Formen der Etablierung von kom-
munikativer Konnektivität basierten in hohem Maße auf ‚physischen Aspekten‘, bei-
spielsweise der Person, die reist. Im Gegensatz dazu basieren die Formen von Kon-
nektivität, die in den letzten Jahrzehnten an Relevanz gewonnen haben, in wesent-
lich geringerem Maße auf ‚physischen Aspekten‘. Selbstverständlich haben bei-
spielsweise Internetverbindungen nach wie vor ihre ‚physische Basis‘ in elektroni-
Konnektivität, Netzwerk und Fluss 163

schen Kabelnetzwerken. Aber deren Formen der Konnektivität sind mehr und mehr
losgelöst von dieser ‚Basis‘: Die Kommunikationsmuster, die in der Netzkommuni-
kation über verschiedene Territorien hinweg zugänglich sind, scheinen kaum mehr
auf deren ‚physische Aspekte‘ rückführbar.
All diese Verweise auf verschiedene Studien und Theoretisierungen haben
damit deutlich gemacht, in welchem Maße ein auf ‚Konnektivität‘ fokussiertes Den-
ken hilfreich erscheint, die in der Globalisierung der Medienkommunikation und
Digitalisierung greifbaren Herausforderungen des gegenwärtigen Medien- und
Kommunikationswandels zu fassen. Allerdings bedarf meines Erachtens das Kon-
zept der Konnektivität einer weiteren begrifflichen Differenzierung. Wie ich argu-
mentieren möchte, verbinden konnektivitätstheoretische Überlegungen letztlich zwei
Perspektiven oder Aspekte in diesem Konzept. Dies ist zum einen der Struktura-
spekt, der sich mit dem bereits mehrfach genannten Ausdruck des ‚Netzwerks‘ zur
Beschreibung von ‚Konnektivitätsstrukturen‘ verbinden lässt. Zum anderen ist dies
die des Prozessaspekts, der mit dem Ausdruck des Flusses („flow“) zur Beschrei-
bung von ‚Konnektivitätsprozessen‘ in Verbindung gebracht werden kann (siehe
oben stehende Abbildung). Es erscheint mir wichtig, dass man beide Aspekte im
Blick hat, wenn man sich mit Fragen kommunikativer Konnektivität auseinander
setzt – ob in Bezug auf die fortschreitende Digitalisierung oder in Bezug auf die
Globalisierung der Medienkommunikation.

3 Netzwerk

Der Ausdruck ‚Netzwerk‘ bietet einen Ansatzpunkt, die strukturierenden Kräfte von
Konnektivität zu fassen4. Um dies verständlich zu machen, bietet es sich an, Manuel
Castells Definition von ‚Netzwerk‘ zu zitieren, die sich mit der Definition vieler
anderer trifft. Für Castells sind Netzwerke
“offene Strukturen und in der Lage, grenzenlos zu expandieren und dabei neue Knoten zu
integrieren, solange diese innerhalb des Netzwerks zu kommunizieren vermögen, also solange
sie die selben Kommunikationskodes besitzen – etwa Werte oder Leistungsziele.“ (Castells
2001: 528f.)
Dieses Zitat verweist auf einige wichtige Aspekte, die man beim Theoretisieren von
‚Netzwerk‘ berücksichtigen sollte. In einem bestimmten Sinne ist es tautologisch zu
argumentieren, Netzwerke bestehen aus Konnektivitäten (‚Verbindungen‘, ‚Fäden‘,
‚Kurven‘ usw.), die miteinander in Knoten verbunden sind. Dies ist bloß eine
Beschreibung von Netzwerk im Sinne einer alltagssprachlichen Metaphorik. In der
gegenwärtigen Theoriediskussion bekommen diese Ausdrücke jedoch eine spezifi-
sche Bedeutung. Es ist zunehmend offensichtlich, dass sich die Konnektivität eines
Netzwerks entlang bestimmter Kodes artikuliert. ‚Strukturen‘ sozialer Netzwerke
sind nicht einfach da, sondern werden in einem fortlaufenden kontextualisierten Pro-
zess (re)artikuliert. Dies macht es beispielsweise möglich, dass ein und dieselbe Per-
son Teil unterschiedlicher Netzwerke sein kann: Er oder sie kann Teil eines Freund-
164 Andreas Hepp

schaftsnetzwerks sein (wo eine bestimmte Art sozialer Beziehung der ‚dominante
Kode‘ ist), oder auch Teil des Netzwerks einer sozialen Bewegung (wo bestimmte
kulturelle Werte und politische Ziele der ‚dominante Kode‘ sind). Dies scheint der
Grund dafür zu sein, warum Netzwerkstrukturen so offen und die Grenzen von
Netzwerken so unscharf sind, während Netzwerke nichtsdestotrotz strukturierende
Kräfte darstellen: Ein Freundschaftsnetzwerk stellt an uns bestimmte Anforderun-
gen, ebenso wie das politische Engagement in einer sozialen Bewegung andere
Möglichkeiten politischen Handelns ausschließt.5
Diese Anmerkungen helfen zu fassen, was man unter dem Ausdruck ‚Knoten‘
verstehen kann. Auf einer neutralen Ebene kann man sagen, ein Knoten ist der
Punkt, wo eine Konnektivität (‘Verbindung‘, ‚Faden‘, ‚Kurve‘ usw.) eines Netz-
werks sich selbst kreuzt.6 Auf einen ersten Blick mögen solche Formulierungen irri-
tieren. Nichtsdestotrotz helfen sie uns, den wichtigen Punkt zu verstehen, dass Kno-
ten innerhalb von Netzwerkstrukturen vollkommen unterschiedliche Dinge sein kön-
nen. Wir können personale Kommunikation als einen Prozess der Herstellung einer
bestimmten Art von Konnektivität verstehen, in der die sprechenden Personen die
zentralen ‚Knoten‘ sind. ‚Knoten‘ können aber ebenso andere soziale Formen haben.
Zum Beispiel kann man lokale Gruppen als ‚Knoten‘ in dem Netzwerk einer weiter-
gehenden sozialen Bewegung beschreiben oder man kann Organisationen wie lokale
Unternehmungen als ‚Knoten‘ in einem weitergehenden Firmennetzwerk begreifen.
‚Netzwerk-Strukturen‘ können auf vollkommen unterschiedlichen Ebenen ausge-
macht werden – und das ist der Grund, warum dieses Konzept eine Chance eröffnet,
strukturierende Kräfte über verschiedene Ebenen hinweg zu beschreiben und zu
vergleichen.
Ein dritter Punkt, der wichtig erscheint, wenn wir die Strukturaspekte von Kon-
nektivität diskutieren, ist der des ‚Schalters‘. Wiederum war es Manuel Castells, der
diesen Ausdruck in die wissenschaftliche Diskussion gebracht hat. Für Castells ist
ein ‚Schalter‘ ein spezifischer Knoten, der verschiedene Netzwerke miteinander ver-
bindet. Der Ausdruck ‚Schalter‘ bezieht sich auf die Idee, dass dieser Knoten dazu
in der Lage sein muss, den Kode eines Netzwerks in den eines anderen zu ‚überset-
zen‘. Um dies verständlicher zu machen ist es hilfreich, sich die Knoten näher zu
betrachten, die Castells als ‚Schalter‘ beschreibt. Die Beispiele, auf die er sich
fokussiert, sind hier die Netzwerke von Kapital, Information und Management
(siehe Castells 2001: 529). Deren unterschiedliche Strukturen sind über spezifische
‚Schalter‘ miteinander ‚verbunden‘, die er in so genannten globalen Städten aus-
macht. ‚Schalter‘ sind in diesem Sinne die Orte, wo zentrale Momente von Macht
innerhalb von Netzwerkstrukturen konzentriert sind, wobei sich diese Machtkon-
zentration in der ‚Übersetzungsfähigkeit‘ der Kodes von einem Netzwerk zum ande-
ren manifestiert. Genau durch solche ‚Übersetzungsleistungen‘ sind globale
(Medien-)Städte gekennzeichnet (vgl. Krätke 2002). Diese Idee eröffnet neue Mög-
lichkeiten, Machtbeziehungen innerhalb von (globalen) Netzwerken zu analysieren:
Während Machbeziehungen in der Gesamtheit sozialer Netzwerke fußen – wie
Michel Foucault herausgestrichen hat (vgl. Foucault 1996: 43) –, hilft uns das Kon-
zept des ‚Schalters‘ zu verstehen, wo Machbeziehungen innerhalb von Netzwerken
Konnektivität, Netzwerk und Fluss 165

insbesondere konzentriert sind, nämlich an der Position, wo verschiedene Netzwerke


miteinander interagieren.
Dieses ‚Netzwerk-Denken‘, wie ich es beschrieben habe, eröffnet meines Erach-
tens eine Art und Weise, die strukturellen Aspekte von Konnektivität zu beschrei-
ben, die diesem Paradox der gleichzeitigen ‚Offenheit‘ und ‚Geschlossenheit‘ von
Netzwerken gerecht wird. Auf der einen Seite sind die Strukturen von Netzwerken
in dem Sinne ‚offen‘, dass sie (mehr oder weniger) einfach neue ‚Knoten‘ inte-
grieren und wachsen können, ohne deren ‚Stabilität‘ zu verlieren. Hierauf Bezug
nehmend sind Netzwerke ‚offen‘. Auf der anderen Seite sind Netzwerke gleichzeitig
geschlossen, indem diese Prozesse der Ausdehnung entlang bestimmter ‚Kodes‘ ge-
schehen, die das Spezifische eine Netzwerks und dessen Macht bestimmen. Aber
wiederum besteht eine bestimmte ‚Offenheit‘ von Netzwerken, indem ‚Schalter‘ die
Möglichkeit bieten, über ‚Kodegrenzen‘ hinweg zu ‚kommunizieren‘. Dies ist der
Punkt, an dem die Netzwerkmetapher produktiver zu sein scheint als die Systemme-
tapher der gegenwärtigen funktionalistischen Systemtheorie: ‚Systeme‘ werden –
wie beispielsweise in den Arbeiten von Niklas Luhmann (1997) – als ‚geschlossene
Strukturen‘ gedacht, die sich selbst auf ‚autopoietische Weise‘ reproduzieren.
Wegen deren ‚autopoietischer Struktur‘ besteht für Systeme keine Möglichkeit, auf
direkte Weise miteinander zu interagieren. Anstatt dessen sind sie miteinander durch
‚strukturelle Kopplung‘ verbunden. Mit solchen Konzepten eröffnet die funktiona-
listische Systemtheorie sicherlich einen kohärenten Begriffsrahmen. Ihre Schwäche
besteht aber in deren Fokus auf eineindeutige Systemgrenzen und Systemintegrati-
on. ‚Netzwerk‘ als Konzept eröffnet eine wesentlich offenere Möglichkeit des Den-
kens, das angemessen erscheint für die Paradoxien gegenwärtiger Medienkulturen
(siehe Karmasin 2004 zum Konzept des Paradox in der Medien- und Kommunikati-
onswissenschaft).

4 Fluss

Wie ich argumentiert habe, ist der Fokus auf ‚Netzwerke‘ nur eine Möglichkeit,
Konnektivität zu betrachten. Ebenso wichtig wie dieser Strukturaspekt ist der Pro-
zessaspekt. Der verbreiteste Ausdruck, um diese Prozesse zu beschreiben, ist der des
‚Flusses‘ im Sinne von Englisch „flow“ oder „fluid“7. Flüsse operieren entlang be-
stimmter Netzwerkstrukturen. Beispielsweise muss der ‚Nachrichtenfluss‘ auf der
Basis unterschiedlicher Mediennetzwerke gefasst werden (vgl. Boyd-Barrett/Thussu
1992; Boyd-Barrett 1997; Boyd-Barrett/Rantanen 1998), während der Fluss von
Migranten entlang bestimmter Personennetzwerke erfolgt (vgl. Pries 2001).
Insbesondere John Urry hat argumentiert, dass das Konzept des Flusses8 in
hohem Maße geeignet erscheint, die sozialen und kulturellen Prozesse der Gegen-
wart zu fassen, indem dieses die Möglichkeit für eine neue Form von Soziologie
eröffnen würde, der es gelingen kann, die zunehmend mobilen kulturellen Formen
zu fokussieren. Urry argumentiert, „[the] development of a ‚mobile sociology‘
166 Andreas Hepp

demands metaphors that view social and material life as being ‚like the waves of a
river‘“ (Urry 2003: 59). Ausgehend von dieser Vorstellung favorisiert Urry das Kon-
zept des ‚globalen Flusses‘ (‚global fluids‘), mit dem er betonen möchte, dass Flüsse
unzweifelhaft Netzwerke nötig machen, nichtsdestotrotz die Spezifik dieser globalen
Flüsse darin besteht, dass sie Netzwerke überschreiten und zum Teil selbst orga-
nisierend sind im Hinblick auf deren Schaffen und Aufrechterhalten von Grenzen
(vgl. Urry 2003: 60). Solche Argumente sind aus meiner Perspektive sehr interes-
sant, da sie gleichzeitig hilfreich und problematisch erscheinen. Sie sind hilfreich,
indem sie den überschreitenden Charakter von Flüssen betonen: Flüsse wie der Fluss
bestimmter Informationen ‚überschreiten‘ unterschiedliche Netzwerke, und dies ist
der Grund, warum das Konzept des Flusses und das des Netzwerkes voneinander zu
unterscheiden sind. Auf der anderen Seite erscheinen seine Argumente problema-
tisch, indem Urry hieraus – trotz seiner Kritik an der funktionalistischen Tradition –
einen selbstorganisierenden Aspekt globaler Flüsse folgert. Wenn wir jedoch solch
abstrakte Argumentation auf die Ebene der Alltagserfahrungen herunter brechen,
stellen wir fest, dass zumindest die globalen Kommunikationsflüsse nicht ‚autono-
me‘ Phänomene sind, sondern strukturiert werden durch die Kommunikationsnetz-
werke, entlang derer sie ‚reisen‘ – und dass diese strukturierenden Aspekte etwas
mit Macht und der Machtkonzentration an bestimmten ‚Schaltern‘ zu tun haben.
Was ich hier deutlich machen möchte ist, dass Urry sicherlich recht hat mit
seiner Betonung der Komplexität von (globalen) Flüssen. Was problematisch
erscheint, ist seine Tendenz aufzugeben danach zu fragen, was die strukturierenden
Aspekte globaler Komplexität sind und wie diese mit Machbeziehungen verwoben
sind9. Trotz deren provisorischen Charakters erscheinen mir theoretische Konzepte
wie das des ‚Schalters‘ als machtgeprägter ‚Überschreitungspunkt‘ unterschiedlicher
Netzwerke und entlang dieser verlaufender Flüsse eine geeignetere Art und Weise,
über Macht in ‚globaler Komplexität‘ und ‚zunehmender Mobilität‘ nachzudenken
als von ‚selbstorganisierenden‘ Aspekten von Flüssen zu sprechen. Es sind exakt
diese ‚Schalter‘, die im Alltagsleben sehr manifest sind: Wenn wir Medienflüsse
betrachten, müssen wir unseren Blick auf ‚global‘ handelnde Medienkonzerne len-
ken und gleichzeitig anerkennen, dass diese Teil eines zunehmend globalen Kapita-
lismus mit entsprechenden Finanznetzwerken und -flüssen sind – ein Kapitalismus,
der sich an spezifischen globalen Medienstädten konkretisiert (vgl. Hepp 2004c:
259-274) und eher Unsicherheit und Ambiguität produziert als ein kollektives Ver-
stehen (vgl. Ang 2003).
Ausgehend hiervon können wir folgern, dass Flüsse kein momentanes Ereignis
sind, sondern langfristige Konglomerate von Prozessen konstituieren. Es gibt unter-
schiedliche Begriffe, die sich etabliert haben, um diese Konglomerate zu bezeich-
nen, wie beispielsweise ‚Space‘ in Castells Konzept des Raums der Ströme (siehe
Castells 2001: 431) oder ‚scape‘ wie in in Arjun Appadurais (1996: 33) bekannter
Unterscheidung von Ethnoscapes, Mediascapes, Technoscapes, Financescapes und
Ideoscapes. Theoretische Konzepte wie diese versuchen zu fassen, dass unterschied-
liche (globale) Flüsse ‚komplexe Landschaften‘ konstituieren, die in deren eigenen
Logik zu beschreiben sind. Die Flüsse bestehender Konnektivitäten existieren nicht
Konnektivität, Netzwerk und Fluss 167

als isolierte Einzigartigkeiten, sondern konstituieren den Teil eines komplexeren


Gefüges.
Während man im Allgemeinen zeigen kann, wie zielführend räumliche Kon-
zepte sind, um diese Langzeitkonglomerate von Flüssen greifbar zu machen (siehe
für solche Argumente Morley 1996: 327-331), erscheint mir insbesondere ein
bestimmtes theoretisches Konzept konkrete empirische Analysen zu ermöglichen,
nämlich das der ‚Verdichtung‘ (vgl. Löfgren 2001). Wenn wir unsere Gegenwart
begreifen als gekennzeichnet durch eine fortschreitende ‚globale Konnektivität‘ von
zunehmend mobilen ‚Netzwerken‘ und ‚Flüssen‘, die ineinander übergehen und
unklare Grenzen haben, müssen wir doch die Frage beantworten, wie wir dennoch
nach wie vor bestehende kulturelle, ökonomische und andere Gefüge fassen. Wenn
wir diese als ‚bedeutungstragende Verdichtungen‘ von Flüssen entlang von und über
Netzwerke hinweg beschreiben, betonen wir einerseits die Spezifik solcher Konglo-
merate wie staatliche Gebilde und Kulturen, gleichzeitig aber andererseits deren
unscharfe Grenzen. Es ist damit offenkundig, dass das Konzept der ‚Verdichtung‘
den ‚überschreitenden Charakter‘ von Flüssen greifbar macht und gleichzeitig das
Charakteristische des jeweiligen ‚Raums‘ oder ‚Scapes‘ lang anhaltender Konglo-
merate: Verdichtungen sind gewissermaßen eine fokussierte und bedeutungsvolle
Spezifik von Flüssen mit unscharfen Grenzen.

5 Kontextualisierte Netzwerk- und Flussanalysen

Man mag meinen bisher entwickelten Argumenten den Vorwurf machen, es handle
sich bei ihnen um keine weitergehende Klärung der Konzepte ‚Konnektivität‘, ‚Netz-
werk‘ und ‚Fluss‘, die deren Eignung als Ansatzpunkt von Medien- und Kommuni-
kationsforschung im Rahmen der Cultural Studies deutlich machen. Vielmehr
verbleiben sie auf einer ähnlich abstrakten und selbstbezogenen Ebene, wie man es
beispielsweise der Theoriediskussion der Systemtheorie oder dem (radikalen) Kon-
struktivismus vorwirft. Sicherlich waren die bisher erfolgten Argumentationen
abstrakt und verweisen zumindest zum Teil auf eine partiell geschlossene Globa-
lisierungsdiskussion.10 Dennoch bieten sie meines Erachtens die Basis für eine ganz
konkrete Medien- und Kommunikationsforschung im Rahmen der Cultural Studies.
Fasst man die bisherigen Argumente nochmals zusammen, so ist dies dahinge-
hend möglich, dass ‚Konnektivität‘ ein spezifisches Konzept zur Fokussierung
soziokultureller, insbesondere translokaler kommunikativer Beziehungen ist, das
dem gerecht zu werden versucht, dass solche Beziehungen vollkommen unterschied-
liche, zum Teil widersprüchliche bzw. paradoxe Qualitäten haben können und den-
noch als kontextuelle Artikulationen Bestand haben. Konkret wird eine auf Konnek-
tivität fokussierte Betrachtung, wenn sie einzelne Netzwerke als Strukturaspekte von
Konnektivität analysiert oder aber einzelne Flüsse als Prozessaspekte von Konnekti-
vität. Fokus einer Medien- und Kommunikationsforschung in diesem Begriffsrah-
168 Andreas Hepp

men kann entsprechend nicht ‚Konnektivität‘ ‚als solche‘ sein, es sind vielmehr kon-
krete Netzwerke und Flüsse, die es zu untersuchen gilt.
Geht man von allgemeinen methodologischen Überlegungen der Cultural Stu-
dies aus, so müssen diese Netzwerk- und Flussanalysen kontextualisiert erfolgen.
Diese Formulierung verweist auf den radikalen Kontextualismus als einem zentralen
Bezugspunkt von Cultural Studies überhaupt (siehe dazu auch Ien Ang und Rainer
Winter in diesem Band). Die Argumente von Lawrence Grossberg (1994: 26) auf-
greifend, ist unter radikalem Kontextualismus eine grundlegende Orientierung der
Cultural Studies zu verstehen, die sich in einem spezifischen Anti-Essenzialismus
manifestiert, wonach kein kulturelles Produkt und keine kulturelle Praxis außerhalb
des kontextuellen Zusammenhangs fassbar ist, in dem diese stehen. Befassen sich
die Cultural Studies also mit der Rolle kultureller Praktiken bei der Konstitution
soziokultureller Wirklichkeit, so geschieht dies unter Einbezug der verschiedenen in
diesem Zusammenhang relevanten ‚Kräfte‘ und ‚Interessen‘, ohne dass eine von die-
sen monokausal als die ‚eigentlich relevante‘ apostrophiert wird. In diesem Sinne
kann man davon sprechen, Fokus einer ‚Konnektivitätsforschung‘ im Rahmen der
Cultural Studies muss eine kontextualisierte Netzwerk- und Flussanalyse sein. Doch
wie kann man sich diese vorstellen? Und welche Bezüge sind hier zu einem kriti-
schen, auf Fragen der Macht ausgerichteten Vorgehen zu sehen?
Für eine kontextualisierte Netzwerkanalyse ist zuerst einmal herauszustreichen,
dass ein netzwerkanalytisches Vorgehen allgemein in der Medien- und Kommunika-
tionsforschung etabliert ist. So lassen sich bereits die Arbeiten von Lazarsfeld et al.
zum Zwei-Stufen-Fluss von Kommunikation als frühe netzwerkanalytische Ansätze
verstehen, indem hier die ‚indirekte Wirkung‘ von Medien über auf Meinungsführer
zentrierte Kommunikationsnetzwerke untersucht wurde (vgl. Schenk 1983). Aber
auch in der Folge haben (quantitative) netzwerkanalytische Studien in der Medien-
und Kommunikationswissenschaft ihre Tradition, insbesondere wenn es um die
Untersuchung der Relevanz von Personennetzwerken in Prozessen des Agenda-Set-
ting geht (vgl. überblickend Schenk 1995). Einen weiteren Schub haben Netzwer-
kanalysen mit einer auf das Internet bezogenen Netzwerkforschung erfahren (vgl.
exemplarisch für andere Wellman et al. 1996; Wellman 2000), aber auch in der
Journalismusforschung sind sie zunehmend etabliert (vgl. Quandt 2005). Wo wird
also eine Netzwerkforschung ‚kontextuell‘ im Sinne der Cultural Studies?
Man kann diese Frage dahingehend beantworten, dass es darum geht, Netzwerk-
strukturen in deren Konkretisierung in Prozesse der Auseinandersetzung um Wirk-
lichkeitsdefinitionen zu fokussieren. Es geht also gerade nicht um eine abstrakte
Medientheorie entlang der Kategorie des Netzwerks11 oder um eine rein deskriptive
Beschreibung von Netzwerken. Vielmehr geht es um eine konkrete und material-
basierte Analyse von Netzwerkstrukturen und der in bzw. anhand von ihnen greif-
baren Machtverhältnisse, sei dies auf der Ebene von Personennetzwerken, von tech-
nologischen Netzwerken wie dem Internet oder komplexen Organisationsnetzwer-
ken beginnend bei sozialen Bewegungen über die Netzwerke deterritorial agierender
Medienkonzerne bis hin zu den Finanz- und Handelsnetzwerken globaler
Medienstädte.
Konnektivität, Netzwerk und Fluss 169

Die Spezifik der Cultural Studies ist damit, dass das strukturierende Potenzial
solcher Netzwerke in sozialen und kulturellen Auseinandersetzungen in den Mittel-
punkt der Betrachtung rückt. Machtbeziehungen, die sich in Netzwerken struk-
turieren, können sowohl bestehende Herrschaftsverhältnisse stabilisieren als auch
Möglichkeiten von deren Kritik eröffnen. Ganz konkret wird dies innerhalb des
Medienbereichs in Bezug auf das Internet greifbar. Einerseits ist das Internet als
Infrastrukturnetzwerk zu begreifen, das zentral für die Etablierung einer globalen
Ökonomie in Echtzeit bzw. für die Etablierung von innerhalb dieser agierender
deterritorialer Netzwerkunternehmen ist (vgl. Castells 2001: 83-228). Die Technolo-
gie des Internets stützt hier eine spezifische Form des ‚globalen Kapitalismus‘.
Gleichzeitig ermöglicht das Internet aber auch eine Organisationskommunikation
sozialer Bewegungen bzw. gestattet es diesen, ‚alternative Medienangebote‘ zumin-
dest für die Mitglieder solcher Netzwerke zugänglich zu machen (vgl. Atton 2002;
Couldry/Curran 2003). Ein konkretes Beispiel hierfür sind das globalisierungskriti-
sche Netzwerk Attac bzw. das Angebot von Indymedia (vgl. Hepp/Vogelgesang
2005). Geht man – wie es Chris Barker (2003) im Anschluss an Tony Bennett (1996,
1997) macht – davon aus, dass Cultural Studies nicht einfach ‚Textanalyse‘ betrei-
ben, sondern sich den institutionellen Dimensionen kultureller Macht und Auseinan-
dersetzung zuwenden sollten und gesteht ein, dass beides in heutigen, westlichen
Gesellschaften weniger in einem Zentrum fokussiert ist, sondern nur in dezentralen
Strukturen greifbar wird, so erscheint eine kontextualisierte Netzwerkanalyse in
hohem Maße zielführend.
Wie auch für die Netzwerkanalyse lässt sich für eine Flussanalyse festhalten,
dass die Kategorie des ‚Flows‘ bzw. des ‚Fluids‘ in den Medienanalysen der letzten
Jahre einen Relevanzgewinn erfahren hat und in der Medien- und Kommunikations-
wissenschaft die damit verbundenen raumanalytischen Konzepte fest etabliert sind.
Exemplarisch lässt sich, um dies zu belegen, auf die Arbeiten von Harold Innis ver-
weisen (vgl. Kleinsteuber 1992; Innis 1997). Aber auch in der empirischen Medien-
forschung hat das Konzept des Kommunikationsraums seinen festen Stellenwert und
es gab Ende der 1980er beziehungsweise Anfang der 1990er Jahren auch im deut-
schen Sprachraum einen regelrechten Boom der Kommunikationsraumforschung
(vgl. Jarren 1987; Kleinsteuber and Rossmann 1994). Mit Etablierung des Internets
haben raumanalytische Konzepte einen weiteren Relevanzgewinn erfahren (vgl.
Beck 2003; Thiedeke 2004). Wo ist also das Spezifische der Cultural Studies zu
sehen?
Setzt man an dieser Stelle wiederum beim Begriff der kontextualisierten Fluss-
analyse an, so geht es darum, die Konstitution von (Kommunikations-)Flüssen in
deren alltäglichen Kontexten zu untersuchen. Es geht also nicht um eine abstrakte
Bestimmung von Kommunikationsräumen, sondern um deren kontextuelle – und
damit auch situative und momentane – Artikulation im Alltag. Nähert man sich in
einer solchen Perspektive den kulturellen Verdichtungen, die Kommunikationsflüsse
konstituieren, so stellt man fest, dass deren Grenzen gegenwärtig weit weniger
scharf sind, als von Alltagsprozessen abstrahierende Überlegungen vermuten lassen.
Mit fortschreitender globaler und mobiler kommunikativer Konnektivität und ent-
170 Andreas Hepp

sprechend vielfältigen Kommunikationsflüssen ist bspw. der Kommunikationsraum


von ‚Nationalstaaten‘ vielfach gebrochen durch die deterritorialen kulturellen Ver-
dichtungen von Minderheiten und Diasporagemeinschaften (vgl. Morley 2000:
149-170; Gillespie 2002). Aber auch die Grenzen ‚nationaler Kommunikationsräu-
me‘ werden untereinander unscharf, indem beispielsweise einzelne (Sprach-)Regi-
onen selbst spezifische kommunikative Verdichtungen bilden (vgl. Sinclair et al.
1996). Eine kontextualisierte Untersuchung kommunikativer Flüsse und diesen ent-
sprechende Kommunikationsräume bzw. kulturelle Verdichtunge ermöglicht es, sol-
che Zusammenhänge zu fassen.
Insgesamt machen solche Überlegungen deutlich, dass die Konzepte ‚Konnekti-
vität‘, ‚Netzwerk‘ und ‚Fluss‘ nicht spezifisch sind für die Cultural Studies. Sie sind
ebenso in anderen Bereichen der Sozial- und Kulturwissenschaften etabliert. Als
kennzeichnend für die Cultural Studies kann man aber die Notwendigkeit einer kon-
textualisierten Netzwerk- und Flussanalyse begreifen, die es gestattet, Beziehungen
zwischen Kulturwandel, Medienwandel und dem Wandel von Machtverhältnissen
zu untersuchen. Begreift man Cultural Studies – wie am Anfang dieses Beitrags
skizziert – als ein transdiziplinäres Projekt, das es auch in der Medien- und Kom-
munikationswissenschaft zu konkretisieren gilt und sieht hier den gegenwärtigen
Medienwandel als eine der zentralen analytischen Herausforderungen an, so müssen
sich die Medienanalysen der Cultural Studies darin bewähren, diesen kritisch zu fas-
sen. Genau darin liegen meines Erachtens die Potenziale der Konzepte von ‚Kon-
nektivität‘, ‚Netzwerk‘ und ‚Fluss‘ für eine Medien- und Kommunikationsforschung
im Rahmen der Cultural Studies.

Anmerkungen

1 Ich selbst habe in diesem Kontext das Konzept der ‚multiperspektivischen Kritik‘
favorisiert. Siehe dazu Hepp 2004c: 424-427 sowie die Einleitung in diesen Band.
2 Es ist bemerkenswert, dass in diesem Forschungsfeld nach einem Boom von „Cybercul-
ture“-Studien bis Ende der 1990er Jahre (vgl. beispielsweise Levy 2001; Bell/Kennedy
2000; Silver 2000; Bell 2001; Loader et al. 2004) sich seit den letzten vier Jahren eine kri-
tischere bzw. differenziertere Tradition der Auseinandersetzung mit digitalen Medien ent-
wickelt, die entsprechend auch bei anderen begrifflichen Konzepten als dem der ‚Cyber-
Kultur‘ ansetzt (siehe hierzu überblickend, wenn auch teilweise mit ‚positivistischem‘
Fokus Gurak 2004, sowie in einer älteren Auflage aber bis heute instruktiv Silver 2000).
3 Dies herauszustreichen erscheint mir wichtig, da gegenwärtige Theorien immer wieder
dazu tendieren – wie beispielsweise die erwähnte Netzwerktheorie von Manuel Castells
(2001) – solche Zusammenhänge aus dem Blick zu verlieren.
4 Im Gegensatz zu John Urry (Urry 2003: 59), gehe ich nicht davon aus, ein „‘struktureller‘
Zugang“ sei mit einer zunehmenden globalen Konnektivität obsolet. (Globale) Konnekti-
vität scheint mir eine auch strukturierende Kraft zu sein, was es notwendig macht, diesen
Aspekt theoretisch zu fassen. Auf der anderen Seite minimiert dies selbstverständlich
nicht die Relevanz eines Zugangs, der sich auf „flow“ und „fluid“ fokussiert. Siehe dazu
meine weiter unten folgende Argumentation.
5 Selbiges lässt sich auch ausschließlich am Beispiel des Freundschaftsnetzwerks deutlich
machen: Während alle diese Netzwerke entlang des ‚Kodes Freundschaft‘ operieren,
Konnektivität, Netzwerk und Fluss 171
wechselt der ‚Fokus von Freundschaft‘ (‚Freundschaft mit wem‘) über das Netzwerk.
Dies ist exakt der Grund, warum es nicht möglich ist, eineindeutige ‚Grenzen‘ von Per-
sonennetzwerken zu bestimmen. Auf diese Weise lässt sich auch das „small world theo-
rem“ einordnen (selbst wenn zwei Personen keinen direkten Freund gemeinsam haben,
stehen sie doch nur durch eine kurze Kette von Zwischenpersonen miteinander in Kon-
takt, siehe Watts 2004).
6 Selbstverständlich erscheint es dabei wichtig, zwischen ‚starken‘ und ‚schwachen Verbin-
dungen‘ zu unterschieden. Siehe dazu beispielsweise die klassischen Argumente von M.
Granovetter (1983).
7 Im Englischen bestehen durchaus begriffliche Differenzen zwischen beiden Ausdrücken,
indem „fluid“ nicht nur ‚Strom‘ bzw. ‚Flüssigkeit‘ impliziert, sondern ebenso ‚Gas‘ und
dessen ‚Flüchtigkeit‘. Dies eröffnet sicherlich ein produktives Feld von Metaphern, wie
das Buch „Liquid Modernity“ (dt. „Flüchtige Moderne“) von Zygmunt Bauman (2000)
deutlich macht. Nichtsdestotrotz verbleibt hier das Risiko, strukturelle Aspekte von Kon-
nektivität aus dem Blick zu verlieren, indem man sich ausschließlich auf die Auflösung
traditioneller Institutionen der Moderne fokussiert, anstatt deren Transformation in neue
Strukturen ebenso in das Blickfeld zu rücken.
8 Urry gebraucht beide Ausdrücke ‚flow‘ und ‚fluid‘ synonym. Zu deren begrifflichen
Nuancen siehe meine vorherige Anmerkung.
9 Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass Urry keine Fragen von Macht diskutieren
würde. Siehe dazu Urry 2003: 104-119.
10 Vgl. einführend zu dieser die Beiträge in Hepp et al. 2005b.
11 Vgl. für einen solchen Zugang aus radikalkonstruktivistischer Sicht Weber 2001.

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Teil 2:

Zur Rezeption der Cultural Studies


im deutschsprachigen Raum
Cultural Studies im deutschsprachigen Raum

Lothar Mikos

1 Einleitung

Zur Erstauflage dieses Bandes im Jahr 1997 begann dieser Überblick noch mit fol-
genden Worten: „In der jüngsten Zeit hat der Begriff Cultural Studies in Deutsch-
land eine gewisse Karriere gemacht, nicht als Ansatz, der nun auch im deutschspra-
chigen Raum reüssiert, sondern als Schlagwort, das in ebenso wechselnden wie
beliebigen Zusammenhängen auftaucht“ (Mikos 1997: 159). Der zweite Teil des
Satzes besitzt leider immer noch Gültigkeit, denn oft wird das Schlagwort Cultural
Studies von Kulturwissenschaftlern, Soziologen, Kommunikationswissenschaftlern
und Vertretern weiterer Disziplinen genutzt, um Abgrenzungen zu markieren. Dem
liegt jedoch keine intensive Auseinandersetzung mit dem Ansatz der Cultural Stu-
dies zu Grunde, sondern holzschnittartige Verkürzungen. Der erste Teil des Satzes
muss allerdings revidiert werden, denn Cultural Studies haben sich inzwischen auch
im deutschsprachigen Raum als Ansatz etabliert. Das zeigt sich weniger in den bis-
her kaum vorhandenen akademischen Institutionalisierungsformen, als vielmehr in
der enorm gestiegenen Zahl der Publikationen, die diesem Bereich zuzurechnen
sind. So sind erste Lehrbücher, die in den Ansatz einführen (vgl. Hepp 1999/2004;
Kramer 1997; Lutter/Reisenleitner 1998), Werke, die einen Überblick über den
Ansatz, seine Entstehung und Geschichte sowie seine Bedeutung geben (vgl. Horak
2002; Lindner 2000; Winter 2001a), und Sammelbände, die Grundlagentexte in
deutscher Übersetzung versammeln sowie einen Überblick über die Diskussion des
Ansatzes und seinen Einfluss geben (Bromley/Göttlich/Winter 1999; Engelmann
1999; Göttlich/Mikos/Winter 2001; Hepp/Winter 2003; Hörning/Winter 1999)
erschienen. Außerdem liegen Werke einiger wichtiger Vertreter der Cultural Studies
aus dem angloamerikanischen Raum inzwischen in deutscher Übersetzung vor, von
John Fiske (2000; Winter/Mikos 2001), Lawrence Grossberg (2000); Stuart Hall
(1989; 1994; 2000a), Douglas Kellner (Winter 2005) und Meaghan Morris (2004).
Diese reiche Publikationstätigkeit ist auch dem Umstand geschuldet, dass in Öster-
reich zwei Verlage (zunächst Turia + Kant und dann Löcker) und ein Verlag in
Deutschland (Transcript) eine eigene Cultural Studies-Schriftenreihe herausgebracht
haben. Es hat sich also einiges getan. Daher kann man auch nicht weiter von drei
Phasen der Rezeption des Cultural Studies Ansatzes ausgehen, sondern muss eine
178 Lothar Mikos

vierte Phase hinzufügen. Mit der verstärkten Publikationstätigkeit ist auch die
öffentliche Wahrnehmung gestiegen.
Zugleich hat das aber auch die Abgrenzungsbemühungen klassischer Diszi-
plinen verstärkt, denen das „Projekt Cultural Studies“ suspekt ist, z.B. der Kultur-
wissenschaft (vgl. Böhme/Matussek/Müller 2000; Jaeger/Straub 2004), der Kul-
tursoziologe (vgl. Göttlich/Albrecht/Gebhardt 2002), und der Medienwissenschaft
(vgl. Faulstich 2002). So stellt Faulstich (2002: 106) nach einer verkürzten Darstel-
lung des Ansatzes lapidar fest: „Sowohl von ihren medienbezogenen Fragestellun-
gen als auch methodologisch bieten die Cultural Studies kaum eine Erweiterung
oder Bereicherung der Medienwissenschaft.“ Das wird in anderen Einführungsbü-
chern jedoch anders gesehen (vgl. Hickethier 2003), und die Kommunikationswis-
senschaft scheint da offener zu sein (vgl. Jarren/Bonfadelli 2001; Pürer 2003), auch
wenn der Ansatz in manchen Einführungen nur am Rande erwähnt wird (vgl.
Schmidt/Zurstiege 2000). Dennoch haben die Cultural Studies es schwer, sich in
Mitteleuropa durchzusetzen (vgl. auch Horak 1999). Das liegt u.a. einerseits an der
Art und Weise, wie die Rezeption des Ansatzes im deutschsprachigen Raum
gelaufen ist, andererseits aber auch an der kulturwissenschaftlichen Tradition, die
seit dem Zweiten Weltkrieg sehr stark von der Kritischen Theorie der Frankfurter
Schule geprägt wurde. Gerade die Kritische Theorie hat nicht nur die wissenschaftli-
che Auseinandersetzung mit den Medien stark beeinflusst, sondern auch das Alltags-
wissen von und über Medien. Darin ist m. E. ein Grund zu sehen, warum der Cul-
tural Studies Approach in Deutschland bis in die 1990er Jahre hinein kaum Beach-
tung fand und sich als wissenschaftliche Richtung nicht durchsetzen konnte. Gerade
in der kritischen Auseinandersetzung mit den Medien ist die Kritische Theorie nach
wie vor das dominante Paradigma, auch wenn die naive Rezeption, die insbesondere
den Verblendungszusammenhang und die Manipulationsleistung der Medien hervor-
hob, einer differenzierteren Sichtweise gewichen ist (vgl. dazu auch Kausch 1988).
Ironischer Weise wird die Kritische Theorie manchmal selbst als eine Variante der
Cultural Studies bezeichnet oder es wird versucht, die Berührungspunkte zwischen
Kritischer Theorie und Cultural Studies herauszuarbeiten (vgl. Göttlich 1996).
Doch ebenso wie es in der Kritischen Theorie mit den Ansätzen von Horkhei-
mer und Adorno, Benjamin und Löwenthal unterschiedlich Richtungen und Ausprä-
gungen gab, kann auch nicht von einem einheitlichen Cultural Studies Approach
gesprochen werden. In verschiedenen nationalen Kontexten haben sich unterschied-
liche Varianten der Cultural Studies herausgebildet (vgl. Nelson/Treichler/Grossberg
1992: 5). So ist die britische Tradition der Cultural Studies ganz entscheidend von
der sozialen, politischen und ökonomischen Situation auf der Insel geprägt. Das
Verhältnis der „working class“ zur dominanten Kultur hat bei der Entwicklung des
Ansatzes eine große Rolle gespielt. Als Ausgangspunkt der British Cultural Studies
gilt das Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham, kurz CCCS
genannt. Für die Arbeit des Instituts in den 1970er Jahren waren vor allem die
Werke von Richard Hoggart, Edward P. Thompson und Raymond Williams wichtig.
Die Rezeption dieser British Cultural Studies in den USA brachte andere Varianten
hervor, die nicht so sehr von den Erfahrungen der Klassengegensätze ausgingen als
Cultural Studies im deutschsprachigen Raum 179

vielmehr von den Erfahrungen mit einer vielfältigen populären Kultur in einer ver-
meintlich klassenlosen Gesellschaft. Die amerikanische Variante der Cultural Stu-
dies war denn auch weniger ethnografisch orientiert, sie konzentierte sich mehr auf
Textanalysen. Zugleich wurde poststrukturalistisches und feministisches Gedanken-
gut integriert. Diese beiden Besonderheiten der amerikanischen und britischen
Varianten der Cultural Studies haben auch zur relativ gebremsten Rezeption im
deutschsprachigen Raum beigetragen. Weder die britische Erfahrung von Klassen-
strukturen noch die amerikanische Erfahrung der Populärkultur sind für Deutschland
typisch. Die Rezeption dessen, was Larry Grossberg das „Projekt Cultural Studies“
genannt hat, hat denn auch zunächst nur in den Bereichen stattgefunden, in denen
partiell vergleichbare oder zumindest ähnliche Erfahrungen gemacht werden konn-
ten: in der Jugendsoziologie und in der feministischen Forschung. So ist es der
Rezeption der US-Cultural Studies zu verdanken, dass sich auch in Deutschland der
Begriff „gender“ durchgesetzt hat. Eine Rolle spielte hierbei die Zeitschrift Argu-
ment, die immer wieder Texte von Vertretern der Cultural Studies in deutscher
Übersetzung veröffentlichte. Neben Jugendsoziologie und Feminismus gehört aber
auch die medienwissenschaftlichen Beschäftigung mit populären Genres und ihrer
Rezeption dazu.

2 Anfänge der Rezeption im deutschsprachigen Raum

Im Folgenden werde ich mich auf die Rezeption der Cultural Studies in der wissen-
schaftlichen Beschäftigung mit den Medien beschränken. Die generelle Entwicklung
einer inzwischen breiten Rezeption macht es jedoch leider nur möglich, an dieser
Stelle mit eher kursorischen Anmerkungen aufzuwarten – eine umfassende Darstel-
lung würde den Rahmen, der hier zur Verfügung steht, sprengen. Allerdings möchte
ich zunächst kurz auf die Anfänge in den 1970er Jahren eingehen, als der Ansatz in
der Soziologie rezipiert wurde (vgl. zur Geschichte der Cultural Studies auch Lind-
ner 2000; Winter 2001 sowie zur Rezeption im deutschsprachigen Raum auch Gött-
lich/Winter 1999; Horak 1999; Lindner 1994). Begonnen hat alles im Jahr 1976 mit
dem Heft 24 der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation. Im Rahmen des Heft-
schwerpunktes „Freizeit im Arbeiterviertel“ gab es eine Selbstdarstellung des CCCS
sowie einen Aufsatz von Charles Critcher über Fußballfans und einen Aufsatz von
John Clarke und Tony Jefferson über jugendliche Subkulturen der Arbeiterklasse.
Damit war ein Teil der Rezeption, wie sie dann auch später in der Jugendsoziologie
erfolgen sollte, vordefiniert. Die Arbeiten des CCCS wurden in einen Zusammen-
hang mit Studien zu Bewusstsein und Kultur der Arbeiterklasse gestellt, wobei das
Augenmerk insbesondere auf eben jenen jugendlichen Subkulturen lag (vgl. dazu
auch Winter 1997). Dieser ersten Phase der Rezeption, wie Rolf Lindner sie genannt
hat (vgl. Lindner 1994: 53), folgte schnell eine zweite, die den Zuschnitt auf das
Thema „jugendliche Subkulturen“ noch stärker hervorhob. In der Syndikat-Autoren-
und Verlagsgesellschaft wurden mehrere Studien von CCCS-Mitgliedern veröffent-
180 Lothar Mikos

licht, die „Learning to Labour“-Studie von Paul Willis unter dem Titel „Spaß am
Widerstand“, der Sammelband von John Clarke u.a. über „Jugendkultur als Wider-
stand“, eine Sammlung von Aufsätzen von Raymond Williams („Innovationen“) und
dann 1981 die einflussreiche Studie „Profane Culture“ über Rocker und Hippies von
Paul Willis. In der Folge erschienen eine ganze Reihe von Publikationen zum Phä-
nomen der Jugendkulturen, und die Arbeiten des CCCS wurden nicht nur in der
Soziologie, sondern auch in der Pädagogik (vgl. dazu Lindner 1994: 54) und in der
Sprachwissenschaft (vgl. Maas 1980) rezipiert. Die Shell-Studie „Jugend 1981“
wäre ohne den Einfluss der CCCS-Arbeiten sicher so nicht denkbar gewesen. Zwar
spielten in der Auseinandersetzung mit den Lebensformen jugendlicher Subkulturen
populärkulturelle Phänomene und Medien immer auch eine Rolle, doch explizit
waren sie nur selten Bestandteil von Arbeiten, die sich in der Tradition der Cultural
Studies sahen oder von diesen beeinflusst waren. Hervorzuheben sind hier insbeson-
dere die Arbeiten von Rolf Lindner zu Punk als vermarktetem Aufruhr (Lindner
1978) und sein Nachwort in Mike Brakes „Soziologie der jugendlichen Subkul-
turen“, in dem er über die massenmediale Vermittlung jugendlicher Subkulturen
räsonierte (Lindner 1981) sowie ein Aufsatz von Mikos (1982), in dem versucht
wurde, die Homologien zwischen Fußball und Fernsehunterhaltung einerseits und
der kulturellen Orientierung von Arbeitern herauszuarbeiten. Ansonsten blieb die
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Medien merkwürdig unberührt von
den Cultural Studies. Studien über jugendlichen Medienkonsum nahmen die Bir-
minghamer Arbeiten kaum zur Kenntnis, eine Ausnahme bildet hier erst die Studie
von Niesyto zur „Erfahrungsproduktion mit Medien“, die Ende der 1980er Jahre ent-
standen ist (vgl. Niesyto 1991). In der Beschäftigung mit den Medien sollte es bis zu
den 1990er Jahren dauern, bevor Aspekte des Ansatzes in breiterem Maße rezipiert
wurden.
Die Rezeption der Cultural Studies in den 1990er Jahren gründete u.a. auch in
den wechselnden Themen und dem Entstehen neuer Varianten der Cultural Studies.
Wurden in der Soziologie in den ersten beiden Phasen der Rezeption vor allem die
British Cultural Studies rezipiert, waren es in den 1990er Jahren vor allem die Ame-
rican Cultural Studies. Gerade in der amerikanischen Rezeption machte der Ansatz
eine Wende von einem eher soziologisch und ethnografisch orientierten Projekt zu
einem eher geisteswissenschaftlichen und textanalytisch orientierten. Letzteres war
für die deutsche intellektuelle und akademische Szene leichter zu konsumieren, auch
weil es mit den Arbeiten postmoderner Theoretiker zusammengebracht werden
konnte. Das hier aber dann nicht Cultural Studies betrieben wurde, sondern traditi-
onelle Geisteswissenschaft, darauf wird noch zurückzukommen sein.
Cultural Studies im deutschsprachigen Raum 181

3 Vier Phasen der Cultural Studies-Rezeption in der Medien- und


Kommunikationswissenschaft

In der Auseinandersetzung mit Medien und Populärkultur lassen sich für die Rezep-
tion im deutschsprachigen Raum vier Phasen ausmachen. Die erste Phase kann auf
Mitte der 1980er Jahre datiert werden, die zweite auf Ende der 1980er Jahre, die
dritte auf die Zeit bis Mitte der 1990er Jahre. Mit dem Erscheinen des vorliegenden
Buches in der Erstauflage im Jahr 1997 war ein Wendepunkt markiert, der die vierte
Phase einläutete. Zur Jahrtausendwende erschien neben einigen Sammelbänden
(Bromley/Göttlich/Winter 1999; Engelmann 1999; Göttlich/Winter/Mikos 2001;
Hörning/Winter 1999), in denen einzelne Aufsätze auch auf Medienthemen eingin-
gen, das erste Lehrbuch (Hepp 1999/2004), das explizit eine Verbindung zwischen
den Cultural Studies und der Medienanalyse herstellte. Damit war letztlich eine der
entscheidenden Grundlagen gelegt, das intellektuelle Projekt der Cultural Studies
und deren medienbezogene Ansätze für die Medien- und Kommunikationswissen-
schaft im deutschsprachigen Raum nutzbar zu machen. Zu Beginn des 21. Jahrhun-
derts kann daher mit Fug und Recht „von einer ersten vorsichtigen Etablierung der
Cultural Studies in Zweigen der deutschsprachigen Medien- und Kommunikations-
wissenschaft gesprochen werden“ (Jacke 2004: 176). Ein Endpunkt ist noch nicht
erreicht. Denn es zeigt sich, dass traditionelle Disziplinen kaum noch einen Zugriff
auf medienvermittelte populärkulturelle Phänomene haben und im inter- und trans-
disziplinären Ansatz der Cultural Studies eine Möglichkeit sehen, ihn mit einigen
traditionellen Ansätzen der Medien- und Kommunikationswissenschaft zu verbin-
den. Die Auseinandersetzung darüber, was denn die Cultural Studies dabei leisten
können, steht im deutschsprachigen Raum erst am Anfang und m. E. sind da noch
heftige Kämpfe auszufechten. Je mehr sich jedoch die Einsicht durchsetzt, dass
Medienphänome nur noch interdisziplinär einigermaßen umfassend analysiert und
erklärt werden können, besteht die Hoffnung zu einer stärkeren Integration. Jacke
(ebd.) führt die „vorsichtige Etablierung“ denn auch auf eine „zunehmende Ko-
Orientierung von Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaft“ zurück.
Allerdings wird eine Integration so lange erschwert, wie nach einem möglichst
einheitlichen Ansatz gesucht wird, den es so nicht gibt und auch nicht geben wird.
Das Prinzip der Cultural Studies als, und ich benutze erneut eine Wendung von
Larry Grossberg, „intellektuellem Projekt“, ist bisher nur ansatzweise begriffen wor-
den, denn das Gemeinsame der Cultural Studies besteht im Wesentlichen in ihrer
intellektuellen Offenheit und dem Versuch, disziplinäre Grenzen zu überwinden. An
der Rezeption in den besagten vier Phasen lässt sich aber zeigen, dass das Projekt
auch in Deutschland den Regeln seiner Verbreitung und möglichen Institutiona-
lisierung als wissenschaftlicher Disziplin gefolgt ist. In diesem Zusammenhang ist
vielleicht bemerkenswert, dass die Entwicklung der Cultural Studies-Ansätze, die
sich mit der Fernsehzuschauerforschung befassten, ganz wesentlich von einem deut-
182 Lothar Mikos

schen Kulturwissenschaftler beeinflusst wurden, dem damaligen Leiter des Tübinger


Instituts für Empirische Kulturwissenschaft, Hermann Bausinger. Sein Aufsatz
„Media, Technology, and Daily Life“ aus dem Jahr 1984 wurde zu einem der Refe-
renzpunkte für Publikumsforscher wie Ien Ang und David Morley.
Die erste Phase der Rezeption Mitte der 1980er Jahre wurde eingeleitet durch
die Beschäftigung mit dem Phänomen der Fernsehserien und Soap Operas. Während
sich die traditionelle Publizistik- und Kommunikationswissenschaft oder die eher
philologisch orientierte Medienwissenschaft, wie sie vor allem auch durch den Son-
derforschungsbereich Bildschirmmedien in Siegen bevorzugt wurde, nicht um sol-
che obskuren Ansätze wie die Cultural Studies kümmerten, waren es Soziologen und
Amerikanisten, die sie für Projekte ethnografischer Zuschauerforschung entdeckten.
Vor allem das von der Stiftung Volkswagenwerk geförderte Projekt zu Soap Operas
im Fernsehen, das von Tübinger Amerikanisten durchgeführt wurde, machte sich um
die Rezeption der Cultural Studies verdient. Führende britische und amerikanische
Vertreter des Ansatzes, u.a. John Fiske und David Morley, kamen im Februar 1987
nach Blaubeuren, um dort über aktuelle Probleme der Forschung zu diskutieren. Die
Papers der Tagung wurden dann auch im amglo-amerikanischen Raum in einem
Sammelband publiziert (vgl. Seiter et. al. 1989). In dem Projekt wurde der Cultural
Studies Approach durchaus als interdisziplinäres Projekt gesehen, in dem semioti-
sche Ansätze mit kulturwissenschaftlichen, ethnografischen und feministischen
zusammengebracht wurden. Das Hauptaugenmerk lag auf der Verbindung von
Textanalyse und Ethnografie nicht nur der Zuschauer, sondern auch der Produzenten
(vgl. auch Borchers u.a. 1994). Aus dem Projekt ging auch eine textanalytische
Arbeit zur Serie Dynasty hervor (vgl. Kreutzner 1991). Neben dem Projekt in Tübin-
gen gab es noch eine mehr ethnografisch orientierte Arbeit zur Rezeption von Fami-
lienserien im Fernsehen, bei der in zwei Phasen seit 1984 Zuschauer in narrativen,
biografischen Interviews befragt wurden. Dabei wurde versucht, die Tradition der
British Cultural Studies mit soziologischer Biografie- bzw. Lebenslaufforschung
zusammenzubringen (vgl. Mikos 1994b). In beiden Fällen wurden die Cultural Stu-
dies im Rahmen traditioneller Bezugsdisziplinen, Amerikanistik und Soziologie,
rezipiert. Das entspricht durchaus den Verbreitungstendenzen der Cultural Studies,
die sich als inter- bzw. multidisziplinäre Bastard-Disziplin gern an Wirtszellen in
Standarddisziplinen hängt. Larry Grossberg hat das einfühlsamer formuliert, wenn
er davon spricht, dass es darum gehen müsse, den Cultural Studies „immer wieder
eine Heimstatt im Rahmen einer bestimmten Disziplin zu schaffen“ (Grossberg
1994a: 12).
Das setzte sich auch in der zweiten Phase der Rezeption im deutschsprachigen
Raum Ende der 1980er Jahre fort, in der die Soziologie zur „Heimstatt“ der Cultural
Studies wurde – genau, wie sie es Jahre zuvor bei der Rezeption der Arbeiten zu ju-
gendlichen Subkulturen bereits geworden war. In Trier hatte sich um den Soziologen
Roland Eckert eine Forschergruppe gebildet, die sich in mehreren Projekten mit der
Rolle der Medien bei der kulturellen Differenzierung (vgl. Winter/Eckert 1990) aus-
einander setzte und jugendliche Spezialkulturen, die sich um Medientexte gruppier-
ten, wie Horrorfans und Computerfreaks (vgl. Eckert u.a. 1990; 1991; Vogelgesang
Cultural Studies im deutschsprachigen Raum 183

1991; Winter 1995) sowie die Sadomaso-Szene (vgl. Wetzstein u.a. 1993)
untersuchte. Von der Arbeit der Trierer Soziologen angeregt entdeckten auch die
Sprachwissenschaftler in Trier die Cultural Studies und banden den Ansatz in ihre
Arbeiten ein (vgl. exempl. Holly/Püschel 1993). Die Arbeiten in Trier hatten eines
gemeinsam – sie sahen Cultural Studies nicht als theoretischen Ansatz, sondern eben
als ein interdisziplinäres Feld, das die eigene Arbeit im Rahmen einer Mutterdiszi-
plin befruchten kann. Damit waren die Studien auch Cultural Studies in dem Sinn,
den Larry Grossberg formuliert hat, denn sie setzten dort an, wo Menschen sind, und
das heißt „bei bereits vorhandenen Artikulationen von Hoffnung und Enttäuschung
im täglichen Leben“ anzuknüpfen (Grossberg 1994a: 30). Damit wird Cultural Stu-
dies in Verbindung mit ihrer besonderen Form intellektueller Praxis auch zu einem
pädagogischen Projekt (vgl. Grossberg 1994b).
Das kann man für die dritte Phase der Rezeption der Cultural Studies zu Beginn
der 1990er Jahre nicht mehr konstatieren. Zwar gibt es nach wie vor einige Wissen-
schaftler, die in diesem Sinn arbeiten – dazu zählt u.a. nach wie vor die Trierer
Gruppe (vgl. bspw. Vogelgesang in diesem Band) oder in Österreich eine Gruppe
von feministischen Wissenschaftlerinnen wie Marie-Luise Angerer, Johanna Dorer
und Brigitte Hipfl (vgl. auch den Aufsatz von Angerer 1994 sowie Hipfl 1996). Die
Rezeption war wesentlich davon bestimmt, dass Wissenschaftler verschiedener
Disziplinen, die sich mit Medien und Populärkultur befassten, diesen Ansatz ent-
deckten und die angloamerikanische Literatur aufarbeiteten. Zwei Tendenzen waren
dabei zu beobachten: Einerseits konnte in guter deutscher geisteswissenschaftlicher
Tradition vor allem die textanalytisch orientierten, mit poststrukturalistischem und
feministischem Gedankengut angereicherten US Cultural Studies in den intellektuel-
len Diskurs innerhalb und außerhalb der Universitäten integriert werden. Der The-
menschwerpunkt Cultural Studies in der populären Musikzeitschrift Spex mag dafür
als Beleg gelten (siehe dazu den Beitrag von Ralf Hinz in diesem Band). Zwar wur-
den in den verschiedenen Aufsätzen, die unter dem Thema zusammengefasst waren,
auch einige wenige sozialwissenschaftliche Forscher bzw. Arbeiten erwähnt, doch
wurde Cultural Studies im Wesentlichen als geisteswissenschaftliches Projekt gese-
hen. Kulturwissenschaft in Deutschland war eben geisteswissenschaftlich geprägt.
Das führte dann u.a. zu solchen Kuriositäten wie die, den germanistischen Medien-
wissenschaftler Friedrich Kittler als Vertreter der Cultural Studies zu sehen (vgl.
Holert 1995: 55), obwohl der damit nun wirklich nichts zu tun hatte und immer noch
nicht hat, wie gerade einer seiner jüngsten Publikationen (Kittler 2002) eindrucks-
voll belegt, in der zwar nette intellektuell-philosophische Spielchen betrieben wer-
den, die Auseinandersetzung mit dem Thema der optischen Medien vor allem dann
an der Geschichte, der Struktur und den Funktionen der Medien vorbeigeht, wenn er
neuere Medien vom Film bis zum Computer behandelt. Der Unterschied zu den Cul-
tural Studies liegt vor allem darin, dass Kittler und seine Artgenossen, die sich
Medienwissenschaftler nennen, ihre Arbeit nicht als intellektuelles Projekt sehen,
das sich interventionistisch als Beitrag zu aktuellen politischen und gesellschaftli-
chen Entwicklungen versteht, sondern gerade aus dem Rückzug aus aktuellen
184 Lothar Mikos

Debatten und der Hinwendung zu teilweise kruden Interpretationen von „Medienge-


schichte“ ihre akademische Bestätigung suchen.
Daneben kam es in der Medien- und Kommunikationswissenschaft zu einer
Rezeption verschiedener Arbeiten der Cultural Studies, die dann in den entsprechen-
den Publikationsorganen dargestellt wurden. So stellte Friedrich Krotz in der Zeit-
schrift Rundfunk und Fernsehen (inzwischen Medien und Kommunikationswissen-
schaft) den Ansatz dar, wobei er allerdings äußerst selektiv vorging – was natürlich
auch in der Natur des Ansatzes liegt, der ja eben nicht auf eine einheitliche Richtung
festgelegt werden kann (vgl. Krotz 1992 sowie Krotz 1995; vgl. auch Jäckel/Peter
1997). Die Zeitschrift montage/av brachte ein Themenheft „Populärkultur/John Fis-
ke“ heraus, in dem Eggo Müller sich mit Fiskes Beitrag zur Populärkulturtheorie
auseinander setzte (vgl. Müller 1993). Außerdem gab es in dem Heft noch ein Inter-
view mit John Fiske sowie einen Aufsatz von ihm, erstmals in deutscher Überset-
zung.
Was dieser Rezeption in den frühen 1990er Jahre gemeinsam war, ist die Tatsa-
che, dass hier lediglich über Cultural Studies geschrieben wird, nicht aber Cultural
Studies gemacht. Das gilt z.B. auch für die Studie von Göttlich (1996), in der er ver-
suchte, den Ansatz Löwenthals mit dem Ansatz von Raymond Williams zusammen-
zubringen und – vereinfacht gesagt, die Arbeiten von Williams mit Cultural Studies
gleichsetzte. Für die Diskussion um die theoretischen Wurzeln einer möglichen
deutschen Variante der Cultural Studies ist die Arbeit von Göttlich jedoch unver-
zichtbar. Adäquat aufgearbeitet und im Sinn des „Projekts Cultural Studies“ gearbei-
tet wurde offenbar nur in der Trierer Gruppe sowie bei Rainer Winter (vgl. Winter
1995), Lothar Mikos (vgl. Mikos 1994a; 1996) und den bereits erwähnten österrei-
chischen Feministinnen. Daneben wurden die Cultural Studies zunehmend in Mutter-
disziplinen wie Soziologie und Psychologie rezipiert, wenn es um die Analyse von
medialen Formen oder Phänomenen der Populärkultur ging (vgl. Klinger/Schmied-
ke-Rindt 1996; Handschuh-Heiß 1996; sowie ansatzweise bei Knoblauch 1996b;
Barth/vom Lehn 1996) – interessanterweise aber nicht in den Beiträgen des Bandes
„Sinnwelt Film“ (vgl. Hofmann 1996), dessen Autoren die z.T. umfangreiche Litera-
tur aus dem Umfeld der Cultural Studies zu den dort analysierten populären Filmen
nicht aufgearbeitet hatten.
Die vierte Phase seit dem Jahrtausendwechsel ist wie bereits erwähnt von einer
Ko-Orientierung von Kultur-, Medien- und Kommunikationswissenschaft geprägt.
Dabei spielen vor allem zwei Theoreme eine Rolle, die dem Ansatz der Cultural Stu-
dies zugerechnet werden können:
• das Encoding/Decoding-Modell von Stuart Hall, das inzwischen mehrfach in
deutscher Übersetzung publiziert wurde (vgl. Hall 1999, 2002) und als einer der
Grundlagentexte der Fernsehwissenschaft gilt (vgl. Adelmann u.a. 2002);
• die diskursanalytisch orientierten Arbeiten von John Fiske zur Populärkultur
und dem Fernsehen, die inzwischen auch teilweise in deutscher Sprache vorlie-
gen (vgl. Fiske 1999a, 1999b, 2000; Winter/Mikos 2001).
Cultural Studies im deutschsprachigen Raum 185

Allerdings muss die Publikation dieser Werke in deutscher Sprache als Ausdruck
der bereits erfolgten breiten Rezeption gesehen werden. Kaum eine medien- und
kommunikationswissenschaftliche Arbeit, die sich mit dem Fernsehen oder der
Populärkultur befasst, kommt noch ohne Hinweise auf die Arbeiten von Hall und
Fiske aus. Daneben wurden vor allem Studien aus dem Umfeld der Cultural Studies
rezipiert, die dem Bereich der Audience Studies zuzurechnen sind.
Gerade deutsche Studien, die sich mit der Verortung der Medien, insbesondere
des Fernsehens im Alltag der Subjekte und der Gesellschaft befassen, haben ver-
schiedene Arbeiten von Vertretern der Cultural Studies integriert, sich zugleich aber
aus medien- und kommunikationswissenschaftlicher Sicht auch für kultursoziologi-
sche Ansätze geöffnet (vgl. Krotz 2001; Mikos 2001; Weiß 2001). Andererseits ist
in Disziplinen wie der Soziologie und der Sportwissenschaft eine verstärkte Rezep-
tion der Cultural Studies zu verzeichnen, wenn es um Fragestellungen geht, die
mediale Zusammenhänge berühren (vgl. Jacke 2004; Klein 1999; Schweppenhäuser
2004; Schwier 2000). Die Diskussion über die Globalisierung der Medienkommuni-
kation bzw. über transkulturelle Kommunikation kommt ohne Verweis auf Arbeiten
der Cultural Studies nicht aus (vgl. exemplarisch Hepp/Löffelholz 2002 und Hepp
2004; sowie in diesem Kontext auch Androutsopoulos 2003). Auch die Auseinan-
dersetzungen mit Theoremen der (Fernseh-)Unterhaltung ist ohne einen Bezug zu
den Arbeiten der Cultural Studies nicht mehr denkbar (vgl. Giegler/Wenger 2003;
Mikos 2003). Die Anwendung der Diskurstheorie Fiskes in einer Untersuchung zum
Diskurs der Fernsehkritik über populäres Fernsehen hat bedeutsame Erkenntnisse
gebracht (Goldbeck 2004). Die Aufzählung ließe sich sicher weiter fortführen,
würde aber an dieser Stelle zu weit führen. Nicht unerwähnt bleiben muss jedoch die
anhaltend breite Rezeption der Cultural Studies in der feministischen Medien-,
Kommunikations- und Kulturwissenschaft (vgl. exempl. Hipfl/Klaus/Scheer 2004;
Richard 2004).
Allein die hier aufgeführten Beispiele zeigen bereits, dass die Ansätze der Cul-
tural Studies inzwischen breit rezipiert wurden, vor allem in der Auseinandersetzung
mit der Mediatisierung der Gesellschaft und den medialen, populärkulturellen Phä-
nomenen. Eine dabei zu beobachtende Tendenz erscheint mir besonders bemerkens-
wert: Es wird versucht, einen eigenen Weg zwischen einer Übernahme von Theore-
men der Cultural Studies und einer Verortung der Theoreme mit anderen, in den
Disziplinen gewachsenen Theorietraditionen, zu finden. Die Debatte um die Cultural
Studies im deutschsprachigen Raum hat zudem den Blick für die widersprüchlichen
Aspekte der medialen Kommunikation zwischen Selbstermächtigung und Vereinnah-
mung geschärft. Dadurch hat sich zumindest die Kommunikations- und Medienwis-
senschaft mit verdienstvollen Differenzierungen in den Debatten um die Rolle und
Funktion der Medien hervorgetan. Das wird auch deutlich, wenn man sich noch ein-
mal die Grundzüge des Projekts Cultural Studies vor Augen führt.
186 Lothar Mikos

4 Cultural Studies – Versuch der Beschreibung eines dynamischen


Prozesses

Zunächst einmal ist Cultural Studies keine Disziplin und keine einheitliche Bewe-
gung, in der sich verschiedene Wissenschaftler wiederfinden. Cultural Studies ist ein
interdisziplinäres, transdisziplinäres und manchmal auch gegendisziplinäres Feld,
das in der Spannung zwischen den Tendenzen operiert, sowohl eine breite anthropo-
logische als auch eine enge humanistische Konzeption von Kultur zu umfassen (vgl.
Nelson/Treicher/Grossberg 1992: 4). Cultural Studies benutzt evaluative und inter-
pretative Verfahren und argumentiert, dass alle Formen der kulturellen Produktion
in Beziehung zu anderen kulturellen Praktiken und zu sozialen und historischen
Strukturen untersucht werden müssen (ebd.). Kultur wird dabei sowohl als „way of
life“, der Ideen, Verhalten, Gewohnheiten, Sprachen, Institutionen und Machtstruk-
turen umfasst, verstanden als auch als ein weites Feld kultureller Praxis, die sich in
künstlerischen Formen, Texten, Architektur usw. zeigt. Aus diesem Grund muss das
„Projekt Cultural Studies“ notwendigerweise Textanalyse und Ethnografie inte-
grieren. Denn im Mittelpunkt stehen die Lebensformen, d.h. die beobachtbare
soziale Wirklichkeit (McRobbie 1995: 111) und die „lived experiences“ der „peo-
ple“, wie es Suzanna Danuta Walters (1995: 157) genannt hat. Dazu bedarf es eben
der ethnografischen Methoden, denn: „Eine Ethnografie muss sich immer auf die
Wirklichkeitserfahrung der zu untersuchenden Subjekte stützen“ (Winter 1995: 123)
oder wie Paul Willis, der ausdrücklich für Ethno-CS eintritt, es genannt hat: „Das
Leben ist eine Kunst und Cultural Studies zeichnet dieses Leben auf“ (Willis 1996).
Cultural Studies muss sich ins Reich der Erfahrung ausdehnen (vgl. McRobbie
1995: 112) – und das hat nichts mit empirischer Verkürzung zu tun. Cultural Studies
untersucht ganz im Sinne von Richard Hoggart nicht, was Personen mit einem Text
anfangen, sondern welche Beziehungen der komplexe Text zur Vorstellungswelt
seiner Leser hat (Hoggart 1969, zitiert bei Grossberg 1994a: 29). Darin zeigt sich die
von Larry Grossberg geforderte radikale Kontextualität. Denn sowohl ein Text als
auch seine Beziehungen zur Vorstellungswelt seiner Nutzer kann nur verstanden
werden, „wenn man ihn in strukturierten kontextuellen Beziehungen verortet“
(ebd.). Im Rahmen der Cultural Studies sind also die sozialen, kulturellen, politi-
schen, ökonomischen und historischen Kontexte bedeutsam, in denen Texte und ihre
Nutzer interagieren (vgl. auch Winter 1995: 108 ff.). Im Mittelpunkt der Analyse
steht die Verankerung von Texten und kulturellen Praktiken in der sozialen Zirkula-
tion von Bedeutung und Vergnügen (vgl. Fiske 1991: 123). Cultural Studies ist ein
Weg, „die spezifische Formation von Dominanz und Macht, Ökonomie und Leiden
für spezifische Menschen als Agenten des sozialen und kulturellen Wandels“ zu ver-
stehen (Grossberg 1996). Cultural Studies ist damit weder ein rein theoretisches
noch ein rein empirisches Projekt. Allerdings ist die Untersuchung des Kontextes
von kulturellen Praktiken und Lebensformen nicht ohne Theorie möglich.
Cultural Studies im deutschsprachigen Raum 187
„Für Cultural Studies ist der Kontext, der erforscht und hergestellt wird, nicht auf einem
direkten, empirischen Weg verfügbar. Die Theorie ist zum Verständnis des Kontexts notwen-
dig, denn der Kontext selbst wurde ja bereits teilweise durch die Theorie hergestellt, oder
zumindest durch kulturelle Praktiken und Allianzen. Aber das bedeutet nicht, dass der Kon-
text auf irgendeine Weise auf diese theoretischen und kulturellen Konstruktionen reduzierbar
ist. Theorie ist im Verständnis von Cultural Studies immer auf zwei ganz bestimmte Arten
kontextspezifisch. Zum ersten ist die Theorie immer eine Antwort auf spezifische Fragen und
spezifische Kontexte; sie wird an ihrer Fähigkeit gemessen, ein besseres Verständnis des Kon-
textes zu vermitteln und neue, zumindest im Geiste vorhandene Möglichkeiten zu schaffen,
um diesen Kontext zu verändern. Cultural Studies hält sich nicht an eine im vorhinein defi-
nierte Theorie.“ (Grossberg 1994a: 28)
Das heißt, Cultural Studies kann nicht auf Studien reduziert werden, die im Namen
einer Theorie kulturelle Praktiken untersuchen (vgl. Grossberg 1994b: 6) – wie es
z.B. die naiven Vertreter der Kritischen Theorie tun. Theorie heißt für Cultural Stu-
dies immer „begriffliche Verarbeitung des ‚Alltagslebens‘“ (McRobbie 1995: 112),
und das bedeutet auch, die Strukturen dieses Alltagslebens auf ihre historische, kul-
turelle, politische, ökonomische Dynamik hin zu untersuchen. Nur so ist der
Anspruch der radikalen Kontextualität zu realisieren. Das heißt, dass das „Projekt
Cultural Studies“ notwendigerweise offen sein muss für unerwartete und ungebetene
Möglichkeiten (vgl. Nelson/Treichler/Grossberg 1992: 3). Das ist aber nicht mit
einem „anything goes“ zu verwechseln, denn es sind die kulturellen Praktiken im
Alltagsleben der „people“, die die Theorie leiten. Dieses theoretische Bemühen der
Cultural Studies rückt sie teilweise in die Nähe der interpretativen Soziologie.
Für die Rezeption des Ansatzes ist auch bedeutsam, dass Cultural Studies nicht
allein über die beschriebene Art von Theorie und Empirie oder über Untersuchungs-
gegenstände definiert ist, sondern Cultural Studies „bedeutet eine Verpflichtung zu
einem bestimmten Stil intellektueller Arbeit und deren Bedeutung inner- und außer-
halb der akademischen Welt“ (Grossberg 1994a). In diesem Sinn kann dann auch
von Cultural Studies als einer „intellektuellen transkulturellen Formation“ (Ang
1996) gesprochen werden. Cultural Studies ist für Larry Grossberg (1994a: 12) ein
Weg der Theoretisierung von Politik und der Politisierung von Theorie, es ist ein
Weg der Produktion von politisch brauchbarem Wissen. Die Frage dabei ist nicht so
sehr, zu wem die Intellektuellen sprechen („audience“) oder für wen sie sprechen
(„representation“), sondern gegen wen sie sprechen. In Deutschland kann dies nur
heißen, dass Cultural Studies zu betreiben heißt, gegen die dominanten Theorien und
den Konsens der Scientific Community zu argumentieren und zu arbeiten. In der
Auseinandersetzung mit Medien und Populärkultur heißt dies vor allem, gegen die
palavernde Aufklärung der „Kritischen Theorie“ zu argumentieren, die dank ihrer
naiven Adepten zu einer feuilletonistischen Produktionsstätte von Allgemeinplätzen
verkommen ist. Das „Projekt Cultural Studies“ ist in Konkurrenz zur Deutungsho-
heit der „Kritischen Theorie“ im deutschsprachigen Raum getreten. Das konnte ihm
gelingen, weil nicht nur John Fiske, sondern auch zahlreiche andere Vertreter, „Cul-
tural Studies als kritische Theorie, deren Ziel ein gesellschaftlicher Wandel zu mehr
Demokratie und Gerechtigkeit ist“ (Winter 2001b: 14), begriffen haben. Das Projekt
der Cultural Studies im deutschsprachigen Raum ist „selbst als Element eines
188 Lothar Mikos

Modernisierungsprozesses zu begreifen“ (Lindner 2000: 113). Das heißt auch, dass


sich die den Cultural Studies verpflichtet fühlenden Wissenschaftler dessen bewusst
sind, dass sie Teil eines interventionistischen Projektes sind, dass sie sich selbst mit
ihrer Produktion im Feld sozialer Auseinandersetzungen bewegen – das unterschei-
det sie von der klassischen Kulturwissenschaft geisteswissenschaftlicher Prägung.
Dagegen ist Roman Horak (2002: 82) nur beizupflichten, wenn er neue strategische
Allianzen „gegen eine mögliche kulturwissenschaftliche Vereinnahmung“ fordert.
Die Medien- und Kommunikationswissenschaft kann dazu ebenso ein Partner sein
wie Teile der Kultur- und Mediensoziologe und die Europäische Ethnologie. Letzt-
lich geht es darum, sich dem Alltagsleben der Menschen und ihren sozialen und kul-
turellen Praktiken zuzuwenden, um dort die Widersprüchlichkeiten ausfindig zu
machen, denn dort ist der Ort, an dem die sozialen Auseinandersetzungen ihren Platz
haben und an dem sich die Zusammenhänge von Kultur, Medien und Macht zeigen.
Denn es geht darum, „Individuen und Gruppen bei ihren Bemühungen zu helfen,
ihre alltäglichen Erfahrungen zu artikulieren“ (Winter 2001a: 348). Das ist die Auf-
gabe des Projekts Cultural Studies, daraus entsteht es:
„Gleichgültig in welcher Kultur man operiert, Cultural Studies werden immer traditionelle
Rollen in Frage stellen, die traditionellen Grenzen der Sexualität, der Subjektivität, etc. In die-
ser Hinsicht, in diesen allgemeinen Prozessen des Widerstandes, der Herausforderungen, ent-
steht so etwas wie eine allgemeine Sprache der Cultural Studies. Obwohl es keine universelle
Sprache ist, ist es eine Sprache, in der die Spannungen zwischen Gleichheit und Differenz
zwischen Leuten in verschiedenen Positionen ausgehandelt werden können.“ (Hall
2000b: 156)
Nach wie vor besteht das Ziel der Cultural Studies in der „Herstellung von Zusam-
menhängen zwischen den einzelnen Momenten der Selbstermächtigung und den
umfassenden kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen“ (Winter 2001a: 317).
Diesem Ziel kommt aber nur ein dynamisches Projekt näher, dass sich nicht festle-
gen lässt, sondern sich ebenso wandelt, wie die Gesellschaft, in der es sich loka-
lisiert.

Literatur

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Aktiv ist gut, interaktiv noch besser: Anmerkungen zu
einigen offenen Fragen der Cultural Studies

Eggo Müller & Hans J. Wulff

„Popular culture is not consumption, it is culture – the


active process of generation and circulation meanings
and pleasures within a social system: culture, however
industrialized, can never be adequately described in
terms of buying and selling of commodities.“ (Fiske
1989a: 23)

1 Vorbemerkungen

So sehr John Fiske mit diesem Argument, das in der deutschen Rezeption der Cul-
tural Studies begierig aufgenommen worden ist, recht hat, so sehr ist sein bekanntes
Argument in der deutschsprachigen Rezeption zu einem normativen Statement
geworden, das allenfalls polemischen Wert hat. Denn wenn populäre Kultur per
definitionem einen „aktiven“ Prozess beschreibt, ist diese Aussage ebenso nichtssa-
gend und inhaltsleer wie alle althergebrachten elitären Urteile über die Kulturindu-
strie und ihre manipulierende Macht über das Publikum, das per definitionem zu
ideologischer Hörigkeit und Passivität verdammt sei. Auch wenn die Dominanz des
kulturkritischen Denkens in der Tradition der Frankfurter Schule im deutschsprachi-
gen Raum vielfach produktive Perspektiven auf populäre Kultur verstellt hat, kann
daraus keinesfalls auf immer und ewig gefolgert werden, dass die kulturindustriell
produzierten „Rezeptionsvorgaben“ keine Rolle für den Prozess der Bedeutungspro-
duktion und -zirkulation“ spielen. Selbst in den Texten John Fiskes, der 2004 in
Deutschland sogar zum „Klassiker der Kulturtheorie“ und Mitgliedes eines erle-
senen „Culture Club“ (vgl. Hofmann/Korta/Niekisch 2004) erhoben worden ist, hat
selbst zuweilen darauf hingewiesen, dass populäre Kultur als „the art of making do“
verstanden werden muss, als eine Überlebensstrategie von Individuen im Span-
nungsfeld von materieller und symbolischer gesellschaftlicher Macht, die die struk-
turellen Voraussetzungen der gesellschaftlichen Reproduktion im alltäglichen Leben
produziert. In diesem Sinne ist es fraglich, ob Alltag und Lebenswelt, die selbst
gesellschaftlich produziert und medial durchdrungen sind, umstandslos als Rückhalt
und Gegenwelten konzipiert werden können, in denen Individuen ihre vielbe-
schworenen ‚widerspenstigen‘ und ‚subversiven‘ Strategien der Aneignung entfalten
194 Eggo Müller & Hans J. Wulff

und so aus kulturindustriell produzierter Ware Populärkultur im eigentlichen Sinne


herzustellen.
Doch insbesondere empirische Rezeptionsuntersuchungen im Rahmen der Cul-
tural Studies tendieren dazu, allein den Alltag oder die spezifische Subkultur von
Rezipienten als Kontext und Determinanten für eine „aktive“ Bedeutungsproduktion
in den Blick zu nehmen, ohne dies auf die Rezeptionsgegenstände zu vermitteln und
in einem gesellschaftlichen Prozess der medialen Kommunikation zu verorten.
Damit wird eine der politischen Grundfragen der British Cultural Studies fallen
gelassen und schlicht im Sinne des theoretischen Postulats beantwortet, dass Popu-
lärkultur und die Taktiken des Alltags subversiv seien: die Frage nach der sozialen
Auseinandersetzung um Macht und Bedeutung, nach der Vermittlung von Macht
und Bedeutung in kulturellen Prozessen.
Auf dieses Problem ist in der anglo-amerikanischen Diskussion verschiedentlich
hingewiesen worden (vgl. Seaman 1992; Gripsrud 1995 und insbes. Morley 1992:
230ff.; 1996: 49). Unsere knappen Thesen greifen diese Kritik auf und konzentrieren
sich auf einige Postulate ‚der‘ Cultural Studies, die auf ganz unterschiedlichen Ebe-
nen Probleme, die mit der Vermitteltheit medialer Kommunikationsprozesse zusam-
menhängen, unberücksichtigt lassen. Wir meinen, dass darüber in der Medien- und
Kommunikationswissenschaft Diskussionsbedarf besteht, zumal sich derzeit in der
Diskussion über die neue Medien und deren interaktives Potenzial der selbe argu-
mentative Kurzschluss zu wiederholen und zuzuspitzen scheint: „Interaktivität“ ist
noch besser und wiederum per definitionen – subversiv, wie es „The Interactive
Book“ vermeldet: „Interactivity is inherently subversive“ (Pearce 1997: 244).

2 Textuelle Rahmen der Rezeptionsaktivität

Dass Rezeption prinzipiell ein aktiver und produktiver Prozess sei, mag nach wie
vor eine sinnvolle polemische Feststellung sein, theoretisch ist sie wertlos, weil sie
nicht die geringste Unterscheidungsmöglichkeit produziert. Zu untersuchen wäre
vielmehr, welche Formen der Aktivität und Produktivität sich unter welchen spezifi-
schen Bedingungen – textuellen wie kontextuellen – ergeben bzw. ergeben können.
So genießt ein Rezipient zwar die Freiheit, einem Text Bedeutungen zuzuweisen
und ihn in die Sinnhorizonte einzuspannen, die in seiner Verantwortung stehen.
Dennoch ist es nicht beliebig, was ein Rezipient mit einem Text anstellt. Seine Akti-
vität ist gebunden an die Bedingung der Möglichkeit von vielfältigen Bedeutungen,
daran, dass Texte „offen“ und „polysem“ strukturiert sind. Mit diesen beiden Kenn-
zeichnungen wird die Autorität des Textes spezifiziert, aber nicht, wie häufig miss-
verstanden, zurück genommen oder sogar ausgesetzt. Umberto Eco zum Beispiel hat
die Offenheit ästhetischer Kodes mit einer kommunikationstheoretischen Begrün-
dung fundiert: Die ästhetische Botschaft habe eine leere Form, in die der Rezipient
Bedeutungen einfließen lasse. Dem Aspekt der „Freiheit der Interpretation“ auf Sei-
ten der Rezeption stellt er jedoch eine „Treue zum strukturierten Kontext der Bot-
Aktiv ist gut, interaktiv noch besser 195

schaft“ gegenüber, so dass die Offenheit des Rezeptionsprozesses nur in einem dia-
lektischen Spannungsverhältnis zur „Logik der Signifikanten“ bestimmt werden
kann. Eine Interpretation ist dem zu Folge keineswegs beliebig, sondern in klar
umschreibbaren formalen Rahmen fixiert (vgl. Eco 1972:162ff., bes.:163).
Auch die Polysemie der Texte darf nicht als Pluralismus ihrer Bedeutungen
missverstanden werden, wie Stuart Hall es einmal ausdrückte. Sinnvollerweise sollte
die Rede von der Vieldeutigkeit der Texte auf die Tatsache eingegrenzt werden, dass
Texte mehrere, strukturell-systematisch verschiedene Bedeutungen haben können
(vgl. Wulff 1992). Alle subjektiven Abschattungen von Verständnissen interessieren
nicht (oder nur am Rande), wenn die Rolle textueller Strukturen in medialer Kom-
munikation untersucht werden soll.
„Aktivität“ der Rezeption muss also als eine bedingte und deshalb vermittelte
aufgefasst werden, „Passivität“ dürfte dabei das eine (und praktisch nie erreichbare)
Extrem auf der Bandbreite der Möglichkeiten abgeben. Zudem ist die Konfrontation
von Aktivitäts- und Passivitätspostulaten theoretisch insofern gegenstandslos, als
beide Paradigmen gänzlich unterschiedliche Gegenstände konstruieren: Konzepte
„starker“ Medien beschäftigen sich mit medialen Strukturen, sei es ihrer instituti-
onellen Verfasstheit, ihrer Ökonomie oder ihrer Programme und Sendungen. Wir-
kungen auf Zuschauer werden gesetzt, sie selbst sind aber kein Gegenstand der
Untersuchung oder werden allenfalls im Sinne einer traditionellen „Wirkungsästhe-
tik“ abgeleitet. Dagegen widmen sich Studien im Sinne des „Active-Audience-
Approach‘“ in der Regel tatsächlichen Zuschaueraktivitäten.1

3 Alltagswelt und ihre Mediatisierung

Alltag gilt den rezeptionsorientierten Textanalysen im Feld der Cultural Studies als
Kontext der Rezeption oder – wollte man es traditionell ausdrücken -- als Interpreta-
tionshorizont. Zugleich stellt er im Sinne de Certeaus (1988) den Garanten des
abweichenden, widerspenstigen, wenn nicht gar subversiven Gebrauchs von kul-
turindutriellen Produkten dar. Angesichts einer medialen Durchdringung des Alltag
erscheint dieses Postulat nicht nur theoretisch (vgl. Honneth 1994:14), sondern auch
empirisch problematisch. So belegt beispielsweise Angela Kepplers (1994) Untersu-
chung von alltäglichen Tischgesprächen die hervorragende Bedeutung von
Medienthemen in der alltäglichen Konversation (vgl. auch Hepp 1998). Oder Mark
Andrejevic zeigt in seinen Studien zu interaktiven Formen des Fernsehens und der
neuen Medien wie Reality TV oder Webcams und Weblogs, dass gerade dort, wo
Aktivität und Produktivität im Prozess der Aneignung von Medien und Medienin-
halten am größten zu sein scheint, die Kolonisierung von Rezeptionsaktivitäten
durch die Kulturindustrie keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen:
„The promise of the emerging, interactive, mass-customized economy is that consumers can
gain control by submitting to comprehensive monitoring of the rhythms of their daily lives.
The more details w divulge about our shopping and viewing habits, ore lifestyle and even our
196 Eggo Müller & Hans J. Wulff
movements during the day, the more we can have goods and services crafted to meet our indi-
vidual needs. The possibility of total surveillance is portrayed as power sharing: by providing
information about ourselves, we supply valuable inputs into the production process and
thereby help to shape it.“ (Andrejevic 2003: 6)
Das heißt, dass auch in dieser Hinsicht die Vermittlungsproblematik zwischen
Medien und Alltagswelt nicht zu umgehen ist – und zwar in doppelter Hinsicht:
Zum ersten sind Rezeptionen bezogen auf Gegenstände, sind also selbst vermit-
telnde und vermittelte Tätigkeiten; zum zweiten ist der alltagsweltliche Reprodukti-
ons- und Interpretationshorizont selbst ein medial durchdrungener. Gerade mit Blick
auf die fortschreitende Kommerzialisierung interaktiven Medientechnologie muss
auf die politische Dimension dieses Problems umso nachdrücklicher hingewiesen
werden.
John Fiske hat – allerdings ohne weitere Konsequenzen – auf dieses Problem
aufmerksam gemacht: „The relation between textual experience and social experien-
ces are perhaps the most methodologically inaccessibles; but theoretically and politi-
cally, they are amongst the most important“ (Fiske 1989b: 76). Interessanterweise
spricht Fiske hier von Erfahrungen, nicht von Bedeutungen. Diese Verschiebung
deutet darauf hin, dass das Verhältnis, das im Verstehen, Interpretieren und Handha-
ben von Texten zwischen Subjekt, lebensweltlichem Horizont und Bedeutung ent-
steht, kompliziert ist und sich gegen eine unmittelbare Integration in ein Modell
sinnbezogenen Handelns sperrt. Zumindest die folgenden Bezugsgrößen treten in
eine Beziehung:
• das Subjekt in seinen besonderen Erfahrungen, gegeben durch Wissen, Wollen
und Praxis;
• das Subjekt als Element des gesellschaftlichen Zusammenhangs und in seinen
Orientierungen auf die übergreifenden sozialen Formationen von Sinn und Sein;
• der Horizont gesellschaftlich vermittelter und konventionalisierter Bedeutungen
und Artikulationsweisen, von Symbol- und Wertsystemen;
• schließlich die besonderen Aneignungs- und Nutzungshandlungen des Subjekts
bezogen auf das Subjekt selbst und auf sein soziales Umfeld.
Der eigentlich problematische Punkt konzentriert sich in der Frage, ob die Rezi-
pienten als „atomisierte Menge von Individuen gedacht [werden], losgelöst von
ihren Gruppenbezügen und Subkulturen, die doch erst den Rahmen für die Bedeu-
tung ihrer Handlungen liefern“ (Morley 1996: 38). Es hat nur wenige Versuche
gegeben, dieses Bezugsfeld als theoretisches Problem anzugehen und sich nicht
sofort auf die Untersuchung des „aktiven“ Publikums zu konzentrieren.
Aktiv ist gut, interaktiv noch besser 197

3 „Diskurs“ als metaphorischer Ausweg

In seinem vielzitierten Buch „Television Culture“ von 1987 hatte Fiske, noch stärker
von semiotischen und strukturalistischen Modellen beeinflusst als von ethnologi-
schen, die Idee einer Diskursanalyse zur Lösung des Vermittlungsproblems vorge-
schlagen, wie Textuelles und Soziales miteinander kombiniert oder integriert wer-
den. Der Vorschlag ist wohl mehr Metapher denn Konzept. „Diskurs“ fungiert in der
Theorie als das tertium comparationis im Verhältnis von Texten und Rezipienten:
„The production of meaning from a text follows much the same process as the construction of
subjectivity within society. The reader produces meanings that derive from the intersection of
his/her social history with the social forces structured into the text. The moment of reading is
when the discourses of the reader meet the discourses of the text. When these discourses bear
different interests reading becomes a reconciliation of this conflict.“ (Fiske 1987: 82f.)
Nun ist die Rede vom „Diskurs“ gleich in mehrfacher Weise auf das Vermittlungs-
problem bezogen: „Diskursanalyse“ ersetzt die Untersuchung von ideologischen
Bewegungen und Brüchen, umfasst oft jene Richtungen der gesellschaftskritischen
Untersuchung symbolischer Produktion, die „Ideologiekritik“ genannt wurde. „Dis-
kursanalyse“ ist zugleich in einem eher kognitiv-empirischen Sinne die Untersu-
chung von Weltwissen und seiner Interaktion mit medialen Produkten und sozialen
Praktiken; „Diskursivität“ ist entsprechend eine Eigenschaft von Texten, die sie an
die symbolischen Wissenshorizonte der Kultur und deren konsensuelle Grundlagen
und konventionellen Bedeutungen zurück bindet. Schließlich ist „Diskursanalyse“ –
in dem Sinne, in dem Foucault das Konzept eingeführt hat, die Untersuchung von
Institutionalisierungsprozessen, die einen Fluchtpunkt gesellschaftlicher Auseinan-
dersetzung bilden. Abgesehen davon, dass die Vorstellung von „Diskurs“ und von
„Diskursivität“ oft unklar ist oder zwischen verschiedenen Auffassungen changiert,
entsteht die Frage, ob die Vermittlungsproblematik damit ausreichend scharf erfasst
werden kann. Fiske nimmt „Diskursivität“ in einem sowohl sozialen wie indivi-
dualpsychologischen Sinne – und die Frage, ob Diskursanalyse ein Modell der His-
toriografie langfristiger gesellschaftlicher Veränderungen ist oder ob sie die her-
meneutische Differenz von Text- und Leserhorizont neu fassen soll, ist dabei ganz
ungeklärt.
In späteren Texten ist Fiske auf den Diskursbegriff zurückgekommen, aber er
verwendet ihn weiterhin eher als orientierendes Konzept denn theoretisch ausgear-
beitet. In „Power Plays, Power Works“ (1993) bringt er den Begriff in Zusammen-
hang mit dem des Wissens („knowledge“):
„Discourse circulates knowledge and carries its power into specific and particular situations.
We can only trace different knowledges through the discourses by which they are put into
practice and through which their power is applied. Knowledge and discourse are totally inter-
dependent. Knowledge and discourse, then, inform all cultural systems and should not be
understood as being limited to verbal and visual languages. Discourse constantly transgresses,
if it doesn't actually destroy, the boundary between material and cultural conditions, because
198 Eggo Müller & Hans J. Wulff
discourse, through the specifity of its practices, always has a material dimension.“ (Fiske
1993F: 14)
Die Diskursivität kulturell-symbolischer Gegenstände bindet sie unmittelbar zurück
auf die Horizonte von Sinn und Bedeutung, würde die hermeneutische Theorie for-
mulieren und einer ähnlichen Argumentationsfigur Ausdruck geben. Nun ist die
theoretische Fassung des Diskurs-Konzepts bei Fiske aber durchaus wider-
sprüchlich. Auf der einen Seite stellt er in einem durchaus empirischen Sinne – dem
Diskurs die Größe des Wissens gegenüber:
• Das Diskursive betrifft dann die Zirkulation, die Tätigkeit des Sprechens (oder
der Symbolproduktion in einem weiteren Sinne), den lebendigen Verkehr zwi-
schen den Menschen.
• ‚Wissen‘ ist dagegen die Sphäre der Wirklichkeitsannahmen, der Geltungen und
Geltungsbedingungen von Aussagen und Meinungen. Die Geltung des Wissens
muss sich im kommunikativen Verkehr unter Beweis stellen.
Es ist deutlich, dass Diskurs und Wissen nicht allein empirisch ins Verhältnis zu set-
zen sind, sondern auch als kategoriale Elemente einer hermeneutischen Kommuni-
kationstheorie dienen müssen. Dabei gilt das Prinzip der wechselseitigen Vorausset-
zung: Das Wissen ist eine Voraussetzung für die Diskursivierung des Wissens, wel-
ches wiederum eine Voraussetzung bildet für die Entstehung und Veränderung von
Wissen. Huhn und Ei, die eine und die andere Seite des Blatts Papier, Voraussetzung
und Implikation zugleich.
Gerade weil der Akzent der Untersuchung diskursiver Strukturen auf die kom-
munikative Verfasstheit der gesellschaftlichen Verhandlung von „Sinn“ gerichtet ist,
ist Diskursivität auf der anderen Seite aber nicht allein als nur kognitives Fundament
des Handelns und Verstehens bestimmbar, sondern an soziale Realität und an die
Realität des Handelns gebunden, gleich in einem mehrfachen Sinne:
• Zum einen sind alle Institutionalisierungen der Kommunikation und deren
Rückbindung an die Sphäre politischer, ökonomischer und sozialer Macht für
die Diskursanalyse bedeutsam, weil Diskurse sich nicht allein wildwüchsig ver-
ändern, sondern in einem Feld gesellschaftlicher Interessen stehen.
• Zum zweiten sind Diskurse eng mit der Praxis sozialen Handelns verbunden,
bilden deren Sinn- und Legitimierungs-Voraussetzung. Wiederum sind die Insti-
tutionalisierungen von besonderem Interesse, weil sie die Geltung und die Reali-
tät des Diskursiven par excellence unter Beweis stellen.
Abgesehen davon, dass die theoretische Fundierung dieser Wirkgrößen bislang
kaum geleistet wurde, stellt sich auch die Frage nach der Operationalisierung des
Diskurskonzepts in exemplarischer Forschung. Völlig zu Recht hat Gripsrud neuer-
lich seine empirische Zugänglichkeit angezweifelt:
„I also hope to show that studies of audiences, their verbal and non-verbal responses and rela-
tions to particular texts, can never provide all the answers to the questions of what these texts
mean. Text also carry meanings that are of no immediate interest to us as ordinary, everyday
Aktiv ist gut, interaktiv noch besser 199
members of audiences. They work in ways we cannot talk about in interviews and in ways we
do not betray in our observable behavior.“ (Gripsrud 1995: 9; Herv. im Original)
Dem ist nichts hinzuzufügen: Auch die Rede vom „Diskurs“ eröffnet ein theoreti-
sches Problem, dessen Lösung eng mit der Frage nach der Validität und der empiri-
schen Handhabbarkeit des Cultural-Studies-Paradigmas zusammenhängt.

Anmerkungen

1 Deutlich ist dies insbesondere bei den Studien in der kommunikationswissenschaftlichen


Tradition des „Uses-and-Gratifications-Approach“ (vgl. dazu Jäckel 1996: 94ff.; Morley
1996: 38ff.), so z.B. bei Katz & Liebes 1986, aber auch bei größer angelegten Studien im
Feld der Cultural Studies wie z.B. bei Lull 1990 oder Morley 1992.

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Verschränkungen: Zum Verhältnis von Cultural Studies und
Gender Studies

Elisabeth Klaus

„Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterfor-
schung versteht sich immer als eine kritische Medien-
forschung, die Medien, ihre Produktion und Rezeption
im Rahmen bestehender Machtverhältnisse und kul-
tureller Bedeutungsproduktionen verortet. Davon aus-
gehend fragt sie nach den Bedingungen und Folgen so-
zialen Handelns und sprengt damit individuenzentrierte
wie rein strukturell begründete Vorstellungen vom
Medienhandeln. Diese Positionierung feministischer
Medienforschung zeigt die Passgenauigkeit zwischen
ihren Anliegen und den Medientheorien der Cultural
Studies.“ (Klaus/Röser/Wischermann 2001a: 15)

1 Einleitung

Die Gender Studies in der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft sind seit


den 1990er Jahren intensiv mit den Cultural Studies verschränkt, wie unter anderem
ein Blick in die Sammelbände „Kommunikationswissenschaft und Gender Studies“
(Klaus/Röser/Wischermann 2001b) und „Feministische Kommunikations- und
Medienwissenschaft“ (Dorer/Geiger 2002b) zeigt. In den beiden aus Deutschland
bzw. Österreich stammenden Publikationen, die das Feld am Beginn des neuen Jahr-
tausend abstecken, nehmen jeweils zahlreiche Beiträge auf die Cultural Studies
Bezug. Interessant ist dabei, dass die unter Bezug auf Gender Studies wie Cultural
Studies behandelten Themen von der Publikumsforschung (Röser 2001) und Film-
theorie (Braidt/Jutz 2002) über die Analyse von Kino (Warth 2002) oder Internet
(Dorer 2001) bis zur Journalismus- und KommunikatorInnenforschung (Lünenborg
2001; Keil 2001) reichen. Die immer wieder unterstellte thematische und inhaltliche
Schieflage der Cultural Studies, ihre zu enge Fokussierung auf Fernsehgenres und
Dekodierungsprozesse, ist in den genderorientierten Forschungsbemühungen jeden-
falls nicht erkennbar. Das Themenspektrum geht hier deutlich über eine Beschäfti-
gung mit Fernsehforschung und Publikumsaktivitäten hinaus.
202 Elisabeth Klaus

2 Interventionen im Dreieck ‚Kultur, Medien und Macht‘

Die im Eingangszitat festgestellte Passgenauigkeit zwischen Cultural Studies und


Gender Studies fußt zentral auf einem geteilten Interesse an (Alltags-)Kultur,
Medien und Macht, jenem Dreigespann, zu dem Rainer Winter in der zweiten
Auflage des vorliegenden Bandes im ersten Satz festhält: „Das zentrale Thema der
Cultural Studies ist das Verhältnis von Kultur, Medien und Macht.“ (Winter 1999:
49) Dieses steht auch im Mittelpunkt der Gender Studies. Auf Grund der gesell-
schaftlichen Positionierung von Frauen und der traditionellen Zuordnung von Kon-
sum, Privatleben, Alltag und Familie zur „weiblichen Sphäre“ bildeten Macht und
Kultur von Beginn an zentrale Beschäftigungsfelder der kommunikationswissen-
schaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung. Definitionen von Weiblichkeit und
Männlichkeit ergeben sich nicht zufällig, sondern trugen, und tragen weiterhin, zu
einer Geschlechterpositionierung bei, die Frauen gesellschaftlich benachteiligt. Als
ideologische Kategorie liefert ‚Gender‘ wirkungsvolle Normierungsinstrumente für
Identitätskonzepte. Im Rahmen feministischer Forschungsanstrengungen sind
Macht, Ideologie und Ungleichheit zentrale Themen (zum Begriff der feministischen
Medienforschung vgl. Dorer/Geiger 2002a). Die politische Intervention ist Aus-
gangs- und Haltepunkt der genderorientierten Kommunikations- und Medienwissen-
schaft.
Erst nach und nach entfaltete sich jedoch die ganze Komplexität der vieldi-
mensionalen Kategorie ‚Geschlecht‘, die eine genauere Verortung im Dreieck von
Kultur, Medien und Macht erlaubte. So ging Betty Friedan in ihrem 1963 veröffent-
lichten Initialwerk „The Feminine Mystique“ noch davon aus, dass die Frauenzeit-
schriften dafür verantwortlich seien, Frauen an ihrem Platz zu halten, sie zu verein-
zeln und ihnen die Erkenntnis über die gesellschaftlichen Ursachen ihrer Misere vor-
zuenthalten. Gaye Tuchman (1980: 17) vermutete wiederum, dass den Soap Operas
ein besonders gravierender Anteil an der Annihilierung und Trivialisierung von
Frauen in den Medien zukäme. Aber waren die Frauenzeitschriften, immerhin der
einzige Medienbereich, in dem Frauen damals in nennenswertem Umfang als Jour-
nalistinnen arbeiten konnten, wirklich so schlecht? Warum wurden sie dann so pro-
duziert, warum wandten sich die Leserinnen ihnen massenhaft zu? Warum fanden
die Soap Operas so viele weibliche Fans? Im Versuch solche Fragen zu beantwor-
ten, rückten die vermeintlichen „Frauengenres“ in den Fokus der feministischen For-
schung.
Die Abwertung der Medien, die Frauen in besonderem Maße als Zielgruppen
ansprechen und deren Rezeption vielen Frauen offensichtlich auch Vergnügen berei-
tet, liefert ein Beispiel dafür, wie gesellschaftliche Hierarchien immer wieder
(re-)produziert werden. Zahlreiche Studien entstanden, die zeigen, warum und wie
Frauen solche Medienangebote nutzen und wie vielschichtig und kreativ dabei die
Medienaneignungsprozesse verlaufen. Vor allem in Bezug auf die Soap Opera sind
Verschränkungen: Zum Verhältnis von Cultural Studies und Gender Studies 203

das genau jene Studien, die in den diversen Überblicken als Ausgangspunkt und
zentrale Marksteine für die Entwicklung der Medienforschung der Cultural Studies
genannt werden. Ein Beispiel dafür liefert Kerstin Goldbeck in ihrem Kapitel „Cul-
tural Studies und populärkulturelle Texte: Zentrale Studien“ (2004: 46-58), in dem
sie die Arbeiten von Janice Radway (1987), Ien Ang (1986), Dorothy Hobson
(1982), David Morley und Charlotte Brunsdon (1999), Ellen Seiter et al. (1989) und
Mary Ellen Brown (1994) vorstellt, allesamt Studien, die die Genderdimension der
Fernsehproduktion und Rezeption in den Mittelpunkt stellen. Dem entspricht, dass
in den zahlreichen englischsprachigen Cultural-Studies-Readern regelmäßig diese
AutorInnen präsent sind (z.B. During 1993, Curran/Morley/Walkerdine 1996).
Besonders eindrucksvoll dokumentiert Terry Lovells zweibändige, mehr als 1.200
Seiten umfassende Edition „Feminist Cultural Studies“ (1995b und 1995c) den
Ertrag der feministischen Cultural Studies.
Dass mit der ethnografischen Publikumsforschung zum einen die Gefahr ver-
bunden ist, Medienprodukte, die konservative und stereotype Inhalte verbreiten, auf-
zuwerten und zum anderen die Medienproduzentinnen und Medienproduzenten aus
ihrer Verantwortung zu entlassen, vielfältige und zeitgemäße Angebote zu liefern,
ist wiederum im Rahmen der Cultural Studies sowohl in der Revisionismusdebatte
(für eine Zusammenfassung vgl. Goldbeck 2004: 118-128) als auch in der Diskus-
sion um das Verhältnis von Text und Rezeption und ihrer jeweiligen Bedeutung
intensiv diskutiert worden (vgl. u.a. Corner 1991, Brunsdon 1989). Für die Gender
Studies ergab sich in der Rezeption dieser Studien aber eine andere, deren Funda-
ment erschütternde Frage: Setzten diese Projekte nicht voraus, was sie eigentlich
demontieren und kritisieren wollten – nämlich die Existenz zweier grundverschie-
dener Lebenswelten von Männern und Frauen? Stützten sie, in dem sie von männli-
chen und weiblichen Genres ausgingen und ein spezifisch weibliches Medienverhal-
ten beschrieben, nicht selbst die Aufrechterhaltung des „Symbolischen Systems der
Zweigeschlechtlichkeit“ (Hagemann-White 1984)?
Diese Kritik führte zu einer intensiven Beschäftigung mit Postmoderne, Post-
strukturalimus und Dekonstruktivismus (vgl. dazu McRobbie 1994, 1997) und in der
Folge mit Körpertheorien (Angerer 1995), Diskurstheorien, Queer Studies und
Identitätsräumen (vgl. Hipfl/Klaus/Scheer 2004). Die Arbeit an den natürlich
erscheinenden Grenzen von Geschlecht, Körper, Nation und den mit ihnen verwand-
ten Dualismen wurde so ein zentrales Anliegen der Gender Studies. Grenzhinterfra-
gungen sind auch für die Cultural Studies konstitutiv. Dafür steht die Beschäftigung
mit den Dualismen von Hoch- und Populärkultur, von Alltagspolitik und parla-
mentarischer, ‚großer‘ Politik, von Nation/Heimat und Ausland/Fremde und die wis-
senschaftsheoretische Grunderkenntnis „[of] working in a world of shifting boun-
daries“ (McRobbie 1994: 66). Immer wichtiger wurde in den Gender Studies wie in
den Cultural Studies die Beschäftigung mit der Macht der durch Medien gestützten
Identitätskonstruktionen bzw. der durch Medien geschaffenen Identitätsräume, die
durch Gender, Sexualität, Ethnie, Klasse, Nation, etc. markiert werden.
204 Elisabeth Klaus

3 Grenzüberschreibungen

„Grenzüberschreibungen: ‚Feminismus‘ und ‚Cultural Studies‘“ heißt ein Sammel-


band mit zahlreichen literaturwissenschaftlichen Fallstudien (Berressem/Buch-
wald/Volkening 2001). Neben den thematischen Grenzübertretungen von Feminis-
mus und Cultural Studies, beispielsweise im Kontext der Beschäftigung mit Alltags-
kultur und Medien, nennt Volkening darin zwei weitere Gemeinsamkeiten der bei-
den akademischen Gebilde: „‚Cultural Studies‘ und ‚Feminismus‘ sind innerhalb
dieser Ordnung der Universität nicht eindeutig zu verorten und sorgen damit für Irri-
tationen“ (Volkening 2001: 9). Beide überschreiten wissenschaftliche Fachgrenzen,
melden Geltungsansprüche in unterschiedlichen Fächern an und wollen betont trans-
disziplinär arbeiten.
Mit Bedacht votiert die Autorin dafür, den von Foucault entlehnten Begriff der
Grenzüberschreibung dem der Grenzüberschreitung vorzuziehen, da Grenzen nur
dort überschritten werden könnten, wo sie offen und deutlich markiert seien. Das ist
aber weder bei den durch die Gender Studies noch den durch die Cultural Studies
bearbeiteten Themenbereichen der Fall, sind beide Projekte doch selbst kontinuier-
lich in Bedeutungskonstruktion und -rekonstruktion eingebunden. Sie beschäftigen
sich nicht nur mit den „shifting boundaries“ einer globalisierten Gesellschaft, son-
dern wollen selbst dazu beitragen, scheinbar fest gefügte Grenzen zu verändern:
„Anstelle von Überschreitung ließe sich so eher von Überschneidungen, von Überschreibung-
en sprechen, vom hin- und herschreiben zwischen gar nicht so klar zu trennenden Bereichen.
Die Grenze überschreiben wäre eine Operation, die mit einer wenigstens doppelten Geste
arbeitet. Überschreiben hieße, mit einer Überschrift versehen, betiteln und auf diese Weise ein
Feld, einen Bereich, ein Gebiet eröffnen und bezeichnen. Es hieße aber auch darüberschrei-
ben, auf etwas schreiben, es überschreiben, wobei das Überschriebene palimpsestartig als
Anlass, als Ausgangspunkt, gegen den es sich abzugrenzen gilt, sichtbar bliebe.“ (Volkening
2001: 11)
Die Vorstellung von Gender Studies und Cultural Studies als zwei transdisziplinären
Projekten, die mit Überschreibungen beschäftigt sind, eröffnet ein Feld neuer Frage-
stellungen, das sich auch auf ihr Verhältnis zueinander bezieht. „Zu fragen wäre“,
schreibt Volkening (2001: 11) „welche Schreibweisen und Themenstellungen in der
Verschränkung von ‚Feminismus‘ und ‚Cultural Studies‘ ermöglicht oder verhin-
dert, vorangetrieben oder arretiert werden.“ Dabei gehe es darum, „das Spektrum
möglicher Fragen auszuweiten, eine möglichst große Offenheit zu schaffen, die ver-
schiedenste Aus- und Ineinanderfaltungen beider Felder ermöglicht.“
Den Grenzüberschreibungen, dem Hin- und Herschreiben, den Aus- und
Ineinanderfaltungen im Verhältnis der kommunikationswissenschaftlichen Gender
Studies und Cultural Studies möchte ich im Folgenden nachgehen.
Verschränkungen: Zum Verhältnis von Cultural Studies und Gender Studies 205

4 Cultural Studies als Überschreibungen der Gender Studies

„Bei den Cultural Studies handelt es sich um ein intellektuelles Projekt, das sich alltäglichen
kulturellen Praktiken widmet und sie in ihrer kontextuellen Einbettung mit besonderem Blick
auf die kontextspezifischen Machtverhältnisse analysiert. Cultural Studies arbeiten interdiszi-
plinär und wollen politisch Möglichkeiten bereitstellen, die eigenen gesellschaftlichen Kon-
texte zu verändern.“ (Goldbeck 2004: 28)
In dieser an frühere Ausarbeitungen angelehnten Definition zeigt sich deutlich die
„gemeinsame Achse von Cultural Studies und Gender Studies“ (Engelmann 1999:
16 zit. in Babka/Haberl 2002: 168), könnte „Cultural Studies“ doch fast reibungslos
durch „Gender Studies“ ersetzt werden. In der Bestimmung der Cultural Studies als
intellektuelles wie politisches Projekt, das sich kulturellen Praktiken widmet, sind
die Gender Studies mit ihren Anliegen eingeschlossen. Die Definition trifft auch die
Herkunft der Gender Studies aus der neuen Frauenbewegung und ihre fortwährende
Bindung an den Feminismus als einer radikalen politischen Praxis außerhalb der
Universitäten sowie ihrer Beschäftigung mit Kultur als geschlechtergebundener Ort
der Aneignung gesellschaftlicher Strukturen und hegemonialer Bedeutungen, als Ort
der Ausübung von Macht und der Austragung von Konflikten. Frauen sind im Rah-
men des Kulturverständnisses der Cultural Studies aktiv sowohl allgemein als
soziale Subjekte, die ihre Gesellschaft miterzeugen, als auch spezifisch in ihren Rol-
len als Mütter und Lehrerinnen, die im Rahmen des bürgerlichen Familienideals und
der damit verbundenen Weiblichkeitsideologie als Sozialisationsagentinnen und
Sozialisationsagenten wirken (vgl. Lovell 1995a: xx). Verbannt die Beschäftigung
mit Hochkultur Frauen in die Nichtexistenz und schreibt ihnen eine passive, lei-
dende Rolle zu, so öffnet der weite Kulturbegriff der Cultural Studies den Blick auf
Alltagspraktiken, in die Frauen aktiv eingebunden sind. In Bezug auf den Streit in
der frühen Frauen- und Geschlechterforschung um Gleichheit und Differenz (für
eine Zusammenfassung vgl. Klaus 1998: 25-45) ermöglichen die Cultural Studies
eine Neupositionierung, in der Aktivität nicht zugleich auch Selbstbestimmtheit oder
romantisierende Andersartigkeit heißt, sondern in der die Praktiken der sozialen
Subjekte durch Ambivalenz gekennzeichnet sind – zugleich die bestehende Ordnung
stützend und immer auch den Keim ihrer Veränderung tragend. Die Ausarbeitung
der kulturellen Dimensionen von Macht und Ungleichheit in den Cultural Studies
trifft sich mit dem Interesse der Gender Studies an der Neubestimmung von Kultur.
Andreas Hepp (1999: 14-19, vgl. auch Goldbeck 2004: 26-27) nennt fünf
Schlagworte, die die Anliegen der Cultural Studies näher kennzeichnen: ihre radi-
kale Kontextualität, das besondere Theorieverständnis, den interventionistischen
Charakter, Interdisziplinarität und Selbstreflexion. Die sich hinter diesen Schlagwor-
ten verbergenden Forschungsprämissen verdeutlichen, warum die Cultural Studies
so einflussreiche Wirkungen in den Gender Studies hervorgerufen, diese nachhaltig
überschrieben haben. Im Laufe ihrer Ausarbeitung ist den Gender Studies das ein-
206 Elisabeth Klaus

heitliche Subjekt, das am Beginn der feministischen Forschung stand, abhanden


gekommen. „Die Frau“ gibt es nicht mehr, sondern nur noch situierte Erfahrungen
von bestimmten Frauen und bestimmten Männern. Dieser „Tod des verallgemeiner-
ten Subjekts“ führt zu der Erkenntnis, dass manche sozialen Subjekte manchmal wie
Frauen oder Männer handeln (Ang/Hermes 1991). So formuliert, erfordern diese
wechselnden Positionierungen in wechselnden Konstellationen nichts anderes als
eine radikale Kontextualisierung jeglicher Forschungsanstrengungen.
Weil „die Realität“ unter dem Einfluss poststrukturalistischer, postmoderner und
psychoanalytischer Ansätze als unumstößliches, jederzeit transparentes Faktum ver-
schwunden ist, bedarf es einer radikal kontextualisierten empirischen Forschung,
will man das Ziel der gesellschaftlichen Intervention nicht ganz aufgeben. Dabei ist
die Intervention zugleich Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Anstrengungen der
Cultural Studies wie das Maß ihrer Sinnhaftigkeit, weil sie ihren Ergebnissen letzt-
lich eine Legitimation jenseits des Selbstzweckes und außerhalb der Wissenschaft
verleiht. Ein politisches wie auch wissenschaftspolitisches und erkenntnistheoreti-
sches Programm steht auch am Beginn der Formierung der Gender Studies als
eigenständiges intellektuelles Projekt. In der Frühphase der Frauen- und Geschlech-
terforschung forderten deshalb manche Wissenschaftlerinnen, dass Wissenschaft
immer zugleich auch eine verändernde gesellschaftliche Praxis beinhalten müsste
und Aktionsforschung die einzige legitime wissenschaftliche Methode für Feminis-
tinnen sein könne. So lösten etwa die von Maria Mies (1978) formulierten „Metho-
dischen Postulate zur Frauenforschung“ heftige Kontroversen aus. Heute besteht ein
weitgehender Konsens in den Gender Studies, dass die ununterscheidbare Ver-
zahnung von intellektuellem und politischem Projekt insgesamt eine Überforderung
wissenschaftlicher Anstrengungen und eine Reduzierung ihres akademischen Poten-
zials bedeutet.
In der Bestimmung der Cultural Studies wie der Gender Studies als interventi-
onistisches Anliegen ist demgegenüber ein viel weiter reichender Politikbegriff
angesprochen. Das ist schon deshalb nötig, weil jedwedes politische Programm auch
immer die begrenzenden Spuren der Zeit trägt, in der es formuliert wird und deshalb
auch selbst radikal hinterfragt werden muss. Judith Butler (1991) hat mit ihrer Kritik
an der Trennung von biologischem und kulturellem Geschlecht beispielsweise eine
wichtige Intervention geleistet, die zunächst wie eine Fundamentalkritik an der
Frauenbewegung erschien. Der Übergang von der Frauenforschung zu den Gender
Studies und zur dekonstruktivistischen Geschlechterforschung erfordert in jedem
Fall jenes Sich-selbst-Hinterfragen, jene Selbstreflexion, wie sie zu den Merkmalen
der Cultural Studies zählt.
Wie die Cultural Studies basieren die Gender Studies auch in der Medien- und
Kommunikationswissenschaft damit weniger auf spezifischen disziplinären Theorien
als vielmehr auf Basistheorien aus verschiedenen Disziplinen. Waren bislang dabei
vor allem linguistische, semiotische und soziologische Annäherungen dominant, so
zeigt beispielsweise die zunehmende Einbindung der „social geographies“ in kriti-
sche Diskurs- und Medientheorien (vgl. dazu Hipfl 2004), dass den transdiszi-
plinären Annäherungen kaum Grenzen gesetzt sind. Das besondere Theoriever-
Verschränkungen: Zum Verhältnis von Cultural Studies und Gender Studies 207

ständnis der Cultural Studies ist wie in den Gender Studies durch ein strategisches
Verhältnis zu Theorien geprägt und prinzipiell eklektisch, problembezogen am
Gegenstand und dem jeweiligen Ausgangsort orientiert. Immer geht es um „situated
knowledges“, die Perspektivierungen erlauben, die das Wirken der Medien im Rah-
men der Durchsetzung hegemonialer Bedeutungen unterlaufen und das Genderre-
gime durchbrechen.
In dieser Zusammenschau wird deutlich, warum die Cultural Studies von den
Gender Studies vielfältig rezipiert und aufgenommen wurden. Als Vorreiter für die
deutschsprachige Kommunikationswissenschaft fungierten österreichische Arbeiten
(vgl. Angerer/Dorer 1994; im Weiteren die Beiträge von Angerer 1999; Dorer 1999
und Hipfl in diesem Band), die Impulse aus den Cultural Studies aufnahmen und zur
weiteren Diskussion im Rahmen der neueren Gendertheorien bereit stellten. Zur
dominanten theoretischen Position innerhalb der kommunikationswissenschaftlichen
Geschlechterforschung avancierten die Cultural Studies dann vor allem durch die
umfassende Auseinandersetzung mit der angloamerikanischen feministischen Soap
Opera Forschung, die durch die USA-Studie der Tübinger Forschungsgruppe um
Ellen Seiter et al. (1989) auch in Deutschland einen Anker hatte. Dieses hatte wis-
senschaftspolitische Folgewirkungen, da die involvierten Wissenschaftlerinnen sich
weiterhin zugleich in den Cultural Studies und Gender Studies verorteten (vgl. etwa
Bobo/Seiter 1991; Warth 2002; Bechdolf 1999). Angesichts der Bedeutung der
feministischen Publikumsforschung für die Entwicklung der deutschsprachigen
Gender Studies ist erstaunlich, wie wenig Wirkung sie darüber hinaus erzielen konn-
te. Noch 1998 galt: „Trotz der Bedeutung für die Weiterentwicklung der Publikums-
forschung im angelsächsischen Raum hat die deutsche Kommunikationswissen-
schaft die feministische Soap-Opera-Diskussion allerdings bisher nur unzureichend
zur Kenntnis genommen“ (Klaus 1998: 328). Zu der Zeit lag das vor allem darin
begründet, dass die Cultural Studies sich als Forschungsfeld noch nicht etabliert hat-
ten und stattdessen sozialpsychologische Ansätze dominierten (z.B. Charlton/Neu-
mann 1986; Herzog 1986; Schenk/Rössler 1987). Allerdings, darauf sei im Vorgriff
hingewiesen, ist auch in den folgenden Jahren an der Richtigkeit der Aussage kaum
gerüttelt worden.
Zusammenfassend zeigen sich zahlreiche Überlappungen in den Forschungs-
agenden von Cultural Studies und Gender Studies. Letztere haben wichtige Anstöße
durch die Cultural Studies erhalten. Dass die Cultural Studies sich in die Gender
Studies eingeschrieben haben, bedeutet zugleich, dass ein Prozess des Hin- und Her-
schreibens begann, in dem wiederum die Gender Studies viele wichtige Impulse für
die Cultural Studies lieferten. Die Ergebnisse der Cultural Gender Studies wurden
aber nur lückenhaft im Mainstream der deutschsprachigen Cultural Studies zur
Kenntnis genommen.
208 Elisabeth Klaus

5 Gender Studies als Überschreibungen der Cultural Studies

Fragt man nach den Erträgen der Gender Studies im Verhältnis zu den Cultural Stu-
dies, dann fällt zunächst das intensive Ringen um ein angemessenes Verständnis
ihres zentralen Gegenstandes, der Genderkategorie, ins Auge. Die von der Frauen-
und Geschlechterforschung im Laufe ihrer Entwicklung erarbeitete Vielschichtigkeit
von Gender gilt analog für die Auseinandersetzung mit anderen sozialen Strukturka-
tegorien wie Race, Ethnie oder Klasse. Wenn Gender als Klassifikationssystem, als
Strukturkategorie und als Ideologie zugleich verstanden wird (vgl. Robinson 1992:
135; Klaus 1998: 49-54), dann liefert das Vorlagen, um andere vieldimensionale
soziale Katgeorien zu erforschen. Gender als Klassifikationssystem verweist auf die
Zuweisung von hierarchischen Positionen z.B. an die Kommunikatorinnen und
Kommunikatoren in den Medienbetrieben oder an die Rezipientinnen und Rezi-
pienten mittels der Bewertung ihrer Rezeptionsinteressen. Gender als Strukturkat-
gorie meint, dass der binäre Geschlechterkode, die Entgegensetzung von männlich
und weiblich, jenseits des Wollens und oft sogar des Bewusstseins der gesellschaftli-
chen Subjekte wirksam ist. Die Genderkategorie ist in diesem Sinne nicht rollenspe-
zifisch, sondern hat die Gestalt sozialer Verhältnisse angenommen und wirkt nach-
haltig im Gendering der sozialen Institutionen. Gender als Strukturkategorie dient
dazu, alltägliche und institutionelle Praktiken zu beschreiben, zu definieren und zu
bewerten. Das Gendering der Medienbetriebe offenbart sich beispielsweise in der
nach wie vor sichtbaren vertikalen und horizontalen Segmentation der Medienberufe
oder in den unterschiedlichen Erwartungen an weibliche und männliche Journalistin-
nen und Journalisten. Es zeigt sich in den Medieninhalten im größeren Prestige der
männlich konnotierten Bereiche wie etwa der Nachrichten oder des Sports und der
entsprechenden Höherbewertung der damit verbundenen Rezeptionsinteressen.
Als Ideologie liegt der Genderkategorie eine Naturalisierung von Unterschei-
dungen zugrunde, die Unterschiede überhaupt erst ‚machen‘, hervorbringen. In den
Gender Studies wird deshalb der Verwobenheit des Genderdualismus mit anderen
Diskursen Aufmerksamkeit geschenkt. Viele der Begriffe, die zentral zur Beschrei-
bung gegenwärtiger Medienentwicklungen dienen, weisen eine diskursive Bindung
an Männlichkeit und Weiblichkeit und die mit ihnen verbundenen Wertungen auf.
Das gilt für die Dualismen von Information und Unterhaltung (Klaus 1996) und von
Fakt und Fiktion (Klaus/Lünenborg 2002) ebenso wie für die Klassifizierung von
Medieninhalten als ‚soft news‘ oder ‚hard news‘ und die grundsätzliche Entge-
gensetzung von öffentlich-rechtlichen und privaten Programminhalten. So ist in der
Anerkennung für Günther Jauch in der etablierten Fernsehkritik der Geschlechter-
diskurs wirksam, wenn der Moderator von Wer wird Millionär? als Terminator und
Champion bezeichnet wird (Goldbeck 2004: 305-306). Die Soap Opera Gute Zeiten
– schlechte Zeiten gilt gegenüber dem „ursprünglich öffentlich-rechtlichen Format“
(ebd.: 261) als Prototyp eines privaten Programmes, dem angeblich vor allem krei-
Verschränkungen: Zum Verhältnis von Cultural Studies und Gender Studies 209

schende, weibliche Teenager etwas abgewinnen können (vgl. Goldbeck 2004: 238).
Dabei ergibt ein Vergleich der Genremerkmale von Soap Opera und Fernsehsport
bzw. -fußball, dass deren Inszenierungsstrategien große Ähnlichkeiten aufweisen
(O‘Connor/Boyle 1993). In der geschlechtlich konnotierten binären Beurteilung von
Medienentwicklungen werden Grenzen diskursiv festgelegt, die für die genauere
Analyse der gegenwärtigen Kommunikationsverhältnisse eher hinderlich als förder-
lich sind. In Bezug auf die Repräsentation von Frauen und die Berücksichtigung der
Vielfalt ihrer Lebensbezüge zeigt sich jedenfalls das Angebot der privaten Sendean-
stalten als nicht grundsätzlich schlechter als das der öffentlich-rechtlichen (vgl. Zoo-
nen 1995). Für das Verständnis der gegenwärtig ablaufenden Medienprozesse und
die Bestimmung von Interventionsmöglichkeiten wäre viel gewonnen, wenn genauer
geklärt werden könnte, warum das so ist.
Die Unterscheidung zwischen den drei Ebenen, auf denen Geschlecht wirkt –
als Klassifikationsmerkmal, als Strukturkategorie und als Ideologie – hat neue, teil-
weise auch überraschende Erkenntnisse geliefert. Es gibt keinen Grund, warum
diese Perspektivierungen nicht auch auf die Beschäftigung mit den strukturell ver-
wandten Kategorien von Ethnie/Race und Klasse/Schicht angewendet werden könn-
ten. Skepsis gegenüber Dualismen und Versuche von Grenzverschiebungen und
Grenzverwischungen sind für alle emanzipatorischen Projekte geboten, da diese Ent-
gegensetzungen beinhalten, die Differenz essenzialisieren und naturalisieren. Ent-
sprechend hat Ann Gray (2001; vgl auch Marris/Thornham 2000a: 330) Corners
Unterteilung der Cultural Studies Forschung in ein „Popular Culture Project“ und
ein „Public Knowledge Project“ kritisiert. Aus der Sicht der Gender Studies wird
damit eine Hierarchisierung vorgenommen, die eindeutig geschlechtergebundene
Konnotationen aufweist und es damit ermöglicht, Feministinnen und ihre Beiträge
zur Cultural Studies Forschung zu marginalisieren und zu ignorieren. Erst das
Bewusstsein über die soziale, kulturelle Konstruiertheit solcher Entgegensetzungen
ermöglicht es, die Schnitt- und Bruchstellen der verschiedenen Positionierungen wie
‚Gender, Race/Ethnie‘, ‚Klasse/Schicht‘ in diesen Diskursen zu behandeln.
In den Gender Studies ist kontinuierlich darauf verwiesen worden, dass soziale
Kategorien für die Analyse des Medienprozesses auch in Zeiten von Postmoderne
und Spätkapitalismus essenziell geblieben sind. So zeigt Jutta Rösers (2001) Studie
zur Rezeption von Fernsehgewalt sowohl die Brüchigkeit des Geschlechterdualis-
mus in der Analyse tatsächlicher Rezeptionsäußerungen von Männern und Frauen
als auch die Bedeutung einer gesellschaftsbezogenen Medienforschung (ähnlich
Bechdolf in diesem Band). Identifikationsprozesse und Aneignungsweisen im Kon-
text sexualisierter Mediengewaltdarstellungen finden unter Berücksichtigung des
sozialen Kontextes, in den die Rezipientinnen und Rezipienten eingebunden sind,
eine nahe liegende Erklärung (ebenso Luca 1993). Angela McRobbie hat die an den
Cultural Studies orientierte Genderforschung aufgrund ihrer nur unzureichenden
Thematisierung der „gelebten Erfahrung“ kritisiert:
„The most noticeable gaps and omissions in feminist Cultural Studies have been in the field of
‚lives experience‘. By this I understand a form of investigation where the impact and the sig-
nificance of empirical changes in culture and in society on living human subjects can be
210 Elisabeth Klaus
observed and analysed and where the same human subjects are invited to reflect on how they
live through and make sense of such changes.“ (McRobbie 1997: 170)
McRobbie argumentiert für einen „return to the ‚three Es‘; the empirical, the ethno-
graphic, the experiential, not so much against as with the insight of the ‚anti-Es‘,
that is anti-essentialism, post-structuralism, psychoanalysis“ (ebd.). Die thematisch
vielfältigen Arbeiten von Bechdolf (1999), Keil (2000), Röser (2001), Götz (2002)
oder Luca (2003) zeigen, dass die Erfahrungskategorie für die deutschsprachigen
Gender Studies zentral geblieben ist, auch wenn die poststrukturalistischen, postmo-
dernen Ansätze zugleich ihre Problematik hervorgehoben haben und dies in den
empirischen Studien Berücksichtigung findet.
Dass die Zuschauerinnen und Zuschauer in der Rezeption der Soap Operas und
anderer populärkultureller Texte Vergnügen empfinden, war wichtiger Ausgangs-
punkt einer Forschung, die sich dem Handeln konkreter sozialer Subjekte im Alltag
zuwandte. Die dem Vergnügen an spezifischen kulturellen Formen zu Grunde lie-
genden „structures of feeling“ sind als bloße Manipulationen nicht zu begreifen. Sie
beruhen vielmehr auf Positionierungen, die gesellschaftlich vorgegeben sind, aber
als Selbstpositionierungen der Subjekte zugleich Keime des Widerstandes in sich
tragen (O‘Connor/Klaus 2000). Das Vergnügen von Rezipientinnen und Rezipienten
an Soap Operas ist nicht abstrakt, sondern ist konkret gebunden an bestimmte Texte
und deren Genrekonventionen, an die Geschichten und die Gefühle, die sie auslösen
und an die Kontexte der Rezeption. Fasst man die feministische Publikumsfor-
schung unter diesem Gesichtspunkt zusammen, so gelangt man zu der Unterschei-
dung von formalem oder genrespezifischem, inhaltlichem, realistischem, kommuni-
kativem und fantasievollem Vergnügen (Klaus 1998: 337-344, für eine neuere Stu-
die vgl. Götz 2002). Über Ideologie, so zeigen die Ergebnisse der Rezeptionsstu-
dien, kann nicht sinnvoll gesprochen werden, ohne über Vergnügen zu sprechen.
Ersteres verwirklicht sich unter anderem durch Vergnügen und letzteres ist im
Kampf um Bedeutungen eine wichtige Kraft. Hier schlagen die Gender Studies eine
Überschreibung der Cultural Studies vor, die an deren zentralen Kategorien Ideolo-
gie, Vergnügen, Intervention arbeitet. In Bezug auf das für die Cultural Studies so
wichtige Genrekonzept sind dessen Schnittstellen zum Genderkonzept Gegenstand
der Erörterung geworden (vgl. Schneider 2001; Braidt/Jutz 2002).
Ute Bechdolf (1999) hat Johnsons Kreislauf kultureller Bedeutungsproduktion
ihrer Studie der Rezeption von Musikvideos „Puzzling Gender“ (1999) zu Grunde
gelegt. Margret Lünenborg und Elisabeth Klaus (2000, ausführlicher Lünenborg
2004) nutzen Johnsons Kreislauf, um die Forderung nach einer kulturorientierten
Journalismusforschung auszuarbeiten, die die bisherige Verwendung der Cultural
Studies für die Analyse von Boulevardmedien und Boulevardjournalismus (vgl.
Renger 2000 bzw. in diesem Band) erweitern würde. Im Rahmen des Paradigma
„Kultur“ wird Journalismus verstanden als kultureller Diskurs, der das aktuelle
gesellschaftliche Zeitgespräch initiiert und organisiert und zur Selbstverständigung
der Gesellschaft beiträgt. Journalismus ist dann ein wesentlicher Bereich
gesellschaftlicher Bedeutungsproduktion und -zirkulation. Die damit gegebene Vor-
stellung von Journalismus verbietet es weiter von „Kommunikatorforschung“ zu
Verschränkungen: Zum Verhältnis von Cultural Studies und Gender Studies 211

sprechen und Journalistik unter Ausschluss des Publikums zu betreiben. Die in einer
kulturorientierten Annäherung an die Journalistik liegenden Möglichkeiten sind bis-
her nur ansatzweise ausgearbeitet worden. Ihre Formulierung ist denn auch weniger
eine Überschreibung der Cultural Studies durch die Gender Studies, sondern Pro-
dukt des Hin- und Herschreibens, des letztlich gemeinsam Schreibens der beiden
intellektuellen Projekte.
Die deutschsprachigen Gender Studies haben die Cultural Studies auch genutzt,
um Fragen nach den „gendered technologies“ aufzuwerfen (Frissen 1994; Dorer
2001; Wischermann 2004). Das Internet stellt sich dann als geschlechtlich vorstruk-
turierter Raum dar, in dem ein angemessenes „männliches“ und „weibliches“ Agie-
ren mit den entsprechenden Positionierungen (vor-)geschrieben und (vor-)gesehen
ist, auf den die in die Produktion oder Rezeption des Internets eingebundenen sozia-
len Subjekte jedoch ablehnend oder zustimmend Bezug nehmen können. Die im
neuen Medium zu beobachtenden Genderingprozesse sind denen nicht so unähnlich,
die bei der Einführung des Radios stattgefunden haben (Schmidt/Pater 1997;
Klaus/Schmidt/Pater 1997). Morag Shiach meint, dass in der Historizität, die die
Beschäftigung mit dem Wandel der Geschlechterkategorie erzwingt, ein wichtiger
Beitrag der Gender Studies zu den Cultural Studies liegt, da diese sich auf ein Ver-
ständnis der „contemporary cultural phenomena“ (During 1993: 1 zit. in Shiach
1999a: 4) konzentrieren:
“Yet it seems important not to reduce the understanding of modernity to an understanding of
the contemporary: modernity has a long and important history. It is a strength of much femi-
nist research in the field of cultural studies that it seeks to develop a historical understanding
of cultural forms and experiences, often as a means to suggest the possibility of change, to
feed the utopian imagination.“ (Shiach 1999a: 4)
An den vorliegenden empirischen Arbeiten der feministischen Cultural Studies fällt
die Intensität und Gründlichkeit der Reflexion der gewählten Methode und der eige-
nen Forschungspraxis auf. So arbeitet Jutta Röser (2000: 105-140) in ihrer Studie
zur Fernsehgewalt die Bedeutung von Grupppeninterviews und der Möglichkeiten
ihrer Auswertung auf methodisch hohem Niveau heraus. Ute Bechdolf (1999)
beschäftigt sich in Form einer Fallstudie mit einem zunächst als nicht gelungen
gewerteten Interview (209-219), fügt ihren methodischen Überlegungen „autoethno-
grafische Skizzen“ (74-77) hinzu und reflektiert fortlaufend die eigene Verstrickung
in den Forschungsgegenstand. Bechdolf nimmt die Herausforderung an, die post-
strukturalistische Theorien stellen, ohne damit auf die Beobachtung der „gelebten
Erfahrung“ zu verzichten. Auf die Verständlichkeit von Studien und die Bündigkeit
ihrer Aussagen wirkt sich das nicht immer positiv aus. Die frühe feministische
Publikumsforschung las sich ja auch deshalb so erfrischend, weil die Erfahrungen
und Lebensäußerungen der sozialen Subjekte vermeintlich authentisch, unvermittelt
und mit nur wenigen expliziten Interventionen der Forschenden wiedergegeben wur-
den. Derzeit ist diese Leichtigkeit nicht zu haben, da sie sich als Simplifizierung
komplizierter Konstruktionsmechanismen und Aushandlungspraxen darstellt:
„Feminist research is not only that done by women, with women, for women, but a methodo-
logy, a mode of research, which has developed through a politics and a practice in which the
212 Elisabeth Klaus
political, theoretical and epistemological have been thought together in order to understand,
analyse, explain and critique women‘s position in society.“ (Gray 1997: 98)
Die Vielfalt der methodischen Reflexion hängt mit dem Anspruch und dem Gegen-
stand der Gender Studies zusammen, aber auch mit der vergleichsweise großen Zahl
empirischer Studien, die im Rahmen der feministischen Cultural Studies im deutsch-
sprachigen Raum entstanden sind. Einschreibungen sind entlang der von mir gelie-
ferten Stichworte erfolgt: Ringen um den Gegenstand, Skepsis gegenüber Dualis-
men, Gesellschaftsbezug, Auseinandersetzung mit dem Vergnügen des Publikums,
Entwurf einer kulturorientierten Journalistik, ein historischer Blick auf kulturelle
Prozesse und schließlich die kontinuierliche und intensive methodische (Selbst-)Re-
flexion. Deutlich wird in dieser, sicher nicht vollständigen Darlegung, dass diese
Einschreibungen nur partiell und lückenhaft außerhalb der Cultural Gender Studies
zur Kenntnis genommen wurden und es hier offensichtlich Barrieren gibt, die das
fruchtbare Hin- und Herschreiben behindern.

6 Reibungen: Women Take Issue

Die Zusammenarbeit zwischen Cultural Studies und Gender Studies hat sich trotz
der aufgezeigten Passgenauigkeit keineswegs konfliktfrei entwickelt. Das zeigt sich
besonders deutlich in den Anfängen des CCCS, in denen Geschlecht kein Gegen-
stand der Forschung war und Frauen als Wissenschaftlerinnen marginalisiert wurden
(vgl. auch Lutter/Reisenleiter 1998: 108). Brunsdon hat bemerkt:
„It was a truth acknowledged by all women studying at the Centre for Contemporary Cultural
Studies at Birmingham University in the 1970s that no woman there had ever completed a
PhD“ (Brunsdon 1996 zit. in Shiach 1999: 3).
Auch inhaltlich war das Gendering von Alltag und Kultur kein Thema. So waren
beispielsweise in Willis’ einflussreicher Studie über Arbeiterjugendliche „Frauen die
unsichtbaren Anderen“. „So spricht er [Willis; EK] wiederholt von kids und der jun-
gen Arbeiterkultur als solcher, meint aber nur die Kultur männlicher Jugendlicher“
(Dähnke 2003: 31). Gegen die umfassende Ausgrenzung von Gender aus dem Pro-
jekt der Cultural Studies wehrte sich die „Women‘s Study Group“ am CCCS, deren
erste kritische Publikation unter dem Titel „Women Take Issue“ (Women‘s Study
Group 1978) erschien. Diese wies auf die Leerstellen und Lücken der bisherigen
Forschung hin und begann diese zu füllen. Insgesamt hatte der Band nachhaltige
Wirkungen und verankerte die Genderforschung in der Mitte der Cultural Studies.
Eine Dekade später resümieren die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung zum Nach-
folgeband „Off Center“: „Since then the impact of feminism on cultural studies has
had an increasing significance“ (Franklin/Lury/Stacey 1991a: 6).
Neben den zahlreichen Gemeinsamkeiten zwischen Gender Studies und Cultural
Studies verweisen die Wissenschaftlerinnen auch auf Inkompatibles und stellen fest:
„Many of the reasons why the influence of feminism on cultural studies has been
Verschränkungen: Zum Verhältnis von Cultural Studies und Gender Studies 213

limited can be traced back to some of the more general understandings of culture
employed within cultural studies“ (ebd.: 8). Das Kulturverständnis der Cultural Stu-
dies verhinderte dort, wo es überhaupt näher ausgearbeitet ist, eine integrale
Betrachtung der Genderkategorie. Auch Celia Lury argumentiert, dass „current
feminist cultural studies are repeatedly held back by the continued dominance of
ungendered understandings of culture (Lury 1995: 33 zit. in Gray 1997: 87; Her-
vorh. dies.). Demgegenüber haben Genderforscherinnen auf der fundamentalen
Bedeutung der Kategorie Geschlecht für ein angemessenes Kulturverständnis
beharrt (vgl. bspw. Klinger 2000).
Auch in weiten Teilen der deutschsprachigen Cultural Studies herrscht ein Kul-
turverständnis vor, das die Genderdimension ausblendet. Das zeigt sich in vielen
Sammelbänden und Beiträgen und soll hier nur exemplarisch demonstriert werden.
Wenn Friedrich Krotz (1999 bzw. in diesem Band) „das Menschenbild der Cultural
Studies“ vorstellt, dann geschieht das ebenfalls vor dem Hintergrund eines gender-
freien Kulturbegriffes und lediglich mit dem abstraktem Hinweis darauf, dass das
Menschenbild der Cultural Studies durch die sozialen Praktiken und gesellschaftli-
chen Diskurse vorstrukturiert ist. ‚Der Mensch‘ ist aber zentral ein vergesellschafte-
tes Wesen, das durch vielfältige Positionierungen, besonders herausgehoben von
Gender, Klasse/Schicht und Race/Ethnie, überhaupt erst sein identifikatorisches
Gesicht erhält.
Neben den Problemen mit einem nicht geschlechtlich markierten Kulturbegriff
ist es vor allem die Blindheit gegenüber den Erträgen der deutschsprachigen Cul-
tural Gender Studies, die ein Teil der Cultural Studies Rezeption kennzeichnet. Wie-
derum soll dies an einem Beispiel gezeigt werden. Lothar Mikos erwähnt in „Die
Rezeption des Cultural Studies Approach im deutschsprachigen Raum“ (1999 bzw.
in diesem Band) zwar die Beiträge von „österreichischen Feministinnen“ (Mikos
1999: 166, auch 165) und würdigt diese zurecht als Vorreiterinnen der deutschspra-
chigen Cultural Studies Rezeption. Darüber hinausgehend findet aber keine einzige
der empirischen Arbeiten Erwähnung, die im Kontext der Gender Studies entstanden
sind. Diese Auslassungen scheinen weniger die Ausnahme als die Regel zu demon-
strieren, wenn es um die Berücksichtigung von und die Auseinandersetzung mit den
Arbeiten der feministischen Cultural Studies in der deutschsprachigen Medien- und
Kommunikationswissenschaft geht.
Solche blinden Flecken schwächen letztlich die Ausstrahlungskraft und Bedeu-
tung der Cultural Studies insgesamt. Zu erklären sind sie in der Anwendung der Cul-
tural Studies wie der Gender Studies vor allem vor dem Hintergrund der Institutio-
nalisierung der Cultural Studies und der Wissenschaftsinstitutionen als umkämpftem
Raum. Ann Gray (2001) hält den Cultural Studies einen Spiegel vor, wenn sie die
Mechanismen der Marginalisierung der Gender Studies in der anglo-amerikanischen
Publikums- und Rezeptionsforschung beschreibt:
„Offensichtlich geht es hier um die Definitionsmacht über die Forschungsagenda, und dieser
Vorgang muss in einem Kontext gesehen werden, in dem solche Überblicke und kritischen
Positionspapiere dazu dienen, eine Geschlechtertrennung des Wissenschaftsfeldes vorzuneh-
men und zu erhalten.“ (Gray 2001: 74)
214 Elisabeth Klaus

Dagegen schreibt Gray in ihrem Artikel die Geschichte der Rezeptionsforschung


neu, um „auf die zentrale Bedeutung feministischer Arbeiten aufmerksam zu
machen“ und zu „zeigen, wie sehr feministische und die von ihnen inspirierten
Arbeiten das Forschungsfeld verändert haben, indem sie Fragen nach Geschlecht
und Sexualität in den Diskurs einbrachten“ (Gray 2001: 88). Ein Cultural Studies-
Diskurs, der auf die Beschäftigung mit diesen und anderen von den Cultural Gender
Studies aufgeworfenen Fragen verzichtete, bliebe auch im deutschsprachigen Raum
weit hinter seinen Möglichkeiten zurück.

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Medienkultur und politische Öffentlichkeit:
Perspektiven und Probleme der Cultural Studies aus
politikwissenschaftlicher Sicht

Andreas Dörner

1 Die Konjunktur der Cultural Studies

Cultural Studies haben sich am Ende des 20. Jahrhunderts als Herausforderung
disziplinärer Routinen und Selbstverständlichkeiten etabliert. Dies gilt vor allem in
den diversen Philologien, zunehmend aber auch in den Kommunikations- und
Sozialwissenschaften. Obwohl viele konzeptionelle Grundlagen der Cultural Studies
bereits in den 1960er Jahren in England ausgearbeitet wurden, setzte der Boom erst
relativ spät ein. Ferguson und Golding (1997: XIV) haben aufgrund von bibliografi-
schen Recherchen zeigen können, dass das einschlägige Schrifttum in den 1990er
Jahren geradezu explodiert: Bei nur 100 Titeln im Jahr 1970 und 156 im Jahr 1985
werden schon 1991 nicht weniger als 431 Titel zu Cultural Studies verzeichnet, und
ein Ende dieser Hochkonjunktur scheint derzeit nicht in Sicht. Waren neben dem
Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham zunächst die akademi-
schen Kulturen der USA und Australiens die wichtigsten Hochburgen der For-
schungspraxis, so hat nun seit einigen Jahren auch in Deutschland eine intensivere
Rezeption eingesetzt, die allmählich auch in eigene empirische Studien einmündet.1
Der große Erfolg der Cultural Studies hängt vor allem damit zusammen, dass
ihre Fokussierung auf Massenmedien und Unterhaltungskultur einem deutlich
gestiegenen sozialen Stellenwert dieser Bereiche korrespondiert. In der medialen
Gegenwartsgesellschaft unserer Tage finden Prozesse der Deutungsmusterbildung,
der Inszenierung von Identitäten und der Vermittlung von sozialem und politischem
Sinn weitgehend in der Sphäre medienvermittelter Kommunikation statt. Hier wie-
derum hat das Unterhaltungssegment in den vergangenen Jahrzehnten eine derartige
Dominanz gewonnen, dass auch der Informationsdiskurs ohne die typischen Attri-
bute des Entertainment vom Publikum kaum noch akzeptiert wird.2 Die Cultural
Studies scheinen daher mit ihrer Schwerpunktbildung die Zeichen der Zeit verstan-
den zu haben.
Je genauer man sich allerdings mit den Arbeiten auseinandersetzt, um so deutli-
cher werden zwei nicht unproblematische Charakteristika:
220 Andreas Dörner
• Unter dem einheitlichen Label verbergen sich sehr unterschiedliche Forschungs-
praktiken, so dass die Rede von „dem“ Cultural-Studies-Ansatz eine hochgra-
dige Abstraktion darstellt, die mitunter gar nicht mehr gerechtfertigt scheint.
Angemessener ist in jedem Fall der Plural des englischsprachigen Originals, der
den Eindruck einer weitgehenden Homogenität erst gar nicht zu erwecken ver-
sucht. Dennoch ist es möglich, vorhandene Gemeinsamkeiten und intellektuelle
Schnittmengen der Projekte zu benennen.
• Vieles von dem, was im Diskurs der Cultural Studies vor allem im Kontext der
Literatur- und Kommunikationswissenschaften als großer Reiz bahnbrechender
Innovationen erschien, ist aus sozialwissenschaftlicher Perspektive keineswegs
neu. Das gilt für die Kultur- und Kommunikationskonzepte ebenso wie für die
Methoden. Dennoch ist einzuräumen, dass der Vorstoß zu einer qualitativen
Medien- und vor allem Mediennutzungsforschung gegen die über lange Zeit
hinweg geradezu hegemonial dominierenden quantitativ-standardisierten Ansät-
zen deutlich Bewegung ins Feld gebracht hat.3
Im diesem Beitrag soll nun aus politikwissenschaftlicher Sicht eine knappe Bilanz
der Möglichkeiten und Grenzen von Cultural Studies erfolgen. Zunächst werden
kurz einige Ausführungen zur Genese und zu den wichtigsten Charakteristika
gemacht. Vor diesem Hintergrund wird dann ein konkreter Ansatz diskutiert. Die
Arbeiten des amerikanischen Philosophen Douglas Kellner, die in den vergangenen
Jahren weltweit breite Beachtung gefunden haben, versuchen eine Art Synthese der
unterschiedlichen ‚Flügel‘ zu leisten. Kellner steuert einen ‚dritten Weg‘ an zwi-
schen dem politisch-ökonomischen Makroansatz, der sich stärker den marxistischen
Wurzeln der Cultural Studies verpflichtet weiß, und dem „populistischen“ Mikro-
ansatz des Kreises um John Fiske, der in radikaler Weise die Freiheitspotenziale bei
Konsumenten und Mediennutzern betont. Anhand von Kellners Ansatz können
daher die spezifischen Stärken und Schwächen der Cultural Studies besonders gut
exemplarisch aufgezeigt werden.

2 Genese und Grundzüge

Es ist unübersehbar, dass die Gegenwartsgesellschaften derzeit einen Umbruch


erfahren. Das Paradigma der Arbeits- und Industriegesellschaft wird abgelöst durch
eine Formation, in der Wissen, Kommunikation, Bildung und kulturelles Kapital die
entscheidenden Größen sind. Damit einher geht der Übergang von der klassischen
Moderne mit ihren stabilen Strukturen, Orientierungen und Identitätszumutungen zu
einer anderen Moderne, die durch mehr Offenheit, aber auch durch mehr Ungewiss-
heit gekennzeichnet ist (vgl. dazu etwa die Beiträge in Beck/Beck-Gernsheim 1994).
Daraus resultiert ein erhöhter Bedarf an Orientierung, Sinn- und Identitätskonstrukti-
on, der auf ganz unterschiedlichen Feldern bedient wird – von neuen Formen der
Medienkultur und politische Öffentlichkeit 221

Religiosität bis zur Freizeitindustrie, vom Psycho-Boom bis zu den allgegenwärtigen


Medienbildern (vgl. Hettlage/Vogt 2000). Die innerwissenschaftliche Konjunktur
des Kulturellen, die sich in fast allen sozial- und geisteswissenschaftlichen Diszi-
plinen zeigt, ist nun in zweierlei Hinsicht eine Reaktion auf diese Entwicklung. Zum
einen gilt es, die neuen Formen kultureller Praxis zu beschreiben, zu analysieren und
zu erklären. Zum anderen aber wird dabei immer wieder deutlich, dass die tradierten
Instrumentarien und Theorien an vielen Stellen nicht mehr adäquat sind. Neue empi-
rische Realitäten einerseits, eine Unzufriedenheit mit den tradierten wissenschaftli-
chen Zugängen andererseits haben dazu geführt, dass Cultural Studies derzeit einen
ausgesprochenen Boom erleben.4
In Raymond Williams‘ zentralem Text „The Long Revolution“ (1961) wurde
eine für die weiteren Arbeiten sehr wichtige, soziale Definition von Kultur formu-
liert.5 Kultur ist demnach ein „particular way of life, which expresses certain mea-
nings and values not only in art and learning but also in institutions and ordinary
behaviour“ (Williams 1961: 57). Nicht hochkulturelle Objektivationen, sondern die
Logik der Alltagswelt soll im Mittelpunkt stehen. Kultur erscheint als Teilhabe an
einem sozialen und politischen Zusammenhang.
Eine wichtige Folgerung aus dieser Bestimmung ist die, dass kulturelle Objekte
nicht nur im Hinblick auf ihre Inhalte und textuellen Merkmale, sondern auch im
Hinblick auf ihre Beziehung zu den sozialen Strukturen und Institutionen in ihrem
Kontext zu betrachten sind (Williams 1961: 63). Ein eigenständiger Cultural Stu-
dies-Ansatz der Medienanalyse wird dann in Williams‘ Studie über das Fernsehen
vorgelegt (1974). Hier steht weniger die inhaltliche Programmgestaltung als viel-
mehr die durch ökonomische Interessen geprägte Struktur des Mediums im Mittel-
punkt. Als Charakteristikum stellt Williams die eigentümlich endlose Sequenzialität
und den „Flow“ der Bilder und Bedeutungen heraus Williams (1974: 90). Das
Ineinander von Serien, Trailern und Werbung zielt darauf ab, die Zuschauer mög-
lichst lange beim jeweiligen Sender zu halten, um so Einschaltquoten und Werbeein-
nahmen zu sichern. Williams greift dann später hauptsächlich auf Gramscis Theorie
der Hegemonie zurück, um die sozialen und politischen Funktionen der Medien-
kommunikation als Moment von subtiler Klassenherrschaft zu beschreiben (Wil-
liams 1977: 108). 6
Dadurch, dass kulturelle Praxis in den alltagsweltlichen Zusammenhang einge-
bettet wurde, erkannte man bald auch die Notwendigkeit, der Analyse des Produkti-
onszusammenhangs von Kultur und der textuellen Objekte auch den der Rezeption
bzw. der Aneignung der Angebote durch konkrete Mediennutzer hinzuzufügen. Das
wichtigste, von vielen Forschern rezipierte Modell zur modernen Medienkommuni-
kation, das dieser Erweiterung der Aufmerksamkeit auf die Mediennutzer Rechnung
trägt, hat Stuart Hall (1980) formuliert. Verschiedene Momente der theoretischen
Tradition wie Semiotik, Marxismus und Poststrukturalismus sind hier zu einem
komplexen Ansatz verbunden worden. Hall versucht einerseits die Wirkpotenziale
der Medien zu berücksichtigen, dabei jedoch andererseits die Eigenaktivität der
Zuschauer in Rechnung zu stellen. Die Medien definieren zwar einen Rahmen zur
222 Andreas Dörner

Perzeption und Interpretation der Welt, die Zuschauer sind jedoch keine reinen
„Rezeptoren“, sondern sie wählen aus und sie gewichten.
Halls Encoding/Decoding-Modell stellt die Klassenzugehörigkeit der Medien-
nutzer als entscheidende Variable heraus. Gerade dies aber ist dann durch die empi-
rischen Publikumsstudien innerhalb der Cultural Studies weitgehend widerlegt wor-
den. So hat David Morley in seinen Studien zur englischen Sendung „Nationwide“
und ihrem Publikum zeigen können, dass die Variable Klassenzugehörigkeit nur
eine von vielen und keineswegs die entscheidende ist (vgl. Brunsdon/Morley 1978;
Morley 1980, 1986, 1992).7 Alter, Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit erwiesen
sich als zumindest genauso wichtig.
Die neuen Publikumsstudien begnügten sich nicht mit den abstrakten Zugängen
über die Umfrageforschung, wie sie zumindest über lange Zeit hinweg bei der
etablierten Medienwirkungsforschung nahezu ausschließlich verwendet wurde und
noch heute den Mainstream der empirischen Forschung bildet (vgl. dazu Winter
1995). Statt dessen suchte man mit Hilfe ethnografischer Methoden die Mediennut-
zungsprozesse in ihrem genuinen alltagsweltlichen Kontext auf, d.h. etwa in der
gemeinsam fernsehenden Familie (vgl. Morley 1997). Erst durch diesen methodi-
schen Schritt war der Kulturbegriff von Raymond Williams als „whole way of life“
auch vollständig einzulösen.
In der aktuellen Praxis und Theoriediskussion der British Cultural Studies hat
sich dann während der späten 1980er und frühen 1990er Jahre ein buntes Nebe-
neinander von Ansätzen und methodischen Vorgehensweisen herausgebildet. Dabei
sind zwei Pole beobachtbar, die unterschiedliche Akzente im Hinblick auf die kul-
turellen Machtverhältnisse in der modernen Gegenwartsgesellschaft setzen (vgl.
Winter 1997: 47ff):
• Der Pol der Medienmacht, der die ideologischen Einflussmöglichkeiten betont.
Hier wird der Akzent zum einen auf die politische Ökonomie des Medienbe-
triebs gesetzt, der sich in der Hand großer Konzerne befindet. Zum anderen wird
auf die determinierende Kraft sozialer Strukturen verwiesen, durch welche die
Autonomie der Mediennutzer stark eingeschränkt werde.8
• Auf der anderen Seite wird die Fluidität der Machtverhältnisse in einer Medien-
kultur betont, in der neue Technologien nicht nur das Werkzeug ideologischer
Hegemonien und ökonomischer Ausbeutungsprozesse sind, sondern auch
Instrumente des Widerstands (so etwa Fiske mit Hinweis auf die Videotechnik,
1996: 125 ff.). Die Polysemie der Texte und die Vielfalt der Nutzungsmöglich-
keiten eröffnet Autonomieerfahrungen und Widerstandspotenziale gegen die
ideologische Vereinnahmung.9
An dieser Stelle können nun einige konzeptionelle Gemeinsamkeiten der Cultural
Studies benannt werden, die aus politikwissenschaftlicher Sicht besonders interes-
sant sind. Der erste und wichtigste Punkt besteht darin, dass der Kulturbegriff der
Cultural Studies grundlegend politisch dimensioniert ist. Wir haben es hier nicht mit
einzelnen Berührungspunkten und Verbindungslinien zwischen Kultur und Politik
Medienkultur und politische Öffentlichkeit 223

und auch nicht mit einem separierten Subsystem „Politische Kultur“ zu tun, sondern
mit einer politischen Perspektivierung jeglicher kultureller Praxis. Dies bedeutet im
einzelnen:
• Kultur wird nicht als eine homogene Sphäre, sondern als ein Forum des Kamp-
fes und des Konflikts verstanden. In diesem Forum werden Bedeutungen, Werte,
Zielsetzungen, Sinnentwürfe und Identitäten gegeneinander gesetzt und mit-
einander ausgehandelt.10
• Im Zusammenhang damit wird die kulturelle Praxis immer im Hinblick auf
Machtrelationen und Herrschaftsverhältnisse beleuchtet. Den Cultural Studies
unterliegt insofern ein Weberscher Politikbegriff. Max Weber (1919: 5) be-
stimmt die Politik bekanntlich als Streben nach Machtanteil oder nach Beein-
flussung der Machtverteilung: „Wer Politik treibt, erstrebt Macht“. Der Politik-
begriff ist jedoch semiotisch begründet: Konflikthaftigkeit und Machtdynamik
entstehen dadurch, dass politische Bedeutungen nicht etwas Gegebenes sind,
sondern das Resultat von interaktiven Prozessen, die jeweils durch die Benen-
nungsmacht und das rhetorische Geschick der Beteiligten beeinflusst sind. Jedes
Zeichen, jede symbolische Form ist deutungsoffen und somit Gegenstand von
Deutungskämpfen.
• Kulturelle Praxis ist politisch folgenreich, da sie über Integration oder Desinte-
gration, Konsens oder Konflikt entscheidet. Antonio Gramsci hatte kulturelle
Hegemonie als Voraussetzung einer stabilen Herrschaftsordnung herausgearbei-
tet, und die Cultural Studies knüpfen an diesem Konzept der Herrschaft durch
Beherrschung des öffentlichen Zeichenraums an.
• ‚Politisch‘ heißt aber schließlich auch, dass die Wissenschaftler keine wertungs-
freie Analyse durchführen. Sie nehmen kritisch Stellung und greifen selber ein
in den politisch-kulturellen Prozess, um den Machtlosen mehr Möglichkeiten zu
verschaffen. Cultural Studies, so Stuart Hall, sind „Politik mit anderen Mitteln“
(vgl. Hall 1990: 12).
Das Politische und das Kulturelle, so lässt sich dieser erste Punkt zusammenfassen,
bedingen sich gegenseitig und sind nicht losgelöst voneinander analysierbar.
Der zweite Punkt besteht aus einer Verschiebung der Aufmerksamkeiten von der
kanonisierten Hochkultur zur Alltags- und Populärkultur. Diese Verschiebung geht
einher mit einer konsequenten Absage an all jene Ressentiments, welche die
Untersuchung des vermeintlich Trivialen traditionell geprägt hatten. Populäre Unter-
haltungskultur wird als ein zentraler Bestandteil der Gegenwartsgesellschaft ernst
genommen, da sich in diesem Bereich zunehmend die Orientierungs-, Sinn- und
Identitätsbildungsprozesse unserer Zeit abspielen. Wird das Populäre hauptsächlich
durch Massenmedien vermittelt, müssen konsequenterweise die Medien, insbeson-
dere das Fernsehen, in den Mittelpunkt rücken. Den Blick auf die populäre Medien-
kultur zu richten, heißt jedoch nicht, auch die mit der einschlägigen Forschungstra-
dition verbundenen Einseitigkeiten fortzuschreiben. Besonders in den marxistisch
224 Andreas Dörner

inspirierten Ansätzen war der Schwerpunkt einseitig auf den Produktionskontext,


auf die Kulturindustrie und ihre Produkte gelegt worden. Viele Arbeiten der Cultural
Studies dagegen rücken die Rezipienten und ihre Aneignung der Medienangebote
ins Zentrum. Eine Reihe von sorgfältigen Publikumsstudien hat dabei herausarbeiten
können, dass es sich bei den Mediennutzern keineswegs um passive Marionetten der
kulturellen Drahtzieher handelt, sondern um eigensinnige Akteure, die mediale Vor-
gaben kreativ verarbeiten. Sie entwickeln eine Vielzahl von Deutungen, die wie-
derum in den alltäglichen Kampf um Sinnbildung und Anerkennung eingehen.
Um diesen Prozessen empirisch valide auf die Spur zu kommen, hat man drit-
tens von Beginn an das Fahrwasser der standardisierten, quantitativen Forschung
verlassen. Statt dessen sind zum einen hermeneutische und semiotische Verfahren
eingesetzt worden. Zum anderen wurden, um die Medienaneignung im Kontext der
Alltagswelt zu erfassen, umfangreiche Ethnografien des Publikums durchgeführt. So
konnte etwa gezeigt werden, wie die Briten ein Nachrichtenmagazin nutzen (Morley
1980, 1986), wie Seifenopern in diversen sozialen Kontexten wahrgenommen wer-
den (Ang 1985; Liebes/Katz 1993; Fiske 1999), wie das Fernsehen in der Familie
verläuft (Morley 1997), und wie schließlich amerikanische Obdachlose den Action-
film Die Hard gegen den Strich lesen (Fiske 1993).
Die verschiedenen theoretischen Diskussionen und empirischen Projekte haben
sich viertens in den 1990er Jahren zu komplexen Theorien von Kultur und Politik in
der Mediengesellschaft verdichtet. So hat beispielsweise John Fiske (1996) in seiner
letzten Arbeit Medienereignisse als Auslöser politischer Benennungskämpfe
untersucht. Medien erscheinen hier als zentrale Schaltstationen. Sie nehmen Dis-
kurse, Wert- und Sinnentwürfe auf, verstärken und verändern sie. Auf diese Weise
fungiert die Medienkultur als Faktor politisch-kulturellen Wandels. Medien und
Unterhaltungskultur sind daher auch eine höchst relevante Bezugsgröße für politi-
sche Akteure, denn die Wählerschaft besteht aus Mediennutzern, und „voting demo-
graphies do show patterned similarities to audience demographies“ (Fiske 1996: 11).
Medienfiguren wie Murphy Brown, Bill Cosby, Rodney King oder Anita Hill fun-
gieren als hyperreale Größen zwischen Realität und Fiktion, in denen sich Sinnsyn-
drome anschaulich verdichten. Fiske macht zudem deutlich, dass an die Stelle eines
simplen Oben gegen Unten dynamische Machtgeflechte getreten sind, die sich ent-
lang den Achsen Klasse, Ethnizität, Geschlecht, Alter usw. formieren. Diese
Geflechte geraten durch Medienereignisse immer wieder in Bewegung. Die
Medientechniken sind ambivalent und können, wie im Fall des Rodney-King-
Videos, auch gegen die Mächtigen gewendet werden.

3 Populäre Medienkultur zwischen Ideologie und Utopie – der


Ansatz von Douglas Kellner

Douglas Kellner, Professor für Philosophie an der Universität von Texas (Austin),
hat sich insbesondere mit den Möglichkeit einer kritischer Wissen-, Identitäts- und
Medienkultur und politische Öffentlichkeit 225

Medientheorie im Zeitalter der Postmoderne auseinandergesetzt (vgl. Best/Kellner


1991 sowie Kellner 1989, 1989 a). Im Zentrum seiner Untersuchungen steht die
populäre Medienkultur, die in den Gegenwartsgesellschaften zu einem zentralen
Feld der sozialen und politischen Auseinandersetzungen geworden ist. Insbesondere
Film und Fernsehen stellen mit ihren eindringlichen Bildwelten einen kaum zu über-
schätzenden Faktor gegenwärtiger Ideologiebildung dar (vgl. Ryan/Kellner 1988;
Kellner 1990, 1995 und jetzt 2003). Kellner verbindet bei seinen Analysen spät-
marxistische Konzepte einschließlich der Frankfurter Schule sowie einzelne Ansätze
der Postmoderne-Diskussion mit den Grundsätzen der British Cultural Studies.
Die Einseitigkeiten sowohl des „Kulturindustrie“-Paradigmas als auch des
„populistischen“ Flügels der Cultural Studies sollen in einem integralen Konzept
überwunden werden, das gleichermaßen affirmative wie oppositionelle Potenziale
der Unterhaltungskultur erkennt und erklärt (Kellner 1995: 33 ff.). In expliziter Kri-
tik an den Studien John Fiskes11 wendet sich Kellner gegen einen „Fetischismus des
Widerstands“, der den Blick für das komplexe Gewebe kultureller Praxis in gege-
benen institutionellen Rahmungen verliert. Die wichtigsten Punkte in Kellners Argu-
mentation sind:
• eine Rehabilitierung und Reformulierung der Ideologiekritik auf einem theoreti-
schen Niveau, das den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte
gerecht wird;
• eine nachdrückliche Betonung der Relevanz der medialen Texte, die nicht belie-
bige Kommunikationsanlässe sind, sondern semiotische Gebilde mit weitrei-
chenden Steuerungspotenzialen, die es in genauen Objektanalysen zu entschlüs-
seln gilt;
• eine Rekontextualisierung der Texte im sozialen und politischen Makro-Kon-
text. Die mikrosoziologische Konzentration auf Ethnografien zu kleinen Publi-
kumsgruppen läuft schnell Gefahr, die Einbindungen der Medienpraxis in die
großen Debatten und Entwicklungen der Gesellschaft auszublenden;
• eine Inklusion der politisch-ökonomischen Perspektive, um die Voraussetzun-
gen kultureller Sinn- und Identitätsbildungsprozesse im Rahmen einer Markt-
ökonomie zu klären. Kellner fordert hier einen „Cultural Materialism“ als Kom-
ponente der Cultural Studies ein.
Ideologiekritik darf jedoch Kellner zu Folge nicht auf jenen ausgetretenen Pfaden
der marxistischen Theorie verbleiben, die gemäß dem Primat der ökonomischen
Basis jeden Gedanken und jedes kulturelle Objekt auf die Produktionsverhältnisse
und die daraus resultierenden Klassenstrukturen zurückführen will. Ideologiekritik
muss eine „multikulturelle“ Optik erarbeiten – in diesem Punkt trifft sich Kellners
Analyse mit Fiskes Konzept der Multiaxialität der Macht (Fiske 1993: 8):
„Such ideology critique is multicultural, discerning a range of forms of oppression of people
of different races, ethnicities, gender, and sexual preference and tracing the ways that ideolo-
gical cultural forms and discourses perpetuate oppression. Multicultural ideology critique
involves taking seriously struggles between men and women, feminists and anti-feminists,
226 Andreas Dörner
racists and antiracists, gays and antigays, and many other conflicts as well, which are seen to
be as important and worthy of attention as class conflicts by Marxian theory. It assumes that
society is a great field of struggle and that the heterogenous struggles are played out on the
screens of media culture and are the proper terrain of a critical media cultural studies.“ (Kell-
ner 1995: 58)
Anders als Fiske geht Kellner jedoch davon aus, dass sich die ideologischen Fronten
nicht in einem ständigen Fluss befinden, sondern dass sich stabile Formationen insti-
tutionalisieren.
Ideologie ist für Kellner jeweils ein Syndrom von gruppenspezifischen Annah-
men über die soziale und politische Welt (1995: 58). Diese Bestimmung steht jener
Konzeptualisierung von politischer Kultur erstaunlich nahe, wie sie von Rohe und
mir entworfen wurde.12 Konstitutiver Bestandteil der Ideologien sind demnach Bil-
der, Symbole, Mythen und Narrationen, die Anschaulichkeit und Evidenz verbür-
gen. Daher muss Ideologiekritik als „figurative ideology critique“ betrieben werden,
die in der Lage ist, die Logik der Bilder zu dekodieren. Besonders wichtig sind
daher auch visuelle Repräsentationen von Ideologien, die in der gegenwärtigen
Medienkultur weitaus schneller und intensiver Wirkung entfalten können als rein
sprachliche Kommunikationen (1995: 60). Insbesondere die Gefühlswelt der Bürger
und Mediennutzer ist hier intensiven Appellen ausgesetzt, sich mit den in den
Texten angebotenen Rollenmodellen zu identifizieren und die ästhetisch aufbereite-
ten Bildwelten in einem Modus des „Feel Good“ zu erleben. Diese utopische
Dimension von Unterhaltung, wie sie auch Richard Dyer (1981) analysiert hat, ver-
bindet sich mit einer Verführung zur jeweiligen ideologischen Perspektive – etwa
der Befürwortung militärischer Gewaltaktionen als Mittel der Außenpolitik, wie es
die Perspektive der Rambo-Filme nahelegt, oder des Bildes der militärischen
Gemeinschaft als Garant von Erfolg und Anerkennung in der Bildwelt von Top Gun.
Methodisch muss Kellner zu Folge eine solche Ideologiekritik zunächst den
Weg des „close reading“, der genauen Textanalyse gehen, um dann den Text mit
dem sozialen und politischen Kontext in Beziehung zu setzen und schließlich mögli-
che Auswirkungen der Medientexte auf den öffentlichen Diskurs zu untersuchen.
Kellner führt dieses Verfahren am Beispiel von Rambo – First Blood, Part 2 vor
(1985, Regie George Pan Cosmatos). Die Erzählung vom erfolgreichen Befreiungs-
versuch, den ein militärischer Einzelgänger gegen seine Befehle und gegen den Wil-
len der Polit-Bürokratie durchführt, um die Kameraden aus vietnamesischen Lagern
zu befreien, bot dem zahlreich ins Kino strömenden Publikum eine symbolische
Kompensation für die Niederlage in Vietnam und eine Möglichkeit, das Selbstwert-
gefühl zu steigern. Vor allem die nach Vietnam gedemütigte maskuline Identität der
amerikanischen Männer erhielt Unterstützung, und auch die unterprivilegierte work-
ing class bekam im wortkargen Helden John Rambo ein Identifikationsmodell vor-
geführt.
Kellner liest Rambo als „revolutionären Konservatismus“, der den klassischen
Individualismus und die konservativen Feindbilder mit gegenkulturellen Elementen
(Rambos Aussehen, naturnaher Lebensstil, die Anti-Washington-Attitüde) zu einer
neuen Synthese verbindet. Mit professionellen filmischen Mitteln wird der
Zuschauer eingeladen, sich in die Perspektive des mit Gewalt siegreich agierenden
Medienkultur und politische Öffentlichkeit 227

Helden hineinzuversetzen. Die Filme und ihre Ikonografie waren ökonomisch auße-
rordentlich erfolgreich, haben viele Jugendliche zur direkten Nachahmung angeregt
und offensichtlich auch den damaligen Präsidenten Ronald Reagan zu seinen mili-
tärischen Abenteuern in Grenada und Libyen ermutigt: „Boy, after seeing Rambo
last night, I know what to do next time“, sagte er in einem Interview (Kellner 1995:
70). Zwielichtige Gestalten wie Oliver North wurden mit der Rambo-Schablone zum
Helden stilisiert, und die harte außenpolitische Linie der Regierung Reagan erfuhr
eine wirkungsvolle visuelle Legitimation (vgl. Ryan/Kellner 1988).
Ähnliche Befunde führt Kellner für Top Gun (1986, Regie Tony Scott) vor. Der
Film betreibt eine Ästhetisierung und Erotisierung des Krieges an Hand der Erfolgs-
geschichte eines US-Marinefliegers, die sogar unmittelbare Wirkung in Form von
zahlreichen Freiwilligenmeldungen zu den entsprechenden Navy-Verbänden zeitigte
(Kellner 1995: 80). In Verbindung mit einer Reihe anderer Militärfilme ist die
Bevölkerung positiv auf die späteren militärische Engagements im Golfkrieg vor-
bereitet worden. In deutlicher Distanz gegenüber dem radikalen Rezeptions-Kon-
struktivismus von Fiske beharrt Kellner auf der Relevanz der Texte und ihrer Ver-
führungskünste:
„I am aware that this reading of the manipulative effects of an ideology machine like Top Gun
goes against the current emphasis on the active audience, constructing their own (oppositi-
onal) meanings from cultural texts. But some blockbuster films like Top Gun are carefully
constructed ideology machines that celebrate and reproduce hegemonic political positions and
attitudes. Top Gun positions the audience in ways to indice spectators to identify or sympa-
thize with ist politics.“ (Kellner 1995: 80)
Ein zentraler Mechanismus der Medienkultur besteht aus der Konstruktion attrakti-
ver Subjektpositionen in den Bildwelten. Die meisten Filme bieten deutlich kon-
turierte, positiv besetzte Heldenfiguren an, in die hinein wir uns imaginieren können.
Wir übernehmen ihre Wahrnehmungen, Wertungen und Handlungsstrategien, parti-
zipieren an ihren Ängsten und Erfolgen. Die so durchlebten Subjektpositionen gehen
in unsere Identitätsbildung mit ein – nicht so, dass wir alle Elitekämpfer und Mari-
neflieger werden. Aber sie können unsere Sicht der Dinge ändern bzw. in einer be-
stimmten Richtung verstärken. Daher kommt Kellner zu dem Schluss: „It is media
culture that more and more provides materials and resources to constitute identities“
(1995: 259).
Allerdings darf, so meine ich, Ideologie in diesem Sinne nicht auf den Bereich
absichtlich und bewusst formulierter Botschaften reduziert werden. Auch ganz
‚unschuldig‘ als Unterhaltung intendierte Filme können effektvolle ideologische
Subjektpositionen anbieten, indem sie sich aus Gründen des ökonomischen Erfolgs
am kulturellen Mainstream orientieren.
Kellners Ansatz versteht sich wie die meisten anderen Positionen im Rahmen
der Cultural Studies als „kritisch“, indem Dominanz- und Unterdrückungsverhält-
nisse kritisiert, Emanzipationsversuche dagegen unterstützt werden. Den Hinter-
grund bildet eine radikaldemokratische Gesellschaftskonzeption (1995: 94). Ver-
schiedene soziale Gruppen sollen möglichst selbst bestimmt und ohne Vorurteile
miteinander leben, wobei Kellner nicht jeden Widerstand per se gut heißt (etwa Fis-
228 Andreas Dörner

kes Obdachlose, die Pornohefte lesen; 1993: 1-5), sondern nur denjenigen, der sich
gegen Ungerechtigkeit und Unfreiheit wendet. Cultural Studies sollen dabei „multi-
perspektivisch“ vorgehen, d.h. unterschiedliche Methoden und Konzepte wie Mar-
xismus, Feminismus, Strukturalismus parallel und in Kombination verwenden, um
ein möglichst genaues Bild der kulturellen Realitäten zu entwickeln. Kellner plädiert
für einen differenzierten Weg insoweit, als nicht alle erfolgreichen Medienprodukte
pauschal als „ideologisch“ oder als Moment der Kulturindustrie abgewertet werden
sollen. In pluralen Gesellschaften gibt es immer auch Gegenprojekte und Gegenkul-
turen. So wurden die unkritisch-patriotischen Vietnamfilme nach dem Muster von
Rambo (1985) und Missing in Action (1984) durch kritische Filme wie Platoon
(1986) oder Born on the Fourth of July (1989) beantwortet, und erst aus diesen Kon-
stellationen heraus kann Kultur zu einem „contested terrain“ werden.
Kellners Textualismus ist kombiniert mit einem Kontextualismus, der die
Medientexte systematisch zu den anderen Texten und Diskursen in Beziehung setzt,
die zu einem bestimmten Zeitpunkt Öffentlichkeit konstituieren. Ein Film beispiels-
weise kann auf politische Debatten, Probleme oder Stimmungslagen reagieren –
oder er kann solche auch provozieren. Oliver Stones J.F.K. (1991) hat auf diese
Weise die Diskussion nicht nur um die Ermordung des Präsidenten Kennedy, son-
dern um die gesamte amerikanische Vietnampolitik wiederbelebt. Ähnliche Effekte
eines „Agenda Setting“ waren auch im Anschluss an die Ausstrahlung der Mini-
serien Roots (1977) und Holocaust (1978) zu verzeichnen. Holocaust hat bekannt-
lich auch in Deutschland umfangreiche Diskussionen über den Nationalsozialismus
in Gang gebracht.
Diese enge Beziehung zwischen medienkulturellen Objekten, öffentlichen Dis-
kursen und politischer Kultur ermöglicht es, die Texte einer „diagnostischen“ Lek-
türe zu unterziehen. Sie geben, so Kellner, Aufschluss über Themen, Erwartungen,
Hoffnungen und Ängste im Publikum, die durch die Filme bedient werden und aus
denen heraus sich überhaupt erst ihre Popularität erklären lässt. Filme sind dann
erfolgreich, wenn sie ansprechen, was die Bevölkerung beschäftigt. Dieser Ansatz
einer diagnostischen Lektüre ist für die Sozialwissenschaften besonders interessant,
können doch hier Objekte der populären Medienkultur systematisch als Quellen der
Forschung rekrutiert werden.
Kellner umreißt die Möglichkeiten einer in diesem Sinne verstandenen „politi-
schen Lektüre“ von Medientexten am Beispiel des Films genauer:
„Reading films politically, therefore, can provide insight not only into the ways that film
reproduces existing social struggles within contemporary U.S. society, but can also provide
insight into the social and political dynamics of the era. Even highly ideological films like
Rambo point to social conflicts and to forces that threaten conservative hegemony, such as the
liberal antiwar, antimilitary position which Rambo so violently opposes. Thus, ideology can
be analyzed in terms of the forces and tensions to which it responds while projects of ideolo-
gical domination can be conceptualized in terms of reactionary resistance to popular struggles
against traditional conservative or liberal values and institutions.“ (1995: 104)
Setzt man dies dann noch in Beziehung zu sichtbaren öffentlichen Wirkungen eines
Films, wie sie etwa in Kritiken, Stellungnahmen, Adaptionen sich äußert, dann kann
man ein recht genaues Bild von dem kulturellen Stellenwert des Objekts entwickeln.
Medienkultur und politische Öffentlichkeit 229

Darüber hinaus ist es möglich, Filme als Ausdruck von aktuellen gesellschaftlichen
Spannungslinien und Diskussionen zu lesen.
Bei allen Zugeständnissen, die Kellner an die Eigenständigkeit der Mediennut-
zer in ihrer kulturellen Praxis macht, wird deutlich, dass er die Wirkungs- und Mani-
pulationspotenziale der verführerisch aufbereiteten Unterhaltungsprodukte sehr hoch
einschätzt (vgl. Kellner 1995: 108). Auch Kellner konstatiert zwar die Wider-
sprüchlichkeit und Polysemie von Medientexten, diese bewegen sich jedoch meist
im Rahmen eines beschreibbaren semantischen Potenzials.
Kellner geht es letztlich um eine Reintegration der interpretativen und politisch-
ökonomischen Ansätze im Cultural-Studies-Projekt, die vor allem in den letzten Jah-
ren entweder gar keine Notiz voneinander nahmen oder aber nur polemisch auf-
einander bezogen blieben. Gerade die postmodernistische Wendung habe bei vielen
Arbeiten die ökonomischen Aspekte und den Produktionskontext von Unterhal-
tungskultur völlig aus dem Blick gleiten lassen. Dagegen versucht Kellner zu ver-
deutlichen, dass die Textualität der Medienobjekte von ihrem Produktionsrahmen
nicht zu trennen ist (Kellner 1997: 104). Ohne dem alten Determinismus vieler mar-
xistisch inspirierter Ansätze nachfolgen zu wollen, ruft Kellner in Erinnerung, dass
die Produktion von populärer Kultur zunächst einmal immer den elementaren
Marktmechanismen gerecht werden muss. Das Ziel der Gewinnmaximierung hat
Auswirkungen auf das Design der Objekte, die zu verkaufen sind.
Weiterhin ist die Gestaltung der Rahmenbedingungen durch staatliche Politik zu
beachten: Gibt es Auflagen für die Programmgestaltung, gibt es Tabus, gibt es
Restriktionen für Fusionen der Medienanbieter etc.? Ohne Berücksichtigung dieses
Rahmens ist der Kommunikationsprozess der Medienkultur nicht verstehbar.
Schließlich ist auch der gesellschaftliche Kontext von Bedeutung. Die demografi-
sche und ökonomische Struktur der Publiken sind hier ebenso wichtig wie Einstel-
lungen und Werte, die sich ebenfalls im Zeitverlauf stark ändern können.
Was bedeutet das konkret? Kellner verweist zunächst einmal auf das Beispiel
der Fernsehproduktion. Hier gibt es markterprobte Kodes und Genres, auf die
aktuelle Projekte zurückgreifen müssen, um erfolgreich zu sein (Kellner 1997: 106).
Dazu zählen etwa auch typische Muster der Konfliktdefinition und Lösung. Jede
Serie hat manuals und continuity experts, welche die genaue Einhaltung der erfolg-
versprechenden Vorgaben überwachen. Veränderungen der ökonomischen Lage und
damit auch der Stimmungslage in der Gesellschaft führen zu Anpassungen der
Serien. So wurden im amerikanischen Prime-Time-Fernsehen im Zuge der ökonomi-
schen Regression der 1980er Jahre Familienkomödien produziert, die Verlierer-
Figuren und deren tägliche Kämpfe in der Alltagswelt humorvoll in den Mittelpunkt
stellten: Roseanne, Married with Children und The Simpsons. Aber auch marktim-
manente Veränderungen wie die verstärkte Konkurrenz durch Kabelanbieter haben
bei den Serien, die durch die großen Networks ausgestrahlt werden, zu Veränderun-
gen geführt (Kellner 1997: 107).
Immer jedoch lautet die oberste Maxime, dass Produktionen, die auf breite
Popularität zielen, im Rahmen des ideologischen bzw. politisch-kulturellen Main-
stream platziert sein müssen. Das bedeutet aber auch, und damit ist der entschei-
230 Andreas Dörner

dende Aspekt aus sozialwissenschaftlicher Sicht angesprochen, dass populäre Serien


in der Regel die „Normalität“, den Wahrnehmungs- und Werthorizont einer Gesell-
schaft aufzeigen. Hier lässt sich feststellen, welche Themen, Lebensweisen, Ziel-
und Sinnkonstruktionen und welche politisch-kulturellen Traditionen in einer
Gesellschaft konsensfähig sind. Die Prime-Time-Serie wie der Blockbuster-Film
geben uns Aufschluss über Normallagen und Entwicklungstendenzen einer Kultur.
Das Publikum und seine Rezeptionsweise ‚fällt dabei nicht vom Himmel‘, sondern
es hat ausgiebige Prozesse der Mediensozialisation durchlaufen, die wiederum seine
Möglichkeiten, einen Film zu sehen oder Musik zu hören, stark prägen.
Diese Verortung der Medienkommunikation im Rahmen eines Marktgeschehens
plädiert somit keineswegs für einen erneuten Ökonomismus oder institutionellen
Reduktionismus, der die Mediennutzer als Marionetten in der Hand von Kulturindu-
striellen imaginiert. Aber es wird versucht, für den Zusammenhang der verschie-
denen, am komplexen Medienprozess beteiligten Ebenen zu sensibilisieren.

4 Kritikpunkte

Der Ansatz von Douglas Kellner versucht, eine theoretische Synthese aus politisch-
ökonomischen sowie ideologiekritischen Perspektiven einerseits und postmodernen,
„populistischen“ Perspektiven andererseits für die Analyse der populären Medien-
kultur fruchtbar zu machen. Es bietet sich daher an, die Kritik an Kellners Konzept
zu verbinden mit einigen Einwänden, die insgesamt gegen den Cultural Studies
Approach vorzubringen sind:
• Kellner richtet in teilweiser expliziter Wendung gegen die „populistische“ Frak-
tion der Cultural Studies sein Augenmerk wieder stärker auf die ideologischen
Wirkungen unterhaltungskultureller Objekte. Leider wird jedoch weder in quali-
tativer noch in quantitativer Methodik ein systematischer Nachweis dazu
erbracht. Die einzelnen Belege, die angeführt werden, vermögen zwar durchaus
zu plausibilisieren, aber nicht – wie Kellner behauptet – wirklich zu belegen.
Entsprechendes gilt auch für Kellners Aussagen zur Identitätsbildung durch
Medienkultur. Was primär untersucht wird, sind die medialen Identitätsangebote
und Inszenierungen, nicht jedoch die Wirkungen auf den realen Identitätsbil-
dungsprozess bei den Mediennutzern. Nun sind diese Dinge auch ohne Zweifel
sehr schwer empirisch fassbar, und das Desiderat einer systematischen, qualita-
tiven wie quantitativen Forschung überfordert in der Regel die Kapazitäten
eines Einzelforschers. Hier können nur größere Projektzusammenhänge Abhilfe
schaffen. Zunächst einmal kann man jedoch die Folgerung ableiten, dass man
sich weitgehend mit plausibilisierten Wirkungs- und Identitätsbildungshypo-
thesen zufrieden geben muss, die durch Textanalysen und Belege für öffentliche
Wirkungen in Stellungnahmen, Kritiken und anderen Dokumenten gestützt wer-
Medienkultur und politische Öffentlichkeit 231

den können. Immer muss dabei jedoch klar sein, dass ein empirischer Nachweis
für die entsprechenden Wirkungshypothesen noch aussteht.
• Kellner rückt gegenüber den radikalen Konstruktivisten unter den Rezeptions-
forschern die Textanalyse wieder in den Mittelpunkt und verweist zu Recht auf
die semiotischen Steuerungspotenziale der professionell gefertigten Medienpro-
dukte. Dennoch fällt auf, dass die konkreten Analysen einen strukturierten, sys-
tematischen Zugriff mit einheitlichen Kategorien vermissen lassen. Zu oft wer-
den die Untersuchungen etwa bestimmter Filme ad hoc aus dem Objekt heraus
entwickelt und dann mit sehr pauschalen Zuordnungsmustern (konservativ-pro-
gressiv, rechts-links) verbunden. Um der Klarheit der Analyse willen wäre es
sinnvoller, zunächst ein nachvollziehbares Analyseinstrumentarium zu ent-
wickeln und dieses dann einheitlich auf verschiedene Objekte anzuwenden.
Damit erhielten die Lektüren auch einen weniger essayistischen, intersubjektiv
besser nachprüfbaren Charakter, der im Bereich der interpretativen Forschung
sehr wichtig ist.
• Den Anspruch „kritischer“, normativ stellungnehmender, eingreifender For-
schungspraxis erhebt Kellner ebenso wie fast alle anderen Vertreter des Cul-
tural-Studies-Ansatzes. Zwei Aspekte erscheinen mir daran problematisch. Zum
einen bleibt auch bei Kellner der Fokus der Kritik weitgehend auf die Objekte,
z.T. auf ihre Aneignung und öffentliche Verwertung etwa durch Politiker wie
Ronald Reagan beschränkt. Was fehlt, ist der makropolitische Rahmen etwa der
staatlichen Kulturpolitik (vgl. dazu McQuail 1997). Der zweite Kritikpunkt setzt
noch grundsätzlicher an. In fast allen Arbeiten der Cultural Studies sind
Beschreibung und Wertung, deskriptive und normative Ebene der Argumenta-
tion unmittelbar ineinander verwoben. Diagnose und Polemik sind teilweise gar
nicht mehr zu trennen. Sinnvoller erscheint mir, im Sinne der Weberschen
Methodologie zu verfahren, d.h. konkret: Zunächst einmal ist „sine ira et studio“
eine deskriptive Analyse dessen vorzulegen, was in der Medienkultur der Fall
ist. In einem zweiten Schritt kann dann, vor dem wohlbegründeten Hintergrund
normativer Theorien der Medienöffentlichkeit, nach den Implikationen dieser
Befunde gefragt werden. Dies kann im Modus von Wenn-Dann-Verknüpfungen
geschehen, etwa nach dem – hier sehr vereinfacht dargebotenen – Muster: Wenn
in der Medienkultur möglichst viel Sachinformation zum politischen System
und politischen Prozess einer Gesellschaft vermittelt werden soll, dann ist der
Rückgang an Informationssendungen im Verhältnis zu den Unterhaltungssen-
dungen zu kritisieren. Dadurch wird die Kritik transparenter und letztlich auch
effektiver.13
• Einer der schwerwiegendsten Kritikpunkte, die gegenüber Kellner wie den
meisten anderen Vertretern der Cultural Studies formuliert werden muss, besagt,
dass Interdisziplinarität ungeachtet häufiger Bekenntnisse nicht wirklich prakti-
ziert wird. Dieses Manko rächt sich in der Qualität der Theoriebildung wie bei
den konkreten empirischen Befunden. So ist deutlich sichtbar, dass die Cultural
232 Andreas Dörner

Studies viele Konzepte, die etwa in der Soziologie und Anthropologie ent-
wickelt wurden, gar nicht zur Kenntnis nehmen und folglich teilweise schon
längst erfundene Räder wieder neu erfinden und teilweise auch hinter dem Stand
der Erkenntnisse in diesen Nachbardisziplinen zurückbleiben (vgl. Fer-
guson/Golding 1997: XVIIII). Das betrifft beispielsweise die verwendeten
Identitätskonzepte oder aber auch die Methoden: Das mitunter sehr unbeküm-
merte, von Gütekritierien unbelastete ethnografische und inhaltsanalytische
Arbeiten würde den Standards in der Soziologie kaum gerecht werden.14
• Noch wichtiger ist der Aspekt, dass in den konkreten Analysen sozialwissen-
schaftliches Know-How und sozialwissenschaftliche Debatten nahezu völlig
ausgeblendet werden. Das betrifft Arbeiten über die Möglichkeit von Politik in
der Gegenwartsgesellschaft, Befunde der politischen Kulturforschung, Theorien
zur Öffentlichkeit moderner Gesellschaften, die einschlägigen Debatten über
Liberalismus und Kommunitarismus sowie viele andere Bereiche, die außerhalb
der Lektüre- und Zitierpraxis der Cultural Studies liegen. Das hat allzu oft zur
Folge, dass sehr simplifizierende Bilder vom politischen Prozess, von der Funk-
tionsweise moderner Öffentlichkeit und von den ideologischen Konfliktlinien in
der Gegenwartsgesellschaft gezeichnet werden (so gebraucht Kellner in der
Regel die der Tagespolitik entnommenen Begriffe „conservative“ und „liberal“,
ohne sie genauer vor dem Hintergrund der noch immer virulenten Traditionen
zu verorten).
• Diese Problematik betrifft auch die aus dem marxistischen Erbe bezogene,
durch vielerlei semiotische und Gramscianische Verfeinerungen im Kern kaum
veränderte Gegenüberstellung von Herrschern und Beherrschten, Hegemonie
und oppositionellen Gruppen, Mächtigen und Machtlosen, die in ihrer Schwarz-
Weiß-Dichotomie den gegebenen Verhältnissen kaum gerecht wird. Diese Kri-
tik muss also mit der Forderung verbunden werden, wirklich interdisziplinär zu
arbeiten, d.h. die Sensibilität der Cultural Studies für (populär)kulturelle Pro-
zesse der Bedeutungsbildung, Identitätsinszenierung und Sinnkonstruktion zu
verbinden mit sozialwissenschaftlichen Analysen zur Konstitution der sozialen
Realität in der Gegenwart sowie mit den Befunden der politischen Kulturfor-
schung und der empirischen Wissenssoziologie.
• Im direkten Zusammenhang mit der fehlenden Interdisziplinarität steht ein wei-
teres wichtiges Manko: Die Analysen der Cultural Studies erweisen sich in fast
allen Fällen als eigentümlich geschichtslos. Das aber ist bei einer Beschäftigung
mit kulturellen Prozessen und Institutionen fatal, da wir es in diesem Bereich in
aller Regel mit Realitäten zu tun haben, die sich in der Zeitdimension der „lon-
gue durée“ bewegen (vgl. Braudel 1977). Wie will man aktuelle symbolische
Formen verstehen, wenn man die Bedeutungsgeschichte mit all ihren spezifi-
schen Anlagerungen und Brüchen ausblendet? Wie will man Partizipationsmus-
ter in der amerikanischen Gegenwartskultur verstehen, wenn man die republi-
kanische Tradition und ihre Verankerung in der amerikanischen politischen Kul-
Medienkultur und politische Öffentlichkeit 233

tur nicht in Rechnung stellt? Wie will man den spezifischen Feminismus
Madonnas verstehen, wenn man ihn nicht zur Tradition des expressiven Indivi-
dualismus und den damit verknüpften Deutungsmustern und Werten in Bezie-
hung setzt? Oder wie könnte eine Analyse zum Verhältnis von Individualismus
und Gemeinschaftsorientierung in der deutschen Gegenwartskultur adäquat sein,
ohne dass die Implikationen der etatistischen Gemeinschaftstradition bedacht
werden? Diese Leerstellen in den Cultural Studies, die entsprechend auch in
einer Unkenntnis der einschlägigen Forschungsliteratur dokumentiert werden
(vgl. auch Ostendorf 1995: 719), führen oft zu Fehleinschätzungen aktueller
Phänomene. Eine Integration der Perspektiven der Cultural Studies mit neueren
sozialwissenschaftlichen erscheint also vor diesem Hintergrund dringend gebo-
ten.
Cultural Studies haben den Blick zurecht auf die massenmediale Unterhaltungskul-
tur gerichtet, um einen zentralen Bereich der Sinn- und Identitätsgenerierung in der
modernen Gegenwartsgesellschaft zu analysieren. Sie haben dabei den normativen
Deduktionismus der frühen kritischen Theorie ebenso überwunden wie die dekon-
textualisierende Engführung vieler strukturalistischer und semiotischer Ansätze.
Dennoch, so konnte am Beispiel Kellners gezeigt werden, sind Einwände theoreti-
scher wie methodischer Art zu erheben. Die entscheidenden Schwächen liegen in
den oft zu groben Beschreibungskategorien, die meist doch im Prokrustesbett der
Dichotomien von herrschend-beherrscht, progressiv-konservativ etc. gefangen blei-
ben; in einer zum Teil unreflektierten und übersteigerten Normativität; in der weit-
gehenden Blindheit für interdisziplinäre Zusammenhänge, d.h. vor allem für neuere
sozialwissenschaftliche Erkenntnisse; und schließlich in einer Geschichtslosigkeit
der Analyse, die gerade im Hinblick auf kulturelle Praxis und symbolische Formen
den Wert der Analysen nachhaltig schmälert.

Anmerkungen

1 Neuere Darstellungen zur Entwicklung der Cultural Studies, zum Analysepotenzial und
zu den Auswirkungen im kultur- und sozialwissenschaftlichen Diskurs finden sich bei
Hall (1999), Hepp (1999/2004) und Winter (2001a).
2 Siehe dazu ausführlich Dörner (2000, 2001), Meyer (2001), Dörner/Vogt (2002) sowie die
Beiträge in Schicha/Brosda (2002). Ein typisches Genre für diese Vermischung von Infor-
mations- und Unterhaltungselementen ist die noch immer boomende Talkshow (vgl. Ten-
scher/Schicha 2003).
3 Zur Diskussion der Cultural Studies im Kontext der (kultur-)soziologischen Forschung
siehe Winter (2001a: 341ff).
4 Als Symptom für diesen Boom in Deutschland kann man die neuere Veröffentlichungs-
konjunktur von Sammelwerken und deutschen Übersetzungen von Texten aus dem Cul-
tural-Studies-Kontext betrachten; vgl. etwa Bromley u.a. (1999), Hörning/Winter (1999),
Göttlich/Winter (2000) und Winter/Mikos (2001). Ein gelungenes Beispiel für eine For-
schungsanwendung von Cultural-Studies-Perspektiven ist Hepp (1998).
234 Andreas Dörner
5 Zur Rolle von Williams bei der Entwicklung einer neuen Kulturtheorie vgl. ausführlich
Inglis (1995).
6 Zu Williams‘ Konzeption der kulturellen Praxis als Bestandteil von Herrschaftsprozessen
vgl. jetzt umfassend Göttlich (1996).
7 Vgl. auch weitere Publikumsstudien u.a. von Ien Ang (1985, 1991), Richard Dyer (1986),
Janice Radway (1987) sowie James Lull (1990).
8 Vgl. dazu vor allem die Beiträge in Ferguson/Golding (1997), Davies (1995) sowie
McGuigan (1992).
9 Siehe dazu Winter (1995), Willis (1990), de Certeau (1984), sowie vor allem Fiske (1987,
1989, 1989a, 1993, 1994, 1996, 1999 und seine Texte in Winter/Mikos 2001).
10 Hier stimmt die Perspektive der Cultural Studies mit der Konzeption Pierre Bourdieus
überein, vgl. Bourdieu (1982, 1985 und Bourdieu 1998).
11 Vgl. dazu vor allem Fiske (1987, 1989, 1989a, 1994). Zur Auseinandersetzung mit Fiske
aus sozialwissenschaftlicher Perspektive siehe Dörner (2000: 112) und Winter (2001a:
163ff).
12 Vgl. dazu Rohe (1987, 1990, 1994) sowie Dörner/Rohe 1991 und Dörner 2003.
13 Zur Weberschen Methodologie vgl. grundlegend den Aufsatz zur „Objektivität“ sozial-
wissenschaftlicher Erkenntnis (Weber 1904).
14 Siehe dazu etwa Schröer (1994), Flick (1995) und Hitzler/Honer (1997).

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Cultural Studies und Sprachwissenschaft

Jannis Androutsopoulos

„[Die Linguistik] hält für die Kulturanalyse wahre


Schätze bereit, die allerdings unter Bergen technischer
Geheimniskrämerei und universitärem Professionalis-
mus begraben liegen.“ (Johnson 1999: 166)

1 Einleitung

Sei es die Rolle der Sprache in der Konstitution eines subkulturellen Kodes (Clarke
et al. 1979), der ironische Humor der Hippies (Willis 1981), die sprachlichen Kenn-
zeichen populärer Texte (Fiske in diesem Band) oder die Aneignung von Medien im
Zuschauergespräch (Gillespie 1995): Ein Streifzug durch die Klassiker lässt die All-
gegenwärtigkeit von Sprache und Interaktion im Forschungsprojekt der Cultural
Studies schnell erkennen. Dabei ist das Verhältnis zwischen Cultural Studies und
Sprachwissenschaft relativ wenig reflektiert worden. Die Text- und Medienanalysen
der Cultural Studies greifen eher auf literaturwissenschaftliche und semiotische,
weniger auf linguistische Methoden zu (vgl. aber Keppler 1994). Zwar hat man früh
auf das Potenzial linguistischer Methoden für die Kulturanalyse aufmerksam
gemacht, genauso auf die Schwierigkeit ihrer Anwendung (Johnson 1999: 165f.).
Umgekehrt orientiert sich die Soziolinguistik vor allem an der Soziologie und
Anthropologie, viel seltener an den Cultural Studies.1 Ihr Kritikpunkt an die Cultural
Studies lautet, dass es ihr an feinkörnigen Analysen des Sprachgebrauchs mangelt.
Zwar wird man heute – zumindest seit Fiske (1987), Keppler (1994) und Gillespie
(1995) – wohl nicht mehr uneingeschränkt behaupten können, dass „die eigentliche
Sprachforschung hier weitgehend ausgeklammert geblieben ist“, wie es Maas (1980:
153) für die CCCS-Arbeiten der 1970er Jahre formuliert hat. Noch in den späten
1990er Jahre gilt aber der Umgang der Cultural Studies mit Diskurs als „impressi-
onistic“ (Rampton 1997: 65; siehe auch Müller/Wulff in diesem Band), da er lieber
mit den weiten Kategorien der Ethnografie arbeite und die Details der verbalen
Interaktion kaum beachte. Gleichzeitig hebt Rampton hervor, was die Cultural Stu-
dies der Soziolinguistik anzubieten haben: neues Licht auf alte Fragen und eine
gesellschaftliche Verankerung ihres Gegenstandes.
238 Jannis Androutsopoulos

Dieser Beitrag – geschrieben aus der Perspektive eines sich an die Cultural Stu-
dies annähernden Soziolinguisten – beschäftigt sich weniger mit den Gründen für
die mangelnde gegenseitige Rezeption von Cultural Studies und Sprachwissenschaft
und mehr mit den Möglichkeiten ihres interdisziplinären Dialogs. Was können
Sprachwissenschaft und Cultural Studies füreinander tun? Zunächst wird der poten-
zielle Ertrag linguistischer Analysemethoden für konstitutive Fragestellungen der
Cultural Studies diskutiert. In einem zweiten Schritt wird nachgezeichnet, wie die
soziokulturell orientierte empirische Sprachwissenschaft Konzepte der Cultural Stu-
dies – Bricolage, Globalisierung, Hybridität, Medienaneignung – aufgreift und was
sie darüber zu sagen hat.

2 Methodologische Schnittstellen

Wenn hier von Sprachwissenschaft bzw. Linguistik die Rede ist, sind diejenigen
Teilgebiete oder „Forschungsparadigmen“ (Dittmar 1997) gemeint, die (im weites-
ten Sinne) das Verhältnis von Sprache, Kultur und Gesellschaft untersuchen. Sozi-
olinguistik, Kritische Diskursanalyse sowie Aspekte der Textlinguistik und der lin-
guistischen Stilistik sind zentrale, sich teilweise überlappende Puzzleteile in der
Landschaft der soziokulturell orientierten empirischen Sprachwissenschaft.
Unbeachtet ihrer (theoretischen, methodischen, empirischen) Unterschiede lehnen
sie eine autonome Linguistik ab und legen stattdessen den Schwerpunkt auf den situ-
ierten Sprachgebrauch in seinem kulturellen und sozialen Kontext. Sie teilen dabei
bestimmte Prämissen, die mit Grundpositionen der Cultural Studies übereinstim-
men: ein Verständnis von Identität als interaktivem Prozess (vgl. Antaki/Widdi-
combe 1998), der in kommunikativen Aktivitäten vollzogen wird; die Rolle von
Sprache als zentrale symbolische Ressource für die Konstruktion von Identitäten
und Machtbeziehungen; und ein dialektisches (oder reflexives) Verhältnis zwischen
sprachlichen Handlungen und ihrem Kontext.
Aus der methodologischen „Bricolage“ der Cultural Studies2 folgt, dass ganz
verschiedene Methoden der empirischen Sprachwissenschaft an kulturanalytische
Projekte anschlussfähig sind. Mein Zugang in diesem Beitrag geht von zwei zentra-
len Fragestellungen der Cultural Studies (Johnson 1999; Winter 2001b) aus und ord-
net ihnen potenziell ertragreiche linguistische Methoden zu. Ich argumentiere, dass
in der Untersuchung von Lebenswelten und ihrer Medienaneignung die in den Cul-
tural Studies übliche Ethnografie durch die Gesprächsanalyse ergänzt werden kann.
Für die Analyse medialer Texte stehen linguistische Methoden der Textsorten-, Gat-
tungs- und Diskursanalyse zur Verfügung. Dabei gehe ich weniger auf die theoreti-
schen Hintergründe dieser Ansätze und mehr auf ihre konkreten methodischen
Schritte ein. Selbstverständlich sind diese Methoden an und für sich noch keine Cul-
tural Studies, solange sie nicht von einer Fragestellung gerahmt werden, die das Ver-
hältnis zwischen Kultur, Medien, Macht kritisch anspricht (vgl. Winter 2001b: 45).
Cultural Studies und Sprachwissenschaft 239

2.1 Ethnografie und Gesprächsanalyse

Seit der Frühphase der britischen Cultural Studies ist Ethnografie die „bevorzugte
Forschungsstrategie“ (Winter 2001b: 45), da sie einen ganzheitlichen, interpretati-
ven Zugang zu den konkreten, privaten Momenten der kulturellen Zirkulation
ermöglicht (Johnson 1999: 178f.). Gleichzeitig bildet die Ethnografie eine methodi-
sche Parallele zur Sprachwissenschaft. Paradigmatisch für die Soziolinguistik wirkte
die von Dell Hymes entwickelte Ethnografie der Kommunikation (vgl. Hymes 1977;
Dittmar 1997). Sie zielt auf eine holistische Beschreibung von Kultur, die „den
gesamten Lebensweg von Individuen im Verbund mit ihren jeweils verschiedenen
Tätigkeiten und Handlungsroutinen“ berücksichtigt (Dittmar 1997: 81). Die ethno-
grafische Analyse nach Hymes folgt einem als „speaking“ bekannten Analyseraster,
wobei das Akronym „speaking“ für die acht Komponenten eines Sprechereignisses
steht: „setting/scene, participants, ends, act sequence, key, instrumentalities, norms,
genres“ (vgl. Dittmar 1997: 82).
Auf der Folie einer kommunikativen Ethnografie kann die Gesprächsanalyse als
analytische Vertiefung der interaktiven Aspekte eines ethnografischen Gruppenpor-
traits verstanden werden. Die in den 1970er Jahren auf der Ethnomethodologie und
Mikrosoziologie begründete Gesprächsanalyse rekonstruiert implizite Regeln für die
Herstellung sozialer Ordnung in der verbalen Interaktion, indem sie Gesprächstrans-
kripte auf Details der Gesprächsführung, beispielsweise den Wechsel von Redebei-
trägen, untersucht (vgl. Deppermann 1999). Entscheidend für die Anschlussfähigkeit
der Gesprächsanalyse an die Cultural Studies ist, wie das Verhältnis zwischen
Gesprächsdaten und ihrem Interaktionskontext aufgefasst wird. Die orthodoxe Kon-
versationsanalyse berücksichtigt nur diejenigen Kontextaspekte, die im Gespräch
selbst relevant gemacht werden. Allerdings plädiert man zunehmend für eine engere
Verbindung von Ethnografie und Gesprächsanalyse (Titscher et al. 1998). Der Ein-
satz ethnografischen Wissens in die Gesprächsanalyse trägt bei zur Sensibilisierung
auf Phänomene, die sonst unbeachtet geblieben wären, zur Schließung von Interpre-
tationslücken und zum Schutz vor Fehlinterpretationen, die durch die Einschränkung
auf die Transkripte aufkommen können (Deppermann 2001). Durch die Öffnung hin
zur Ethnografie wird der der Gesprächsanalyse vorgeworfene „post-positivistische“
bzw. reduktionistische Charakter (vgl. Winter 2001b: 59) relativiert.
Kombinationen aus Ethnografie und Gesprächsanalyse, wie sie in der interakti-
onalen Soziolinguistik üblich sind (vgl. Androutsopoulos/Georgakopoulou 2003),
können für die Untersuchung der kommunikativen Medienaneignung und der Kon-
struktion von Identität im Diskurs eingesetzt werden. Die Detailanalyse
gesprächsanalytischer Transkripte ermöglicht es, Feinheiten der Interaktion – Proso-
die, Pausen, Verzögerungssignalen, Überlappungen – systematisch zu untersuchen,
die der Beobachtung und den Feldnotizen zwangsläufig entgehen. Bisherige kul-
turanalytische Arbeiten mit literarisch transkribierten Gesprächen (vgl. Gillespie
240 Jannis Androutsopoulos

1995) schenken diesen Phänomenen kaum Beachtung (vgl. aber Keppler 1994, Hepp
1998). Doch gerade wenn der „konkrete Umgang mit den vorstrukturierten Sinnpro-
duktionen verschiedener Medien“ (Keppler 2001: 140) zu begreifen ist, können die
mikroskopischen Aspekte der Interaktion eine wichtige Rolle spielen. Die „oft rasch
vorübergehenden, aber keineswegs unbedeutenden Momente der Rezeption kulturel-
ler Texte“ (Winter 2001b: 45) sind auch an formalen Aspekten des Interaktionsge-
schehens festzumachen, beispielsweise an der Sequenzierung der Gesprächsbeiträge,
dem Sprecherwechsel, der interaktiven Entwicklung von Gesprächsthemen. Ihre
Rekonstruktion kann Positionierungen in der Aneignung medialer Produkte auf-
decken, die sich einer rein inhaltlichen Analyse des Gesprächs entziehen. Auch die
als „language crossing“ bezeichneten Formen des Sprachkontakts, die auf die Aus-
handlung ethnischer Beziehungen verweisen, sind oft sehr feine, kaum wahrnehm-
bare Stilwechsel, die immer wieder zum Vollzug bestimmter Handlungen eingesetzt
werden.

2.2 Analyse medialer Textsorten und Gattungen

Die Medienanalysen der Cultural Studies (vgl. im Überblick Hepp 1999/2004; Win-
ter 2001) greifen auf verschiedene Methoden für die Analyse von Gattungen, Genres
bzw. Textsorten zu. Das Interesse richtet sich dabei oft nur auf einzelne Instanzen
(Realisierungen) eines Genres. Demgegenüber interessieren sich linguistische Text-
sorten- und Gattungsanalysen für die Muster, die medialen Texten zu Grunde lie-
gen.3 Textsorten und Gattungen werden als Bausteine des „kommunikativen Haus-
haltes“ (Luckmann 1986) einer Gruppe oder Kultur verstanden. Als historisch
gewachsene, gesellschaftlich verfestigte, zum Teil formalisierte Lösungen für kom-
munikative Probleme (Günthner 1995) bieten sie Richtlinien für die Produktion und
Rezeption komplexer kommunikativer Handlungen an und organisieren damit die
Weitervermittlung gesellschaftlichen Wissens.
Aus der Textlinguistik und der linguistischen Pragmatik hervorgegangene
Ansätze der Textsortenanalyse spezialisieren sich auf geschriebene, insbesondere
massenmediale Texte (z.B. Pressetextsorten, Klein- und Werbeanzeigen). Das analy-
tische Raster geht von der Dichotomie zwischen einer externen (Textfunktion, Kom-
munikationssituation) und einer internen (Textstruktur) Dimension aus. Die Analyse
der Textfunktion baut auf die Sprechakttheorie auf; die Analyse der Kommunikati-
onssituation operiert mit Kategorien wie Handlungsbereich, Öffentlichkeitsgrad und
Rollenbeziehung der Kommunikationspartner. Zur Analyse der Textstruktur gehören
die thematische Struktur, die handlungsfunktionale Segmentierung eines Textes in
Teiltexte, die Sequenzierung dieser Teiltexte, ihre grammatische Kohärenz und syn-
taktische Komplexität sowie typische Mittel der lexikalischen Ausgestaltung (Wor-
tarten, Wortfelder, Routineformeln). Die in der Wissenssoziologie entstandene, lin-
guistisch weiter entwickelte Analyse kommunikativer Gattungen legt den Schwer-
punkt auf alltägliche und mediale Gespräche (z.B. Radiogespräche, Talkshows).
Cultural Studies und Sprachwissenschaft 241

Auch die Gattungsanalyse unterscheidet zwischen einer Außenstruktur (Beziehung


zwischen Gattung und Sozialstruktur) und einer Binnenstruktur (gattungskonstitu-
tive verbale und nonverbale Elemente). Hinzu kommt die Dimension der situativen
Realisierung (Organisation des dialogischen Austausches), die auf Techniken der
Gesprächsanalyse zugreift.4
Die durch diese Analyseschritte herausgearbeitete Textsorten- bzw. Gattungs-
haftigkeit von Medientexten ist ein wichtiger Aspekt der „textuellen Organisation
kultureller Formen“ (Johnson 1979), sofern sie den Erwartungshorizont der Rezi-
pienten vorstrukturiert und die sprachlichen Gestaltungsoptionen der Produzenten
einschränkt. Dies gilt auch für die textuelle Produktivität von Fans (Winter 1995)
und die kommunikative Aneignung von Medienangeboten, beispielsweise in Fami-
lientischgesprächen (Keppler 1994) oder im Smalltalk vor dem Fernseher (Hepp
1998, Holly et al. 2001). Die Rekonstruktion von Gattungs- bzw. Textmustern eröff-
net die Möglichkeit, kanonische von abweichenden, orthodoxe von unkonventionel-
len Realisierungen in verschiedenen sozio-medialen Kontexten zu unterscheiden.
Medienakteure verfügen über einen kreativen Spielraum der individuellen Ausge-
staltung, der je nach den institutionellen Rahmenbedingungen der Kommunikation
und in Abhängigkeit vom antizipierten Rezeptionskontext ausgelotet wird. Im Zuge
einer zunehmend pluralistischen Medienproduktion stellt der unorthodoxe Umgang
mit Textsorten bzw. Gattungen eine Ressource symbolischer Distinktion dar. Dies
lässt sich sehr gut am Rande des Mediensystems erkennen, wo die Möglichkeiten
für Innovation größer sind (vgl. Fiske 2001b: 208). Beispiele hierfür sind Fanzines –
unkommerzielle Publikationen von und für Fans einer kulturellen Praxis – und freie
Radios. Musik-Fanzines der 1990er Jahre bilden die Oberfläche und teilweise auch
die Struktur konventioneller Textsorten auf eine Art und Weise ab, die auf die spezi-
fischen Wissensbestände und Wertvorstellungen der Produzenten-Rezipienten-
Gemeinschaft verweist (Androutsopoulos 1999). Im freien Radio werden übliche
mediale Gattungen (z.B. Interviews) auf eine Weise realisiert, die auf die Program-
matik der freien Radios – „Entzauberung“ des Mediums, Bemächtigung der Hörer,
verändertes Macher-Hörer-Verhältnis, Nähe zur Sprache des Alltags – verweist
(Pinseler 2001). Das Experimentieren mit alternativen Realisierungen konventionel-
ler Muster ist in beiden Fällen ein zentraler Zug der sozialen Stilbildung. Das latente
Bemühen, die mediale Distanzkommunikation als eine private Situation umzude-
finieren, wird vom Fehlen marktwirtschaftlicher Zwänge und institutioneller Kon-
trolle erst ermöglicht und trägt dazu bei, dieses Fehlen immer wieder zu kontextua-
lisieren.

2.3 Vom Text zum Diskurs

In den letzten Jahren hat sich die Kritische Diskursanalyse als Konvergenzpunkt
medienanalytischer Forschung auf linguistischer Basis heraus kristallisiert. Die ver-
schiedenen Ansätze der Kritischen Diskursanalyse (CDA) gehen grundsätzlich vom
242 Jannis Androutsopoulos

Diskursbegriff von Michel Foucault aus und teilen ein kritisches, integratives und
interdisziplinär ausgerichtetes Forschungsprogramm mit dem Ziel, die diskursive
Konstruktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit aufzudecken.5 Während Text-
sorten- und Gattungsanalyse oft auf einer niedrigen Abstraktionsebene arbeiten und
sich auf die Analyse der Texturen einschränken, sieht CDA die linguistische Ana-
lyse nicht als Selbstzweck, sondern als Zugang zur Untersuchung einer nichtlinguis-
tischen Fragestellung an. Kritische Medienanalysen zeigen, wie sich gesellschaftli-
che Machtstrukturen und Wandelprozessesse (Rassismus, Nationalismus, Ge-
schlechterbeziehungen, Globalisierung) in Medientexten affirmativ oder negierend
niederschlagen.6
Diskursanalytische Methoden teilen grundsätzlich einen holistischen Zugang zur
Medienkommunikation. Auch wenn das empirische Hauptinteresse in der Regel dem
Medientext gilt, werden seine Produktions- und Rezeptionsbedingungen für die
Interpretation stets mit einbezogen. Aus Platzgründen beschränke ich mich auf eine
Skizze der methodischen Programmatik von Fairclough (1992). Er schlägt ein Drei-
Ebenen-Modell vor, das Text, Diskurspraxis und soziokulturelle Praxis miteinander
verbindet. Die „Sockel“ des Ansatzes ist eine Text- oder Gesprächsanalyse, die mit
einer Auswahl aus den oben angeführten Kriterien operiert. Je nach Material werden
grammatische Strukturen, Kohäsion (formale Textstruktur), Wortbedeutungen, For-
mulierungen, Metaphern, Gesprächsstrukturen und Höflichkeit analysiert. Die Ana-
lyse der Diskurspraxis untersucht die sozialen Aktivitäten der Textproduktion und
Textrezeption, die Beziehung des Textes zu anderen Texten (Intertextualität) und die
Spuren verschiedener Diskurse im Text (Interdiskursivität). Die beiden Ebenen ver-
binden sich zu einer Prozessanalyse, die Textstrukturen vor der Folie ihrer Produkti-
ons- und Rezeptionsbedingungen interpretiert. Die Prozessanalyse verbindet sich
wiederum auf einer höheren Ebene mit einer sozialtheoretisch ausgerichteten Ana-
lyse der soziokulturellen Praxis, die danach fragt, wie sich die untersuchte Diskurs-
praxis auf zu Grunde liegende Diskursordnungen bezieht und zur Reproduktion
bzw. Transformation dieser Diskursordnungen beiträgt. Das Pendeln zwischen dem
Text bzw. Gespräch, seinem Diskurskontext und dem größeren ideologischen und
sozialen Zusammenhang ist konstitutiv für den Ansatz von Fairclough (1995).
Die wichtigste Parallele der linguistischen Diskursanalyse in den Cultural Stu-
dies ist die Arbeit von Fiske (vgl. Fiske 1987; Winter/Mikos 2001). Fiske rahmt
seine Analysen popkultureller Texte in ein ebenfalls auf Foucault aufbauendes Dis-
kurskonzept ein, das Sprache als zentrale symbolische Ressource des Mediendis-
kurses hervorhebt. Seine Verständnis von der Äußerung als „Verwirklichung des
linguistischen Potenzials in einer historischen sozialen Beziehung“ (Fiske 2001b:
204) ist durchaus vereinbar mit der in der CDA üblichen Kurzdefinition von Diskurs
als Sprache in ihrem sozialen Kontext (Fairclough 1995; Titscher et al. 1998;
Wodak et al. 1998). Als Pendant zu Faircloughs Interdiskursivität zeigt Fiskes Ana-
lyse von Madonna-Videoclips (2001a), wie sie Spuren verschiedener Diskurse
enthalten und zur Reproduktion, aber auch zum Wandel dieser Diskurse beitragen.
Cultural Studies und Sprachwissenschaft 243

3 Theoretische Impulse und empirische Ergebnisse

Maas‘ Hoffnung, dass die Cultural Studies „als Angelpunkt“ dienen könnten, „um
Konstitutionsfragen sprachwissenschaftlicher Forschung produktiv zu halten“ (Maas
1980: 118), ist heute zum Teil eingelöst worden. Bereits die Germanistik der 1980er
Jahre hat den Bricolage-Begriff auf die Analyse jugendlicher Sprechstile übertragen.
Die britische Soziolinguistik der 1990er Jahre greift die Diskussion um kulturelle
Globalisierung und neue Ethnizitäten für die Analyse von Sprachkontakt in mul-
tiethnischen Gemeinschaften auf. Die Spannung zwischen globaler und lokaler Pop-
kultur wird an sprachlichen Aspekten der Hip-Hop-Kultur untersucht, und die kom-
munikative Aneignung von Fernsehtexten ist zum Gegenstand der Gesprächsfor-
schung geworden.

3.1 Bricolage und jugendliche Sprechstile

Ursprünglich von der strukturellen Anthropologie von Claude Levi-Strauss über-


nommen, geht Bricolage in die Begrifflichkeit der britischen Subkulturforschung der
1970er Jahre ein, um Prozesse der Herausbildung eines subkulturellen Stils zu erfas-
sen. Der Bricoleur nimmt Objekte aller Art aus ihrem ursprünglichen Zusammen-
hang heraus und integriert sie in einen neuen Kontext, wo sie Homologien zu ande-
ren Objekten bilden und einen neuen Sinn gewinnen (Clarke et al. 1979; Hebdidge
1979). In die germanistische Diskussion über Jugendsprache führt Neuland (1987)
Bricolage als Alternative ein, um eindimensionalen Auffassungen von Jugendspra-
che (z.B. als Liste lexikalischer Besonderheiten) zu entkommen und die Verdichtung
verschiedener Ressourcen zu gruppenspezifischen Sprech- bzw. Schreibstilen zu
begreifen. War Sprache in den CCCS-Studien nur eines der „Materialien, die der
Gruppe zur Konstruktion subkultureller Identitäten zur Verfügung stehen“ (Clarke et
al. 1979: 104), wird sie nun als zentrale stilbildende Ressource in den Mittelpunkt
gerückt. Neulands Beispiele „für eine schöpferische Sprachstil-Bastelei im Sinne
einer Selektion von Sprachelementen [, die] unter Zugewinn von Bedeutungsdi-
mensionen transformiert und rekontextualisiert werden“ (1987: 72) sind jedoch aus
dem Zusammenhang losgelöste Wörter und Wendungen. Erst Schlobinski (1989)
und Schlobinski/Kohl/Ludewigt (1993) gelingt es zu zeigen, wie die „Sprachstil-
Bastelei“ im Gespräch Jugendlicher funktioniert. Dabei werden mediale Ressourcen
(Werbeslogans, Songzitate, Sprüche aus Fernsehserien usw.) ausgewählt, teilweise
abgewandelt, miteinander kombiniert und in die laufenden Gespräche eingebunden.
Die Art ihrer interaktiven Verarbeitung lässt Rückschlüsse auf die kulturelle Identi-
tät der Jugendlichen zu. Schlobinski (1989) zeigt dies am Beispiel einer Clique von
Punks, die das Handlungsmuster eines Fernsehquiz mit obszönen Inhalten ausfüllt.
244 Jannis Androutsopoulos

Durch die ironische Verfremdung der Show grenzt sich die Clique von der kleinbür-
gerlichen Fernsehkultur ab. Dieser verfremdeten Zitation stellt Schlobinski die
mimetische Zitation entgegen, bei der positiv gewertete Ressourcen als Zeichen der
Gruppenidentität reproduziert werden – beispielsweise gemeinsam nachgesungene
Lieblingssongs. In der sprachlichen Bricolage wird also Gruppenidentität durch die
Auswahl der positiv (mimetisch) und negativ (verfremdend) verarbeiteten Medien-
ressourcen indexikalisch konstruiert.

3.2 Neue Ethnizitäten und „language crossing“

In seinen einflussreichen Schriften über kulturelle Identität sieht Stuart Hall (1991a,
1991b, 1994) drei mögliche Konsequenzen der Globalisierung für kulturelle Identi-
täten: die Erosion nationaler Identitäten, ihre Stärkung als Widerstand gegen die
Globalisierung, und die Entstehung neuer Identitäten der Hybridität (1994: 209).
Hall zufolge eröffnet die Destabilisierung nationaler Identitäten in der Spätmoderne
einen Raum für die Entfaltung neuer Ethnizitäten, die anti-essenzialistisch, pluralis-
tisch, performativ, flüssig und hybrid sind. Wie sich kulturelle Hybridität in der All-
tagskommunikation manifestieren kann, hat als erster Hewitt an multiethnischen
Gemeinschaften in England aufgezeigt (Hewitt 1986). Dort sind „black speech“ und
weitere Aspekte afro-diasporischer Kultur attraktive Ressourcen für Jugendliche aus
anderem ethnischen Hintergrund. In der Nachfolge Hewitts hat Rampton Halls Ideen
in die soziolinguistische Diskussion um Sprache und Ethnizität eingebracht mit dem
Ziel, statische Zuschreibungen ethnischer Zugehörigkeit zu überwinden und in der
verbalen Interaktion zu untersuchen, wie „participants might themselves see ethni-
city as something produced rather than simply given“ (Rampton 1995b: 487). Hin-
weise auf die interaktive Produktion hybrider Ethnizitäten bietet die Ausprägung
von Sprachkontakt, die Rampton „language crossing“ genannt hat (Rampton 1995a,
1995b, 1997). Er entwickelte das Konzept im Rahmen einer Ethnografie von eth-
nisch gemischten Jugendgruppen, die sich Fragmente aus den lokal verfügbaren
Sprachen (afro-karibischem Kreol, Punjabi und stilisiertem „Asian English“) aneig-
nen. Crossing ist eine fragmentarische, unnormierte und unerwartbare Sprachpraxis,
bei der Sprecher in ihnen „fremde“ sprachliche Territorien hineinwandern; das
sprachliche Überqueren einer ethnisch-sozialen Grenze ist das zu vermittelnde Bild.
Ramptons Methodologie kombiniert Ethnografie und Gesprächsanalyse und
geht von vier Dimensionen soziokultureller Organisation aus (Rampton 1995b:
489):
• Sprache als zentrales Element sozialen Handelns,
• Interaktionsordnung,
• Institutionelle Organisation von Kommunikation (Aktivitätstypen, soziale Rol-
len, Normen),
Cultural Studies und Sprachwissenschaft 245
• Gesellschaftliches Wissen über ethnische Gruppen und ihre Beziehungen
zueinander.
In den von Rampton untersuchten Peergroups ist Crossing ein Teil der lokalen Kom-
munikationskultur, gehört aber nicht der normalen Umgangssprache an, sondern bil-
det eine spektakuläre Abweichung vom habituellen, unauffälligen Sprachgebrauch.
Crossing setzt nur minimale Kompetenz der fremden Kodes voraus: einzelne Wörter
und Wendungen, Ausrufe, Beschimpfungen oder Akzentnachahmungen reichen aus,
um (stereotypische) Werte und Eigenschaften der eigentlichen „Inhaber“ dieser
Kodes zu vergegenwärtigen. So konnotiert das afro-karibische Kreol Erfahrung in
der jugendlichen Straßenkultur und eine rebellische Haltung gegenüber Autoritäten,
während das stilisierte „Asian English“ eine eingeschränkte kulturelle Kompetenz
oder eine Herrschaftsbeziehung zwischen (dominanten) Weißen und (untergeordne-
ten) Asiaten evozieren kann. Die Jugendlichen vergegenwärtigen diese Assoziati-
onen in Abhängigkeit von Situation und Gesprächspartner. Crossing erscheint typi-
scherweise in Momenten, in denen normale Annahmen und Regeln sozialer Ord-
nung aufgelockert oder aufgehoben sind – Übergangsphasen ohne klar definierte
Rollen, Spiele und Performances, rituelle Beschimpfungen. Allerdings werden die
angeeigneten Kodes ihren legitimen Trägern gegenüber nur eingeschränkt verwen-
det. In den spielerischen mehrsprachigen Interaktionen der ethnisch gemischten
Jugendgruppen sieht Rampton ein Emblem für interethnische Annäherungen, die
herkömmliche Diskriminierungen spielerisch überschreiten, und letztlich eine Form
von Antirassismus darstellen:
„Multilingual interaction emerges as an arena in which participants could generate a sense of
the historic emergence of new alliances, cross-cutting kinship descent, reworking inherited
memberships“ (Rampton 1995b: 487).
Die Diskussion in Anschluss an Rampton hat ähnliche Praktiken in verschiedenen
Sprachgemeinschaften aufgedeckt (vgl. Rampton 1999, Androutsopoulos 2003a).
Die Rolle der Massenmedien als Ressourcen für Crossing zeigt die Fallstudie eines
weißen New Yorker Jugendlichen, der Schallplatten, Videoclips und Filme als Quel-
len für die Konstruktion seines Hip-Hop-Sprechstils benutzt (Cutler 1999). Dass die
sprachliche Konstruktion hybrider Ethnizität nicht nur auf Crossing beschränkt ist,
zeigt Harris (2003), der Hybridität in der Sprache von Punjabi-Jugendlichen in Lon-
don an zwei Merkmalen festmacht: das t-Glottaling7, ein sich verbreitendes urbanes
Nonstandardmuster, und die lexikalischen Formen cousin-brother/cousin-sister,
wodurch die Jugendlichen versuchen, die in den Sprachen Indiens vorhandene
Geschlechtsmarkierung des Ausdrucks für ‚Cousin/Cousine‘ auch im Englischen
herzustellen. Harris bezeichnet diese Merkmale mit Rückgriff auf Raymond Wil-
liams als „emergent“ bzw. „residual“ und sieht in ihnen zwei mikroskopische
Momente der Verbindung des Neuen und des Alten in der Entstehung einer neuen
Ethnizität.
246 Jannis Androutsopoulos

3.3 Kulturelle Globalisierung und lokaler Hip-Hop

Die Cultural Studies-Diskussion um kulturelle Globalisierung setzt der „Vorstellung


einer vollständigen kulturellen Homogenisierung“ (Winter 2001a: 289) eine „neue
Artikulation zwischen dem Lokalen und dem Globalen“ (Hall 1994: 213) entgegen.
Zentral für sie ist die Art und Weise, in der global vermittelte populäre Kultur in
lokale Lebenswelten angeeignet und dort mit Bedeutung aufgeladen wird. Die
Rezeption „importierter“ Popkultur kann ein Vorbild für Eigenproduktionen bilden,
in denen Erfahrungen und Probleme der Beteiligten verarbeitet werden (vgl. Winter
2001a: 296f.). Die Rekontextualisierung globaler Kultur – eine „active cultural
selection and synthesis drawing from the familiar and the new“ (Lull 1995) – setzt
die hegemoniale Stellung der US-amerikanischen Kulturindustrie nicht zwingend
außer Kraft. Der Fokus liegt jedoch auf der kreativen und reflektierten Leistung der
Beteiligten, die massenmediale Kultur mit lokalen kulturellen Ressourcen kom-
binieren.
Ein Musterfall für die „Spannung zwischen dem Lokalen und dem Globalen“
(Hall 1994: 212) ist die Hip-Hop-Kultur. Praktiken der kulturellen Lokalisierung fin-
den sich auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Zirkulation von Hip-Hop: Rapsongs
und Videoclips (Primärtexte), Szenemagazine und -werbung (Sekundärtexte),
Gespräche und Eigenproduktionen der Fans (Tertiärtexte).8 So greift der lokalisierte
Rap9 den afro-amerikanisch geprägten thematischen Kanon der Gattung auf –
Sozialprotest und Erzählung von Alltagserfahrungen, Sex- und Kriminalitätsdis-
kurse, hyperbolische Selbstdarstellung (boasting) und Erniedrigung eines (fiktiven)
Gegners (dissing) – und füllt ihn durch lokale Inhalte aus. Er passt zentrale rhetori-
sche Mittel – Metaphern und bildhafte Vergleiche, Wortspiele und Reimstrukturen –
an lokale Wissensbestände und phonotaktische Regeln der jeweiligen Muttersprache
an. Er bewahrt die umgangssprachliche Orientierung des Rapsongs, nutzt Regional-
sprachen und Dialekte, um die Verortung der Künstler in der nationalen Szene zu
kontextualisieren, und fügt Elemente des Black English hinzu, die im Sinne von
„language crossing“ als Mittel der Selbststilisierung verstanden werden können.
Freilich ist die sprachstilistische Bricolage der Rapper nicht losgelöst von lokalen
Marktzwängen (Scholz 2003). Die Feststellung, „wie unterschiedlich das globale
Modell der Gattung Rap in verschiedenen lokalen Zielkulturen wirkt“ (Scholz 2003:
160), ist sicherlich ein gutes Argument gegen den Vorwurf einer globalen Homo-
genisierung von Jugendkultur.
Aneignung und Hybridität in der Interaktion von Hip-Hop-Fans beschreiben die
Untersuchungen von Bierbach/Birken-Silverman (2002). Anhand von Interviews
und Gesprächsaufnahmen mit einer Breakdance-Clique italienischstämmiger
Jugendlicher wird herausgearbeitet, wie Hip-Hop mit anderen Aspekten der sozialen
Realität der Jugendlichen – Verwurzelung im Mannheimer Stadtteil, ethnische Her-
kunft aus dem sizilianischen Dorf – kombiniert wird. In der Artikulation ihrer Grup-
Cultural Studies und Sprachwissenschaft 247

penidentität „schöpfen die Jugendlichen aus Wissensbeständen, die in hohem Maße


medienvermittelt sind und in unserem Fall auf spezifische – und kreative – Weise
mit Elementen aus der ‚Heimatkultur‘ der Migranten vermischt werden“ (Bier-
bach/Birken-Silvermann 2002: 192). Die Entwicklung eines gruppenspezifischen
„Zwischenraums“ wird programmatisch signalisiert durch die Umbenennung von
Personen und Stadtteilen (so wird die Weststadt zur West Coast). Elemente des
Gruppenstils sind die Anspielungen auf gemeinsames Hip-Hop-Wissen sowie die
kulturtypischen rituellen Handlungen des Boasting und Dissing, die durch Rückgriff
auf die Mehrsprachigkeit der Gruppe ausgestaltet werden. Deutsch, Italienisch, Sizi-
lianisch und Englisch tragen dabei sehr unterschiedliche symbolische Werte.
Im gegenwärtig wichtigsten Medium der Fan-Produktivität, dem Internet, rei-
chen die Praktiken der Hip-Hopper von der Teilnahme an dezidierten Chats und
Foren über die Erstellung einer privaten Band-, Künstler- oder Fan-Homepage bis
zum Mitwirken an den Online-Magazinen und Portalen der Szene (Androutsopoulos
2003b). Wie „globale“ Stilmittel in die Schriftlichkeit der Fans einfließen, zeigt
exemplarisch der Einsatz von Black English auf der Homepage einer 15-jährigen
Schülerin (Androutsopoulos 2003c). Sie eignet sich Hip-Hop typische Wörter und
Wendungen (fresh, mix up that shit, Artikelformen tha und da, Endung -z wie in
newz, Buchstabenersetzungen wie in $h!T für ‚shit‘) und rekontextualisiert sie an
emblematischen Stellen ihrer (ansonsten auf Deutsch gehaltenen) Homepage: Navi-
gationsrubriken (Tha Mix), Seitentitel (Welcome 2 tha World of A s p A), Überschrif-
ten im Text (Geetingz goes 2…). In diesen und anderen Online-Texten auftauchende
Schreibformen wie Pennerz oder Brudah, die umgangssprachlichen Wortschatz
durch eine für Hip-Hop typische Schreibweise verfremden, sind symptomatisch für
den hybriden Duktus des Hip-Hop-Diskurses in Deutschland. Der Einwand, dass
dadurch die Hegemonie der US-amerikanischen Kulturindustrie reproduziert werde,
ist für diese Autorin kaum relevant, da sie ihre Ressourcen aus ‚exklusiven‘ jugend-
kulturellen Quellen bezieht (etwa Platten von Wu-Tang Clan) und durch die Rekon-
textualisierung auf die Kenntnis eben dieser Quellen verweist.

3.4 Medienaneignung im Gespräch

Das Interesse der Cultural Studies für Medienaneignung eröffnet aus sprachwissen-
schaftlicher Sicht die Frage nach der interaktiven Verarbeitung von Medientexten in
der Lebenswelt der Rezipienten. Zuschauerkommunikation wird seit Holly/Püschel
(1993) und Keppler (1994) gesprächsanalytisch untersucht. Zentral ist dabei die
Unterscheidung zwischen primären (rezeptionsbegleitenden) und sekundären (nach-
träglichen) Medienthematisierungen.
In der Analyse von primären Thematisierungen hat sich eine Unterscheidung
zwischen formalen und funktionalen Aspekten des Zuschauergesprächs etabliert.10
Das Fernseh begleitende Sprechen umfasst u.a. organisierende, wahrnehmungsbezo-
gene, expressive, informationsbezogene, bewertende und interpretierende Sprech-
248 Jannis Androutsopoulos

handlungen. Als „empraktisches“, d.h. in eine andere Aktivität eingebundenes Spre-


chen weist es typische formale Merkmale wie starke Fragmentierung („Häppchen-
kommunikation“), Kontextabhängigkeit (durch ständige Verweise auf den Fernseh-
text) und die Bildung von „Gesprächsinseln“ zwischen längeren Pausen auf. Typi-
sche Funktionen des Zuschauergesprächs sind die Verständnissicherung und Inter-
pretation des Fernsehtextes, die Vermittlung von Fernseh- und Alltagswelt sowie die
Vergemeinschaftung der Zuschauer (Hepp 1997, Holly et al. 2001, Klemm 2000).
Die Handlungen und kommunikativen Funktionen des Fernseh-begleitenden Spre-
chens unterscheiden sich nach der rezipierten Gattung sowie nach Zuschauermilieus.
Verschiedene Zuschauergruppen entwickeln typische Rezeptionsstile (z.B. im
Hinblick auf die situative Rahmung des Fernsehens und den Grad ihrer Auf-
merksamkeit auf das Programm) und typische Gesprächsstile (z.B. im Hinblick auf
die Sprechhandlungen und die Länge der Gesprächsinseln).
Bei der sekundären Medienthematisierung umfasst die Begegnung von Rezi-
pient und Medientext nicht nur Gespräche über Medieninhalte (Keppler 1994), son-
dern auch die Aneignung sprachlicher Elemente aus den Medientexten. In ihrer Eth-
nografie der Fernsehrezeption zeigt Gillespie (1995: 178), wie Punjabi-Jugendliche
in London Sprachmittel aus Fernsehserien und Werbespots in ihre Alltagssprache
übernehmen. Nach Branner (2002) bilden solche Medienzitate eine eigene Kategorie
der sekundären Medienthematisierung. Im Gegensatz zu Medienverweisen (Keppler
1994) sind Medienzitate nicht immer thematisch in das laufende Gespräch eingebun-
den, und sie werden nicht immer von einem einzigen Sprecher geäußert, sondern oft
in der Gruppe gemeinsam konstruiert. Branner (2002) arbeitet die Form und Funk-
tion von Werbezitaten in einer Mädchengruppe anhand von mehreren Analysekri-
terien heraus. Der Stimulus (das kontextuell auslösende Moment für das Werbezitat)
kann sowohl gesprächsextern (z.B. am Werbeplakat vorbeifahren) als auch
gesprächsintern (z.B. Werbeslogan als Wortspiel zum aktuellen Thema) sein. Beim
Verhältnis von Originaltext und Zitat sind verschiedene Formen der Abwandlung zu
verzeichnen, vor allem lexikalischer und prosodischer Art. Durch lexikalische Sub-
stitution bei gleich bleibender syntaktischer Struktur (z.B. fett together nach come
together) entstehen kreative Sprüche, welche die augenblickliche Tätigkeit der Mäd-
chen oder Aspekte des Gruppenwissens aufgreifen und letztlich Beziehungskom-
munikation unter den Freundinnen leisten (Branner 2002: 348). Werbezitate können
von einer Sprecherin angeführt oder gemeinsam konstruiert. Auf der Gesprächs-
ebene sind sie beliebte Pausenfüller und Mittel der Gesprächsorganisation, auf der
sozialen Beziehungsebene eine Ressource für die Steigerung des Gruppenzusam-
menhalts.
Die Medienaneignungspraxis dieser Mädchengruppe ist kreativ, aber nicht kri-
tisch oder subversiv. Weder das Zitieren von Werbeslogans noch der Inhalt der
Zitate werden negativ bewertet (Branner 2002: 354). Dies unterscheidet sie von
anderen untersuchten Jugendgruppen, deren Aneignung von Medienzitaten starke
Parodiezüge aufweist (z.B. Schlobinski 1989). Gillespie (1995) dokumentiert, wie
der Name einer Seifenopern-Figur im alltäglichen Sprachgebrauch der jugendlichen
Zuschauer als Metapher für eine negativ bewertete soziale Kategorie angeeignet
Cultural Studies und Sprachwissenschaft 249

wird. Einen ganz ähnlichen Fall beschreibt Spreckels (2004), die auf ethnografisch-
gesprächsanalytischer Basis das soziale Kategoriensystem einer Mädchengruppe
untersucht. Die Gruppe benutzt den Eigennamen Britney (gemeint ist der Popstar
Britney Spears) als Bezeichnung für einen bestimmten Mädchentypus der lokalen
Lebenswelt. Die teils äußerlichen und teils verhaltensbezogenen kategoriengebun-
denen Eigenschaften der Britneys vermischen Züge des Popstars und der lokalen
Lebenswelt. Den „lokalen“ Britneys wird Coolness und Individualität aberkannt,
dementsprechend werden sie oft im Plural bzw. mit Quantoren referiert (die Brit-
neys; alle Britneys; die ganzen Britneys; bei den nächsten Britneys usw.). Dies ist
jedoch nicht als „Widerstand“ gegen die kommerzielle Popkultur schlechthin zu ver-
stehen. Die globale Popfigur bietet im lokalen Kontext eine Abgrenzungskategorie
an, wodurch die Mädchen letztlich an ihrer eigenen Gruppenidentität arbeiten.

4 Schlussbemerkung

Weitgehend unbemerkt von der kulturanalytischen Diskussion haben die Ideen der
Cultural Studies ihren Weg in die Soziolinguistik gefunden und dort Schule
gemacht. Besonders die gegenwärtige Diskussion um „language crossing“ und um
Medienaneignung im Gespräch lassen das Potenzial der Cultural Studies erkennen,
sich neben der Soziologie bzw. Kommunikations- und Medienwissenschaft als pri-
märe Bezugsdisziplin der sozial orientierten Sprachwissenschaft zu etablieren.
Unvermeidlich scheint dabei eine gewisse Fokusverschiebung von der Kritik des
Verhältnisses von Kultur, Medien und Macht hin zu den sprachlichen und interakti-
ven Details des Diskurses in bzw. um Medien. Im interdisziplinären Austausch liegt
die Stärke der Sprachwissenschaft nicht darin, gesellschaftliche Wandelprozesse
theoretisch zu verorten, sondern vielmehr darin, den Niederschlag dieser Wandel-
prozesse in den Texturen unseres kommunikativen Alltags und unserer Medienland-
schaft herauszuarbeiten.11 Andererseits sind es eben diese Details, die einen
Erkenntnisgewinn für die kulturanalytische Theoriebildung darstellen können,
indem sie Hybridisierung, Bricolage, Medienaneignung und kulturelle Lokalisierung
als sprachliche Prozesse aufzeigen, was wiederum erst auf Grund einer spezialisier-
ten Text- und gesprächsanalytischen Methodologie ermöglicht wird. Ob und wie das
sprachwissenschaftliche Potenzial in die methodologische Bricolage der Cultural
Studies eingebracht wird, hängt jedoch letztlich vom wissenschaftlichen Hinter-
grund der Kulturanalytiker ab, die – hier zu Lande wie im englischsprachigen Raum
– nur selten eine sprachwissenschaftliche Ausbildung hinter sich haben.
250 Jannis Androutsopoulos

Anmerkungen

1 So kommt die Einleitung zu einem aktuellen Sammelband über die Konsequenzen von
Hybridität und Migration für die Sprachwissenschaft ohne Bezug auf die Cultural Studies
aus (Erfurt 2003). Eine frühe Ausnahme ist Maas (1980), der die britischen Cultural Stu-
dies der sprachwissenschaftlichen Fachwelt vorstellt, ohne jedoch konkrete Anschluss-
möglichkeiten nachzuzeichnen.
2 „Für ein spezifisches Forschungsprojekt werden aus verschiedenen wissenschaftlichen
Feldern Theorien und Methoden nach pragmatischen und strategischen Gesichtspunkten
ausgewählt, kombiniert und angewendet“ (Winter 2001b: 47).
3 „Da sich die Gattungsanalyse auf verfestigte Muster konzentriert, hebt sie vor allem jene
Merkmale hervor, die rekurrent auftauchen und damit das Gerüst eines Musters bilden, für
das wir den Begriff der Struktur verwenden. Struktur in diesem Sinne bedeutet also […]
lediglich eine von den Analytikern gebildete Kategorie, um diejenigen Elemente zu
bezeichnen, die von den Handelnden typischerweise produziert und reproduziert werden“
(Knoblauch/Raab 2003: 142).
4 Zur Textsortenanalyse vgl. Adamzik 2000; Brinker et al. 2000; Klein/Fix/Habscheid
2001; zur Gattungsanalyse vgl. Günthner 1995; Knoblauch/Luckmann 2004;
Knoblauch/Raab 2003.
5 Einführende Übersichten bieten Titscher et al. 1998 und Wodak/Meyer 2001. Zum Ver-
hältnis von Diskursanalyse und Cultural Studies vgl. Barker/Galasinski 2001; Hornscheidt
2003; Threadgold 2003.
6 Vgl. van Dijk 1991; Fairclough 1995; Jäger 1999; Machin/Thornborrow 2003; Wodak et
al. 1998.
7 Ersetzung von /t/ durch einen „glottal stop“ (Glottisschlag, Knacklaut) in Wörtern wie
butter und water.
8 Vgl. Androutsopoulos 2003c in Anlehnung an Fiske 1987.
9 Zur Lokalisierung von Rap vgl. Androutsopoulos/Scholz 2002; Scholz 2003 ;und die Bei-
träge in Androutsopoulos 2003 und Kimminich 2003.
10 Vgl. im Folgenden Hepp 1997; Holly/Püschel 1993; Holly/Püschel/Bergmann 2001;
Klemm 2000.
11 Rampton sieht den Ertrag der Soziolinguistik in der Erkundung der „detailed contingen-
cies that shape and constrain contact, mixing and hybridisation as situated processes“
(1997: 75).

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Cultural Studies und avancierter Musikjournalismus in
Deutschland

Ralf Hinz

1 Einleitung

Wer populäre Kultur anbietet, möchte möglichst gut über die Vorlieben der Nachfra-
genden informiert sein, die man durch geeignete Produkte, Programme und Ereig-
nisse zu bedienen versucht. Es sind natürlich dennoch nicht die Konsumenten, die
das Angebot bestimmen, aber die Anbieter dürften sehr daran interessiert sein, mög-
lichst umfassende Erkenntnisse über das unbekannte Wesen ‚Konsument‘ zu sam-
meln, um dann dieses Wissen bei der Vermarktung ihrer Ware zu instrumenta-
lisieren. Vorreiter einer solchen unumwunden an den kommerziellen Interessen der
Anbieter orientierten Erforschung des Publikumsgeschmacks waren bekanntlich ein-
schlägige Meinungsforschungsinstitute in den USA. Dort hat man sich allerdings
auch schon recht früh unabhängig von kommerziellen Interessen und ohne die in
Europa dominanten bildungsbürgerlichen Vorbehalte dem Phänomen ‚populäre Kul-
tur‘ zugewandt. So verweist David Riesman bereits 1950 darauf, dass von einem
vereinheitlichten Publikum der populären Kultur keine Rede sein könne, vielmehr
davon auszugehen sei, dass das Publikum in eine Vielzahl von Untergruppen mit
unterschiedlichen Interessen und Vorlieben zerfalle.1
An diese Einsicht knüpfen dann bekanntlich die Cultural Studies an, die in den
USA seit Ende der 1980er Jahre einen rasanten Aufschwung nehmen. Demgegen-
über fristet ein ernsthaftes, wissenschaftliches und nicht unmittelbar kommerziell
ausgerichtetes Interesse an populärer Kultur in Deutschland, das sich nicht gleich als
jugend- oder kultursoziologisches auszuweisen bemüht, immer noch ein Schatten-
dasein. Zwar hat der erfolgreiche Aufstieg der Cultural Studies in den USA mittler-
weile hier zu Lande größere Aufmerksamkeit im akademischen Feld gefunden,2
doch bislang hat sich wenig an der Situation geändert, dass nur eingeschränkte Mög-
lichkeiten bestehen, sich an bundesdeutschen Universitäten und Hochschulen dem
Studium populärer Musik, populärer Fernsehserien und anderer medialer Erzeug-
nisse zu widmen. Allerdings machen in den Geisteswissenschaften seit einigen Jah-
ren vermehrt Bestrebungen auf sich aufmerksam, die auf eine kulturwissenschaftli-
che Erneuerung der philologischen Disziplinen abzielen, und auch eine breitere
Rezeption der Cultural Studies scheint in Gang zu kommen. Während sich also for-
256 Ralf Hinz

schungspraktische Konsequenzen, die eine kontinuierliche Beschäftigung mit popu-


lärer Kultur in Aussicht stellen, in den letzten Jahren bestenfalls zaghaft andeuten,
lässt sich hingegen in der Musikzeitschrift Spex. Das Magazin für Popkultur3 schon
seit den frühen 1990er Jahren ein starkes, wenn auch diskontinuierliches Interesse an
den anglo-amerikanischen Cultural Studies feststellen: Wichtige Publikationen der
Cultural Studies und zentrale theoretische Versatzstücke, die in diesem akademi-
schen Feld immer wieder bemüht werden, sind dort schon deutlich vor dem einset-
zenden akademischen Interesse am Thema diskutiert und auf aktuelle musik- und
pop-journalistische Gegenstände appliziert worden.4
Im folgenden Beitrag wird es darum gehen, einige Überlegungen zum hiesigen
Verhältnis zwischen avanciertem Musikjournalismus5 und Cultural Studies anzustel-
len. Dazu scheint es zunächst sinnvoll zu sein, die spezifische Betrachtungsweise
von Popkultur, die die Zeitschrift Spex auszeichnet, genauer zu untersuchen. Dann
gilt es, einige Stationen der Rezeption der Cultural Studies in Spex exemplarisch zu
vergegenwärtigen. Abschließend sollen sowohl Berührungspunkte als auch Dif-
ferenzen in der Wahrnehmung und Bewertung populärer Kultur, wie sie in den Cul-
tural Studies und in einem journalistischen Medium wie Spex zu beobachten sind,
diskutiert werden.6

2 Grundzüge des Pop-Diskurses in Spex

Im Mittelpunkt des Interesses von Spex als Musikzeitschrift steht natürlich das Ge-
schehen in der Popmusik; man richtet sich mit mehr oder weniger intensiver und
kontinuierlicher Aufmerksamkeit auf die vielfältigen musikalischen Stilrichtungen,
die sich in den letzten zwanzig Jahren seit dem Einschnitt durch Punk und die Fol-
gen herausgebildet haben. Das journalistische Rückgrat der Zeitschrift ist eine per-
sonell fluktuierende Gruppe von jungen Autorinnen und Autoren, zu deren
Gemeinsamkeiten eine intensive popkulturelle Sozialisation, ästhetische und intel-
lektuelle Schulung an Kunstakademien und Universitäten und ein wie auch immer
diffuses linksradikales politisches Kredo gehören. Das primäre sinnliche Vergnügen
an der jeweiligen Musik ist Ausgangspunkt der journalistischen Arbeit in Spex.
Doch erst die wenig gelehrte, eher handstreichartige Aneignung avancierten theore-
tischen Instrumentariums und die idiosynkratischen Formen der Selbsterschaffung,
welche sinnliche Affizierung mit gewagten Abgrenzungen, apodiktischen Setzungen
und/oder mit rätselhaften, seltsamen, voraussetzungsvollen, raffiniert witzigen
Anspielungen kombinieren,7 machen den spezifischen Duktus dieser Zeitschrift aus,
deren Auseinandersetzung mit den vielfältigen Produkten populärer Kultur zudem
den freilich prekären Vorteil einer schnellen Reaktion auf die oftmals flüchtigen
Konjunkturen der Popkultur für sich reklamieren kann.8
Die für die Produktion von Textbedeutungen stets konstitutive Bildung von
Kontexten wird in Spex exzessiv betrieben, so dass sich etwa das scheinbar schlichte
Geschäft einer Plattenbesprechung zu einem Geflecht aus Referenzen und Abgren-
Cultural Studies und avancierter Musikjournalismus in Deutschland 257

zungen auswächst, die auf so verschiedene Lebenspraxen wie Politik, Theorie/Wis-


senschaft, Medien rekurrieren. Das Bestreben richtet sich darauf, die jeweils verhan-
delte Musik als wie auch immer aufschlussreiches Statement in einer spezifischen
Situation, als sinnliches Korrelat einer Haltung kenntlich zu machen. Anders als in
der philologischen Wissenschaft, deren Geschäft darin besteht, mehr oder weniger
kanonisierte, meist als bedeutungsvoll bereits vorausgesetzte Texte in Kontexte zu
überführen, auf dass sich weitere Bedeutungsschichten ergeben, wobei die Unab-
schließbarkeit dieses Prozesses gern mitreflektiert wird, betreibt man Kontextua-
lisierung im Feld des avancierten Pop-Journalismus. Zu aussagekräftigen, verbindli-
chen Urteilen über popkulturelle Gegenstände möchte man dort nicht erst im Zuge
zäher Forschungsarbeit gelangen; vielmehr gilt es, eine ausschweifende rhetorische
und ästhetische Einbildungskraft zu mobilisieren, die sich dem Zeitdruck des schnel-
len Wechsels der Pop-Ereignisse zugleich ausgesetzt sieht und ihn im präsentisti-
schen Bewusstsein der Pop-Avantgarde gern annimmt.9
Zwar ist die Publikumsresonanz, die der Zeitschrift zuteil wurde, in den letzten
Jahren eher konstant geblieben,10 doch seit den späten 1980er Jahren rückte Spex zu
einem Organ auf, dem der journalistische Diskurs über Popmusik seine, wenn auch
oft mit polemischer Spitze vorgetragene Reverenz erweist. Im Spiegel wird es in den
Artikeln über aktuelle Pop-Acts notorisch als „Fachblatt“ apostrophiert, und ebenso
in der popkulturell mittlerweile etwas aufgeschlosseneren FAZ interessiert man sich
dafür, was in jüngster Zeit „dem führenden Organ für subkulturelle Geschmacksbil-
dung die Sprache […] verschlagen“ habe.11 In eher der Fanzine-Welt zurechenbaren
Publikationen stößt man sich immer wieder am Ehrgeiz des Magazins, eine überle-
gene diskursive Position im Feld konkurrierender Interpretation und Bewertung von
Popmusik einnehmen zu wollen.

3 Zur Rezeption der Cultural Studies in Spex

Die Wahrnehmung der Cultural Studies in Spex vollzieht sich zunächst – wie sollte
es bei einem akademischen Gegenstand anders sein – über die Rezension von Buch-
publikationen aus diesem Feld. Bücher von S.Frith/A. Goodwin und S. Redhead, die
sich mit avancierten theoretischen Mitteln der Analyse von Pop- und Subkulturen
widmen, werden begeistert („hervorragendes neues Buch“) (Spex 9/90: 71f.) bzw.
wohlwollend (bessere „Bibliografien“ als „Diskografien“) (Spex 3/91: 71) auf-
genommen. Bei der Besprechung von „On Record“ (Frith/Goodwin 1990) wird
bereits deutlich, dass neben der Freude über eine sachkundig zusammengestellte
Sammlung von Aufsätzen über Popmusik, die sich mit großer Ernsthaftigkeit dem
Gegenstand widmen, besondere Aufmerksamkeit jenen Beiträgen gilt, die mit Mit-
teln poststrukturalistischer Theorie die Geschlechterverhältnisse in der Popmusik zu
analysieren versuchen. So wird in der sehr knappen geratenen Kritik aus einer „laca-
nistische(n) Analyse zum Thema ‚Girlism‘“ (Spex 9/90: 72) wörtlich zitiert.
258 Ralf Hinz

Unter dem Titel „Counter-Culture in the original language“ wird eine ganze
Reihe einschlägiger Veröffentlichungen zum Thema vorgestellt: Darunter finden
sich zwei für die Cultural Studies-Diskussion der 1990er Jahre wichtige Bücher von
E. Ann Kaplan (1987) und Andrew Ross (1989). Klage führt man über das man-
gelnde Interesse hier zu Lande an diesen und ähnlichen Publikationen: „Die besten
Bücher über Pop-, Underground- und Gegenkultur erscheinen natürlich immer noch
im Westen und werden nie übersetzt.“12. Im weiteren Verlauf der 1990er Jahre fin-
den sich in Spex immer wieder Referenzen auf den Cultural Studies-Komplex. So
wird subkulturelle Fernsehaneignung thematisiert (Spex 10/93: 6), man betreibt
„Studies in TV“ (Spex 5/94: 30-37), räumt dem Stichwort „Cultural Studies“ Platz
im Rückblick auf das Jahr 1994 ein (Spex 1/95: 34), weist regelmäßig auf Veranstal-
tungen hin, in denen typische Cultural Studies-Themen verhandelt werden und wid-
met sich dem Thema schließlich ausführlich in Sonderteilen in zwei Heften aus dem
Sommer 1995 (Spex 7/95: 48-55; 8/95: 46-51) und in einem Update aus dem Jahre
1997 (Spex 6/97: 58-62).
Nimmt man noch den Artikel über Ross hinzu (Spex 11/96: 48-50), dann lässt
sich ein zentraler Aspekt der Cultural Studies-Rezeption in Spex so resümieren: Mit
Dick Hebdige, Simon Frith und eben Andrew Ross stellt man wichtige Exponenten
der Cultural Studies vor, die mit ihren Publikationen Maßstäbe in der Behandlung
von Pop- und Subkulturen geleistet haben (vgl. Hinz 1998: Kap. 4); dabei wird
besonders im Gespräch mit Hebdige der biografische und institutionelle Hintergrund
akademischer Arbeit im Feld der Cultural Studies deutlich. Freilich kann man im
Rahmen einer Musikzeitschrift keine eingehende Auseinandersetzung mit der
genauen Argumentation der genannten Autoren in ihren wichtigsten Publikationen
erwarten. Die erwähnten Artikel sind vielmehr bestrebt, auf ansprechende Weise die
Aufmerksamkeit des Lesepublikums auf einen Modus der Beschäftigung mit popu-
lärer Kultur zu lenken, der hier zu Lande immer noch mit dem Makel des Illegiti-
men, Unseriösen, Unwissenschaftlichen behaftet ist.
Der Artikel „Kulturwissenschaften zu Cultural Studies“ (Holert 1995b) beschäf-
tigt sich mit den Möglichkeiten, Cultural Studies an bundesdeutschen Hochschulen
als Studienfach zu belegen. Es wird deutlich, dass trotz des Vorhandenseins ver-
schiedener kulturwissenschaftlich orientierter Studiengänge im deutschsprachigen
Raum oft nur eine vage Ähnlichkeit zu dem zu erkennen ist, was in den anglo-ame-
rikanischen Ländern zum Kernbereich der ‚Cultural Studies‘ zählt: nämlich „eine
Erörterung von Unterhaltungstechnologien oder Populärkultur in Hinsicht auf Chan-
cen der Resistenz oder Sichtbarmachung von Minderheiteninteressen“. In dieser
Situation kommt es für die an den genannten Themen interessierten Studierenden
nicht nur darauf an, ob sich ein geeignetes Lehrpersonal an den entsprechenden
Fakultäten geistes- und sozialwissenschaftlicher Provenienz befindet, wie Holert
(1995b: 50) zu Recht vermerkt. Viel hängt auch davon ab, auf welche Vorkenntnisse
die Studierenden in den entsprechenden Veranstaltungen bereits zurückgreifen kön-
nen und welche wissenschaftlichen und politischen Interessen sie an den jeweiligen
Cultural Studies und avancierter Musikjournalismus in Deutschland 259

Hochschulen und in den einzelnen Fakultäten zu artikulieren fähig sind. Dass solche
Voraussetzungen auf möglichst breiter Basis gegeben sind, dazu kann vielleicht
auch die in Spex geleistete Rezeption der Cultural Studies ein wenig beitragen.
Da von einer genuinen Theoriebildung innerhalb der Cultural Studies bislang
keine Rede sein kann, greifen die in diesem Feld tätigen Intellektuellen auf verschie-
dene Theorieangebote zurück, die im akademischen Raum zirkulieren und über ein
gewisses Prestige verfügen. Bekanntlich ist Durchsetzung neuer wissenschaftlicher
Themen vielfach an das Auftreten von Theorien geknüpft, die den Gegenstands-
bereich wissenschaftlicher Forschung auf neue, andere Weise zu betrachten lehren.
So haben semiotische, später poststrukturalistische Argumentationsfiguren daran
mitgewirkt, traditionelle Kultur- und Lektüremodelle zu erschüttern, während sich
Vertreter ideologiekritischer Verfahrensweisen dem Verdikt der prominentesten
Vertreter dieses Ansatzes gegen eine ernsthafte Beschäftigung mit Gegenständen
populärer Kultur anschlossen. Auch in Spex konnte man sich der Faszination post-
strukturalistischer Theorie nicht entziehen: Mit deren Hilfe wollte man vor allem
darlegen, welche Mechanismen in machtgestützten Diskursen dazu dienen, den Sta-
tus geschlechtlich, sexuell und ethnisch benachteiligter und diskriminierter Gruppen
zu perpetuieren, aber auch Möglichkeiten aufzeigen, welche symbolischen Strate-
gien geeignet sind, den skizzierten Prozess zu konterkarieren.
Von dem zu Beginn der 1990er Jahre omnipräsenten Ziek über Hall, Deleuze,
Guattari bis hin zu Vertretern des Postkolonialismus wie Gilroy reicht das Spektrum
der in Spex gefeierten poststrukturalistischen Intellektuellen. Mikos (1999) vermerkt
mit Blick auf Spex, dass „vor allem die textanalytisch orientierten, mit poststruktura-
listischem und feministischem Gedankengut angereicherten US-Cultural Studies in
den intellektuellen Diskurs […] integriert werden (konnten).“ Dem Autor ist aller-
dings zu widersprechen, wenn er Holert (1995a) vorwirft, dass dieser sich der Ver-
wischung eines hinlänglich scharfen Begriffs dessen, was zu den Cultural Studies zu
rechnen sei, schuldig gemacht habe. Dieser verweist dort nur auf den prekären Sta-
tus der Cultural Studies zwischen Wissenschaft und Kunst. Er schreibt, dass „Wis-
senschaftsprosa auch Dichtung/Fiktion sein kann bzw. (einen Schritt weiter gedacht)
unweigerlich Dichtung/Fiktion ist.“ Neben anderen wird dann F. Kittler als Beispiel
für jene Autoren angeführt, die sich sowohl durch „Themenwahl“ als auch „durch
Form und Stil auf einer Grenze“ bewegen. Im folgenden Heft gibt gerade Holert
(1995b) zu bedenken, dass Vorsicht bei wissenschaftlichen Etikettierungen geboten
sei. So betreibe der an einem Institut für Kulturwissenschaften tätige Kittler „dekon-
struktivistische Kriegshistoriografie- und Technikgeschichte“. Mikos macht es sich
im Übrigen zu leicht, wenn er das sozialwissenschaftliche Erbe der Cultural Studies
gegen ihre aktuelle, stärker geisteswissenschaftlich orientierte Rezeption auszuspie-
len versucht13.
Fraglich ist allerdings, ob es des immensen Theorieaufwands bedarf, der sowohl
in den Texten prominenter Vertreter der Cultural Studies als auch in den davon
inspirierten Kritiken, Artikeln und Essays von Autoren aus dem Feld des avancierten
Musikjournalismus zu beobachten ist, um z.B. zu Einsichten darüber zu gelangen,
welche sexistischen und rassistischen Sprachregelungen und Präsentationsformen in
260 Ralf Hinz

medialen Diskursen anzutreffen sind und wie diese symbolisch funktionieren. Dar-
über hinaus scheint mit der Dominanz des wenig lesefreundlichen postmodernen
Jargons und seiner penetranten Rede von Identitäten, Einschreibungen, Differenzen
und Repräsentation das Sensorium für wichtige feinere und gröbere Unterschiede zu
schwinden. Auch ohne Rückgriff auf diffuse, globalisierende Begriffe wie Kontroll-
gesellschaft14 scheint es möglich zu sein, sich in kritischer Lektüre zentraler Texte
von Karl Marx und Pierre Bourdieu jene theoretischen Werkzeuge anzueignen, die
zur Analyse und Kritik der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse taugen.
Damit ist nicht gesagt, dass die genannten Theoretiker in Spex verabschiedet worden
sind; eine postmoderne Generallinie in Theoriefragen existiert dort nicht,15 und
Widersprüche, die weder durch Synthetisierung konkurrierender theoretischer Tradi-
tionen noch durch Entscheidung zwischen ihnen auszuräumen sind, werden offen
eingestanden. So träumte Diederichsen (1991: 77) zwar Ende 1991 von „marxisti-
sche(n) Lacanianer(n) […] und Dekonstruktivisten“, räumte jedoch noch im glei-
chen Satz ein:
„[…] wozu sollte man auch verschmelzen, was nicht zusammengehört, solange es dafür
keinen Grund in der Logik eines spezifischen Aktivismus gibt, wie in den USA, wo man den
‚linken‘ Gebrauch der ‚Franzosen‘ seit Jahren beobachten kann […].“ (Diederichsen 1991:
77)
Von dem „völlig undifferenzierte(n) Gefühl, von französischem Poststrukturalismus
die Schnauze voll zu haben“, berichtet Terkessidis (1994: 9) in umgangssprachlicher
Direktheit, wie sie eine Musikzeitschrift zulässt, drei Jahre später im Rückblick auf
das Ende des Jahres 1992. Weiter heißt es dort:
„Ich fühlte nur noch blinden Hass gegen doofe Künstler, die in der Kneipe über Lacan abla-
berten und im gleichen Atemzug betonten, Freud nicht zu kennen. Ich hatte schon lange nicht
mehr soviel Wut verspürt, wie beim Lesen von Bolz, Kamper, Flusser und dergleichen
Medienunsinn mehr. Ich fand plötzlich die methodische Berechtigung fragwürdig, so zu
arbeiten wie Deleuze und Guattari (die in meinem persönlichen Kosmos einen bedeutenden
Platz einnehmen). Das Anschreiben gegen eine unterdrückerische Rationalität taugte nicht
mehr als Legitimation und ohne diesen Grund, so dachte ich, ermöglichte ihre Schreibweise
jede Beliebigkeit.“ (Terkessidis 1994: 9)
Doch mittlerweile ist der Autor wieder mit seinen Helden versöhnt. Dazu habe deren
Buch „Tausend Plateaus“ und Deleuzes Geständnis, dass „Guattari und ich Marxis-
ten geblieben sind“, wesentlich beigetragen.

4 Cultural Studies und journalistische Pop-Theorie –


Übereinstimmungen und Differenzen

Das Interesse der Zeitschrift Spex an den Cultural Studies speist sich sicherlich
zunächst einmal zu einem Gutteil aus dem Gefühl der Anerkennung, die deren
erfolgreiche Bemühungen den eigenen Anstrengungen auf journalistischem Terrain
verschaffen. Legitimieren die Cultural Studies doch auf dem prestigereichen Feld
Cultural Studies und avancierter Musikjournalismus in Deutschland 261

der Wissenschaft die jahrelange Arbeit des Magazins, Popkultur zu einem sowohl
ästhetisch aufregenden als auch politisch folgenreichen Gegenstand zu erheben, pop-
kulturelle Gegenstände nicht kurzerhand schlichten soziologischen und ökonomi-
schen Erklärungen zu überantworten, die Verabsolutierung der Maßstäbe legitimer
Kultur aufzubrechen, mit der das Privileg einhergeht, nur solchen Werken eine
ästhetische Betrachtung zuzubilligen, die in ihrem eigenen Feld sanktioniert sind.
Hier wie dort hofft man darauf, die analytische Durchdringung der Popkultur mit
politischen Interventionen in symbolisch-kulturelle Auseinandersetzungen zu ver-
binden.
Auch die Biografien wichtiger Cultural Studies-Vertreter, die vielfach als Pop-
Journalisten begonnen haben oder noch als Professoren Pop-Kolumnen für Zeit-
schriften schreiben, legen nahe, Cultural Studies und journalistische Arbeit im Felde
der Popkultur als bruchloses Kontinuum aufzufassen.16 Dass in beiden Feldern sich
das Interesse darauf richtet, abweichende ästhetische Praxen der Produzenten und
Konsumenten populärer Kultur aufzuspüren, um diese als „empowerment“ zu begrü-
ßen (Cultural Studies) oder als zeitgemäße subversive Haltung zu propagieren
(avancierter Musikjournalismus), deutet bei aller vordergründigen Übereinstimmung
bereits auf grundlegende Differenzen bezüglich des Ortes und des Stils der
Beobachtung popkulturellen Treibens. Adressat der Texte von Cultural Studies-
Intellektuellen, die durch eine langjährige universitäre Sozialisation geprägt worden
sind, eine mehr oder weniger gesicherte Stellung innehaben, ein bereits relativ fort-
geschrittenes Lebensalter im Vergleich zu den Protagonisten subkultureller Szenen
aufweisen, sind – bei aller Bemühung um Breitenwirkung – vor allem Intellektuelle
im eigenen Forschungsfeld und diese dürften sich dann doch zunächst einmal – bei
aller Aufgeschlossenheit für Arbeiten, die sich eingehend mit populärer Kultur
beschäftigen – für das benutzte theoretische Instrumentarium, für die Schreibweise,
also für den Grad der Erfüllung jener Standards, die in der eigenen Sektion der
scientific community jeweils maßgeblich sind, interessieren. Das zu diesen im Feld
der Cultural Studies auch der offen deklarierte oder eher unterschwellig artikulierte
politische Gehalt des behandelten Gegenstandes zählt, ist ein bemerkenswerter
Umstand, der sicherlich zur Attraktivität der Cultural Studies beim akademischen
Nachwuchs beiträgt, jedoch überzogene Vorstellungen über die politische Wirksam-
keit wissenschaftlicher Arbeit genährt hat, für deren absehbares Scheitern Tenden-
zen der Institutionalisierung der neuen Disziplin sowohl von Cultural Studies-Intel-
lektuellen selbst als auch in der politisch engagierten journalistischen Kom-
mentierung verantwortlich gemacht werden.17
Die in Spex geäußerte polemische Befürchtung, dass die Cultural Studies zu
einem „Beratungsbüro der Kulturindustrie“ (Spex 8/95: 46) verkommen könnten,
zeugt von ökonomischer Naivität und mangelndem Bewusstsein, was die materiellen
Grundlagen der eigenen Schreibtätigkeit anbelangt. Es sind ja gerade die Cultural
Studies, in denen aus einer im Vergleich zum journalistischen Tagesgeschäft grö-
ßeren zeitlichen Distanz Phänomene der Popkultur analysiert werden, was dann
seinen Niederschlag in der Veröffentlichung von Monografien oder Aufsätzen fin-
det, mithin Resultate, die für Marketing-Experten zugleich wenig lesbar, schlecht
262 Ralf Hinz

zugänglich und vor allem wenig pragmatisch verwertbar sein dürften.18 Ihrem Bei-
trag zur Beschleunigung und effektiveren Gestaltung des kulturindustriellen Verwer-
tungsprozesses verdankt hingegen eine Zeitschrift wie Spex ihre Existenz. Allmonat-
lich präsentiert die Zeitschrift Musiker und Gruppen in einem zeitlichen Rhythmus,
der auf deren Marketing-Strategie abgestimmt ist (Plattenveröffentlichung, Tournee
etc.), bespricht eine große Menge Platten, eine Vielzahl neuer Filme, befasst sich mit
diversen anderen popkulturellen Konsumartikeln. Der hyperbolische Grundton in
der Kommentierung jener Entwicklungen in der Popkultur, die sich in Spex-Kreisen
wie auch immer kurzfristiger besonderer Wertschätzung erfreuen, funktioniert trotz
oder – im Hinblick auf das spezifische Publikum der Zeitschrift – gerade wegen der
typischen (selbst-)reflexiven Verklausulierung vieler Texte als effektive Verkaufs-
förderung, versorgt die Marketing-Strategen der Musikindustrie darüber hinaus mit
Ideen und Hinweisen, die u.a. bei der Selektion aufstrebender neuer Bands und
Musiker hilfreich sein könnten. Daraus einen moralischen Vorwurf gegen Spex zu
machen, wie es linke Kritiker der Zeitschrift immer wieder tun, verkennt die Gewalt
ökonomischer Zwänge, denen man sich nur um den Preis des Rückzugs in subsis-
tenzwirtschaftlich funktionierende Enklaven entziehen kann, was Spex als Pop-Zeit-
schrift, die kommerziellen Erfolg gerade nicht perhorresziert, sondern in geeigneten
Situationen sogar eine Strategie der Affirmation für geboten hält, jedoch von Anfang
an zu vermeiden suchte.
Zu den Leseerwartungen im Hinblick auf Cultural Studies-Publikationen ist
bereits einiges gesagt worden; man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass die-
jenigen des Spex-Publikums einen ganz anderen Zuschnitt aufweisen. Man erhofft
sich Informationen, Einschätzungen zu Entwicklungen, Ereignissen und Produkten
der Popkultur, die die Selektion des eigenen Konsums erleichtern, die bislang unbe-
kannte Reizquellen erschließen, die selbst gehegte Vorlieben bekräftigen, die
Abgrenzung zu jenen sehr unterschiedlichen Gruppen, Musikern oder kompletten
Stilrichtungen samt ihrer jeweiligen Fangemeinschaften ideologisch unterstützen,
die man bereits in der eigenen alltagsästhetischen Sozialisation auf Distanz zu halten
versucht oder nur noch Ekel auslösen. Dass diese Erwartungen immer wieder ent-
täuscht werden, zeigt sich für eine Zeitschrift wie Spex an sinkenden Verkaufszahlen
oder an Leserbriefen – wobei die dazu notwendige Schreibarbeit ihrer Verfasser
noch vage Hoffnung auf zukünftige Erfüllung der bislang versagten Wünsche
bekundet19 –, in denen z.B. notorisch im Brustton gerechter Empörung Klage über
die Unverständlichkeit der Artikel und Kritiken geführt wird. Davon bleiben Cul-
tural Studies-Intellektuelle in ihrer scientific community wohl weitgehend unbehel-
ligt, doch in der Lehre an Universitäten, in deren Veranstaltungen sich ja das Publi-
kum für wissenschaftliche und journalistische Betrachtungsweisen der Popkultur
überschneidet, werden auch sie mit deutlichen oder versteckten Signalen konfron-
tiert, die teilweises oder gänzliches Unverständnis bekunden. Dennoch bleibt die
Differenz festzuhalten, dass wie auch immer intellektuell avancierte Pop-Zeitschrif-
ten darauf verwiesen sind, den Erwartungen der werbetreibenden Wirtschaft und
ihres Lesepublikum zumindest soweit zu entsprechen, dass die Existenz der Zeit-
schrift gesichert bleibt. Demgegenüber sieht sich wie auch immer institutionell
Cultural Studies und avancierter Musikjournalismus in Deutschland 263

deklarierte wissenschaftliche Beschäftigung mit Popkultur, soweit sie in den Genuss


staatlicher oder vergleichbarer, d.h. nicht unmittelbar an Verwertungsinteressen
gebundener privater Förderung kommt, ausschließlich den habituellen, symboli-
schen Zwängen des Wissenschaftsbetriebes ausgesetzt, von denen sich zudem unter
dem Einfluss postmoderner Strömungen einzelne Gelehrte erfolgreich dispensieren
konnten (vgl. Holert 1995a).
Ob in solchen und anderen Tendenzen der Ästhetisierung intellektueller Dis-
kurse, die dann nur noch eine vage Verwandtschaft mit einem eher traditionellen
Verständnis von Wissenschaft aufweisen, Chancen für einen entfesselten, von insti-
tutionellen und ökonomischen Schranken befreiten Diskurs über Popkultur liegen,
ist sehr zweifelhaft. T. Holerts (1995a: 55) Annahme, dass „gerade ‚The Aesthetics
of Cultural Studies‘ die beste Propaganda für ihre politischen Anliegen“ seien, über-
schätzt das Potenzial einer Entdifferenzierung von Kunst, Kritik und Wissenschaft,
solange grundlegende politische und ökonomische Herrschafts- und Machtverhält-
nisse kapitalistischer Gesellschaften nicht überwunden sind. Bis dahin erscheint es
vielversprechender, die Spannung zwischen betont nüchterner wissenschaftlicher
Arbeit einerseits und einer avantgardistischen ästhetisch-literarischen Schreibpraxis
andererseits – die in etwa seit Beginn des 20. Jahrhunderts im kunst-, film-, literatur-
und musikkritischen Diskurs beobachtet werden kann, der seinerseits Elemente und
Versatzstücke heterogener Diskurse vermischt – aufrechtzuerhalten. Begründete
Aussagen und Meinungen über ästhetische Strukturen, über die Wirkungsweise und
über soziokulturell differente Rezeptionsmuster populärer Kultur lassen sich in den
beiden Feldern vor allem dann erzielen, wenn das jeweilige Tun in Wissenschaft
und Kritik zunächst konsequent den eigenen Maßstäben verpflichtet bleibt. Sicher
kann es nicht schaden, die andere diskursive Praxis möglichst genau zur Kenntnis zu
nehmen. Im besten Falle springt dabei für die betroffenen Intellektuellen eine wech-
selseitige Relativierung wissenschaftlichen und journalistischen Tuns heraus und
dem Lesepublikum bleiben Texte erspart, die sich in länglichen, bereits wiederholt
geleisteten Theoriereferaten ergehen oder das Sampling von Theoriebruchstücken
als wirkliche Einsicht in ästhetische und politische Zusammenhänge auszugeben
sich bemühen.

Anmerkungen

1 Vergleiche David Riesman (1950), zum Stellenwert der Einsichten Riesmans im Diskurs
über populäre Kultur siehe Thomas Hecken (2004).
2 Der vorliegende Band und eine Vielzahl neuerer Veröffentlichungen dokumentieren, auf
freilich sehr unterschiedliche Weise, das kontinuierlich wachsende Interesse jüngerer aka-
demischer Kräfte an jener Variante kulturwissenschaftlicher Forschung, die unter dem
Signum Cultural Studies an anglo-amerikanischen Universitäten und Akademien betrie-
ben wird. Vergleiche exemplarisch Hinz (1998: Kap. 4), dort weitere Literaturangaben.
Zur bundesdeutschen Rezeption der Cultural Studies vergleiche L. Mikos‘ Beitrag im vor-
liegenden Band.
264 Ralf Hinz
3 Die Zeitschrift Spex erscheint erstmals im November 1980 und trägt den Untertitel
„Musik zur Zeit“, der dann 1989 gestrichen wird. Ab Frühjahr 1997 lautet der Untertitel
von Spex „Das Magazin für Popkultur“. Die ursprünglich von einem Herausgeberkreis
geführte Zeitschrift, der zugleich auch als deren Gesellschafter fungiert, wird im Jahre
2000 an die piranha media GmbH verkauft. Auf die Diskussion über diesen Eigentümer-
wechsel soll hier nicht näher eingegangen werden, da im Weiteren die Zeit vor diesem
Einschnitt im Vordergrund stehen wird. Vergleiche jedoch hierzu einige Hinweise von
Richard Gebhardt (2001: 180, 190f. u. 194, Anm. 6).
4 Vergleiche dazu Gebhardt (2001), der zeigen will, dass in Spex „eine vom Cultural Stu-
dies-Diskurs beeinflusste Schreibweise des Popjournalismus“ (ebd.: 175) zu beobachten
sei. Generell ist zu beobachten, dass die akademische Rezeption popkultureller Phäno-
mene sich nicht konsequent auf jene Medien richtet, die in der jeweiligen Szene oder Sub-
kultur maßgeblich sind (seit Punk und New Wave vor allem Fanzines und Zeitschriften),
sondern weiter auf das Buchmedium fixiert bleibt. Aus diesem Mangel an Aufmerksam-
keit für die weniger prestigereichen und oftmals nur über einen kurzen Zeitraum
erscheinenden Periodika können sich dann Fehleinschätzungen ergeben. So haben z.B.
aktuelle Rezensionen zur Neuauflage der von Peter Glaser zuerst im Jahre 1984 herausge-
gebenen Anthologie „Rawums“ diesen Band vielfach als einflussreiche und bahnbre-
chende Publikation gewürdigt. Ein Blick in die Zeitschrift Spex aus jener Zeit hätte
schnell darüber belehrt, dass der Band sowohl beim Leserpublikum auf wenig Gegenliebe
stieß, als auch den daran beteiligten Autorinnen und Autoren der Zeitschrift eher peinlich
war.
5 Darunter soll hier jene journalistischen Texte über Rock- und Popmusik, aber auch über
sonstige popkulturelle Phänomene verstanden werden, die sich an Schreibweisen des
gehobenen Feuilletons anlehnen, mit intellektuellem, gelegentlich auch zeitdiagnosti-
schem Anspruch auftreten und sich durch idiosynkratische Subjektivismen sowie durch
polemische Abgrenzungen auszeichnen. Vergleiche dazu Hinz (2003: 297 und 309, Anm.
1; ausführlicher 1998: Kap. 6 u. 7).
6 Dass bereits in Hinz (1998: 136ff.; 1997: 194ff.) sowohl Unterschiede als auch Ähnlich-
keiten zwischen den Cultural Studies und einer Zeitschrift wie Spex entfaltet wurden,
scheint der Lektüre des Rezensenten in Spex (1/99: 61) entgangen zu sein. Man geht wohl
nicht zu weit, wenn man in dieser (Nach-)Lässigkeit einen symptomatischen Zug der Zeit-
schrift erkennt.
7 In Hinz (1998: Kap. 7.8 und 7.11) werden Texte von Clara Drechsler und Diedrich Die-
derichsen, die als wichtigste Exponenten einer stärker idiosynkratisch gefärbten bzw.
einer dem Duktus von Manifesten verpflichteten Schreibweise anzusehen sind, ausführ-
lich vorgestellt und analysiert. Zu Drechslers Schreibpraxis in Spex, nachdem die Autorin
ihre Schreibtätigkeit für das Magazin eingestellt hatte, vergleiche auch ihr Gespräch mit
Diederichsen in Spex, 10/95: 56-59.
8 T. Hecken (1998: 236) sieht in der Zeitschrift Spex ein ungewöhnliches Nebeneinander
von anarchoider Wendung „gegen eine bestehende Arbeits- und Sexualmoral aus gegen-
kulturellen Gründen“ und einen liberalen Hang zu „dekadenter Stilisierung“ am Werk. Es
werden dort gleichermaßen „offen abweichende wie konsumistisch perfektionierte Stilfor-
men“ Gegenstand zustimmender, ja euphorischer Bewertung. Vergleiche dazu die aus-
führlichen Einlassungen in Hinz (1998: Kap. 7, vor allem 219-223 u. 235f.).
9 Für eine typologische Skizze dreier signifikanter Schreibweisen und Haltungen im avan-
cierten Musikjournalismus siehe Hinz (2003: 307f.).
10 Im 2. Quartal des Jahres 2004 kommt Spex auf eine verkaufte Auflage von 16.060 Stück.
(http://www.media-daten.com; Abfrage vom 11.8.2004) Im Jahre 1992 hat die verkaufte
Auflage etwa bei 20.000 Stück gelegen. Zwischenzeitlich - vor dem oben erwähnten
Eigentümerwechsel - soll die Auflage deutlich unter 15.000 Stück gelegen haben.
11 Vgl. Siemons (1999: 50). Dem Autor gelingen einige treffende Bestimmungen der
Arbeitsweise von Spex und der Schwierigkeiten, die sich das Magazin mit seiner „mitun-
ter etwas verwickelten Avantgarde-Anstrengung in Permanenz“ (ebd.) einhandelt.
12 Spex 11/90, 71. Diederichsen (1994: 26) weist darauf hin, dass in Deutschland „die akade-
mischen Institutionen unfähig“ seien, „Popkultur als ein Fach zu definieren, das weder
Cultural Studies und avancierter Musikjournalismus in Deutschland 265
ganz der Soziologie noch ganz der Musikwissenschaft zugeordnet wäre.“ Doch es gebe
hier zu Lande „ja nicht einmal ein kulturwissenschaftliches Äquivalent zu den anglo-ame-
rikanischen ‚Cultural Studies‘, wo zur Zeit die wichtigste wissenschaftliche Arbeit in
Sachen Popkultur geleistet“ werde.
13 Zu den geisteswissenschaftlichen Anfängen der Cultural Studies vergleiche Hinz (1998:
74-76).
14 Vergleiche Holert/Terkessidis (1996); kritisch dazu Hinz (1998: 137f.; 2003: 306).
15 So rezensiert C. Storms (1995: 46f.) zustimmend A. Goodwins Buch „Dancing in the
Distraction Factory“ (1992), das „eine neo-marxistische Herangehensweise“ in den Cul-
tural Studies repräsentiere.
16 A. McRobbie (1989) vertritt die These einer Konvergenz von Cultural Studies und Musik-
journalismus in der literarischen Gattung des Essays.
17 Vergleiche Fish (1995); erläuternd dazu Hinz (1998: 134f.).
18 Sowohl schöngeistige Literatur als auch Wissenschaft haben die Popkultur lange Zeit
ignoriert. H. Kureishi (1995: XiX) nennt die Schreibpraxis, auf die sich Pop gestützt hat:
„Pop‘s literary attendant was journalism, which to this day remains its acolyte and accom-
plice.“
19 Übrigens wären Leserbriefe und ihre redaktionelle Kommentierung ein vielversprechen-
des Forschungsthema für bundesdeutsche Cultural Studies-Arbeiten.

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Terkessidis, M. (1994): Gutenberg-Galaxis. In: Spex 1994 (1), 9.
Teil 3:

Analysen der heutigen Medienkulturen


Populärer Journalismus

Rudi Renger

1 Vorbemerkung

‚Popular journalism‘ wurde als analytischer Begriff im anglo-amerikanischen Raum


geprägt und von Peter Dahlgren und Colin Sparks (1996) in die medien- und kom-
munikationswissenschaftliche Diskussion eingeführt. Journalismus – und in erster
Linie jener, der mit minimalen journalistischen Mitteln massenhafte Auflagen, große
Reichweiten und damit maximalen unternehmerischen Profit erreicht – wird in die-
sem Zusammenhang kulturanalytisch auf der Basis des Cultural Studies-Ansatzes
betrachtet. Diese Perspektive wurde seit Ende der 1990er Jahre auch für die deutsch-
sprachige Journalistik aufbereitet (vgl. Renger 1997, 1999a+b, 2000a-c, 2001,
2002a+b, 2004; Renger/Neissl 2001, 2002; vgl. auch Lünenborg 2002). Der Begriff
‚Populärer Journalismus‘ ist in diesem Zusammenhang vielschichtig zu betrachten:
Er impliziert den Zusammenhang zwischen Journalismus und Populärkultur, er the-
matisiert die Verstehensweise von Journalismus als Populärkultur und umfasst die
Entwicklung, die Funktion und den Stellenwert von Journalismus in der Populärkul-
tur. Im deutschsprachigen Raum ist es bis vor wenigen Jahren kaum üblich gewesen,
Journalismus und Populärkultur in einen direkten Zusammenhang zu bringen. Aber
gerade auch für den Bereich des Journalismus gilt, dass Kommunikationsprozesse in
soziokulturelle Kontexte eingebunden sind – ganz im Sinne von Fiskes (1990: 4)
„art of making do“.1

2 Journalistische Kulturen im Wandel

Das hier vertretene Verständnis von Journalismus deutet weniger in eine kommuni-
kator- oder medienorganisationsorientierte Richtung, sondern vielmehr auf Zusam-
menhänge mit Kultur, Alltag und den Lebenswelten des Medienpublikums. Journa-
lismus als kulturellen Diskurs zu definieren, erscheint gerade für den Gegenstand
des Populären Journalismus eine nützliche Formel zu sein, wonach Journalismus
nicht nur als Informations- und Orientierungsangebot professioneller Selekteure
(vgl. Weischenberg 1998: 11), sondern auch als ein spezifisches Muster von sozialer
270 Rudi Renger

und institutioneller Praxis, d.h. im Sinne von Alltagshandlungen, gesehen wird (vgl.
Dijk 1988: vii, 139, 179). Die semantische Kontextualisierung des Begriffspaares
Populärer Journalismus lässt sich in diesem Zusammenhang auf zwei Arten interpre-
tieren: Zum einen kann Journalismus als eine Form von Populärkultur gesehen wer-
den, zum anderen als ein textuelles System, innerhalb dessen populärkulturelle The-
men verarbeitet werden (vgl. Dahlgren 1996: 3f.). Determinierend wirkt in jedem
Fall der Akt der Rezeption, denn erst durch die subjektive Bearbeitung von journa-
listischen Inhalten, also durch die Umstrukturierung von Bedeutungen innerhalb des
öffentlichen Diskurses, entsteht Populärkultur, wobei bestehende Sinngehalte mit
neuen Bedeutungsformen besetzt und wiederum zu Präferenzmustern – zu soge-
nannten „preferred readings“ (Fiskes 1994) – verallgemeinert werden können.
Eine ‚kultur(wissenschaftlich) orientierte Journalistik‘ wurde von Langenbucher
(1985) bereits vor 20 Jahren eingefordert. Die Frage, ob wir etwa im Jahr 2000 über-
haupt noch Journalismus brauchen würden, sei nur dann sinnvoll, „wenn man
bestimmte der von den Medien […] vermittelten journalistischen Produkte als eigen-
ständige kulturelle Leistungen interpretiert, ähnlich wie Kunst, Musik und Literatur“
(Langenbucher 1985: 203). Letztere Ausdrucksformen vermitteln jedoch nicht nur
ästhetische Botschaften, sondern bringen dem Publikum auch Unterhaltung und
Zeitvertreib. So auch journalistische Nachrichten: In der Informationsgesellschaft
nimmt die Relevanz der Information ab, während die von Unterhaltung steigt. Jour-
nalistische Informationen finden heute in der Unterhaltung gleichsam Unterschlupf,
sie bleiben nur dann für die Rezipienten interessant, soweit sie unterhaltsam sind.
Nicht umsonst gilt das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhundert auch als Infotainment-
Dekade. Mittlerweile existiert eine Reihe von Neologismen, die dem Kunstwort
‚Infotainment‘ nachgebildet wurden: Emotainment, Servotainment, Confrotainment,
Edutainmant und neuerdings auch Politainment.
Nicht nur die Jahrtausendwende hat sinnsuchende Auseinandersetzungen provo-
ziert: „Der Journalismus befindet sich am Scheideweg“, orakelten beispielsweise
Scholl und Weischenberg (1998: 261) und wiesen auf eine „ständige Entwicklung
weg von der Information hin zur fiktionalen Unterhaltung“ hin. Aber schon seit län-
gerem dienen journalistische Nachrichten nicht nur einem „orientation value“, son-
dern auch einem „entertainment value“ (McManus 1994: 122). Zerfransungen an
den traditionellen Grenzen des Journalismus sind jedoch nicht nur hinsichtlich seiner
Unterhaltungsfunktionen feststellbar, sondern auch in Bezug auf Aktualität, Objekti-
vität versus Subjektivität, Realität versus Fiktion, dem Wandel von Verbreitungs-
technik von Print bis Online, männliche und weibliche Berufsrollen sowie in der
Produktorientierung in Bezug auf eine Vielzahl von Teilöffentlichkeiten und Märk-
ten. Die Entdifferenzierung einer Pluralität funktional unterschiedlicher Journalis-
men wie etwa einen informations- und nachrichtenorientierten Qualitätsjournalis-
mus, Meinungsjournalismus, Marketing- oder PR-Journalismus, Konsumentenjour-
nalismus, Werbeumfeldjournalismus, Fach- und Nutzwertjournalismus, Unterhal-
tungsjournalismus oder Boulevardjournalismus führt nicht zuletzt auch zur Verän-
derung der Journalismusforschung selbst, deren Aufgabe nun nicht mehr ausschließ-
lich in der „Analyse von Prozessen der Aussagenentstehung“ (Weischenberg 1995:
Populärer Journalismus 271

106) und der Informationsleistung bestehen kann, sondern ein differenzierteres


Herangehen verlangt, das genau diesen Wandel des journalistischen Systems bzw.
der journalistischen Kultur zu berücksichtigen imstande ist. Unter Einbezug des
‚Cultural Studies Approach‘ soll im Weiteren ein Beitrag zum Abbau eines For-
schungsdefizites geleistet werden, das van Zoonen (1998: 139) so beschreibt: „We
know comparatively little“, schrieb sie damals im ersten Heft des European Journal
of Cultural Studies, „about audience-oriented journalism either aimed at the
women‘s or men‘s market.“ Insgesamt dürfte eine kulturorientierte Betrachtung
massenmedialer oder journalistischer Phänomene stets als Weg abseits des kom-
munikationswissenschaftlichen Mainstreams interpretiert worden sein. Mit ein
Grund dafür ist wohl auch der interdisziplinäre Zugang. „Das Konzept der Medien-
kulturforschung“, schreiben etwa Fabris und Luger (1988: 10), „beinhaltet daher
neben der Untersuchung der verschiedenen Medienprodukte auch die unterschiedli-
chen Formen ihrer Verbreitung und Rezeption sowie die komplexen Wechselbezie-
hungen zu Politik, Wirtschaft und Alltagsleben.“

3 Zum Antagonismus zwischen Qualitäts- und populärem


Journalismus

Eben diesen erkenntnistheoretischen „Shift“ hat auch Hartley (1996: 26ff.) vor
Augen, wenn er zur Überwindung der in der Medien- und Journalismusforschung
weit verbreiteten Polarisierung zwischen Qualitäts- und Populären Journalismus auf-
ruft. Die zynische Vermutung von Langenbucher und Mahle (1975: 12), dass sich
die Kommunikationswissenschaft in ihrer Favorisierung der Elitekultur jahrzehnte-
lang auf den Forschungsgegenstand der „schönen Tiere“ (sie gehen von einem Ver-
gleich mit der Zoologie aus) beschränkt habe, hat offenbar seit jeher auch die Agno-
sie gegenüber populärkulturellen Medienformen begründet. Trotzdem – oder gerade
deshalb – ist es mehr als reizvoll, die Funktions- und Wirkungsweise jenes Journa-
lismus auszuleuchten, der von der millionenfachen Mehrheit des Medienpublikums
rezipiert und in der Medienforschung und Kommunikationswissenschaft üblicher-
weise als Boulevard- oder Unterhaltungsjournalismus bezeichnet wird.
Es geht also bei Populärem Journalismus um jene journalistischen Spielarten,
die in den Boulevardzeitungen, den bunten Illustrierten, den Lifestyle- und Special
Interest-Magazinen oder im sogenannten Tabloid-TV bzw. (privatrechtlichen) Bou-
levardfernsehen den Großteil der Bevölkerung mit Orientierungswissen, Servicein-
formationen und vergnüglichen Geschichten versorgen. Zugleich wird auf diese
Weise auch eine dramatisierte, sensationalisierte und fiktionalisierte Weltsicht ver-
mittelt, die – in das Gewand der scheinbar objektiven Berichterstattung gekleidet –
entweder für wahr gehalten oder aus Entspannungs- und Unterhaltungsgründen kon-
sumiert wird. Nicht zu übersehen ist heute in der journalistischen Produktion eine
gewisse Tendenz zum Drama sowie der Vorzug von Skandalisierung und medial
konstruierter Faszination gegenüber qualitätsjournalistischer Orientierung.
272 Rudi Renger

Die seit Jahren wirksamen Strategien zur Ökonomisierung, Popularisierung und


Kommerzialisierung der Medieninhalte tragen ihrerseits dazu bei, dass inzwischen
selbst angesehene Newsformate mehr und mehr die Darstellungsweisen von Unter-
haltungs- und Sensationsgenres übernehmen: Nachrichtenmagazine im Fernsehen
greifen zu Techniken, die einst den Tabloids vorbehalten waren (wie etwa Nachrich-
tendramatisierung, intertextuelle Genresprünge sowie der Einsatz von Hintergrund-
musik), Printprodukte imitieren die fragmentierte Informationsästhetik der Televisi-
on. In gewisser Weise befindet sich heute aber auch der traditionelle Boulevardjour-
nalismus in einer Art von Endzeitstimmung, denn viele seiner bisherigen Funktionen
werden mittlerweile (noch dazu besser) von privaten Fernsehkanälen und auch Web-
Angeboten erfüllt. „Nur mit Sensationen, Emotionen, mit Manipulation und Erekti-
on“, so Zimmer (1999: 61), „lässt sich keine Zeitung der Zukunft machen. Informa-
tion als Aufklärung, Unterhaltung als positives lebensbejahendes Element und Ser-
vice – ‚News to use‘ – sind die Bestandteile jeder guten Zeitung.“
Die Dynamik in der allgemeinen journalistischen Entwicklung auf der einen
Seite und die Fokussierung von populärkulturellen Bezügen und Funktionen des
Journalismus auf der anderen verlangt nach einer spezifischen theoretischen Positi-
onierung des Journalismus als Gesamtphänomen. Einen brauchbaren Entwurf in die-
ser Richtung hat Hartley (1996: 122f.) geliefert, wenn er Journalismus neben Litera-
tur, Schauspiel und Film als das weltweit wichtigste bedeutungsproduzierende Text-
system positioniert (vgl. Hartley 1996: 122f.). Dieser Gedanke erscheint auch mit
Langenbuchers Perspektive einer „spezifischen Kulturleistung“ kompatibel zu sein,
wenngleich hier weitere Textsysteme wie das Theater insgesamt, Kunst, Philosophie
und die Wissenschaften zu nennen wären. Als Form kultureller Produktion erzeugt
Journalismus aber nicht nur Bedeutungen, sondern auch seine konsumierenden Sub-
jekte, d.h. die populäre Öffentlichkeit selbst. Journalismus in der Populärkultur kann
in Hinblick auf seine Rezeptionsweisen unterschiedliche Wirkungen haben:
• positive Effekte in Form von Wissensvermittlung und -erweiterung,
• negative durch die Implikation ideologischer Gehalte,
• progressive im Sinne einer ‚Vierten Macht‘ in den Demokratien oder
• reaktionäre in Form von von sozialer Kontrolle, Inaktivierung und Kommerzia-
lisierung des Publikums (vgl. Hartley 1996: 35).

4 Bausteine einer kultur(wissenschaftlich) orientierten Journalistik

Eine kultur- bzw. kulturwissenschaftlich orientierte Journalistik betrachtet Journalis-


mus als sinnstiftendes Element einer breit gefassten Populärkultur. ‚Kultur‘ wird in
diesem Zusammenhang in einer breiteren Sichtweise sowohl als Lebensweise (vgl.
Williams 1977: 50ff.), die Ideen, Verhalten, Gewohnheiten, Sprachen, Institutionen
und Machtstrukturen umfasst, verstanden, als auch als spezifische kulturelle Praxis,
Populärer Journalismus 273

die sich in künstlerischer Gestaltung, Texten, Architektur etc. ausdrückt. Dement-


sprechend wäre Journalismus weniger als Aufgabe einer funktionalen Informations-
leistung (im Sinne des Transmissionsmodells) zu identifizieren, sondern vielmehr als
Leistung von textueller Bedeutungsproduktion sowie als öffentliche Orientierung
und soziale Konstruktion von Wirklichkeit (im Sinne des „ritual view of communi-
cation“; dazu Carey 1975; Zoonen 1996: 36ff.). Die theoretische Grundlage für eine
solche Herangehensweise an das Phänomen des Populären Journalismus findet sich
– wie erwähnt – beim Cultural Studies-Ansatz.

4.1 Journalistik mit Rezipientenorientierung

Auf den ersten Blick ist Populärer Journalismus relativ einfach zu erklären: Er
möchte auf der Basis von sensationeller Berichterstattung zwischen Fakten und Fik-
tionen zu maximalem unternehmerischen Profit gelangen und vermarktet Schicksale
und Gefühle mit dem Suggestionsmittel der journalistischen Glaubwürdigkeit – eine
„Firma der [seichten] Volksbildung nur um des Geldes willen“, die seit dem frühen
19. Jahrhundert aktiv ist (Bausinger 1994: 25). Ganz so simpel ist es aber bei
näherer Betrachtung dann doch nicht, denn Populärer Journalismus lässt sich nicht
monokausal definieren. Er stellt ein stark differenziertes Phänomen dar, das an
keinen spezifischen Medientypus fixiert zu sein scheint, sondern bestimmte Formate
präferiert (vgl. Bruck/Stocker 1996: 11ff.). Das scheint auch zu erklären, warum es
bis vor wenigen Jahren keine genrespezifische zusammenhängende Darstellung dazu
gab – weder medienhistorisch noch metaanalytisch (vgl. als erste Synopse Renger
2000a). Journalismus in auf Populärität ausgerichteten Massenmedien wurde lange
Zeit entweder vom theoretischen Standpunkt des traditionellen Informationsjourna-
lismus her untersucht und nicht selten offen oder unterschwellig als Devianz bewer-
tet. Dieser Vergleich ergab denn auch so manches schiefes Bild, das sich auch in
einem umfassenden Register von terminologischen Vorschlägen für das Phänomen
des Populären Journalismus wider spiegelt: Die Rede ist von farbloser und Ge-
schäftspresse, von Yellow Journalism, Skandal- und Revolverpresse, Regenbogen-
und Sorayapresse, Boulevard-, Unterhaltungs- und Publikumsjournalismus bis hin
zum Trash-, Fast-food- oder McJournalism unter dem Banner der „McDonal-
disierung“ (Ritzer 1995) der gegenwärtigen Konsumgesellschaft.
Colin Sparks (1996: 31) definiert Populären Journalismus sehr allgemein als
jene Form journalistischen „Schreibens“, die aus dem Schnittpunkt zwischen den
verschiedenen und zueinander in Widerspruch stehenden Diskursen resultiere, die
das gesellschaftliche Leben – und hier in erster Linie den Bereich der so genannten
Massenkultur – kreuzen. Die Boulevardisierung der Nachrichtenproduktion deute
aber auch auf eine massive Krise der Demokratie, denn die Themen und Art der
journalistischen Berichterstattung würden sich überwiegend nach der individuellen
Erfahrung der Konsumenten richten und bewusst Bereiche wie Politik und Wirt-
schaft vernachlässigen (vgl. Sparks 1998: 6f.). Sparks zielt hier auf die soziale Pro-
274 Rudi Renger

duktion von Bedeutungen, die von den Journalisten und vom Publikum gleicherma-
ßen geleistet wird – und steht natürlich damit eindeutig in der Tradition der Cultural
Studies.
Der Kern einer kultur- bzw. kulturwissenschaftlich orientierten Journalismusfor-
schung ist in der Analyse der Beziehung zwischen den Bedeutungen und den journa-
listischen ‚Texten‘ zu sehen – wobei ich hier auf dem sehr breiten Textbegriff von
Fiske aufbauen möchte. Jeder populärjournalistische Text wäre danach ein Vermitt-
ler von spezifischen Bedeutungskonstruktionen sowie eine alltägliche Ressource für
Information, Orientierung, Service und Unterhaltung. Nach Fiske (in diesem Band)
zirkuliert die populäre Wirklichkeit zwischen drei textuellen Positionen. Journalis-
mus ist demnach nicht nur in der Konkretisierung seiner jeweiligen Botschaften (als
sekundärer Text) zu erfassen, sondern erfordert auch die Untersuchung seiner
Berichtsinhalte (als primärer Text) sowie der von Journalisten und Rezipienten
kodierten und dekodierten Bedeutungen (als tertiärer Text). Folglich gilt für Journa-
lismus in der Populärkultur, dass er in erster Linie intertextuell untersucht werden
sollte – er existiert eben nur in den genannten „intertextuellen Zirkulationen“. In
unterschiedlichen sozialen und institutionellen Kontexten wird er zum einen mit
Vorzugsbedeutungen – den „preferred meanings“ (Hall 1990: 134) – ausgestattet
und zum anderen in unterschiedlichen Lesarten rezipiert, wobei die Vorzugsbedeu-
tungen übernommen oder aber auch zugunsten von Präferenzbedeutungen – den
„preferred readings“ (Fiske 1994: 64ff.) – verhandelt oder verworfen werden. Das
Ergebnis dieses Dekodierungsprozesses ist möglichweise nicht mit der von der Pro-
duzentenseite intendierten Botschaft deckungsgleich, sondern führt zu Widersprü-
chen, das zu Grunde liegende Bezugs- und Kommunikationssystem bleibt aber in
den meisten Fällen der Journalismus.

4.2 Cultural Studies und Journalistik

Das Interesse einer Cultural Studies-orientierten Medienforschung zielt im Bereich


Journalismus auf die Untersuchung der Signifikanz des Trivialen, der „Bedeutung
des Nicht-Bedeutenden“ (Grossberg in diesem Band) bzw. auf jene „geringfügigen
Botschaften“ (Eco 1992a: 34) des Populären Journalismus, die unseren gesellschaft-
lichen und sozialen Alltag begleiten. Journalismus wird an der Schnittfläche zwi-
schen einer allumfassenden Kultur-, Medien- und Bewusstseinsindustrie und dem
Alltagsleben interpretiert und somit als Teil bzw. Objekt der Populärkultur definiert.
Je nach seiner Position in ökonomischen Strukturen (z.B. öffentlich-rechtliche oder
private Medien), den spezifischen Genres (z.B. Nachrichten oder News-Shows)
sowie dem Publikum kann Journalismus als zentraler Ort für diskursive Auseinan-
dersetzungen zwischen Produzenten und Rezipienten gesehen werden. Das Konzept
der „diskursiven Verhandlung“ (Zoonen 1996: 9; vgl. auch Gledhill 1988) gilt gene-
rell für alle Fälle von Massenkommunikation und lässt sich durch Halls Leitmodell
(1990) des „encoding/decoding“ darstellen. Einzeln ergeben die Elemente der Pro-
Populärer Journalismus 275

duktion, der Texte und der Reproduktion scheinbar nur teilweise Sinn, sie sind in
vielfältiger Weise an den Prozess der Bedeutungsproduktion geknüpft. Journalismus
erarbeitet demnach im Schulterschluss mit dem massenmedialen System eine sym-
bolische Kartografie der Welt, deren Wirkung in der Definitionsmacht der jeweili-
gen Bedeutungsrahmen zu sehen ist, die zur Orientierung im alltäglichen Leben
angewendet werden.
Da Medientexte multiple Bedeutungen transportieren, eröffnen sie dem Publi-
kum einen großen Interpretationsspielraum; sie sind also (implizit) polysemisch
(vgl. Barthes 1988: 181ff.). Die von Medienmachern und Journalisten kodierten
Bedeutungsstrukturen werden erst durch die Praktiken des Publikums in einem ähn-
lich widersprüchlichen, jedoch umgekehrten Dekodierungsprozess wieder bewusst
gemacht. Einer Cultural Studies-orientierten Journalismusforschung geht es somit
um die relationale Betrachtung von Journalismus in einem Netzwerk von Bezugs-
punkten, wobei der Untersuchungsschwerpunkt bei der Bedeutungs(re)konstruktion
des Publikums und dessen „preferred readings“ im Kontext seiner jeweiligen sozia-
len Beziehungen liegt.
Die rituelle Perspektive von gesellschaftlicher Kommunikation (vgl. Carey
1975), die Cultural Studies gegenüber dem Transmissionsmodell vorziehen, zeigt,
dass Journalismus als kulturelle Ausdrucksform immer textuell ‚gelesen‘ und auf der
Basis der Rekonstruktion der sozialen Struktur des Publikums analysiert werden
muss. Journalismus stellt somit eine Art von Dreiecksbeziehung zwischen Textpro-
duzenten, Medien und Lesern dar, wobei es für eine Cultural Studies-orientierte
Journalistik um die Darstellung des „sozialen Lebens der subjektiven Formen“ die-
ser Beziehung gehen muss (Hartley 1996: 5). Journalismus- und Nachrichtenfor-
schung wird auf diese Weise zur Bedeutungsinterpretation, die fokussiert, „how vie-
wers actively produce meaning from the transmissions within the context of their
own everyday lives“ (Dahlgren 1988: 289f.). Die Wirklichkeit – so ein Kernargu-
ment der Cultural Studies – setzt sich aus Bedeutungsinterpretationen und Interpre-
tationsregeln, mit Hilfe derer sich die Menschen im Alltagsleben orientieren, zusam-
men. Aus diesem Blickwinkel existiert Realität für die Menschen ausschließlich
durch Bedeutungen, denn die Welt präsentiert sich uns nicht, wie sie ist, sondern
stets durch den Kontext – durch die Beziehungen, die wir zu dieser Welt haben (vgl.
Alasuutari 1996: 26ff.).
Mit einer produktions- und textorientierten Analyse der britischen Tageszeitun-
gen Daily Mirror und Express war Hall (1975: 18ff.) vor drei Jahrzehnten einer der
ersten Kulturforscher, der sich mit Journalismus wissenschaftlich auseinandergesetzt
hat. In dieser Studie hat er nicht zuletzt auch grundlegende Thesen zum Populären
Journalismus aufgestellt:
• Die journalistischen Darstellungsformen vermitteln sedimentierte Interpretati-
onsschemata – spezifische Signifikationskodes, mit deren Hilfe das Publikum an
einer kollektiven Welt von kulturellen Bedeutungen teilnehmen kann;
276 Rudi Renger

• die populäre Presse entwickelt eine spezielle Rhetorik, indem komplexe „soziale
Register“ – d. h. semantische Sub-Welten wie ‚Sport = Unterhaltung‘ – trans-
portiert werden, die bestimmte Assoziationsfelder beim Publikum generieren;
• erst durch die Arbeitsweisen des Journalismus werden Nachrichten bedeutungs-
voll gemacht. Um diesen Bedeutung zu verleihen, wendet der Journalismus eine
komplexe Struktur von verbalen, rhetorischen, visuellen und repräsentativen
Kodes an. Die Leser sind in diesem Prozess selbst das Produkt einer diskursiven
sozialen Transaktion zwischen der Sender- und Empfängerseite. Die Produkte
des Populären Journalismus sind zugleich aber auch Teil dessen, was letztlich
die jeweiligen Subjektivitäten des (in diesem Zusammenhang als inaktiv inter-
pretierten) Publikums ausmacht.
Nicht zuletzt den Arbeiten von Colin Sparks ist es zu verdanken, dass einerseits der
Begriff des „popular journalism“ in die fachwissenschaftliche Diskussion – zumin-
dest im anglo-amerikanischen Raum – Eingang fand und andererseits relevante Ent-
würfe der Cultural Studies für eine Analyse des Boulevard- und Unterhaltungsjour-
nalismus aufbereitet wurden. So folgen Curran und Sparks (1991) ganz deutlich
einer Rezipienten-orientierten Betrachtungsweise und sehen somit das Publikum als
Erzeuger von Bedeutungen. Die Konzeption von aktiven Rezipienten, welche auf
den Entwürfen Fiskes aufbaut, legt denn auch die Vorstellung von Mehrdeutigkeit in
der Rezeption nahe. Unter Einbezug von Halls Kodierungs- und Dekodierungsge-
danken postulieren Curran und Sparks (1991: 222) schließlich, dass
• verschiedene Rezipienten ein und denselben Kommunikationsinhalt unter-
schiedlich rezipieren,
• einige Rezipienten den von den Herausgebern, Journalisten etc. beabsichtigten
Bedeutungen folgen, andere diesen aber opponieren, und
• die Konstruktion von Bedeutungen stets durch die jeweilige Kommunikationssi-
tuation bzw. -umwelt bedingt sei.
In seinem Buch „Reading the Popular“, in deutscher Übersetzung „Lesarten des
Populären“, hat sich auch John Fiske (2000) mit journalistischen Nachrichten im
Zusammenhang mit Populärkultur beschäftigt. An Beispielen aus der Fernseh-
nachrichtenwelt kritisiert er die unter anderem durch die Programmstruktur impli-
zierte und den Zusehern aufgedrängte Dualisierung zwischen „gutem, genauem, ver-
antwortungsbewusstem Fernsehen, das unpopulär sein mag, und schlechtem, kom-
promisslerischem, verantwortungslosem Fernsehen […], das die Leute tatsächlich
sehen wollen“ (Fiske 2000: 204). Grund dafür sei die althergebrachte Alternative
zwischen objektiver, wahrer, lehrreicher und wichtiger Information und subjektiver,
fiktionaler, eskapistischer, trivialer und schädlicher Unterhaltung. Fiske plädiert
dafür, solche „verkleidete Autoritäten“ (Fiske 2000: 213) zu überwinden und Jour-
nalismus weniger nach Kriterien der Informationsleistung, sondern nach solchen der
„populären Attraktivität“ (Fiske 2000: 204) zu beurteilen. Besonders bei Fernseh-
Populärer Journalismus 277

nachrichten würde nämlich auf Seiten des Publikums der Grad an Relevanz bzw.
„lustvoller Produktivität“ (Fiske 2000: 204) davon abhängen, inwieweit es möglich
sei, Nachrichten in die Oralität des Alltagslebens inkorporieren zu können, also
Anschlussmöglichkeiten an Alltagserfahrungen anzubieten:
„Die Hauptfunktion der Rundfunknachrichten sollte also nicht darin bestehen, Information zu
verbreiten, die für sozial notwendig erachtet wird, sondern eher darin, solche Informationen
populär zu machen – was heißt, sie wichtig zu machen, sie dazu anzuregen, in den Kulturen
der Mikroebene aufgegriffen zu werden.“ (Fiske 2000: 212)
Für die populäre Zirkulation von nationaler und Welt-Information reicht eben die
Vermittlung reinen Faktenwissens nicht aus, sondern „unsere Kriterien für ihre Eva-
luation [müssen] auch jene der Unterhaltung umfassen“ (Fiske 2000: 212). Beide –
journalistische Nachrichten wie fiktionale Unterhaltung – sind für Fiske diskursive
Strategien, um Bedeutungen aus sozialen Verhältnissen herzustellen. Und im besten
Fall sollten journalistische Nachrichten darauf abzielen, die Zuschauer „in die
Erzeugung von Sinn aus der Welt um sie herum einzubinden, sie sollten sie ermuti-
gen, Teilhaber am Prozess zu sein, nicht Rezipienten seiner Produkte“ (Fiske 2000:
213). Die Rezipienten von journalistischer Information müssten sich in Folge von
„Entzifferern“ zu „Lesern“ wandeln, die die journalistisch und medial vermittelte
„letztgültige Wahrheit“, die „letztlich unhinterfragbar“ (Fiske 2000: 194) bleibe,
nicht aus funktionalistischen, demokratiepolitischen Gründen akzeptieren, sondern
diese diskutieren bzw. dieser widersprechen sollten.
Dass dem nicht so sei, dafür macht Fiske eine gewisse professionelle Ideologie
verantwortlich, die im Wesentlichen schriftlich, homogenisierend und textuell auto-
ritär sei und verhindere, dass die in Nachrichten potenziell eingebauten „Elemente
der Popularität“ wirksam würden (vgl. Fiske 2000: 213):
„Nachrichten scheinen von der Realität der Ereignisse und den politischen Erfordernissen
einer Demokratie bestimmt zu sein. In jedem Fall aber scheinen bei ihnen die von oben nach
unten wirkenden Kräfte stärker zu sein als die von unten nach oben wirkende Produktivität,
die für die Populärkultur charakteristisch ist.“ (Fiske 2000: 166)
Diese „doppelte Macht des Nachrichtendiskurses“ erfordert es, das Hauptaugenmerk
darauf zu legen, wie Journalismus und seine Leser mit den Themen, die sie behan-
deln, umgehen (vgl. Fiske 2000: 167f.).
Für Fiske sind Fernsehnachrichten gar „nicht populär genug“, denn gerade der
Populäre Journalismus mit seiner Tendenz zur Informationsfragmentarisierung
erfülle die Relevanzkriterien von „undisziplinierten“, populären Lesern, die jeweils
nur kurz in Nachrichten eintauchen wollten, um nach für das alltägliche Leben
brauchbaren bzw. diesem ähnlichen Textstrukturen zu suchen (vgl. Fiske 2000: 215;
217). Dabei seien Nachrichtentexte mit der gleichen Freiheit und Respektlosigkeit
zu behandeln wie fiktionale Texte: Die Zuseher sollten von den Texten ermutigt
werden, mit ihnen zu verhandeln, und die Texte sollten ihre diskursiven Ressourcen
dazu verwenden, das Publikum zu provozieren und zu stimulieren, ihren Sinn aus
den sozialen Erfahrungen, die sie beschreiben, zu erzeugen und ihren Standpunkt
dazu einzunehmen (vgl. Fiske 2000: 194).
278 Rudi Renger

Diesen Relativismus hinsichtlich einer von Fiske postulierten Mehrdeutigkeit


von populären Texten schränken Curran und Sparks (1991) jedoch explizit ein: Zum
einen sei die textuelle Polysemie nicht bis ins Unendliche ausdehnbar, sondern
beruhe auf identifizierbaren Aspekten der sozialen Welt des Publikums, zum ande-
ren sei die thematische Struktur der journalistischen Inhalte ohnehin durch die
marktspezifische Logik der Medienunternehmen bedingt und nicht von einer unbe-
grenzten Auswahlmöglichkeit des Publikums bestimmt. Nicht zuletzt würden die
Unterschiede in der Interpretation von journalistischen Texten nicht automatisch ein
Verstehen implizieren – der Aktivität der Rezipienten seien somit durchaus feste
Grenzen gesetzt (vgl. Curran/Sparks 1991: 225f.). Zwar würden Massenmedien und
Journalismus wichtige „Schlüsselquellen für den interpretativen Rahmen“ (Cur-
ran/Sparks 1991: 227) darstellen, der Prozess sei aber insgesamt differenzierter zu
fassen.
Sparks (1996: 37ff.) liefert für den Bereich des Populären Journalismus auch
einen Entwurf zur Ideologie des journalistischen Boulevards, wobei er die Thesen
unter einem produktions- und textorientierten Zugang zum Forschungsgegenstand
exemplarisch an Beispielen aus der britischen Presse abtestet. So beschäftigt sich der
Populäre Journalismus seiner Meinung nach mit anderen Bewertungen als der reine
Informationsjournalismus – ein Aspekt, der Langer (1998) zur Formulierung seines
Begriffs des populären Fernsehjournalismus als „the other news“ führt. Die themati-
schen Prioritäten dieser ‚anderen Nachrichten‘ liegen bei personenzentrierten Sto-
ries, melodramatischen Stoffen, Sport, den sogenannten ‚truly awful news‘ sowie
beim Fotojournalismus. Während in diesen Schwerpunkten die Stärken des Popu-
lären Journalismus liegen, zeigt das Genre aber in den traditionellen Informations-
bereichen Politik, Wirtschaft sowie Kunst und Kultur seine Schwächen, indem es
Hintergründe weitgehend ignoriert und verschweigt, verdeckt oder durch Verkür-
zung entstellt.
Populärer Journalismus kann in diesem Sinne deshalb kein Ersatz für jene Art
von Weltverstehen sein, das qualitätsjournalistische Analysen vermitteln. Durch die
Schwerpunktsetzung populärjournalistischer Inhalte auf subjektivierte Alltagsge-
schichten zeichnen sich Boulevardmedien zum einen durch eine bunte Varietät aus,
zum anderen ist deren Struktur jedoch zugleich systematisch depolitisiert bzw. sind
die angebotenen Erklärungsmuster entpolitisiert. Trotzdem findet sich im Populären
Journalismus auch eine politische Dimension. Sparks (1996: 42) bezeichnet diese
aber eher als einen „Politikentwurf“, der sich in ahistorischer Weise und stark frag-
mentiert auf Alltagsmeinungen und populistisches Gedankengut stützt. Die populäre
Konzeption des Subjektiven knüpft in ihrer appellativen Struktur unmittelbar an die
persönlichen Erfahrungen des Publikums an und wird zum politischen Erklärungs-
rahmen, innerhalb dessen die soziale Ordnung scheinbar durchschau- und verstehbar
wird. Das Persönliche, das im Informationsjournalismus meist nur ein kleiner Teil
eines Nachrichteninhaltes ist, wird im Populären Journalismus zum universalen
Interpretationsrahmen und als solcher als Schlüssel zum Verständnis der sozialen
Totalität bereitgestellt.
Populärer Journalismus 279

Neben der textuellen Ebene weist Sparks auch auf die kontextuelle Ebene hin.
Zwischen der massenmedialen Ideologie und der sozialen Totalität der Rezipienten
muss in die Analyse des Populären Journalismus auch die Vermittlungsebene der
institutionellen Strukturen, der wirtschaftlichen Beziehungen etc. einbezogen wer-
den. Ein umfassendes Erhebungsbild wird dann zeigen können, dass die Absicht des
Populären Journalismus kaum – wie es etwa der ‚kulturelle Relativismus‘ à la Fiske
sehen möchte – darin liegt, Alltäglichkeit bzw. das ‚everyday life‘ als einen Ort des
politischen Widerstands zu zelebrieren und in diesem Zusammenhang „intellektuel-
les Material zur Selbstbefreiung“ bereitzustellen, sondern dass das Populäre im Bou-
levardjournalismus unter dem Druck ökonomischer Notwendigkeiten häufig eine
durchaus reaktionäre Kategorie darstellt (vgl. Sparks 1996: 42).
Diesen Gedanken und andere mehr exemplifizieren Bruck und Stocker (1996)
an Hand des österreichischen Boulevardblattes Neue Kronen Zeitung. Ziel der bei-
den Autoren ist es, die Rolle der Boulevardzeitung in der Alltagspraxis des Publi-
kums, d.h. den Umgang der Leser mit der Zeitung und den Prozess der damit ver-
bundenen Sinnproduktion, zu erklären. Die Varietät der Nutzung der Neuen Kronen
Zeitung zeigt sich für Bruck und Stocker in der „Vielfältigkeit der Text-Leser-Inter-
aktion“. Ihre Hauptthese lautet, dass verschiedene Personen verschiedene Teile der
Zeitung in verschiedenen Situationen in unterschiedlicher Weise lesen würden.
Soziodemografische und psychologische Variablen, Textauswahl bzw. textuelle
Selektionsmuster, Leseorte und Lesezeiten sowie Lektüremuster geben Auskunft
darüber, wie Boulevardzeitungen ihr Publikum vielschichtig und konventionalisiert
ansprechen und die Inhalte von den Rezipienten im Prozess des Verstehens komplet-
tiert bzw. „weitergeschrieben“ werden (vgl. Bruck/Stocker 1996: 287f., 296). So be-
stimmen soziale Schichtzugehörigkeit, inhaltliches Interesse und textuelle Komple-
xität in hohem Maß die Publikumszuwendung, wobei im Rezeptionsprozess vor
allem diejenigen journalistischen Botschaften bevorzugt würden, die – im Sinne von
Lévi-Strauss (1963: 89) – „gut zu denken“ seien, d.h. der jeweils präferierten Bedeu-
tung einen Zusammenhang bzw. Anschlussmöglichkeiten an den Alltag verleihen
könnten (vgl. Alasuutari 1996: 28; Bruck/Stocker 1996: 259f.).
Aus den erhobenen Selektions- und Lektüremustern setzen die beiden Autoren
schließlich zwölf Faktoren des Text-Leser-Interaktionsprozesses zusammen. Der
quotenstarke Zuspruch des Publikums gegenüber der Neuen Kronen Zeitung ist
demnach bedingt durch niedriges Einstiegsniveau, interne Differenzierung des Pro-
dukts für verschiedene Bildungsschichten und Rezeptionssituationen, Emotiona-
lisierung, Unterhaltung, handliche Blattgröße, Orientierungsangebote für den Alltag,
soziale Macht durch das Emotionalisierungsmuster der „Empörung“, Reiz der publi-
zistischen Stärke, Interessenskonvergenz, reduzierte Komplexität bzw. Normalität
als Weltbild, Gewohnheit bzw. Alltagsroutine und erst an letzter Stelle Befriedigung
von Informationsbedürfnissen (vgl. Bruck/Stocker 1996: 297ff.).
Sparks‘ Ansatz zur Erklärung des ideologischen Gehalts von Tabloid-Formaten
bzw. von Politikentwürfen in Boulevardblättern wurde von Renger (2002) als Aus-
gangspunkt einer Studie über die politische Berichterstattung in den drei größten
deutschsprachigen Boulevard-Tageszeitungen herangezogen. Die deutsche Bild-
280 Rudi Renger

Zeitung, die österreichische Neue Kronen Zeitung und der Schweizer Blick wurden
quantitativ und qualitativ untersucht; mit einer Objektivitätsanalyse (vgl. Merten
1995: 27ff.,222f.) wurde die objektive Darstellung in der Berichterstattung über-
prüft, etwa die Trennung von Nachricht und Meinung. In der Untersuchung zeigte
sich Folgendes (vgl. Renger 2002: 230f.):
• Eine Tendenz von den boulevardjournalistischen Randzonen hin zu einem popu-
lärjournalistischen Mittelfeld kann in bestimmten Merkmalen für die Bild-
Zeitung angeführt werden;
• boulevardjournalistische Tageszeitungen bieten ein eher schmales Spektrum an
politischen Berichtsthemen;
• die untersuchten Blätter betonen in ihrer Politikberichterstattung (überraschen-
derweise) weniger den individuell-privaten ‚Human interest‘-Bereich, sondern
behandeln in erster Linie innen- und außenpolitische Themen;
• die gebotenen politischen Inhalte sind stark fragmentiert und überwiegend als
Nachricht oder Meldung aufbereitet;
• Unmittelbarkeit und Nähe wird in der politischen Berichterstattung der Boule-
vardblätter u.a. durch starke Wertungen und Meinungs-Sedimente in – nach
außen hin – objektive journalistische Darstellungsformen eingebettet;
• das Persönliche und Meinungsbetonte dürfte auch als Andockstelle für die indi-
viduellen Erfahrungen des Publikums dienen.
Auf Grund dieser Befunde wird auch klar, dass der Boulevard- und Populäre Journa-
lismus als eine Art von Diskursmaschine aufzufassen ist, die in ihren Manifestati-
onen Empörung initiiert und Vorurteile in – oft wochenlangen – Serien- und Kam-
pagnenformen gezielt managt – und auf diese Weise auch durchaus Politik betreibt
(vgl. Renger 2002: 231).

4 Zusammenfassung

Die Formulierung einer Theorie des Populären Journalismus wird dadurch


erschwert, dass sich das Phänomen des Populären mittlerweile quer durch sämtliche
medialen Genres zieht, das System Journalismus zunehmend „an den Rändern ‚zer-
franst‘“ (Scholl/Weischenberg 1998: 270) und deshalb nicht (mehr) an einzelnen
Erscheinungsformen festgemacht werden kann. Massenmedien – so Luhmann
(1996: 20) – seien heute generell „auf Popularisierung verpflichtet“. Vorläufig kann
deshalb festgestellt werden: Statt einer spezifischen populärjournalistischen Theorie
kann auf einen Pluralismus von unterschiedlichen theoriezugewandten Annäherun-
gen an das Phänomen des Populären Journalismus verwiesen werden. Der Populäre
Journalismus selbst ist als ein Subgenre bzw. Teilsystem in einem allgemeineren
Populärer Journalismus 281

System von unterschiedlichen Journalismen zu begreifen, wobei – je nach Schwer-


punktsetzung der Betrachtung – die Thesen einer intergrativen sozialtheoretischen
Sichtweise von Journalismus als in verschiedene Kontexte geteiltes Funktionssystem
(Weischenberg 1992, 1995; Scholl/Weischenberg 1998) oder als gesellschaftliches
Ganzes (Hartley 1996) gültig sind.
Die Anwendung der Perspektive der kontextuellen Populärkulturforschung bzw.
des Cultural Studies-Ansatzes auf die Journalismusforschung ist somit weniger als
ein Alternativmodell zur kommunikationswissenschaftlichen Mainstream-Journalis-
tik aufzufassen, sondern vielmehr als ein weiterer analytischer Beitrag, um Journa-
lismus insgesamt besser betrachten, beobachten, untersuchen, artikulieren und ver-
stehen zu können. Eine kultur- bzw. kulturwissenschaftlich orientierte Journalismus-
forschung sieht den Gegenstand des Populären Journalismus allgemein im Span-
nungsfeld eines „struggle over meaning“ und fragt danach, wie die Bedeutung in
jedem einzelnen journalistischen Text geschaffen und fixiert wird – sowohl auf der
Produzenten- wie auf der Konsumentenseite. Der integrale Bezugspunkt für die
Analyse des Populären Journalismus ist demnach die Beziehung zwischen den nar-
rativen Strukturen und dem sozialen Bedeutungshintergrund.

Anmerkungen

1 Dieser Beitrag baut in Teilen auf Renger (2001) auf.

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Die (Fernseh-)Fiktion als Gemeinschaftswerk(en) und
kulturelle Teilhabe

Ursula Ganz-Blättler

1 Fiktion als soziale Praxis

Begriffe wie ‚Information‘, ‚Berichterstattung‘, ‚Fiktion‘, ‚Unterhaltung‘, oder


‚Werbung‘ bezeichnen nicht primär einen Gegenstand oder eine Dienstleistung, im
Sinne eines Produkts mit bestimmten, identifizierbaren Eigenschaften, sondern spe-
zifische, unterschiedlich konzipierbare Kommunikationsprozesse, die stets mehrere
Beteiligte involvieren und damit auch mehrere kommunikative Absichtserklärungen.
Da möchte (oder hofft) jemand jemanden anderen, mehr oder minder Bestimmten,
über einen Sachverhalt zu informieren bzw. ihm oder ihr Bericht zu erstatten. Oder:
Jemand hat sich für einen kleineren oder größeren Personenkreis etwas ausgedacht,
um diesen zu unterhalten oder ihm ein Produkt als Ware oder Dienstleistung
schmackhaft zu machen. Dabei gibt es keine Gewähr für den gewünschten Erfolg,
sei es im Sinne einer intendierten Verhaltensänderung, sei es in der Hoffnung auf
gesellschaftliche Anerkennung oder signifikant steigende Absatzzahlen. Denn eine
kommunikative Absicht trifft immer auf andere kommunikative Absichten und ist
mit diesen nur bedingt kompatibel. Mit anderen Worten: Kommunikation ist, da in
erster Linie eine Beziehungsgeschichte, letztlich unkontrollierbar und prekär.1
Fiktion als Absichtserklärung und soziale Praxis (und damit als kommunikatives
Genre) bezeichnet vor diesem Hintergrund eine mehr oder weniger explizit formu-
lierte Einladung zum Mitmachen beziehungsweise Mit-Imaginieren. Dies schlägt
Noël Carroll (1998: 272) vor, der Fiktionen definiert als: „ […] stories that authors
intend readers, listeners, and viewers to imagine.“ Das heißt, es geht um Geschich-
ten, die Lesende, Zuhörende oder Zusehende nicht etwa fertig zusammengesetzt frei
Haus geliefert bekommen, sondern als Bausätze und Imaginationsangebote erst ein-
mal mit eigenen Versatzstücken aus Fantasie und kontextuellem Wissen, aus emoti-
onalen Implikationen und Sinngebungen anreichern und ergänzen (sollen). Doku-
mentarische Berichterstattung (sei es als Ergebnis einer journalistisch-aktuellen oder
auch historischen Langzeitrecherche) könnte analog definiert werden als ‚stories
that authors intend readers, listeners, and viewers to realise‘; sie wären dann Einla-
dungen zum gemeinsamen Nachvollziehen bzw. Wahr-Nehmen von solchen
Geschichten, die durch vorgefundene (bzw. nicht eigens für den Kommunikations-
286 Ursula Ganz-Blättler

prozess erfundene oder erdachte) Zeugnisse beziehungsweise durch entsprechende


„Authentiziätssignale“ (nach Hattendorf 1999: 54), hinreichend abgesichert
erscheinen.2
Dabei ist oder wäre ein solches (für) Wahr-Nehmen, genauso wie das Mit- und
Weiter-Imaginieren, als aktiver und komplexer, als kontextabhängiger und nur sehr
beschränkt kontrollierbarer Prozess zu verstehen – und zwar unabhängig vom
Umstand, ob dabei für Außenstehende nachvollziehbare Spuren hinterlassen werden,
ungeachtet auch des Umstandes, ob der Autor, je nachdem als Berichterstatter oder
Spielleiter, über die Tragweite der individuellen und kollektiven Anschlussaktivitä-
ten in Kenntnis gesetzt wird oder nicht. Wir haben es hier mit verschiedenen Formen
von Lese-Verträgen oder kommunikativen Verträgen zu tun,3 die bestimmten genre-
spezifischen Regeln und Konventionen folgen, dabei aber auch immer wieder spezi-
fische Konfliktfelder generieren.
Als Einladung zum Mit-Imaginieren ist Fiktion auf der Empfängerseite ange-
wiesen auf eine gewisse minimale Bereitschaft zu dem, was Samuel Taylor Cole-
ridge bereits 1814 unter dem Stichwort der „poetic faith“ (vgl. Coleridge 1985: 314,
und weiterführend Coleridge 2004) zusammengefasst hat, nämlich als „[…] willing
suspension of disbelief for the moment“: Es geht beim Lesen, beim Zuhören und
beim Zuschauen (oder bei einer performativen Kombination von all dem) ja gerade
nicht darum, den Autoren zu ‚glauben‘ bzw. die als Protagonisten einer fiktionalen
Erzählung kodierten Repräsentanten eines einmal imaginierten Parallel-Universums
mitsamt ihren Erlebnissen, Erfahrungen und Emotionen als ‚wirklich‘ oder zumin-
dest wahrscheinlich in ihrer Existenz zu bestätigen. Vielmehr verlangt der kom-
munikative Lese-Vertrag bei dieser mehrschichtigen und entsprechend komplexen
Spielvariante, dass zunächst einmal – bevor überhaupt den angebotenen Imaginati-
onen folgend mit- und weiter imaginiert werden kann – eine ganz eigene Welt des
Glaubens kreiert oder einmal mehr bestätigt wird: Angenommen, die Geschichte
lohnt den Aufwand, bin ich bereit, meinen prinzipiellen Unglauben an das, was sich
als Fiktion zu erkennen gibt, metaphorisch an der Garderobe abzugeben, und zwar a)
freiwillig und b) bei vollem Verstand, aber doch nur c) ‚for the moment‘ – für den
Augenblick also und auf beschränkte Zeit.
Die Rolle eines mit fiktionalen Genres vertrauten und entsprechend konditi-
onierten Publikums ist dann aber eine doppelt aktive: Nicht nur erklärt es sich bereit
zur freiwilligen Teilnahme an allerlei Ungereimtheiten, mit inbegriffen die Ausser-
Kraft-Setzung von physikalischen Gesetzen und die Aufhebung von jeglichem all-
tagstauglichen Common Sense. Darüber hinaus suggeriert Carrolls eingangs zitierte
Definition, dass ein solches „Mitspielen“ sehr wohl auch als Ko-Autorenschaft ver-
standen werden kann.
Ein wichtiger Unterschied zwischen dem Imaginieren und dem Fingieren ergibt
sich dabei, in Anlehnung an Paul Sartres „Psychologie de l‘Imagination“ (1940) und
Wolfgang Isers Überlegungen zu einer literarischen Anthropologie (1983 und 1991),
in der unterschiedlichen sozialen Reichweite und Bedeutung solchen Tuns: Imagina-
tion erscheint ja, als Tagtraum verstanden, stets auf die Person des oder der Ima-
ginierenden selbst bezogen und damit als eine private Tätigkeit, die ohne auf andere
Die (Fernseh-)Fiktion als Gemeinschaftswerk(en) und kulturelle Teilhabe 287

gerichtete „Anschluss-Imaginationen“ unentdeckt und entsprechend unreflektiert


bleibt. Währenddem Fiktion als öffentliche Imagination den Austausch mit anderen
Spielpartnern gezielt sucht – und sich in Folge dessen auch mit Vorteil an bereits
ausgehandelte Regeln und Konventionen (zum Beispiel der narrativen Genres oder
auch der für ein bestimmtes Medium ausgebildeten Symbolsprache) hält.4
Was nun allerdings in Carrolls Definition ausgeklammert oder zumindest ambi-
valent bleibt, ist die Frage, inwieweit dieses Weiter-Imaginieren auch ein Weiter-
Fingieren sein darf und auch dann noch im Rahmen der von dem Autor oder von
den Autoren intendierten rezeptiven Aktivitäten ‚legitim‘ erscheint.
Mit anderen Worten: Während die Rolle des oder der Interpretierenden erneut
als eine aktive bestätigt wird, da sie nach Carroll eine Mit-Autorschaft am Text kon-
stitutiv voraussetzt (Vordenker zum Begriff des „offenen Kunstwerks“ war hier Eco
1962, Vordenker zu den les- als „schreibbaren“ Texten Barthes 1970), erscheint die
Rolle des Autors als die des Voraus-Imaginierenden und Anstifters durchaus doppel-
deutig: Er kann genauso gut als Spielleiter im Sinne eines Conférenciers oder master
of ceremonies verstanden werden, der Regeln setzt und an allfällige Mitfingierende
weiter kommuniziert, ohne dass er das Spiel der Imaginationen selbst zu beeinflus-
sen sucht, wie auch als strategischer „Marionettenspieler“, der sich die Kontrolle
über den Prozess des Zusammensetzens nach den Regeln seines Spiels vorbehält
und eifersüchtig darüber wacht, dass das, was seitens von einzeln oder kollektiv
Rezipierenden über imaginative Zusatzleistungen an Mehrwert produziert wird, im
Normbereich des zuvor (sei es gesetzlich oder konventionell) Festgelegten bleibt.
Was ist aber, wenn der Einladung zum Mit- und Weiter-Imaginieren auf der
Empfängerseite über ein mehr oder weniger kreatives Mit- und Weiter-Fingieren
Folge geleistet wird? Unter welchen Umständen ist dieses Tun – in Form von indivi-
duellen Wunschträumen oder auch expliziten Anschlusskommunikationen, wie sie
beim Austausch von Fanfiction als Tertiärtexten zu Fernsehserien eher die Regel als
die Ausnahme sind – gerade noch als legitim zu betrachten oder aber als kommuni-
kativer „Vertragsbruch“?
Gerade bei kommerzialisierten oder anderweitig institutionalisierten Fiktions-
vorgängen sind hier Konflikte um Abgrenzung und Besitzstandwahrung beziehungs-
weise Partizipation und Aneignung vorprogrammiert, legen doch wirtschaftliche
ebenso wie kulturelle oder ideologische Interessen nahe, dass der Zugriff der Rezi-
pierenden auf autorenrechtlich geschütztes Material nach Möglichkeit auf ein priva-
tes Weiter-Imaginieren – plus allfällige Mund-zu-Mund-Propaganda – beschränkt
bleibt.5 Wir haben es hier mit einem von verschiedenen Konfliktfeldern zu tun, für
die der fiktionale Kommunikationsvertrag als Vereinbarung zwischen Anbietern von
narrativen Strukturen, die zum Imaginieren einladen, und Abnehmern dieser narrati-
ven Strukturen, die sich freiwillig mit ins einmal vorgeschlagene narrative Uni-
versum als fiktionalen think tank begeben, keine oder nur unzulängliche Regelungen
bereit hält.6
Jedenfalls ‚lebt‘ der Autor in Carrolls Definitionsvorschlag, und er (oder sie) hat
durchaus entscheidenden Einfluss auf die eigene Schöpfung als einmal begonnenes
und irgendwann auch, zumindest versuchsweise, zu Ende geführtes Werk.7 Und
288 Ursula Ganz-Blättler

trotzdem lässt sich das ‚Ende der Geschichte‘ – verstanden als narrative Schließung,
wie sie in älteren literarischen als verfasserzentrierten Erzählmodellen fast zwingend
vorgeschrieben war8 – bei einem Fingieren, das als Gemeinschaftswerk(en) definiert
wird, kaum mehr verlässlich absehen oder gar am Werk selbst festmachen. Denn die
Erzählung ist als gemeinsam Ersponnenes auch erst dann ‚fertig‘, wenn alles Mit-
und Weiter-Imaginieren ein Ende hat, sei es als Resultat einer entsprechenden kom-
munikationsvertraglichen Übereinkunft oder, weil die gemeinschaftlich erdachte
Geschichte als Text den daran Beteiligten irgendwann schlicht ‚aus dem Sinn‘
kommt.9 Es ist von daher vor allem eine Konventionsfrage, ob man vom Ende einer
Geschichte als story bereits dann sprechen will, wenn sich die Autoren unmissver-
ständlich von ‚ihrer‘ Fiktion als Werk verabschiedet haben und keine weiteren Ein-
ladungen zum Fingieren mehr nachschieben,10 oder ob erst die (explizite oder impli-
zite) Akzeptanz eines einmal angezeigten Endes seitens der Leser-, der Zuhörer-
oder Zuschauerschaft die Geschichte im Wortsinn abschließt.

2 Kommunikation als Transport und Zeremonie

Während bereits der „kommunikative Vertrag“ als Metapher nahelegt, dass hier
Kommunikation nicht einfach als Informations- oder Bedeutungstransfer von einer
Seite (Kommunikator/Autor) nach einer anderen (Rezipient/Leser) zu verstehen ist,
impliziert auch die Idee der Fiktion als einer Einladung zum Weiter-Imaginieren und
Weiter-Kommunizieren eine (inter-)aktive Beteiligung des Publikums am kreativen
Prozess – sei es in der Rolle einer partizipativen, weitgehend reglementskonformen
oder aber einer konspirativ-oppositionellen Interpretationsgemeinschaft. Eine ent-
sprechende Beschreibung von Kommunikation, die Bedeutungen nicht (nur) über-
trägt, sondern als kollektive Leistung im Rahmen bestimmter kontextueller Vorga-
ben immer wieder neu generiert und modifiziert, hat James W. Carey 1975 – also
ungefähr zeitgleich mit Stuart Halls berühmterem Encoding/Decoding-Modell – in
seinem Aufsatz „A Cultural Approach to Communication“ vorgeschlagen (vgl.
Carey 1988: 14-15):
„Two alternative conceptions of communication have been alive in American culture since
this term entered common discourse in the nineteenth century. Both definitions derive, as with
much in secular culture, from religious origins, though they refer to somewhat different regi-
ons of religious experience. We might label these descriptions, if only to provide handy pegs
upon which to hang our thought, a transmission view of communication and a ritual view of
communication.“
Carey schlägt dann, im Einklang mit seiner Herkunft aus den US-amerikanischen
Cultural Studies, mehrere Standpunkte und entsprechende Sichtweisen vor, von
denen aus sich kommunikative Prozesse perspektivisch einmal so und dann wieder
ganz anders betrachten lassen. Und er lädt uns ein, dasselbe zu tun – und sei es bloß,
um uns ein paar praktische bildliche ‚Kleiderhaken‘ zu zimmern, an denen wir
unsere Gedanken aufhängen und festmachen können.
Die (Fernseh-)Fiktion als Gemeinschaftswerk(en) und kulturelle Teilhabe 289

Die metaphorische Konzeption von Kommunikation als Transport (bestimmter


Botschaften von einem räumlichen Punkt zum anderen) einerseits und Ritual (zur
Herstellung und zum Erhalt von Gemeinschaft über Zeit) andererseits rückt dabei
jeweils unterschiedliche, handlungstypische Rollenmuster und situative Aspekte
desselben Vorgangs in den Vordergrund, wie es das nachfolgende Modell deutlich
macht:

Tabelle 1: Zwei Kommunikationsmodelle (nach James Carey 1975/1988):11

Transmissionsmodell Ritualmodell
Analogiebildung: Transport Zeremonie
Rollenverteilung: Sender und Empfänger Teilnehmende
Information wird: Gesendet und empfangen Kreiert und re-kreiert
Ziel erreicht, wenn: Information Empfänger erreicht Erfahrung geteilt wird (Gefühl
(Exaktheit der Übermittlung) der Gemeinschaft)
Funktion: Einfluss über räumliche Distanz Erhalt von Gemeinschaft über
Zeit
Medium dient als: Kanal, Transportmittel Treffpunkt, Forum

Zwei Argumente scheinen mir in Careys doppelgesichtiger Konzeption von Kom-


munikation besonders anregend: Zum einen die postulierte Nähe unserer heutigen,
säkularen Kommunikationsbegriffe (die ja immer auch den Glauben an ein mögli-
ches Gelingen von Kommunikation voraussetzen) zu ursprünglich religiös besetzten
Strategien und Praktiken – man könnte diese beispielsweise als „Wort Gottes ver-
breiten“ und „gemeinsam feiern“ paraphrasieren. Und zum anderen das Paradox,
wonach Kommunikation (als Kulturträger und Kulturfaktor) stets ambivalent zu ver-
stehen sei – nämlich auf der einen Seite durchaus hierarchisch strukturiert und auf
die sinngemäße Übermittlung einer Botschaft von einem Punkt zum anderen
bedacht, auf der anderen Seite aber auch um Ausgleich von unterschiedlichen Positi-
onen zugunsten der gemeinschaftlichen Teilnahme an demselben Anlass oder Pro-
zess bemüht. Wobei das eine das andere nicht ausschließt: Ein statusbedingtes Hie-
rarchiegefälle setzt ja zumindest eine gemeinsame Symbolsprache voraus, die alle in
das System eingebundenen Personen und Gruppen als Angehörige derselben com-
munitas kenn- und auszeichnet. Von dieser communitas als Exklusivgemeinschaft
bleiben dann aber wiederum alle dissidenten Individuen und Gruppen ausgeschlos-
sen, die sich entweder als nicht zugehörig erklären oder denen die Zugehörigkeit
von seiten der dominanten ‚In-Group‘ verweigert oder irgendwann abgesprochen
wurde.
Folgt man Careys Argumentation, kann man unter anderem zum Schluss kom-
men, dass es bei einer analytischen Betrachtung von Kommunikationsprozessen gar
nicht so sehr der Forschungsgegenstand ist, der die Wahl der jeweiligen Forschungs-
perspektive nahelegt, sondern vielmehr das leitende Forschungsinteresse, das Hie-
rarchiegefälle genauso wie Austauschprozesse (hier: die „vertraglichen“ Absprachen
von Kommunikationspartnern) näher unter die Lupe nehmen kann. Gerade die klas-
sischen Massenmedien wie Presse, Kino, Radio und Fernsehen, die ja gemäß Ger-
290 Ursula Ganz-Blättler

hard Maletzke (1963, 1987) grundsätzlich asymmetrisch organisiert sind und über
die jeweilige technische Infrastruktur ein disperses, weitgehend anonymes Publikum
erreichen, werden inzwischen nicht mehr allein in ihrer Funktion einer territorialen
Versorgung mit zentral aufbereiteten Neuigkeiten analysiert, sondern, genauso wich-
tig, in einer Vielfalt von zeremoniell angebotenen und entsprechend institutiona-
lisierten Sozialfunktionen, die über die virtuelle und zeitweilige Präsenz in symboli-
schen Kommunikationsgefügen oder -netzwerken wahrgenommen werden (können).
Dazu gehören alle Formen von kollektiver Sinnstiftung, gehören insbesondere auch
raum- und zeit- sowie gruppenspezifische Kongregationen und Segregationen, und
es gehören – gerade mit Blick auf die hier behandelten literarischen auf audiovisuel-
len Fiktionen – eine Vielzahl von gemeinschaftlich bewirtschafteten Projektionsflä-
chen für Wunschvorstellungen und Ängste mit dazu.

3 Fiktion als kommunikatives Genre

Ein Genre, als textbezogenes Ordnungssystem oder hierarchisch geordneter Be-


standteil einer solchen Ordnung (im Sinne einer ‚Textsorte‘, die zu anderen Textsor-
ten in spezifische Beziehung tritt), bezeichnet gemäß Jim Cullen (2001: 5) „[…] a
form that has more specific expectations surrounding it.“ Genres sind als von Erwar-
tungen geprägte Textformen immer konventionell und rekurrieren auf erkennbare
Modelle; sie sind außerdem häufig mit genrespezifischen Formeln, also bewährten
Rezepturen hinsichtlich Ingredienzien und Abläufen, gekoppelt. Gemäß John Fiske
(1987, 1999: 110) sind diese im Fall der Populärkultur industriell geprägt und schon
von daher nicht an ästhetischen Kriterien wie etwa ihrer Originalität zu messen.
Während Genres ohne Weiteres das Medium wechseln können und sich damit in
ganz verschiedenen symbolischen Kodesystemen „einnisten“ können, bezeichnen
Formate nach Cullen (ebd.) „[…] the specific organization a form takes within a
medium“. Auch hier sind es, im Fall der Populärkultur, vor allem ökonomische
Standards, die die innere und äußere Erscheinungsform des „formatierten“ Textes
hinsichtlich ihrer Platzierung, ihrer räumlichen oder zeitlichen Ausdehnung und
ihrem Aufbau bestimmen.11
Genres können aber nicht nur als Textsorten gemäß strukturellen Kategorien
unterschieden werden, sondern lassen sich auch über ihre massenmediale Funkti-
onen als diskursive Praxis definieren. Niklas Luhmann unterscheidet bekanntlich in
seiner systemtheoretischen Beschreibung von Massenkommunikation (1996, 20052)
drei Makrogenres, die je spezifische Funktionen für die in ihnen gespiegelte (oder:
in ihnen rekonstruierte) soziale Realität wahrnehmen: die Berichterstattung, die
Unterhaltung und die Werbung. Allen dreien sind, um Cullens Kriterien wieder auf-
zugreifen, sowohl genrespezifische Konventionen und Formeln wie auch medien-
spezifische Formate eigen. Die Fiktion zählt dabei, wie das Spiel auch, zu den unter-
haltenden Textsorten, denn sie stellt der sozialen Realität alternative Spielarten von
Realität zur Seite, die auf Grund ihrer Kodierung als „Wirklichkeitsmodell“ bereits
Die (Fernseh-)Fiktion als Gemeinschaftswerk(en) und kulturelle Teilhabe 291

ein Stück weit Unverbindlichkeit signalisieren: Man kann sich zwar auf sie einlassen
und zum Beispiel alle möglichen, mehr oder weniger eskapistischen Vergnügens-
aspekte daraus gewinnen, ist dazu aber auf Grund des inherenten Freizeitcharakters
zumindest nicht verpflichtet.
Während nun unterhaltende Textsorten all das, was wir nach den Kriterien unse-
res Allgemeinwissen als soziale Realität wiederzuerkennen glauben, als Möglichkeit
und Imagination immer wieder neu entwerfen; während andererseits werbende Text-
sorten entsprechend ihrer Abhängigkeit von kommerziellen oder anderen Interessen
nichts anderes tun als erwartungsgemäß zu ‚lügen‘ (nach Luhmann zwei durchaus
legitime Strategien, um die häufig postulierte Repräsentationsfunktion von Massen-
medien zu relativieren), sieht sich ausgerechnet die als authentisch und entsprechend
ernsthaft kodierte Berichterstattung in allen ihren Spielarten mit der an sich unlös-
baren Aufgabe konfrontiert, so etwas wie ‚Realität‘ oder ‚Wirklichkeit‘ auch tat-
sächlich (re-)produzieren zu müssen. Als Problem stellt sich dabei weniger das – bei
allen am Kommunikationsprozess beteiligten Parteien durchaus vorhandene – Wis-
sen um die prinzipielle Unmöglichkeit eines solchen Vorhabens als vielmehr die,
wiederum genrespezifische, Erwartung, dass es eben doch möglich sein müsse. Und
eine interessante Anschlussfrage wäre, wo Niklas Luhmann heute Hybrid-Genres
wie etwa die verschiedenen Spielformen von Reality ansiedeln würde – ziemlich si-
cher nicht in dem durch die Bezeichnung „Reality“ an sich suggerierten Bereich der
Berichterstattung, sondern je nachdem im Bereich der Unterhaltung (auf Grund der
supponierten Alltagswelten und Extremsituationen sowie des unübersehbaren Spiel-
charakters) oder auch im Bereich der Werbung (auf Grund der Abhängigkeit von
kommerziellen Interessen und des forcierten Einsatzes interaktiver Technologien).
Fiktion als kommunikatives Genre erlaubt aber nicht nur einen durch eigene
Erwartungen vorgespurten, konventionell geregelten und letztlich virtuellen Über-
tritt in alternative Realitäten, sondern, wie wir oben gesehen haben, auch eine aktive
und kreative Teilnahme an den Ereignissen und Handlungen innerhalb des einmal
angewählten Paralleluniversums. Für solche zwar vergleichsweise risikoarmen, aber
durchaus zeit- und energieaufwändigen Aufenthalte in Grenzregionen existenzieller
menschlicher Erfahrung, zu denen letztlich alle medialen Unterhaltungsangebote
einladen, hat der britische Anthropologe Victor Turner den Begriff des „Liminoi-
den“ geprägt (vgl. Turner 1982, 1995). Auch hier spielt die weiter oben erwähnte
Vorstellung von kommunikativen Gemeinschaften eine wichtige Rolle: Indem ich
mich auf Fiktionen einlasse und dafür zum einen „poetic faith“ entwickle, zum
anderen aber auch mein ganzes gesammeltes Vor- und Spezialwissen in die Waag-
schale werfe, um einen Mehrwert an Sinn zu generieren, gehe ich einen „kommuni-
kativen Vertrag“ nicht nur mit den Autoren der gewählten Geschichte ein (die mir
die wesentlichen Versatzstücke liefern, die ich für mein eigenes privates oder öffent-
liche Weiter-Imaginieren benötige), sondern auch mit den Spielfiguren der
Geschichte (die an meiner Stelle oder als mir vertraute Bezugspersonen handeln, lei-
den und genießen, triumphieren und scheitern) und nicht zuletzt mit all jenen, die an
derselben Geschichte und ihrem Fortgang Interesse und Vergnügen zeigen – sei es
als ‚Mitspielende‘ und Komplizen, sei es als Mehr- oder Weniger-Wissende mit ent-
292 Ursula Ganz-Blättler

sprechenden taktischen Vorteilen und Defiziten. Das heißt aber auch, dass die durch-
aus eigen-sinnige Interpretation von fiktionalen Geschichten, als Re-Kreation und
individuelle Eigenleistung mit zahllosen kollektiven Implikationen, letztlich doch
nicht folgenlos bleibt.

4 Fiktion als Einladung zur kulturellen Teilhabe

In ihrem Aufsatz zum angelsächsischen Konzept der cultural citizenship (gemeint ist
damit eine ‚bürgerliche‘ Teilhabe an symbolhaft über Medienkommunikation ver-
mittelten Gemeinschaften, die so etwas wie kulturelle Identität überhaupt erst
ermöglichen), postulieren Elisabeth Klaus und Margreth Lünenborg, dass sich
soziale Zugehörigkeiten heute ohne Rekurs auf medial vermittelte Erfahrungen,
ohne das Bewusstsein aber auch für den rituellen Inklusions- und Exklusionscharak-
ter von solcherart symbolisch generierten Gemeinschaften nur noch unzulänglich
beschreiben und erklären lassen (2004: 199). Und sie erklären die kulturelle Teil-
habe an massenmedialen Diskursen zu einer zentralen und notwendigen (wenn auch
nicht exklusiven oder gar hinreichenden) Dimension von „Staatsbürgerschaft“ (ebd.:
200). Cultural citizenship umfasst vor diesem Hintergrund
„[…] all jene kulturellen Praktiken, die sich vor dem Hintergrund ungleicher Machtverhält-
nisse entfalten und die kompetente Teilhabe an den symbolischen Ressourcen der Gesell-
schaft ermöglichen. Massenmedien sind dabei Motor und Akteur der selbst- und zugleich
fremdbestimmten Herstellung von individuellen, gruppenspezifischen und gesellschaftlichen
Identitäten.“
Populäre Fiktionen nun ermöglichen, indem sie ganz verschiedene Publika zum
individuellen und kollektiven Mit- und Weiterimaginieren von medial angebotenen
Symbolstrukturen einladen, die Bestätigung und spielerische („liminoide“) Neukon-
struktion von Identitäten sowohl entlang den Parametern, die durch genre- und
medienspezifische Konventionen und Kodes vorgeben sind wie auch (mehr oder
weniger intendiert) im Widerspruch dazu. Ein solches ‚Aushandeln‘ nicht nur von
Bedeutungsstrukturen an sich, sondern auch von gesellschaftlichen Positionen inner-
halb von (expliziten oder impliziten) Interpretationsgemeinschaften kann in der Tat
weitreichende Folgen haben. Das Beispiel einer Fernsehfiktion für ein begrenztes,
nämlich jugendliches, vorwiegend ländliches und weitgehend weibliches Publi-
kumssegment (Hélène et les garçons) zeichnet etwa Dominique Pasquier in ihrer
ethnografischen Studie einschlägiger In- und Outgroup-Aktivitäten nach (1999),
wobei sie verschiedene Spielarten von Briefkorrespondenz (an die verehrten Stars
der Serie) und emotional höchst intensiv erlebte Konzertbesuche genauso registriert
wie den einseitig verordneten Ein- oder Ausschluss der Serie aus dem familiären
Alltag oder serien- ebenso wie genderbedingte Konflikte in der schulischen Öffent-
lichkeit. Ihren Beobachtungen zu Folge sind es häufig parasoziale Beziehungen zu
(bestimmten) Serienfiguren, die den Jugendlichen in der Zeit der Adoleszenz über
als schwierig erlebte Grenzsituationen hinweg helfen; und ebenso typisch erscheint
Die (Fernseh-)Fiktion als Gemeinschaftswerk(en) und kulturelle Teilhabe 293

das Abflauen des Interesses für diesen besonderen Gegenstand, sobald sich die eige-
ne, durchaus als liminal erlebte Befindlichkeit innerhalb des unmittelbaren sozialen
Umfeldes geklärt hat.
Explizit mit dem Konzept der cultural citizenship argumentiert schließlich die
niederländische Kommunikationswissenschaftlerin Joke Hermes, die am Beispiel
populärer (und zwar literarischer) Crimefiction, die von Frauen für Frauen geschrie-
ben wurde, die Demarkationslinien von postmodernen Gemeinschaften näher zu
beschreiben sucht. Zum einen fordert sie (1998: 159), dass bürgerliche Teilhabe als
citizenship neu zu definieren sei als „[…] sets (plural) of practices that constitute
individuals as competent members of sets of different and sometimes overlapping
communities one of which should ideally constitue the national (political) culture.“
Zum anderen betont sie, dass gerade solche offenen und dialogisch angelegte Sym-
bolstrukturen, wie sie von populären Fiktionen als „Plattform“ für eigene Aktivitä-
ten und Diskussionsforum angeboten würden, diese Formen von Teilhabe ermögli-
che (vgl. ebd. und Hermes/Stello 2000).
Als weiterer wichtiger Aspekt kommt bei Hermes/Stello die emotionale Zuge-
hörigkeit ins Spiel, die Interpretationsgemeinschaften als Bürgergemeinschaften
mindestens genauso auszeichne wie eine gemeinhin zu Grunde gelegte Lese- oder
anderweitige Kompetenz. Und wenn auch im Übrigen der regelmäßige Konsum von
populären Unterhaltungsangeboten noch nicht als politisch relevante Tätigkeit zu
bezeichnen sei, so gehe es doch um dieselben grundlegenden Fragen von Identätit
und Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Inklusions- sowie Exklusionsabsichten (2000:
219):
„Broadly defined, citizenship is first of all the ways in which we feel connected to the dif-
ferent communities we are part of, ranging from formally organized communities such as the
nation state to virtual communities such as feminism. […] Reading detective fiction may not
in itself be a political act, but as a cultural practice it is related to questions of identity and
community; to a sense of belonging as well as to mechanims of inclusion and exclusion.“

5 Fiktion im Fernsehen

Fiktion im Fernsehen ist in erster Linie Fiktion und erst in zweiter Linie Fernsehen.
Weder die Eigenschaft als audiovisueller Text noch der besonders häufige Umstand
der Serialität zeichnet entsprechende Angebote vor anderen, ähnlich strukturierten
massenmedialen Imaginationsangeboten aus. Wenn es Unterschiede gibt, dann
betreffen sie zum einen die vergleichsweise hohe, nämlich wöchentliche oder sogar
tägliche Ausstrahlungsfrequenz der entsprechenden Programmbestandteile und
damit – eine erklärte Bereitschaft zur aktiven Teilhabe einmal vorausgesetzt – die
besonders große Wahrscheinlichkeit der Habitualisierung und emotionalen Invol-
viertheit (vgl. dazu Hagedorn 1995). Zum anderen erklären sie sich auch aus der
spezifischen gesellschaftlichen Institutionalisierung des Mediums. Dazu gehört etwa
die Frage, ob es sich bei einer ursprünglich produktionsverantwortlichen Senderfa-
294 Ursula Ganz-Blättler

milie um öffentlich oder privat verantworteten Rundfunk handelt, ob der ausstrah-


lende Sender dieselben gesetzlichen und konzessionsmäßigen Auflagen zu respek-
tieren hat wie andere vergleichsweise Anbieter (was zum Beispiel für Kabelsender
in den USA im Vergleich zum sogenannten Free TV nur bedingt gilt) und nicht
zuletzt das kontextuelle Umfeld: Mit welchen technischen Neuerungen, mit welchen
ökonomischen Zwängen und gesellschaftlichen Umbruchprozessen sieht sich das
grundlegende Mediensystem gerade konfrontiert, und zwar auf welchen(der lokalen,
der regionalen, der nationalen oder allenfalls auch der internationalen) Ebene?
Ein interessantes Konzept mit Erklärungspotenzial für einige aktuellen Entwick-
lungen in der europäischen, aber auch der US-amerikanischen Fernsehunterhaltung
hat Umberto Eco 1983 vorgelegt. In seinem polemischen Aufsatz zur „verlorenen
Transparenz“ einer zwar immer komplexeren, dabei aber nicht unbedingt vielfälti-
geren Fernsehlandschaft zeichnet er auf den ersten Blick die gleichen Prozesse nach,
die im deutschsprachigen Raum als „Dualisierung“ beschrieben und kritisiert wur-
den. Und doch folgt seine Unterscheidung von „Paläofernsehen“ und „Neofernse-
hen“ (dazu auch Casetti/Odin 1990) primär anderen Demarkationslinien und lässt
sich eher als Paradigmenwechsel von einem angebotsorientierten hin zu einem nach-
frageorientierten Rundfunkmodell (entsprechend Ellis 1999) interpretieren denn als
bloße Kommerzialisierung eines ursprünglich öffentlich-rechtlichen public service.
Während das ‚alte‘ Fernsehen, das häufig als Monopolbetrieb konzipiert war, ledig-
lich ausgewählte und dieser ganz besonderen Ehre als würdig erachtete Personen auf
den Bildschirm holte, sucht etwa das ‚neue‘ Fernsehen den Kontakt und die Interak-
tion mit ‚seinem‘ Publikum an allen Fronten, sowohl hinter wie auf dem wie auch
diesseits des Bildschirms. Mit der zunehmenden Alltäglichkeit eines Fernsehens als
‚Nahsehen‘ kommen sich aber auch die beiden Instanzen der Produktion und Rezep-
tion laufend näher, und neue Formen der Zuschauerbeteiligung gehen einher mit
neuen Formen der Zuschaueransprache. In den Worten von Casetti/Odin (1990, dt.
2000: 319):
„Im Neo-Fernsehen ist Vertrautheit die Regel: Man nennt sich beim Vornamen, plaudert über
Intimitäten […]; man klopft sich auf den Rücken, spielt sich Streiche, erzählt Witze […]. Hier
sind wir wirklich weit vom pädagogischen Modell des Paläo-Fernsehens entfernt. Das Neo-
Fernsehen ist keine Institution mehr, die sich als Verlängerung der Schule oder der Familie
versteht, sondern als ein in den täglichen Raum integrierter Raum, als ‚Lebensort‘ wenigstens,
wenn man darunter einen Ort versteht, an dem es auf beiden Seiten des Bildschirms Men-
schen gibt, die hier Stunde um Stunde ihres Lebens verbringen.“
Rückwirkungen dieser Entwicklung lassen nicht zuletzt auch die fiktionalen Ange-
bote ebendieses ‚neuen‘ Fernsehens erkennen; sei es, dass der alltäglichen Lebens-
welt von Serienhelden mehr Raum eingeräumt wird als noch vor 10 oder 20 Jahren,
sei es, dass das Publikum über Begleitangebote wie Merchandising-Produkte, Bü-
cher und Spiele zur Serie, intertextuelle Verweise zwischen Programmen und nicht
zuletzt über aufwändig gestaltete und betont interaktive Webseiten selbst in gerade
‚Folgen-losen‘ Zeiten bei der Stange gehalten wird. Um den Unterschied an zwei
unterschiedlichen Beispielen festzumachen: Siska ist deutsches Paläo-Fernsehen,
genauso wie Derrick und Der Kommissar es waren. Welche ‚Neo‘-Fernsehserie
Die (Fernseh-)Fiktion als Gemeinschaftswerk(en) und kulturelle Teilhabe 295

könnte es sich leisten, den Tod des Titelhelden (wegen anderweitiger Interessen des
Hauptdarstellers Peter Kremer) völlig ohne Vorankündigung und weitergehende fik-
tionale Verarbeitung abzuhandeln? Bei Siska geht das ohne Umstände: Der Haupt-
kommissar stirbt, sein Bruder (mit selbem Namen) übernimmt Kommissariat, Ver-
antwortung und Titelpart, und das Publikum hat sich damit abzufinden. Ganz anders
die US-amerikanische, vom renommierten Kabelfernsehsender HBO verantwortete
Serie Six Feet Under, die ihrem auf den ersten Blick wenig alltagstauglichen fikti-
onalen Kerngeschäft (es geht um ein Bestattungsunternehmen) erstaunliche Facetten
von Interaktivität abzugewinnen vermag. Nicht nur, dass die hauseigene Webseite
(vgl. http://www.hbo.com/sixfeetunder) verschiedene Möglichkeiten zur Beteiligung
an Publikumsdiskussionen zu den laufenden und weiter zurück liegenden Episoden
bereit hält und dazu weiterführende Imaginationsangebote wie etwa Nachrufe auf
die in der Serie verstorbenen Spielfiguren – darüber hinaus erlauben die Macher der
Serie in ihren weekly features ausgewählte Einblicke in die Serienwerkstatt, was sich
in der Ankündigung beispielsweise liest als „Inside the Writers‘ Room“, „In a Cas-
ting Session“ oder „In a Production Meeting“. Die von Umberto Eco beklagte „ver-
lorene Transparenz“ wird hier versuchsweise wettgemacht über eine geradezu fami-
liär anmutende Atelier-Atmosphäre, die die Zuschauenden einlädt zu regelmässigen
Einblicken hinter die Kulissen des Produktionsprozesses.
Wenn das ‚neue‘ Fernsehen die Schranken zwischen der Institution und dem
Publikum niederreisst oder zumindest durchlässiger macht, dann sehen sich auch die
Autoren fiktionaler Unterhaltungsangebote entsprechend herausgefordert. Wie die-
ser Aufsatz allerdings aufzuzeigen versuchte, sind es nicht primär die Veränderun-
gen in den Medienstrukturen, die zu veränderten Rezeptionsgewohnheiten führen
(müssen). Genauso wie Fiktion als kommunikatives Genre und soziale Praxis auf die
Zusammenarbeit von Partnern auf beiden Seiten des kommunikativen Vertrags
angewiesen ist, und zwar in jedem Medium, so sind auch mediale Entwicklungspro-
zesse das Ergebnis von komplexeren Zusammenhängen, die (mindestens) zwei Sei-
ten involvieren. Zur ‚Bürgerin‘ einer wie auch immer gearteten zukünftigen Medien-
oder auch Informationsgesellschaft werde (oder wurde) ich vielleicht bereits ohne
mein Zutun erklärt – welche Rollen, und damit auch Rechte und Pflichten, ich aber
in den neuen Bürgergemeinschaften wahrnehme, hängt doch wesentlich von meinen
Interessen und Bedürfnissen und vor allem von meiner eigenen Bereitschaft zur
Involviertheit ab.

Anmerkungen

1 Zur Kommunikation als tentatives Unternehmen und „Risikogeschäft“ vgl. ausführlich


Luhmann (1996, 2005); zur Genese des Begriffs auch Peters (1999).
2 Für Fernsehnachrichten auch Luginbühl (2004).
3 Den Begriff des „contrat de lecture“ oder „contrato de lectura“ hat der argentinische
Sozial- und Geisteswissenschaftler Eliséo Véron geprägt (Véron 1985, und weitere Aus-
führungen bei Adam 1996), wobei er sich auf das Medium der Presse bezog. Francesco
296 Ursula Ganz-Blättler
Casetti schlägt, mit Blick auf Fernseh- und Filmgenres, den Begriff des Kommunikations-
vertrags vor (2001).
4 Dazu Iser 1991: 21-22: „Da das Fingieren auf Zwecksetzung bezogen ist, müssen Zielvor-
stellungen durchgehalten werden, die dann die Bedingung dafür abgeben, Imaginäres in
eine bestimmte Gestalt zu überführen, welche sich von den Fantasmen, Projektionen und
Tagträumen unterscheidet, durch die das Imaginäre direkt in unsere Erfahrung tritt.“ Für
audiovisuelle Fiktionen weiterführend auch Burger 1996 und Hattendorf 1999.
5 Zu den Fans, die als weithin sicht- und hörbare Hauptakteure bei der Produktion von terti-
ären Anschluss-Texten sowohl zu den besten Konsumenten der populären Kulturindustrie
zählen wie auch zu den Hauptverdächtigen, was Copyright-Verletzungen betrifft, vgl. z.B.
Hills (2000 und 2002: dort insb. 27-45).
6 Mit dafür verantwortlich ist natürlich, dass sich die hier vorgeschlagene Definition von
Fiktion als Erzählung, die zum Mitspielen einlädt, kaum mehr von gängigen und prinzi-
piell regelbasierten ‚Spiel‘-Definitionen unterscheidet. Während etwa Walter (2002) am
paradigmatischen Unterschied zwischen den beiden Unterhaltungsformen festhält,
beschreiben andere Erzähl- und Spielforschende wie etwa Ryan (2003, 2004) den Unter-
schied als graduell oder fließend. So auch Burn/Schott (2004: 216), die die Frage offen
lassen, inwieweit (fiktionale) Erzählungen Eigenschaften von Spielen aufweisen und
umgekehrt: „If narrative requires a willing suspension of disbelief, games require a wil-
ling submission to rule-based systems.“
7 Zum Schlagwort des „Tod des Autors“ vgl. Barthes (urspr. 1968, hier 1994); zum Thema
weiterführend auch Burke (1992).
8 Als Beispiel das von Aristoteles‘ „Poetik“ abgeleitete Spannungsdreieck von Gustav
Freytag (1863): Aus einer verhältnismäßig stabilen Anfangssituation entwickelt sich über
diverse Komplikationen eine prekäre dramatische Krisensituation, die in der weiteren
Entwicklung (als „Auflösung“) in eine wiederum relativ stabile und als solche klar
erkennbare Schlusssituation einmündet.
9 Eine nützliche Differenzierung liefert hier Mary Talbot, die Fiktion genauso wie Noël
Carroll als eine soziale Praxis versteht und dabei den ‚Text‘ (als gemeinschaftlich erarbei-
tetes kulturelles Produkt) nicht nur vom ‚Werk‘ (als Produkt eines Autors oder Autoren-
kollektivs) unterscheidet, sondern auch vom ‚Diskurs‘ als Prozess der Bedeutungs-
generierung selbst (1995: 24-25): „I use text to mean the observable product of interacti-
on: a cultural object; and discourse to mean the process of interaction itself: a cultural
activity. The distinction between text and discourse I am making is an analytical one bet-
ween the observable materiality of a completed product and the ongoing process of
human activity. […] Text is the fabric in which discourse is manifested, whether spoken
or written, whether produced by one or more participants. So the distinction is between
product and process, between object and activity.“ Der fiktionale Text kann dann aber mit
Blick auf die ihn betreffenden Diskurse entweder als aktiv oder als inaktiv bezeichnet
werden: Er ist nie wirklich ‚fertig‘, sondern ruht vielmehr dann, wenn (gerade) kein Dis-
kurs (mehr) stattfindet.
10 Manche Werke werden von ihren Schöpfern intertextuell vernetzt und laufend zu anderen
Werken in Bezug gesetzt, was durchaus entsprechende Anschlusskommunikationen gene-
riert. Beispiele solch literarischen „Weltenbauens“ finden sich in Helbling (1995).
11 Das Modell nach Robert T. Craig; vgl. http://www.colorado.edu/communication/meta-
discourses/Theory/models.html (konsultiert am 17.9.2004) – wobei ich mir erlaubt habe,
für die entsprechenden Medienrolle(n) auf die (von Carey inspirierte) „Forums“- Idee von
Newomb/Hirsch (1983) zurückzugreifen. Für die rituellen Aspekte von (Massen-)Kom-
munikation weiterführend auch Rothenbühler (1998) und Couldry (2003).
12 Inzwischen bezeichnen ‚Formate‘ fachsprachlich insbesondere solche Formen von Unter-
haltungssendungen, die als Handelsware geschützt sind und international vertrieben wer-
den; dazu Hallenberger (2004), Moran (2003) und Waisbord (2004); für Reality-Fernseh-
formate auch Bonner (2003). Genres zeichnen sich demgegenüber durch ihren Status als
„freie Software“ aus – niemand kann Urheberrechte an einem als genrespezifisch oder
genretypisch kenntlichen narrativen Merkmal geltend machen.
Die (Fernseh-)Fiktion als Gemeinschaftswerk(en) und kulturelle Teilhabe 297

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Verdoppelte Identitäten: Medien- und Werbebotschaften als
Konstrukteure von Authentizität

Matthias Marschik

1 Einleitung

Fragen nach Identität und Selbst-Bewusstsein sind in den vergangenen gut 20 Jahren
zum bevorzugten Thema sozial- und kulturwissenschaftlicher Analysen geworden.
Doch schießt die Abwendung von der Vorstellung stabiler Identitäten und die For-
cierung von Modellen der Fragmentierung und von Patchwork-Identitäten übers Ziel
hinaus, denn die Intensität und Stoßrichtung der Diskussion korreliert nur zum Teil
der Selbstwahrnehmung (post-)moderner Subjekte: Während theoretische Modelle
und Konzepte von einer generellen Krise im Verhältnis von Individuen zu ihren
Umwelten, zur Gesellschaft oder zur ‚Welt‘ schlechthin ausgehen, so dass persönli-
che Unsicherheit oder Fragmentierung, kollektive Instabilität oder das Schwinden
lokaler bzw. nationaler Bewusstheit das aktuelle Selbst charakterisieren (Hall 1996;
Hettlage 2000), versuchen sich viele Individuen in ihrer Eigenwahrnehmung, auch
wenn sie mehr oder minder massive Störungen ihrer Autonomie erleben, doch wei-
terhin als bewusst, rational und autonom handelnde Subjekte zu begreifen. So lässt
sich oft feststellen, dass Menschen den generellen Einfluss ‚der Medien‘ auf Gesell-
schaft und Individuen zwar hoch bewerten, doch zugleich von ihrer Fähigkeit zu
einem ‚im Grunde‘ rationalen und autonomen Umgang mit Medien überzeugt sind.
Umgekehrt bedürfen viele Medien- und besonders Werbebotschaften eines zumin-
dest kurzfristig stabilen Ich, das diese Botschaften rezipiert. Das Selbst-Bewusstsein
und die gesellschaftliche Positionierung eines Subjektes kann daher weder einseitig
als aufklärerisches Festhalten an stabilen Identitätsentwürfen, noch im postmoder-
nen Sinn als deren permanente Auflösung und Fragmentierung verstanden werden.
Vielmehr wäre es naheliegend, von einer verdoppelten Identität auszugehen, die
Aufklärung und Postmoderne zu vereinen trachtet oder einen Kurs zu steuern sucht,
der beide Möglichkeiten inkludiert.
Sowohl der stabil konstruierten Identität (in Form eines Gefühles von Sicher-
heit, aber auch des Zwanges einer unverrückbaren Positionierung), als auch dem
fragmentierten Selbst (in Gestalt der Chance von Veränderbarkeit und Freiheit, aber
auch der Unsicherheit von Flexibilität und situationaler Anpassung) wohnen indivi-
duelle Chancen und Gefahren, Freiheiten und Einschränkungen inne, die zugleich
300 Matthias Marschik

als innere und äußere Anforderungen erlebt werden. Der Nukleus dieser Ansprüche
lässt sich neuerdings in die Forderung oder den Zwang zur Authentizität fassen:
Gerade mediale Botschaften suggerieren uns Authentizität als höchstes Gut. Man
denke besonders an Big Brother und Deutschland sucht den Superstar oder deren
österreichische Pendants Taxi Orange und Starmania, wo Selbstgewissheit einer
kontinuierlichen Identität ebenso bedarf wie deren situativer Adaptierung. Authenti-
zität bedeutet nicht mehr, stets mit sich selbst identisch zu sein, aber es heißt auch
nicht Beliebigkeit und ein freies Spiel mit Identitäten, sondern verlangt, zu sich
selbst zu stehen. Sie inkludiert Stabilität und Fragmentierung und einen situationsan-
gepassten Wechsel zwischen beiden. Ähnliches hat bereits Emmanuel Levinas
(1992: 210ff.) formuliert, der einer „Treue zu sich selbst, die in ihrem Bezug auf
Selbstkritik und Ehrlichkeit gegen sich selbst eben der Authentizität entspricht“, die
„Aufrechterhaltung des Ich“ kontrastiert, die im Changieren zwischen Flexibilität
und Stabilität versucht, die eigene, einzigartige Identität zu bewahren und sich zu-
gleich mit seinen Umwelten zu arrangieren.
Wenn weder die stabile noch die fragmentierte, situative Identität die einzig
erwünschte gesellschaftliche wie individuelle Positionierung darstellt, verlangt dies
nach Reformulierungen des individuellen Selbst-Bewusstseins. Und dafür bedarf es
wiederum der Nutzung aktueller Vorbilder und Ideale, die dieses Changieren vor-
führen, um die individuelle Lebensgestaltung leisten zu können. Diese Modelle wer-
den nicht zuletzt von den Medien bereitgestellt, die einerseits Authentizität einfor-
dern, andererseits von konkreten Schablonen bis zu abstrakten Mythen Konzepte
von Authentizität präsentiert. Die Bandbreite geht dabei von Talk Shows und Rea-
lity Soaps, die uns trefflich vor Augen führen, wie Menschen sind, bis hin zur Wer-
bung, die uns Ideale präsentieren: Die Mythenwelt der Werbung zeigt uns mögliche
Ziele unserer Selbstpositionierung – und zwar durch den Kauf oder die Nutzung von
Produkten. So erleben wir via Medien sowohl die Norm und den Ist-Zustand, als
auch die Vorbilder und Ideale authentischen Lebens, die zur Identifizierung und
Anpassung an, zur Bestimmung durch oder Orientierung in Diskursen, Gesellschaf-
ten oder sozialen Strukturen nötig sind.
Die Warenwelt der Konsumgesellschaft definiert sich ja schon seit ihren Anfän-
gen in der frühen Neuzeit nicht nur über das „Mehr oder Weniger an verfügbaren
Gütern, sondern über die Wünsche und Träume, die zum Inhalt des Lebens werden
und aus der die jeweilige Identität hervorgeht“ (Geyer/Hellmuth 2003: XXIV). Das
19. Jahrhundert ließ erstmals eine Palette von Produkten entstehen, die, für eine
begrenzte bürgerliche Schicht von Käuferinnen und Käufern, nicht nur „als Sinnträ-
ger, sondern als Sinnvermittler“ galten (Brewer 1997: 54). Doch es ist die Idea-
lisierung dieser Produkte in Form der Werbung, die den paradigmatischen Ort der
Verknüpfung der kulturellen Kodes von materiellen Gegenständen, deren Erwerb
zugleich deren Beherrschung verspricht, an die ideelle Produktion von Mythen dar-
stellt und den Menschen die Wunschbilder und Zielvorstellungen des Lebens ver-
mittelt.
Produkte, aber auch ihre Herstellung und ihr Konsum, sind ein wesentlicher
Aspekt eines rationalen und vernünftigen Weltbildes, die Werbung dagegen geht nur
Verdoppelte Identitäten 301

zum Teil Hand in Hand mit der Aufklärung, denn auf der anderen Seite konterkariert
sie den Entwurf der Moderne. Sie ist zugleich Handlungsanleitung, aber eben auch
Mythenproduktion, wobei in verschiedenen Zeitabschnitten an unterschiedlichen
Orten einmal die eine, einmal die andere Ebene ein Übergewicht erobert. Unterstützt
die Werbung zum einen die Zielsetzung der Moderne, die Welt „mit aller Kraft zu
entzaubern“ und einen „Krieg gegen Mystik und Magie zu führen“ (Bauman 1995:
8f.), so verstärkt sie zum anderen die postmodernen Praxen, die vermehrt wiederum
mythische, spirituelle und jenseitige Angebote bereithalten (Marschik/Dorer 2003;
Marschik 2003a), auch wenn sie mehr denn je die Form der Ware in einer konsum-
geprägten kapitalistischen Ordnung angenommen haben.

2 Von falschen Bedürfnissen zum trügerischen Selbst

Blicken wir kurz zurück in die identitätskonstruierende Geschichte der Medien: Die
1950er Jahre waren – in Europa – zweifellos von einem von Fragmentierung
bedrohten, jedoch auf dem klaren Weg zur Stabilisierung befindlichen Subjekt
gekennzeichnet. Die Medien lieferten dazu rationale Identifikationsmodelle, eine
klare Trennung von Information und Unterhaltung sollte dies verdeutlichen. Auch
die Werbung präsentierte meist nicht Mythen, sondern handfeste Produkte, das Ziel
bestand im Entwurf einer stabilen und stabilisierenden Warenwelt (Schneider/Span-
genberg 2002) und dazu passender rationaler Konsumentinnen und Konsumenten.
Noch in den 1960er Jahren wiesen wissenschaftliche Analysen nach, wie Medien in
modernen fordistischen Beziehungen das Individuum bestimmten, indem sie durch
ihre Form und Technik ebenso wie durch ihre Inhalte das Wissen, das Bewusstsein
und die Identität des Menschen beeinflussen und strukturieren. Der aufklärerische
Diskurs der Wissenschaft analysierte die Strukturen medialer Beeinflussung und
auch deren Ideologien. Da wurden Bilder produziert, transportiert und rezipiert; für
Mythen gab es – selbst in der Werbung – nur wenig Raum. Das Individuum war
idealiter selbst-bewusst, konnte rationale Entscheidungen treffen und objektive Wer-
tungen vornehmen. Zwar konnte es seine Wünsche nicht immer richtig einschätzen,
weil ihm ‚falsche Bedürfnisse‘ oktroyiert wurden, aber schließlich war ja der auf-
klärerische Diskurs angetreten, um die Wirkungen der Medien aufzudecken und das
Individuum zu befreien, auch indem er es mythischer Vorstellungen entledigte.
Doch war es gerade die Werbung, die zu Ende des Jahrzehnts mit der Hinwendung
zum Luxusgut das Bild der mündigen Konsumentinnen und Konsumenten erstmals
unterlief (Knop 2003: 269).
Werbesujets gehören damit zu den wichtigen alltagskulturellen Wegbereitern
des Spiels mit Mythen und Idealen und damit der Unterwanderung einer als stabil
inszenierten Identität. Und es ist ganz wesentlich zu sehen, dass die Inszenierungs-
praxen von Werbung sehr rasch begannen, in Gestalt einer „promotional culture“
(Wernick 1991) die Gestaltungspraxen von Medien generell zu beeinflussen. Dies ist
ein im Vergleich zum Infotainment weit weniger beachteter Aspekt postmoderner
302 Matthias Marschik

Medienentwicklung, dass werbliche Gestaltungsprinzipien auf das übrige Medien-


system transferiert und als konstitutiver Teil der Kapitalisierung und Globalisierung
in ein mediales Supersystem eingebunden wurden. Ab der Mitte der 1970er Jahre
veränderten sich daher die modernen Medienmodelle und durchbrachen auf der
Basis umfassender Ökonomisierung den Ist-Zustand der Schranken von ‚Rasse’,
Klasse und Gender, wobei neue Grenzziehungen, nunmehr auf konsumistischen
Idealtypen basierend, in Gestalt von Zielgruppensegmentierungen gleich wieder
errichtet wurden (Dorer/Marschik 1993).
Die Vorstellung des selbstbestimmten Individuums hat diesen Zugriff des Kapi-
talismus nicht unbeschadet überstanden. Neben das rationale, selbst-bewusste Ich
trat eine „nomadische“ (Grossberg 1988) Subjektivität, ein fragmentiertes Selbst,
eine Patchwork-Identität, die sich zwischen verschiedenen persönlichen wie gesell-
schaftlichen Positionen bewegt, ohne sich festmachen zu lassen (de Certeau 1988).
Die Forderung nach Stabilität des (erwachsenen) Selbst wurde allerdings nicht, wie
das gesellschaftsorientierte Ansätze – auch die Cultural Studies – gerne annehmen,
durch Idealvorstellungen der Fragmentierung verdrängt, vielmehr überlagern sich
beide Anforderungen an das Individuum in unterschiedlichen Ausprägungen. Unter
dem speziell ab den 1990er Jahren aktuellen Begriff der Authentizität müssen Sub-
jekte danach trachten, durch teils gewundene Strategien beide Anforderungen vor
sich und der Welt zu argumentieren und zu leben (Krotz 2001a; 2001b). Und auch
die Wissenschaft verdoppelt dieses Wechselspiel, indem sie das Subjekt in seinen
Umwelten verschwinden lässt oder es auf bio-physiologische Vorgänge reduziert
(Marschik 2003b).
Wie reagiert nun das (in Kombination fragmentierter und stabiler Anteile) auf
seine Authentizität festgeschriebene Selbst auf die verfestigte Struktur des globalen
Kapitalismus und die segmentierten Angebote der Mediengesellschaft oder –
andersherum und damit konkreter gefragt: Was bietet das mediale System mit seiner
scheinbaren Vielfalt dem nach Authentizität strebenden Selbst an Identifikationsan-
geboten, wenn die Medien selbst signifikante Quellen der Identifikation sind?
Zunächst dürfen wir dabei – in Anlehnung an den „circuit of culture“ (du Gay et al.
1997) – den Beitrag und Einfluss des Individuums nicht übersehen (Nava 1997):
Medien definieren zwar die Umwelt, in der Identitäten in einem Wechselspiel von
Kultur und Medien geformt werden (Fitzgerald 1993: 51), doch ist die Realitätskon-
struktion der Medien kein abstrakter Vorgang, sondern muss als von Individuen mit-
bestimmt gedacht werden, deren individuelle Wahlmöglichkeiten ihr Begehren
widerspiegeln (Ang 1996: 177): Medien inkorporieren kulturelle Vorgaben und ver-
binden sie mit eigenen Interessen. So wird die Grenze zwischen Realität und Schein,
das Wissen um eine objektive Wahrheit aufgehoben, eine Vielheit an Perspektiven
eröffnet. Medien homogenisieren und verstärken zugleich regionale Differenzen,
aber vor allem geben sie Images vor: Sie entwerfen Strukturen von Raum und Zeit
und überschreiten die Grenze zwischen privat und öffentlich. Sie geben vor, was
männlich und weiblich, was Erfolg oder Misserfolg ist: „Media culture also provides
the materials out of which many people construct their sense of class, of ethnicity
and race, of nationality, of sexuality, of ‚us‘ and ‚them‘“ (Kellner 1995: 1). Medien
Verdoppelte Identitäten 303

geben entsprechend praktische Exempel und auch Idealmodelle zum Beispiel von
Männlichkeit: So erzählt etwa die Reality Soap konkrete Situationen, in denen ein
Mann ganz Mann sein muss und wann er sich schon einmal weich und nachgiebig
zeigen kann, während die Werbung uns die zugehörigen Ideale und Mythen ‚neuer
Maskulinität‘ präsentiert. Zwar lassen sich im nunmehr umfassenden Mediensystem
einzelne Mediensorten immer weniger differenzieren, doch übernimmt etwa die
Werbung noch immer besondere Aufgaben innerhalb des permanenten Rauschens
der Baudrillardschen „Ekstase der Kommunikation“.

3 Vom wahren Image zum Mythos der Ware

Sohin haben wir nun jene Elemente beisammen, die eine Analyse der Wirkung der
Medien und konkret der Werbung zur Konstruktion einer (imaginierten) Authentizi-
tät des Ich auf der Basis von konkreten Exempeln und idealisierten Mythen ermögli-
chen: Auf beiden Ebenen erweisen sich Medien sowohl als treibende Kraft der Frag-
mentierung, als auch als Betreiber der Konstruktion stabiler, wenn auch zunehmend
globaler Werte: „Media culture helps shape the prevalent view of the world and dee-
pest values“ (Kellner 1995: 1). Also trifft der Wunsch des Selbst nach der Aufrecht-
erhaltung von Werten mit dem Ziel der Medien zusammen, globale Images zu ent-
werfen. „Media stories and images provide the symbols, myths, and resources which
help constitute a common culture for the majority of individuals in many parts of the
world today“ (Kellner 1995: 1). Und ebenso trifft das individuelle Begehren nach
neuen Freiheiten und Chancen auf den medial forcierten Bedarf an zunehmend fle-
xiblen, risikoorientierten und mobilen Individuen (Sennett 1998: 120).
Medien konfrontieren „people with dream-images which speak to desires, and
aestheticize and derealize reality“ (Featherstone 1991: 68). So sind Medien durch
die Globalisierung zwar darauf angewiesen, weltweit verständliche Images zu ent-
werfen, andererseits müssen aber alle Sender versuchen, uns zu verführen und kon-
kret anzusprechen, um Rezipientinnen und Rezipienten zu gewinnen (Kellner 1995:
2). Medien sind darauf ausgerichtet, uns komplexe Träume und Mythen und ebenso
einfache Modelle zu präsentieren. Medien sind demnach industrialisierte „contem-
porary bards“: Sie produzieren eine Fülle von Erzählungen, Märchen, Geschichten,
Mythen und Bildern (Fiske/Hartley 1978; Fiske 2001). Werbung bildet zunehmend
die Basis dieser Mythen und ihrer Konstruktion, teils auf direktem Weg, teils auf
dem Umweg über Filme oder als Bestandteile von Nachrichten.
Was die Werbung im Konzert der Medien auszeichnet, ist die Tatsache, dass sie
eine lange Tradition in der Erzeugung und im Transport von Träumen besitzt (Mar-
chand 1985). So hat etwa die Frankfurter Schule deutlich nachgewisen, wie sehr
Werbung neben der Anpreisung von Waren und der Forcierung des Konsums auch
die Vermittlung des symbolischen Aspekts von Gütern förderte (Ewen 1976). Doch
obwohl Produkt, Idee, Wunsch und Identitätskonzept zu klar strukturierten Anzei-
gen zusammengefasst wurden, blieben sie innerhalb des Sujets deutlich unterscheid-
304 Matthias Marschik

bar. Es geht dabei um Symbole; für Mythen war dabei vorerst kein Platz. Doch in
den folgenden Jahren expandierten die symbolischen Aspekte der Warenwelt, immer
mehr bindet Werbung Bilder von „exotica, desire, beauty, fulfilment, communality,
scientific progress and the good life“ an „mundane consumer goods such as soap“
(Featherstone 1991: 14). Die Images treten nicht mehr neben, sondern an die Stelle
der Produkte und machen es schwierig, den Nutzen der beworbenen Güter noch zu
entziffern. Die Waren treten gegenüber der Produktion von ‚Stil‘ bzw. ‚Lifestyle‘ in
den Hintergrund. „Consumption becomes its own message, wanting is more impor-
tant than needing“ (Wagner 1995: 59). Die Werbung der 1970er und 1980er Jahre
entkoppelt zwar noch nicht Produkte und Images, aber sehr wohl deren Realität:
Eine ästhetisierte Werbekultur zeigt perfekte Produkte in idealen Welten (Goldman
1992). Zugleich erobert Werbung endgültig Raum in allen Medienprodukten und
positioniert ihre Idealentwürfe überall, vom Fernsehen bis zum Internet, von der
Nachrichtensendung bis zur Kunstgalerie. Wir leben nach Baudrillard (1978, 1987)
längst in einer ästhetischen Halluzination der Realität und die Rezipientinnen und
Rezipienten der Werbung müssen erkennen, „that the jazzing of the soft drink, buf-
fooning of the pizza, or body-pantomime of a motorcar never takes place in real
life“ (Wagner 1995: 66), dass aber nicht mehr Softdrink, Pizza und Auto, sondern
eben deren ästhetische Einbettung in eine Konsumkultur beworben werden.
Die 1990er Jahre schließlich sind geprägt von erneuter Konzentration des
Mediensystems, die nicht nur die Monopolisierung betrifft, sondern auch eine for-
male wie inhaltliche Vermischung medialer Angebote. Werbung und PR, Informa-
tion und Unterhaltung, Fiktion und die Konstruktion von Realität vermischen sich
mit Ästhetik und Alltagskultur zu dem, was heute als Mediengesellschaft bezeichnet
wird, aus der es keinen Ausstieg gibt. Im Konkurrenzkampf der Anbieter wird jede
mediale Kommunikation zur Werbung. Medientechnologien, -inhalte und -rezi-
pienten sind Waren in einem westlich-kapitalistischen Supersystem. Die Strategien
der Werbung werden vom gesamten Mediensystem aufgegriffen. „Advertising has
increasingly filled up the spaces of our daily existence […] advertising is ubiquirous
– it is the air that we breathe as we live our daily lives“ (Jhally 1995: 79):
„Film, television, (popular) literature etc. construct an imaginary world that builds on and
appeals to individual and social fantasies. Mass media prodice and reproduce collective
memoires, desires, hopes and fears, and thus perform a similar function as myths in earlier
centuries […] In their presentation of major social events like coronations, sports games or
disasters media present the content of myth, and in their familiar and formulaic narratives
they resemble mythical story-telling“. (Jhally 1995: 79)
Es geht also nicht mehr darum, von Manipulation oder den falschen Versprechen der
Werbung zu sprechen. Der „rituelle Blick auf die Kommunikation“, den Liesbet van
Zoonen (1994: 37) hier vorstellt, „focuses on the construction of a community
through rituals, shared histories, beliefs and values“. Genau das sind aber die Werte,
die nach dem Vorbild der Werbung nun vom gesamten Mediensystem unaufhörlich
ausgesandt werden.
Die Medien greifen nach dem Vorbild der Werbung die fragmentierten und kon-
fligierenden gesellschaftlichen Inhalte auf und reduzieren sie auf ‚bedeutsame‘
Verdoppelte Identitäten 305

Erzählungen im Sinne der dominanten sozialen Ordnung. Es ist evident, dass die
produzierten Mythen, Rituale und Images eine Hegemonie weißer, männlicher, hete-
rosexueller Idealvorstellungen propagieren und alles andere als Abweichung darstel-
len. Doch im Gegensatz zu früher werden auch diese Gruppen, so sie potenzielle
Käuferinnen und Käufer sind, mit je spezifischer Werbung versorgt. Es herrscht
nicht mehr der Primat von Klasse oder Geschlecht, sondern jener des Konsums:
„As compensation for decaying social conditions, those who can afford it are offered an
always increasing dose of media culture and consumption […]As an escape from social mise-
ry, or distraction from the cares and woes of everyday existence, people turn to media culture
to produce some meaning and value in their lifes.“ (Kellner 1995: 332)
Der geänderten Segmentierung der Zielgruppen entspricht eine Neusegmentierung
der produzierten Images. Der Mythos ist dann der manifeste Ausdruck eines über-
geordneten Strukturprinzips, eben einer dominanten Ideologie (Fiske/Hartley 1978),
die zwar global angelegt, aber lokal unterschiedlich ist:
„In so far as the ruling class attempts to reproduce its own vision of the world, it also seeks to
establish a definition of global alongside national citicenship.“ (Smith 1993: 112)
Die medialen Angebote gleichen sich formal wie inhaltlich immer stärker an. Soaps
gebärden sich wie Werbesendungen ihres Hauptsponsors, in Werbesendungen dage-
gen werden Produkte und Präsentation zunehmend entkoppelt, konkrete Waren neh-
men immer weniger Raum ein. Konsumentinnen und Konsumenten werden nicht
mehr zum Kauf angeregt, sondern zur Übernahme eines bestimmten Lifestyles, zur
Übernahme dominanter Rituale, wobei das Produkt als deren unabdingbarer Teil
akzeptiert werden soll. Die symbolischen Bilder der Werbung „attempt to create an
association between the products offered and socially desirable and meaningful traits
in order to produce the impression thar if one wants to be a certain type of person“
(Kellner 1995: 248). Nicht Waren werden beworben, sondern Mythen, deren Akzep-
tierung man durch den Kauf bestimmter Produkte symbolisieren soll: Ein Werbespot
für Mode demonstriert die Vorstellung eines perfekt gestylten Körpers und vermit-
telt die Einsicht, dass das beworbene Produkt Teil dieses Kodes ist. Dies führt dazu,
dass das Betrachten von Werbespots, das lange Zeit ein Vermeidungsverhalten aus-
löste, heute wieder mit Vergnügen einhergeht (Jackson 1993: 213) und Unterhal-
tungswert besitzt. Die Differenz zwischen Soaps und Werbung besteht nur mehr in
der zeitlichen Komprimierung, so dass die Botschaft in der Werbung besonders
emotional und eindringlich vorgetragen wird (van Zoonen 1994: 79). Werbung kann
daher aktuell als konzentrierte Form medialer Kommunikation definiert werden, die
besonders auf mythische Bilder und Symbole angewiesen ist.
Oft wurde die simple Metapher bemüht von Konsum „as a religion, in which
commodities become the icons of worship and the rituals of exchanging money for
goods become a secular equivalent of holy communion“ (Fiske 1989: 13). Diese
Metapher ist hilfreich, was die gesellschaftliche Bedeutung und die Konstruktion
von Realitäten betrifft – doch sie ist kontraproduktiv, wenn es um Fragen der Macht
und Akzeptanz, des ‚Glaubens‘ und der ‚Wahrheit‘, der Tradition und der Wichtig-
keit von Neuigkeit und Aktualität geht. Medien und Werbung leben von Verän-
306 Matthias Marschik

derungen und Flexibilität und nicht vom Aufbau von Dichotomien (Wernick 1991:
62), sie leben von Mythen und nicht von ‚Information‘ im weitesten Sinn.
Werbung konstruiert Ideale, Mythen und Stereotype eines perfekten Lebens und
entwirft Modelle industriell geformten Lifestyles. Doch auch wenn die Strategien
der Medien immer kongruenter werden, lassen sich doch Differenzen zeigen bezüg-
lich ihrer Wirkung auf die Rezipientinnen und Rezipienten. So produzieren Public
Relations im Gegensatz zur Werbung tagesaktuelle und seriös dargebotene Informa-
tion, die wir vorgeblich zur Bewältigung des Alltags benötigen. Obwohl Werbung
und PR gleichen ökonomischen Vorgaben und Stereotypen unterliegen, produzieren
sich doch unterschiedliche Bilder und bewirken differente Repräsentationen: Wäh-
rend die Werbung – in der Terminologie Baudrillards – „Hyper-Realität“ entwirft,
produzieren Public Relations eine Art von Pseudo-Realität. So können die Bilder
dieser Kommunikationskanäle differenziert werden im Bezug auf ihre räumliche
(‚abstrakt‘ vs. ‚konkret‘) und zeitliche (‚zukünftig‘ vs. ‚präsent‘) Repräsentation der
Welt. Differenzen gibt es aber auch bei den Inhalten, indem Public Relations nicht
Mythen, sondern Szenen entwerfen, und bei den Wirkungen, indem Public Relations
‚Realität‘ entwickeln, während die Werbung vornehmlich ‚Modelle‘ oder ‚Design‘
produziert. Doch weil PR und Werbung den gleichen Prämissen unterliegen, schlie-
ßen sie Mythen und Realität zusammen: Sie knüpfen ‚what we know‘ an ‚what we
need‘.

4 Von den Mythen der Waren zum Mythos der Authentizität

Hier sind wir nun wieder bei der Konstruktion des Selbst und bei der Identität, die in
der Konsum- und Mediengesellschaft selbst zum Mythos geworden ist (Morris
1988), zu einem doppelten Mythos von Stabilität und zugleich von Freiheit und
Wahlmöglichkeit. Identität entsteht aus den changierenden Wechselwirkungen zwi-
schen „common culture“ und den medialen Präsentationen und Repräsentationen mit
deren differenten Rezeptionsmustern, den Lesarten der kulturellen und medialen
Texte, die durchaus nicht immer vorhersehbar sind, weil es sehr wohl möglich ist,
mit medialen Angeboten zu interagieren. Medien bieten ja auch unterschiedliche
Texte an, die mittels der „symbolischen Kreativität des Selbst“ (Willis 1990) gegen-
einander ausgespielt, ironisch unterlaufen oder auch abgelehnt werden können, frei-
lich nur, indem man sich einem anderen medialen Text anschließt. Ein außerhalb
medialer Vorgaben ist nur schwer vorstellbar, weil alle ihre Angebote so verpackt
sind, dass sie „simply appear to be part of our natural world“ (Jhally 1995: 77).
Innerhalb der medialen Produktion von Identität hat die Werbung ganz spezielle
Aufgaben übernommen. Zuerst lieferte sie das Vorbild zur Umgestaltung medialer
Realitäten, später stellte sie die Verknüpfung von konsumierbaren Waren und dem
damit verbundenen Erwerb von Lebensgefühlen her. Und heute übernimmt sie den
Part der Konstruktion von idealen Entwürfen von Authentizität, indem sie Mythen
des perfekten Daseins mit dem Gefühl (oder eigentlich: mit dem Wissen) verbindet,
Verdoppelte Identitäten 307

dass diese erreichbar sind oder zumindest sein können. Während etwa Reality
Soaps, wie der Name schon andeutet, realistische Lebensentwürfe präsentieren, die
Stabilität und Flexibilität als vereinbare Praxen der Lebensgestaltung darstellen, por-
traitieren werbliche Botschaften in post-fordistischen Mediengesellschaften die Sie-
gerinnen bzw. Sieger in einer Gesellschaft des neuen Kapitalismus. Vor allem aber
demonstrieren sie, dass jeder bzw. jede das Zeug zum Sieger oder zur Siegerin in
sich trägt (denn die, die von vornherein nicht gewinnen können, kommen in der
Werbung nicht vor). Was nun die verdoppelte Identitätskonstruktion der Individuen
betrifft, vermag die Werbung deren Idealzustände paradigmatisch vorzuführen: So
ist es evident, dass die Fragmentierung des Selbst durch die Werbung noch forciert
wird, indem nicht mehr Personen, sondern einzelne Empfindungen und Wünsche
angesprochen werden, wobei ein Produkt in verschiedenen Situationen unterschied-
liche Bedeutungen annehmen kann: „Beer can be connected with anything from ero-
ticism to male fraternity to the purity of the old West“ (Jhally 1995: 79). Parallel
dazu wird auch Identität in unterschiedlichen Situationen – und in Abstimmung auf
die jeweiligen Produkte – immer neu definiert (Grodin/Lindlof 1996: 6f.), denn in
der werblichen Botschaft zählt weniger die Kontinuität, als vielmehr der konkrete
Moment.
Doch ist es ganz wesentlich zu sehen, dass gerade diese komplex konstruierten
Momente einerseits durch die Anbindung an eine Ware und den dazugehörigen
Lifestyle, andererseits durch ihren mythischen Charakter, für kurze Zeit ein authenti-
sches Erleben ermöglichen. Dieses Erleben ist ein wesentliches ‚Movens‘ unserer
Mediengesellschaft und gerade die Werbung ist damit beschäftigt, magische Lösun-
gen für authentische Probleme anzubieten (Stevenson 1995: 14). Charakterisiert ist
Werbung also durch die wunderbare Bewältigung einer schwierigen Situation,
wobei gerade dieses Problem ja eine Rückbindung an das Echte, Wahre und Natürli-
che darstellt, aber ebenso den spielerischen und ‚kreativen Umgang‘ damit.
Stabilität wird aber auch in der ironischen Darstellung jener demonstriert, die
gescheitert sind und sofort den nächsten Versuch starten, zu Siegerinnen bzw. Sie-
gern zu werden. Es ist die Werbung, die uns abstrakt die Erfüllung unserer Wünsche
und konkret, via beworbene Produkte, jene Authentizität verspricht:
„Consumer subjects define themselves not merely with reference to their own personal expe-
rience, but increasingly with reference to the images presented by advertising and through the
consumer products they identify with. The subject is defined in relation to the commodity […]
The subject looks for its identity not from within itself, nor from its own biography or imme-
diate social experience, but draws ist identity from the ready-made practices offered as com-
modities to buy.“ (H. Rodaway 1995: 265)
Das Produkt steht dabei nicht nur für die Erreichung konkreten kurzfristigen Glücks,
sondern repräsentiert zugleich dessen scheinbare Stabilität.
Das Subjekt mag fragmentiert oder eine Ansammlung von Zuschreibungen sein,
doch so wie die Werbung Hyper-Realität konstruiert, wird das Subjekt zum per-
manenten Hyper-Subjekt (Rodaway 1995: 266). Doch möglicherweise ist dieses
Hyper-Subjekt diejenige Existenzform des Selbst, die unserer Zeit adäquat ist. Wer
sich auf die Angebote der Konsumkultur einlässt, erlebt zumindest für eine kurze
308 Matthias Marschik

Zeitspanne sein subjektives Glücksgefühl und das Erlebnis, den Mythos realisiert zu
haben. Und das ist, betrachten wir die anthropologische Forschung, kein Rück-
schritt: Es ist nicht mehr und nicht weniger, als vergangene Generationen, von den
wenigen ‚aufgeklärten Individuen‘ einmal abgesehen, in ihren typischen Formen der
Mythen und Mythisierungen, des Glaubens oder Aberglaubens, auch erlebt haben.

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Globale Kultur in Deutschland:
Der lange Abschied von der Fremdheit

Mark Terkessidis

1 Einleitung

Wenn in der Bundesrepublik Deutschland über Einwanderung und Globalisierung


debattiert wird, dann geht es stets um Fremdheit. Tatsächlich haben sich durch
Migration, aber auch durch Massenmedien, Popkultur und Tourismus die Eindrücke
und Bilder vom sogenannten Fremden geradezu inflationär verbreitet. Freilich
besitzt der Ausdruck Fremdheit hier zu Lande eine erstaunliche Selbstverständlich-
keit. Trotz aller Veränderungen erscheint das Eigene immer noch intakt – als fremd
gilt weiterhin, wer nicht ‚hierher‘, wer nicht zu ‚uns‘ gehört. Dabei wird Fremdheit
vor allen Dingen als kulturelle Unterschiedlichkeit verstanden. Im Gegensatz zu den
Lippenbekenntnissen und der allgegenwärtigen Rhetorik der Postmoderne lassen
sich die Ideen von Johann Gottfried Herder implizit in allen Debatten heraus hören:
Kulturen gelten in Deutschland immer noch als von voneinander unabhängige,
kugelförmige Gebilde, wobei die äußerlich sichtbaren Merkmale von Personen
(Aussehen, Kleidung, Gebräuche etc.) als Verkörperungen einer unsichtbaren subs-
tanziellen kulturellen Gemeinsamkeit – einer Identität – erscheinen.
In diesem Text soll nun zunächst gezeigt werden, wie sehr der Herdersche Kul-
turbegriff weiter die öffentliche Auseinandersetzung – auch in der Wissenschaft –
beherrscht, wobei sich jedoch auch erste Brüche zeigen. Dann soll an einigen kon-
kreten Beispielen aus der Massenkultur unserer Tage gezeigt werden, wie unbrauch-
bar diese Vorstellung derweil geworden sind, um aktuelle Phänomene zu verstehen.
Indessen erhält man in der Medienöffentlichkeit geradezu atemberaubende Einblicke
in die Kulissenhaftigkeit von Fremdheit. Im Prozess der Globalisierung – so die
These – wird Fremdheit in erster Linie zum mehr oder minder bewussten strategi-
schen Einsatz in gesellschaftlichen Konflikten. In der englischsprachigen Welt exis-
tiert unter der Bezeichnung „Postkolonialismus“ seit geraumer Zeit eine Diskussion,
in der die Beteiligten den Versuch unternehmen, solchen Erscheinungen theoretisch
beizukommen. Bei allen Problemen der Übertragbarkeit kann etwa die Theorie des
Literaturwissenschaftlers Homi Bhabha helfen, kulturelle Artikulationen von
Migranten in Deutschland zu analysieren – so etwa das viel diskutierte Kopftuch.
312 Mark Terkessidis

Tatsächlich müssen sich die hiesigen Sehgewohnheiten in Bezug auf kulturelle Dif-
ferenz radikal verändern – denn die Differenz zeigt sich nicht dort, wo der Blick der
Mehrheit sie zu sehen glaubt. Um den Prozess der Globalisierung auf dem Feld der
Kultur zu verstehen, ist es notwendig, „die unheimliche Differenz desselben oder die
Alterität der Identität“ wahrzunehmen (Bhabha 1997: 110) – zweifelsohne eine
komplizierte Formulierung Bhabhas, die hier aber bewusst gegen die gängigen
Selbstverständlichkeiten in Stellung gebracht werden soll. Um jene ‚Verdopplung‘
zu verstehen, muss stets der institutionelle und soziale Kontext von kulturellen Arti-
kulationen rekonstruiert werden. Das bedeutet auch: Die Analyse von Machtbezie-
hungen. Denn ein weiterer Irrtum des hiesigen Kulturdiskurses besteht darin, einer
idealisieren Kultur gewaltige Autonomie zuzugestehen – dabei geht es um materielle
kulturelle Ausdrucksformen innerhalb eines zu tiefst materiellen Kontextes.

2 Leitende Kultur und hybride Vervielfältigung

Ob eher progressiv oder eher konservativ – wer in Deutschland zum Thema Einwan-
derung und Globalisierung spricht, der hält gewöhnlich das „Zusammenleben der
Kulturen“ für die Crux des Themas. In den letzten Jahren gab es zwei exemplarische
Vorschläge zur Frage der Einwanderungsgesellschaft – zum einen das Plädoyer für
‚Multikultur‘ und zum anderen die Forderung nach ‚Leitkultur‘. In beiden Fällen
blieben die traditionellen Kulturvorstellungen implizit grundlegend, wobei sich
allerdings Brüche zeigten. Vordergründig bedienten sich die Befürworter des Multi-
kulturalismus einer Rhetorik, welche die Abhängigkeit von Fremdheit anerkannte.
So schrieben Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid in ihrem Klassiker „Heimat
Babylon“ von 1992: „Man definiert sich selbst und gewinnt Kontur, indem man sich
von anderen abgrenzt“ (Cohn-Bendit/Schmid 1992: 322). Allerdings hielten sie
diese Abgrenzung zum einen für „fast anthropologisch“ und zum anderen erwies
sich das ansonsten verwendete Vokabular eindeutig als herderianisch: Da waren
Kulturen in der Lage „miteinander in Kontakt“ zu kommen; da konnten Menschen
„in zwei Kulturen aufwachsen“ und andere wiederum „zwischen zwei Kulturen
lavieren“ (ebd. 45 und 311).
Während bei den Vertretern des Multikulturalismus der herkömmliche Kultur-
begriff hinter den zaghaften Kontextualisierungen nahezu unbemerkt wieder auf-
tauchte, verhielt es sich bei den Exponenten von ‚Leitkultur‘ im Jahre 2000 genau
umgekehrt. Um sich entschieden gegen die Idee der „multikulturellen Gesellschaft“
abzusetzen, wurde etwa in der „Arbeitsgrundlage“ der CDU-Zuwanderungs-Kom-
mission ganz konventionell festgehalten: „Die Gemeinsamkeit unseres kulturellen
und geschichtlichen Erbes und unser gemeinsamer Wille zur Freiheit und Einheit
sind Ausdruck nationaler Identität.“ Wenige Sätze später jedoch konnten die Verfas-
ser nicht mehr verhehlen, dass sich diese „nationale Identität“ offenbar längst im
Fluss befindet und zum Objekt einer gezielten Rekonstruktion werden muss – die
Globale Kultur in Deutschland: 313

„christlich geprägten Wertgrundlagen“ nämlich, so das Papier, gilt es „zu bewahren,


zu stärken und weiter zu entwickeln.“ 1
Als das Konzept schließlich in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, waren sich
die meisten der Kommentatoren in der Presse einig, dass es kein Zurück zur ‚Leit-
kultur‘ mehr gäbe – die Bundesrepublik sei längst kulturell differenziert. Weder
„türkische Halbstarke mit Rapper-Gebaren“ (FAZ) noch „das Tragen oder Nicht-
Tragen von Kopftüchern“ (Die Zeit) erschien den Autoren dabei noch ungewöhnlich
oder gar gefährlich. Einheimische Kulturwissenschaftler und Soziologen hatten sol-
che „Vermischung“ angesichts der globalisierten Einwanderungsgesellschaft bereits
früher entdeckt. Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius etwa betonten, dass es
angesichts einer neuen globalen Mobilität „weniger um Ausschluss des nicht Dazu-
gehörigen“, sondern um die „Produktivität interner Differenzen“ gehe (Bronfen,
Marius 1997: 3). Als Modell für die nationale Gemeinschaft der Zukunft erschien
ihnen nun nicht mehr das „Multi-Kulti-Gartenfest“, „auf dem Folklore dargeboten
wird und in der das politische Subjekt durch den Anderen seine Korrektheit genie-
ßen kann, sondern eine „Club-Nacht, in der nationale und (sub-)kulturelle Differen-
zen als einige unter vielen anderen möglichen produktiv eingesetzt werden können“
(ebd.: 4). In dieser neuen Form der Vergemeinschaftung, in der sich Realität und
Utopie offenbar bereits vermischen, avancierte der Fremde bzw. der Migrant zum
Modell des neuen Kulturtyps der Postmoderne. „Das Nomadentum des Arbeitsmi-
granten“, betonte der Literaturwissenschaftler Paul Michael Lützeler, „ist ein Merk-
mal postmoderner Verfassung und Identität überhaupt geworden“ (Lützeler 1998:
913) Allerdings wurde dieser Fremde von den Forschern kaum einmal etwa als ille-
galer Einwanderer gedacht, der in einem Sweatshop arbeitet, sondern gewöhnlich als
„postkolonialer“ Schriftsteller oder Intellektueller – ein glitzernder Wanderer und
bereichernder Kulturvermittler zwischen Peripherie und Zentrum eben. So
schwärmte etwa die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim in ihrem Beitrag zu dem
Band Perspektiven der Weltgesellschaft von diesen Schriftstellern als „neuen Urein-
wohnern des Weltdorfes“ oder bezeichnete sie gar unverhohlen als „neue Rasse der
postkolonialen Seelen“ (Beck-Gernsheim 1998: 163ff.).
Während die ‚progressiven‘ Intellektuellen in der ‚Hybridität‘ offenbar einen
Ersatz für den herkömmlichen Multikulturalismus gefunden hatten, wenden sich
derweil andere wiederum dagegen. „Vor allem“, polemisiert der Philosoph Jochen
Schütze, „bahnt sich unter der Bezeichnung Globalismus die Epoche an, in der die
Dimension des Fremden endgültig ausstirbt“. Er glaubt, dass der „existenzielle Abs-
tand“ zwischen Eigenem und Fremdem gewahrt bleiben muss und scheut sich nicht,
in dieser neuen Abwesenheit des Fremden eine „Voraussetzung des Totalitarismus“
zu erkennen (Schütze 2000: 93f.). Ähnlich argumentiert Frank Böckelmann – ehe-
mals Berufsrevolutionär und heute Kommunikationsforscher: „Zu Kulturkampf und
Rassenhass kommt es nur zwischen einander Nahegerückten“ (Böckelmann 1998:
442). Gegen die „Entgrenzungsspekulanten“ versteht er sein Buch Die Gelben, die
Schwarzen und die Weißen als „Lob der Fremdheit“.
Obzwar der Herdersche Kulturbegriff also immer noch den Hintergrund der
Diskussion um Globalisierung in Deutschland bildet, sind sich dennoch alle Betei-
314 Mark Terkessidis

ligten bis hin zu den Vertretern der Union einig, dass die kulturelle Differenzierung
der Gesellschaft inzwischen eine Tatsache ist. In den Auseinandersetzungen geht es
lediglich um die Bewertung: Handelt es sich um einen Zustand, der durchweg bejaht
wird und sogar Qualitäten einer Gesellschaftsutopie aufweist, oder gehört dieser
Zustand korrigiert – je nachdem durch Wiederherstellung von ‚nationaler Identität‘
oder gar von Fremdheit allgemein? In diesem Sinne besteht die Anforderung an die
Politik offenbar nur noch darin, wie sie diese Differenz organisiert. Tatsächlich zeigt
sich bereits an dieser Diskussion, dass der Bezug auf Fremdheit strategisch ist: Die
Beteiligten verwenden das vorgebliche Fremde schlicht als einen Spiegel, in dem die
eigenen Vorstellungen von der Gesellschaft reflektiert werden. Dabei bleibt die Dis-
kussion erstaunlich abstrakt. Nur in den seltensten Fällen werden konkrete Phäno-
mene genauer unter die Lupe genommen.
Hier zu Lande scheinen selbst kulturpolitische Interventionen hauptsächlich von
abstrakten Modellen inspiriert zu sein. Ein Beispiel dafür ist die Ausstellung Heimat
Kunst, die 2000 im Berliner Haus der Kulturen der Welt unter der Schirmherrschaft
des Bundespräsidenten stattfand. Dort wurden von einem durchweg einheimischen
Kuratorenteam 43 ‚fremde‘ Künstler kuratiert, wobei es gleichgültig war, ob es sich
um Personen mit Migrationshintergrund handelte oder um ausländische Künstler,
die sich vorübergehend in der Bundesrepublik aufhielten. In einer Broschüre formu-
lierte Leiter Johannes Odenthal eines der wichtigsten Anliegen der Ausstellung:
„Wie kann sich Deutschland künstlerisch in den nächsten Jahrzehnten international
darstellen?“ Offenbar diente die im gleichen Aufsatz geforderte „Sichtbarkeit von
Migranten-Kultur“, womit wohl die Exponierung von Fremdheit gemeint war, in
erster Linie dem strategischen Ziel einer Repräsentation Deutschlands in der Kunst.
Unter mangelnder Sichtbarkeit leidet das Fremde derweil sicherlich nicht – allein:
Um was für eine Art von Sichtbarkeit handelt es sich genau?

3 Bilder des Fremden I: Differenzkonsum in der Massenkultur

Für den beschleunigten Umschlag von Bildern des Fremden spielt heute ein Feld
eine ausgezeichnete Rolle: die herrschende Massenkultur. Was zaghaft mit
Ernährungsgewohnheiten und Schlagermusik begann, hat sich mittlerweile auf alle
Bereiche ausgedehnt: Werbung, Fernsehen, Popmusik etc. kommen heute kaum
noch ohne ein Spiel mit Elementen des Fremden aus. Freilich bedeutet diese über-
deutliche Heterofilität in der Konsumsphäre noch lange nicht, dass die Anderen auf
dieser Bühne ihre Repräsentation selbst in der Hand hätten. Denn zum einen spielt
sich die Einbeziehung des Fremden im Bereich der Unterhaltung ab – bekanntlich
traditionell eine ‚Domäne‘ der Marginalisierten. Auf der anderen Seite kann auf dem
Feld der Massenkultur die dargestellte Differenz auf vielfältige Weise kontrolliert
und reguliert werden, was die Anderen wiederum auf die Präsentation bestimmter
Identitätsmarker festlegt. Insofern scheint der Wunsch nach ‚echter‘ Differenz in der
Konsumsphäre vor allem durch das Klischee befriedigt zu werden.
Globale Kultur in Deutschland: 315

Es sind vornehmlich Bilder von Schwarzen, die in der Massenkultur eine Rolle
spielen. Das hat eine gewisse Tradition – nicht durch Zufall war die ewig lachende
Stimmungskanone mit dem bezeichnenden Künstlernamen Roberto Blanco einer der
ersten ‚Fremden‘ im deutsche Unterhaltungssektor. Bereits in den 1970er Jahren
erfand der Produzent Frank Farian die Gruppe Boney M – die schwarzen Interpreten
waren dabei eigentlich nicht anders als Präsentatoren der Musik. Dieses Prinzip hat
sich in der seit einigen Jahren sehr erfolgreichen Sparte „Eurodance“ verallge-
meinert. Zu diesem Sektor gehörte etwa der Sommerhit des Jahres 1997, der von der
Gruppe Bellini stammte und den Titel Samba de Janeiro trug. Bellini war eine Erfin-
dung der Kölner Dancefloor-Producer Ramon Zenker und Gottfried Engels, welche
die Gruppe nach ‚multikulturellen‘ Gesichtspunkten zusammenstellten: Neben der
aus Brasilien stammenden Sängerin gab es eine Tanzfraktion, die aus einer Einhei-
mischen, einem Algerier, einer Indonesierin und einer Thailänderin bestand. Im Info
der Plattenfirma Virgin wurde der „feurige Einzug“ des Karneval auf deutsche Tanz-
böden gefeiert und das Video zeigte die Gruppe bei einem Umzug mit Musik im
brasilianisch angehauchten Ambiente. Hier erfanden also einheimische Produzenten
ein karnevalsk-internationalisiertes Brasilien, das ‚Fremdheit‘ und ‚Farbigkeit‘ auf
die Funktion einer Genussmaschine reduziert.
Die meisten Videos der Eurodance-Produktionen zeigen die Reduktion des
Fremden auf ein Klischee sehr deutlich. So trug in einem Stück von 1997 mit dem
Titel Can you feel the bass ein schwarzer Mann ein pulsierendes Lichtbündel vor
sich her, das er schließlich im Verlauf des Videos auf einen weißen Mann schleuder-
te. Dieser begann daraufhin zu tanzen: Offenbar diente der schwarze Mann allein als
Überbringer des Rhythmus. Manches Mal sind die Clips sogar unverhohlen rassis-
tisch. Im Jahre 1999 entstand eine deutsche Eurodance-Version des Reggae-Klassi-
kers Sun is Shining von Bob Marley. Im zugehörigen Video wurden Szenen von
trommelnden Rastas, die Authentizität symbolisieren sollten, mit solchen gegen
geschnitten, auf denen weiße Männer in hellen Anzügen sich mit schnellen Autos,
Jachten und Hubschraubern fortbewegten. Hier wird der Abstand deutlich markiert:
Auf der einen Seite eine Peripherie im Stillstand, die Material für die Differenz-
konsummaschine bereitstellt; auf der anderen Seite extrem mobile Individuen, die
Fremdheit wie aus dem Bauchladen konsumieren. Ende der 1990er Jahre nutzten
auch Produzenten nichtdeutscher Herkunft wie Tony Cottura und Bülent Aris mit
ihrer Produktionsfirma Booya das Begehren nach authentischer Fremdheit, indem sie
für den deutschen Markt sehr erfolgreich Gangsterrap aus der Retorte fabrizierten. In
einer Presseinformation des Plattenmajors Universal wurde der in Deutschland
lebende Rapper A.K. Swift 1997 so beworben: „Seine Hautfarbe ist schwarz! Er
rappt, dass uns warm im Unterleib wird! Er sieht gut aus! Er ist gut gebaut!“
Dass auch die Mode dieser Logik der Einbeziehung von Fremdheit folgt, ist
kaum verwunderlich. Exemplarisch stellte Wolfgang Joop kürzlich kategorisch fest:
„Als Amerikaner wäre ich dunkelhäutig“. Und er fügte die Erklärung gleich hinzu,
indem er des Titel eines Hollywood-Films zitiert: „Because white man can‘t jump“2.
Der gleichen Logik wie Joop, der eben das Stilvermögen und glamouröses Auftreten
der Afroamerikaner begehrt, folgte eine Werbung der renommierten Versicherung
316 Mark Terkessidis

Allianz. Die Zeile „Performance – Covered by Allianz Group“ wurde illustriert mit
einem schwarzen Mann, der sich offenbar an der Börse gerade über einen Gewinn
freut. Gerade für große Firmen ist die ‚Mischung‘ zu einem konstitutiven Bestand-
teil geworden – sowohl was die angebliche Kreativität ‚multikultureller‘ Belegschaf-
ten betrifft als auch das Image nach außen. Auch die Repräsentation der Hauptstadt
Berlin kommt ohne Bilder des Fremden nicht mehr aus. Nachdem Berlin die „Love
Parade“ als Standortfaktor entdeckte, warb die Stadt gar für sich selbst mit Bildern
von weißen, schwarzen und asiatischen Ravern, die gemeinsam die Offenheit und
Toleranz des neuen Berlin symbolisieren sollten.
Mit der Aufzählung solcher Beispiele ließe sich endlos fortfahren. Freilich ist es
auch interessant, wer in diesen Repräsentationen nicht auftaucht. Es zeugt von
einem gewissen ‚rassischen‘ Exotismus, dass etwa im neuen Image von Berlin
Schwarze und Asiaten auftauchen, die bei weitem größte Minderheit in der Stadt –
die Einwanderer türkischer Herkunft – jedoch nicht. In diesem Zusammenhang ist
sicher nicht zufällig, dass der erste Kommissar türkischer Herkunft im Fernsehen –
Sinan Toprak – sich vor allem durch eine vehemente Zurschaustellung traditionell
deutscher Tugenden auszeichnete: Hier werden offenbar via Massenkultur Verhal-
tenszumutungen in Richtung aus Anpassung formuliert. Allerdings wäre es dennoch
falsch, absolute Homogenität zu vermuten. Die Massenkultur ist weites Feld mit
mannigfaltigen Brüchen und Fransen, in denen auch dissidente Positionen zu ihrem
Recht kommen können. Dennoch lässt sich aus der zunehmenden Präsenz von
selbstbestimmten afrodeutschen Rappern oder Reggae-Künstlern oder der von popu-
lären türkisch-deutschen Kabarettisten wie Kaya Yanar keineswegs folgern, dass
alle Beteiligten ihre Positionierungen in diesem Feld frei wählen können. Wie
erwähnt, handelt sich um eine Bühne, auf der Differenz reguliert wird. In der Mas-
senkultur kommen jeweils global verständliche Zeichensysteme und nationale Hin-
tergründe zusammen.
Die beschriebene Differenzkonsummaschine jedenfalls ist ein Angebot für die
kaufkräftigen Individuen in der ‚Neuen Mitte‘, welche hier ein Terrain für die hege-
moniale Identitätsbildung vorfinden. Für diese Individuen erscheint das eigene
Selbst im Konsum unendlich formbar: Sie erwerben Differenz und füllen dadurch
einen scheinbar leeren Ort. So plastisch scheint das Eigene geworden zusein, dass
selbst ‚biologische‘ Merkmale wie die Hautfarbe manipuliert werden können. Dies
wurde etwa durch eine Plakatreklame für ein Sonnenstudio illustriert, auf dem
weibliche Pos in verschiedenen Farbabstufungen zwischen fast weiß und fast
schwarz abgebildet waren. Darunter stand: „Den Ton bestimmen sie“. Hier wirkt
selbst die Pigmentierung wie ein Konsumartikel: Sogar Hautfarben kann man sich
offenbar aussuchen wie Frisuren.
In diesem Prozess wird Fremdheit wie erwähnt zu einer unbewussten oder
bewussten strategischen Spielmarke: Sie wird begehrt und erfunden, sie wird kon-
trolliert und reguliert. Je mehr Authentizität gewünscht wird, desto mehr Klischee-
Fremdheit entsteht: Stets bringen die Fremden Rhythmus, Natürlichkeit, Kraft, Feu-
er, Lebensfreude usw. Freilich wird weiterhin streng darüber gewacht, welche Dif-
ferenzen zugelassen werden und welche nicht – nicht umsonst wird in dieser Gesell-
Globale Kultur in Deutschland: 317

schaft ununterbrochen über Toleranz verhandelt. Im nächste Abschnitt wird es ins-


besondere um jene Differenzen gehen, welche die Differenzkonsummaschine von
außen begrenzen. Slavoj Zizek hat in seinem Plädoyer für die Intoleranz keineswegs
Unrecht, wenn er polemisch bemerkt:
„Multikulturalismus ist ein Rassismus, der seine eigene Position von jeglichem positiven
Inhalt freigemacht hat […], trotzdem bleibt aber diese Position die eines privilegierten leeren
Platzes der Universalität, von dem aus man in die Lage gerückt ist, die anderen partikularen
Kulturen zu bewerten (oder zu entwerten)“ (Ziek 1998: 73).

4 Bilder des Fremden II: Gegenbilder

1992 bezeichneten Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid den „Umgang der
Deutschen mit der moslemischen Minderheit“ als „Nagelprobe“ für die multikul-
turelle Gesellschaft (Cohn-Bendit/Schmid 1992: 306). Schnell stellte sich freilich
heraus, dass vor allem der offenbar als Einheit betrachtete ‚Islam‘ als Problem defi-
niert wurde. Die Autoren wollten diesen zwar keineswegs als auf Fundamentalismus
reduzieren, aber doch als Hemmnis für den Multikulturalismus verstanden wissen:
Der Islam sei nämlich „nicht nur eine Religion, sondern auch eine theokratische
Vision“ – der Prozess der Säkularisierung stehe noch bevor (ebd.: 309). Dieses Bild
von ‚dem Islam‘ ist in den 1990er Jahren in den Medien vielfach reproduziert wor-
den, wobei zumal in der Sprache der Bilder stets eine Mischung zwischen Rätselhaf-
tigkeit und Bedrohung suggeriert wird. Beispielhaft dafür steht ein Titelbild von
Spiegel special aus dem Jahre 1998, das eine verschleierte Frau zeigt, deren Augen-
braue sich in ein Schwert verwandelt hat. Der Titel lautete: „Weltmacht hinterm
Schleier: Rätsel Islam“3. Im Innern des Heftes fand sich eine weitere Illustration mit
einer verschleierten Frau, die eine Teekanne reichte, wobei ihr unverschleierter, also
demaskierter Schatten im Hintergrund anstatt der Kanne eine Pistole in der Hand
hielt. Offenbar stammen diese Bilder aus einem imaginären Repertoire, das an den
antikolonialen Befreiungskampf in Algerien erinnert. So wirkt das Kapitel „Algerien
legt den Schleier ab“ aus Frantz Fanons Buch über die algerische Revolution, in dem
er die Reaktionen der Franzosen auf das Kopftuch beschreibt, heute wieder erstaun-
lich aktuell.4
Insbesondere nach den Anschlägen vom 11. September wurde auf die sugge-
stive Wirkung solcher Bilder gesetzt. Die Titelbilder von großen Illustrierten im
Oktober – „Weltmacht Islam“ (Focus), „Geheimnis Islam“ (Stern), „Mohammeds
zornige Erben“ (Stern) – sowie die Bilder zu den Artikeln reduzierten ‚den Islam‘
auf wenige, leicht wieder erkennbare Merkmale: Menschenmassen, Verschleierung,
wütende Männer. Dazu kamen brennende Fahnen, Karten der sogenannten islami-
schen Welt und historische Schlachtenbilder. Der imaginäre Text ist von atemberau-
bender Eindeutigkeit: Eine weltweit verbreitete, verschlossene, fanatische Religiosi-
tät, die schon seit Jahrtausenden expansive Bestrebungen hat, bedroht ‚uns‘ mit
Flamme und Schwert. Ähnliches wurde auch verbal geäußert – etwa vom ehemali-
318 Mark Terkessidis

gen Staatsminister für Kultur bei Sabine Christiansen am 14. September 2002, der
von einer Milliarde nicht säkularisierter Menschen sprach – doch die Bilder wirken
weitaus evidenter. Zweifelsohne handelt es sich hier um das bekannte Repertoire des
„Orientalismus“ und Edward Said hat wohl recht behalten, als er 1978 in der Einlei-
tung seines gleichnamigen Buches die globalen Massenkultur nicht als Antidot
gegen das Klischee verstehen wollte – im Gegenteil: „One aspect of the electronic,
postmodern world is that there has been a reinforcement of the stereotypes by which
the Orient is viewed“ (Said 1995: 26).
Die wenigen Merkmale, mit denen der Islam dargestellt wird, ergeben eine Art
Syndrom, das wie ein Spiegel funktioniert – eine glatte Fläche, in der wiederum in
strategischem Sinne das Fremde umgekehrt das Eigene reflektiert: Dass ‚sie‘ in
Massen auftreten, fanatisch und verschlossen sind, zeigt ‚uns‘ unsere Individualität,
Vernunft und Offenheit. Das Gegenbild begrenzt die Maschine des Differenz-
konsums und schafft so ein virtuelles Terrain erlaubter und kontrollierter Differenz.
Freilich ist die Beziehung jener Merkmale, welche den Islam repräsentieren sollen,
und dem Signifikat ‚der Islam‘ völlig ungesichert. Nicht nur, dass wir nicht wissen,
ob Massen, Fanatismus und Verschleierung tatsächlich mit „dem Islam“ in Verbin-
dung stehen – wir wissen nicht einmal, ob das Signifikat ‚der Islam‘ als ein Ganzes
überhaupt existiert. Daher lässt sich feststellen, dass hier Fremdheit im strategischen
Sinne erfunden wird – der „weiße Blick“ (Frantz Fanon) legt nicht nur die Merk-
male fest, an denen Fremdheit zu erkennen ist, sondern er füllt diese Fremdheit auch
mit einem spezifischen Inhalt und bewertet sie – zumindest implizit. Fremdheit in
der Bedeutung des „gesunden Menschenverstandes“ – das, was wir nicht kennen –
ist längst ein Relikt der Vergangenheit. Es gibt kaum noch einen Ort, eine Gruppe,
eine Position, die nicht durch tausende von Details, Anekdoten und Erzählungen des
westlichen Diskurses bekannt sind.
Dieses Gesehen-Werden durch die Mehrheit bleibt selbstverständlich nicht ohne
Einfluss auf jene, die von diesem Blick erfasst werden. Doch was geschieht in jenem
Moment, wenn die Anderen, die sogenannten Fremden, dem ‚weißen Blick‘ begeg-
nen? Fanon schreibt: „Ich entdeckte mich als Objekt inmitten anderer Objekte“
(Fanon 1985: 79). Jede kulturelle Artikulation der Migranten im Einwanderungsland
muss im Kontext dieser ‚erdrückenden Objektivität‘ gelesen werden: Die Artikulati-
onen stellen – wiederum unbewusst oder bewusst – eine strategische Reaktion auf
diesen Blick dar. In der Eingangsszene des Filmes Ich Chef, Du Turnschuh von
Hussi Kutlucan, der sich unausgesetzt mit dem Problem der ‚gespielten‘ Ethnizität
befasst, entgeht ein Asylbewerber der Abschiebung, indem er sich ein Handtuch um
den Kopf bindet und sich zu einer Gruppe indischer Neuankömmlinge gesellt. Allein
das Merkmal Turban lässt ihn im Blick der Einheimischen als Inder erscheinen. Die
Szene ist letztlich jedoch hochsymbolisch für die kulturellen Ausdrucksformen von
Einwanderern allgemein. Zum einen handelt es sich stets um aktive Umgangsweisen
mit einem Machtgefälle. Zum anderen treiben diese Positionierungen ein Spiel mit
der Unsichtbarkeit und der Sichtbarkeit von Migranten. Am Beispiel des Kopftuches
soll dieser Prozess nun genauer erläutert werden.
Globale Kultur in Deutschland: 319

5 Die Umkehrung des Blicks: Fremde stören das Bild

In den letzten Jahren ist das Kopftuch in der Bundesrepublik das ausgezeichnete
Symbol für eine in politischer als auch kultureller Hinsicht ‚unpassende‘ Differenz
geworden. Als 1998 Fereshta Ludin, eine deutsche Muslima afghanischer Abstam-
mung, im Land Baden-Württemberg Lehrerin werden wollte, wurde ihr das von der
Kultusministerin Annette Schavan mit der Begründung verweigert, das Kopftuch sei
„ein Symbol kultureller Abgrenzung“ und mit den Toleranzvorstellungen der Bun-
desrepublik nicht vereinbar. Tatsächlich projiziert die Ministerin hier offenbar die
eigene Intoleranz auf die ‚Fremde‘: Sie begründet diese Intoleranz mit der Gefähr-
dung der Toleranz durch das Kopftuch. Mittlerweile wird das Tuch in Zeitschriften
beinahe ikonisch verwendet, um Artikel zu illustrieren, die sich mit Integration bzw.
ihren Problemen befasst. Beispielsweise konnte man selbst in der taz vom 6. Okto-
ber 1999 ein Bild von jungen Frauen mit Kopftüchern sehen, die über eine Kirmes
schlenderten und Eis aßen. Die Überschrift des Artikels lautete „Stadt ohne
Zukunft?“ und die Unterzeile: „Wieviel Fremdheit verträgt Deutschland? Eine Dis-
kussion – nicht nur für Nationalisten“.
Selbstverständlich sorgt das Kopftuch gerade in der Massenkultur für Irritati-
onen. Dies bringt eine erotische Fotostrecke der Männerillustrierten GQ mit Yas-
meen Ghauri auf den Punkt. Ghauri ist Model und wuchs in Montreal mit einer deut-
schen Mutter und einem pakistanischen Vater auf. „Das ist die Frau“, lautet der Las-
sotext, „die einem religiösen Symbol schärfste Konkurrenz geboten hat. Jammer-
schade, wenn Yasmeen Ghauri heute verschleiert rumlaufen müsste.“5 Hier werden
also säkularisierte Offenheit und religiös motivierte Verschlossenheit miteinander in
ein Verhältnis der Konkurrenz gebracht, wobei Freiheit und Offenheit allerdings
letztlich wenig mehr bedeuten als erotische Entblößung. Auf einer ähnlichen Ebene
argumentiert der Spiegel in einem Text mit dem Titel „Erregend Anders“. Hier wer-
den jungen Frauen mit Kopftüchern so fantasiert: „hoch gewachsene, vollkommene
Gestalten, mit makellosem Make-Up, High Heels und hautengen Bodys, das Haar
versteckt unterm Tuch, der Bauchnabel frei“6. Bei GQ gewährleistet allein die Ent-
kleidung die Einspeisung des deutlich exotisierten Frauenkörpers in die „Differenz-
genussmaschine“, während das Kopftuch dieser entgegenstünde. Für den Spiegel
wird das Kopftuch letztlich nur dadurch akzeptabel, dass die Frauen gleichzeitig auf
westliche Weise sexualisiert erscheinen.
Allerdings ist das Kopftuch, dass als Grenze von Toleranz und ‚Vermischung‘
in der globalen Massenkultur wahrgenommen wird, eine weitaus interessantere und
originärere politisch-kulturelle Hybridisierung als zunächst sichtbar wird. Die jun-
gen Frauen mit ihren Kopftücher bieten dem hegemonialen Blick in Deutschland
keinerlei Anhaltspunkt. Da die deutsche Gesellschaft sich traditionell nicht als Ein-
wanderungsgesellschaft verstanden und die Migranten weitgehend von politischer
Mitbestimmung ferngehalten hat, gelten die Einwanderer immer noch als ‚fremde‘
320 Mark Terkessidis

Gruppe mit ‚fremden‘ Sitten auf deutschem Territorium. Kopftücher erscheinen dem
hegemonialen Blick letztlich selbstverständlich – die Fremden haben eben andere
Sitten. Erst wenn diese ‚Fremdheit‘ den Kontext wechselt und selbstbewusst als
Lehrkraft an deutschen Schulen auftaucht oder wenn diese Fremdheit den Genuss
von exotisierter Weiblichkeit in der globalen Massenkultur gewissermaßen
blockiert, dann wird dieses ‚Fremde‘ plötzlich problematisch.
Selbstverständlich handelt es sich bei dieser Bedeckung um ein religiöses
Bekenntnis, doch die jungen Frauen bestehen dabei nur scheinbar auf einer traditi-
onellen, quasi vormodernen Form der geschlechtsspezifischen ‚Fremdheit‘. Denn die
jungen Kopftuchträgerinnen7 befinden sich nicht an dem Ort, an dem sie gesehen
werden. Wie Yasemin Karakasoglu-Aydin (1998) in Interviews mit ‚Kopftuch-Stu-
dentinnen‘ türkischer Herkunft herausfand, verkörpern diese jungen Frauen eben
nicht „kulturelle Abgrenzung“ im Sinne von religiöser Traditionalität und weiblicher
Unterordnung. Das zeigt sich schon am Kopftuch selbst: Es handelt sich nicht um
die hergebrachte Kopfbedeckung der Mütter, die den Haaransatz freilässt und unter
dem Kinn geknotet wird, sondern um den sogenannten ‚türban‘, welcher das
gesamte Haar und auch die Schultern verhüllt. Dieses Kopftuch hat in der Türkei
keine spezielle Bedeutung, sondern es wird heute weltweit von Musliminnen der
jüngeren Generation getragen – es hat mit Türkischsein also überhaupt nichts zu tun.
Auch stammt der vorwiegende Teil der Studentinnen aus Arbeiterfamilien, in denen
die Religion kaum praktiziert wurde. Zudem sind auch die Islamvorstellungen nicht
traditionell. Im Tragen des Kopftuchs kommt daher oft eine Art „sanfte Revolution“
gegen die Eltern zum Ausdruck (Karasoglu-Aydin 1998: 466).
In den Interviews stellen die jungen Frauen ihre Entscheidung für das Kopftuch
als strikt individuell und auch emanzipativ dar. Das Tuch nach ihren Aussagen soll
dafür sorgen, dass nicht das weibliche Äußere, sondern die Persönlichkeit Beach-
tung findet. Darüber hinaus garantiert er den jungen Frauen Respekt. Alle Bedeutun-
gen, die von den jungen Frauen selbst mit dem Tragen des ‚türban‘ verbunden wer-
den, sind im höchsten Maße ‚integriert‘ und ‚modern‘. Gleich, ob man diesen eman-
zipativen Anspruch anzweifelt oder nicht, die jungen Frauen bilden jedenfalls eine
internationalistische, im Hinblick auf sexuelle und ethnische Differenz aktive Sub-
kultur, die über den Bezug auf ein hegemonial bedeutsames Zeichen via Stil Ein-
wände formuliert. Sie wollen, dass sie gerade in ihrer Sichtbarkeit als ‚Fremde‘ inte-
griert werden.
Wie kann man nun diese kulturelle Artikulation theoretisch fassen? Hier bietet
sich Homi Bhabhas Theorie der ‚Hybridität‘ an.

6 Weniger als eins und doppelt: Hybridität

Der Begriff der ‚Hybridität‘ steht im Kontext von sogenannten Postkolonialismus-


Ansätzen. Die Diskussion über Postkolonialismus entwickelte sich in Großbritan-
nien unter minorisierten Intellektuellen und im direkten Gefolge antikolonialer und
Globale Kultur in Deutschland: 321

antirassistischer Kämpfe. Die Schwierigkeit und zum Teil auch das Scheitern sol-
cher Kämpfe offenbarte das Problem mit – je nachdem politischen oder auch essen-
zialistisch verstandenen – Identitätskonstruktionen wie ‚Dritte Welt‘, ‚Afrika‘,
‚Schwarz‘ oder ‚Nation‘. Denn übersehen wurde bei dieser Art der binären Positi-
onierung, die Stuart Hall „Identitätspolitik ersten Grades“ (Hall 1994: 78ff.) nennt,
zum einen der Streit um Differenzen innerhalb der jeweiligen ‚erfundenen‘ Gemein-
schaft und zum anderen die Verwicklung der vorgestellten Identität in die Kultur des
politischen Gegners, also des Kolonisatoren oder der Majorität. Besonders der
zweite Punkt führt schließlich zum Begriff der Hybridität. Wie Hall schreibt, führt
kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass jede Identität bei ihrer Konstitution durch
das „Nadelöhr des Anderen“ (ebd.: 44) hindurch ging und dass Identität „aus mehr
als einem Diskurs zusammengesetzt ist, immer aus dem Schweigen über den Ande-
ren gebildet wird“ und „mit und durch Ambivalenz und Begehren geschrieben ist“
(ebd.: 74),
Am anspruchsvollsten hat diese Vorstellung vom Dislozieren der Identität in
sich selbst wohl Homi Bhabha beschrieben. In verschiedenen Aufsätzen, die später
zu dem Buch The Location of Culture zusammengefasst wurden, befasste sich
Bhabha ausführlich mit der „anderen Szene“ der kolonialen Machtentfaltung – mit
jener unausweichlichen Ambivalenz, in die sowohl die eine als auch die andere Seite
durch das Mimikry der Kolonisierten an die Kultur ihrer Unterdrücker verwickelt
werden.8 Denn die Nachahmung erzeugt, wie Bhabha immer wieder betont, „a sub-
ject of difference that is almost the same, but not quite“ (Bhabha 1994: 86).
Diese „Szene“ wiederholt sich dann unter anderen, nämlich „postkolonialen“
Vorzeichen in der Metropole, deren Regierung die Ex-Kolonisierten nach ihrer
Befreiung ja zur Einwanderung aufforderte. Um den Prozess der minoritären Identi-
tätsbildung zu erläutern, zitiert Bhabha ein Gedicht von Meiling Jin, indem sie
davon spricht, sie habe eine „geheime Kunst“ gelernt, die „Unsichtbarkeit“. Diese
bewahre sie davor, vom hegemonialen „Du“ gesehen zu werden, während sie selbst
jedoch weiterhin sehen kann: „Nur meine Augen bleiben als Spuk und werden aus
Deinen Träumen ein Chaos machen“ (zitiert nach Bhabha 1997a: 98). Diese exem-
plarische Identitätskonstruktion stellt die gewöhnliche Vorstellung von Identität
zutiefst in Frage. Während allgemein davon ausgegangen wird, dass dem, was man
von einem Ich sieht oder dem, was eine Person sagt, auf einer tieferen Ebene eine
sich selbst gleiche Essenz zu Grunde liegt, befindet sich hier die Migrantin (das Sub-
jekt) offenkundig nicht an dem Ort, von dem aus es spricht und an dem es gesehen
wird.
Allerdings indiziert diese Spaltung nicht, dass die Migrantin ein befreites, nicht-
unterdrücktes Ich hinter einem falschen Bild in Sicherheit gebracht hat. Was hier
stattgefunden hat, ist vielmehr eine „Verdoppelung“, „die unheimliche Differenz
desselben oder die Alterität der Identität“ (Bhabha 1997a: 110). In einer zweifachen
Bewegung schmiegt sich die Migrantin durch Mimikry der hegemonialen Vorstel-
lung von sich selbst an und ersetzt gleichzeitig metonymisch das vorgebliche Ganze
(das Ich) durch einen Teil (das Auge). 9 Sie wird also nicht, auch nicht auf verbor-
gene Weise, identisch im traditionellen Sinne: Sie bewohnt einen „dritten Raum der
322 Mark Terkessidis

Absenz“ (ebd.: 106.), der genau zwischen der Behauptung von Identität und ihrem
Hinterfragen liegt.
Durch diesen Akt der Verdoppelung stört die Migrantin gleichzeitig aber auch
die Identität des hegemonialen „Du“, welches sich nicht zuletzt durch die Abgren-
zung vom Anderen definiert. „Diese Störung deines voyeuristischen Blicks“,
schreibt Bhabha, „beruht auf der Komplexität und Widersprüchlichkeit deines Ver-
langens, kulturelle ‚Differenz‘ in einem eingrenzbaren, sichtbaren Objekt oder als
natürlichen Tatbestand zu sehen, zu fixieren […]“ (ebd.: 108). Dabei kann mit kul-
tureller Differenz im übrigen nicht nur ethnische, sondern auch sexuelle Differenz
gemeint sein. Durch ihre Hybridität führt die Minorisierte, da sie weniger als eins
und doppelt ist, eine unerwartete „Spaltung der Differenz zwischen Selbst und
Anderem“ (ebd.: 106) ein.
Kulturelle Unterschiede sind also keineswegs einfach da, um gesehen und ana-
lysiert zu werden, sie sind weder die Quelle von Konflikt noch bieten sie eine Basis
für Anerkennung, sondern kulturelle Differenzierung wird produziert als Effekt einer
diskriminatorischen Praxis.10 Insofern geht es „für das Subjekt der Minorisierung
[…] nicht um die Frage der ‚Reziprozität‘ – das ‚Verhältnis der beiden‘ -, sondern
um die Problematik der Nähe“ (Bhabha 1997b: 38). Allerdings bleibt bei Bhabha
der Status von Hybridität systematisch unklar: Handelt es sich um die Bedingung
der Identitätsbildung unter ungleichen Machtverhältnissen oder, wie Bhabha immer
wieder anmerkt, um eine (dann notwendig intentionale) Strategie der Subversion
gegen die Macht? 11 Tatsächlich ist minoritäre Identität wohl auch in dieser Hinsicht
ambivalent: Wenn wohl auch von Intentionalität im engeren Sinne sicher nicht die
Rede sein kann, enthält die hybride Identitätsbildung der Minderheiten immer auch
einen Akt des Widerstandes. Allerdings sollte man die Wirkung dieses Widerstan-
des, wie Bhabha es gelegentlich tut, weder überschätzen noch gegen eine oppositi-
onelle Politik ausspielen.
Wenn man diesen Ansatz auf das Phänomen der „Kopftuch-Studentinnen“ in
Deutschland überträgt, dann ist die in den Interviews hervortretende Modernität und
Individualität nicht etwa die befreite Identität ‚hinter‘ dem Schleier, die nur freizule-
gen wären und die jungen Frauen verwandelten sich einfach in Mitglieder der Mehr-
heitsgesellschaft, sondern bloß eine Verschiebung, ein Teil für ein Ganzes. Hier liegt
auch der Unterschied zu den Jugendsubkulturen der Majoritätsangehörigen. Die
Verschiebung kann nur inmitten der Unsichtbarkeit stattfinden, die der „türban“ auf
der Ebene der Repräsentation garantiert. So bewohnen die jungen Frauen eben jenen
‚dritten Raum‘, von dem Homi Bhabha spricht, der eben nicht ‚zwischen zwei Kul-
turen‘ liegt, sondern in dem jede kulturelle Äußerung immer das Eine-im-Anderen
verkörpert. In ihrer sexuellen und ethnischen Identitätskonstruktion wird etwas
Zusätzliches hervorgebracht, sie ist „hybrid“ in Bhabhas Sinne: Die jungen Frauen
besitzen keine ‚tiefe‘, stimmige Identität; sie sind weniger als eins und doppelt, sie
spalten die scheinbar einfach gegebene Differenz auf. Sie stellen herrschende Identi-
tätsvorstellungen in Frage, weil ihre Äußerung genau zwischen der Behauptung
einer Identität und ihrer Infragestellung liegt.
Globale Kultur in Deutschland: 323

7 Repräsentationskrisen

Die empört-aggressiven Reaktionen zeigen es – diese jungen Frauen lösen eine


Krise der hegemonialen Repräsentation aus, wie sie gerade über die Massenmedien
vermittelt wird. In dem französischen Spielfilm Les années lycées 1995: Sa vie à elle
von 1995 gibt es eine Szene, die diese Krise perfekt illustriert. Der Film handelt von
einem Mädchen in der Abschlussklasse, welches beginnt ein Kopftuch zu tragen. Sie
erklärt ihr Verhalten nicht und riskiert schließlich einen Schulverweis. Ein Lehrer,
der sich selbst als liberal vorstellt („ich persönlich bin mit den harten Reaktionen der
anderen Lehrer nicht einverstanden“) befragt das Mädchen dennoch in nahezu
inquisitorischer Weise über seine Motivation. Als sie gleich zu Beginn auf die Frage
nach dem „Warum“ nicht antwortet, wird der Lehrer immer weiter auf sich selbst
zurückgeworfen. Von der Frage, ob sie das „normal“ finde und was sie antreibe,
gleitet er bald in einen Monolog des Selbstzweifels: „Warum wollen sie nicht spre-
chen? Weil wir nicht in der Lage wären, es zu verstehen, ist es das? Wir wären nicht
in der Lage, zu verstehen, was sie uns sagen würden, die Bedeutung, die es für die
hat, diesen Schleier zu tragen. Wir sind nicht in der Lage, wir sind nicht klug
genug.“ Dies gipfelt in der Frage: „Also, was bin ich, ich, der hier jeden Tag vor
ihnen steht.“
Diese Befragung muss im französischen Kontext gesehen werden. Im universa-
listisch-assimilatorischen Frankreich ist es ein Skandal, wenn sich „Fremdheit“ bei
den Schülerinnen zeigt und das ‚rationale‘ Gespräch zu verweigern scheint. In
Deutschland ist die ‚Fremdheit‘ bei Schülerinnen dagegen kein Aufsehen erregendes
Ereignis. Erst wenn diese ‚Fremdheit‘ auf der Ebene der Lehrerinnen erscheint, erst
wenn die betreffende Person deutsch spricht und nachdrücklich nach Integration ver-
langt, dann entsteht der Skandal. Insofern verläuft jenes von Bhabha beschriebene
Mimikry anders als in Staaten mit kolonialer Vergangenheit, in denen die staatsbür-
gerliche Assimilation gewöhnlich mit dem Anspruch auf kulturelle Assimilation
gekoppelt ist.12 Wenn man es idealtypisch vereinfachen möchte, dann taucht die
‚hybride‘ Unsichtbarkeit, von der Bhabha spricht, nicht in einem Prozess des
„almost the same, but not quite“ auf, sondern in einem des „almost the other, but not
quite“. Der deutsche hegemoniale Blick sieht gewissermaßen dann „nichts“, er wird
dann nicht gestört, wenn sich ihm ‚Fremdheit‘ zeigt. Dass – um auf die oben
beschriebenen ‚Gegenbilder‘ zurückzukommen – Musliminnen unter der Knute der
‚fremden‘ islamischen Religion Kopftücher tragen, wird ja durchaus erwartet:
Ambivalenz und Diskussionen entstehen, wenn solche Kopftuchträgerinnnen plötz-
lich selbstbewusst Anspruch auf ‚Integration‘ erheben – etwa eine Anstellung im
Staatsdienst wünschen.
Allerdings sind die Abwehrreaktionen in unterschiedlichen Kontexten ähnlich.
So zeigen die Selbstzweifel des französischen Lehrers, dass eine bestimmte Vorstel-
lung vom Andern auf symbolischer Ebene zutiefst in die Wahrnehmung des Eigenen
324 Mark Terkessidis

eingelassen ist. Denn wenn diese Fremden sich plötzlich nicht mehr so benehmen,
wie man es von ihnen erwartet, wenn sie Verschiebungen in der Repräsentation
anzetteln, dann bricht plötzlich das Selbstgefühl zusammen und die Frage „Was bin
ich?“ taucht auf.
Diese Frage verweist freilich auf ein ganzes Ensemble von Bedingungen – auf
ein ökonomisches Machtgefälle, auf politische Kämpfe, auf kulturelle Ent- und Wie-
deraneignungen. „Was bin ich?“ ist zur Grundfrage der globalisierten Welt gewor-
den, weil die Globalisierung die Frage der Identifizierung in vielfältiger Weise ins
Zentrum rückt und gleichzeitig eine ‚Leere‘ erzeugt, welche oft genug unheimliche
Einblicke in die Kulissenhaftigkeit von Eigenem und Fremdem zulässt. Es dürfte
klar geworden sein, dass sich die Idee von Fremdheit als fixer Beziehung zwischen
einer Äußerung und einem ‚tiefen‘ inneren Kern nicht halten lässt. Fremdheit ebenso
wie Kultur können selbst nicht als Erklärung fungieren – sie sind als Phänomene
selbst hochgradig erklärungsbedürftig. Dabei muss es darum gehen, jeweils konkre-
te, materielle Phänomene aus ihrem materiellen Kontext heraus zu entwickeln –
denn ohne die Einbeziehung der sozialen und politischen Marginalisierung sind kul-
turelle Artikulationen von Fremdheit überhaupt nicht zu verstehen.
Dass der Bezug auf Fremdheit strategisch ist, das verbindet plötzlich sich
scheinbar unabhängig gegenüberstehende Gruppen. Kulturelle Differenz ist niemals
da, wo wir sie zu sehen glauben – denn sie ist bereits in jenem Ort eingeschrieben,
von aus wir sehen. Es geht um die Differenz innerhalb der sichtbaren Differenz, um
die Brüche, um jene Überlappungen, wo die angeblich voneinander geschiedenen
kulturellen Entitäten in einem verschwiegenen gemeinsamen Prozess produziert
werden. Daher kann es im ‚Zusammenleben‘ in der Einwanderungsgesellschaft nicht
nur um Toleranz gehen – das wäre eine Toleranz für Ungleichheit. Es geht um Ver-
änderung. Der Ansatzpunkt ist dabei eben nicht Kultur, sondern der gesamte Prozess
– der Kontext, in dem kulturelle Ausdrucksformen ihre Bedeutung entfalten.

Anmerkungen

1 Vgl. „Arbeitsgrundlage für die Zuwanderungs-Kommission der CDU Deutschlands“; Ber-


lin, den 06.12.00.
2 Wolfgang Joop, Ich habe einen Traum. In: „Die Zeit – Leben“, Nr. 2, 2000: 14.
3 Spiegel special, Nr.1/1998.
4 Vgl. Fanon 1969: 19ff.
5 „Eine Pligerin namens Yasmeen“, in GQ, Nr.2, 1998: 130ff.
6 Alexander Smoltecyk: erregend anders, in: Der Spiegel 1999 (36): 97.
7 Ich beziehe mich hier auf das Kopftuch, dass von jungen, meist Gebildeten Musliminnen
in den letzten Jahren verstärkt getragen wird. Zwischen Kopftuch und Kopftuch gibt es
Unterschiede und ich möchte keineswegs verleugnen, dass in anderen Fällen auch mani-
fester Zwang hinter dem Tagen des Schleiers stecken kann.
8 Vgl. etwa Bhabha 1994: 85ff.
9 Im Originaltext ist dies ein Wortspiel mit „I“ und „Eye“.
Globale Kultur in Deutschland: 325
10 Vgl. Bhabha 1994: 114.
11 Auf die Probleme in Bhabhas Theoriebildung hat kürzlich Monika Fludernik ausführlich
hingewiesen (Fludernik 1998).
12 Sicher gibt es einen vergleichbaren Fall auch in Deutschland: Im Falle des willkürlicher
„Gnadenaktes“ einer Ermessenseinbürgerung, wie er bis 1990 ausschließlich möglich
war, wurde eine geradezu extreme Anpassung an die „deutsche Kultur“ erwartet. Aller-
dings war die Anzahl der Einbürgerungen eben sehr gering.

Literatur

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Bronfen, E./Marius, B. (1997): Hybride Kulturen. Einleitung zur angloamerikanischen Multi-
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Lützeler, P. (1998): Nomadentum und Arbeitslosigkeit – Identität in der Postmoderne. In:
Bohrer, K.-H./Scheel, K. (Hrsg.): Postmoderne – Eine Bilanz, Berlin (Sonderheft der
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Said, E. (1995): Orientalism. London.
Schütze, J. (2000): Vom Fremden. Wien.
Zizek, S. (1998): Plädoyer für die Intoleranz. Wien.
Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge

Siegfried Jäger

1 Positionen1

Die Annahme, dass die Begegnung und Berührung unterschiedlicher Kulturen


zwangsläufig zu Konflikten führe, ist außerordentlich verbreitet, nicht nur bei
Rechtsextremisten, sondern in allen Schichten der Bevölkerung,2 aber auch bei vie-
len Wissenschaftlern.3 Die Idee der multikulturellen Gesellschaft ist daher oft von
der Vorstellung begleitet, sie sei notwendig problematisch, konfliktreich und
schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Solche Vorstellungen unterstellen das Gege-
bensein von mehr oder minder natürlichen Monokulturalitäten, die es aber – zumin-
dest auf größeren Territorien – historisch niemals gegeben hat. Im Gegenteil: His-
torisch gesehen, gehörte es zur Lebensweise der Menschen, abwechselnd zu wan-
dern und sesshaft zu sein, wie David Theo Goldberg unterstreicht (Goldberg 1994:
229). Kurzum lässt sich sagen: Seitdem es Menschen gibt, wandern sie.
Andererseits ist die Position verbreitet, dass Konflikte bei kulturellen Über-
schneidungen und Berührungen völlig unnötig und vermeidbar sind, wenn eine ver-
nünftige Einwanderungspolitik betrieben würde, ein einigermaßen liberales Einwan-
derungsgesetz vorhanden wäre und rechtliche und politische Gleichstellungen von
Menschen unterschiedlicher Kultur selbstverständlich gewährleistet würden. In der
ausufernden wissenschaftlichen Literatur zum Problemzusammenhang gibt es nun
eine Vielfalt von Positionen aus einer Vielfalt wissenschaftlicher Disziplinen.
Der US-Amerikaner McLaren (1994: 46ff.) etwa referiert und kritisiert ver-
schiedene Positionen zum Thema Multikulturalität aus politologischer Sicht und plä-
diert für einen „kritischen Multikulturalismus“. Er unterscheidet einen konservativen
bzw. korporativen von einem liberalen, einem links-liberalen und einem kritischen
oder widerständigen Multikulturalismus.
Konservative Multikulturalisten leisten nach McLaren nur Lippenbekenntnisse,
wenn sie von der kognitiven Gleichheit aller Menschen sprechen; sie verbinden mit
der Sicht von Minderheiten kulturell zurückgebliebene Hintergründe und attestieren
ihnen einen Mangel an familienorientierten Werten. Für sie ist Weißheit eine Form
der Ethnizität und eine unsichtbare Norm, und sie werden durch rassistische, sexisti-
sche, klassistische und homophobe Unterstellungen geleitet.
328 Siegfried Jäger

Liberale Multikulturalisten führen die Ungleichheit fast auschließlich auf Erzie-


hungsdefizite zurück. Sie fordern, dass alle Menschen auf dem Markt gleichberech-
tigt konkurrieren können, und erhoffen sich davon einen allmählichen Abbau der
Ungleichheiten. Zugleich legen sie aber Normen zu Grunde, die an anglo-amerikani-
schen kulturell-politischen Gemeinschaften orientiert sind.
Links-liberale Multikulturalisten begrüßen die Vielfalt und finden Multikultura-
lität „exotisch“. Sie ignorieren Unterschiede als Resultate sozialer, historischer und
kultureller Prozesse und Zuschreibungen und essenzialisieren sie.
Der kritische Multikulturalist strebt nach McLaren soziale Veränderungen an.
Er betont dabei insbesondere die Rolle der Sprache und der Repräsentation bei der
Herausbildung von Identität und Bedeutungen. McLaren geht davon aus, dass Zei-
chen und Bezeichnungen im Wesentlichen instabil sind und sich ständig ändern. Sie
können nur für kurze Fristen fixiert werden, was davon abhängig ist, wie sie inner-
halb einzelner diskursiver und historischer Auseinandersetzungen artikuliert werden.
Repräsentationen und Zuweisungen von Rasse, Klasse und Geschlecht versteht
McLaren als Folgen größerer sozialer Kämpfe über Zeichen und Bedeutungen.
Daher fordert er die Transformation sozialer, kultureller und institutioneller Verhält-
nisse, durch die die Bedeutungen konstituiert und generiert werden, und zwar durch
eine radikale Politik. Zu konstatierende Unterschiede seien immer Resultate von
Geschichte, Kultur, Macht und Ideologie. Nach McLaren geschehen sie bzw. spielen
sie sich ab zwischen den und innerhalb der sozialen Gruppen und können nur unter
Berücksichtigung der Besonderheiten ihres Entstehens verstanden werden und
bekämpft werden.
Hier liegt eine typische ideologiekritische Position vor, die letztendlich davon
ausgeht, dass das gesellschaftliche Sein, zu dem auch die sozialen Kämpfe gehören,
das Bewusstsein bestimme, und eine Änderung der Ideologien nur auf Grund von
Änderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse möglich sei. Ideologie ist danach
nur die verzerrte Darstellung von Wahrheit, womit impliziert wird, dass es eine sol-
che Wahrheit gäbe, der durch entsprechende Kämpfe zum Sieg verholfen werden
könnte.
Im Unterschied dazu möchte ich betonen, dass sich erst in bestimmten diskursi-
ven Konstellationen durchsetzt, was jeweils als wahr gilt.
Mit dieser knappen Darstellung solcher Positionen sind auch nicht annähernd
alle Varianten des Verständnisses von Multikulturalität vorgestellt worden; es ist mir
allerdings bisher kein Versuch begenet, Multikulturalität aus diskursanalytischer
Perspektive heraus zu diskutieren.4
Deshalb will ich im Folgenden den Versuch machen, auf dem Hintergrund dis-
kursanalytischer Untersuchungen und diskurs- bzw. ideologietheoretischer Überle-
gungen dem Problem nachzuspüren, ob die Wanderungen der Menschen, die immer
zu Begegnungen unterschiedlicher Gruppen führen und die die unterschiedlichsten
Ursachen haben, auch immer zwangsläufig zu Konflikten führen. Doch des Weiteren
möchte ich der Frage nachgehen, wie sich solche Konflikte, sofern sie sich ergeben,
vermeiden oder doch abmildern lassen. Es geht also um die immer aktuelle Frage,
ob und wie multikulturelle Gesellschaft entwickelt und gelebt werden kann.5
Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge 329

Da die Vorstellung von Multikultur auch immer mit Vorstellungen von nationa-
ler und personaler Identität, Nation und ‚Rasse‘ verbunden ist, werden diese und
ähnliche Begriffe genauer betrachtet werden müssen.

2 Diskurs, Macht, Rassismus

2.1 Diskurs

Im Anschluss an Foucault verstehe ich unter Diskurs den Fluss von Wissen durch
die Zeit. (vgl. Foucault 1988)6 Das Wissen der Menschheit fließt durch viele Kanäle,
die miteinander verbunden sein können, die einander kreuzen, ineinander übergehen
und verschmelzen, ‚unterirdisch‘ weiterfließen und wieder auftauchen, aber auch
versiegen können.7 Sie sind das Werk tätiger Menschen, die die Diskurse aufneh-
men, weitertragen und vergegenständlichen.8

2.2 Diskurs und Macht

Insofern üben Diskurse Macht aus; sie bestimmen nicht nur Verläufe und Umfang
anderer Diskurse, sondern sie stellen – insbesondere mittels der Massenmedien –
Applikationsvorgaben für die Umsetzung in Handlungen und Wirklichkeitskonfi-
gurationen bereit.9

2.3 Macht über die Diskurse

Zudem gibt es eine – ebenfalls auf diskursivem Wege erzeugte – Macht über die
verschiedenen Diskurse. Der Diskurs über Einwanderung und Anwesenheit von
Flüchtlingen in Deutschland und anderswo hat z.B. die Macht, diese Leute als nor-
mal oder abweichend hinzustellen, sie als ‚Rasse‘ zu konstruieren, sie negativ (oder
auch positiv) zu bewerten. Jeder Einzelne, der sich in Einklang mit dem hegemonia-
len Diskurs äußert, unterwirft sich dieser Macht, befestigt den hegemonialen Dis-
kurs, übt ihn sozusagen vor Ort aus und schadet damit den Betroffenen/Bewerte-
ten/Ausgegrenzten und kann somit z.B. zur Eskalation und zum Unfrieden beitra-
gen, wenn der hegemoniale Diskurs z.B. konfliktverschärfend agiert.10
Zugleich ist die Macht über die Diskurse äußerst unterschiedlich verteilt. Wer
etwa Zugang zu den Medien hat, ist leichter in der Lage, diskursive Verläufe mit zu
prägen und mit zu beeinflussen, als jemand, der seine Stimme jeweils nur im kleinen
Kreise zur Geltung bringen kann.
330 Siegfried Jäger

2.4 Diskurs und ‚Wirklichkeit‘

Neben und außerhalb der unmittelbar ‚diskursiven Sphäre‘ haben Ereignisse, Ver-
hältnisse und Strukturen ihre Existenzbedingungen und realen Effekte; „aber nur
innerhalb des Diskursiven, und vorbehaltlich seiner spezifischen Umstände, Grenzen
und Modalitäten, haben sie Bedeutung oder können innerhalb eines Bedeutungsrah-
mens konstruiert werden“ (Hall 1994: 17).
Zudem können die gleichen ‚realen Ereignisse‘ diskursiv außerordentlich ver-
schieden verortet werden: als ‚diskursive Ereignisse‘, die gegenüber den ‚realen
Ereignissen‘ in ganz verschiedener Weise ausgestaltet werden können. Es geht also
nicht allein und nicht vor allem darum, was ‚wirklich‘ geschieht, sondern um die ‚je-
weilige Bedeutung‘ des Geschehens, die Bedeutungen also, die den Geschehnissen
diskursiv zugewiesen werden. ‚Bedeutung‘ heißt hier aber: die mehr oder minder
verallgemeinerte Sicht eines Ereignisses, die etwa bei Christen und Muslimen sehr
verschieden sein kann.
Die realen Ereignisse und Effekte (auch oft ‚wirkliche‘ Wirklichkeit genannt)
sind nämlich ihrerseits als Resultate diskursiver historischer Bedingungen zu sehen,
die ‚neue‘ diskursive Eingriffe beeinflussen und prägen, dergestalt dass sie die ‚Auf-
treffbedingungen‘ dieser Diskurse darstellen. Zugleich sind sie selbst Bedeutungs-
träger als diskursive Geprägtheiten und können deshalb nicht abgelöst gesehen wer-
den von den Diskursen.
Stuart Hall spricht z.B. von „Ethnizität“ (1994: 15 ff., bes. 21) als Resultat
unterschiedlicher diskursiver Verstricktheiten von Einzelpersonen oder ganzen
sozialen Gruppen und entsprechend eben auch von Multi-Ethnizität (als Wirklich-
keitsbefund). Sie resultiert aus der je unterschiedlichen historisch-kulturell-politi-
schen Konstruiertheit der Subjekte und Gemeinschaften (und bedeutet nicht etwa die
je gemeinsame Verwurzeltheit in einen nationalen oder gar biologischen Ursprung).
Die Sicht von Wirklichkeit oder anders: Die Zuordnung von komplexen Bedeu-
tungszusammenhängen zu Wirklichkeiten und Gegenstandszusammenhängen und,
in Verbindung damit, die Art und Weise, wie Menschen ihre Wirklichkeit zu bewäl-
tigen versuchen, sind also höchst verschieden. Das gilt auch noch einmal innerhalb
von Gruppen, die sich selbst als homogen betrachten, erst recht aber zwischen Grup-
pen, die sich als radikal verschieden interpretieren.

2.5 Diskurse ‚spiegeln‘ nicht

Zu betonen ist, dass Diskurse die Wirklichkeit nicht im Sinne wie auch immer gear-
teter Widerspiegelungstheorien einfach abbilden, sondern sie stellen eigene, von
Menschen geschaffene Wirklichkeiten dar. Sie sind nicht Ausdruck oder Abbild von
Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge 331

Materialitäten, sondern selbst Materialitäten sui generis.11 Sie enthalten


Bewusstseinsinhalte und sie transportieren und formen damit Bewusstsein.
Diskurse sind soziale Wissensvorräte, die sich die Menschen erarbeitet haben
und die von Menschen zu Menschen, von Generation zu Generation und im Aus-
tausch zwischen den Kulturen weitergegeben und auf Grund neuer Kämpfe unter-
einander und neuer Lern- und Arbeitsprozesse verändert werden und auf deren Basis
Wirklichkeiten selbst verändert werden.
Das heißt zugleich: An den Diskursen stricken alle mit, allerdings mit mehr oder
minder großem Einfluss. Und das heißt auch: Die Subjekte werden durch die Dis-
kurse konstituiert, insofern als ihr Wissen und Fühlen, ihr Selbstverständnis und ihre
Vorstellung eigener Identität durch sie (mit-)bestimmt ist.
Trotz einer Ungleichverteilung der Macht über die Diskurse kann nicht davon
ausgegangen werden, dass der Verlauf der Diskurse von Einzelnen oder einzelnen
Gruppen gesteuert wird. Er kann diskurstaktisch beeinflusst werden, gewisse Regu-
lationen in wohl begrenzten Bereichen sind möglich; doch das Resultat dieser Ver-
läufe ist in keinem Falle (genau) vorherbestimmbar. Es entwickelt sich gleichsam
hinter dem Rücken der Subjekte, worauf bereits vor Foucault Karl Marx, aber auch
Norbert Elias hingewiesen haben.

2.6 Eigener und fremder Diskurs

In der Regel wird aber nun der eigene Diskurs für normal und natürlich gehalten,
und alle anderen Arten der Interpretation und Gestaltung von Wirklichkeit werden
(zumindest tendenziell) als Abweichung angesehen und deshalb oft abgelehnt.
Differenzen werden also aus der jeweils eigenen Perspektive wahrgenommen,12
fremde Diskurse tendenziell als Normalitätsabweichungen. Sie stehen jedoch wei-
testgehend relativ zueinander. Aber: Die Verknüpfung von Diskurs und Macht trägt
dazu bei, dass sich machtvolle Diskurse als normal oder auch als wahr durchsetzen
können. Sie geben dann in ganzen Gesellschaften und Gruppen die Regeln dafür
vor, was sagbar und was nicht sagbar ist oder anders: was als Wahrheit zu gelten
habe. Dabei ist mit historisch zu tiefst verankerten Diskurssträngen zu rechnen, die
wegen dieser historischen Verankertheit häufig als anthropologisch konstant inter-
iorisiert werden.13
Damit soll nun nicht gesagt sein, dass Normen und Konventionen grundsätzlich
etwas Negatives darstellen. Sie sind Routinen und Operationen, auf die die Men-
schen zur Bewältigung ihres Alltags angewiesen sind. Zu beachten ist jedoch, dass
Verfestigungen und Routinen nicht selten inhuman pervertiert sein können, wie das
m.E. für den Diskurs des Rassismus zu beobachten ist.
Wichtig ist mir allein die Tatsache, dass solche Routinen und konventionalisier-
ten Handlungen und Tätigkeiten lokal und global unterschiedlich ausgebildet sind
und dass sie sich historisch ständig allmählich oder auch schneller verändern. Die
Ursachen solcher Veränderungen können unterschiedlichster Art sein. Sie liegen alle
332 Siegfried Jäger

jedoch in der Tatsache begründet, dass Menschen in sozialen Kontexten miteinander


und gegeneinander agieren und dies jeweils auf der Grundlage der diskursiven Ver-
netzungen tun, in die sie eingebunden sind.

3 Im Netz der Diskurse

3.1 Diskurspositionen im Netz der Diskurse

Die Welt ist, diskursanalytisch gesehen, von einem rhizomartigen dynamischen, sich
ständig veränderndem diskursiven Netz überzogen, innerhalb dessen die Individuen
jeweils verortet sind. Dieser Ort ist zugleich ihre jeweilige Sprecherposition, die
man auch als ihre Diskursposition bezeichnen könnte.
Dieses diskursive Netz ist keineswegs homogen. Es besteht aus einer Vielzahl
von Netzen von Diskursen bzw. Diskurssträngen, die sich nicht bzw. nicht immer
scharf voneinander abgrenzen lassen, die sich überlappen und überschneiden, sich
berühren und auf Grund äußerer und innerer Einflüsse gespalten, verdrängt und ver-
schmolzen haben. In ihren Hauptsträngen lassen sie sich jedoch meist leicht von-
einander abgrenzen. Sie sind oft tief in den jeweiligen Vergangenheiten verwurzelt.
Sie bestimmen die jeweiligen Gegenwarten mit und changieren zwischen Vergan-
genheit und Zukunft, insofern ihr Fluss durch die Zeit nicht einfach und beliebig
abbricht, sondern eine gewisse Festigkeit haben kann.
Um es etwas stärker zu konkretisieren: Grenzen zwischen „Kulturen“ können
sprachlich, räumlich, ideologisch und/oder geografisch sein und dabei jeweils
äußerst unterschiedlich verlaufen und in unterschiedlichen Gemengelagen auftreten.

3.2 Diskurs und Kultur

Analog diesen sich überlappenden und voneinander abgrenzbaren Diskursen ist


‚Kultur‘ verteilt; ja, dieses multiple Netz von Diskursen ist das Netz von ‚Kul-
turen/Kulturellem‘, wobei unter Kultur eben das vielfältige und differenzierte
Gesamt der Prozesse und Produkte menschlicher ideell-praktischer Tätigkeit zu ver-
stehen ist. Anders gesagt: Der Diskurs ist die Kultur oder, wie Jürgen Link und Ulla
Link-Heer sagen: „kultur […] ist in ihrem wesen interdiskurs“ (1983: 7). Das heißt
trivialer Weise auch: Kultur ist Multikultur.
Der Kulturwissenschaftler Gerhard Neumann definiert Kultur als „eine
geschichtete Hierarchie bedeutungsvoller Strukturen, in deren Rahmen Zucken,
Zwinkern, Scheinzwinkern, Parodien und geprobte Parodien produziert, verstanden
und interpretiert werden und ohne die es all dies faktisch nicht gäbe.14 Und er meint,
daran anschließend: „Kultur ist nichts anderes als ein ‚Kon-Text‘; die Körper und
Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge 333

die Sprachen liefern die Zeichen, die diesen Kontext durchströmen.“ Neumann
beruft sich dabei auf Max Weber, der gesagt habe, „dass der Mensch ein Wesen ist,
das in selbst gesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich (gemeint ist
Max Weber, S.J.) Kultur als dieses Gewebe ansehe. Der Kulturbegriff, den ich (also
Weber) vertrete, ist wesentlich ein semiotischer“ (Neumann 1995: 12, meine Her-
vorhebungen, S.J.).
Eine diskursanalytische Sichtweise, die Diskurs als komplexen Fluss von Wis-
sen durch die Zeit begreift, der durch menschliche Tätigkeit in Gang gehalten wird,
kann daran durchaus anschließen; sie betont aber zugleich das Gewordensein von
Kultur, ihre (relative) Festigkeit, mit anderen Worten: ihre Historizität, und zugleich
ihre Veränderbarkeit.
Für die diskursanalytische Sichtweise wichtig ist zudem, dass der Zusammen-
halt von Diskursen bzw. Kulturen stark durch je spezifische Systeme kollektiver
Symbolik gewährleistet wird.15

3.3 Auch Nationen sind diskursive Realitäten

Betrachtet man das heutige Verständnis von Nationen, die ja auch als kulturell
homogen imaginiert werden, und die mit ihnen in Verbindung gebrachten ‚Nationa-
len Identitäten‘, so muss man diese als komplexe diskursive Realitäten ansehen, so
inhomogen sie sich bei genauerer Betrachtung auch darstellen mögen und so sehr sie
sich auch mit anderen überlappen und überschneiden können. Es handelt sich um
diskursive Netze, die zwar mythisch aufgeladen sein können, Erzählungen, Ur-
sprünge und Kontinuität besonders betonen, wobei Traditionen frei erfunden worden
sein mögen, Gründungsmythen gestiftet sein mögen, wozu dann oft auch noch die
Vorstellung der Wahrheit, Reinheit und Ursprünglichkeit gehören können.16
Der Begriff der Nation ist aber im Unterschied zu dem faktisch jeweils vorhan-
denen diskursiven Gewimmel, das i. R. selbst die kleinste soziale Gruppe darstellt,
im Resultat gesehen und bei mancherlei Varianten, heute jeweils stark durch die
Vorstellung bzw. das Konzept von Monokulturalitäät und Homogenität geprägt.

3.4 Fiktion und Realität von Monokulturalität

In dieser Form ist die Idee der Monokulturalität eine Findung des späten 19. Jahr-
hunderts (vgl. Goldberg 1994: 3), die in früheren Zeiten schlicht als absurd aufge-
fasst worden wäre. David Theo Goldberg (1994: 5) bezeichnet sie als „intellectual
ideology and institutional practice“, die zugleich alles das, was von der eigenen
angenommenen hohen Kultur abweicht, als Kultur leugnet. Demgegenüber müsse
auch historisch „Heterogenität als die Norm“ betrachtet werden (ebd. 28).
334 Siegfried Jäger

Goldberg übersieht hier jedoch die Realität und Materialität der diskursiven For-
mationen und sitzt dem ideologiekritischen und abbildtheoretisch begründeten Miss-
verständnis auf, dass die Wirklichkeit nur im Bewusstsein ideologisch verzerrt dar-
gestellt werde. Die Folge ist, dass seine Lösungsvorschläge auch damit enden, fal-
sches Bewusstsein zu bekämpfen und durch Richtiges zu ersetzen. Dies hätte
bekannterweise zur Voraussetzung, dass man die Wahrheit kennt und nur zu verbrei-
ten brauche. Alle anderen, davon abweichenden ‚Wahrheiten‘ wären dann, so gese-
hen, falsch.
Demgegenüber muss betont werden, dass diskursiv produzierte unterschiedliche
Kulturen und ‚Nationen‘ Realitäten sui generis sind. Konzepte von (allgemeingülti-
gen) Wahrheiten an sie heranzutragen, stellt sich als absurd heraus. Das gilt auch
noch einmal für die allgemeinen Menschenrechte, die keineswegs von so universel-
ler Gültigkeit sind, wie oft angenommen wird.

4 Diskursive Kämpfe

4.1 Heterogenitäten

Die von uns Menschen erarbeiteten Diskurse bestimmen die menschlichen Lebens-
formen und Diskurs- bzw. Subjektpositionen auf allen diskursiven Ebenen (Politik,
Medien, Alltag). Sie transportieren und formieren Werte, Normen, Religionen, Ideo-
logien, Sprachen, Institutionen, Architektur, Körper etc. von und in höchst unter-
schiedlicher Art. Stoßen Diskurse aufeinander, führt dies zu Verschmelzungen,
Nebeneinander, Verbindungen, Abtötungen, Versiegen, zu lokalen und globalen
Konflikten bis hin zu Kämpfen und kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Form
und die Art und Weise, wie sich diese Begegnungen und Konfrontationen abspielen,
hängt von einer Vielzahl von unterschiedlichen diskursiven Konstellationen und dis-
kursiv erzeugten Wirklichkeitszuständen ab, die im einzelnen oft nicht oder nur
schwer rekonstruierbar sind.
Das ist genau die Situation, in der sich faktische multikulturelle Gesellschaften
wie etwa die der BRD befinden. Gab es auch innerhalb aller früheren Gesellschaften
kaum oder nur sehr oberflächlich Homogenität, so entstehen durch Wanderungsbe-
wegungen neben Verschmelzungen und Modifikationen doch auch weitere Hetero-
genitäten. Die global zu beobachtenden Unterschiede waren immer schon auch
innerhalb von als homogen imaginierten oder oberflächlich homogen erscheinenden
Bereichen zu beobachten. Verändern sich die großen Diskurse (etwa Zusammen-
bruch der Sowjetunion, als diskursives Ereignis betrachtet), reagieren etablierte Dis-
kurse verschiedener Art durchaus verschieden. Was etwa einerseits schwerpunktmä-
ßig als Sieg des Kapitalismus gesehen wurde, kann andererseits als Ausgangspunkt
eines neuen Feindbildes Islam akzentuiert werden.17
Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge 335

4.2 Globale und lokale Verwerfungen

Die Tatsache, dass es immer schon Heterogenitäten neben Homogenitäten gegeben


hat, kann nicht zu der Hoffnung Anlass geben, dass sich die damit verbundenen Pro-
bleme von selbst lösen werden. Die zur Zeit zu beobachtenden weltweiten Verwer-
fungen, die Globalisierung von Wanderungsbewegungen, Säkularisierungen auf der
einen Seite und Fundamentalisierung auf der anderen und umgekehrt, zunehmende
Armut einerseits und Anhäufung von Reichtum in den großen Industrienationen,
gesellschaftlich produzierte Unweltkatastrophen mit den entsprechenden Folgen für
die betroffenen Bevölkerungen und daraus resultierender Wanderungsdruck, Kriege
und nationale und internationale Konflikte etc. zeigen, dass größte Krisen ins Haus
stehen, die eine globale De-Eskalationspolitik verlangen bzw., diskursanalytisch
gesprochen, die alle Anstrengungen verlangen, de-eskalierende Diskursregulationen
zu finden und anzuwenden.18
Für die hier angesprochene Situation des Nebeneinanders von Heterogenität und
Homogenität, bei zur Zeit zu beobachtender Zunahme heterogener Strukturen, fin-
den sich Beispiele auf der sozialen Mikroebene (Familie, Nachbarschaft) wie auf der
Makroebene. So sind einerseits neue nationale Diskurse zu beobachten, die nationale
Identitäten zu stiften versuchen und dabei zugleich heterogene oder als heterogen
geltende Erscheinungen unterdrücken bzw. ausgrenzen; so ist zu sehen, dass die
großen konkurrierenden Religionen, die meist nationenübergreifend agieren, aber
auch innerhalb von Nationen, zu Gegensätzen führen; ferner aber ist zu sehen, dass
große Religionen, wie etwa der Islam ihre traditionellen geografischen Grenzen auf
breiter Front überschreiten: In England und in Frankreich ist der Islam mittlerweile
zur zweitgrößten Religionsgemeinschaft geworden.
Als ein Beispiel für die Gefährlichkeit solcher Entwicklungen bei unangemes-
sener diskursiv-regulierender Bearbeitung möchte ich auf den eskalierenden Rassis-
mus in Deutschland (und anderswo) verweisen, der sich als Folge neuerlicher Ver-
stärkung eines deutsch-nationalen konservativ-fundamentalistischen Diskurses
begreifen lässt und der möglicherweise zugleich zum Erstarken eines islamistischen
Gegengewichts beiträgt.
Weiter ist zu bedenken, dass im Vergleich zu früheren Zeiten global eine unge-
heure Beschleunigung solcher Entwicklungen stattfindet, dass Verschiebungen und
Veränderungen auf Grund der weltweiten Informationsvernetzungen heute blitz-
schnell wahrgenommen werden können etc.
336 Siegfried Jäger

5 Der Diskurs „Der Westen und der Rest“

Man kann hier in mehrfacher Hinsicht argumentieren, dass der Diskurs „Der Westen
und der Rest“ eine weithin prägende und handlungs- bzw. politikbestimmende For-
mation der Gegenwart ist. Dies wird u.a. an deren historischen Wurzeln und der
Stellung Deutschlands in diesem Zusammenhang greifbar.

5.1 England und der Rest

Der englische Soziologe Stuart Hall beschreibt die Heraufkunft eines speziellen
„Englischseins“ im Vergleich zum „Rest der Welt“ folgendermaßen: Nach dem
Charakter der kulturellen Identität Englands fragend, stellt er fest, dass diese „als
eine stark zentrierte, sich hochgradig abschließende und ausschließende Form einer
kulturellen Identität definiert wurde“ und „von einem bestimmten historischen Zeit-
punkt an […] Engländer die Erfahrung (machten), dass sie innerhalb der Diskurse
ihrer eigenen, englischen Identität die Diskurse fast aller anderen bestimmen konn-
ten“ (Hall 1994: 45). Diese englische Situation gehört ein gutes Stück weit der Ver-
gangenheit an, lässt sich aber bei einigen Modifikationen ohne größere Schwierig-
keiten auf die großen modernen Industrienationen als gegenwärtige Gesamtheit
übertragen. Sie dominieren den Rest der Welt und geben vor, was weltweit als nor-
mal zu gelten habe.

5.2 Nationale Identitäten

Die nicht zu übersehenden Heterogenitäten innerhalb der eigenen Gesellschaften


suchte man dadurch in den Griff zu bekommen, dass nationale Identitäten als dis-
kursive Entwürfe produziert wurden, die alle Differenzen egalisieren sollten und alle
Risse und Zerklüftungen, die faktisch gegeben sind, diskursiv zudecken bzw. ‚nor-
malisieren‘ sollten (Klassen, Geschlechter, Rassen etc.), um die jeweiligen Nationen
trotz aller Heterogenitäten als homogene Nationen imaginieren zu können (vgl. dazu
Rex 1995). Damit kristallisierte sich das heute gängige Konzept von Nation über-
haupt heraus. Für Konzepte multikultureller Gesellschaften bedeutet dies im Prinzip
entweder Assimilation der Fremden oder deren Ausgrenzung. Diese Alternative ist
angesichts der Tatsache, dass alle modernen Nationen kulturell hybrid (Hall 1994:
207) bzw. heterogen sind, darauf angelegt, dass Menschen ausgegrenzt und vertrie-
ben oder gar verbrannt werden. Sie ist m.E. allerdings langfristig zum Scheitern ver-
urteilt, weil sich die Menschen das nicht gefallen lassen müssen.19 Es stellt sich
Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge 337

damit sogleich aber die Frage, ob die weitere Entwicklung als Katastrophenkurs
gefahren werden wird oder ob es möglich ist, durch eine Vielzahl zu schließender
notwendiger Kompromisse einen halbwegs menschlichen Entwicklungspfad entwer-
fen und begehen zu können.20

6 Die derzeitige Ausgangssituation in Deutschland

Ich werde im Folgenden zunächst einen diskursanalytischen Blick auf die derzeitige
Situation in Deutschland werfen, bevor ich des Weiteren zu generelleren und
grundsätzlichen Einschätzungen der Situation kommen werde. Deutschland scheint
mir ein exemplarischer Fall für die Problematik der Multikulturalität sein. Es lassen
sich dabei einige Basis-Probleme erkennen, die für die Einschätzung der Grundpro-
blematik von Multikulturalität von Bedeutung sind.

6.1 Deutsche Diskurs-Positionen

Die derzeit vorherrschende Vorstellung der meisten Deutschen von Deutschland ist
tendenziell völkisch, also die einer Abstammungsgemeinschaft. Das ist zwar wenig
demokratisch, und das war auch bis zur Berliner Wende 1989/90 nicht die domi-
nante Position im Verständnis der (West-)Deutschen. Ein völkisches Staatsverständ-
nis war zwar grundgesetzlich festgeschrieben, störte aber kaum, da man Identitäten
als BRD-Deutscher oder Westeuropäer entwickelt hatte. Anders gesagt: Die eher
dominante diskursive Position der meisten Deutschen war, westdeutscher Verfas-
sungspatriot zu sein. Eine absolute Revision völkischer Vorstellungen hatte jedoch
nicht stattgefunden, hielt sich aber in einer labilen Balance mit eher demokratischen
Vorstellungen. Lutz Hoffmann meint:
„Seit 1990 ist dieses raffinierte Zusammenspiel jedoch aus der Balance geraten. Da man es
nicht für notwendig erachtete, durch einen konstituierenden Prozess auf ein neues Selbstver-
ständnis des Volkes im gesamtdeutschen Staat hinzuarbeiten, musste zwangsläufig auf die
alten Modelle zurückgegriffen werden.“ (Hoffmann 1994: 11)
Der völkische Diskurs, der zumeist eher unter der Oberfläche auch nach der Nazi-
herrschaft weitergeflossen war, wurde – verstärkt nach der Bonner Wende von 1982
– wieder belebt, und er ist auch nach dem Regierungswechsel 1998 nicht versiegt.
Mittel dazu waren die Anheizung des rassistischen und des militaristischen Dis-
kurses durch Politik und Medien, die Anheizung des Diskurses über Kriminalität,
über Ruhe und Ordnung, über die Stellung der Frauen, deren Emanzipationsbestre-
bungen rückgängig gemacht werden sollten und die Verstärkung anderer Diskurse,
die zum Gesamtbild des völkischen Nationalismus gehören.21
338 Siegfried Jäger

6.2 Der Blick von außen und von Einwanderern

Diese deutsche Entwicklung wird von außen teilweise unterstützt. Für die Zurück-
haltung etwa, die die Deutschen mit Rücksicht auf die Nazizeit gegenüber Out-of-
Area-Einsätzen übten, wurde von verschiedenen ausländischen Seiten wenig Ver-
ständnis entwickelt.22
Durch die rassistisch motivierten Brandanschläge und Überfälle auf Einwan-
derer und Flüchtlinge der vergangenen Zeit, die seit 1994 etwas abgeebbt sind, die
aber nicht wirklich aufgehört haben und durchaus ihre harte Fortsetzung im Schüren
eines weiteren rassistischen Diskurses fanden, sind die Millionen von Einwanderern
in die Situation geraten, sich schärfer gegen die Deutschen abgrenzen zu müssen.
Längst modifizierte oder ganz abgelegte Traditionen gewinnen wieder mehr an
Gewicht. Dazu kommen andere Faktoren, wie etwa die Auswirkungen der türki-
schen Kurdistanpolitik auf die in Deutschland ansässigen Kurden, die sich zuneh-
mend durch Aktivitäten, die sich gegen Menschen türkischer Herkunft und, vermit-
telt darüber, gegen die Türkei richten, angreifbar und für rassistische Politik instru-
mentalisierbar machen. Solche Faktoren werden alle durch den weiter herrschenden
rassistischen Diskurs entsprechend rassistisch aufgeladen.23

7 Die derzeitige globale Situation, diskursanalytisch gesehen

7.1 Gegenläufigkeiten

Betrachtet man den Globus insgesamt, so ist eine Zunahme von Wanderungsbewe-
gungen einerseits zu verzeichnen, zugleich aber auch eine internationale ‚Ver-
kleinerung‘ des Globus durch die Verdichtung und Steigerung internationaler wirt-
schaftlicher Zusammenarbeit bzw. die Ausdehnung der kapitalistischen Märkte,
neue Kommunikationstechniken (Datentransfer, Satellitenfernsehen!), zunehmende
internationale Interdependenz (wie internationale Abkommen, Sozialgipfel, Klima-
gipfel, Club of Rome, internationale wissenschaftliche Konferenzen, gemeinsamer
Konsum des Gleichen, Moden, Stile etc.), und auch wachsende ökologische Interde-
pendenzen (vgl. Hall 1994: 49). Dabei entstehen neue (Zusammensetzungen von)
Ethnizitäten (ebd. 15 ff.) und – tendenziell – eine globale Massenkultur (ebd. 53).
Die Globalität (des Kapitals) und die Idee der Nation reiben sich (immer schon
seit es beide gibt). In der Moderne sind gegenläufige Trends zu konstatieren: Globa-
lisierung und Nationalisierung. Die Globalisierung aber beschleunigt sich, verdichtet
sich in Zeit und Raum. Das kann zu nationalen Erosionen führen (gegen die Wider-
Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge 339

stand aufgemacht wird). Dabei kann es durchaus passieren, dass die nationalen
Identitäten geschwächt werden und an ihre Stelle zunehmend Hybridisierungen (=
neue Identitäten der Hybridität) treten (vgl. Hall 1994: 209).

7.2 Gefahren

Mit dieser Globalisierung sind jedoch zugleich erhebliche Gefahren verbunden, z.B.
durch aggressive (militaristische und rassistische) Abwehr tatsächlicher oder schein-
barer nationaler Erosionen. ‚Standorte‘ müssen eingenommen und verteidigt wer-
den. Trotzdem scheint der Trend in Richtung Globalisierung nicht aufzuhalten zu
sein. Das ist insbesondere das ‚Verdienst‘ des Kapitals, das international agiert und
durch weltweit verkaufte Produkte und Lebensformen konformiert.24

7.3 Die Erosion des Nationalen

Die Frage ist daher zu beantworten, ob sich die Idee der einheitlichen und homo-
genen Nation halten kann oder gar als eine nur vorübergehende Erscheinung
betrachtet werden muss. Dies ist davon abhängig bzw. gleichbedeutend mit der
Beantwortung der Frage, ob es den bzw. allen Nationalstaaten weiterhin gelingt, sich
als einheitlich und homogen zu präsentieren. Es gibt jedenfalls eine Reihe von
Anzeichen für die Erosion des Nationalen. Hall nennt vier:
• Die Faszination für die Differenz, die Vermarktbarkeit der Ethnizität und des
Andersseins, ein neues Interesse am Lokalen, flexible Spezialisierungen,
Nischen-Marketing usw.
• Das Globale ersetze jedoch das Lokale nicht. Eher sei an eine neue Artikulation
zwischen dem Globalen und dem Lokalen zu denken. Neue globale und lokale
Identifikationen entstehen.
• Die Globalisierung wirke sich regional und sozial sehr verschieden aus.
• Die Globalisierung betreffe besonders den Westen. Aber auch die Peripherie sei
offen für westliche Einflüsse. Hier gehe der Prozess der Globalisierung aber
langsamer vor sich. Wanderungsbewegungen seien Ausdruck dieser Entwick-
lung (vgl. Hall 1994: 213 f.).
340 Siegfried Jäger

7.4 Konfliktverschärfende Politik

Als Reaktionen gegen die (Politik der) Globalisierung und zur Erhaltung national-
kultureller Identitäten ist eine konfliktverschärfende Politik und die entsprechende
Fütterung der Diskurse in Deutschland und auch in anderen Nationalstaaten zu
beobachten; ferner, die Betonung der Andersartigkeit etc. zum Zwecke der Ab- und
Ausgrenzung und zur Stärkung lokaler Identität, insgesamt Rassismus und Rechts-
drift.
Der Widerstand gegen Erosionen scheint zur Zeit besonders durch Norma-
lisierungsdiskurse und Regulationstechniken gefahren zu werden (vgl. Link 1992a,
1999). Doch auch hier sind Grenzen und „siamesische Bifurkationen“ (Link 1995)
zu beobachten: Repressiver Protonormalismus und flexibel-liberaler Normalismus
spielen gegeneinander; es gibt immer wieder Reaktionen der beiden Diskurstypen
aufeinander. Schlägt die Sache zu weit in Richtung Liberalität um, wird protonorma-
listisch darauf reagiert. Die Frage ist natürlich, ob und wie lange diese Bewegung
funktioniert. Konservativer Multikulturalismus fährt genau diesen Doppelkurs: Assi-
milation (= Normalisierung) und Abschottung/Abschiebung (= Protonorma-
lisierung/Repression). Damit operiert er konfliktverschärfend.

7.5 Re-Identifikationen

Zugleich und als Reaktion darauf entsteht eine Stärkung von Re-identifikationen mit
der Herkunftskultur bei Minderheiten und Bemühungen zur Konstruktion stärkerer
Gegenidentitäten. Im Alltagsdiskurs schlägt sich dies darin nieder, dass Ängste vor
Überfremdung (‚Wir können doch nicht alle aufnehmen‘) und ‚Bevölkerungsex-
plosion‘, neue Rassismen, die sich an der ‚anderen Kultur‘ festmachen, Unverträg-
lichkeiten und Krieg etc. als in der Natur der Sache liegend angesehen werden.

7.6 Widersprüche

Die Frage, ob ein allgemeiner gobaler Entwicklungstrend zu beobachten ist, lässt


sich also nicht einfach beantworten. Stuart Hall bezieht sich auf die Widersprüche
der kapitalistischen Entwicklung, die dazu führen, dass Dezentralisierung und
Dezentrierung stattfindet; das Kapital ist international und global; es lernt mit den
Differenzen umzugehen (segmentierte Märkte, neue Arbeitsorganisation, Lean Pro-
duktion, Nachhaltigkeit (sustainable development)).
Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge 341

8 Diskursverschränkungen

Was heißt das diskursanalytisch? Der ökonomische Diskurs ist eben nicht alleine da,
sondern bezieht sich zwangsläufig auf andere Diskursstränge und muss diese
berücksichtigen, wenn er weiter existieren will. Das führt auch zu Widersprüchlich-
keiten. Auch liegen alte und neue Vorstellungen (Diskurse) von Identität im Kampf
miteinander: Wir haben in der Postmoderne einen globalen Modernisierungsprozess
vorliegen und zugleich alte konservative Vorstellungen von Identität.
Andere Kulturen und eine andere Wissenschaft machen sich gegenüber den
westlichen bemerkbar. Zugleich sind neue Formen von Herrschaft in der westlichen
Welt dabei, sich breiter durchzusetzen: Der Siegeszug der Biopolitik (Foucault)
scheint kaum aufhaltbar.

9 Eine etwas kühne, erste Schlussfolgerung

Es besteht jedoch kein Grund, das entstehende multikulturelle Miteinander aus-


schließlich unter fatalistischen Aspekten zu betrachten. Das klingt vielleicht etwas
kühn oder angesichts der anhaltenden Überfälle auf Einwanderer sogar zynisch.
Zugleich sollte jedoch nicht vergessen werden, dass diese Eskalation rassistisch
motivierter Anschläge auf Ausländer durch den hegemonialen Diskurs geschürt
worden und keineswegs von allein entstanden ist. Es geht hier also auch um die Fra-
ge, ob der rassistisch unterfütterte völkisch aufgeladene Ausländerdiskurs zurückge-
drängt werden kann, wie an alltäglichen Diskursen angesetzt werden kann, ob es
gelingt, auf den hegemonialen Diskurs der Politiker und der Medien Einfluss zu neh-
men etc.

10 Grenzgänge

Der Bochumer Philosoph Bernhard Waldenfels sieht eine Lösung, die in der Nähe
meiner eigenen Vorstellungen liegt. Es gebe nicht das Rezept der Überwindung von
Fremdheit; er meint: „Was sich anbietet, ist ein Grenzverhalten, das sich auf Frem-
des einlässt, ohne es dem eigenen gleichzumachen oder es einem Allgemeinen zu
unterwerfen […]“ (Waldenfels 1990: 39). Es „ist ein Agieren und Denken auf der
Grenze“ (ebd. 64). Das Eigene und das Fremde stehen einander danach nicht mono-
lithisch und exakt abgegrenzt gegenüber. Die Begegnung ist immer Prozess und
Erneuerung:
342 Siegfried Jäger
„Innovation […] bewegt sich zwischen den entstehenden und bestehenden Ordnungen. Der
Übergang selber gehört weder der alten noch der neuen Ordnung an, weil jene nicht mehr,
diese noch nicht gilt, und eine übergreifende Ordnung, die den Übergang regeln würde, aus-
geschlossen ist, wenn Ordnungen alternativ auftreten“ (ebd. 99f.).
In diesem Feld verlaufen ‚Grenzgänge‘, die ein ‚Ethos des Grenzverhaltens‘ erfor-
dern, das die Andersheit des Anderen respektiert. Waldenfels möchte so dem
Fremdheitsverhältnis den konfrontativen Charakter nehmen.
Der ‚Grundsatz‘ des Respekts gegenüber der Würde des Anderen ist zugleich
einer, der trotzdem eine bewusste Entscheidung darstellt, die man im Prinzip auch
ablehnen kann. Er ist nicht universalistisch i.S. von transzendental oder angeboren,
sondern eine Frage der bewussten Entscheidung und Anerkennung des Grundsatzes
von der Würde des Menschen. Dieser kann dann Maßstab oder letzter Fluchtpunkt
für Bewertungen werden. Das heißt auch: Dieser Grundsatz muss selbst durch-
gesetzt werden oder anders; im Ringen miteinander muss dieser Grundsatz schritt-
weise im Diskurs zur Geltung gebracht werden.
Damit liegt meine eigene Position nicht in der Nähe des politischen Relativis-
mus (Gutmann 1995: 279-283). Der Unterschied besteht darin, dass der politische
Relativismus auf Verfahren setzt, mit denen Gerechtigkeit erzielt werden kann, er
hat aber keine Kriterien für die Bewertung solcher Verfahren. Daher gehen meine
Überlegungen auch stärker in Richtung eines konkreten Universalismus als ‚letzte
Instanz‘ (Akzeptanz des konkret Anderen, Menschenwürde, keine Gewalt), die
abstrakt an alle Verfahren, die an alle Normen, Werte, Handlungen, Distributionen
etc. angelegt werden kann. Damit behaupte ich nicht, eine allgemeingültige Wahr-
heit zu vertreten: Ich nehme eine bestimmte Position ein, die ich in den diskursiven
Auseinandersetzungen verteidige. Hinzu kommt die realistische Einsicht, dass die
anzutreffenden Normen, Werte, Sitten und Gebräuche und sonstige „Wahrheiten“
stark verfestigt sind, dass sie Routinen darstellen, die schwer aufzubrechen sind und
ein zähes Verhandeln verlangen. Aber universalistisch ist meine Position (s.o.) nur
in dem Sinne, dass die Akzeptanz des ‚Grundsatzes‘ die Voraussetzung dazu werden
kann, dass die Menschen sich nicht die Köpfe einschlagen, morden, betrügen etc.
Der Grundsatz ist auch kein Glaubensbekenntnis oder gar ein Gebot, auf das man
die Leute verpflichten kann. Auch kann es zu Konflikten kommen, die existenzieller
Natur sind: Wann hat der Grundsatz für mich keine Gültigkeit mehr? Etwa wenn es
mir selbst an den Kragen geht – dann greife auch ich zur Gewalt. Auch schon, wenn
ich nur vage befürchte, dass dies geschehen könnte. Oder wenn meine Freiheit
bedroht ist.
Insofern kann der Kampf zur Durchsetzung dieses Grundsatzes auch keiner sein,
der nur auf ihn selbst gerichtet ist. Er muss auf eine diskursive Konstellation zielen,
die die Durchsetzung dieses Grundsatzes erst möglich macht.
Die (allmähliche) Durchsetzung dieses ethischen Grundsatzes ist eine Frage der
Entwicklung der Flussrichtung ethischer Diskurse überhaupt, die aber verstanden
werden müssen als Elemente übergreifender und diskursiv vor sich hin wimmelnder
Diskurse mit völlig anderen Schwerpunkten und Inhalten, etwa ökonomischen, öko-
logischen etc.
Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge 343

11 Die Veränderbarkeit der Diskurse

Das wirft prinzipiell die Frage auf, ob und wie sich Diskurse verändern lassen. Die
Inaugurierung von Kampagnen, des Austauschs von Argumenten etc., das weist
alles in die richtige Richtung. Was jeweils dabei herauskommt, ist jedoch nicht vor-
hersagbar, zumindest nicht genau. Für tentative Einschätzungen sind die bisherigen
Verläufe von Diskursen und ihre derzeitige Stärke, Verteilung, Stützungen durch
andere Diskurse etc. jedoch durchaus heranzuziehen.
Richtig ist auch, Vorschläge zu Beratung, Verfahren, Gesetzen (Anti-Diskri-
minierungsgesetze) etc. zu sondieren. Sie gehören zum Weitertreiben des Diskurses,
ersetzen ihn aber nicht, weil sie ja Bestandteil des Diskurses sind. Wenn um ihre
Durchsetzung gerungen wird, beteiligt man sich an Diskursveränderungsversuchen.
Das leitet über zu einigen abschließenden Bemerkungen, bei denen es um die Frage
von Handlungsmöglichkeiten in diesem umstrittenen Zusammenhang geht.

12 Die Ohnmacht der Fakten und die Zerbrechlichkeit der


herrschenden Diskurse

So weit habe ich die Welt als ein waberndes Netz von verflochtenen und kaum zu
überschauenden diskursiven und realen Berührungen, Kämpfen und Konflikten in
der Grobskizze nachzuzeichnen versucht. Diese betreffen mit Sicherheit nicht allein
das Problem der Multikulturalität. Daneben und damit verbunden gibt es andere glo-
bale Probleme, wie etwa solche der Ökologie, der Militarisierung, der ökonomi-
schen Ausbeutung etc. Alle diese Probleme bedürfen eigener Analysen und der Ent-
wicklung entsprechender eigener Lösungsstrategien; diese Probleme tragen aber alle
dazu bei, dass es eine weltweite neue Völkerwanderung gibt, deren Formen und Fol-
gen hier im Mittelpunkt der Überlegung stehen.

12.1 Migration und Flucht

Migration und Flucht sind Ausdruck der global mobilisierten und strukturell unglei-
chen Welt. Denn die heutige ‚Völkerwanderung‘ stellt sich dar als ein Konglomerat
von Arbeitsmigration, Kriegs- und Katastrophenmigration und politisch motivierten
oder erzwungenen Wanderungen. Diese können heute nicht mehr eindeutig getrennt
werden.
344 Siegfried Jäger

12.2 Lösungen sind möglich

Aber wie sollen Lösungen gefunden und vorangetrieben werden, angesichts der Tat-
sache, dass nicht nur in Deutschland, sondern global ein eher konfliktverschärfender
als konfliktentschärfender hegemonialer Diskurs gefahren wird? Die folgenden
Ideen mögen manchem utopisch erscheinen, sie sind als solche zur Zeit sicherlich in
nur in ganz kleinen Schritten durchsetzbar. Notwendig ist der Abbau derjenigen zur
Zeit dominierenden Diskurse, die die mit Einwanderung und Flucht verbundenen
Konflikte verschärfen. Demgegenüber ist die Entwicklung einer konfliktentschärfen-
den Formierung der Diskurse in Medien, Politik, Alltag dringend erforderlich.
Doch wie ist die Veränderung oder gar der Abbau hegemonialer Diskurse ange-
sichts der Verknüpfung von Macht und Diskurs als Macht über die Diskurse konkret
vorstellbar? Reicht es, mit Foucault auf die Macht, die zwar von allen Seiten, aber
auch von unten kommt, zu verweisen und die Hoffnung auf lokale Auseinanderset-
zungen und Berührungen zu setzen, die den Globalisierungsprozess letztendlich
doch in eine ‚richtige Richtung‘, etwa die einer Entwicklung humaner Gesellschaft
lenken (vgl. Foucault 1983)? Ferner: Reicht es aus, auf ‚Prozesse struktureller
Kopplung‘ und ‚diskursiver Transformation‘ zu setzen, durch die angeblich „fortge-
schrittene Industriegesellschaften längst die Fähigkeit entwickelt haben, mit Fremd-
heit umzugehen (vgl. Bukow/Llaryora 1995: 19)? Ist es richtig, dass die anhaltenden
gewaltförmigen Auseinandersetzungen ihre Ursache allein in dem Versuch einer
Refeudalisierung der Gesellschaft haben, in einem „nachholenden Nationalismus
[…] aus einem spezifischen Machtinteresse heraus“, wodurch „zunächst private Ein-
stellungen mobilisiert, […] Fremdheit neu zugerechnet und dies alles zum Schluss
nationalistisch reorganisiert“ wird? (ebd.) Hat demgegenüber „die städtische Bevöl-
kerung längst die Fähigkeit zum interkulturellen Miteinander“ entwickelt und ist
diese Fähigkeit nur „zunehmend durch diskriminierende, ethnisierende und rassisti-
sche Intervention beeinträchtigt“ worden, so dass „nicht die Fremdheit das Problem
ist, sondern die Beschwörung des Fremden und deren Mobilisierung für Ausgren-
zung und Abwertung“? (ebd.) Sicher ist damit der zur Zeit hegemoniale Diskurs zu
Recht angesprochen; aber ihn auf diese Weise letztlich allein für die Eskalation ras-
sistisch motivierter Gewalt verantwortlich zu machen, reicht als Ursachenerklärung
für den Widerstand gegen multikulturelle Gesellschaften wohl kaum hin. Rassisti-
sche Diskurselemente sind auf allen diskursiven Ebenen, in Politik, Medien, Alltag,
in der Wissenschaft und im Bereich der Erziehung zu beobachten. Sie sind his-
torisch fest verankert, sie haben Kontinuität und wirken auch in die Zukunft weiter.
Es wäre daher eher gefährlich, in der Absicht, Rassismus zurück zu drängen, allein
auf die hegemonialen Diskurse zu blicken einerseits oder gar auf sich selbst reini-
gende Systeme zu setzen, die quasi von selbst ihre Disfunktionalitäten überwin-
den.25
Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge 345

Diskurse (im Sinne Foucaults) sind keine über-menschlichen oder gar meta-
physischen Dinge/Strukturen/autopoietische Systeme, sondern sie werden von täti-
gen Menschen gemacht und tradiert. Diese können die Diskurse im Prinzip ändern,
sie können sich der Macht über die Diskurse unterwerfen, sich ihr aber auch verwei-
gern und sich widersetzen.
Das stelle ich mir allerdings auch nicht als massenhaftes Ereignis vor, sondern
als Resultante einer Vielzahl von lokalen diskursiven Scharmützeln und Feiern oder
unter bestimmten Bedingungen globalerer diskursiver Einflussnahme, wie sie etwa
die Veröffentlichungen des „Club of Rome“ darstellen, an denen der hegemoniale
Diskurs nicht wirklich vorbeikommt. Es wäre zu fragen, was man tun kann, diese
Scharmützel zu entfachen und unter Kontrolle zu halten und zu ‚Feier‘ und Mit-
einander zu ermutigen bzw. wo und wie ansetzend auch der hegemoniale Diskurs
durch globalere Aktivitäten zu Zugeständnissen zu veranlassen ist.

12.3 Kompromisse und Berührungen

Diskurse sind zwar substanziell, stark und oft tief verwurzelt in den Sozietäten.
Änderungen der Diskurse verlangen einen langen und zähen Kampf und manche
Kompromisse. Und: Änderungen und Verdrängungen dominanter Diskurse sind
zwar relativ kurzfristig möglich, aber wohl kaum wirklich tief greifend. Diskursive
Gegenmaßnahmen sind nicht bzw. können nicht in jedem Falle spektakulär und
umfassend sein. Daher ist jede diskursiv erreichte kleine Verbesserung (doppelte
Staatsbürgerschaft, Kommunales Wahlrecht, Organisation von interkulturellen Akti-
vitäten etc.) äußerst sinnvoll, ebenso jede friedliche Berührung und Überkreuzung,
jedes friedliche Miteinander und Nebeneinander von Diskursen. In diesem Zusam-
menhang sei auch auf die Erfahrungen multikultureller Ehen und Freundschaften
verwiesen, auch wenn diese sich keineswegs immer problemlos gestalten. 26

12.4 Prozessierende Identitäten

Wichtig für die Stärkung eines demokratischen multikulturellen Diskurses ist einmal
die Unterstützung des Konzeptes von Differenz gegen ihre diskursive Unter-
drückung und Homogenisierung (Assimilation), die ja das Ziel verfolgt, diese
Gesellschaft als monokulturell imaginieren zu können. Dabei versteht es sich von
selbst, dass dies nicht ethnopluralistisch gedeutet werden darf, sondern als transkul-
turelles und transnationales Konzept verstanden werden soll. Das heißt nicht Relati-
vierung und falsche Toleranz, sondern nur und auch, dass „Hybridisierung“ (Hall
1994: 23), die gesellschaftlich allgemein und für die einzelnen Personen entsteht,
akzeptiert und als Tatsache respektiert wird. Identität ist nie etwas Fertiges, sie pro-
zessiert. Das war immer schon so.
346 Siegfried Jäger

12.5 Die Erosion hegemonialer Diskurse

Andererseits ist zum Beispiel Gegenwehr gegen Ausgrenzungen erforderlich, die ja


das gleiche Ziel verfolgen wie die Assimilierung der Fremden: Als homogen und
mit sich identisch kann eine Gesellschaft nur imaginiert werden, wenn diejenigen,
die sich den deutschen Normen und Werten nicht anpassen, ausgegrenzt und abge-
schoben werden. Doch es ist nicht zu übersehen, dass solche Positionen derzeit
zunehmend umstritten sind. Dieser sich andeutende Paradigmenwechsel ist als
Erfolg diskursiver Gegenwehr gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu werten.
Ein anderes wichtiges Beispiel stellt etwa der tragische Konflikt zwischen Israel
und Palästina dar. Der israelische Schriftsteller Amos Oz zeigt in seinen politischen
Essays, wie hart in einer Situation, in der Recht gegen Recht steht und die „von his-
torischen Traumata und verletzten Gefühlen geprägt ist“ (Oz 1995: 9), um Kompro-
misse gerungen, welche Rückschläge hingenommen werden mussten und welchen
Beitrag zur Entwicklung solcher Lösungsperspektiven die politischen Diskurse
geleistet haben. Hier hat sich allmählich gezeigt, dass „wenn ein Recht auf ein ande-
res stößt, ein über dem Recht stehender Wert gelten muss, und dieser Wert ist das
Leben selbst“ (ebd. 10).
Die Einflussnahme auf den Diskurs erübrigt selbstverständlich nicht die Aus-
einandersetzung mit den ‚harten Fakten‘, die jedoch selbst nur Bestand haben,
solange sie diskursiv eingebettet sind.
Auf der Grundlage diskurstheoretischer Überlegungen kann nämlich mit Fug
und Recht bezweifelt werden, dass die Welt der ‚harten Fakten‘ den absoluten Vor-
rang hat. Die Welt der Fakten ist selbst ohne diskursiven Vorlauf und ohne ständige
diskursive Absicherung nicht vorstellbar, und daher ist sie zugleich auch etwas
äußerst Zerbrechliches. Es sind die Diskurse, die dieses Fakten-Gebilde vorbereitet,
in gewisser Weise ‚geplant‘ und auf der Grundlage dieser ‚Planungen‘ produziert
haben, diese stützen und zusammenhalten. Und es ist das in seiner Katachresenhaf-
tigkeit leicht durchschaubare System kollektiver Symbole, die sie als homogen und
völlig ‚normal‘ erscheinen lassen. Es sind nicht die Fakten und schon gar nicht die
Fakten allein, die den weiteren Ablauf der Geschichte bestimmen, es sind im
wesentlichen die Diskurse, in die die Ideen und Träume der Menschen eingebettet
sind und dort auch den Ort ihrer eigenen Realität haben. Auch sie sind Applikations-
vorgaben für die Veränderung realer Welt.
Ihre Artikulation und Verbreitung kann ein Gegengewicht schaffen gegen die
herrschenden Diskurse, kann diese isolieren und ad absurdum führen, insbesondere
wenn sie – was eine leichte Übung ist – die normalisierende und Widersprüche ver-
kleisternde Funktion der Kollektivsymbole deutlich macht. Deshalb ist es politisch
äußerst sinnvoll, sich an den Diskursen und Diskurs- und Kollektivsymbolanalysen
zu beteiligen, was ja jeder und jede tun kann. Es geht nicht gegen Fabriken und Insi-
tutionen als solche, sondern es geht um problematisierende und kritisierende Ana-
Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge 347

lyse der Diskurse, durch die die immer nur zeitweilig gültigen ‚Wahrheiten‘ in Frage
gestellt werden. Friedliche Veränderungen sind möglich. Es geht darum, dafür die
richtigen Strategien zu entwickeln und diese umzusetzen.
Solche Prozesse sind längst im Gang, begleitet und konterkariert von teilweise
brutalen Gegenmaßnahmen. Daraus ergibt sich bereits eine wichtige Strategie der
Veränderung: Die Anwendung von Gewalt muss kompromisslos geächtet werden,
da sie eine Umgestaltung der Welt nach humanen Maßstäben verhindert. Damit wird
sie nicht von heute auf morgen verhindert, und es ist auch nicht auszuschließen, dass
man selbst in Gewalt verstrickt wird, etwa wenn es darum geht, Leib, Leben und
Freiheit zu verteidigen. Solche Situationen aber sind als Ausnahme von der Regel
der Notwendigkeit der Gewaltlosigkeit zu sehen und nicht umgekehrt so, dass die
Gewaltlosigkeit die Ausnahme von der Regel der Gewaltanwendung darstellte. Ins-
gesamt ist mit langfristigen Prozessen zu rechnen, deren Resultate keineswegs fest-
stehen und in deren Verlauf viele große und kleine Kompromisse ausgehandelt wer-
den müssen.
Eines ist jedoch auch sicher: Kulturkontakt ist nicht automatisch Kulturkonflikt,
wie Samuel P. Huntington anzunehmen scheint, schon gar nicht gefasst als eine Art
soziales Gesetz, als quasi natürliche Konstante oder gar anthropologische Konstan-
te.27 Kulturen berühren sich, verschränken sich, vermischen sich, es erfolgen Hybri-
disierungen, Bereicherungen, Schwächungen, Abgrenzungen, Gegenläufigkeiten,
Widersprüche, Kämpfe. Multikulturalität ist von Chancen wie von Risiken gleicher-
maßen begleitet. Betrachtet man die Welt als ganze, so stellt sie sich dar als eine
Vielzahl von lokalen, regionalen und überregionalen Berührungen, Kampffeldern
und Konflikten. Der Weg zu einer Globalisierung (eine Welt) verläuft wider-
sprüchlicher und vibrierender als Liberalismus und (orthodoxer) Marxismus sich das
vorgestellt haben. Insbesondere hat eine Kultur, die westlich und kapitalistisch
geformt ist, keineswegs endgültig gesiegt. Die Geschichte ist nicht postmodern ans
Ende gekommen (Fukuyama). Die großen Erzählungen, sofern es sie noch gibt, sind
in die Krise geraten. Aber es gibt tausende von Anderen; es wird gegen die großen
Erzählungen an erzählt, auch gegen die große Erzählung des Kapitals. Nennen wir
diese mittlere Erzählungen, oder meinetwegen auch kleine! Wichtig ist, dass deut-
lich wird, dass die Menschen lernen müssen, Konflikte auszuhandeln und dass auch
jeder einzelne in der Lage ist, sich an diesen diskursiven Auseinandersetzungen wir-
kungsvoll zu beteiligen.

Anmerkungen

1 Die vorliegende Fassung stellt nur eine leichte stilistische und inhaltliche Überarbeitung
des 1997 erschienenen Artikels dar. Erstaunt konstatiere ich selbst die prognostische Kraft
von angewandter Diskurstheorie, die zwar nicht dazu ausreicht, Details der Entwicklung
vorherzusagen, jedoch dazu, die großen Linien im Vorhinein auszumalen.
2 Dazu z.B. Jäger 1992.
348 Siegfried Jäger
3 Hier sei nur auf die bekannte und einflussreiche Studie von Huntington verwiesen (Hun-
tington 1993).
4 Eine gewisse Ausnahme stellt Hall 1994 dar, der Konzepte der Cultural Studies mit der
Diskurstheorie Michel Foucaults in Verbindung gebracht hat.
5 Die Moral-Philosophin Amy Gutmann definiert Multikulturalismus als „den Zustand einer
Gesellschaft oder der Welt, sofern es in ihr viele Kulturen gibt, die in signifikanter Weise
interagieren“ (Gutmann 1995: 273).
6 Vgl. ausführlich dazu Jäger 2004.
7 Link baut diese Definition weiter aus, indem er schreibt: „Auch die ‚Diskursstränge‘ (‚als
Flüsse von Wissen durch die Zeit‘) wären m.E. eher zyklologisch zu fassen, also eher ana-
log zu Populationen in einem Biotop, von denen einige sich stabil reproduzieren, einige
mutieren, einige neu auftauchen und andere aussterben – oder auch einige von anderen
gefressen werden. Was da zu ‚fließen‘ scheint, sind also Einheiten, die ständig (re-)produ-
ziert werden.“ (Link 2003: 62) Siehe zum Gedanken der Zyklologizität auch Winkler
2004. Sie sind das Werk tätiger Menschen, die die Diskurse aufnehmen, weitertragen und
vergegenständlichen. Vgl. dazu im einzelnen auch Jäger 2001.
8 Vgl. dazu im einzelnen auch Jäger 2001.
9 Vgl. dazu Link 1992. Winkler 2004 versucht zu zeigen, dass ökonomischer Tausch und
Austausch/Kommunikation auf vielfältige Wiese untereinander verbunden sind.
10 Ein solches Verhalten kann man auch als rassistisch bezeichnen, insofern Rassismus ein
Wissen darstellt, durch das die Menschen anderen Aussehens oder anderer ‚Kultur‘ als
Rassen konstruiert werden, diese so gesehenen Menschen oder Gruppen (meist auf der
Grundlage eigener Normalitätsvorstellungen) bewertet werden, und dies aus der Position
der Macht heraus geschieht. Die Position der Macht ist, folgt man der Diskurstheorie etwa
Michel Foucaults, bereits dadurch gegeben, dass der oder die Betreffende in den hege-
monialen Diskurs eingebunden ist. Vgl. dazu auch M. Jäger 1996, die diese Bestimmung
ausführlich diskutiert. – Die hier vorgetragene Definition von Rassismus lehnt sich an die
internationale Diskussion an, beruft sich aber im Unterschied zu den Bestimmungen bei
Rääthzel, Memmi, Balibar, van Dijk u.a. auf die Diskurstheorie Michel Foucaults und
sein Verständnis von Diskurs, der mit Macht selbst verbunden ist, selbst Macht ausübt, so
dass sich die zusätzliche Kategorie der „Macht“ eigentlich erübrigt.
11 Vgl. dazu Link 1992 sowie Sarasin 2003.
12 Zur Perspektivität der Wirklichkeitsdeutung vgl. Foucault 1986: 13ff. sowie auch S.
Jäger/M. Jäger 2003: 18-21.
13 Sarasin spricht in diesem Zusammenhang von „privilegierten Signifikanten“. Obwohl
jedes Mitglied (einer Gruppe), jedes Ereignis und jede Gruppe ein wenig ‚anders sind‘,
formulieren sie ihre Identität durch die Differenz zu allen anderen. Gleichzeitig existieren
aber auch Äquivalenzrelationen zwischen ihnen, die dadurch zu Stande kommen, dass sie
sich als ‚gleich‘ im Verhältnis zu einem Dritten, zu einem Außen definieren (vgl. Sarasin
2001: 68).
14 Neumann in der FR vom 21.2.1995: 12.
15 Vgl. dazu Link 1982.
16 Vgl. dazu die Artikel in Jäger/Januschek (Hrsg.) 2004, insbesondere auch die Einleitung.
17 Vgl. dazu Link 1993. Zu westlichen Orientbildern vgl. Said 1981.
18 Ein Konzept einer Intelligenten De-Eskalationsstrategie wird seit Jahren von Jürgen Link
entwickelt und immer wieder aktualisiert. Vgl. dazu auch Link 2004.
19 Dass die damit angesprochene Gegenwehr selbst katastrophisch und kriminell ausfallen
kann, zeigen die Terroranschläge der letzten Jahre, nicht erst seit dem 11.9.2001. Darauf
mit Gegenterror, genannt Krieg, zu reagieren, ist nur dazu angetan, die Katastrophe weiter
eskalieren zu lassen. Vgl. dazu auch Weller 2004.
20 Fünf Jahre nach Abschluss der ersten Fassung dieses Artikels hat sich ein eher weiter kon-
fliktverschärfender Diskurs etabliert, indem die einzig verbliebene Weltmacht eine Politik
des „Clash of Cultures“ zu betreiben versucht. Die Betonung liegt dabei auf Politik; es
Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge 349
handelt sich dabei keineswegs um einen irgendwie natürlichen Prozess. Wozu eine solche
Politik führt, ist an den „neuen Kriegen“ und ihren Folgen abzulesen.
21 Vgl. dazu Kellershohn 1994. Für den Diskurs der Politik vgl. etwa Wichert 1994, 1995,
zu Medien Jäger/Link 1993; zum Alltagsdiskurs Jäger 1992, 4. Aufl. 1996, Jäger u.a.
1998; sowie M. Jäger/Jäger 1999; Jäger/Januschek 2004.
22 Diese Zurückhaltung ist inzwischen vorbei. Selbst die Irak-Politik der rot-grünen Bundes-
regierung erweist sich als durch eine „defensive Eskalationsstrategie“ (Link) geprägt.
23 Zur neueren Entwicklung dieses Diskurses nach dem 11.9.2001 vgl. Jäger 2004 und
Carius 2004.
24 Zur Gleichzeitigkeit von Entgrenzungs- und Abgrenzungstendenzen des Kapitals vgl.
Link 198: 11.
25 Wie groß die Widerstände gegen eine vernünftige Einwanderungspolitik sind, zeigt das
elende Gerangel um das sogenannte ‚Zuwanderungsgesetz‘ bis in die Gegenwart von
2004 hinein.
26 Vgl. dazu etwa die Erfahrungsberichte der IAF (Interessengemeinschaft mit Ausländern
verheirateter Frauen), in denen auch Fälle schrecklichen Scheiterns dokumentiert werden,
sowie Perlet (Hrsg.) 1983 oder Wolf-Almanasreh 1984.
27 Huntington 1993, 1996.

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Das Internet und die Genealogie des
Kommunikationsdispositivs: Ein medientheoretischer
Ansatz nach Foucault

Johanna Dorer

1 Vorbemerkung

Die Forschung zum Thema Internet hat in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre mit
der zunehmenden Verbreitung der neuen Technologien explosionsartig zugenom-
men. Ein Beitrag über das Internet ist also immer auch in seinem zeitlichen Entste-
hungskontext zu sehen. Aus diesem Grund entschied ich mich für die dritte Auflage
des Buchs, den Text nicht wesentlich zu ändern, sondern vornehmlich um einige
aktuelle Literaturhinweise zu ergänzen. Die neue Technologie im Rahmen der bei-
den Schaltpläne des Informations- und Kommunikationsdispositivs zu betrachten,
geht dabei auf einen bereits früher für die Medien entwickelten theoretischen
Ansatz, der auf Überlegungen von Foucault basiert, zurück (Dorer/Marschik 1993).
Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Medien und der nun vonstatten gegan-
genen Kommerzialisierung des Internet, zeigt sich recht deutlich, wie sich jene
damals entwickelten theoretischen Überlegungen zur ‚Normalisierung‘ des Internet
vermehrt in sozialen Praxen im politischen, rechtlichen, ökonomischen und sozialen
Bereich niedergeschlagen haben.
Besonders hervorheben möchte ich in diesem Kontext die von Lovink und
Schultz im Jahr 1999 veröffentlichte Systematisierung der Netzentwicklung. Sie
unterscheiden bezüglich der Entwicklung des Internet drei Phasen wie folgt
(Lovink/Schultz 1999: 299-310):
Die erste Phase (1969-1989) ist geprägt durch die Vernetzung von Großrech-
nern in Militär, Wissenschaft und Großunternehmen. Dies ist auch die Zeit, in der
sich Jugendliche das technische „Geheimwissen“ aneignen und sich als sogenannte
„Hacker“ und „Cyberpunks“ für die Öffnung des Netzes einsetzen. In dieser Zeit
entstanden die von der Wissenschaft – auch von den Cyberfeministinnen –
euphorisch kommentierten „Mysterien“ des Internets wie Entkörperung,
Unsterblichkeit, Hybridisierung von Körper und Maschine, Cyborg und Cybersex.
Die zweite Phase (1990-1995) ist die Zeit der Mythenbildung, der Gerüchte und
Erwartungen, in der die alten Medien den Mythos Internet, den Glauben an uni-
verselle Möglichkeiten, verbreiten und die „digitale Revolution“ ausrufen. Es ist die
354 Johanna Dorer

Zeit der schnellen Profite, Netzutopien, der Netzkritik und der Medienkunst, wo aus
so unterschiedlichen Interessen eine neue „virtuellen Klasse“ (Kroker/Weinstein
1994) hervorgeht.
Die dritte Phase ist gekennzeichnet durch die Entwicklung des Internets hin zu
einem Massenmedium. Die Anzahl der Nutzer/innen steigt rasch an, Klickraten und
Userstatistiken und die Spuren, die Anwender/innen in unzähligen Logfiles hinter-
lassen, werden marktrelevant verwertet. Die digitale Vernetzung beschleunigt Glo-
balisierungs- und Konzentrationsprozesse, verändert Geld- und Aktienmärkte, die
neue Ökonomie wird zur wichtigsten Wachstumsbranche. Das Streben nach politi-
scher Einflussnahme äußert sich – unter Bezugnahme auf das Thema Kinderporno-
grafie – in der Diskussion um Kontrolle, Reglementierung, Zensur versus Meinungs-
und Medienfreiheit. Der hegemoniale Kampf wird nicht zuletzt auf dem Gebiet der
Festlegung von Standards ausgetragen. Denn jede Nutzer/innengruppe hat ihre eige-
nen Standards und Benutzungsregeln entwickelt und dem Netz eingeschrieben.

2 Internet und gesellschaftliche Erwartungen

Medienentwicklung und gesellschaftlicher Wandel sind aufs Engste miteinander


verknüpft (Krotz 2003; Schmidt 2003). Dabei ist nach Krotz (2003: 15) Medienwan-
del Bestandteil und Ausdruck eines Gesellschaftswandels, Folge und/oder aber auch
Ursache eines gesellschaftlichen Wandels. Ein techno-deterministischer, eindimensi-
onaler Zugang kann dabei das komplexe Zusammenspiel technischer und gesell-
schaftlicher Veränderungen keineswegs erklären.
In diesem Sinne ist auch die Entwicklung neuer Medientechnologien im Kon-
text der Entwicklung des öffentlichen Diskurses zu betrachten und zu fragen, ob und
wie das Internet als neuartige Technologie mit einer Veränderung des öffentlichen
Diskurses einhergeht. Denn wie kaum ein anderes Medium ist das Internet als Kom-
munikationstechnologie und Kommunikationstechnik – in Form einer gegenseitigen
Rede und Antwort, in der Diktion von Habermas als „gleichberechtigte Rede und
Gegenrede“ bezeichnet – mit der Vorstellung und dem Versprechen einer allge-
meinen Demokratisierung der öffentlichen Kommunikation angetreten. Tangiert
wird dabei die Frage nach der Kommunikationskultur einer Gesellschaft, welcher
allerdings die Frage nach dem Machtdispositiv zu Grunde liegt, das einem durch
fortschreitende Mediatisierung gekennzeichneten Gesellschaftskörper eingeschrie-
ben ist und das auf den Körper und sein Begehren wirkt.
Begleitet war und wird die Entwicklung des Internet von einem öffentlichen und
wissenschaftlichen Diskurs, der sich zunehmend ausdifferenziert hat (Featherstone
1995; Gerbel/Weibel 1995; Jones 1995; Kroker/Weinstein 1994; Shields 1996; Tur-
kle 1995; Virilio 1994, 2000; Marchart 2004).
Grundsätzlich lassen sich dabei zwei Standpunkte ausmachen, die zuvor weitge-
hend unverbunden nebeneinander standen und heute zunehmend sachlicher disku-
tiert werden: Technikeuphorie gekoppelt mit der Vorstellung der Revolutionierung
Das Internet und die Genealogie des Kommunikationsdispositivs 355

menschlichen Zusammenlebens auf der einen Seite und Skepsis bzw. Kulturpessi-
mismus, der die sozialen Folgen dieser Entwicklung kritisiert, auf der anderen Seite.
Mit der Einführung und Etablierung des Internet waren also jene Mythen ver-
bunden, die bereits die Einführung des Radios und des Fernsehens begleitet haben:
Einerseits ein Kultur-Pessimismus, der seinen Ausdruck in einer restriktiven Medien-
pädagogik und einer gemeinwohlorientierten Medienpolitik gefunden hat, sowie
andererseits ein Kultur-Optimismus, wie wir in bereits von Brechts Radiotheorie
kennen. Das Credo lautete damals – genauso wie heute bezüglich des Internets:
„Jeder Empfänger ein potenzieller Sender.“ Die Hoffnungen der Brechtschen Radio-
theorie haben sich bis heute in widerständischen Kulturen erhalten. Nichtkommer-
zieller Rundfunk, freie Videogruppen und offene Kanäle sind die Repräsentanten
eines medialen Widerstands, der sich wider eine kommerzielle Vereinnahmung als
Gegenmacht artikuliert (Dorer 1995, 1997).

3 Meinungsfreiheit als Bruchlinie des öffentlichen Diskurses

In der Mediengeschichte und der Entwicklung der Medientechnologien wird der


Idee der Artikulationsfreiheit und Meinungsfreiheit eine enorme Bedeutung beige-
messen. Für den öffentlichen Diskurs ist mit den Ansätzen der Realisierung von
Meinungsfreiheit eine historische Bruchstelle eingetreten, die einhergeht mit einer
Veränderung sowohl der kommunikativen Techniken als auch der Kommunikations-
technologien. Der Kampf um die Meinungsfreiheit und damit um eine Demokra-
tisierung der öffentlichen Kommunikation fällt mit der Entwicklung der technischen
Voraussetzung für die Massenproduktion von Zeitungen zusammen und bedeutet
den ersten historischen Schritt in Richtung Massenkommunikation.
Begleitet war diese Entwicklung der Informationstechnologie mit einer Verän-
derung der öffentlichen Kommunikation. Die journalistischen Techniken der „Hof-
berichterstattung“ werden durch neue journalistische Techniken des „Recherche-
journalismus“ ersetzt.
Damit ist die Substituierung eines Verlautbarungsjournalismus durch den Inves-
tigativjournalismus ein Versuch der Einlösung des Versprechens auf Meinungsfrei-
heit auf der Ebene der kommunikativen Form. Interessant ist, dass sich gerade zu
diesem Zeitpunkt, als sich ein journalistisches Selbstverständnis durchzusetzen
begann, das sich auf Korruption und Aufdeckung von sozialen Missständen kon-
zentrierte, auch Wirtschaftsunternehmen Public Relations-Stellen einrichteten, die
die Öffentlichkeit mit Information versorgten. Die Verfeinerung der kommunikati-
ven Techniken – insbesondere die zunehmende Ausdifferenzierung des Journalis-
mus, der Werbung, der Meinungsforschung, und später der Publikumsforschung und
Public Relations –, begann zu jenem Zeitpunkt, als sich die Idee der Meinungs- und
später der Medienfreiheit als immer bedeutendere Strategie des öffentlichen Dis-
kurses erstmals etablierte (Dorer/Marschik 1993).
356 Johanna Dorer
Tabelle 1: Der historische Weg von der Verlautbarung und Verheimlichung zum
Geständniszwang

vor 1848 ab 1848 2.WK 1950/60 ab 1970/80


rechtlicher Zensur Zensurverbot Zensur Medienfreiheit Kommunikati-
Rahmen onsfreiheit
Zweck Einheit der Vielfalt der Einheit der Vermehrung Explosion der
Inhalte Inhalte und Inhalte und der Inhalte und Kanäle und
Medien Medien Medien Normierung
der Inhalte
Medien obrigkeitss- Parteimedien Propaganda- Massenmedien Medien als
taatlich medien Werbeträger,
Zielgruppen-
und Gratisme-
dien
Journalismus Hofberichter- Partei-und Propaganda Verlaut- Investigativ-
stattung Recherchejour- barungsjourna- journalismus
nalismus lismus
Informations- Ausdifferen- Ausdifferen- Ausdifferen- Ausdifferen- Ausdifferen-
systeme zierung des zierung von zierung der zierung der zierung von
Journalismus Journalismus Propaganda Meinungsfor- PR, CI, CC und
und Werbung und Persuasi- schung Sponsoring
onsforschung
Strategien d. Repression Zwang zur Par- Repression Sozialisation, Partizipation,
Diszi- teilichkeit und und Indoktrina- Integration, Demokra-
plinierung Freiheit tion mittels Bil- Wissen und tisierung, Indi-
dung Verwissen- vidualisierung,
schaftlichung Beschlag-
nahme von Zeit

Krimina- Solidarisierung Krimina- Ethisierung Ästhetisierung


lisierung lisierung
Kontrolle der Zensurbehörde Parteiischer Zensur und Werbewirt- Werbewirt-
öff. Meinung Journalismus Denunzian- schaft, Markt- schaft, Markt-
tentum und Meinungs- und Meinungs-
forschung, PR, forschung, PR,
Journalismus, Journalismus,
Nachrich- Nachrich-
tentechnik, tentechnik,
Anreizung von Anreizung von
Wissen Wissen
Wirtschaft Entstehung der wirtschaftlicher wirtschaftlicher Reichtumspro-
Aktiengesell- Aufschwung Aufschwung, duktion und
schaften, durch Kriegs- Korporatismus, neue Armut,
Beginn der produktion Interesseni- partizipatori-
Fabriks- dentität sche und
produktion umweltpolit.
Anforderungen
Gesellschaft Ständegesell- Klassengesell- totalitäre Informations- Kommunikati-
schaft schaft Gesellschaft gesellschaft onsgesellschaft
Das Internet und die Genealogie des Kommunikationsdispositivs 357

Hand in Hand mit der Ausdifferenzierung der Medientechnologie geht die Ausdif-
ferenzierung der kommunikativen Techniken. In diesem Sinne korrespondiert die
Meinungsfreiheit mit einem nun allen Institutionen auferlegten „Geständniszwang“.
Das Internet und seine Möglichkeiten der direkten Kommunikation ist ein vorläufi-
ger Höhepunkt dieser Entwicklung, bei der alle Userinnen und User im Namen der
Freiheit und Demokratie (bzw. auch Anarchie) diesem Geständnisimperativ – bzw.
in den Worten Baudrillards der „Ekstase der Kommunikation“ – ausgesetzt sind. Es
ist demnach keineswegs verwunderlich, dass in der Diskussion um die rechtliche
Regulierung des Internet mehr als bei anderen Medien das Argument der Meinungs-
freiheit als Konstituens und Ausdruck einer demokratischen Gesellschaft ins Blick-
feld gerät.
Doch im Zuge der Ausdifferenzierung der kommunikativen Techniken zeigt
sich, dass der öffentliche Diskurs bereits viel früher einem Geständnisimperativ
gehorchte. Public Relations ist nicht länger als eine Möglichkeit der Bedingung für
eine öffentliche Präsenz zu betrachten, sondern weit mehr als Verpflichtung zur
medialen Selbstrepräsentation, um nicht aus der gesellschaftlichen Realität ausge-
grenzt zu sein. Denn Medienrealität ist nicht nur Konstrukt sozialer Realität, sondern
wirkt auf diese wiederum zurück, womit Medienrealität eine realitätskonstituierende
und handlungsauslösende Wirkung eingeschrieben ist. Der Imperativ zur ständigen
Rede in der Öffentlichkeit, ein allen Institutionen auferlegter „Geständniszwang“,
strukturiert die öffentliche Auseinandersetzung und konstituiert jenen öffentlichen
Diskurs, der Meinungs- und Medienfreiheit als Garant demokratischer Kommunika-
tion proklamiert.
Grob gesprochen veränderte sich der öffentliche Diskurs seit dem 19. Jahrhundert in
drei Etappen: Das Ringen um Pressefreiheit bis nach dem zweiten Weltkrieg ist als
Kampf zwischen Zensur und Zensurverbot aufzufassen. Erst in den 1950er Jahren ist
die Zeit der Medienfreiheit angebrochen, die in einer dritten Etappe schnell zu
einem Imperativ zur permanenten Rede und Gegenrede, zu einem „Geständnis- und
Kommunikationszwang“ mutiert. Das Dispositiv der öffentlichen Rede ist damit
einem grundlegenden Wandel unterworfen. In einem Zusammenspiel mobiler, poli-
morpher Machttechniken, die sich insbesondere bezüglich der Entwicklung der
Kommunikationstechnologien sowie der kommunikativen Techniken nachzeichnen
lässt, ist eine schrittweise Ablösung des Informationsdispositivs durch die Heraus-
bildung eines Kommunikationsdispositivs in Gang gesetzt worden. Ein Dispositiv ist
nach Foucault (1978a: 119ff.) dabei jener Schaltplan eines strategischen Netzes, das
sich aus dem Wissen und den Praktiken zu einer technisch-strategischen Gesamtheit
von Kontroll- und Regulierungsinstanzen zusammenfügt und auf den Körper und
sein Begehren wirkt.
Das Informationsdispositiv fällt zusammen mit der Zeit der Zensur. Von der
Gründung der ersten Zeitungen bis ins 19. Jahrhundert war der Diskurs der öffentli-
chen aber auch privaten Kommunikation gekennzeichnet durch eine von der Staats-
macht institutionalisierte Zensur und Observierung. Die Verpflichtung zur Hof-
berichterstattung und das Verbot eigenständiger politischer Berichterstattung wurde
kontrolliert durch ein fein gesponnenes Observierungsnetz. Instrumente dieser Kon-
358 Johanna Dorer

trolle waren Sonder- und Stempelsteuern für bestimmte Medien, Überwachung


durch die Postdienste, Errichtung von Polizei- und Zensurhofstellen, Installierung
der Geheimpolizei, kontrollierte Vergabe von Druckprivilegien, Verkaufsverbote für
ausländische Zeitungen, etc.
Mittels zahlreicher Gesetze und kommunikationspolitischer Restriktions- und
Kontrollmaßnahmen versuchte die Staatsmacht, Kommunikation als Raum der
Disziplinierung öffentlicher Meinung zu kontrollieren. Die Kontrolle erstreckte sich
dabei – z.B. in Form des Spitzelwesens – bis in den Bereich der privaten Kommuni-
kation. Der Machttypus jener Zeit war gekennzeichnet durch Repression und Verbot
und bewirkte als Disziplinarstrategie den Ausschluss bestimmter öffentlicher und
privater Äußerungen. Die Wirkung erstreckte sich damit nicht nur auf den Gesell-
schaftskörper an sich und den öffentlichen Diskurs, sondern wirkte bis hinein in den
privaten Bereich.

4 Der „Geständniszwang“ als Kennzeichen des


Kommunikationsdispositivs

Weder Zensur, Unterdrückung noch Repression sind heute die Techniken einer
zentralen Macht, die die Disziplinierung des öffentlichen Diskurses zu garantieren
sucht. Im Gegenteil: Die Unterdrückung einer öffentlichen Meinung durch Zensur
und zensurähnliche Verfahren verkehrt sich in einen kategorischen Imperativ zur
ständigen, mehrdimensionalen Rede, die auch am Rande die Rede über das Nicht-
Gesagte hervorbringt. Zum primären Kennzeichen des Kommunikationsdispositivs
wird jenes unablässige Sprechen in der Medienöffentlichkeit und seine Wirkung, die
sich bis in die letzten Winkel des Privaten entfaltet: „Wir erleben nicht mehr das
Drama der Entfremdung, wir erleben die Ekstase der Kommunikation“ (Baudrillard
1987: 18). Die Integration von Widerstandspotenzialen ist dabei der Strategie der
Macht eingeschrieben.
Der Machttypus innerhalb des Kommunikationsdispositivs wirkt nicht mehr
repressiv, sondern zeigt sich in einer produktiven Form. Macht im Sinne Foucaults
(1977a: 114), ist eine komplexe, strategische Situation, welche sich in einem Spiel
ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht, niemals aber von einer einzelnen
Institution oder Person ausgehen kann. Die Macht des öffentlichen Diskurses ist
somit nicht zu denken als eine Repressions-Macht oder Macht der Zensur, sondern
vielmehr als eine Anreizungsmacht und Wissensmacht. Die produktive Form von
Macht zeigt sich dabei auf allen Ebenen der Medienproduktion und Medienrezepti-
on.
Die Auswirkung der Anreizungsmacht ist die stete Vermehrung der Produktion
von Wahrheit. Mit dem Willen zum Wissen, dem Willen, Realität authentisch zu
zeigen, entsteht ein kontinuierlicher Fluss eines Mehr an Bildern, Texten, Werbung,
Public Relations etc. und schafft daher ein Mehr an Kommunikationsspezialisten,
die wiederum ein Mehr an Bildern, Texten, Werbung, Public Relations etc. produ-
Das Internet und die Genealogie des Kommunikationsdispositivs 359

zieren. Nicht erst im Internet sind Raum- und Zeitgrenzen aufgehoben, nicht erst im
Internet ist der Geständniszwang ein allumfassender geworden. Die Entwicklung hat
bereits deutlich früher eingesetzt. Im Bereich der Kommunikationstechnologien sei
hier die Ausdifferenzierung und grenzenlos scheinende Expansion im Printmedien-
und Rundfunkbereich genannt: Magazine, Special Interest Medien und Fachzeit-
schriften einerseits sowie die Ausweitung von Hörfunk- und Fernsehkanälen ande-
rerseits. Die Frequenzknappheit scheint es in der Tat nicht zu geben, vielmehr lässt
sich der Verweis auf eine Knappheit der Frequenzen oftmals als politisches Kalkül
interpretieren. Das Gleiche gilt aber auch für die kommunikative Form: CNN ist ein
Beispiel dafür. Für TV-Nachrichten galt lange Zeit das 20-Minuten-Limit als Maß-
stab, bis 1980 Cable News Network, CNN, die Zeitknappheit des Nachrichtenfor-
mats mit einem 24-Stunden-Nachrichtenprogramm durchbrach. Mit Eyewitness-
Berichten hat CNN die neue kommunikative Form etabliert, die nicht nur die
Augenzeugenschaft der Journalistinnen und Journalisten, sondern auch des Publi-
kums suggeriert.
In Bezug auf die Aufhebung der Raum- und Zeitgrenzen ist das Internet als neue
Medientechnologie lediglich die konsequente Folge der Reproduzierbarkeit der eige-
nen Möglichkeit. Denn es ist gerade typisch für die Formierung des Kommunikati-
onsdispositivs, dass sich der Diskurs öffentlicher Kommunikation selbst reprodu-
ziert und erweitert. Dies gilt – wie oben gezeigt – für beide Ebenen: für die Ebene
der Kommunikationstechnologie sowie die Ebene der kommunikativen Form. Das
Medium – als Bedingung seiner eigenen Reproduktion – schafft sich selbst die Ver-
mehrung seiner formalen Möglichkeiten. Beschränkte sich im Informationsdisposi-
tiv die produktive Seite der Macht auf Repressionsmaßnahmen, das heißt auf die
Produktion von Zensur- und Observierungstechniken, um widerständige Informati-
ons- und Kommunikationsflüsse zu be- und verhindern, so konzentriert sich im
Kommunikationsdispositiv die Produktivität der Macht auf die Hervorbringung und
Distribution von Information und Kommunikation selbst, und zwar via Vervielfälti-
gung der Kommunikationstechnologien und via der dadurch möglich gewordenen
Vielfalt kommunikativer Formen.
Mit dem Internet ist die Idee der Bereitstellung ungeheurer Mengen an Informa-
tion zur freien Auswahl und steten Verfügbarkeit ebenso verbunden wie die Präsenz
einer potenziell unendlich großen Zahl von Gesprächs- und Diskussionspartner und -
partnerinnen zu jeder Tages- und Nachtzeit. Dies ermöglicht den freiwilligen
Anschluss des Selbst an ein komplexes Kommunikationssystem. Denn die stete Pro-
duktion von Kommunikation bewirkt die dauernde Anreizung der Userinnen und
User zur medienvermittelten Anschlusskommunikation. Auch hier zeigt sich das
Internet lediglich als Höhepunkt einer Entwicklung, die bereits mit den ‚alten‘
Medien eingesetzt hat. Treibendes Moment zur Weiterentwicklung und Ver-
feinerung medialer und kommunikativer Techniken war stets das Versprechen, alles
sehen, alles hören zu können und maximal informiert sein zu können. Vermehrte
Freizeit und verbesserte Speichertechnologien (Ton- und Videokassette etc.) führen
zu einer Neustrukturierung der Zeit in der individuellen Mediennutzung und zu
einem alle Lebensbereiche umfassenden Anschluss des Selbst an ein differenziertes
360 Johanna Dorer

Mediensystem, das es sowohl mittels gleichzeitiger Nutzung verschiedener Medien


als auch mittels verschiedener Kanäle (mittels Watchman, Walkman, Zapping, Inter-
net etc.) zu erreichen gilt. Mit dem Internet ist diese Entwicklung noch einmal deut-
lich sichtbar geworden.

5 Normierung und Kontrolle

Die Strategie des Begehrens ist der medialen Technik und der medialen Form einge-
schrieben. Denn der Anschluss des bzw. der Einzelnen ans Kommunikationsnetz
funktioniert über die Stimulation und Anreizung des Begehrens. Bereits die zahlrei-
chen Sendungen und Formen von Publikumsbeteiligung in Print- und Rundfunkme-
dien machen deutlich, wie ein Machtdispositiv seine produktive Wirkung zu entfal-
ten vermag. In diesem Sinne ist eine der Hauptfunktionen der Medien heute die
Beschlagnahme von Zeit. Den Rezipienten bzw. Rezipientinnen ist es heute fast
unmöglich, der Mediatisierung zu entkommen. Die Allgegenwart der Medien und
deren Strategien, unaufhörlich Aufmerksamkeit produzieren zu müssen, führen so
zu einer kontinuierlichen Reizüberflutung und einer ständigen Überreizung durch
das medial Wahrnehmbare.
Die Macht, wirksam als Anreizungsmacht, zielt dabei auf die Stimulation und
Anreizung des Begehrens. Die Medien sind längst keine „geheimen Verführer“
(Packard 1962) mehr, sondern tragen ihr Anliegen der Verführung ganz offen zur
Schau. Es geht um die Beschlagnahme von Zeit, um die Aktivierung von Auf-
merksamkeitspotenzialen und um die stete Aktualisierung und Thematisierung der
gesellschaftlichen Norm. Obgleich die Vielfalt der Medien stets zunimmt, so bieten
sie dennoch lediglich „more of the same“ und führen keineswegs zu einer vergleich-
baren Vermehrung von Alternativen. Indem Medienrezeption im Rahmen der All-
tagsroutine erfolgt, produziert der Informationsüberfluss nicht mehr ein Mehr an
Wissen oder Kommunikation, sondern präsentiert primär die gesellschaftliche Norm
und ihre Grenzen. Die Gewohnheit bestimmter Nutzungsverhalten im Rahmen von
Alltagsroutinen stiftet dabei die Internalisierung der Norm. Damit verdrängt die
Gewohnheit und Routine die Wahrnehmung potenzieller anderer Wahrnehmungsal-
ternativen.
Bezogen auf den Geschlechterdiskurs geben beispielsweise Medien nach wie
vor die Norm für gesellschaftlich männlich und weiblich kodiertes Verhalten vor.
Das Internet gilt hier nicht notwendig als Ausnahme. Noch Mitte der 1990er Jahre
erreichte der Frauenanteil im Netz gerade 10 Prozent und die Rahmenbedingungen
legten eine nahezu ausschließliche männliche Kodierung des Internet nahe (Dorer
1997b). Chat-Regeln im Netz, folgen einem männlich kodierten Wertekodex, Home-
pages mit sexistischen oder pornografischen Inhalten hatten und haben nach wie vor
eine ungeheure Verbreitung (Dorer 1996; Grinstaff/Nideffer 1995; Lane 2000).
Auf allen Ebenen der Interaktion von Technologie- und Geschlechterverhältnis-
sen, wie der Wissensproduktion (Forschung zum Internet, Entwicklung der Hard-
Das Internet und die Genealogie des Kommunikationsdispositivs 361

und Software), der industriellen Produktion (Hard- und Softwareproduktion), der


Distribution der neuen Technologie (Verkaufs- Werbe- und PR-Praktiken) und der
Konsumpraxis (Aneignung und Verwendung der neuen Technologie) lässt sich die
Konstruktion des Internet als primär männlich kodierter Interaktions- und Kom-
munikationsraum nachvollziehen (Dorer 2001a, 2001b).
Mit der Kommerzialisierung des Internet – Ende der 1990er Jahre – kommt es
zu einer Ausdifferenzierung des Geschlechterdiskurses im Internet. Zunehmend
werden Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit differenzierter, vielfälti-
ger, ohne aber die gängigen Geschlechterstereotypen grundsätzlich in Frage zu stel-
len. Cyberfeministische Diskurse zum Internet, die bereits in den 1980er Jahren Uto-
pien von Geschlechtergerechtigkeit entwarfen (Haraway 1985; Turkle 1995; Plant
1998), werden heute viel nüchterner betrachtet (Floyd 2002; Consalvo/Paasonen
2002; Flanagan/Booth 2002; Wajcman 2004).
Medien sind eine Machttechnik der Normierung und Disziplinierung. Die Wir-
kung erzielen sie nicht über Verbot oder Zensur, sondern im Gegenteil über das
Gebot permanenter Konsumtion, Interaktivität und Beteiligung. Austragungsort ist
der Körper und sein Begehren geworden. Die Normierung und Disziplinierung
erfolgt über die Normierung des Sehens und Hörens, so dass das Wahrnehmungsdis-
positiv durch das Mediale und seine Norm geprägt ist. Verdrängt werden dabei
zunehmend Formen einer widerständigen Leseart (Stuart Hall), wenngleich diese
sowie widerständige Produktion und Interaktion präsent sind. Jedes neue Medium
wird mit dieser Hoffnung auf Befreiung verknüpft. Doch die normierende Kraft, die
von Medien ausgeht, ist allgegenwärtig. Die Internalisierung der Norm soll dabei
auf Freiwilligkeit basieren. Die Disziplinierung soll zu einer freiwillig gewählten
Selbstdisziplinierung werden und den öffentlichen Diskurs und sein Kräfteverhältnis
stabilisieren.
Einher mit dieser Disziplinierung des Blicks und Hörens vollzieht sich die Verwal-
tung des Einzelnen und seines Nutzungsverhaltens in Datenbanken und seine stete
Verfügbarkeit als ‚Reichweite‘, ‚Auflagenzahl‘ oder ‚Log-ins‘. Für die ‚alten
Medien‘ erfolgt die Kontrolle des Publikums im Sinne der Disziplinierung und Nor-
mierung über die Erhebung von Nutzungsdaten. Sie registrieren den Anschluss des
Selbst an die medialen Informationsnetze und referieren jede Tendenz, sich aus dem
Schaltkreis auszuklinken. Die angewandten Beobachtungs- und Registrierungstech-
niken fördern unterschiedliches Wissen zutage. Zum einen jenes Verwaltungswis-
sen, das an Hand von Auflagenzahlen und elektronischen Zuschauermesssystemen
das für die Mediennutzung aufgewendete Zeitbudget des Publikums genau prüft,
zum anderen ein Ermittlungswissen, das via Benotung und Tagebuchbewertung die
Akzeptanz kontrolliert. Das so produzierte Wissen erzeugt einen „Quoten-Diskurs“,
der genau die Wahrheit hervorbringt, die Medieninstitutionen für den Verkauf ihrer
Programme benötigen (Ang 1991). Im Auftrag der Wahrheitsfindung kann hier eine
Wissensmacht ihre normierende Wirkung erzielen, indem der veröffentlichte Quo-
tendiskurs wiederum auf das Nutzungsverhalten des Publikums zurückwirkt.
362 Johanna Dorer
Tabelle 2: Vom Informationsdispositiv zum Kommunikationsdispositiv

Informationsdispositiv Kommunikationsdispositiv
Kennzeichen Repression Kategorischer Imperativ zur stän-
digen mehrdimensionalen Rede
Unablässiges Sprechen in der
Unterdrückung Öffentlichkeit
„Geständniszwang“
Schweigen Informationsüberflutung
Verschweigen Explosion der Kanäle
Aufhebung von Raum und Zeit
Informationsverhinderung (CNN 24h-Nachrichtenpro-
gramm, Internet)
Idee der Freiheit
Idee der Aufklärung Kommunikations-Ideal der
gleichberechtigten Rede u.
Gegenrede als Schlüssel zur
Befreiung des Individuums
Kontrollinstanzen der öffentl. Zensurbehörde Zusammenspiel sämtlicher kom-
Meinung Spitzelwesen munikativer Instanzen
Ordung des Dispositivs das Gesetz die Norm, das was als Norm Gül-
tigkeit besitzt (Norm der Inhalte,
der Form, der Rezeption, etc.)
Ziel/Funktion des Dispositivs Ausgrenzung Disziplinierung des Körpers (des
Ausschluss Blicks, des Hörens)
Normierung (der Inhalte, der
Form)
Anschluss an das Kommunikati-
onsnetz global u. lokal (durch
Watchman, Walkman, Internet)
Beschlagnahme von Zeit
Verwaltung des Selbst in Daten-
banken u. stete Verfügbarkeit als
Reichweite, Auflage und Log-ins
Machttypus Strafmacht, Anreizmacht
Repressionsmacht Wissensmacht
Kontrollmacht

Im Internet sind analoge Mechanismen wirksam. Die Kontroll- und Wissensmacht


zeigt sich dabei an mehr oder weniger auffälligen Orten. In Zeitungen wird regelmä-
ßig bei der Berichterstattung über das Internet eine Vorselektion der „besten Home-
pages“ – inklusive Angabe der Adressen – vorgenommen. Hinter der Sperre von
News Groups, welche nicht selten das Argument der Pornografie missbraucht, steht
der unverblümte Versuch, das Internet einer (inter)nationalen Kontrolle zu unterwer-
fen. Aber auch das automatische Zählsystem, das alle User/innen beim Besuch einer
Hompage registriert, ist im Sinne dieser Kontroll- und Wissensmacht zu erwähnen.
Anonymität und das Spiel mit Identitäten in Chat Groups (Turkle 1995) wird mittels
neuer Software erschwert oder verunmöglicht. Aus der Verbindung von Computer-
und Kommunikationstechnologien entstehen vernetzte Informationsspeicher und
Kontrollstrategien, die selbstständig die Überwachung der Diskurse durchführen.
Das Internet und die Genealogie des Kommunikationsdispositivs 363

Nicht zuletzt das rege Interesse der Wissenschaft an der Erforschung des Internet
und seiner User/innen ist im Sinne dieser Kontrollmacht und Wissenmacht zu ver-
stehen.

6 Kommunikations-Ideal als Verführung zur Vernetzung

Hat sich die Ordnung des Informationsdispositivs noch vorwiegend über das Gesetz
konstituiert, so tritt im Kommunikationsdispositiv die Norm an die Stelle des Geset-
zes. Die Gesetzes- und Straf-Macht wird ersetzt durch eine Anreizungs- und Wis-
sensmacht, die auf die Disziplinierung und Normierung des Blicks und des Hörens
zielt, bewirkt durch die permanente Präsenz der Norm. Das Informationsdispositiv,
das immer weniger Glaubwürdigkeit beanspruchen kann und dem Ideal einer demo-
kratischen Gesellschaft praktisch nicht entsprechen kann, lässt das Aufkommen des
Kommunikationsdispositivs zu, das mit dem Versprechen umfassender Demokra-
tisierung angetreten ist.
Propagiert wird nicht weniger als die Erfüllung eines jahrhundertealten Ideals
von Rede und gleichberechtigter Gegenrede. Die imaginäre Instanz ist die Kom-
munikation, die im Sinne der Wahrheitsfindung beschworen wird. Die Einlösung des
Kommunikations-Ideals wird über die Möglichkeiten neuer Technologien sug-
geriert. Das Kommunikationsdispositiv erscheint im Zuge der Konstituierung einer
globalen, partizipativen Weltgesellschaft als das vernünftigste Instrument. Die
Medien haben in ihrer grenzenlosen räumlich-zeitlichen Ausweitung dabei die Rolle
der Professionalisierung und gleichzeitig Verhinderung von gesellschaftlicher Kom-
munikation übernommen.
Das Internet reiht sich dabei in die bereits vorhandenen Kommunikationstechno-
logien ein. Es stellt einen Höhepunkt in der Herausbildung des Kommunikationsdi-
spositivs dar. Trotz der Idee der grenzenlosen Kommunikation abseits hierarchischer
Strukturen von „class, race und gender“ ist das Internet weit davon entfernt, diesem
Anspruch gerecht werden zu können. Die Anreizungs- und Wissensmacht – unter-
stützt durch die Kommerzialisierung des Internets – ist stärker als die derzeitigen
Bemühungen, das Internet staatlich zu kontrollieren. Die Produktion von Wissen
und Wahrheit sowie technische Kontrollsysteme werden weit besser die Funktion
der Macht der Disziplinierung und Normierung übernehmen als es das Gesetz je zu
erbringen im Stande ist.

Literatur

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Baudrillard, J. (1987): Das Andere selbst. Wien.
364 Johanna Dorer
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Globalisierung, Gewalt und Identität im Diskurs der
westafrikanischen Weltmusik

Frank Wittmann

1 Einleitung

Populäre Musik spielt in den Cultural Studies schon seit langem eine wichtige Rolle.
Vornehmlich in den Studien zur Jugendkultur und zum Postkolonialismus sind
musikologische Studien ein nicht zu unterschätzender Bestandteil (Becker 2004: 9).1
Was mit Paul Willis‘ ethnografischer Untersuchung „Profane Culture“ (1978)
begann, hat sich in den letzten 25 Jahren zu einem innovativen und prosperierenden
Arbeitsfeld entwickelt. Unzählig sind inzwischen die kulturalistischen Studien zur
Pop- und Weltmusik. Zu den qualitativ herausragendsten Arbeiten stammen diejeni-
gen von Simon Frith, Lawrence Grossberg, Jocelyne Guilbault oder Richard Middle-
ton. Eine Schwachstelle der Popular Music Studies ist allerdings die forschungs-
praktische Marginalisierung der afrikanischen Musikkultur. Trotz der Erkenntnis,
dass sie „zum wichtigsten Subtext der weltweiten Popkultur“ (Lipsitz 1999: 82)
geworden ist, stellt nur eine Minderheit von Forscherinnen und Forscher die afri-
kanische Musik in den Mittelpunkt ihrer Arbeit.2 Die Mehrheit der Popular Music
Studies ist sich zwar der historischen und zeitgenössischen Einflüsse der afrikani-
schen Musikkultur bewusst, aber für gewöhnlich findet sie bloß im Rahmen des
Konzepts der Hybridität Erwähnung. Ein Beispiel: Paul Gilroys zeigt in seinem
Buch „The Black Atlantic“, dass kulturelle Identität immer ein Produkt von Aus-
tauschprozessen sei. In letzter Konsequenz zieht dieses antiessentialistische Konzept
die Erkenntnis nach sich, dass es kein „absolut ethnisches Eigentum“ (1993: 15)
mehr gäbe. Dem dritten Kapitel seines Buches weist Gilroy die Funktion zu, die
Versatzstücke der kollektiven Erinnerung an den rassistischen Terror in der schwar-
zen Musik aufzuzeigen. So sehr die gesamte Argumentation auch besticht, so sehr
die gewählten Beispiele auch überzeugen, suchen die Leserinnen und Leser von Paul
Gilroys Buch vergeblich nach afrikanischen Quellen. Gilroy bezieht sich ausführlich
auf Quellen der (afro-)amerikanischen, europäischen und karibischen Diaspora, aber
Musik von afrikanischen Gruppen bleibt konsequent ausgespart, obwohl hier The-
men wie Ausbeutung, Heimatverlust und Sklavenhandel genauso reflektiert werden
wie auf der anderen Seite des Atlantiks.
368 Frank Wittmann

Die Vernachlässigung der afrikanischen Musikkultur hat durchaus ihre struk-


turellen Gründe, da die Cultural Studies ihre Untersuchungen an kulturellen Schnitt-
stellen ansetzen, die von Differenzen geprägt sind. Neben Geschlecht oder Rasse ist
dies vor allem die Unterscheidung von E- und U-Kultur. Mag diese Unterscheidung
für den Westen zutreffen oder zumindest zugetroffen haben, gibt es auch Kultur-
kreise, für die diese Dichotomie niemals Gültigkeit hatte3: Die westafrikanische
Musikszene zeichnet sich zwar durch eine Vielfalt von traditionell-akustischen und
modern-elektronischen Stilen aus, die aber nicht angemessen mit den Kategorien
‚elitär‘ oder ‚unterhaltend‘ bewertet werden können. „Musik wird hier nach den
Anlässen kategorisiert, bei denen sie gespielt wird, oder nach Instrumenten, oder
Interpreten, nicht aber nach künstlerischem Anspruch oder ästhetischem Niveau“
(Panzacchi 1996: 17). 4
Ausgangspunkt des folgenden Beitrags ist die Feststellung Cornelia Panzacchis,
„dass die Welle der engagierten Pop-Musik, entstanden aus dem Strudel von Protest-
Song, Flower-Power, politischem Chanson, Liedermachern und Rock-gegen-Rechts
[…] auch Westafrika überspült hat und sich hier mit der bereits bestehenden Strö-
mung der Gesellschafts- und Individualkritik vermischt hat“ (1996: 66). Mit anderen
Worten, diese Politisierung ist das Resultat eines Prozesses, bei dem exogene Fak-
toren (Globalisierung) auf eine bereits vorhandene Tradition treffen und zu einer
Entgrenzung lokaler Spezifika führen. Dieses Phänomen wird von den Cultural Stu-
dies als Hybridität bezeichnet und gilt als ein wesentliches Merkmal einer globalen
und transnationalen Welt: „Symbole, Zeichen und Ideologien werden aus ihren
ursprünglichen Kontexten heraus gelöst und gewinnen in Vermischung mit anderen
kulturellen Elementen eine neue Bedeutung“ (Winter 2003: 277). Hieran anknüp-
fend überprüft der Artikel in einem ersten Schritt Panzacchis Hypothese der Poli-
tisierung mit einer Diskursanalyse zum thematischen Spektrum von populären
Musikstilen in Westafrika: Welche thematische Ausrichtung pflegen Hip-Hop, Mba-
lax und Reggae in Côte d‘Ivoire, Gambia und Senegal? Welche Identitäts- und
Identifikationspotenziale stellen sie für ihre Zielgruppen bereit? In einem zweiten
Schritt soll schließlich nach den Gründen des Befundes gefragt werden: Treffen die
genannten indogenen und exogenen Faktoren zu? Lassen sie sich allenfalls spezifi-
zieren?

2 Zum Begriff ‚Weltmusik‘

Die hier behandelten Musikstile werden unter dem Begriff ‚Weltmusik‘ zusammen-
gefasst. Der Begriff ‚Weltmusik‘ ist derart nichts sagend und in seiner homo-
genisierenden Konnotation irreführend, dass es unter Umständen besser gewesen
wäre, ihn gar nicht erst zu kreieren. Trotzdem hat er Eingang in Umgangssprache,
Feuilleton und Wissenschaft gefunden. In seiner historischen Entwicklung wurde die
Weltmusik als Gegenentwurf zum Mainstream der Pop- und Rockmusik entworfen:
„Weltmusik war keine Verkaufskategorie wie jede andere; diese Plattenlabels ver-
Globalisierung, Gewalt und Identität 369

banden eine bestimmte Art des Engagements mit der Musik, mit der sie handelten,
und versprachen ihrer Klientel eine bestimmte Erfahrung“ (Frith 2000: 306). Von
welcher Art ist aber die hier ausgesprochene Differenz? Da zur Weltmusik die Wal-
liser Alphornbläser genauso gehören wie der nahöstliche Sufi Soul, kann die Dif-
ferenz nicht geografischer Natur sein. Vielmehr ist sie eine des Authentizitätsan-
spruchs „zwischen wirklichen und künstlichen Sounds, zwischen dem musikalisch
Wahren und dem musikalisch Falschen, zwischen authentischen und nicht authenti-
schen Erfahrungen“ (Frith 2000: 307). Auch wenn der hier formulierte Authentizi-
tätsanspruch für einen Teil des Publikumserfolges mitverantwortlich ist, ist er doch
offensichtlich ideologisch gefärbt. Aus diesem Grund schlage ich folgende Defini-
tion vor: Weltmusik ist eine lokal bzw. regional identifizierbare und für ein globales
Publikum produzierte Musik. Auf diese Weise wird der Begriff in die Nähe der Glo-
balisierung gerückt: „Weltmusik ist unzertrennbar mit einem anderen ähnlich
schwer zu definierenden Phänomen unserer Zeit verbunden, der Globalisierung“
(Bohlman 2002: XI). Dies hängt in erster Linie damit zusammen, dass viele Musik-
stile durch Kommunikations- und Migrationsflüsse aus dem lokalen Kontext gelöst
und für die weltweit operierenden Kulturindustrien zugänglich wurden. Zu den
Musikindustrien gehören nicht bloß Produktions-, Distributions- und Marketingsys-
tem, sondern auch Kulturjournalismus, Konzertveranstalter, Filmindustrie oder Tou-
rismusbehörden.5 Dieses globale System eines zunehmenden free flow of sounds hat
in den letzten 20 Jahren große Absatzmärkte geschaffen und ein ungeahntes Kreati-
vitätspotenzial freigesetzt wie die Entstehung des Reggaeton6 oder des Zouk-Rap
zeigen,7 um nur zwei neue karibische Stile zu nennen. Die wichtige Frage betrifft
nun aber die Interaktion von musikalischem Wandel und kultureller Identität:
„Musikalischer Wandel bedeutet keinen Verlust an kultureller Identität, sondern ist
Ausdruck dessen, wie sie [die Identität] sich im Kontext verändert“ (Frith 2000:
312). Aus diesem Grunde bringt der vorliegende Artikel dem Konnex von Globa-
lisierung und kultureller Identität in den Diskursen der westafrikanischen Weltmusik
eine besondere Aufmerksamkeit entgegen.
Noch einige Bemerkungen zur Methodologie: Musik ist eine komplexe Kom-
munikationsform, die unter anderem aus instrumentellen, performativen und rhyth-
mischen Aspektes besteht, die weit über die „geringe Macht der Worte“ (Gilroy
1993: 76) hinausgehen. Wenn man sich nun für die textuellen und repräsentativen
Aspekte von Musik interessiert, muss diese relative Einseitigkeit im Auge behalten
werden.8 Methodologisch gesehen sind Liedtexte den „philologischen Methoden der
Textanalyse zugänglich“ (Androutsopoulos 2003: 16), wodurch sie „direkte Bezug-
nahmen auf die Aktualität und auf weitere gesellschaftliche Diskurse“ (ebd.) ermög-
lichen. Mit anderen Worten, die diskursanalytische Untersuchung von Musiktexten
ist eine interessante Analyseoption, da sie etwas über Gesellschaft und Kultur aus-
sagt. Hinsichtlich des afrikanischen Forschungskontextes mit seinen tausenden von
unterschiedlichen Sprachen sind allerdings profunde linguistische Kenntnisse oder
zumindest der Zugang zu Übersetzungen fremdsprachiger Texte und eine umfas-
sende Kenntnis der Gesellschaften nötig, um die Lieder kontextualisieren zu kön-
nen.9
370 Frank Wittmann

3 Authentizität in Senegambia

Im Laufe der 1990er Jahre hat sich in Gambia und Senegal ein neuer Musikstil
durchgesetzt, der die Vorherrschaft der allgegenwärtigen Popmusik Mbalax in Frage
stellt: der Hip-Hop.10 Wie für die Weltmusik im Allgemeinen und den nordatlanti-
schen Hip-Hop im Besonderen ist der Anspruch auf Authentizität bzw. Wahrheit ein
Zeichen dieser Straßenkultur: „Realness ist ein zentrales Qualitätskriterium der Hip-
Hop-Kultur“ (Klein/Friedrich 2003: 7). Was macht aber diesen Anspruch aus?
„Die Händler denken, dass Rap bloß Showbiz und Sex ist/Ha, Scheiße, es sind gute Ideen und
klare Texte […] Wenn du wahre Musik willst, musst du würdig sein und kämpfen/Schau‘ dir
MCs wie Max Crazy und Daddy B. an/Sie schreiben Remixe und geben dir Linderung/Ha, ich
nerve dich, ich nerve dich, ich will dich einfach daran erinnern, was du in der Stadt und in der
Musik verloren hast.“ (Daddy Bibson, Bou souba 2002)
Der junge Dakarer Rapper Daddy Bibson nennt zwei Kriterien für die Wahrhaftig-
keit von Musik: Ein moralisch korrektes Verhalten und aussagekräftige Liedtexte.
Entsprechend häufig zeichnen sich senegambische Hip-Hop-Texte durch soziale
Relevanz aus:
„Alle 5 Jahre fangen die Leute wieder an, ihre Kandidaten für den Wahlkampf herauszuput-
zen/Die Politik verursacht in den Familien Probleme/Die Kandidaten sagen, ich habe dies
getan, ich habe jenes getan/Aber sie haben alle nichts getan/Neu sind bloß die Geräte, die wir
kaufen/Aber Fernseher, HiFi-Anlagen und Kühlschränke gehen wegen Stromausfällen kaputt
[…] Deshalb stehe ich hier, halte mein Mikrophon und treffe tief in dein Herz/Weil ich in
Angst, Hunger und Unterdrückung lebe/Wenn‘s dir weh tut, komm‘ her und knall mich ab .“
(Da Fugitivz, Keep Kui Bangh 1999)
Mit sozial-politischem Engagement versuchen die Hip-Hopper – wie hier die gambi-
sche Gruppe Da Fugitivz – auf ihre Umwelt einzuwirken. Dies betrifft häufig auch
den Bereich des Individualverhaltens, indem die Hip-Hop-Texte zur Verbesserung
der Sitten beitragen möchten. Welches Verhalten moralisch akzeptabel bzw. nicht
akzeptabel ist, wird im senegalesischen Hip-Hop v.a. in Auseinandersetzung mit
dem vorherrschenden Musikstil Mbalax erläutert. In Liedern wie Music bu amoul
tiono (2001) von Rap‘Adio oder 100 commentaires (1999) von Iba/Maktar werden
Sänger wie Youssou N‘Dour, Coumba Gawlo Seck oder Viviane für die Verwahr-
losung der Sitten verantwortlich gemacht. Indem sie in Texten und bei öffentlichen
Konzertauftritten einer hedonistischen Lebensweise frönen, würden sie die Sitten
der Jugend verderben, sie emotional und mental und damit auch ihre Lebenskonzep-
tionen verändern:
„All das wegen Viviane und Aida Patra/Sie verdrehen ihre Köpfe und ihre Herzen/Du weißt
nicht, wie verdorben einige Mbalaxleute sind […] Du bist ein Rapper oder ein Mannequin
[…] Du hast gemacht, dass alle jungen Leute verdorben sind […] Fast alle Mbalaxleute haben
schon mal eine geschwängert.“ (Daddy Bibson, Bou souba 2000)11
Globalisierung, Gewalt und Identität 371

Die Hip-Hopper verurteilen den Mbalax als inhaltlich belanglos, gesellschaftsschä-


digend und verweichlicht. Inwieweit ist diese Einschätzung zutreffend? Blickt man
auf das inhaltliche Spektrum von Mbalaxtexten, fällt auf, dass es von Lobpreis- und
Liebesliedern bis zu Liedtexten mit politischen und sozialen Inhalten reicht. Letzt-
genanntes Genre ist in aller Regel zwar etwas weniger anklagend, direkt und provo-
kativ als im Hip-Hop, aber es finden sich doch eine Vielzahl von Sängern wie Sou-
leymane Faye, Youssou N‘Dour oder Ouza, die sich regelmäßig mit sozial relevan-
ten Themen auseinander setzen. Dies trifft in besonderem Maße auf Omar Pène zu,
dessen Popularität vor allem auf seine engagierten Textinhalte zurückgeht. Mit
Agresseur (2003) landete er einen grossen Hit. Darin thematisiert er die gesunkene
öffentliche Sicherheit sowie das gestiegene Misstrauen, das sich die Bürger Dakars
an öffentlichen Plätzen entgegen bringen. Für diese Veränderungen macht Pène die
Taschendiebe verantwortlich:
„Seine verrückte Liebe für das Geld, gepaart mit einer Faulheit im Wettkampf des Lebens,
erleichtern ihm den Diebstahl des Besitzes seines Nächsten.“
In seinem Song begnügt er sich allerdings nicht mit einer Brandmarkung des Fehl-
verhaltens. Der Mbalaxsänger ruft die Taschendiebe dazu auf, der Kriminalität abzu-
schwören. Solange sie Diebe seien, würden sie Außenseiter der Gesellschaft bleiben.
Omar Pène stellt den Delinquenten also die soziale Anerkennung und Integration in
Aussicht, wenn sie vom unrechten Tun ablassen sollten. Mit klugen (naiven?) Rat-
schlägen versucht er ihnen, den Weg zu weisen:
„Als Bürger deines Landes und auf deinem Mutterboden arbeitend, wirst du der Stolz deiner
Mitbürger sein […] Zuerst einen Beruf erlernen, der dir einen Posten verschafft und es
ermöglicht, für den Unterhalt der Familie aufzukommen.“
Ein weiteres Beispiel ist Youssou N‘Dours Jéebbaane (2003), das diffamatoriche
Tendenzen der senegalesischen Gesellschaft brandmarkt. Beim Erfahren eines
Unrechts würden sich die Menschen nicht mehr an die dafür zuständigen Justizbe-
hörden wenden, sondern die vermeintlich fehlbare Person in den Massenmedien dif-
famieren:
„Wenn dir ein Unrecht widerfahren ist und sich der Fall trotz deines Bemühens nicht regeln
lässt, reiche beim Gericht Klage ein […] Klage niemanden willkürlich an und mache nicht
das, was man ‚porter presse‘ nennt.“
Diese Kritik richtet sich zunächst einmal an die Bürger, mit Hilfe der Massenmedien
zur Selbstjustiz zu greifen und die vierte Gewalt zu missbrauchen (Wittmann 2003:
166ff.). Die Kritik richtet sich aber auch an die Journalisten. Von den Moderatoren
des Privatradios fordert der Text indirekt ein energisches Eingreifen, wenn die Hörer
bei den beliebten interaktiven Sendungen live ihre Anliegen berichten und es dabei
zu Auswüchsen kommt. Aber auch die reisserischen Boulevardzeitungen wie Fras-
ques, Moeurs oder Révélations bekommen ihr Fett ab. Da sie sich der Suche nach
Gerüchten und Skandalen verschrieben haben und in den Redaktionen durch Per-
sonalnot ein mangelhaftes Qualitätsbewusstsein Einzug gehalten hat, sind sie dafür
anfällig, die erhaltenen Informationen nicht zu überprüfen. Dagegen sollte der Jour-
nalist einem seriösen Berichterstattungsmuster verpflichtet sein:
372 Frank Wittmann
„Er ist nicht für Geschwätz da. Er informiert die Leute, aber er darf weder etwas hinzufügen
noch weglassen.“
Aber auch den Opfern des ‚porter presse‘ kommt eine wichtige Aufgabe zu:
„Antworte nicht auf die Provokation. Kümmere dich nicht um sie, sie wollen dich nur aufhal-
ten. Geh‘ deinen Weg.“
N‘Dour versucht die Opfer von Medienkampagnen dafür zu sensibilisieren, kein
weiteres Öl in das Feuer zu gießen, da sie so den skandalgierigen Journalisten nur in
die Hände spielen würden. Denn diese können mit weiteren Enthüllungen oder
Gegendarstellungen den Fall breit treten, in die Länge ziehen und in jeder Ausgabe
mit neuen Enthüllungen in der nächsten Woche werben. Dieses Beispiel unter-
streicht das Urteil, dass Youssou N‘Dour „ein engagierter Künstler für den Fort-
schritt ist; er schlägt uns einen Sozialvertrag vor, der sich auf eine kulturelle Charta
stützt“ (Sankhare 2002: 11).

4 Selbstkritik im ivorischen Reggae

Nach Hip-Hop und Mbalax möchte ich noch auf einen dritten Musikstil zu sprechen
kommen, den Reggae. Dabei handelt es sich um einen auf der Karibikinsel Jamaika
entwickelten Stil, dessen lange Entstehungsgeschichte in die 1950er Jahre zurück-
reicht. Reggae ist auf das engste mit den Sound Systems als Vorläufer des modernen
DJing verbunden. Clement „Coxsone“ Dodd, Duke Reid und Prince Buster stehen
stellvertretend für die Emanzipation der jamaikanischen Populärmusik, die sich von
der Adaption des amerikanischen Rythm ‘n‘ Blues und Souls bis hin zur Entwick-
lung von Ska, Rocksteady und den verschiedenen Reggaestilen wie Roots, Lovers
Rock oder Dancehall entwickelte. Es dauerte bis 1971, dass ein Reggae-Song zum
ersten Mal den ersten Platz der englischen Hitparade erklomm: Double Barrel von
Dave/Ansell Collins. An der globalen Verbreitung hatte aber auch der Film The
Harder They Come (1972) mit Jimmy Cliff in der Hauptrolle und den zugehörigen
Soundtrack einen grossen Anteil. Zu derselben Zeit gelang es, den Roots Reggae zu
kommerzialisieren und die Rastafari-Bewegung aus ihrer Marginalisierung zu
befreien. Erst mit dem Rootsstil nahmen die Reggaetexte jene Spiritualität und jenes
sozialpolitische Engagement an, das schließlich kein Musiker so glaubwürdig in
aller Welt vertreten konnte wie Bob Marley. Auch wenn er der bekannteste Reg-
gaesänger ist und als „godfather of international rock hybrids“ (Santoro 1997: 150)
gilt, so ist seine musikgeschichtliche Bedeutung für den Reggae gering: Er „trat
irgendwo hinter der Avantgarde auf der Stelle“ (Bradley 2003: 348). Die öffentliche
Meinung in aller Welt hat sich nie darum geschert. Mit seiner metaphysischen „Ver-
bindung zwischen dem Afrika vor den ersten Sklavenhändlern und dem postkolonia-
len Kingston“ (Bradley 2003: 352) gelang es Marley, auch das Publikum in Afrika
Globalisierung, Gewalt und Identität 373

anzusprechen. Roots Reggae erfreut sich seither auf dem afrikanischen Kontinent
besonders in Ländern wie Burkina Faso, Côte d‘Ivoire, Gambia, Kenya und Süda-
frika großer Beliebtheit.
Auch heute ist dem Reggae in Afrika noch ein panafrikanistischer und antiko-
lonialistischer Impetus zu eigen. 40 Jahre nach der Unabhängigkeit und 15 Jahre
nach dem Ende des Kalten Krieges sind die ökonomischen, politischen und sozialen
Missstände in Afrika aber nicht mehr nur auf Kolonialismus und Imperialismus
zurückzuführen (Chabal/Daloz 1999). Die ivorischen Reggaesänger Alpha Blondy
und Tiken Jah Fakoly entgehen einer anachronistischen und einseitigen Betrach-
tungsweise, indem sie sich in ihren Liedern für eine multivariante Analyse der
Missstände einsetzen. Sie suchen die Gründe für Krisen, Kriege und Katastrophen
nicht nur in den Folgen von Sklaverei, Kolonialismus, Entwicklungszusammenarbeit
und Globalisierung, sondern ebenfalls in der fehlgeschlagenen und selbstsüchtigen
Politik der afrikanischen Eliten:
„Ich beharre, ich bestehe, ich unterschreibe/Die Feinde Afrikas/Das sind die Afrikaner.“
(Alpha Bondy, Les Imbéciles 1998)

„Meine Herren Präsidenten/Entschuldigen Sie die Störung/Wollen Sie wirklich die Korrup-
tion bekämpfen/Ich schlage Ihnen meine Lösung vor/Rechtfertigen Sie zuerst Ihr Vermö-
gen/Rechtfertigen Sie das Vermögen Ihrer Minister/Dann werden Sie unseren Unmut verste-
hen.“ (Alpha Blondy, La Queue du Diable 1999)

„Sagt den Politikern/Unsere Namen aus ihrem Business zu streichen […] Sagt den Händlern
der Illusionen/Dass unser Gewissen nicht zu verkaufen ist/Sie sind die Komplizen Baby-
lons/Um uns zu betrügen/Tun sie so, als ob sie uns helfen würden […] Sie legen Feuer, sie
fachen es an/Und später kommen sie und spielen die Feuerwehr/Wir haben alles kapiert.“
(Tiken Jah Fakoly, On a tout compris 2002)12
Mit solch provokativen Texten schreiben die urbanen Sänger eine Tradition der
Mande-Musik als „Waffe des Widerstands“ (Lee 1988: 18) fort. Bereits vor der
jüngsten Krise der Côte d‘Ivoire und ihrer faktischen Landesteilung seit September
2002 hat Alpha Blondy vor ethnischen Argumenten im politischen Diskurs gewarnt:
„Das ethnische Argument darf niemals dazu verwendet werden, einen Kandidaten
auszuschließen, da es die Côte d‘Ivoire, die wir kennen, in Gefahr bringt, ihr sozia-
les Netz, ihre nationale Einheit“ (Alpha Blondy 2002). Oder in den Worten seines
jüngeren Kollegen:
„Früher sprach man weder vom Norden noch vom Süden […] Früher sprach man weder von
Christen noch von Muslimen/Aber heute haben sie alles kaputt gemacht/Die Armee ist gespal-
ten/Die Studenten sind gespalten/Die Gesellschaft ist gespalten.“ (Tiken Jah Fakoly/Le pays
va mal 2002)
Die Kritik richtet sich allerdings nicht bloss an die politische Elite, sondern auch an
die ivorische Bevölkerung. In ihrer Lethargie würden sie sich instrumentalisieren
und auseinander dividieren lassen sowie bereitwillig den Handlungsweisen und
Argumenten der Politiker folgen:
„Dummkopf, Dummkopf, die Politiker verarschen dich/ Dummkopf, Dummkopf, öffne die
Augen .“ (Alpha Blondy, Lalogo 1998)
374 Frank Wittmann
„Man klagt die Weißen an, sich überlegen zu fühlen/Aber hier bei uns läuft‘s schlimm/Regeln
wir zuerst unser Verhältnis unter einander.“(Tiken Jah Fakoly, Mangercratie 1996)
Hypokrisie und Lethargie macht Alpha Blondy aber nicht nur auf dem Terrain des
Politischen aus, sondern auch in kulturellen und gesellschaftlichen Belangen. Sein
Interesse gilt dabei in hohem Masse der Rastafari-Bewegung, der er sich selbst
zugehörig fühlt. Dabei handelt es sich um eine synkretische (Jugend-)Kultur- und
Befreiungsbewegung, die auf jamaikanische Gründungsväter wie Marcus Garvey
oder Leonard Percival Howell zurückgeht. Sie anerkennt den äthiopischen König
Haile Selassie als Inkarnation Gottes, als Ras Tafari, und erwartete von ihm, die afri-
kanische Diaspora zurück nach Afrika zu führen (Bradley 2003; Lee 2000). Als sol-
che hält sie nicht nur für junge Schwarze ein Identitätspotenzial bereit und bietet
ihnen eine kulturelle Heimat. Diese Angebote machen die Bewegung aber auch für
Menschen anziehend, die der kollektiven Ethik nicht entsprechen:
„Du lehnst es ab, zu arbeiten/Du ziehst es vor, dich herumzutreiben/Und wenn man dir Rat-
schläge geben will/Antwortest du, du seist ein Rasta/Es gibt verlauste Rastas/Es gibt ver-
rückte Rastas/Und es gibt coole Rastas.“ (Rasta poué 1984)
Ex negativo wird deutlich, dass die Rastafari-Ethik aus Werten wie Aufrichtigkeit,
Fleiß, Glaube, Mut oder Respekt besteht. Alpha Blondy kämpft gegen die Gefahr an,
dass das Rasta-Dasein an inhaltsleeren Symbolen festgemacht wird.
„Du musst nicht Gras rauchen, um eine Rasta zu sein/Du musst keine Dreadlocks haben, um
ein Rasta zu sein/Du musst nicht schwarz sein, um ein Rasta zu sein.“ (God bless Africa
2002)
In seiner Argumentation sind Erkennungszeichen wie Dreadlocks, Joints und eine
schwarze Hautfarbe nur Oberflächlichkeiten. Explizit wendet sich Alpha Blondy
gegen den Ausschluss von Menschen aus, die diese Symbole nicht teilen, obwohl ihr
Verhalten sie als ‚wahre‘ Rastas ausweist: „Alpha Blondy möchte das Amalgam
zwischen seiner Ideologie und gewissen zweifelhaften Praktiken vermeiden, die
unter der Rastachiffre eine Legitimation suchen“ (Konaté 1987: 204). Er ist ein poli-
tisch und sozial engagierter Künstler, dessen Engagement ihn als moralischen Men-
schen ausweist und der pädagogisch auf sein Publikum einwirken will. Sei es, dass
er zu politischer Partizipation aufruft, sei es, dass er Tendenzen zur Intoleranz und
Oberflächlichkeit innerhalb der Rastafari-Kultur ausmacht. Dabei unterzieht der
Sänger auch seine eigene Verhaltensweise einer kritischen Prüfung, wie zum Bei-
spiel im selbstironischen Lied Travailler c‘est trop dur (1986).

5 Lobpreis, Empfindsamkeit und Verführung

Bisher wurde das Augenmerk auf das soziale und politische Engagement der westa-
frikanischen Sänger gerichtet. Nicht nur die seit jeher als engagiert geltenden Hip-
Hopper und Reggaemusiker sind sozial-politisch aktiv, sondern entgegen aller Pole-
mik auch die Mbalaxsänger. Wie ist es aber mit Lobpreisliedern? Sieht man den
Globalisierung, Gewalt und Identität 375

Liedtextkorpus hinsichtlich dieser Thematik durch, findet sich eine unzählbare


Menge von diesem Liedgenre. Kaum ein Sänger oder eine Sängerin preist nicht
Gott, Marabouts, Politiker oder vorbildhafte Menschen. Ein bekanntes Mbalaxlied
ist Vivianes Baay Senghor (2002), das sie nach dem Tod des ersten Präsidenten
Senegals und des ersten schwarzen Mitgliedes der Académie Française, Léopold
Sédar Senghor, verfasst hat:
„Oh Einsamkeit auf dieser Erde angesichts des Todes dieses Mannes/Senegal aufgelöst in
Tränen/Afrika in Fassungslosigkeit […] Die Negritude in totaler Einsamkeit/Léopold aus dem
Hause Dior/Stolz der Ethnie Serer/Grund für die Heiterkeit der Senegalesen.“
Ein anderer Ohrwurm wurde zu Ehren Che Guevaras komponiert:
„Hier ist jemand, der ein echter Opponent war/Kommandant Che Guevara […] Er liebte sein
Land und war bereit, sich für sein Volk zu opfern.“ (N‘Dèye Kassé, Ché Guévara 2003)
Auch im ivorischen Reggae finden sich Lobpreislieder wie zum Beispiel Alpha
Blondys Journalistes en danger (1999), bei dem der ermordete Journalist Norbert
Zongo aus Burkina Faso besungen wird. In vielen Fällen verbindet sich das Lob-
preislied mit dem religiösen Lied, wie es Tiken Jah Fakoly oder Daddy Bibson
exemplarisch vorführen:
„Kommt mit mir zu Gott Lâ illaha illalah/Lasst uns zu Gott gehen Lâ illaha illalah/Lasst uns
zu Gott umkehren Lâ illaha illalah.“ (Tiken Jah Fakoly, Missiri 2002)

Überall sehe ich den Namen Gottes […] Ich habe mich an die Worte Moses auf dem Berg
Sinai erinnert/Gott, ich möchte dein Angesicht sehen/Ruf das Feuer, oh Mose/Ich beglaubige
deine Einheit/Lâ illaha illalah, lâ illaha illalah .“ (Daddy Bibson, Baye 2001)
Die westafrikanische Musiklandschaft besitzt auch ein unendliches Reservoir an
Liebesliedern. Alpha Blondy hat mehrmals – so mit Maïmouna (1998) – bewiesen,
dass er auch dieses Genre beherrscht. Die Dakarer Hip-Hopper stehen ihm dies
bezüglich nicht nach, wobei die Mehrheit ihrer Liebeslieder zum Klagelied tendiert.
Positive Black Souls Boul falé (1994) kann als das enigmatische Gründungslied des
Seneraps angesehen werden. Es klagt u.a. die Untreue einer jungen Frau an und
begründet damit einen Topos, der bereitwillig von FlammJ bis Pacotille reproduziert
wird:
„Die Frau von heute ist nichts wert/Wegen Geld schmeichelt sie dir, frisst dich auf, wird dein
Sklave/Die Zeiten der Liebe sind vorüber/Wenn du nichts hast, wirst du nicht geliebt/Die
Mädchen begehren dich nur im Reichtum.“ (FlamJ, Goor et Jiguéne 2001)

„Du warst meine Quelle der Eingebung, meine einzige Sorge, mein einziges Ziel […] I‘m sor-
ry, aber ich habe niemals den unendlichen Wert, den du für mich hast, versteckt/Darüber hin-
aus hast du dich geirrt, den Knoten, der uns verband, zu lösen/Du warst immer nur falsch.“
(Pacotille, Bul saalit 2002).13
Im Mbalax tritt an die Stelle von Anklage, Empfindsamkeit, Wut und manchmal
selbst Sexismus eher die Artikulation romantischer Emotionen und sehnsüchtigen
Duldens:
376 Frank Wittmann
„Ich weiß nicht, was die Wunde in deinem Herzen verursacht hat/Und eine Herzenswunde ist
nicht leicht zu heilen/Manchmal höre ich die Schläge ihres Herzens […] In Wahrheit bist du
Tag und Nacht für mich […] He du, komm‘ und zeige mir den rechten Weg […] Lieben ist
schwer, Lieben ist gut.“ (Youssou N‘Dour, Beugueunte 1994)

„Mein Bruder, du, der mich glücklich macht, den ich liebe und mit dem ich mich so gut ver-
stehe – antworte mir/Wenn du eine Person nicht liebst, lass sie nicht leiden.“ (N‘Dèye Kassé,
Sa Ndagarwalé 2003)
Darüber hinaus verstehen sich einige Mbalaxsänger wie Mbaye Dièye Faye in
Songa Ma (2002) oder Coumba Gawlo Seck in Ma yeur li nga yoor (2002) auf ein
gewagtes wie anzügliches Spiel um Liebe und Sexualität:
„Kann ich sehen, was du da hast?/Zeig mir, was du verbirgst/Das, was man nicht sehen soll.“
(Coumba Gawlo Seck, Ma yeur li nga yoor 2002)
Das charmante Spiel der Mehrdeutigkeit ist ein Zeichen dafür, dass die Künstlerin
eine „Beziehung der Verführung“ mit ihren Hörern unterhält.14 Indem sich der Text
um polyseme Wörter dreht, wird die Interpretation dem Publikum überlassen:
„Man darf nicht vergessen, dass ich eine Künstlerin bin. […] Im Rahmen meiner Kunst, muss
ich mich mit Strategien durchsetzen. […] Es ist richtig, dass es für eine junge Frau nicht
selbstverständlich ist, gewisse Sachen zu sagen, weil sie mit zu vielen Vorurteilen behaftet
sind. Ich sage nichts Schlechtes oder Schockierendes“ (Seck 2003: 36).
Die gewählte Strategie höhlt bisherige Moralkonventionen aus, ohne direkt mit
ihnen in Konfrontation zu gehen. Dieses Spiel ist im Rahmen einer sozialen Ent-
wicklung gesehen, die von einigen Akteuren als bedenklich beurteilt wird: „Die
senegalesische Gesellschaft ist heute in einer ‚gefährlichen‘ sexuellen Revolution.
Sex verkauft sich“ (Ndoye 2003:147).

6 Hybridität und Transkulturalität

Es sollte deutlich geworden sein, dass sich die Texte der drei behandelten populären
Musikstile aus demselben thematischen Reservoir speisen. Lobpreis- und Liebeslie-
der finden sich in Hip-Hop, Mbalax und Reggae genauso wie sozial-politisches
Engagement. Auch wenn den verschiedenen Stilen nach wie vor gewisse Spezifika
bleiben, hat sich im Verlauf der letzten 10 Jahre die Tendenz zur thematischen
Hybridität verstärkt. Aus diesem Grund ist die vom senegalesischen Hip-Hop
geführte Mbalaxpolemik kaum haltbar. Einerseits ist einer ganzen Reihe von Mba-
laxsängern ein pädagogischer Impetus eigen, andererseits singen auch die ‚harten‘
Rapper gelegentlich gerne ein religiöses Lobpreislied oder einen seichten Liebes-
song.
Neben der thematischen Hybridität hat sich in den letzten Jahren auch die Ver-
mischung der Musikstile verstärkt. Zeichen dafür sind Alpha Blondys Reggaesongs
Wari und Zoukefiez moi ça (beide 2002), die mit Versatzstücken aus Hip-Hop und
Zouk spielen. Und in Senegambia loten mehrere Gemeinschaftsprojekte die Verträg-
Globalisierung, Gewalt und Identität 377

lichkeit unterschiedlicher Musikstile aus. So haben Pacotille und Baba Maal 2003
das Stück Taxi Bu Rousse aus den Stilen Yéla und Hip-Hop aufgenommen, Viviane
und der Kapverdier Philip Monteiro kreierten mit ihrem Duett Amor (2002) den
Zouk-Mbalax und Omar Pène schrieb mit L‘An 2000 (1999) die lange Tradition des
Salsa-Mbalax fort. Experimente zur Fusion der Jugendkulturbewegungen Set Setal
(Mbalax) und Bul faale (HipHop) gibt es unzählige. Das bislang ambitionierteste
Unternehmen ist die CD Viviane N‘Dour and friends (2004), auf der Vivane alle
neun Lieder im Duett mit einem anderen Rapper singt.
Diese in den letzten Jahren zunehmende Hybridität sollte aber nicht den Blick
dafür verstellen, dass die Evolution der besprochenen Weltmusikstile nicht ohne die
Berücksichtigung des langen Austauschprozesses zwischen Afrika, Amerika und
Europa zu begreifen sind:
„Die meisten Menschen wissen, dass Jazz, Blues und lateinamerikanische Musik teilweise aus
Afrika kommen, aber sie wissen nicht, dass diese Tanzstile nicht nur nach Afrika zurückgetra-
gen wurden, wo sie Eingang in die lokale Musik fanden, sondern dass diese lokalen Mischun-
gen wiederum den Atlantik überquerten.“ (Collins 1992: 286)
Die verschiedenen Formen von Hybridität (instrumentell, rhythmisch, stilistisch
oder thematisch) sind nicht ein Merkmal der letzten 15 Jahre, sondern ein Phänomen
von longue durée. Dies kann beispielhaft am (Roots) Reggae eingesehen werden,
der musikalisch auf karibische Stile wie Calypso, Mento, Rocksteady und Ska und
inhaltlich auf das Themeninventar des Gospel und der evangelistischen Predigten
Nordamerikas zurückgeht. Die karibischen Stile sind wiederum mit Rythm ‘n‘ Blues
und Soul verwandet, die ihre Wurzeln in Afrika haben. Der jamaikanische Reggae
hat im Zuge seiner Internationalisierung auch regionale Spezifika aufgenommen.
Dazu haben Sänger wie Alpha Blondy (Côte d‘Ivoire), Sonny Okosun (Nigeria),
Linton Kwesi Johnson oder UB40 (beide England) beigetragen. Bei Linton Kwesi
Johnsons ‚Dub Poetry‘ handelt es sich dabei um einen im jamaikanischen Kreol vor-
getragenen Reggae-Rhythmus, „der zwar ausserhalb Jamaikas entstanden ist, aber
erst seine echte Wirkung zeigte, als er ‚nach Hause‘ kam“ (Bradley 2003: 381). Dies
ist nur ein weiteres Beispiel dafür, dass Reggae wie auch die anderen westafrikani-
schen Musikstile den „Prozess vielfältiger Interaktion“ (Mattelart 1999: 237) zwi-
schen dem Globalen und dem Lokalen fortschreiben. So verstanden, macht auch der
Begriff Weltmusik Sinn. Denn er umgeht
„die Gefahr, dass man sich völlig einer deterministischen Konzeption verschreibt, wo das
Internationale zum Imperativ wird, während am entgegengesetzten Pol die ausschließliche
Begrenzung auf den lokalen Bereich auf kürzestem Weg zum Relativismus führt.“ (Mattelart
1999: 258)

7 Weltmusik zwischen Demokratie und Kriegstrommel

Cornelia Panzacchi nennt plausible indogene und exogene Faktoren für die Poli-
tisierung der westafrikanischen Musik, der Teil dieser weiter reichenden Hybridität
378 Frank Wittmann

ist. Die bereits vorhandene lokale Tradition des Spottliedgenres wird unter Einfluss
von sozialpolitischen Tendenzen in der euro-amerikanischen Musik sowie den
Erwartungen des kommerziell lukrativen Weltmusikpublikums verstärkt. Meiner
Meinung nach lässt sich die Hybridität allerdings nur verstehen, wenn neben diesen
bereits genannten Gründen zusätzlich auch der soziale Wandel in Westafrika mitein-
bezogen wird. Musikalische Inhalte haben ihr kritisches Potenzial nämlich erst dann
voll ausschöpfen können, als ihnen ein ausreichend großes und vielfältiges Forum
offen stand. Bis Anfang der 1990er Jahre war dies durch das staatliche Informations-
monopol aber gar nicht der Fall. Das Ende des Kalten Krieges und der damit ver-
bundenen polaren Weltordnung wurde in Afrika von einem Demokratisierungsschub
abgelöst. Auch wenn sich viele Hoffnungen angesichts der politischen Instabilität
(Körner/Mehler 2003) oder der ökonomischen Krise unterdessen zerschlagen haben,
haben der öffentliche Politdiskurs und die Liberalisierung der Massenmedien zuge-
nommen. Für die Populärmusik war die Konzessionierung von privaten UKW-Stati-
onen von entscheidender Bedeutung. Seit Länder wie Côte d‘Ivoire, Ghana oder
Senegal über ein ansehnliches Radiosenderangebot verfügen, hat sich nicht nur die
Quantität der gespielten Musik exponenziell erhöht, sondern auch die Qualität im
Sinne einer Pluralisierung. Selbst marginale Musikstile haben ihre Programme und
provokative Lieder finden auf Spartensendern eine Plattform. Die Möglichkeit, sich
mit Textinhalten direkt an die Bevölkerung zu wenden, hat dazu geführt, dass die
Gruppen ihren Inhalten eine erhöhte Aufmerksamkeit entgegen bringen und ihre
Musik als alternatives Kommunikationsinstrument nutzen.
Die erhöhte gesellschaftliche Relevanz der westafrikanischen Musik führt auf
der anderen Seite aber auch zu einer Spirale der Gewalt und Selbstjustiz. Dabei sind
die Gewalt von Jugendlichen und die Gewalt von politischen Kreisen zu unterschei-
den. Für die Gewalt von politischen Kreisen lassen sich eine ganze Reihe von Bei-
spielen anführen. So haben im Zuge der Unruhen im Herbst 2002 ivorische Sicher-
heitskräfte dem Haus von Tiken Jah Fakoly einen Besuch abgestattet und sich nach
der Anwesenheit des Reggaemusikers erkundigt. Seither lebt er im Exil in Burkina
Faso und Mali. Auch Alpha Blondy hat schon mit Morddrohungen leben müssen
(Dépry 1999). In Senegal hat die Popularität des Mbalax den Oppositionspolitiker
und Generalsekretär der Alliance Jëf-Jël, Talla Sylla, auf die Idee gebracht, seine
politischen Inhalte in Form dieses Musikstils der Bevölkerung vorzutragen. In den
Präsidentschaftswahlen 2000 hatte Jëf-Jël zwar die Koalition von Abdoulaye Wade
unterstützt und zum Fall der 40jährigen Vorherrschaft der Parti Socialiste beigetra-
gen, es aber später als einzige Partei abgelehnt, in die Regierung einzutreten. Seither
verfechtet Jëf-Jël einen hartnäckigen Oppositionskurs, wobei Talla Sylla dazu
immer wieder die Medien einspannt – beispielsweise durch die Publikation von
offenen Briefen in der Dakarer Presse. Im Sommer 2003 brachte er nun eine Kas-
sette mit dem Lied Abal Niou (sinngemäss ‚Mach dich davon‘ oder ‚Entferne dich
von dort‘) heraus, die auf den informellen Märkten der Hauptstadt Dakar vertrieben
wurde.15 Damit kein Missverständnis über den Adressaten des Liedes aufkommen
konnte, war auf dem Cover der Kassette eine Silhouette abgebildet. Zur Umgehung
eines Werbeverbotes für Staatspräsidenten, hatte Wades Partei PDS in den Parla-
Globalisierung, Gewalt und Identität 379

mentswahlen 2002 eine Silhouette ihres Parteichefs auf den Werbeplakaten abgebil-
det. Dieser Zusammenhang machte nun eindeutig erkennbar, wer in dem Lied ange-
sprochen war, ohne dass Talla Sylla seinen politischen Kontrahenten je explizit
erwähnt hätte. Kurz Zeit nach Veröffentlichung der skandalösen Kassette, wurde
Sylla Opfer eines gewalttätigen Überfalls, bei dem er nur knapp mit dem Leben
davonkam. Die Täter schlugen am 5. Oktober 2003 mit Hämmern auf ihr Opfer ein,
das gerade aus dem Restaurant Le Régal im Dakarer Stadtteil Fenêtre Mermoz trat.
Schaulustige wurden mit Pistolenschüssen vertrieben.
Die Gewalt von Jugendlichen ist im Kontext der Straßenkultur zu situieren.
Soziologen wie Momar-Coumba Diop und Ousseynou Faye (2002: 700f.) sowie
Tshikala Biaya (2000: 28) gelangen einhellig zum Ergebnis, dass die Gewalt in den
Straßen afrikanischer Metropolen steigt und sich dies auch in der Musikszene im
Allgemeinen und in den Liedtexten im Besonderen wiederspiegelt:
„Seit einiger Zeit ist der senegalesische Rap dabei, in eine Phase der Gewalt einzutreten;
besonders von Seiten einiger Rapper, aber auch von Seiten Jugendlicher, die sich betroffen
fühlen“ (Teuw 2000)16
Der berühmteste Fall betraf die Hip-Hop-Formation WA BMG 44, die in ihren Lie-
dern immer wieder die Trennung von Politik und Religion fordern und damit die
Macht der Marabouts anfechten. Im Jahr 2000 trugen die Rapper Verletzungen von
einem Überfall davon, deren Urheber im Lager der muslimischen Bruderschaft der
Mouriden vermutet werden. Sie reagieren häufig besonders empfindlich auf politi-
sche Kritik.

8 Ausblick

Diese Beispiele verdeutlichen, dass die Globalisierung zu tief greifenden politi-


schen, ökonomischen und sozialen Veränderungen in Westafrika geführt hat. An
dem Demokratisierungsschub haben die liberalisierten Massenmedien einen wesent-
lichen Anteil und auch die lokale Musikindustrie konnte von der Politisierung profi-
tieren. Wie die gewalttätigen Überfälle allerdings zeigen, tun sich Teile der politi-
schen Klasse wie auch der Bevölkerung schwer damit, den Gebrauch der Meinungs-
freiheit zu tolerieren. Angesichts des Nexus von Globalisierung und Gewalt bringt
Tiken Jah Fakoly mit seinem Lied L‘Afrique en a marre (2002) die Stimmung in der
westafrikanischen Gesellschaft auf den Punkt.17
Welche Konsequenzen zieht dieser Befund für die Cultural Studies nach sich?
Der politische Umbruch von 1989, das Erstarken des Neoliberalismus und die kul-
turellen Reibungen in der Folge des 11. Septembers 2001 stellen die Cultural Stu-
dies vor neue Herausforderungen, da sich ihre Basisdifferenzen geändert haben. So
ist der Rassismusdiskurs dabei, sich in Richtung religiöse Zugehörigkeit zu ver-
schieben, und die Dichotomie von E- und U-Kultur ist auf ihre traditionelle Weise
nicht mehr haltbar. Um den aktuellen geopolitischen Veränderungen und ihren kul-
turellen Implikationen Schritt zu halten, fordern die in Paris lehrenden Sozialwissen-
380 Frank Wittmann

schaftler Armand Mattelart und Eric Neveu die Cultural Studies auf, die sich „stän-
dig verschiebenden Linien und Grenzen der Disziplinen“ (2003: 109) nicht einfach
hinzunehmen, sondern verstärkt die wissenschaftlichen Rekonfigurationen voranzu-
treiben. Die Cultural Studies sollten sich also nicht mit ihrer steigenden Institutiona-
lisierung zufrieden geben und ihre Basistheoreme endlos wiederholen. Stattdessen
gehe es darum, das grundsätzlich nach wie vor geeignete Forschungsinstru-
mentarium an die kulturellen und sozialen Entwicklungen anzupassen. Um der poli-
tischen Aktualität und sozialen Relevanz willen sei die Beschäftigung mit der Glo-
balisierung voranzutreiben. Darunter versteht Mattelart einen internationalen Ver-
netzungsprozess, der sich zwar seit 1989 verstärkt habe, der aber ein Phänomen der
longue durée sei und dem die Wissenschaften mit „einer transnationalen Sicht von
Kultur“ (1999: 237) begegnen sollten. In diesem Forschungsbereich kann Mattelart
für sich in Anspruch nehmen, gemeinsam mit Wissenschaftlern wie Arjun Appa-
durai, Roland Robertson oder Immanuel Wallerstein bereits frühzeitig den Boden
für zukünftige Studien bereitet zu haben.

Anmerkungen

1 Ich danke Craig Naumann für seine wertvollen Anregungen zu diesem Artikel sowie
Mass N‘Diaye und Khalifa Sidibe für ihre Liedübersetzungen.
2 Von dieser Kritik seien unter anderem Jules Bagalwa-Mapatano (2004); John Collins
(1992); Steve Feld (2000) und Timothy D. Taylor (1997) ausdrücklich ausgenommen.
3 Nimmt man die Programme öffentlich-rechtlicher Fernsehanstalten, das Spektrum von
Zeitungsfeuilletons oder Theaterspielplänen zum Massstab, kann ernsthafter Weise heute
nicht mehr von einer Diskriminierung der Populärkultur in Europa gesprochen werden.
4 Dies ist auch der Grund, weshalb der Begriff ‚populär‘ oder das Präfix ‚Pop-‘ hier nicht
als Komplement zu ‚elitär‘ oder ‚klassisch‘ verwendet wird.
5 Das offizielle Jamaika wirbt bereits seit den 1960er Jahren mit der heimischen Musik und
die Länder Westafrikas haben spätestens in den 1980er Jahren begonnen, die lokale
Musikszene für die Tourismuswerbung einzuspannen.
6 Reggaeton ist eine auf Kuba entstandene Mischung aus den Stilen Reggae, Hip-Hop und
Salsa. Die im Augenblick populärste Reggaeton-Gruppe ist Cubanito 20.02.
7 Mit Zouk-Rap ist ein Rap gemeint, der auf Zoukrhythmen gesprochen wird (eine hoff-
nungsvolle Gruppe ist beispielsweise Dramas). Zouk ist ein auf den Kleinen Antillen ent-
standener Musikstil und Paartanz, der auch auf den Inseln Kap Verden, La Réunion und
Mauritius sowie auf in Brasilien, Côte d‘Ivoire und Guinea-Bissau Eingang gefunden hat.
Das weltweit wichtigste Kompositions- und Produktionszentrum liegt in Paris. Weltweite
Hits waren beispielsweise Se pa poudar (2002) von Alan Cave oder Zouk-la-se sel medi-
kaman nou ni (1984) von Kassav.
8 Die verschiedenen möglichen Formalobjekte von Musikstudien und die adäquaten metho-
dischen Zugangsweisen sind Gegenstand vieler Publikationen. An dieser Stelle sei vor
allem der Sammelband von Clayton et al. (2003) herausgehoben.
9 In Agawu (2003) wird die afrikanistische Ethnomusikologie kritisch hinterfragt.
10 Der Popularitätsgewinn des westafrikanischen Hip-Hops ist weder der Entwick-
lungszusammenarbeit noch der internationalen Forschungsgemeinschaft verborgen geblie-
ben. Siehe: Auzanneau (2003); Barlet (1999); Benga (2002); Kimminich (2003 und
2004); Havard (2001) und Wittmann (2004).
Globalisierung, Gewalt und Identität 381
11 Während Viviane N‘Dour zu den erfolgreichsten Sängerinnen des Landes gehört, ist Aida
Patra eine berühmt-berüchtigte Moderatorin des Radiosenders Soxna FM. Ihre Musiksen-
dungen wurden eine Zeit lang live im Fernsehen übertragen und unterdessen ist selbst
eine DVD erhältlich. Die beiden Frauen liefern regelmäßig Gesprächsstoff für die lokale
Boulevardpresse.
12 Im Jargon der sich auf das Alte Testament berufenden Rastas steht Babylon als Metapher
„für die die gottlose abendländische Welt und deren Kultur sowie noch spezieller für jene,
die sie konkret durchsetzt – die Polizei“ (Bradley 2003: 69). Babylon ist seit den Anfän-
gen des Reggaes die beliebteste Metapher überhaupt und wurde durch den Hit Rivers of
Babylon von den Melodians (1969) bzw. durch die Coverversion von Boney M. (1978)
weltweit bekannt. Auch der Widerstand gegen die Polizei ist heute noch aktuell wie
Anthony B.‘s Raggasong Police (2002) eindrucksvoll zeigt.
13 In dem gemeinsam mit Viviane gesungenen Duett lässt sich der Hip-Hopper im Refrain
von der Mbalaxsängerin trösten.
14 Die Journalistin Saphie K. Ly (Sud Quotidien) in einem unpublizierten Interview mit dem
Verfasser im Mai 2003.
15 Die Kassette macht keine Angaben über das Produktionsstudio, den Vertrieb oder die
Musiker. Allerdings ist bekannt geworden, dass Angestellte des staatlichen Théâtre Nati-
onal Daniel Sorano musikalisches und technisches Material an Talla Sylla für die Produk-
tion ausgeliehen haben. Sie wurden umgehend entlassen.
16 Das Phänomen eines senegalesischen Gangstarap schliesst nahtlos an den nordamerikani-
schen Rap an: „Die Mediengeschichte des Rap ist eine durch Gewalt gezeichnete
Geschichte“ (Shusterman 2004: 3). Damit ist vor allem an die gewalttägigen Auseinan-
dersetzungen zwischen dem East- und dem Westcoastrap angespielt, die 1996/1997 in den
Morden an den Rappern 2Pac und Notorious B.I.G. kulminierten.
17 Übersetzung: Afrika hat genug davon oder Afrika reicht es.

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Ethnografie von Jugendszenen am Beispiel einer Studie zur
Welt der Gothics

Klaus Neumann-Braun & Axel Schmidt

1 Vorbemerkung

Menschen kommunizieren Sinn, indem sie alltägliche Gegenstände und Handlungen


in ein komplexes Netz aus funktionalen und semiotischen Bezügen stellen. Bemer-
kenswert scheinen homonymische Relationen: Warum gilt ‚Hände waschen‘ einmal
als instrumentelle Handlung im Dienste der Hygiene und ein anderes Mal als rituel-
ler Vollzug zum Zwecke der Katharsis? Was hat es damit auf sich, dass geometri-
sche Figuren (wie das Kreuz) das Numinose verkörpern? Ohne Genese und Seman-
tik solcher Relationen en detail klären zu können, verweist ihr Vorhandensein
zumindest auf eine hierarchische Struktur innerhalb sinnstrukturierter Welten:
Neben instrumentellen und kommunikativen Gegenständen und Handlungen, die
ihrer selbst Willen vollzogen werden (etwa Holz hacken) oder zum Zwecke der
Intersubjektivierung von Alltag (Kommunikation), vermögen magische und rituelle
Gegenstände und Praktiken das Hier und Jetzt des Alltags zu transzendieren. Ihr
Potenzial, Alltäglichkeit in Außeralltäglichkeit zu überführen, soll im Folgenden den
Ansatzpunkt darstellen.

2 Magie und Religion

Seit alters her streben Menschen danach, ihrem profanen Dasein einen höhersymbo-
lischen Sinn zu verleihen und ihr Streben und Wollen auf moralische und überindi-
viduelle Letztbegründungen zu stützen. Dies erforderte mehr oder weniger kollek-
tive Muster der Welterklärung und -deutung, die grundsätzlich auf anti-rationalisti-
sche Vorstellungen rekurrier(t)en. Solche universellen und zeitlosen Weltanschauun-
gen stell(t)en traditionellerweise religiöse und magische Systeme zur Verfügung.
Nach Durkheim (1981) geht mit der Entstehung von Religion die grundsätzliche
Unterscheidung von sakralen und profanen Dingen einher. Diese Differenz ist in der
absoluten Andersartigkeit dieser beiden Welten begründet, welche für Durkheim vor
allem in den Ge- und Verbotsregeln gegenüber dem Heiligen ihren Ausdruck findet
384 Klaus Neumann-Braun & Axel Schmidt

(vgl. ebd.: 67). Im Unterschied zur Magie ist Religion auf die Elemente der ‚kollek-
tiven Moral‘ und der ‚kirchlichen Gemeinschaft‘ angewiesen:
„Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf
heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die
in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr
angehören.“ (Durkheim 1981: 75)
Ausgehend davon, besteht Durkheims Kernthese in der Auffassung, dass Göttlich-
keit als „symbolisch gedachte Gesellschaft“ (1976: 105) zu begreifen ist, die eine
komplexere moralische Wirklichkeit besitzt als die einzelnen Individuen.
Marcel Mauss (1989) weitet die Differenz zwischen Magie und Religion aus,
indem er darauf verweist, dass der magische Ritus – im Gegensatz zum religiösen –
nicht nur nicht auf Pflichterfüllung und Unterwerfung gegenüber einer verehrten
Gottheit angelegt ist (Opfermotiv), sondern als Versuch der zweckhaften Beeinflus-
sung (Behexungsmotiv) auch immer ‚gegenkulturelle‘ Züge trägt. So setzt Mauss
die Magie in Opposition zur Religion:
„Diese verschiedenen Zeichen [die Verborgenheit und Abgeschottetheit der Magie; Anm. d.
Verf.] drücken in Wirklichkeit nur die Irreligiosität des magischen Ritus aus, er ist anti-reli-
giös und man will, dass er es ist. […] Notwendigkeit, aber nicht moralische Verpflichtung
macht sich geltend, wenn auf den Medizinmann, den Besitzer des Fetisches oder des Geistes,
den Heilpraktiker oder den Magier zurückgegriffen wird.“ (Mauss 1989: 57)
In der (post-)modernen Kultur spielt diese der Magie traditionell zugewiesene ver-
botene ‚Nischenrolle‘ eine ebenso große Bedeutung wie der Umstand ihrer Unab-
hängigkeit von moralisch verpflichtenden Deutungssystemen. Die damit einherge-
hende Möglichkeit individueller und fakultativer (im Gegensatz zu obligatorischer)
Ausgestaltung und ‚Anwendung‘ verweist auf das der Magie inhärente Potenzial,
Individuen (spirituelle) Wirkmächtigkeit zu verleihen. Während magische Systeme
erweiterbar, offen für neue Einflüsse und individuell flexibel ‚verwendbar‘ sind, stel-
len religiöse Systeme absolute Ansprüche: Sie standen immer schon und stehen auch
heute noch mit allen anderen Formen transzendenter Erklärungssysteme in Konkur-
renz um die herrschende, ‚richtige‘ Weltdeutung. Die Machtverhältnisse waren
dabei klar abgesteckt: Historisch verdrängten bzw. unterdrückten institutionalisierte
und kollektiv verpflichtende Deutungssysteme magische Praktiken und Erklärungs-
muster (was sich in Begriffen wie ‚Hexerei‘, ‚Ketzerei‘, ‚Heidentum‘, ‚Häresie‘,
‚Blasphemie‘ etc. manifestierte). Im Zuge der Kanonisierung, Kodifizierung und
Institutionalisierung religiösen Sinns entstand ein professionalisiertes Personal
(Priester, Pfarrer) für Glaubens- und Weltdeutungsfragen. Der Gläubige wurde zum
Laien und war auf den vermittelnden Experten angewiesen, um Zugang zur herr-
schenden religiösen Wahrheit zu erhalten.
Ethnografie von Jugendszenen am Beispiel einer Studie zur Welt der Gothics 385

3 Ent-Zauberung und Wieder-Verzauberung

Dass sich die Verteidigung und Aufrechterhaltung eines solchen (Welt-)Deutungs-


monopols historisch alles andere als unproblematisch gestaltete, spätestens seit der
Epoche der Aufklärung ins Wanken geriet und schließlich im Zuge der Moderne
vollends zusammenbrach, ist als Säkularisierungsprozess hinlänglich beschrieben
worden. Beides – die Konkurrenz durch weltlich-diesseitige Deutungssysteme
(etwa: politische und philosophische Ideologien, wissenschaftliche Welterklärungen
etc.), die nun gleichberechtigt mit religiösen Systemen um die Vorherrschaft auf
dem Markt der Sinngebote wetteiferten und die Individuen, die nun eine Wahl zwi-
schen alternativen Deutungssystemen hatten – nährte einen Prozess zunehmender
Rationalisierung und Entzauberung, der auch vor der (christlichen) Religion nicht
Halt machte. Angesichts der Durchsetzung und Vorherrschaft rationaler, auf die
diesseitige Lebensführung zielender Elemente in der christlichen Religion selbst,
diagnostizierte Weber insgesamt eine Verdiesseitigung und Individualisierung der
Religion (v.a. im Protestantismus) im Zuge eines weltgeschichtlichen Rationa-
lisierungsprozesses (im Okzident), der innerreligiös zu einem Abbau der Magie und
einer Entzauberung religiöser Heilssuche führt (vgl. Weber 1991).
Weltgeschichtliche und innerreligiöse Entzauberung führ(t)en dazu, dass sich
Formen diffuser Religiosität bzw. unsichtbarer Religion (Luckmann 1991) verbrei-
te(te)n. Und nicht nur das: Im Zuge eines solchen weltgeschichtlichen Rationa-
lisierungsprozesses, dessen ‚Kollateralschäden‘ unter Stichworten wie „Entzau-
berung der Welt“ (Weber 1991), „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas
1981) oder „Dialektik der Aufklärung“ (Adorno/Horkheimer 1985) ihren moder-
nisierungskritischen Ausdruck finden, entsteht das Bedürfnis nach ‚Wiederverzau-
berung‘ oder Resakralisierung (post-)modernen Lebens. Damit zusammenhängende
Sehnsüchte und Suchbewegungen nach (Ur-)Gemeinschaften (‚Retribalisierung‘),
nach kollektiver Sicherheit und universellen Werten sind ihrer Tendenz nach ‚rück-
wärtsgewandt‘, also ‚entmodernisierend‘ bzw. gegenmodern. Sie spiegeln sympto-
matisch das Dilemma wider, das allen Versuchen anhaftet, in modernisierten, sich
auf die Individualität des Einzelnen stützenden Lebenszusammenhängen, ‚vormo-
derne‘ Ordnungsformen wiederherzustellen. Soll heißen: Der historische Prozess ist
irreversibel, und alle gegenmodernen Lebens- bzw. Vergemeinschaftungsformen
müssen einen enorm hohen Aufwand betreiben, um sich als abgegrenzte Einheit in
einer (post-)modernen Umwelt behaupten zu können. Das heißt auch: Alle prinzi-
piell rückwärts gerichteten Suchbewegungen erfordern notwendigerweise reflexive
Wahl- und Entscheidungsprozesse und bedürfen deshalb eines aktiven Wieder-Her-
stellungsprozesses durch den Einzelnen, da der ‚natürliche Urzustand‘ unwieder-
bringlich verloren ist bzw. sowieso bloß als Mythos existiert. Als paradoxe Grundfi-
gur (post-)moderner Suchbewegungen lässt sich ein doppelter Widerspruch festhal-
ten: Die zunehmende Inkongruenz von gruppen- und/oder individuumsspezifischen
386 Klaus Neumann-Braun & Axel Schmidt

Deutungsmustern und Lebensstilen mit gesamtgesellschaftlichen Anforderungen


und Funktionszuschreibungen einerseits sowie das Zurückgeworfen-Sein des Ein-
zelnen auf sich selbst innerhalb seiner Suche nach umfassenderen, die moderne
Gesellschaft transzendierenden Weltdeutungen und Sinnhorizonten andererseits.
Beide Suchbewegungen – Wiedervergemeinschaftung und -verzauberung – können
also als Reaktionen auf die Auflösung religiös fundierter Großkollektive begriffen
werden, was es mit sich bringt, dass Restituierungsprozesse nicht gesamtgesell-
schaftlich erfolgen (können), sondern sich gruppenspezifisch ereignen. Der dadurch
in Gang gesetzte Wertepluralismus (kulturpessimistisch: Sinnkrise) produziert viel-
fältige, i.w.S. auf Religion rekurrierende Bewältigungsformen.

4 Schaffung magischer Spielräume durch (Körper-)Ästhetik und Stil

Das Phänomen ‚Gothic‘ kann als eine Spielart (post-)moderner Bemühungen um


Wieder-Verzauberung und -Vergemeinschaftung angesehen werden. Dies manifes-
tiert sich im subkulturellen Stil der Szene. Subkulturelle Stile können verstanden
werden als eine intensive (die Zeichen sind auffällig und u.U. irreversibel, etwa Tat-
toos) und extensive (sie umfasst nahezu das gesamte Alltagsleben) sowie absichtvoll
gegenkulturelle Ausdrucksform. Stil konstituiert hier eine Kultur, eine eigene Welt
und ist damit mehr als Mode; insofern lässt sich behaupten, dass die subkulturelle
Ästhetisierung und Stilisierung des Körpers Hand in Hand geht mit einem Lebens-
gefühl, das dadurch seinen Ausdruck findet, gewissermaßen im Stil verobjektiviert
wird. Obwohl dem Gothic-Stil daher die Funktion zukommt, auf eine bestimmte
Innerlichkeit und Disposivität zu verweisen, entpuppt sich dieses vermeintlich
Bestimmte jedoch als ein diffuser Spielraum: Oft spielt es keine Rolle, welche kon-
krete Einstellung die einzelnen Szenemitglieder zu einem Thema haben, ob sie an
etwas Bestimmtes glauben oder nicht, in welchem Ausmaß sie ihr Leben und ihren
Alltag danach ausrichten, sondern vielmehr, dass sie sich überhaupt damit befassen
und eine möglichst originelle, abseitige und individuelle Sicht und ‚authentisch‘
daran geknüpfte Ausdrucksformen entwickeln.
Die häufig erwähnte, werthaltige Kategorie des Inhalts scheint synonymisch für
‚Religion‘ bzw. für alle kulturellen Hervorbringungen zu stehen, die sich auf mitt-
lere und v.a. ‚große Transzendenzen‘ beziehen lassen (u.a. etwa Psychologie
(Intersubjektivität), Psychoanalyse (Träume, Unterbewusstes), Esoterik (Übersinnli-
ches, Metaphysisches) etc.). Da Religion die kulturell überlieferte prototypische
Form der Prozessierung transzendenter Fragen darstellt, steht sie zunächst in ihrer
rein formalen Funktion, nämlich Angebote für die Vermittlung von Transzendenz
und Immanenz zur Verfügung zu stellen, in der Szene im Vordergrund. Einheitsstif-
tend ist also zunächst die Tatsache, dass man sich überhaupt mit Religion und
Lebenssinnfragen auseinandersetzt und weiterhin der Umstand, dass dies in offener,
nicht verpflichtender Weise geschieht. Inhaltlich enggeführt wird die Bezugnahme
auf Religion allerdings durch die spezifische Symbolpolitik der Szene, die – grob
Ethnografie von Jugendszenen am Beispiel einer Studie zur Welt der Gothics 387

gesprochen – oppositionell-gegenkulturelle Tendenzen vornehmlich in ästhetisch-


stilistischer Art und Weise zum Ausdruck bringt. So kann die eigentümliche Ver-
quickung traditioneller, religiös aufgeladener Symbole (etwa das christliche Kreuz)
bzw. Sinnfragmente epochaler Deutungssysteme (etwa die Betonung des subjekti-
ven Gefühlserlebnisses der Romantik) mit tabuisierten und/oder gesellschaftlich ver-
pönten und/oder Angst besetzten Sinnbereichen andererseits (etwa Pornografie/Feti-
schismus/Perversion, Tod, Satanismus/Okkultismus/Opferritualismus, als gefährlich
und destruktiv geltende Kulte (etwa Voodoo, Hexenzauber und sonstige magisch-
okkulte Praktiken naturreligiöser oder heidnischer Glaubensrichtungen) etc.) als das
durchgehende Merkmal des Phänomens ‚Gothic‘ begriffen werden. Kurz: Dass sich
die Szene trotz ihrer betonten Offenheit und Wertschätzung der Individualität jedes
Einzelnen als Einheit verstehen kann, ist sichergestellt durch die Spezifität ihrer
Symbolpolitik, die Ausdruck der Aufeinanderbezogenheit von grundlegender
Andersartigkeit und Tiefsinnigkeit ist. Entscheidend und hoch geschätzt in der
Szene sind dem zu Folge nicht festgefügte, ‚stimmige‘ oder quasi-dogmatische Deu-
tungssysteme und Ideologien, sondern vielmehr konsistente und ‚authentische‘
Lebenswege, die die intensive und zweifelnde Suche eines Einzelnen jenseits des
gesellschaftlichen ‚Mainstreams‘ zu dokumentieren vermögen. Zu diesem Zweck
werden i.w.S. religiöse Inhalte und Elemente verschiedener Glaubenssysteme in
eklektizistischer Manier re-de-kombiniert; Resultat sind mehr oder weniger ideosyn-
kratische Synkretismen und Religions-Bricolagen. Die schwarze Szene bewegt sich
dem zu Folge in einer der Postmoderne zugeschriebenen Paradoxie, nämlich in einer
‚Gemeinschaft von Individualisten‘. Verschiedenheit als Einheitsprinzip zu etablie-
ren, erzeugt das Problem, in der Verschiedenheit etwas Einheitsstiftendes zu erhal-
ten, was jedoch die regulative Idee der Individualität wiederum nicht zerstört. Diese
Aufgabe übernehmen inhaltlich nicht konkretisierbare Rahmensetzungen (einer der
Interviewten formulierte: ‚Oberflächlichkeit ist ein Tabu‘), die jeweils individuell
ausagiert werden (etwa über Selbstverwirklichungs- und -thematisierungsprozesse).
Auf diese Weise ist ein einheitlicher Rahmen geschaffen, der über den Stil angezeigt
wird und der einer je individuellen Füllung anheim gestellt ist.
Formen von Religiosität in der Gothic-Szene sind untrennbar verbunden mit
einer umfassenden Ästhetisierung, stilistischen Überformung und popmusikalischem
Ausdruck. Die Vordergründigkeit einer hoch spezialisierten und distinktiven Sym-
bolpolitik bringt es mit sich, dass ‚Gothic‘ also gerade keine ‚unsichtbare‘ (i.S.v.
beobachtbar), sondern eher eine höchst sichtbare, geradezu hyperpräsente (i.S.v.
augenfällig, evident) Form von Religiosität etabliert. Dies bedeutet zunächst, dass
eine Verlagerung von Inhalten (z.B. bestimmte Glaubenssätze und -lehren) auf die
Oberfläche bzw. den Stil stattfindet: Als Kollektiv einheitlich – und damit gemein-
schaftsstiftend – erweist sich zunächst also nicht der spezifische Inhalt, sondern die
Form bzw. der Stil, der prinzipiell damit als Super-Zeichen fungiert und darauf ver-
weist, dass die Szene und ihre Mitglieder sich mit ‚Inhalten‘ (verstanden als norma-
tive Kategorie) beschäftigen. Die Verschiebung der religiösen ‚Botschaft‘ auf
388 Klaus Neumann-Braun & Axel Schmidt

gegenkulturelle Objektivationen, kurz: auf den subkulturellen Stil der Szene erzeugt
eine enorme Polysemie und damit einen Spielraum für mannigfache Fantasien und
Identifikationen rund um das mehr oder weniger ‚düster konnotierte Transzendente‘.

5 Gotische Inszenierung des Magischen

Schaut man sich die Szene und ihre Mitglieder heute an, so erscheint die typische
schwarze Ästhetik als Abschreckung und Einladung zugleich: Kultisch-romanti-
schen Stilen steht die Mehrheit der heutigen Jugendlichen eher ablehnend gegen-
über; diese bevorzugt sportlich lässige Kleidung und gibt sich pragmatisch bis kar-
rierebewusst (vgl. Zinnecker et al. 2002). Die demonstrative Zur-Schau-Stellung von
Andersartigkeit, die Hyperpräsenz von religiösen, magischen und kultischen Ver-
weisen und die damit aufgerufenen ‚großen Transzendenzen‘ in der Gothic-Szene
(er)scheinen wie eine sperrige Tür in eine andere, sakralisierte Welt, die die Szene-
mitglieder als stilisierte Figuren selbst mit Leben füllen. Eine Typologie der schwar-
zen Bekleidung zeigt, dass die Gothics magische Zeitreisen im Crossover unterneh-
men: Zu finden ist die „Historische Retrofigur“ (Typus Ritter), die „Kinder der
Nacht“ (Typus Hexe, Magier, Vampir), die „Dark Wave“-Anhänger (Elemente:
Schwarz, Leder, Lack) sowie die „Cyberpunks“ (Elemente: Future-and-Utility-
Look, aber auch SM). Alle Typen existieren nicht nur in Reinform sondern in den
verschiedensten Crossover-Formen (zu einer Typologie der Kleidungsstile vgl.
Schmidt/Janalik 2001; für Bildbeispiele siehe Neumann-Braun/Richard/Schmidt
2003).
Im Unterschied zu anderen jugendkulturellen Stilen wie Heavy Metal, die sich
auch mit magischen Symbolen umgeben, findet bei den Gothics ein sehr differen-
zierter Umgang mit den Verbildlichungen der Magie statt, die nicht nur der Provo-
kation dienen. Die magischen und okkulten Praxen sind deshalb attraktiv, weil sie
mit einer anderen Zeit und Zivilisationsstufe verbunden sind, die Vergangenheit
enthält das uneinlösbare Versprechen zwischenmenschlicher Harmonie und Wärme.
Ihre magisch-theatralische Inszenierung ist eine Transzendierung des Alltäglichen,
die auf der Erzeugung von Bildern und Tableaus beruht. Über die Kleidung und
somit den Körper wird ein magisches Element als Störfaktor in den rational durchor-
ganisierten Alltag implementiert. Die magische Aufladung des Alltags entspringt
dem elitären Bewusstsein, mit dem Geheimwissen über Tod und Magie einen
Einblick in die dunklen Seiten des Lebens zu haben, den man anderen voraushat.
Seit den 1980er Jahren halten sich die Gothics für eine Elite, die als einzige gegen
die soziale Verdrängung des Todes arbeitet und unerfüllte Liebe, Schmerz, Einsam-
keit und Tod akzeptiert und nicht nur – wie eben in ihren Augen alle Nicht-Schwar-
zen – das Schöne und Bunte im Auge hat. Die schwarzen Gegenwelten – historisch,
magisch (märchenhaft) und technoid –, sind in ihren unterschiedlichen Modellen bis
ins Detail ausgestaltet. Die magische Oberflächenästhetik bildet eine hermetische
Ethnografie von Jugendszenen am Beispiel einer Studie zur Welt der Gothics 389

Grenze, die in einem Spannungsverhältnis zur postulierten gotisch-tiefgehenden


Nachdenklichkeit steht.

5 Das Lebensgefühl ‚Gothic‘ – die Frage nach dem Sinn des Lebens

Die Gothic-Kultur zeichnet sich ganz offensichtlich im Vergleich zu anderen


Jugendszenen v.a. dadurch aus, dass sie eine Beschäftigung mit (Lebens-)Sinn- und
Transzendenzfragen, im weitesten Sinne also eine Auseinandersetzung mit religi-
ösen Fragen, explizit in den thematischen Fokus stellt. Sowohl zentrale Überzeugun-
gen und Distinktionsbemühungen als auch typische Handlungspraktiken und stilis-
tisch-ästhetische Inszenierungsformen sind grundsätzlich auf solche Fragen bezogen
bzw. an ihnen ausgerichtet. Insbesondere eine Analyse der Selbstauskünfte über die
in der Szene verbreiteten Glaubensvorstellungen vermag einen Einblick in die spezi-
fische Form der Religiosität, die in der Szene vorherrscht, anzudeuten. Bei dieser
handelt es sich nicht um festgefügte Formen von Religion, Sektenglaube oder politi-
scher Ideologie i.e.S. (etwa Satanismus), sondern eben um eine spezifische Disposi-
tion zur Auseinandersetzung mit tiefgründigen religiösen Fragen und Themen.
Wie oben bereits angedeutet kulminieren zentrale Überzeugungen und Wertvor-
stellungen in einem spezifischen Lebensgefühl, das die schwarze Szene auszeichnet.
Dieses sehr spezielle Lebensgefühl der Szene drückt sich in einer eigenen Sicht auf
die Welt und einer daraus resultierenden andersartigen Aneignung von Welt aus.
Großer Wert wird auf den Umstand gelegt, dass die Welt ‚anders‘ als von den meis-
ten Menschen, sprich von der ,Normalgesellschaft‘, wahrgenommen wird. Diese
andere Wahrnehmung wird als eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem
Leben bzw. mit Lebenssinn und einer Sensibilität für Details beschrieben. Das
‚schwarze‘ Deutungssystem steht für eine ‚andere Welt‘ („einen Kosmos, in den
man eintauchen kann“, wie es einer der Interviewten formulierte), die es auf Grund
ihrer besonderen Qualitäten (Erweiterung, Entgrenzung, Sensibilisierung für
Details) möglich macht, das Leben bewusster wahrnehmen können (d.h. „wirklich
zu leben“ – wie es einer der Interviewten ausdrückte). Diese Bewusstmachung von
Wahrnehmung und Erleben wird ohne bewusstseinsverändernde Mittel (z.B. Dro-
gen) erlangt. Sie wird ‚erspürt‘ durch Nachdenklichkeit, Zweifeln, Grübeln,
(Tag-)Träumen und Traurigsein. Von Grufties, die sich darauf nicht einlassen resp.
ihr Lebensgefühl nur oberflächlich zur Schau stellen (d.h. mittels Mode und Stil),
distanziert man sich in der Szene: Sie werden als unauthentisch empfunden. Die in
den Interviews häufig wiederkehrende Betonung des Gefühlserlebens verweist auf
die Bedeutsamkeit affektiver Weltaneignung und lässt Gefühle zu einer werthaltigen
Kategorie und zu einem Maßstab in der Szene werden: Die Welt kann nur bewusst
wahrgenommen werden, wenn sie (auch) gefühlt wird. Diese Versinnlichung des
Lebens spiegelt sich etwa in der Beschäftigung mit schöngeistigen Errungenschaften
der Zivilisation (z.B. Geschichte, Kunst, Ästhetik) aber auch in der zentralen Stel-
lung, die der Musik in der Szene zukommt, wider. Die Sensibilität der Umwelt
390 Klaus Neumann-Braun & Axel Schmidt

gegenüber führt auch dazu, dass gesellschaftliche Haltungen und Muster nicht kriti-
klos übernommen werden. Häufig äußert sich dies in komplexen Vorstellungen und
Alltagstheorien, welche sich auf transzendente Fragen beziehen (oft genuin religiöse
Fragen, wie ‚Wer bin ich?‘, Wo komme ich her?‘ und ‚Wo gehe ich hin?‘). Exem-
plarisch hierfür steht die dialektische Vorstellung, dass Glück und Unglück bzw.
Leid/Schmerz und Glück eng miteinander verwoben sind und nur als zwei Seiten
einer Medaille begreifbar sind. So lehnen die Szenemitglieder den in der ,Normal-
gesellschaft‘ vorherrschenden naiven Optimismus und die damit einhergehende
Oberflächlichkeit der ‚Spaßgesellschaft‘ ab und sehen bzw. betonen die ‚dunklen
Seiten‘ im Leben (z.B. Schmerz, Einsamkeit, Tod). Dabei stellen sie sich – so die
Selbstwahrnehmung vieler Szenemitglieder – schutzlos schrecklichen Ereignissen
und entlarven Tabus. Sie stilisieren sich bisweilen zu einer gesellschaftlichen
Instanz, welcher auf Grund des offenen und ehrlichen Umgangs mit sich und der
Welt aufklärerisches Potenzial zukommt. Dieses Ideal eines gesellschaftskritischen
Blicks hebt den Gothic als ein autonomes Subjekt mit einer eigenen Handlungs- und
Beurteilungsautonomie hervor. Die Einsicht in (dialektische) Weltgesetze und die
daraus resultierende kritische wie holistische Aneignung von Welt (im Gegensatz
zur ,Normalgesellschaft‘) bedeutet eine (angestrebte) Entideologisierung vorgege-
bener (gesellschaftlicher) Weisen der Welterzeugung.
Ihre spezifischen Haltungen und Weltdeutungsmuster sehen die Gothics in
einem eigenständigen ‚schwarzen‘ Kosmos verdichtet, der sie von der (begrenzten)
,Normalgesellschaft‘ distinguiert. Diese kohärente ‚Welt der Gothics‘ stützt sich auf
den immer wieder aufgerufenen und nebulös umschriebenen Begriff des Inhalts als
Eigenwert (s.o.). Was den szenespezifischen Inhalt ausmacht, wird in den meisten
Interviews nur vage umschrieben. Verwiesen wird häufig auf szenespezifische
Gestimmtheiten, die sich der Artikulation entziehen, da sie auf einer nicht artikulier-
baren Gefühlsebene anzusiedeln sind. Ein solcher Inhalt wird nur für Personen spür-
bar, die wissen, was damit gemeint ist – zugänglich eben nur für Eingeweihte. In
diesem elitären Denken spiegelt sich der Mythos der Seelenverwandtschaft wider,
welcher häufig bemüht wird, wenn eine quasi-natürliche Affinität der Mitglieder zu
ihrer Szene beschworen wird. Dieses holistische Gefühl rangiert auf einer Ebene, die
jeder Rationalität und Analytik entzogen ist. Ein solcher Kosmos entfaltet lebens-
weltartige Züge und spendet damit Geborgenheit, Aufgehobenheit und Zugehörig-
keit – Dinge, die in der Gesellschaft schmerzlich vermisst werden.
Analog zum ‚Gothic-Kosmos‘ muss auch die szenetypische Ästhetik einem Bild
von Konsistenz und Ganzheitlichkeit genügen. Dieser umfassende Ästhetikanspruch
evoziert eine spezifische ‚schwarze‘ Atmosphäre im Szeneleben, die – umgekehrt
betrachtet – einen wesentlicher Bestandteil des ‚schwarzen Kosmos‘ darstellt und
zugleich Ausdrucksebene des spezifischen Lebensgefühls ist. ‚Schwarz‘ fungiert
nicht nur als Farbe, sondern vielmehr als Leitmotiv, das in vielfältiger Weise mit
Bedeutungen versehen werden kann.
Gerade an der Art und Weise des Umgangs mit Selbstinszenierung und Mode
wird immer wieder die Frage der Authentizität virulent. Eine Faszination, die die
Szene ausübt, ist die Möglichkeit, aus der Gesellschaft auszubrechen und zu experi-
Ethnografie von Jugendszenen am Beispiel einer Studie zur Welt der Gothics 391

mentieren, aber trotzdem sein Alltagsleben bewältigen zu können. Das Szeneleben


steht nicht im Widerspruch zu einer (Berufs-)Karriere bzw. zum ‚Restleben‘ (wie
z.B. bei den Punks). Vielmehr existiert ein Nebeneinander von Szeneleben und All-
tagsleben, was dazu führt, dass das Leben der Grufties in eine Öffentlichkeit –
respektive das Szeneleben – und eine Privatheit – respektive das Alltagsleben –
geteilt wird. Der Trennung von Öffentlichkeit (Szene) und Privatheit (Alltag) wird
von einem Interviewten eine kompensatorische, regenerierende und therapeutische
Funktion zugeschrieben. Im Szeneleben können unartikulierbare und diffuse Gefüh-
le, die im Alltag anfallen, transformiert und verarbeitet werden. Der Szene wird
damit eine gesellschaftsstabilisierende Funktion zuteil. Es wird ein auf Integration
basierendes, harmonisches und konstruktives Bild von ihr entworfen. Das ‚Abstand-
Schaffen‘ zum Alltag – mit seinen teilweise gesellschaftlich abweichenden Denk-
mustern – birgt kein revolutionäres Potenzial in sich. Es wird vielmehr betont, dass
die Szene nicht auf Gesellschaftsveränderung angelegt ist, auch wenn dies durch das
äußere Auftreten nahe gelegt zu werden scheint. Die Grufties wollen zwar – wie z.B.
die Punks – auffallen, aber mit Stil! Denn trotz ihres provokativen Aussehens haben
die Gothics ein starkes Bedürfnis nach Harmonie, Nichtausgrenzung und Toleranz.
Sie wollen in ihrer Andersartigkeit – die für sie ihre Berechtigung hat – akzeptiert
werden. Obwohl die Szenemitglieder also nicht gegenkulturell agieren, sondern
gewissermaßen ‚zwei Leben führen‘, kommt es dennoch zu Diskrepanzen und Brü-
chen im Übergang zwischen Alltags- und Szeneleben. Der Wechsel vom Szeneleben
ins Alltagsleben und umgekehrt verläuft also nicht bruch- und reibungslos. Je nach
Grad der persönlichen Involviertheit in die Szene besteht die Tendenz, das Szenele-
ben in den Alltag hineinzutragen. Die Verschränkung von Szeneleben und Alltag
bedeutet für die meisten Gothics eine Gratwanderung, die einerseits darin besteht,
gerade soviel ihres ,Gothic-Seins‘ in den Alltag hinein zu tragen, dass dadurch keine
weit reichenden negativen Konsequenzen entstehen bzw. andererseits – diesmal aus
der Perspektive der Szene betrachtet – sich eben soviel ihres ,Gothic-Seins‘ – auch
im Alltag – zu bewahren, dass sie in der Szenegemeinschaft als authentische Mit-
glieder bestehen können. So ist es eine typische Handlungspraxis in der schwarzen
Szene, subtil-temporäre aber auch weit reichendere Strategien zu entwickeln, um
seine Szeneanhängerschaft mit einem ,normalen‘ gesellschaftlichen Status in Ein-
klang zu bringen (das können kurzfristige, das Äußere betreffende Veränderungen
sein, aber auch weitreichendere, wie die Entscheidung für einen bestimmten Beruf).

6 Methodische Wege der Szeneethnografie

Solche Erkenntnisse über die stilistischen und ästhetischen Praxen einer Jugend-
Szene – hier: der Gothic-Szene und die Vergemeinschaftungsformen, Weltanschau-
ungen, Selbstdeutungen und vor allem aber auch das Lebensgefühl der Szenemit-
glieder können nur in einer umfassend angelegten ethnografisch orientierten Feldstu-
die gewonnen werden. Um vor allem auch die Fragen nach den Organisations- und
392 Klaus Neumann-Braun & Axel Schmidt

Vergemeinschaftungsstrukturen der Szene sowie dem kollektiven Szenehabitus bzw.


der ‚Sinnfigur‘ des Phänomens ‚Gothic‘ zu beantworten, stützt sich unsere Studie
über die Welt der Gothics (Schmidt/Neumann-Braun 2004), deren Anlage im Fol-
genden skizziert werden soll, auf einen i.w.S. szeneethnografischen Ansatz, dessen
Wurzeln bei den jugendsubkulturellen Arbeiten der so genannten Cultural Studies
liegen und der zum heutigen Zeitpunkt eine große Verbreitung in den Sozialwissen-
schaften erfahren hat (vgl. Eckert/Reis/Wetzstein 2000; Hitzler/Bucher/Niederba-
cher 2001). Als grundlegend für diese Herangehensweise seien die folgenden zentra-
len Aspekte genannt:
Als erstes gilt es auf die Orientierung an den Grundprinzipien interpretativer
Sozialforschung einzugehen: Sozialwissenschaftliche Gegenstandsbereiche sind
sinnstrukturiert, d.h. ihre Konstitution erfolgt durch handelnde Subjekte, die in Inter-
aktionsprozessen Sinn(-zusammenhänge) herstellen. Dem zu Folge gilt
(Fremd-)Verstehen bzw. die Rekonstruktion solcher Sinnkonstitutionsprozesse als
grundlegendes Erkenntnisprinzip. Ausgangspunkt ist damit die Fallrekonstruktion,
die auf Texte in Form von empirischem Datenmaterial rekurriert und auf deren
Grundlage eine idiografische Erfassung des Gegenstandes sowie die Bildung von
Typen angestrebt wird. Je nach Erklärungsanspruch des jeweiligen Ansatzes stehen
entweder das Nachvollziehen subjektiv gemeinten Sinns (Erklärung durch Verstehen
von Handlungsmotiven in einem je spezifisch-kulturellen Kontext) oder die Rekon-
struktion einer Fallgesetzlichkeit (Erklären durch den Rekurs auf ‚objektive‘ Sinn-
strukturen) im Vordergrund.
Zweitens ist die Methode der Ethnografie die leitende Forschungshaltung. Eth-
nografische Ansätze setzen sich zum Ziel, Daten vor dem Hintergrund kultureller
Strukturen zu interpretieren bzw. anhand von Daten kulturelle Strukturen zu rekon-
struieren. Handlungs- und kulturtheoretische Ansätze sind darauf angelegt, sich sol-
chen „Konstruktionen ersten Grades“ (Schütz) in einer verstehenden Haltung zu
nähern. Eine solche Haltung lässt sich im Programm einer „Befremdung der eigenen
Kultur“, wie es von Hirschhauer/Amann (1997) formuliert wurde, sehen. Erkennt-
nisstil ist das Entdecken ‚fremder‘ Lebenswelten (hier: Jugendszenen) in der eigenen
Gesellschaft. Szenen werden als Interaktionsgeflechte sowie Orte geteilter
Orientierungen und Stile definiert. Methodisch gewendet muss ihnen dadurch der
Status fremder Teilkulturen innerhalb der eigenen pluralisierten Gesellschaft ein-
geräumt werden. Als eigenständige Untersuchungsgegenstände im Sinne fremder
Lebenswelten bedürfen sie damit einer ethnografischen Beschreibung und Rekon-
struktion.
Einem naturalistisch konzipierten Empiriebegriff folgend, richtet sich der Fokus
des Interesses auf gelebte soziale Praxis, d.h. auf real beobachtbare Interaktions- und
Sinnkonstituierungsprozesse. Die Methodenauswahl und die Analyse der Daten
orientieren sich an den Selbst(re)produktionsmechanismen der jeweiligen Gegen-
stände. Der Datengewinn erfolgt immer zeitlich gestreckt und im Zuge dieses z.T.
lang andauernden Erhebungsprozesses wird variantenreiches und qualitativ umfan-
greiches sowie heterogenes Datenmaterial erhoben. Es entsteht ein Datenkorpus, in
dem sich die verschiedenen Daten und Dokumente wechselseitig kontrollieren und
Ethnografie von Jugendszenen am Beispiel einer Studie zur Welt der Gothics 393

interpretieren. Je nach momentanem Interpretationsfokus fungieren die jeweils rest-


lichen Daten als Interpretationskontext. Dies wird gewährleistet durch kontinuierli-
chen Kontakt mit dem Feld und durch das sukzessive Vertrauter-Werden mit dem
betreffenden Untersuchungsgegenstand. Kurz: Die Forschung zeichnet sich
grundsätzlich durch „ihre Einbettung in den Kontext einer andauernden teilnehmen-
den Beobachtung“ (Hirschhauer/Amann 1997: 16) aus.
Die Auswertung der Daten und Materialien erfolgt prinzipiell verstehend und
den subjektiv gemeinten Sinn nachvollziehend, jedoch mit dem Ziel, die methodi-
sche Hervorbringung sozialer Praxis zu rekonstruieren. Dabei ist eine Verschrän-
kung theoretischer und empirischer Arbeitsprozesse unabdingbar. Obwohl Ethnogra-
fien prinzipiell induktiv arbeiten, d.h. von den Alltagsphänomenen bzw. dem dort
erzeugten Material ausgehen, können bestimmte Theorien als Ausgangspunkt fun-
giert haben, jedoch nicht als Objekt der Überprüfung (i.S.v. hypothesentestend),
sondern als Grundlage des Erkenntnisinteresses und der Fragestellung. Theorien
spielen die Rolle von Denkmitteln, die sich im Feld, in der Empirie bewähren müs-
sen.
Als Forschungsdesign wurde drittens der Ansatz der Grounded Theory von Gla-
ser/Strauss (1967) zu Grunde gelegt, der mittlerweile Grundlage einer Reihe von
heterogensten Forschungsansätzen und -vorhaben geworden ist. In unserer Studie
haben wir uns an folgenden, den Forschungsprozess als Ganzes strukturierenden
Prinzipien orientiert: Die Forschung gestaltet sich als offener und zirkulärer Prozess.
Grundlegendstes Prinzip in diesem Prozess ist das des Theoretical Samplings, d.h.,
dass sich die Gewinnung von Daten nicht auf den Beginn der Untersuchung
beschränkt, sondern im Verlauf der Forschung immer wieder erneut vollzogen wird,
wobei sich die Ausrichtung der (Neu-)Erhebungen nach den bisherigen Erkenntnis-
sen zu richten hat. Als Konsequenz ergibt sich ein kontinuierlicher Zuwachs einer
äußerst heterogenen Menge an Material (Datenvielfalt), zu deren Auswertung die
unterschiedlichsten Analysestrategien eingesetzt werden können. Prinzip der Aus-
wertung ist eine sukzessiv an den Daten orientierte Hypothesengenerierung (statt
Hypothesenprüfung ex ante), die schließlich zu theoretisch gehaltvollen, datenfun-
dierten Annahmen führen soll.

7 Forschungsdesign und Methoden

Ausgehend von diesen allgemeinen Prämissen lässt sich das Forschungsdesign unse-
rer szeneethnografischen Untersuchung in einer ersten Annäherung wie folgt umrei-
ßen: Die Untersuchungsfragestellung wird im Zuge des Forschungsprozesses offen-
gehalten und immer wieder vor dem Hintergrund gewonnener Erkenntnisse re-for-
muliert. Dies führt in the long run zu konkreteren Fragestellungen und For-
schungsaspekten sowie schließlich zur Konstitution eines Forschungsgegenstandes.
Ist der Gegenstand im Zuge einer Konkretisierung der Fragestellung näher be-
stimmt, geht es darum, die Eigenstrukturiertheit des in Frage stehenden Gegenstan-
394 Klaus Neumann-Braun & Axel Schmidt

des zu beleuchten, um schließlich zu gegenstandsangemessenen Methoden zu gelan-


gen. Zentraler Gegenstand im vorliegenden Fall sind jugendkulturelle Szenen. Diese
bestehen einerseits aus Interaktionen zwischen Szenemitgliedern im Rahmen szene-
typischer Events und Locations. Dies lässt sich als die Ebene der Praxis bezeichnen.
Gefragt wird, wie Szenemitglieder typischerweise handeln und wie die Szene
‚gelebt‘ und angeeignet wird. Andererseits ist Szenen ein spezifischer Wissensvorrat
eigen, der sich in so unterschiedlichen Phänomenen wie Handlungsorientierungen,
Überzeugungen, Interaktionsregeln, Sprache und Stilpraxen manifestiert. Dies wird
als die Ebene des geteilten Wissens (Theorie/Ideologie) gefasst. Gefragt wird, wel-
che Bewertungsmaßstäbe für das Handeln in der Szene gelten, welche Überzeugun-
gen und Werte in der Szene weiter getragen werden und welche Symbole und kör-
perlichen Erscheinungsbilder (Kleidung, Accessoires, Styling) als szenetypisch gel-
ten.

Tabelle: Zugangsmodi, Qualitäten der Daten und Aussagerichtungen der


Gothic-Studie

Datenqualität registrierender rekonstruktiver medial vermittelter


Modus: teilneh- Modus: Interviews Modus: Szenemateria-
mende Beobachtung lien (etwa Zeitschrif-
ten)
Aussagerichtung Ausdeutung natürli- Interpretation von - kulturhistorische
cher Praxen hinsicht- Selbstauskünften Ausdeutung einzelner
lich Musterhaftigkei- hinsichtlich typischer Artefakte (z.B. Mer-
ten und Regeln der Szenestrukturen chandising-Produkte)
Vergemeinschaftung; (Experten) oder sub- - Indikator für das
kulturhistorische jektiver Aneignungs- Symbolrepertoire einer
Ausdeutung von formen (Szenegän- Szene
Erscheinungsbildern ger) - Beschreibung und
(z.B. Kleidung, Sty- Ausdeutung der
ling) Selbstdarstellungsfor-
men einer Szene (nach
außen)

Mit Blick auf die Methodenauswahl verlangt die Zweiseitigkeit von Szenen (Inter-
aktion/Wissensvorrat) eine zweigleisige Herangehensweise. Daten, die im regi-
strierenden Modus gewonnen werden, bilden die Prozesshaftigkeit von Realität ab.
Die tatsächlich abgelaufenen Interaktionen und Gespräche werden entweder tech-
nisch fixiert (Audio/Video) oder Handlungsabläufe, etwa das ‚Treiben‘ auf einem
Festival, werden beobachtet und notiert (Feldberichte/teilnehmende Beobachtung).
Anhand solcher Daten lassen sich v.a. Aussagen hinsichtlich der Interaktionspraxis
einer zu untersuchenden Gemeinschaft treffen. Daten im rekonstruktiven Modus
dagegen repräsentieren die Selbstauskünfte von Szenemitgliedern. Dritte berichten
aus ihrer Erinnerung, wie ein bestimmtes Ereignis ablief oder Szenemitglieder geben
Auskunft über ihre Erfahrungen und Ansichten (Interviews mit Szene-Experten oder
,normalen‘ Szenegängern). Darüber hinaus können Selbstauskünfte als Quelle für
Ethnografie von Jugendszenen am Beispiel einer Studie zur Welt der Gothics 395

subjektive Theorien und typische Denkmuster fungieren. Anhand solcher Daten sind
v.a. Aussagen hinsichtlich zentraler Handlungsorientierungen und Überzeugungen,
die für die Szene prägend sind, möglich. Daten im medial vermittelten Modus (Sze-
nedokumente wie etwa Zeitschriften, Flyer, Prospekte, Kataloge, Internetseiten und
-foren, Radiosendungen etc.) stellen Medienprodukte dar. Sie entstehen im Rahmen
spezifischer, medialer Produktionsbedingungen. Medienkommunikation ist insofern
spezifischer als Alltagskommunikation, als dass sie spezielle, kommunikative Strate-
gien verfolgt (wie etwa Werbung) und damit den Eigengesetzlichkeiten medienpro-
duzierender Institutionen (etwa einer Zeitungsredaktion) unterliegt. Auf der Basis
solcher Daten lassen sich v.a. Aussagen über Selbstdarstellungsprozesse bzw. das
kollektive Selbstverständnis einer Szene treffen.

Abbildung: Anlage der Studie im Überblick

Fragestellung Methodische Umsetzung:


SZENETYPIK SZENEETHNOGRAPHIE

Organisationsstrukturen und Vergemeinschaftungsmuster; Qualitativ/ethnografischer Forschungsansatz,


geteilte Überzeugungen, Handlungsorientierungen und Stil- Grounded Theory als Forschungsdesign
praxen; kollektive Habitusformationen

Datenvielfalt
Erstellung und Auswertung eines Korpus von Szenedokumentationen

Datengewinn/-erhebung Datenauswertung Status der Daten


Interviews Rahmung: Experten- vs. Auswertung anhand eines Kate- Selbstbilder der Szene/Grundlage für ein
Szenegängerinterviews gorienschemas/Bildung themati- Szeneportrait im Sinne der Ausgangsfrage;
Art: Leitfadeninterviews scher Blöcke; Hermeneutische Aus- Herstellung von Bezügen zu zentralen, für
deutung einzelner Passagen hin- das Thema einschlägigen soziologischen
sichtlich der jew. fokal gesetzten Ka- Konzepten (etwa Religion oder Identitäts-
tegorie konstruktionen)
Teilnehmende Beobachtung/Feld- Ethnographische Deskription/Ana- Registrierende Daten: Aussagen über fakti-
berichte/eigene Fotos (‚Fotos des lyse Kulturgeschichtliche Ausdeu- sche Handlungsabläufe, Stil- und
Feldes’) tung Inszenierungspraxen; Kontrastierung/Kon-
Szenedokumente (Zeitschriften, Fly- Bildhermeneutische Ausdeutung text für die Interviewinterpretationen
er u.ä.)
Externe Dokumentationen (Berich- Inhalts- und Sprachanalyse Außenperspektive/Fremdbilder
terstattung über die Szene in Presse
und Populärwissenschaft)

Als Methoden der Wahl wurden zur Erhebung und Auswertung der unterschiedli-
chen Daten (Interviews, Feldberichte, Fotos, Szenedokumente) in der Hauptsache
folgende Forschungsinstrumente verwendet: die teilnehmende Beobachtung, die
Methoden des Leitfaden- und halbstandardisierten Interviews, das Experteninter-
view sowie die hermeneutischen Interpretationen von Texten (Interviews, Szenema-
terialien (Print/Internet) und Bildern (Fotos/Bilddokumente (z.B. Flyer)).
396 Klaus Neumann-Braun & Axel Schmidt

8 Zusammenfassung: Die Gesamtanlage unserer ethnografischen


Szene-Studie

Die bisherigen Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, dass die Gothic-Stu-
die eine Kombination verschiedener qualitativer Grundprinzipien und Instrumente
vereint. Die Grundhaltung lässt sich als ethnografisch kennzeichnen und der For-
schungsprozess gestaltet sich nach Grundprinzipien der Grounded Theory. Die
Experten sollen zunächst Auskunft über typische Szenestrukturen und -haltungen
geben bzw. sonstige fragestellungsrelevante Aspekte beleuchten. Die Interviews mit
den Szenegängern dienen darüber hinaus dazu, individuelle Szenehaltungen zu
rekonstruieren und diese mit den Aussagen der Experten zu vergleichen. Die Aus-
wertung der Interviews unterliegt einer Vorordnung nach formalen, aus szenekon-
zeptuellen Überlegungen abgeleiteten Kategorien (Zuordnung von Textstellen zu
Themen), woran sich eine hermeneutische Analyse der ausgewählten Passagen
anschließt. Die Feldberichte, Fotos und Szenedokumente sollen Aufschluss geben
über typische Interaktions- und Inszenierungspraxen, Gestaltung und Ablauf szene-
konstitutiver Örtlichkeiten und Events sowie Selbstdarstellungsformen und Selbst-
bilder der Szene. Die Auswertung dieser Materialien erfolgt weitestgehend deskrip-
tiv und dient v.a. der Kontrolle der aus den Interviewanalysen gewonnenen Aussa-
gen. Hiermit ergibt sich die in der oben stehenden Abbildung zusammengefasste
Gesamtanlage der Studie.

Literatur:

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Durkheim, E. (1976): Bestimmung der moralischen Tatsache. In: Durkheim, E.: Soziologie
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Zur Repräsentation okkulter Phänomene und Emanationen des Bösen. Roßdorf, 106-123.
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hunderts. Opladen.
Kommunikative Mobilität – mobile Lebensstile?
Die Bedeutung der Handyaneignung von Jugendlichen für die
Artikulation ihrer Lebensstile

Caroline Düvel

1 Einleitung

90 Prozent der deutschen Jugendlichen besitzen ein Handy, was verdeutlicht, dass
die Akzeptanz des Mobiltelefons in dieser gesellschaftlichen Gruppierung recht
hoch ist (vgl. BMWA 2004). Schon jetzt gibt es in jeder vierten Wohnung von unter
25-Jährigen keinen festen Telefonanschluss mehr und laut einer Emnid-Umfrage von
April 2005 geben 27% der Befragten 14 bis 29-jährigen an, auch gänzlich auf das
Festnetztelefon verzichten zu können1. Mit der Mobilkommunikation entsteht offen-
bar auch die Möglichkeit einer Mobilisierung des Alltags auf ganz unterschiedlichen
Ebenen, die vor allem die junge Generation für sich zu nutzen scheint.
Diese Entwicklungen lassen vermuten, dass sich die Aneignung neuer mobiler
Kommunikationstechnologien durch viele junge Leute in Form einer Integration in
die alltäglichen „Praktiken eines mobilen Lebens“ (Höflich/Gebhardt 2005b: 9) voll-
zieht, was sowohl Situationen in der häuslichen Privatsphäre als auch öffentliche
Kommunikationssituationen umfasst. Damit verbunden ist die Zunahme von kom-
munikativer Mobilität, die sowohl eine passive Komponente in Form von per-
manenter Erreichbarkeit als auch die aktive situations- und ortsunabhängige Han-
dynutzung impliziert. Als eine Folge der kommunikativen Mobilität lässt sich die
Veränderung des Verständnisses und Verhältnisses zu Raum und Ort begreifen,
indem nun mobile Kommunikationsräume physische Orte überlagern. Durch Han-
dynutzung wird (private) Kommunikation zunehmend auf bisher ‚medienfreie’ Orte
und Situationen ausgedehnt, wodurch öffentliche Orte mit privaten oder gar intimen
Inhalten gefüllt werden. Für viele Nutzerinnen und Nutzer ist das Handy dabei
inzwischen nicht mehr nur ein mobiles Telefon, sondern aufgrund der Fülle an ange-
botenen Anwendungen und Diensten vielmehr ein persönliches Mehrzweck-
Medium (vgl. Krotz 2001) oder Hybridmedium, womit es potenziell die Möglichkeit
eines auf mehr Mobilität und Flexibilität ausgerichteten Lebensstils bietet.
Doch wie mobil sind nun Jugendliche heute wirklich? Wodurch charakterisiert
sich ihre Handyaneignung? Existiert tatsächlich ein ‚mobiler Lebensstil’ in Abhän-
400 Caroline Düvel

gigkeit zum Handy? Welche Möglichkeiten, aber auch Beschränkungen bietet


Mobilkommunikation für Jugendliche?
Solche Fragen sind Gegenstand der Untersuchung. Dabei geht es darum heraus
zu finden, in welcher Relation das mobile Kommunikationsverhalten junger Men-
schen zur Artikulation2 eines mobilen Lebensstils steht, weshalb die Aneignung des
Handys und dessen Integration in den Lebensstil Jugendlicher und junger
Erwachsener untersucht wurde.3

2 Mobilkommunikation, Mobilität und das Verhältnis zu Raum und


Ort

Wenn Friedrich Krotz von der Mediatisierung kommunikativen Handelns (vgl.


Krotz 2001 und 2005a) spricht, so ist damit eine Ausdehnung von Kommunikation
auf Situationen und damit Kontexte sowie Orte, die bisher nicht durch Mediennut-
zung charakterisiert wurden, gemeint. In diesem Prozess der Mediatisierung spielt
auch die Mobilkommunikation eine erhebliche Rolle: Beispielsweise war es vor der
Entwicklung des Handys kaum denkbar, während der Auto- oder Zugfahrt Termine
zu koordinieren, beim Einkaufen im Supermarkt den Partner Zuhause zu fragen,
welche Dinge noch fürs Abendessen benötigt werden oder gar sich von unterwegs
zu einem spontanen Treffen mit Freunden zu verabreden. Die Nutzung mobiler Ter-
minals wie des Handys ermöglicht somit eine erhöhte Flexibilität im Alltag vor
allem hinsichtlich der Mobilität aus kommunikativer und lokaler Perspektive –
wobei lokale Mobilität generell die Situationen umfasst, die Personen nicht am Ort
ihrer häufigsten Präsenz (beispielsweise Zuhause oder im Büro), sondern unterwegs
an oder zwischen anderen Orten verbringen, – aber ebenso bezogen auf Zeit.
Es ist diese kommunikativ und lokal mobilisierte Lebensart, die Anthony Town-
send als „real-time lifestyle“ (2002: 71) beschreibt, in der Menschen ihre Handlun-
gen und Pläne mit dem Handy nicht nur örtlich mobil, sondern auch in Echtzeit
koordinieren können.4 Demnach sind vielerlei Planungen über lange Zeiträume hin-
weg unnötig geworden, da das Handy den Abruf von Informationen zu jedem belie-
bigen Zeitpunkt und damit eine Flexibilisierung fast jeder Situation ermöglicht. Für
viele Jugendliche bedeutet das Leben in „real-time“ z.B., dass für sie aufgrund der
Handynutzung kein festes Verabreden im Voraus zu einer fixen Zeit an einem be-
stimmten Ort mehr notwendig ist. Sie kontaktieren sich schnell per SMS oder Anruf
und teilen sich auf diese Art und Weise mit, wo in der Stadt sie sich gerade aufhal-
ten, um sich treffen zu können (vgl. Dworschak 2004). In einer Studie mit belgi-
schen Jugendlichen stellt Claire Lobet-Maris fest:
“Young people communicate all the time, and are always somewhere else. The present
moment is always being split, always shadowed by an ‘elsewhere’ that takes up every
moment of time not filled by some immediate activity. There is no more empty time. The
‘mobile’ fills all the previous gaps between activities.” (Lobet-Maris 2003 : 91)
Kommunikative Mobilität – mobile Lebensstile? 401

Mobile Kommunikationsstrukturen sind somit Teil eines Veränderungsprozesses auf


sozialer Ebene: Verabredungen werden häufig nur vage fixiert und lokalisiert, um sie
dann mithilfe des Handys spontan und flexibel auf einen Treffpunkt zu konkre-
tisieren (vgl. BMWA 2004), wodurch auch ein anderer Bezug zu Ort und Zeit herge-
stellt wird.5
Mobile Kommunikationstechnologien ermöglichen damit eine Form der Mobili-
tät, die sich in der ‚Anwesenheit’ an mehreren Orten gleichzeitig ausdrückt, wobei
die kommunikative Präsenz in der Situation des Telefonierens von Joachim Höflich
als ein „virtueller“ Ort (Höflich 2005b: 19) begriffen wird, der konträr zum Ort der
physischen Präsenz steht. Demnach verknüpft die Nutzung der Mobilkommunika-
tion zwei reale Orte der Kommunikationspartner durch die mobile Übertragung von
Kommunikation und ermöglicht so ein mobiles ‚Ortsplitting’, indem sich die Kom-
munikationspartner an einem dritten, dem virtuellen Ort für die Dauer des Tele-
fonats treffen (Höflich 2005b). Oftmals kollidieren diese Orte miteinander, indem
die Mobilkommunikation die Interaktion am Ort der physischen Kopräsenz überla-
gert und so komplexe Kommunikationssituationen entstehen, womit auch die Ambi-
valenz der Mobilkommunikation und ihr Konfliktpotenzial deutlich werden: Bei-
spielsweise kann die Allgegenwart des Handys und die damit verbundene All-
Erreichbarkeit als aufdringlich und störend bei einem Face-to-Face-Treffen empfun-
den werden, wenn dem Telefon- oder SMS-Partner mehr Aufmerksamkeit gewidmet
wird als dem Gegenüber (vgl. Höflich/Gebhardt/Steuber 2003). Denn mit dem Han-
dygebrauch entfernt sich der Nutzer aus der Face-to-Face-Situation mit Anwesen-
den, in welcher er sich eigentlich in dem Moment befindet (vgl. Krotz 2005a). Somit
konstatiert Höflich (2005b: 37) einen fließenden Übergang virtueller und realer
Kommunikationsräume, beispielsweise, indem die Person nach Beendigung des
Telefonats wieder den anwesenden Dritten am physischen Ort und damit im realen
Kommunikationsraum zur Verfügung steht. Um solche Störungen und Konflikte zu
vermeiden, wird deshalb teilweise versucht, durch Handyverbotschilder sogenannte
„Handy-Oasen“ (in Restaurants oder im Wartezimmer von Arztpraxen und be-
stimmten Zugabteilen) zu schaffen, in denen zumindest temporär der Handyge-
brauch untersagt ist und man sich somit uneingeschränkt auf die Situation der physi-
schen Anwesenheit konzentrieren kann. An diesen Beispielen wird deutlich, dass
man sich in der Beschäftigung mit Mobilkommunikation und Mobilität nicht nur mit
deren Einfluss auf soziale Beziehungen, sondern auch in einer Auseinandersetzung
mit dem Begriff und Verständnis von Raum (Englisch: Space) bzw. Ort (Englisch:
Place) in Bezug auf elektronische Medien befassen muss. Hierzu eignen sich unter-
schiedliche Ansätze.
Ein interessantes Konzept hinsichtlich einer allgemeineren Fokussierung von
Medien und Raum liefern Nick Couldry und Anna McCarthy mit ihrem multidi-
mensionalen Ansatz des „MediaSpace“ (2004): Ihre Theorie beinhaltet, dass elek-
tronische Medien und soziale Prozesse, die unsere Wahrnehmung und unseren
‚Gebrauch’ von Raum formen, verknüpfte Phänomene sind. Diese Verknüpfungen
machen die Komplexität des derzeitigen sozialen Lebens aus. Demzufolge kann man
Medien und Raum quasi als sich ‚bedingende Gegenstücke’ bezeichnen, die notwen-
402 Caroline Düvel

dig verbunden, aber nicht zu vereinfachen auf eins sind, weshalb sie den Ausdruck
MediaSpace gewählt haben. Couldry und McCarthy definieren „MediaSpace“ als
exemplarischen Begriff für dreierlei Prozesse:
„MediaSpace […] at once defines the artefactual existence of media forms within social spa-
ce, the links that media objects forge between spaces, and the cultural visions of a physical
space transcended by technology and emergent virtual pathways of communication.” (Coul-
dry/McCarthy 2004: 2)
Der Ansatz erscheint relevant für die Darstellung des Verhältnisses von Mobilkom-
munikation, Mobilität und Raum, da der Fokus nicht allein auf der bloßen Existenz
von Medien im sozialen Raum verbleibt, sondern sich auf die Veränderung in Form
von Überschreitungen und Verknüpfungen verschiedenster Räume durch Medien
konzentriert, ein Charakteristikum der Mobilkommunikation, das in den vorange-
gangenen Beispielen bereits deutlich gemacht wurde und mit „MediaSpace“ einen
bezeichnenden Namen erhält.
In diesem Kontext erscheint eine weitere Theorie zum Erfassen des örtlichen
Mobilitätsphänomens relevant: In Anlehnung an Shaun Moores (2004 und 2005)
greife ich die Theorie von der ‚Pluralisierung des Ortes’ durch die Nutzung elek-
tronischer mobiler Medien auf. Dabei ist diese Perspektive konträr zur Auffassung
von Joshua Meyrowitz nicht die einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit des physi-
schen Ortes und damit verbunden auch nicht eine Wahrnehmung von gesellschaftli-
cher Existenz als „relatively placeless“ (Meyrowitz 1985: 312). Moores geht viel-
mehr davon aus, dass es gerade nicht zu einer solchen ‚Auflösung’ physischer Orte
kommt,6 er verweist auf ein abstrakteres Verständnis von Ort, bei dem er sich auf
Emanuel Castells (1996) bezieht. Demnach ist Ort als eine Art Schnittstelle inner-
halb von Netzwerken zu begreifen, wo bestimmte (kommunikative) Flüsse zusam-
men fließen, sich kreuzen und wieder trennen. Diese Schnittstelle ist gleichzeitig
geprägt durch Offenheit (vgl. Massey 1995), indem Orte nicht mehr charakterisiert
werden durch ihre Grenzen, sondern im umgekehrten Sinne durch die Durchlässig-
keit ihrer Grenzen und die Verknüpfung durch die Interaktion mit anderen Orten
(Moores 2005: 11). Weiterhin charakterisiert Moores in Anlehnung an John Urry
(2000) Orte durch ihre vielschichtige Bedeutung, indem sie auf der einen Seite zur
Herstellung und Verknüpfung von Nähe durch die Interaktion Anwesender gekenn-
zeichnet sind, andererseits allerdings ebenso durch „fast flowing webs and net-
works“ (Moores 2005: 10) und am Ort der physischen Kopräsenz durch die Ver-
netzung via Kommunikationstechnologien zeitgleich auch mit anderen Kommunika-
tionspartnern in lokal größerer Distanz eine Verbindung bestehen kann (vgl. Urry
2000).
In diesem Zusammenhang steht der Ansatz des „Doubling of Place“ von Scanell
(1996: 172) und Moores (2004) für die Möglichkeit der Interagierenden, durch
mobile mediale Übertragung gleichzeitig an zwei Orten zu sein, womit es zu einer
‚Doppelung von Realität’ und ‚Pluralisierung des Ortes’ kommt. Diese Theorie
erscheint nun deshalb in Bezug auf Mobilität und Mobilkommunikation für die fol-
gende Studie bedeutsam, da erstens darin überein zu stimmen ist, dass physische
Orte nicht bedeutungslos werden, sondern vor allem als Bezugs- und Treffpunkte für
Kommunikative Mobilität – mobile Lebensstile? 403

die Konstitution von Face-to-Face-Interaktionen (für den sozialen Austausch mit


dem Freundeskreis genauso wie für geschäftliche Treffen z.B. für Vertragsabschlüs-
se) von großer Wichtigkeit bleiben (vgl. Urry 2000), sie bilden folglich eine Schnitt-
stelle zwischen medialer und Face-to-Face-Kommunikation. Darüber hinaus ver-
deutlicht der Ausdruck Schnittstelle bereits, dass physische Orte als offen begriffen
werden müssen, da durch Mobilkommunikation für Interagierende die Möglichkeit
besteht, zumindest kommunikativ die Grenzen eines Ortes zu überwinden, womit
eine temporäre Loslösung (für die Dauer eines Telefonats) vom physischen Ort der
Kopräsenz gemeint ist. Sie befinden sich damit in zwei Situationen (und Realitäten)
gleichzeitig: Am Ort der physischen Kopräsenz und in der telefonischen Interaktion
mit dem Kommunikationspartner. Weiterhin weist die Bezeichnung Schnittstelle auf
die Existenz eines Netzwerks hin: Die Nutzer der Mobilkommunikation befinden
sich in einem Zustand des ‚Miteinander-Vernetzt-Seins’. Je nach Ausprägung und
Intensität dieser Vernetzung kann dies als Pluralisierung und Mobilisierung der
Lebenswelt gefasst und möglicherweise als Kennzeichen eines mobilen Lebensstils
begriffen werden. In welcher Form sind nun jugendliche Handynutzer tatsächlich
vernetzt und was hat das für Konsequenzen? Wie wird die Möglichkeit der kom-
munikativen ‚Überwindung’ örtlicher Grenzen empfunden? Diesen Fragen widmet
sich die Untersuchung.
Den Aspekt der Vernetzung greift auch Michael Bull in seiner Theorie zur Dar-
stellung von Mobilkommunikation und Raum auf, die hier als dritter Ansatz erläu-
tert werden soll: „From home to street, from private setting to public arena, the
media have helped us link these two areas of daily life together in unexpected
ways.“ (Bull 2004: 279). Inzwischen ist unumstritten, dass das Handy für viele
Gesellschaftsmitglieder – nicht nur, aber in erheblichem Maße auch für Jugendliche
– zum ständigen Begleiter im Alltag und somit das Telefonieren mittlerweile zu
einer alltäglichen öffentlichen Praxis geworden ist. Der bisherige intime und ‚stati-
sche’ Charakter des Telefonierens (mit dem Festnetztelefon vom fixen Ort innerhalb
geschlossener Räume) ist aufgeweicht und verschoben, die Kommunikation hat sich
mobilisiert (vgl. Burkart 2000: 218). Somit dringt das Private in die Öffentlichkeit:
„Mobile phones act to privatize public spaces as private discourse fills the street,
classroom and every other conceivable public space“ (Bull 2004: 287).7 Laut Bull
„transformieren“ (2004: 283) Handynutzer den (öffentlichen) Raum zu ihrem priva-
ten Raum, indem sie in der Öffentlichkeit mit nichtanwesenden Personen kommuni-
zieren. Wir befinden uns dadurch in Mitten eines Prozesses der Grenzverschiebung
öffentlicher und privater Sphären und Kommunikationsformen, zu denen sich unsere
Beziehung und Wahrnehmung durch mobile Technologien verändert hat.8 Der
Gebrauch mobiler Kommunikationstechnologien repräsentiert demzufolge soziale
und gesellschaftliche Transformationen, welche sich in diesem Kontext als die Ent-
stehung beweglicher statt fixer Kommunikationsräume und weiter als die Priva-
tisierung öffentlicher Räume begreifen lassen. „The desire to be ‚connected’ is more
important than issues of ‚privacy’ for many users” (Bull 2004: 286), eine Aussage,
die bisherigen Studien zufolge für viele Jugendliche zutreffend scheint (vgl. exem-
plarisch Lobet-Maris 2003; Puro 2002; Höflich/Rössler 2001). Inwieweit besteht
404 Caroline Düvel

nun das Bedürfnis nach Vernetzung bei Jugendlichen? Oder überwiegt gar das
Bedürfnis nach Privatsphäre? Auf welche Art und Weise haben Jugendliche das
Handy in ihre Alltagswelt integriert, ist es für sie ‚normal’, in öffentlichen Situati-
onen private Telefonate zu führen? Leben Jugendliche in mobilen Kommunikations-
räumen? Diese Fragen sollen im Folgenden fokussiert werden. Darüber hinaus
erscheint es relevant zu untersuchen, ob sich mit der Ausdehnung von Kommunika-
tionsräumen ebenso das Verhältnis der Handynutzer zum physischen Ort verändert
und inwiefern mobilisierte Kommunikationsräume möglicherweise ein Kennzeichen
für die Entstehung von mobileren Lebensstilen in Zusammenhang mit der Handy-
kommunikation darstellen.
Mobil- und insbesondere Handykommunikation ist somit nicht nur als eine Aus-
dehnung von Kommunikation auf bisher ‚medienfreie’ Situationen, sondern viel-
mehr auch als Wandel von Kommunikationsräumen zu begreifen, da sich nicht nur
die Kommunikation, sondern ebenso die Kommunikationsräume mobilisieren. Kom-
munikation wird demnach „um ein mobiles Individuum herum als flexibles kom-
munikatives Netzwerk aufgebaut“ (Burkart 2000: 212). Hier gewinnt der von
Andreas Hepp geprägte Ansatz der Konnektivität an Bedeutung: Dieser Ansatz
„ermöglicht die Beschreibung und Analyse des Wandels von kommunikativen
Beziehungen in einer Art und Weise, die zunächst einmal offen ist für unterschiedli-
che Bewertungen.“ (Hepp 2005 in diesem Band; vgl. auch 2004c). Das Konzept der
Konnektivität eignet sich demnach für die Auseinandersetzung mit Medienwandel
anhand von digitalen Medien und ganz konkret, um die Aneignung mobiler Ter-
minals wie des Handys und die durch deren Konnektivität geschaffenen mobilen
Kommunikationsräume zu fassen. Im Fall der Mobilkommunikation ist es folglich
das translokale kommunikative Konnektivitätsnetzwerk, wodurch interagierende
Kommunikationspartner an unterschiedlichen Orten miteinander vernetzt sind. In
Bezug auf mobile Kommunikationstechnologien konstatiert Bull (2004) zwei
Ausprägungen von Konnektivität: einerseits die Konnektivität mobiler Endgeräte
und damit verbunden die Entstehung beweglicher Kommunikationsräume. Die
andere Ausprägung ist die mobile Konnektivität personaler Kommunikation im städ-
tischen Raum. Ebenso wie die Konnektivität von Orten bzw. Räumen durch mediale
Kommunikation intensiviert wird, besteht damit potenziell auch die Möglichkeit zur
Erhöhung der Verbindung von Personen und damit der Intensität sozialer Beziehun-
gen bei zunehmender Mobilität (vgl. Couldry/McCarthy 2004).
Wie auch John Tomlinson argumentiert, liegt die zentrale Wertschätzung des
Handys als mobiler Kommunikationstechnologie darin, dass es trotz seines Poten-
zials weltweit Kommunikationsräume erschließen zu können, überwiegend nicht als
Instrument der globalisierten Kommunikationstechnologie angeeignet wird. Viel-
mehr wird es zur Nahraumkommunikation genutzt, um die Konnektivität und das
Kontaktbedürfnis zu vertrauten sozialen Beziehungen in Zeiten globaler Deterri-
torialisierung und Mobilität zu befriedigen (vgl. Tomlinson 2005). Auch Höflich und
Rössler stellten fest, dass das Handy vor allem zur Interaktion mit dem sozialen Net-
zwerk bei zunehmender Mobilität genutzt wird (vgl. Höflich/Rössler 2001: 446).
Kommunikative Mobilität – mobile Lebensstile? 405

Damit lassen sich Veränderungen durch die Aneignung mobiler Kommunika-


tionstechnologien nicht nur auf die Ebene der lokalen und kommunikativen Mobili-
tät in Form einer Pluralisierung und Mobilisierung des Ortes konstatieren, sondern
ebenso auf die Ebene der sozialen Beziehungen projizieren.

3 Aneignungsprozesse mobiler Kommunikationstechnologien

Was heißt nun Aneignung und wie verläuft der Aneignungsprozess mobiler Kom-
munikationstechnologien? Zentraler Ausgangspunkt für eine Untersuchung des
Aneignungsprozesses eines Mediums im Kontext der Cultural Studies ist die von
Michel de Certeau formulierte Auffassung, dass Alltagspraktiken der Nutzer im
Gebrauch eines Mediums als „Aneignungspraktiken“ (de Certeau 1988: 19) verstan-
den werden, „durch die Konsumenten Produkte ‚in ihren Besitz’ nehmen und sie zu
einem Teil ihres ‚kulturellen Eigentums’ machen.“ (Hepp 2004c: 357). Damit steht
der Ausdruck Aneignen konträr zu dem der Assimilation, denn der alltägliche Kon-
sum kann nicht als ein Vorgang des ‚Sich-Anpassens’ beschrieben werden. Der
Mensch handelt nicht nur bei der Produktion von Gütern aktiv, sondern ebenso beim
Konsum dieser Güter, denn Konsum wird als das aktive Erzeugen von Bedeutungen
aufgefasst. D.h. der alltägliche Umgang mit Medien aus der Perspektive der Nutzer
lässt sich nicht mit Konzepten einer eindimensionalen Wirkung, Gratifikation oder
Manipulation fassen, sondern wird als ein aktiver und kulturell umfassend kon-
textualisierter Prozess des ‚Sich-zu-Eigen-Machens’ von Medieninhalten und
Medien verstanden (vgl. Hepp 2004b). Dabei werden Medien als Teil der Gesamtar-
tikulation von Kultur begriffen. Im Prozess der Aneignung erfolgt somit die
‚Domestizierung’ von Medienprodukten, womit die kulturelle Lokalisierung in
Form einer Integration in die jeweilige Lebenswirklichkeit dieser gemeint ist (vgl.
Hepp 2004b: 2).9
Im medialen Aneignungsprozess ist allerdings auch die Besonderheit digitaler
Medien zu berücksichtigen: Bei der Nutzung von digitalen Medien wie dem Internet
oder der Mobilkommunikation lassen sich auf der Handlungsebene die Phasen der
Rezeption und Aneignung nicht mehr voneinander getrennt betrachten, was bedeu-
tet, dass Aneignung in diesem Fall gleichzeitig auch ein Prozess der Generierung
von Medieninhalten ist (vgl. Hepp 2004b). Der Grund dafür ist die Spezifik digitaler
Medien, die in deren multimedialer Konvergenz besteht, d.h. ein- und dasselbe
Gerät ist in differenter Weise als Endgerät für verschiedene Medienangebote ver-
wendbar. Bezogen auf das Mobiltelefon hat sich hierfür der Begriff des ‚Smart-Pho-
nes’10 etabliert. Diese „gerätebezogene Konvergenz der Kommunikationsformen“
(Hepp 2004b: 9) gilt es bei der Analyse der Medienaneignung zu berücksichtigen.
Demnach ermöglichen Hybridmedien wie das Mobiltelefon eine „Genese zusätzli-
cher medial vermittelter Kommunikationsnetzwerke im Alltag“ (ebd.). Über solche
Netzwerke findet gleichzeitig die Aneignung verschiedener Medien oder Medienin-
halte statt wie auch die Aneignung des Alltags selbst. Somit ist die Aneignung
406 Caroline Düvel

gleichzeitig ein Prozess der individuellen Generierung von Medieninhalten, welche


unmittelbar in den Alltag eingebettet ist und diesen erst konstituiert. Der Prozess der
soziokulturellen Aneignung von Medienkonsum verläuft somit umfassend kon-
textualisiert und lässt sich nicht losgelöst von kulturellen Bedeutungszuschreibungen
innerhalb der Alltagswelt betrachten.
Dieser Artikulationsprozess der kontextualisierten soziokulturellen Aneignung
lässt sich anhand des Kreislaufs der Medienkultur darstellen. Der Kreislauf versucht
den bereits angesprochenen Aspekt von Medien als Teil der Gesamtartikulation von
Kultur zu verdeutlichen, d.h. dass die Bedeutungsangebote auf kulturell vermittelte
Aneignungsweisen verweisen. Ausgehend von einer kulturtheoretisch orientierten
Medienanalyse scheint eine Medienkultur nur dann vollständig erfassbar, wenn man
sie in ihrer Gesamtartikulation und damit auf drei unterschiedlichen Artikulations-
ebenen betrachtet: Erstens auf der Ebene der Produktion von verschiedenen mate-
riellen und immateriellen Kulturprodukten (das Handy als Gerät), zweitens auf der
Ebene der diskursiven Repräsentationen, welche diese ausmachen (die Entwicklung
vom einfachen Telefon zum Smart-Phone) und drittens auf der Ebene der Aneig-
nung dieser Kulturprodukte (aus unterschiedlichen Motiven, z.B. Sicherheitsmotive)
(vgl. Hepp 2004c). Zwei Kategorien, die quer zu diesem Kreislauf verlaufen, sind
die der Regulation wie beispielsweise durch politische Eingriffe (z.B. Handyverbot
während der Autofahrt) und die der Identifikation, d.h. die Konstitution und Artiku-
lation bestimmter Medienidentitäten (z.B. Vielnutzer, Wenignutzer). Damit kann
man Aneignung als einen komplexen und in sich geschlossenen Prozess beschrei-
ben. Doch in welchem Zusammenhang stehen nun mediale Aneignungsprozesse wie
der des Handys und die Artikulation von Lebensstilen? Wodurch drücken sich unter-
schiedliche Lebensstile aus?
Lebensstile können als die Entwicklung expressiver Muster der gewählten
Lebensführung in Abhängigkeit kultureller Ressourcen und Werthaltungen beschrie-
ben werden, wie beispielsweise Lebenschancen, jeweilige Wahlmöglichkeiten und
vorherrschende Lebensziele (vgl. Vollbrecht 1997 sowie Beck 1983). In diesem Pro-
zess spielen auch Medien eine zentrale Rolle, indem sie aktuelle Lebenssinn- und
Lebensstilangebote vermitteln (vgl. Hitzler 1994) und damit eine stilgenerierende
Funktion einnehmen.
Laut Höflich (1996 sowie 2003) konstituieren sich Lebensstile einerseits über
eine materielle Dimension, nämlich über den Besitz oder Nichtbesitz bestimmter
Konsumgüter oder Produkte, die Hinweise auf die gesellschaftliche Rolle und auch
die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe geben. Andererseits etablieren sich
Lebensstile aber auch darüber hinaus in der Art und Weise des Kommunizierens, in
der Wahl von Kommunikationsmedien und ihrem Gebrauch sowie in Stil und Form
des kommunikativen Verhaltens (vgl. Höflich 2003: 160f.). Beide Ebenen verknüpft
das Handy, da es sowohl als symbolgeladenes Artefakt betrachtet werden kann, als
auch darüber hinaus als Medium, um Kommunikation zu realisieren. Vor diesem
Hintergrund vereinen Kommunikationstechnologien wie das Handy den Aspekt der
symbolischen Artefakte mit dem der symbolischen Kommunikation, in deren unter-
schiedlichem Gebrauch sich Ausprägungen differenter Lebensstile finden lassen.
Kommunikative Mobilität – mobile Lebensstile? 407

Erfolgt nun die Aneignung neuer Medien – wie seit einiger Zeit die des Mobilte-
lefons – in einer (neuen) Nutzergemeinschaft, so stellt sich die Frage, wie sie in
bereits existierende Lebensstile und den Alltag bestimmende Kommunikationsprak-
tiken integriert werden und diese verändern oder sogar neu konstituieren.11 Gerade
junge Menschen haben in dieser Phase ihres Lebens bedingt durch gesamtgesell-
schaftliche Individualisierungsprozesse und der damit verbundenen Pluralisierung
von Lebensstilen (begrenzte) Stilwahloptionen (vgl. Garhammer 2000; Clarke
1979). Stilstimulierende Funktionen offerieren dabei nicht nur die Massenmedien,
sondern Stil wird in einem permanenten sozialen Prozess unter Jugendlichen in
Peer-Groups12 ausgehandelt, wobei auch das Handy als Individualmedium von
Bedeutung ist und eigene (kommunikations-)stilgenerierende Elemente hervor-
bringt. Somit sind sowohl die Massenmedien als auch das Individualmedium Handy
für die Konstruktion und Artikulation von Identitäten Jugendlicher und deren spezi-
fischer Lebensstile von großer Bedeutung, wie beispielsweise bereits Skog (2002) in
ihrer Studie zur Handyaneignung und Identitätsartikulation von norwegischen Ju-
gendlichen deutlich gemacht hat.
Hiermit sollen in Kürze einige Ansätze erläutert worden sein, welche Bedeutung
die Aneignung von Medien und insbesondere die des Handys für die Artikulation
von Lebensstilen haben. In dieser Studie liegt der Fokus allerdings ausschließlich
auf der Untersuchung der Integration des Handys im Rahmen der Artikulation von
Lebensstilen. Eine umfassende Darstellung der Lebensstile einzelner Handynutzer
kann und soll hier nicht geleistet werden.
Die folgende Studie fokussiert nun die Handyaneignung von Jugendlichen und
jungen Erwachsenen im Alter von 17-23 Jahren. Diese Altersgruppe erscheint von
Interesse, da die Mobilfunkverbreitung unter Personen dieses Alters sehr hoch ist,
sie gelten allgemein als ‚Early Adopters’ des Handys (vgl. BMWA 2004). Zudem
befinden sich gerade junge Menschen in der Phase ihres Lebens, in der sie sehr
motiviert sind, neue Identitäten zu konstruieren und neue soziale Gruppen zu for-
mieren. Die persönliche Mobilität nimmt zu, der Führerschein wird gemacht und in
diesem Kontext dehnt sich auch das Weggehverhalten aus. In diesem Prozess spielt
das persönliche Medium Handy eine zentrale Rolle für die alltägliche Kommunika-
tion mit der Peer-Group, die bei Jugendlichen in dieser Lebensphase von großer
Bedeutung ist. Sie durchleben einen Lebensabschnitt, in dem sie alternative
Lebensstile zu den bisherigen ausprobieren, womit sie sich demnach in einem Ablö-
seprozess von der vertrauten häuslichen Welt befinden hin zu einem Lebensstil, der
mehr durch Außenorientierung charakterisiert werden kann. Meine Vermutung ist
nun, dass in diesem Prozess das Handy eine entscheidende Rolle spielt, weshalb ich
dessen Bedeutung im Alltag und Lebensstil der Jugendlichen und jungen
Erwachsenen untersuche.
408 Caroline Düvel

4 Typen der Mobilitätsartikulation

Ich strebe in der Untersuchung von medialen und kommunikativen Handlungs-


weisen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in ihrem Alltag hinsichtlich der
Konsequenzen für ihren Lebensstil keine bloße Erfassung von rein quantitativen
Merkmalen an, sondern das Ziel besteht vielmehr in der Erforschung tieferliegender
Strukturen und Bedeutungsprozesse im lebensweltlichen Kontext der Jugendlichen.
Im Gegensatz zur quantitativen Forschung, die eher eine „Vermessung sozialer Rea-
lität“ (Hepp/Vogelgesang 2003b: 26) vornimmt, charakterisiert die hier angewandte
ethnografische Feldforschung die Entdeckung und Erschließung von bisher Unbe-
kanntem, Fremdem, oder Unerschlossenem, indem Ethnografie – so Hepp und
Vogelgesang weiter – ihre Erkenntnisse auf der Basis einer Rekonstruktion der
Erfahrungen und Deutungsmuster der Erforschten und ihrer interaktiven und kollek-
tiven Handlungspraxis gewinnt (2003b: 24). Soziale Lebenswelten „von innen auf-
zuhellen“ (Hepp/Vogelgesang 2003b: 26) begreifen sie als Intention der Ethnografie.
In diesem Kontext erscheint die von Rainer Winter (vgl. Winter in diesem Band)
vertretene Position einer ‚neuen Ethnografie’ im Rahmen der Cultural Studies rele-
vant, die sich daran orientiert, dass der Forscher seine „voyeuristische“ (Winter in
diesem Band) Perspektive von außen überwinden muss, um sich ganz auf die neue
Erfahrungswelt des Anderen einzulassen und der gelebten Wirklichkeit der Untersu-
chungspersonen nahe zu kommen. Die neue qualitative Forschung geht davon aus,
dass gelebte Erfahrung nur im Kontext des Untersuchungsprozesses und im
geschriebenen Text des Wissenschaftlers konstituiert wird und nicht per se unabhän-
gig von ihren Repräsentationen existiert. Deshalb finden aufgrund ihrer Berücksich-
tigung der komplexen Realität des Forschungsgegenstandes bzw. -subjektes, und der
Fähigkeit, bisher unerforschte neue Situationen in ihrer sozialen Komplexität zu fas-
sen und somit neue Perspektiven zu eröffnen (Strauss/Corbin 1996), qualitative
Methoden in der im Folgenden dokumentierten Studie ihre Anwendung.
Um gemäß den laut Hepp/Vogelgesang „in der rekonstruktiven Erfassung der in
Sinnbezügen konstituierten sozialen Wirklichkeit“ (2003b: 26) liegenden Intenti-
onen der Ethnografie zu handeln, ist es notwendig, eine möglichst komplexe Ein-
sicht in das Kommunikationsverhalten und den Lebensstil der Interviewten zu
bekommen. Als Methode bieten sich hierzu qualitative Leitfadeninterviews an. Der
Vorteil dieser halboffenen Erhebungsmethode besteht darin, dass keine Antwortka-
tegorien vorgegeben, sondern vom Interviewer fast ausschließlich offene Fragen
gestellt werden, d.h., der Interviewer ein offenes Gespräch mit dem Befragten füh-
ren und flexibel auf die Thematik eingehen kann. Ziel des qualitativen Interviews ist,
dass der Befragte seine persönliche Wirklichkeitsdefinition darstellt und so detail-
liert wie möglich erläutert, auf deren Basis der Forscher Einblicke in die soziale
Welt des Befragten nimmt (vgl. Lamnek 1995). Es wurden mit insgesamt neun Per-
sonen jeweils einzeln qualitative Leitfadeninterviews durchgeführt. Im Vorfeld ist
Kommunikative Mobilität – mobile Lebensstile? 409

dazu ein thematischer Leitfaden mit zahlreichen unterschiedlichen Kategorien, die


nicht nur die Handynutzung, sondern ebenso ihre Alltagswelt, soziale Beziehungen
und Freizeitinteressen betreffen konstruiert worden.
Die Materialerhebung fand im Oktober und November 2004 in Niedersachsen
statt, die Orte der Datenerhebung waren Hannover und Umland. Es wurden ins-
gesamt fünf Handynutzerinnen und vier Handynutzer interviewt. Die Datenerhebung
verlief nach der Methode des Theoretischen Samplings, wobei auf maximale demo-
grafische Varianz geachtet wurde. Alle Interviews wurden im Einverständnis der
Interviewten auf Kassette aufgezeichnet und vollständig nach der traditionellen
Methode der ethnomethodologischen Forschung, der Konversationsanalyse, trans-
kribiert (vgl. Dittmar 2002), sie variieren in ihrer Länge von 47 bis 90 Minuten. Der
Tradition der Grounded Theory folgend, wurde für die Datenauswertung die
Methode des Offenen sowie Axialen Kodierens nach Strauss/Corbin (1996) ange-
wandt (vgl. auch Krotz 2005b).
Bei der Analyse des empirischen Materials wurde eine typologisierende Inter-
pretation angestrebt, wobei der Vorteil darin liegt, dass diese Vorgehensweise die
Aufdeckung der hinter singulären Aussagen sichtbar werdenden sozialen Strukturen
ermöglicht (vgl. Hepp/Vogelgesang 2003b). Eine Typenbildung eignet sich dem-
nach, Sinnzusammenhänge über den Einzelfall hinausgehend zu verdeutlichen und
dabei Aussagen über charakteristische Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu tref-
fen (vgl. Kluge 1999). Dies bedeutet jedoch nicht, dass ein Typus eine homogene
Gruppe darstellt, vielmehr sind die herausgearbeiteten Typen im Sinne Webers eine
Mischung aus Real- und Idealtypen.13 Das Ergebnis der Studie ist eine Trilogie der
Handynutzungstypen: Die drei Typen sind der ‚Mobile Typus’, der ‚Beziehungsty-
pus’ und der ‚Praktische Typus’. Sie kennzeichnet differente Anschaffungsmotive
für das Handy, unterschiedliche Grade an Mobilität, Kommunikativität und Aneig-
nungsformen des Handys, welche kontextualisiert in Bezug auf die Integration in
ihre Lebensstile betrachtet werden. Im folgenden Abschnitt wird jeder Typus anhand
seiner spezifischen Charakteristika dargestellt. Zur Illustration und zur intersubjekti-
ven Nachvollziehbarkeit der Interpretation des Materials sind einige Interviewzitate
angeführt.

4.1 Der Mobile Typus

„Allen Leuten geb ich meine Handynummer, weil ich da halt immer erreichbar bin, [...] ich
kann ja nicht sagen, ob ich um drei Zuhause bin oder woanders.“ (Martin, 23 Jahre)
Der Begriff des Mobilen Typus verweist bereits darauf, dass sich diese Gruppe der
Handynutzer vor allem durch ihren hohen Mobilitätsgrad – nicht nur in Bezug auf
Handykommunikation – kennzeichnet. Die der Mobilität beigemessene hohe Bedeu-
tung und die Art und Weise der Aneignung des Handys als allgegenwärtiges
Medium sind das Wesentliche, was Personen dieses Typs verbindet. Charakteris-
410 Caroline Düvel

tisch ist vor allem auch ihre sozial-aufgeschlossene Haltung, die in vielen und häufi-
gen sozialen Kontakten zum Ausdruck kommt.
Diesen Typus zeichnet ein sehr intensives mobiles Kommunikationsverhalten
aus: ‚Mobile’ tätigen bis zu zehn Anrufe vom Handy und schreiben bis zu 15 SMS
pro Tag, wobei hier geschlechtsspezifische Differenzen existieren: Weibliche
‚Mobile’ schreiben mehr SMS als männliche. Der häufigste Kontaktpartner ist dabei
die Peer-Group, wobei charakteristisch ist, dass der Mobile Typus einen sehr großen
Freundeskreis hat und seine intensiven sozialen Kontakte primär per Handy pflegt.
Wie folgendes Zitat illustriert, nutzt der ‚Mobile’ sein Handy generell in jeder Situa-
tion und an jedem Ort: „Wenn jetzt irgendwas ist zum Beispiel, was weiß ich, meine
Freundin in Hannover, die hat Liebeskummer, dann texte ich auch, wenn ich im
Kino sitze.“ (Michaela, 20 Jahre). An diesem Zitat wird deutlich, was Moores mit
seiner Theorie der ‚Doppelung von Realität’ (2004) meint: Das Handy verbindet in
dieser Situation nicht nur zwei Orte, sondern verknüpft auch zwei unterschiedliche
Welten. Der Mobile Typus hat sein Handy stets bei sich und trägt es häufig sogar
direkt am Körper, womit auch seine permanente Erreichbarkeit verbunden ist. Er
lässt sein Handy sogar nachts angeschaltet auf seinem Nachtschrank liegen, um ggf.
Anrufe zu beantworten. Der Zustand der Nichterreichbarkeit ist für den Mobilen
Typus unerträglich: „Ich würd mich leer fühlen also so ich wüsste jetzt gar nicht
keiner könnte mich jetzt erreichen.“ (Martina, 23 Jahre). Der Mobile Typus verg-
leicht diesen handylosen Zustand sogar mit dem Gefühl des Nacktseins (Kerstin, 21
Jahre), womit sich für ihn ein regelrechter Erreichbarkeitszwang ergibt.
Der Grund für das intensive Kommunikationsverhalten ist einerseits ein ständi-
ges Kontaktbedürfnis zum Freundeskreis, weil die Clique für den Mobilen Typus
den zentralen Lebensmittelpunkt darstellt und das Handy von extremer Wichtigkeit
für die Pflege sozialer Kontakte im Alltag ist. Er eignet es sich demzufolge an als ein
Medium zur Herstellung von Konnektivität mit dem Freundeskreis (vgl. Bull 2004)
und somit zur Nahraumkommunikation, um sich zu verabreden (vgl. Höflich/Rössler
2001). Andererseits hat der Mobile Typus das Handy auch als Instrument zur Koor-
dination und Organisation in seinen Alltag integriert, wodurch sich seine hohe
Mobilität ermöglicht. Er koordiniert per Handy seine Alltagsaktivitäten von unter-
wegs und tätigt Termine, wodurch er ‚ungenutzte’ Zeit durch das Handy für sich
nutzbar macht. An dieser Stelle wird bereits deutlich, wie stark sich Kommunikation
und Kommunikationsräume für diesen Typus mobilisieren und loslösen von lokaler
Fixierung, so dass er sich oftmals ‚an zwei Orten gleichzeitig’ befindet (vgl. Moores
2004 sowie Höflich 2005b). Aus diesen Mobilitätsgründen hat der Mobile Typus das
Tarifmodell der Homezone14 gewählt, was ihm gestattet, auch von unterwegs zu
günstigen Festnetztarifen zu telefonieren. Somit nimmt er durch das Handy eine grö-
ßere Flexibilität in seinem Alltag wahr:
„Zum Beispiel oft, du bist unterwegs, du kannst alles ungefähr gleichzeitig machen, ist doch
schon praktisch, dass ich von überall telefonieren kann, ja. Ich brauch nicht zum Beispiel im
Büro Zuhause jetzt sein und Termine machen, ich kann das kombinieren. Ich sag, ich fahr
jetzt los mit `m Auto, bin dann im Restaurant und ruf den nächsten an, ne, hab die Nummern
Kommunikative Mobilität – mobile Lebensstile? 411
ja alle gespeichert, und kann das dann kombinieren. Also spar ich ja deutlich Zeit [...] ja man
kann dadurch richtig flexibel sein, das ist praktisch.“ (Martin, 23 Jahre)
Was dieses Zitat illustriert ist dreierlei: Erstens nimmt der ‚Mobile’ den Vorteil der
Ortsunabhängigkeit von Mobilkommunikation wahr: Hier bestätigt sich erneut die
Theorie der Pluralisierung des Ortes von Moores (2004). Indem er von unterwegs
Termine koordiniert, befindet er sich somit in beweglichen Kommunikationsräumen
(vgl. Bull 2004). Das hat allerdings auch zur Folge, dass Mobile Typen als Han-
dynutzer demnach die Orte, an denen sie sich befinden, ihren Bedürfnissen anpas-
sen: Indem mobile Technologien eine Prioritätensetzung ihrer Nutzer über die loka-
len Gegebenheiten ihrer Umwelt hinweg ermöglichen, verändert sich auch die
Struktur (öffentlicher) Orte, die nun zunehmend durch Mobilkommunikation
geprägt werden (vgl. Bull 2004: 289), was einerseits neutral ausgedrückt als eine
Ausdehnung von persönlichem ‚MediaSpace’ (Couldry/McCarthy 2004) gefasst,
andererseits allerdings auch als die Privatisierung (öffentlicher) Orte (Bull 2004)
dargestellt werden kann. Zweitens verdeutlicht das Zitat eine flexiblere Gestaltung
von Zeit durch die Handyaneignung: Indem der ‚Mobile’ sich auf dem Weg zu
einem Termin befindet, fixiert er gleich einen weiteren, ohne dass er dafür zu einem
bestimmten Zeitpunkt an einem konkreten Ort sein muss. Denn drittens hat er alle
notwendigen Daten in seinem Handy gespeichert und damit immer bei sich, so dass
er in jeder beliebigen Situation darauf zurückgreifen kann. In folgendem Zitat kom-
men noch einmal das veränderte Verhältnis zum physischen Ort und die wahr-
genommene Flexibilität durch mobile Kommunikationsräume zum Ausdruck:
„Man kann eigentlich immer überall sein, in dem Sinne also dass man, ja, ich bin jetzt zwar
in der Uni, aber trotzdem kann ich derweil dann irgendwie meine Arbeitszeiten irgendwie
regulieren oder irgendwie Babysitten und was weiß ich nicht so alles trotzdem organisieren
und machen.“ (Kerstin, 21 Jahre)
Der Mobile Typus nimmt durch das Handy also eine hohe Mobilität im Alltag wahr
und gestaltet sie: Die Wortwahl ‚immer überall sein’ drückt die für ihn zentrale Stel-
lung des sozialen Netzwerkes aus und das damit verbundene Bedürfnis, nichts ver-
passen zu wollen, was im Freundeskreis passiert. Die Äußerung ‚alles gleichzeitig
machen’ verdeutlicht sein Bedürfnis nach Effizienz und Steuerung der Koordination
seiner Aktivitäten.
Damit ist das mobile Kommunikationsverhalten des Mobilen Typus ein gutes
Beispiel für die beschriebene Individualisierung der Kommunikation (vgl. Burkart
2000) und das Entstehen von mobilen translokalen Kommunikationsräumen (vgl.
Hepp 2004c) sowie ein verändertes Verhältnis zum physischen Ort in Form einer
Privatisierung (öffentlicher) Orte (vgl. Bull 2004) mit dem Smart-Phone als multi-
medialem Kommunikationsinstrument zur Herstellung von Konnektivität (vgl. Tom-
linson 2005). Darüber hinaus lässt sich eine hohe Mobilität bei diesem Typus nicht
nur in kommunikativer und lokaler Hinsicht feststellen, sondern auch bezogen auf
seine sozialen Kontakte: Verabredungen zu einem Face-to-Face-Treffen mit Freun-
den werden meistens per SMS oder Anruf ausgemacht. Dies geschieht überwiegend
von unterwegs und spontan, beispielsweise auf dem Weg nach Hause im Auto, in
einer mobilen Situation der Zeitüberbrückung, in einem mobilisierten Kommunika-
412 Caroline Düvel

tionsraum. So wie durch das Handy das Kommunikationspotenzial und die Kontakt-
frequenz mit der Clique gesteigert worden sind, hat sich ebenso der Zeitrahmen für
soziale Kontakte verschoben. Mit jedem Anruf oder mit jeder SMS können sich wei-
tere und neue Möglichkeiten der Freizeitgestaltung anbieten und Treffen mit Freun-
den werden per Handy genauso schnell wieder verschoben oder abgesagt, wie sie
vereinbart wurden:
„Da können Sachen dazwischen kommen die man ja dann, man plant dann vielleicht doch
schon anders, weil man eigentlich, wenn man nicht die Möglichkeit hätte das [...] einfach
alles umzuwerfen, [...] dann würd es mit der Verabredung Samstag bestimmt so bleiben. Aber
durchs Handy ist es dann auch so, dass man ja noch kurzfristig sagen kann nee, also ich plan
das jetzt um dann können wir das so und so machen oder so, und dann kann das schon Don-
nerstag ganz anders wieder aussehen für Samstag.“ (Kerstin, 21 Jahre)
Im sozialen Netzwerk des Mobilen Typus werden demnach Verabredungen tenden-
ziell nur noch kurzfristig angesetzt, oftmals für denselben Tag, so dass Treffen nicht
über eine lange Zeit im Voraus geplant werden. So wie sich dieser Typus in seinen
mobilen Kommunikationsräumen bewegt, illustriert das Zitat, dass er sich auch in
seinen Freizeitaktivitäten in Form von Verabredungen mit Freunden ganz bewusst
nicht festlegen will, sondern sich stattdessen immer die Option offen hält, kurzfris-
tige Änderungen vornehmen zu können. Falls sich neue Möglichkeiten ergeben, will
er nicht gebunden sein an vorher fixierte Termine.
Resümierend kann man konstatieren, dass sich die hohe Mobilität dieses Typus
in Abhängigkeit zur Handyaneignung durch vielerlei Ausprägungen konstituiert,
wobei mit jeder Ausprägung spezielle Handlungsweisen des ‚Mobilen’, die situati-
ons-spezifische Handyaneignung betreffend, verbunden sind.
Diese dargestellten Aneignungspraktiken lassen das Fazit zu, dass der Mobile
Typus das Handy als einen bedeutungsvollen und festen Bestandteil in sein Leben
integriert hat, womit deutlich wird, dass die Alltagswelt des Mobilen Typus zumin-
dest durch das Handy vollkommen „mediatisiert“ (Krotz 2001 sowie Coul-
dry/McCarthy 2004) ist. Noch deutlicher wird dies vor allem daran, dass Ange-
hörige dieses Typus vielerlei Vorteile mit dem Handy assoziieren und darüber hin-
aus auch reflektieren, wie diese ihren Alltag verändert haben: Das Mobiltelefon
ermöglicht eine Intensivierung bzw. eine permanente Konnektivität zu seinen sozia-
len Kontakten bei gleichzeitig höherer Mobilität sowie mehr Spontaneität bei alltäg-
lichen Terminkoordinationen und ständiger Erreichbarkeit: „Ja, die Flexibilität ist
durchs Handy erhöht worden.“ (Steffen, 21 Jahre).
„Weil man einfach flexibler ist, also man kann [...] die Zeiten besser koordinieren, weil man
nicht an einen Platz oder Ort zurück muss, weil man da erst mal dann telefonieren kann oder
das absprechen kann. Ich könnte jetzt von hier aus mich mit jemanden in der Stadt treffen
oder so, dem könnt ich jetzt Bescheid sagen.“ (Kerstin, 21 Jahre)
Daran wird deutlich, dass der Mobile Typus das Handy vollständig in seine Alltags-
welt integriert hat und in mobilen Kommunikationsräumen lebt, weshalb ein Leben
ohne seinen ständigen Begleiter Handy für ihn nur schwer denkbar wäre: „Weil
man´s sich einfach überhaupt nicht mehr vorstellen kann, dass es nicht da ist.“
(Kerstin, 21 Jahre) Das Handy ist offenbar so verankert im Bewusstsein des ‚Mobi-
Kommunikative Mobilität – mobile Lebensstile? 413

len’ als wäre es ein Teil seiner selbst, wenn auf die Frage ‚Könntest du es dir noch
vorstellen ohne Handy?’ geantwortet wird: „Nee [...] ((kopfschüttelnd)), weil ich
mach wirklich alles über mein Handy, also ich verabrede mich und für die Arbeit
bin ich da zu erreichen und alles also.“ (Michaela, 20 Jahre). Das Handy wird vom
‚Mobilen’ als Instrument für ‚alles’ wahrgenommen, die Pflege sozialer Kontakte
und Erreichbarkeit für den Arbeitgeber sind nur zwei Beispiele. Der mobilisierte
Alltag wäre demzufolge nicht mehr so einfach zu bewältigen ohne Handy. Das lässt
den Schluss zu, dass die mobile Alltagswelt erst mithilfe des Handys konstruiert
worden ist, sowie im Umkehrschluss, dass zu deren Organisation und Artikulation
das Handy benötigt wird, weil sie sonst in dieser Form nicht lebbar wäre.
Das mobile Kommunikationsverhalten Jugendlicher und junger Erwachsener
des Mobilen Typus steht demzufolge in einem positiven Zusammenhang mit der
Mobilisierung ihres Lebens(-stils): Er überträgt sein mobiles Kommunikationsver-
halten auf seine soziokulturelle Umwelt, die sich in Folge dessen ebenfalls zuneh-
mend mobilisiert. In diesem Fall ist es also nicht nur der Lebensstil, der als
Bestimmgrund und Kontext für die Medienaneignung eine Rolle spielt (vgl. Höflich
2003), sondern die Aneignung eines neuen Mediums verändert den bisherigen und
bringt einen differenten Lebensstil mit neuen Elementen hervor: Den mobilen
Lebensstil. Dieser Typus illustriert, dass ein mobiler Lebensstil in beweglichen
Kommunikationsräumen tatsächlich in Abhängigkeit zum Handy bei jungen Men-
schen existiert und weiterhin, dass Handys eine mobile Konnektivität personaler
Kommunikation ermöglichen. Demnach vollzieht sich eine Interdependenz in der
Konstitution des mobilen Alltags und Lebensstils und der Handyaneignung des
Mobilen Typus. Das legt das Fazit nahe, dass die Handyaneignung einen erhebli-
chen Einfluss auf die Mobilität und sogar auf den gesamten Lebensstil des Mobilen
Typus hat, in dessen Zentrum mittlerweile die Mobilität, ermöglicht durch das Han-
dy, steht. Eine andere Gruppe der Handynutzer verhält sich zum Mobilen Typus
weitestgehend konträr. Sie soll im nächsten Abschnitt dargestellt werden.

4.2 Der Beziehungstypus

„Übers Handy ruf ich meistens immer nur Mama oder Papa an.“ (Kathrin, 17 Jahre)
Der Ausdruck ‚Beziehungstypus’ soll fassen, dass hier eine spezielle Art der Bezie-
hungskommunikation charakteristisch ist: Er eignet sich sein Handy im Wesentli-
chen zur zielgerichteten Kontaktierung weniger ausgewählter Personen bzw. Per-
sonenkreise an. Sein wenig ausgeprägtes mobiles Kommunikationsverhalten sowie
die starke Kostenorientierung sind weitere Charakteristika dieses Typus, außerdem
kennzeichnet ihn in der Handyaneignung der Fokus auf die Sicherheitsorientierung.
Die Beziehungskommunikation gestaltet sich in der Form, als dass die häufigs-
ten Kontaktpartner dieses Typus die Eltern bzw. die Partnerin oder der Partner sind,
wie folgendes Zitat illustriert: „Also wenn ich meine Freundin nicht hätte, dann
414 Caroline Düvel

könnte ich das Handy glaube ich ganz abmelden.“ (Sebastian, 22 Jahre). Dabei ist
das Kommunikationsverhalten weit weniger ausgeprägt als beim Mobilen Typus,
der Beziehungstypus schreibt maximal vier SMS pro Tag und tätigt höchstens einen
Anruf. Interessant ist hier der Kommunikationsanlass, der meist nicht in der Kontak-
taufnahme zum sozialen Netzwerk oder der Organisation des Alltags besteht, son-
dern primär zur Absicherung, um Eltern oder dem Partner mitzuteilen, dass alles in
Ordnung ist, wenn Angehörige dieses Typus unterwegs sind: „um irgendwas
Bescheid zu sagen, wenn ich wiederkomme, wo ich bin ob ich irgendwas, Plan sich
irgendwie geändert hat.“ (Tanja, 19 Jahre) oder „Also meistens ist es so, wenn
meine Freundin oder so abends weggeht denn nach Hannover oder so, da sagen wir
[...] wir vereinbaren, schreib noch mal kurz `ne SMS, dass sie Zuhause angekommen
ist.“ (Sebastian, 22 Jahre). Dieser Typus eignet sich das Handy primär zur Befriedi-
gung des Sicherheitsbedürfnisses an.
Konträr dazu steht allerdings seine häufige Erreichbarkeitsverweigerung, die
sich darin ausdrückt, dass er das Handy oftmals nicht mitnimmt, wenn er für Frei-
zeitaktivitäten das Haus verlässt. Hier existieren allerdings geschlechtsspezifische
Differenzen, weibliche Beziehungstypen haben ihr Handy häufiger bei sich – aus
den genannten Sicherheitsmotiven – als männliche. Somit existiert nicht wie beim
Mobilen Typus eine situations- und ortsunabhänigige Aneignung des Handys, son-
dern im Alltag des Beziehungstypus gibt es viele Situationen der Mobilkommunika-
tionsverweigerung:
„Ich finde, man muss nicht immer erreichbar sein, also wenn ich zur Freundin fahre nicht,
wenn ich irgendwo auf `m Geburtstag bin, wenn ich irgendwo nach Hannover `n bisschen
Party mache, nehm ich’s auch nicht mit, weil wie gesagt, da will ich dann nicht erreichbar
sein.“ (Sebastian, 22 Jahre)
Hier wird bereits deutlich, dass in Verbindung mit dieser anderen Form der Han-
dyaneignung des Beziehungstypus (im Vergleich zum Mobilen Typus) kaum Mobi-
lität in seinem Alltag entstehen kann, die offenbar von ihm auch nicht gewollt ist.
Vielmehr empfindet der Beziehungstypus Kontrolle durch permanente Erreichbar-
keit, weshalb er eine ständige Handyaneignung ablehnt. Es entstehen demnach zeit-
lich sehr begrenzte und situativ eingeschränkte mobile Kommunikationsräume im
Gegensatz zum Mobilen Typus, der sich vollständig in einer mobilisierten Lebens-
welt befindet. Dies ist auch auf die ausgeprägte Kostenorientierung des Beziehungs-
typus zurück zu führen, welche ihn dazu veranlasst, gezielt mit dem Anrufen zu
warten, bis er Zuhause das Festnetz zur Verfügung hat, um nicht das Handy benut-
zen zu müssen: „Wenn ich in `ner Bahn sitze und denke, hm, den könnte ich mal
wieder anrufen, dann ruf ich nicht vom Handy aus an, dann warte ich, bis ich
Zuhause bin.“ (Tanja, 19 Jahre). Auch hier grenzt sich dieser Typus deutlich vom
Mobilen Typus ab, der spontan mobil telefoniert und keine Rücksicht auf Kosten
nimmt. Konträr dazu telefoniert der Beziehungstypus fast ausschließlich aus einer
nicht-mobilen Situation von Zuhause, womit er seine kommunikative Mobilität sel-
ten nutzt, um von unterwegs Verabredungen zu treffen oder Termine zu koor-
dinieren. Diese Aneignung verweist auf eine deutlich niedrigere kommunikative
Mobilität des Beziehungstypus im Vergleich zum Mobilen Typus.
Kommunikative Mobilität – mobile Lebensstile? 415

Das kommunikative sowie auch das soziale Handeln des Beziehungstypus hat
sich durch die Aneignung des Mobiltelefons demnach temporär begrenzt flexibi-
lisiert, von einer Mobilisierung kann in diesem Fall allerdings nicht gesprochen wer-
den. Die Flexibilisierung bezieht sich demzufolge nur auf seinen Kommunikations-
stil und die Interaktion mit seinem sozialen Netzwerk, wobei die sozialen Kontakte
– konträr zu denen des Mobilen Typus – nicht gekennzeichnet sind durch Spontanei-
tät und Unverbindlichkeit, sondern der Beziehungstypus durchaus fixe Verabredun-
gen über längere Zeiträume trifft, meistens allerdings per Festnetztelefon, die dann
per SMS nochmals bestätigt werden.
Der Bezug zur Artikulation des Lebensstils ist bei diesem Typus folgender:
Offenbar besteht nur ein sehr geringer Zusammenhang zwischen mobiler Kommuni-
kation und Lebensstil, da die Handyaneignung nicht kontinuierlich, sondern eher
situativ verläuft. Man kann hier von einer temporären Integration des Handys in den
Lebensstil des Beziehungstypus sprechen, die jedoch unter ganz anderen Gesicht-
spunkten erfolgt als beim Mobilen Typus. Die Aneignung der Mobilkommunikation
des Beziehungstyps wird überwiegend geleitet vom Motiv des Sicherheitsaspekts
und nicht von Mobilität im sozialen Netzwerk oder flexiblerer Koordination seiner
Alltagsaktivitäten. Deshalb erfolgt aufgrund der Handyaneignung keine Verän-
derung des bisherigen Lebensstils hinsichtlich einer Mobilisierung, sondern der
Beziehungstyp integriert das Handy so in seinen Alltag, dass die Mobilkommunika-
tion seinen Lebensstil zumindest situativ und temporär flexibilisiert, jedoch keines-
falls mobilisiert wie beim Mobilen Typus. Es kommt somit nicht zu einer Artikula-
tion eines neuen (mobilen) Lebensstils.

4.3 Der Praktische Typus

„Wie soll ich `n das sagen, welche Rolle das spielt, also [...] eben `n Gebrauchsgegenstand,
ne, der auch mit dabei sein sollte.“ (Christian, 18 Jahre)
Wie der Name ausdrückt, beläuft sich die Aneignung des Handys durch diesen Nut-
zungstypus auf den praktisch-funktionellen Gebrauch in seinem Alltag. Das Wesent-
liche, was den Praktischen Typus kennzeichnet, ist somit die Betrachtung des Han-
dys als nützlichen Gebrauchsgegenstand zur Organisation der lokalen Mobilität
seiner Alltagsaktivitäten. Darüber hinaus charakterisiert ihn ein Lebensstil mit Aus-
richtung auf lokale Interessen und eher begrenzten sozialen Kontakten.
Konträr zu den anderen Typen sind es beim ‚Praktischen’ immer konkrete
Anlässe, weshalb er das Handy nutzt. Er telefoniert, um sich einen Rat zu holen und
nicht, um soziale Kontakte zu pflegen oder sich abzusichern, weshalb seine Handy-
kontaktpartner häufig Arbeitskollegen und seltener Freunde sind. Diese Aneignungs-
praktiken geben bereits Aufschluss darüber, dass es sich bei dem Kommunikati-
onsanlass auch um einen ‚wirklichen’ Grund handelt, weshalb der ‚Praktische’
anruft: „`n Problem zum Beispiel [...] wo man nicht weiter weiß, ja, das war`s
416 Caroline Düvel

eigentlich, [...] und `n Notfall eben.“ (Christian, 18 Jahre). Deshalb bevorzugt er


auch die Kommunikationsform Anruf, weil er so zu einer schnelleren Lösung des
Problems kommt und nicht wie bei einer SMS die Antwort abwarten muss. Schnel-
ler problemorientiert kommunizieren zu können, ist hier das zentrale Kriterium für
die Wahl der mündlichen Form der Mobilkommunikation. Darin besteht eine
erhebliche Divergenz zu den anderen Typen, welche das Handy im weitesten Sinne
aus sozial oder emotional geleiteten Motiven aneignen.
Charakteristisch für den Praktischen Typus ist weiterhin keine temporär-situati-
ve, sondern seine kontinuierliche Nutzung des Handys im gesamten Tagesverlauf,
womit er dem Mobilen Typus näher steht als dem Beziehungstypus. „Wenn ich weg-
gehe, hab ich’s meistens zu 95 Prozent dabei.“ (Christian, 18 Jahre). Seine per-
manente Erreichbarkeit tagsüber und die damit verbundene Handynutzung orts- und
situationsunabhängig von überall konstituieren eine hohe kommunikative Mobilität.
Was ihn jedoch deutlich vom Mobilen Typus abgrenzt ist die Tatsache, dass der
‚Praktische’ durch das Handy kaum mehr Flexibilität oder Mobilität in seinem All-
tag wahrnimmt, wenn er die Frage ‚Fühlst du dich flexibler durch das Handy?’
beantwortet: „Joa, kann man so sagen, aber [...] ja, irgendwo schon Bescheid sagen
so, ne, aber eigentlich nicht, es ist ganz normal.“ (Christian, 18 Jahre). Das ‚ganz
normal’ drückt aus, dass der ‚Praktische’ seinen jetzigen Tagesablauf gar nicht kennt
ohne Handy, weil er es von Anfang an integriert hat. Demzufolge reflektiert er die
durch das Handy möglicherweise gewonnene Flexibilität und kommunikative Mobi-
lität in seinem Alltag nicht, weil es (inzwischen) normal für ihn ist, überall die Mög-
lichkeit zum mobilen Kommunizieren zu haben. Nichtsdestotrotz lebt er aber seine
hohe Mobilität im Alltag mit Hilfe des Handys aus. Somit ist sein Alltag ähnlich
mediatisiert durch das Handy und er bewegt sich in mobilen Kommunikationsräu-
men wie der Mobile Typus.
Für den ‚Praktischen’ ist demzufolge das Handy ein Instrument zur Organisa-
tion und Koordination seiner hohen lokalen Mobilität im Alltag. Da er häufig
sowohl beruflich als auch privat unterwegs ist, gibt ihm das Handy die Möglichkeit
der flexiblen Koordination, der organisatorisch-zweckrationale Aspekt ist bei ihm
vordergründig. Obwohl seine sozialen Kontakte wenig ausgeprägt sind und er im
Gegensatz zu den anderen Typen nicht Mitglied einer festen Clique ist, eignet sich
der Praktische Typus das Handy zur Nahraumkommunikation an. Das Konnektivi-
tätsbedürfnis (vgl. Bull 2005; Tomlinson 2005) bezieht sich hier allerdings nicht so
sehr auf eine Kontaktherstellung zum Freundeskreis, sondern auf die Verbindung zu
seinen Arbeitskollegen. Man kann damit den Praktischen Typus auf der Mobilitätse-
bene zwischen dem Mobilen und dem Beziehungstypus ansiedeln, da ein wesentli-
cher Teil seines Alltagslebens von Mobilität gekennzeichnet ist.
Der ‚Praktische’ eignet sich – ähnlich wie der ‚Mobile’ – das Handy als Koor-
dinationsinstrument seiner Alltagswelt an, worin es ein fester Bestandteil ist. Dabei
verändert die Handynutzung den Alltag des Praktischen Typus, indem es ihn auf
organisatorischer Ebene erleichtert und flexibilisiert, da seine Alltagswelt durch eine
hohe lokale Mobilität gekennzeichnet ist. Jedoch trägt die Aneignung nicht so maß-
geblich zur Artikulation des Alltags und Lebensstils bei wie beim Mobilen Typus.
Kommunikative Mobilität – mobile Lebensstile? 417

Nach eigenen Angaben könnte der ‚Praktische’ zumindest eine begrenzte Zeit auf
sein Handy verzichten: „Also, wenn es jetzt von heute auf morgen nicht mehr geht,
dann würd ich jetzt nicht sofort losfahren und dass ich `n neues kriege, das kann
dann auch ruhig mal `ne Woche dauern oder so.“ (Christian, 18 Jahre). Mögliche
Gründe dafür könnten erstens sein, dass er kein ausgeprägtes soziales Netzwerk hat,
zu dessen Kontaktierung das Handy essentiell ist, sowie zweitens, dass er gar nicht
weiß, wie sein jetziger Alltag ohne Handy verlaufen würde, da er es noch nie erlebt
hat. Die hohe lokale Mobilität im Lebensstil des Praktischen Typus würde auch
ohne Handy stattfinden, da sie überwiegend berufsbedingt ist und das Handy sie nur
kommunikativ begleitet und ‚absichert’, womit die Alltagsaktivitäten des ‚Prakti-
schen’ zwar umständlicher würden ohne Handy, jedoch dennoch lösbar wären.
Die Handyaneignung konstituiert also nur bedingt eine höhere Mobilität im
Lebensstil des Praktischen Typus. Hier besteht allerdings keine Interdependenz wie
beim Mobilen Typus. Somit kann man nicht von einer Artikulation eines wirklich
neuen Lebensstils durch die Handyaneignung sprechen, der ohne das Handy nicht
aufrecht zu erhalten wäre. Sondern vor diesem Hintergrund erscheint der Begriff
mobilisierter Lebensstil im Kontext der Handyaneignung adäquat.

5 Fazit: Chancen und Risiken der Handyaneignung

Die vorliegende Untersuchung vermittelt einen ersten Eindruck über qualitative


Unterschiede in der Aneignung des Handys und im mobilen Kommunikationsver-
halten Jugendlicher und junger Erwachsener – und damit auch über Differenzen in
dessen Integration in den individuellen Alltag, persönliche Mobilitätsräume sowie
den Lebensstil der verschiedenen Handynutzer. Das Ergebnis ist, dass drei Aneig-
nungstypen herausgearbeitet wurden, für die Mobilkommunikation eine jeweils
andere Bedeutung hat. Am bemerkenswertesten scheint, dass kein Lebensstil ‚unbe-
rührt‘ von der Handyaneignung bleibt, sondern die Mobilkommunikation – wenn
auch in ganz unterschiedlichen Ausprägungen – in verschiedene Lebensstile dreier
Typen integriert wird. Für den Kontext der Untersuchung Mobilität, Mobilkom-
munikation und Lebensstil ist sicherlich der Mobile Typus am bedeutendsten, den
das am weitesten entwickelte und am höchsten ausgeprägte mobile Kommunikati-
onsverhalten charakterisiert. Sein mobiler Lebensstil artikuliert sich in wechselseiti-
ger Abhängigkeit zur mobilen Kommunikation. Deshalb kann man in diesem Fall
das Handy als Medium zur Herstellung von Mobilität und Konnektivität benennen.
Die drei generierten Nutzungstypen unterscheiden sich v.a. in Bezug auf die Aneig-
nungsaspekte, Handykontakte, Aneignung (als Integration), Kommunikationsanlass,
Erreichbarkeit und Mobilität (siehe Tabelle 1).
Die Ergebnisse verdeutlichen, dass sich Alltag und Lebenswelt von Jugendlich-
en und jungen Erwachsenen durch die Aneignung von Mobilkommunikation in
unterschiedlichen Ausprägungen als mediatisiert bezeichnen lassen (vgl. Krotz 2001
418 Caroline Düvel

und Couldry 2004), was auf eine Mobilisierung hinauslaufen kann, jedoch nicht
zwangsweise muss.

Tabelle: Typenübersicht
Mobiler Typus Beziehungstypus Praktischer Typus
Handykontakte häufig und intensiv: weniger intensiv: weniger häufig und
Clique, Freundeskreis Eltern, Partner, Cli- intensiv: ‚Kumpels’,
que Arbeitskollegen
Aneignung vollständige Integra- temporäre und situa- vollständige Integra-
tion und Artikulation tionsabhängige Inte- tion jedoch kaum
des Alltags gration in die Alltags- Artikulation des All-
welt tags
Kommunikations- Pflege sozialer Kon- Eltern und Partnerin Problemlösung, um
anlass takte, Freizeitgestal- benachrichtigen, Rat fragen
tung, Alltagskoor- Sicherheitsbedürfnis
dination
Erreichbarkeit sehr hoch: immer eingeschränkt: nicht hoch: fast immer
immer
Mobilität sehr hoch begrenzt hoch

Je nach Motiv bzw. Intention bestehen unterschiedliche Aneignungspraktiken für


das Handy, die teilweise (wie z.B. beim Mobilen Typus) in einem positiven Zusam-
menhang mit den theoretischen Vorüberlegungen stehen. Einerseits erscheinen die
Theorien des „MediaSpace“ von Couldry und McCarthy (2004), die der Plura-
lisierung von Orten und Realitäten (Moores 2004), der Entstehung und Wahrneh-
mung von beweglichen Kommunikationsräumen (Bull 2004) sowie die der Konnek-
tivität (Hepp 2004c; Tomlinson 2005) als geeignete Ansätze für eine Auseinan-
dersetzung mit Mobilkommunikation. Für eine Gruppe Jugendlicher besteht in der
Mobilisierung und Flexibilisierung des Alltags durch kommunikative ‚Überwin-
dung’ der örtlichen Grenzen der Gewinn der Handykommunikation, sie charak-
terisiert ein großes Bedürfnis nach Konnektivität, das sie mit dem Handy befriedi-
gen. Jedoch zeigen die Ergebnisse der Studie ebenso, dass das, worin die einen das
Potenzial und die Chancen der Mobilkommunikation sehen, andere als Beschrän-
kungen und Risiken empfinden, weshalb sie die Handynutzung auf wenige Situati-
onen reduzieren. So empfindet eine andere Gruppierung in der kommunikativen Ver-
netzung – überspitzt formuliert – eine Einschränkung der Privatsphäre und Kontrolle
durch übermäßige kommunikative Konnektivität und befürchtet hohe Kosten in
Zusammenhang mit dem Handy. Geleitet wird diese Gruppe in der Handyaneignung
ausschließlich durch das Motiv der Absicherung bei Mobilität. Resümierend lässt
sich demnach festhalten, dass sich durch die Aneignung von Mobilkommunikation
ebenso viele Chancen wie Risiken ergeben, was von allen Aneignungstypen auf dif-
ferente Art und Weise wahrgenommen wird, weshalb das Mobiltelefon ein unter-
schiedlich stark integrierter Bestandteil ihrer soziokulturellen Alltagswelt und damit
auch ihres Lebensstils ist, insgesamt jedoch aus der Lebenswelt der Jugendlichen
nicht mehr wegzudenken ist.
Kommunikative Mobilität – mobile Lebensstile? 419

Anmerkungen

1 Siehe http://www.handelsblatt.com [18.07.05].


2 Stuart Hall folgend hat der Artikulationsbegriff zweierlei Bedeutungen, nämlich erstens
unterschiedliche „Elemente zu verbinden“ sowie zweitens „sich zu äußern“ (vgl. Hall
1986: 141 sowie Hepp 2004a: 50f.). Im Rahmen einer Medienanalyse im Sinne der Cul-
tural Studies wird Artikulation hier verstanden als ein diskursives In-Beziehung-Setzen
einzelner Elemente, die dadurch ihre Bedeutung verändern und wodurch sie zu Momenten
eines ‚größeren Diskurses’ (vgl. Hepp 2004a) werden: Ein Diskurs kann in diesem Ver-
ständnis als das „Produkt von sozialen, historischen und institutionellen Formationen“
(Hepp 2002: 36) gefasst werden.
3 Wenn im Folgenden der Begriff Mobilkommunikation verwendet wird, so fokussiert er
primär die mobile Kommunikation per Handy und stellt die anderen mobilen Terminals
zurück.
4 Townsend (2000) stellt in diesem Zusammenhang weiter fest, dass Individuen, die sich
ganz auf den neuen durch das Mobiltelefon ermöglichten Lebensstil einlassen, einen
wichtigen Wandel erfahren: Zeit wird zu einer Tauschware, die über das Telefon nach
Belieben gehandelt werden kann.
5 Allerdings bringt die höhere Flexibilität und Mobilität nicht zwangsweise nur Vorteile mit
sich. Die Verbindlichkeit einer fixen Verabredung beispielsweise ist mit der Möglichkeit,
sich jederzeit wieder neu entscheiden zu können, nahezu völlig aufgelöst worden (vgl.
Dworschak 2004). Wenn Mobilität nicht nur zu mehr Flexibilität, sondern teilweise zur
Loslösung von Verbindlich- und Verlässlichkeit führt, ist ein Überdenken und Reflek-
tieren der eigenen Werte als Handlungsbasis für den Umgang mit der mobilen Technolo-
gie notwendig.
6 Auch Kristof Nyiri konstatiert: „Mobile telephony is of course at all times entirely bound
up with real places. At a pedestrian level […] it is based on a cellular system of transmis-
sion towers […]. At a more elevated level, we should note that most mobile calls and
SMS messages are domestic, and are in fact connected to some local situation…” (2005:
18). Ähnlich hält auch Joachim Höflich fest, dass sich Menschen zwar temporär durch ein
Telefongespräch von ihrem (öffentlichen) physischen Ort entfernen, dies jedoch nicht in
völliger Unabhängigkeit geschieht, da sie sich durchaus der sozialen Normierungen des
Ortes, an dem sie sich befinden, bewusst sind (vgl. Höflich 2005a).
7 Vgl. auch Puro 2002
8 Vgl. auch Höflich/Gebhardt 2005c sowie Krotz 2005a
9 Der Aneignungsbegriff soll hier nicht bloß im eingeschränkten Sinne einer reinen kom-
munikativen Aneignung verstanden werden, sondern Aneignung geht über den Ansatz
wie er der Mediennutzungs- und Kommunikationsforschung zugrunde liegt hinaus: Dieser
differenziert Mediennutzung in verschiedene Teilphasen wie prä-kommunikative Phase
(Medienauswahl), kommunikative Phase (Medienrezeption) und post-kommunikative
Phase (Medienaneignung). Somit umfasst der hier verwendete Aneignungsbegriff im Rah-
men der Cultural Studies sowohl das kulturell kontextualisierte als auch Kultur (re)artiku-
lierende ‚Sich-zu-Eigen-Machen’ von Medieninhalten (durch personale Kommunikation)
(vgl. Hepp 2004b).
10 Der Begriff umfasst, dass man mit dem Handy außer telefonieren auch fotografieren,
Kurzvideos drehen oder weitere Dienstangebote nutzen kann (vgl. BMWA 2004).
11 Vgl. dazu exemplarisch auch Bovill/Livingstone 2001 sowie Bug/Karmasin 2003
12 Peer-Groups sind Gleichaltrigengruppen bestehend aus Individuen mit im weitesten Sinne
ähnlichen Interessen in der Phase der Jugend mit teilweise recht lockeren Beziehungs-
420 Caroline Düvel
strukturen, in denen Jugendliche Werte und Normen verhandeln, Handlungsorientierun-
gen bilden und ihre Identitätsprofile entwerfen (vgl. Neumann-Braun 2003: 16).
13 Vgl. Kluge 1999; Weber 1976
14 Das Prinzip der Homezone ist folgendes: Der Nutzer definiert anhand einer Adresse seine
Homezone, in der ein Häuschen auf seinem Handydisplay erscheint und in der er zu
besonders günstigen Konditionen telefonieren kann. Die Homezone hat eine Größe von
mindestens 500 Quadratmetern in jede Richtung, ausgehend von der definierten Adresse.
Im Umkreis seines Festnetzanschlusses von einigen hundert Metern kann der Mobilfunk-
teilnehmer mit seinem Handy zum Festnetzpreis telefonieren (vgl. Mobilfunk-Lexikon:
http://www.inside-handy.de/mobilfunk-lexikon [07.02.05]).

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Ute Bechdolf

1 Vorbemerkungen

An deutschen Hochschulen haben feministische Perspektiven und Denktraditionen –


meist unter dem Begriff ‚Gender Studies‘ zusammengefasst – in allen Disziplinen bis
heute einen weitaus schwereren Stand als an britischen oder US-amerikanischen
Universitäten (vgl. Ecker 1996) – nach einer zögerlichen Berücksichtigung in den
1990er Jahren verschwanden sie oft kurze Zeit später wieder aus den Curricula. Unter-
zieht man die Selbstdarstellungen der im letzten Jahrzehnt neu entstandenen
kulturwissenschaftlichen Studiengänge einer kritischen Prüfung, studiert man die Pro-
gramme einschlägiger Konferenzen, zeigt sich auch hier das vertraute Bild: Die sich in
Deutschland derzeit etablierenden Kultur-, Kommunikations- und Medienwissen-
schaften betrachten Geschlecht selten als grundlegende kulturelle Kategorie. Während
der Feminismus, wie auch Stuart Hall (1994) mehrfach angemerkt hat, im internationa-
len Kontext der Cultural Studies als eine der wichtigsten sozialen Bewegungen der letz-
ten Jahre gilt, werden im Etablierungsprozess in Deutschland wichtige Chancen verge-
ben. Dieses Phänomen lässt sich auf eine langjährige Rezeptionssperre vieler Forscher
gegenüber der auch in Deutschland interdisziplinär arbeitenden kulturwissenschaft-
lichen Geschlechterforschung zurückführen. Da sich meine eigene Arbeit auf die femi-
nistischen Ansätze der Cultural Studies stützt, bietet es sich an, vor der Präsentation der
Fallstudie einen kurzen – und notwendigerweise holzschnittartigen – Blick auf einige
zentrale Aspekte der Gender Studies zu werfen.

2 Feminist Cultural Studies

Die Anfänge der British Cultural Studies waren – wie der überwiegende Teil der Geis-
teswissenschaften in den 1950er Jahren – von Universalisierungen männlicher Kultur-
praxen geprägt (für eine ausführlichere Darstellung vgl. Franklin/Lury/Stacey 1991):
Zahlreiche Studien zur Arbeiter- und Jugendkultur konzentrierten sich auf männliche
426 Ute Bechdolf

Stile der Rebellion und grenzten dabei weibliche Sichtweisen und Erfahrungen aus.
Gegen diese Marginalisierung setzten sich einige Birminghamer Wissenschaftlerinnen
zur Wehr, formten die Women‘s Studies Group (1978) und füllten in den folgenden
Jahren die von männlichen Forschern verursachten Lücken mit ihren Arbeiten aus (z.B.
McRobbie/Garber 1979).
Auch in der Medienforschung (für einen Überblick vgl. Baehr/Gray 1996 bzw.
Zoonen 1994) standen für viele feministische Wissenschaftlerinnen die vernachlässig-
ten und degradierten weiblichen Vorlieben und Erfahrungen im Zentrum des Interesses.
In textanalytischen Studien wurden besonders die Genres Mädchenzeitschrift, Liebesro-
man, Melodram und Soap Opera unter die Lupe genommen, und viele ethnografische
Rezeptionsstudien konzentrierten sich auf ein weibliches Publikum, um die medialen
Faszinationen von Frauen analysieren zu können. Charlotte Brunsdon (1993) verwies in
einem eindrucksvollen Aufsatz auf die Vorzüge, aber auch auf die Problematik der
feministischen Fernsehforschung der 1980er Jahre. Zwar stand die allzu oft ignorierte
Subjektivität von Frauen im Zentrum, wurden nicht nur ihre Vorlieben und Erfahrun-
gen, sondern auch ihre medialen und freizeitgestalterischen Aktivitäten durch die For-
schung validiert, doch legten die Forscherinnen damit gleichzeitig fest, was ‚Frau‘ ist
und konstruierten – von verschiedenen theoretischen Standpunkten aus – eine weibliche
Identität, die sich von einer männlichen grundlegend unterscheidet. So wichtig diese
Untersuchungen von vergeschlechtlichten (‚gendered‘) Texten und Zuschauerschaften
für die Kritik an der Verallgemeinerung männlicher Kulturpraxen waren, so erschweren
sie doch aus heutiger Sicht die Wahrnehmung und Untersuchung von Differenzen zwi-
schen Frauen. Auch die Frage, wie unterschiedliche Geschmacksausprägungen oder
Nutzungsweisen kulturell produziert werden, lässt sich mit dieser Perspektive nicht
beantworten.

3 Gender Studies

Unter dem Einfluss von poststrukturalistischen und konstruktivistischen Theorien voll-


zog sich innerhalb der letzten fünfzehn Jahre ein Paradigmenwechsel in der Be-
trachtungsweise von Geschlecht (z.B. McRobbie 1994). Während frühere feministische
Theorien eine Trennung von Geschlecht in ‚sex‘ und ‚gender‘ etablierten, in der ‚gen-
der‘ lediglich die kulturelle Überformung des natürlich gedachten ‚sex‘ darstellte
(damals eine wichtige Trennung, um die Historizität der unterschiedlichen Hierarchie-
Ausprägungen betrachten zu können), fallen diese beiden Begriffe inzwischen wieder
zusammen. Auch die Vorstellung von ‚sex‘ als biologische Grundlage von ‚gender‘ ist
demzufolge eine kulturell konstruierte (vgl. etwa Gildemeister/Wetterer 1992).
Das System der Zweigeschlechtlichkeit wird inzwischen nicht mehr als un-
hinterfragbare Biologie gesehen, die durch gesellschaftliche Rollenzuweisungen ledig-
lich angereichert wird, sondern als gedankliche Konstruktion, die unsere gesamte Welt-
sicht durchdringt – und damit nicht als Essenz, sondern als Effekt, als Kultur statt
Natur. In Auseinandersetzung mit Judith Butlers Gender Trouble (1991) zeigten in den
Verhandlungssache Geschlecht 427

1990er Jahren etliche Wissenschaftlerinnen, wie das (als natürlich verhandelte) System
der Zweigeschlechtlichkeit, das männlich und weiblich auf allen Ebenen hierarchisiert,
in kulturellen Prozessen ständig neu reproduziert wird. Indem wir davon ausgehen, dass
jeder Mensch zwangsläufig ein und nur ein Geschlecht hat, unverwechselbar und un-
veränderbar, stellen wir Männlichkeit und Weiblichkeit als Polaritäten in all unseren
Denk- und Handlungsweisen immer wieder her – ein alltägliches ‚doing gender‘.
Medien sind in diesem kulturellen Konstruktionsprozess wichtige Agenturen, sie
werden beispielsweise von der Medien- und Kulturwissenschaftlerin Teresa de Lauretis
als Technologien der Geschlechter (1987) bezeichnet. Auf allen Ebenen produzieren
die Medien ständig – wie andere Instanzen auch – Diskurse über Geschlecht. Als
Medienrezipientinnen und Medienrezipienten sind wir also umgeben von einem Ge-
flecht aus Diskursen, Aussagen über die Beschaffenheit von Männlichkeit und
Weiblichkeit, über die Differenzen zwischen beiden wie auch über die davon abgelei-
tete Hierarchisierung. Indem wir darauf Bezug nehmen, uns z.B. identifizieren oder
auch von bestimmten Bildern abgrenzen, arbeiten wir an diesem Prozess aktiv mit. Es
gibt keine Möglichkeit, sich nicht in diesem Diskursfeld zu positionieren, ein nicht-ge-
schlechtliches Denken und Handeln ist, aus dieser Theorie-Perspektive gesehen, ausge-
schlossen. Selbstverständlich können in bestimmten Situationen andere Diskurse wie
etwa Schicht oder Ethnizität wesentlich wichtiger sein, doch die Wirksamkeit der dis-
kursiv verbreiteten Macht (Foucault 1977) ist im Feld von Geschlecht und Sexualität
besonders groß. Geschlecht entsteht in einer Art Sinn-Bastelei (Hitzler/Honer 1994)
also im wechselseitigen Prozess von Repräsentation und Selbstrepräsentation.

4 Musikvideos: Texte und Rezeptionen

In diesem alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringenden kulturellen Prozess


erscheinen Musikvideos lediglich als kleine Mosaiksteine, doch für viele Jugendliche
sind sie enorm wichtig (Altrogge 1999; Quandt 1997). Indem sie textuelle Angebote
machen, Bilder, Worte und Klänge zur Verfügung stellen, machen Videoclips auch
Rezeptions-Vorgaben, wobei das Spektrum von relativ direkt angebotenen Identifika-
tionsfiguren bis hin zu einem großen Fantasie-Spielraum für potenzielle Geschlechts-
identitäten reicht. Diese Bedeutungsangebote entstehen natürlich nicht in einem luft-
leeren Raum, sondern die Musikvideos nehmen dominante Diskurse der Differenz und
der Hierarchie der Geschlechter auf und arbeiten mit ihnen. Obwohl die tägliche Kost
von Kanälen wie MTV und VIVA den traditionellen Konventionen von Weiblichkeit
und Männlichkeit entspricht, lassen sich immer auch Clips finden, die spielerisch mit
den Diskursen umgehen, sie verfremden, ausweiten und zu überwinden versuchen. Die
kultur- bzw. kommunikations- und medienwissenschaftliche Literatur zum Thema
Musikvideos ist inzwischen stark angewachsen und es liegen inzwischen auch einige
Produktanalysen über die Konstruktion von Geschlecht wie auch über Strategien des
‚gender-bending‘ vor (z.B. Bloss 1998). Während sich die früheren Analysen eher auf
die visuelle Stimulanz konzentrierten (z.B. Grigat 1995; Kaplan 1987; Lewis 1990;
428 Ute Bechdolf

Stockbridge 1989), werden inzwischen die popmusikalischen Grundlagen der Video-


clips stärker berücksichtigt.
Erste Beispiele waren etwa die Arbeiten von Barbara Bradby (1992), Susan
McClary (1991) und Melanie Morton (1993), die sich als erste auch mit der musikali-
schen Bedeutungsproduktion von Madonna-Videos auseinander setzten. Robert Walser
(1993) analysierte Geschlechterkonstruktionen in Heavy Metal-Videos, Clara Juncker
(1993) beschäftigte sich mit dem verwirrenden Zusammenspiel von Stimme, Auftreten
und Rhythmus in den Videos von Grace Jones, und Richard Middleton (1995) stellte
heraus, mit welch differenzierten musikalischen Strategien Annie Lennox, die frühere
Sängerin des Pop-Duos Eurythmics, das Arrangement der Geschlechter durcheinan-
derbringt. Auch Sheila Whiteley (2000), Monika Bloss (2001) sowie der Sammelband
„Clipped Differences“ (Helms/Phleps 2003) präsentieren popmusikalische Analysen
von Musikvideos.
Doch wie die andere Seite dieses kulturellen Prozesses funktioniert, die Bedeu-
tungskonstruktion von Geschlecht durch die Rezipientinnen und Rezipienten, ist bis auf
wenige Einzelstudien (Bechdolf 1999; Brown/Schulze 1990; Hurley 1994) unerforscht.
Im Kontext der Medientheorien der British Cultural Studies ist – insbesondere bei
populärkulturellen Produkten – von relativ offenen Texten auszugehen, von einer
potenziellen Polysemie. Die Bedeutung eines Musikstücks oder eines Videoclips ist
daher nicht als etwas Fixes, allein im Produkt selbst Angesiedeltes zu betrachten, son-
dern entsteht erst in der Interaktion der Rezipientinnen bzw. Rezipienten mit den
Texten. Das Musikvideosehen ist also immer auch ‚Verhandlungssache‘, denn die ju-
gendlichen Zuschauerinnen bzw. Zuschauer und Zuhörerinnen bzw. Zuhörer nehmen
hauptsächlich auf jene Bedeutungen Bezug, die ihnen jeweils am meisten Lust, Vergnü-
gen, Spaß bereiten. Dieses Vergnügen hängt wiederum von verschiedenen Faktoren ab:
von der konkreten Sehsituation und Stimmung, von Vorwissen und Mitseherinnen bzw.
Mitseher, von Schicht und Bildungsgrad, aber auch Geschlecht, ethnische Zugehö-
rigkeit, Alter, psychische Disposition und Musikgeschmack spielen dabei eine Rolle.
Meine Rezeptionsforschung zu diesem Themenkomplex ist daher von folgenden
Fragen geleitet: Wie wird der Faktor Geschlecht im Umgang mit Musikvideos wirk-
sam? Wie wird Männlichkeit, wie wird Weiblichkeit in der Rezeption artikuliert? Wie
wird dabei die Differenz, wie die dominante Hierarchie der Geschlechter reproduziert?
Welche inneren Verhandlungen finden beim Musikvideo hören und sehen statt? Und
welche Widerstände gegen die Ordnung der Geschlechter können möglicherweise akti-
viert werden?

5 Die ethnografische Studie

Auf den ersten Blick verhalten sich weibliche und männliche Jugendliche beim Musik-
fernsehen – wie auch beim Umgang mit Popmusik generell – den dominanten Ge-
schlechterdiskursen dadurch entsprechend, dass sie unterschiedliche Orte, Zeiten,
Häufigkeiten und MitseherInnen bevorzugen und teilweise verschiedene Motivationen
Verhandlungssache Geschlecht 429

fürs Musikvideo sehen/hören angeben. Wie meine Umfrage unter 200 Schülerinnen
und Schülern aus dem Raum Tübingen zeigt, gehen Mädchen dabei eher Nebenbe-
schäftigungen nach oder sprechen mit ihren FreundInnen über Stars und Mode, wäh-
rend Jungen eher intensiv und konzentriert bei der Sache sind, beim Fernsehen ihre
Ruhe haben wollen und Interesse daran signalisieren, die Musiker zu sehen. Behne und
Müller (1996) erzielten in einer Untersuchung ähnliche Ergebnisse: Mehr Mädchen
gaben an, bei den Hits mitzusingen, gelegentlich Tanzschritte einzuüben, Jungen hin-
gegen kreuzten häufiger an, dass sie sich beim Sehen besonders dafür interessieren, wie
die Musik gemacht wird, dass sie sich aber immer wieder auch eigene Bilder zur Musik
vorstellen.
Diese Ergebnisse beruhen jeweils auf größeren Fragebogenaktionen und werfen
vermutlich mehr Licht auf die Einstellungen der Jugendlichen, auf die an sie gestellten
sozialen Erwartungen, die sie mit ihren Kreuzchen zu erfüllen (oder abzulehnen)
meinen, als auf ihre tatsächliche Umgangsweise mit dem Medium. Um geschlechtsspe-
zifische Differenzierungen alltagsnah zu erforschen, und um Erklärungen für diese
Unterschiede zu erarbeiten, wäre eine langfristig angelegte teilnehmende Beobachtung
notwendig. Darüber hinaus betreffen die Antworten zunächst nur die Nutzungsweisen,
die Rezeption von spezifischen musikalischen bzw. visuellen Inhalten und Formen kann
mit solchen Methoden nicht erforscht werden.
Daher habe ich Interviews mit 22 weiblichen und männlichen Jugendlichen
geführt, zunächst über ihren alltäglichen Umgang mit Popmusik und Musikfernsehen,
über ihre Vorlieben und Abneigungen. Ein Jahr später, nachdem sich mein Interesse
stärker auf die Geschlechterkonstruktionen fokussiert hatte, bat ich sie um ein zweites
Gespräch, in dem wir uns ausführlich über sechs spezifische Musikvideos unterhielten.
Diese Videos wurden ausgewählt, weil sie Geschlecht auf sehr unterschiedliche Weise
repräsentieren: als klassische Reproduktion dominanter Diskurse über Männlichkeit
und Weiblichkeit (Billy Idols Rockvideo Cradle of Love und Come Baby Come von der
Rapgruppe K7), als implizite oder explizite feministische Kritik an diesen Diskursen
(Whitney Houstons Popclip I‘m Every Woman und Shoop von den Rapperinnen
Salt‘n‘Pepa) und als Versuche, die Dichotomie zu dehnen, wobei sich die Möglichkeit
ergibt, die Geschlechterdifferenz als solche zu hinterfragen. Gezeigt wurden in diesem
Kontext Aerosmiths Living on the Edge und Madonnas Justify My Love.
Die Auswertung dieser jeweils eineinhalb- bis dreistündigen Interviews zeigt im
Detail, dass Musikvideo-Sehen eine sehr komplexe Aktivität ist, bei der Geschlecht,
bewusst und unbewusst, eine enorme und vielfach dominante Rolle spielen kann – aber
nicht zwangsläufig in jedem Fall auch spielen muss. In bestimmten Fällen kann diese
Kategorie zugunsten anderer Problemkomplexe wie z.B. Alter, Bildungsgrad oder Eth-
nizität in den Hintergrund treten.
Nachdem ich mich von meiner ersten Frage, inwiefern und warum sich junge
Frauen und Männer bei der Nutzung und Rezeption von Musikvideos unterscheiden
(Bechdolf 1994), verabschiedet hatte, konnte ich mich auf die Prozesse konzentrieren,
in denen Weiblichkeit wie auch Männlichkeit im Akt des Sehens und Hörens thema-
tisiert und als grundlegende Differenz bzw. Hierarchie erzeugt werden. Damit richtet
sich der Blick auf die unterschiedlichen Ebenen, auf denen Geschlecht zur ‚Ver-
430 Ute Bechdolf

handlungssache‘ wird. Jugendliche, so zeigt meine Untersuchung, re- und dekonstruie-


ren Geschlecht
• was sie hören und sehen: Indem sie bestimmte Musikvideos bevorzugen und
andere ablehnen, also ihren eigenen Geschmack in Bezug auf Stilrichtungen und
visuelle Formen ausbilden, ausdrücken und begründen, ihn als kulturelles Kapital
(Bourdieu 1987) einsetzen und damit Distinktion aktiv betreiben, konstruieren sie
eine Differenz zwischen ‚männlich‘ und ‚weiblich‘;
• dadurch, wie sie sehen und hören: Indem sie mit Musikvideos auf bestimmte Wei-
sen umgehen, diese Umgangsweisen mit Geschlechterkonnotationen versehen und
ihnen damit Wert zuweisen oder absprechen;
• dadurch, wie sie interpretieren, was sie hören und sehen: Indem sie die
Repräsentationen von Geschlecht entziffern, dekodieren, ihnen bestimmte Bedeu-
tungen zuweisen und sich in selbst in diesem Bedeutungsgefüge, in diesem Dis-
kurssystem verorten.
Auf allen Ebenen differenzieren die Jugendlichen immer wieder ‚männlich‘ von
‚weiblich‘, sie polarisieren die beiden Kategorien (durch Vergleichs- oder Ausschluss-
Konstruktionen) und nehmen eine klare Hierarchisierung vor. Dies geschieht zum einen
explizit und bewusst, wenn wir im Interview konkret darüber sprachen, unter Zuhilfe-
nahme von etablierten Geschlechterdefinitionen und Wissenskonzepte. Doch es zeigt
sich auch, implizit und unbewusst, in den anderen Gesprächspassagen, wenn Ge-
schlecht nicht unmittelbar zur Debatte stand. Auch wenn es dem Wortlaut der In-
terview-Transkripte an solchen Stellen nicht direkt zu entnehmen ist, beziehen sich die
Jugendlichen immer wieder auf dominante Geschlechter-Diskurse, was an Parallelen in
der Argumentation, an subtilen inhaltlichen Gleichsetzungen und sprachlichen Ver-
knüpfungen erkennbar ist, die auf diese stark vergeschlechtlichten Sinn-Konstruktionen
hinweisen.
Im Folgenden soll an Hand eines Fallbeispiels (vgl. dazu auch Bechdolf 1999) dar-
gestellt werden, wie diese Prozesse im einzelnen funktionieren. Benutzt man die Inter-
views nicht nur als eine Art Steinbruch für die Selbstbeschreibungen der Jugendlichen,
sondern interpretiert man sie im Gesprächszusammenhang und vergleicht die verschie-
denen Aussage-Ebenen im Detail, so entsteht ein komplexes und differenziertes Bild.
Es zeigt zwar, wie sich die Jugendlichen zum Teil nahtlos in das System der Zweige-
schlechtlichkeit einfügen, wie sie es aktiv reproduzieren, es verweist aber auch darauf,
an welcher Stelle Risse und Brüche auftreten, wo die Diskurse zwar als machtvolle er-
kannt, aber für sich selbst abgewandelt, revidiert oder gar abgelehnt werden. Diese
Relativierungen, kritischen Perspektiven und Oppositionen näher zu beleuchten halte
ich für zentral, weil damit deutlich wird, wie die kulturelle Reproduktion von
Geschlecht – und damit auch der Erwerb von Geschlechtsidentität im Einzelfall –
funktioniert: Nicht als eine bruchlose Übernahme medial vermittelter Werte und Nor-
men, sondern als eine ständige, aktive Auseinandersetzung mit einzelnen visuellen
Attraktionen und Klängen, Geschichten und Songtexten, die jeweils, individuell und si-
Verhandlungssache Geschlecht 431

tuativ verschieden, als Puzzleteile bei der Herstellung eigener Bilder verwendet werden
können.

6 Zum Beispiel Lisa

Lisa ist eine junge Frau, 19 Jahre alt, die in die letzte Klasse eines städtischen Gymnasi-
ums geht. Beide Eltern sind berufstätig, Mittelschichtsangehörige, ihr Bruder studiert
bereits, sie selbst wirkt auf mich sehr selbstständig und kenntnisreich. Zur Zeit meines
ersten Interviews sieht sie jeden Tag MTV, hört aber auch insgesamt viel Musik auf
Kassette und CD, im zweiten Interview weist sie mich darauf hin, dass beide Nutzungs-
formen zurückgegangen seien, seit sie eine Berufsakademie besucht.

Tabelle: Beispiel Lisa

Qualität Attraktion

1. Text, 2. Musik, 3. Bild 1. Musik, 2. Bild, 3. Text

Stil: Heavy-Metal (Rock) „Whitney-Houston-Stil“ (Pop)

Bsp.: Metallica, Nirvana, Pearl Jam, The Cult, Danzig Whitney Houston, Michael Bolton, Elton John

Künstler: Gruppen, Männer Einzelpersonen, Frauen

Videos: abwechskungsreich; „Männer müssen nicht visuell langweilig, deshalb müssen sie „etwas hergeben“
schön sein“ (Erotik, Sex)

Texte: gehaltvoll, „haben sich wahnsinnig viel dabei „Ich würde auf so einen Text nie kommen“
gedacht“

Musik: aggressiver, härter „Frauen machen ganz andere Musik“, „weicher“, „immer
Instrumente: E-Gitarre, Schlagzeug wieder gleich alles“; nur Gesang (Ausnahme: Madonna)

Suche nach: Sinn, Bedeutung, Verstehen gute Stimmung, Harmonie, auch Ablenkung vom Alltag

Hörer von Heavy Metal: vorwiegend Jungen Pop/Soul: viel mehr Mädchen

Schule: man hört Männerbands „das andere wird nicht soviel gehört“

Rezeptionsweise: Konzentration, Mühe – Rationalität Fun, Genuss, Gefühl – Emotionalität

Interpretation: Hochkulturelles Muster Populärkulturelles Muster

Positionierung: kritisch-distanzierte Expertin begeisterte Musikhörerin und Musikvideoseherin

Sie hat sehr genaue Vorstellungen von ihren Vorlieben und Abneigungen, entwickelt
im Gespräch eine eigene Definition von Musikvideos und unterscheidet auf Grund
visueller Charakteristika verschiedene Typen. Sie verfügt über ästhetische und morali-
sche Bewertungskriterien für Videoclips und nimmt – aus meiner Sicht – die von mir
432 Ute Bechdolf

angebotene Gesprächsrolle der ‚Expertin‘ weitgehend an. Dabei spricht sie fast nur über
sich und ihre persönlichen Einschätzungen und verallgemeinert vergleichsweise wenig.
Lisa beschreibt sich selbst als aktive Zuschauerin, die Spaß beim Sehen hat, sich
aber auch Gedanken machen will, in Musikvideos nach einem Sinn sucht, der durch
Nachdenken oder Reden mit Freunden oder eben auch im Gespräch mit mir entdeckt
werden kann. Hier stellt sie direkte Forderungen an Produzenten, bessere Videos zu
machen und nicht ständig nur Sexualität in den Mittelpunkt zu stellen. Ein Musikvideo
ist für sie zuallererst Musik, die mit Bildern untermalt ist. Die Musikebene ist daher
auch wichtiger als die Bildebene oder der Songtext; dieser wiederum wird jedoch von
ihr hin und wieder als Schlüssel für die Bedeutung eines Clips benutzt. Während Lisa
die Attraktivität eines Stücks für sie persönlich an der Musik festmacht, erst danach fol-
gen Bild und Songtext, bestimmt sie die Qualität eines Stücks interessanterweise
anders, nach der Reihenfolge: Songtext – Musik – Bild. Das heißt, für sie ist die Hoch-
wertigkeit eines Clips nicht gleichbedeutend mit der Attraktivität, gut ist nicht unbe-
dingt das, was gefällt – eine Argumentationsweise, die in der Populärkultur eher selten
verwendet wird, sondern vielmehr aus einem hochkulturellen Umfeld stammt.
Diese Opposition, die mir während der beiden Interviews nicht weiter aufgefallen
war, wurde für mich bei der intensiven Auswertung zu einem Schlüssel für die
Umgangs- und Interpretationsweisen meiner Gesprächspartnerin. Lisa unterscheidet
Musikvideos und Musik generell nicht nur im Hinblick auf Qualität und Attraktivität,
sondern konstruiert fortlaufend Polarisierungen, die sie mit diesen beiden Konzepten in
Verbindung bringt, z.B. Stilrichtungen, Akteure, ästhetische Elemente und Hörerkreis
(vgl. Tab.1). Interessant dabei ist, dass sie bereits in den ersten Minuten des Interviews
auf einen krassen Gegensatz innerhalb ihres eigenen Musikgeschmacks hinweist, diesen
Faden im Gesprächsverlauf immer wieder aufnimmt und dabei mit Geschlechterkonno-
tationen versieht. Neben Metallica, Nirvana, Pearl Jam und anderen eher am Rock
orientierten Gruppen mag sie auch Pop, den sie als Whitney-Houston-Stil bezeichnet
und gleichzeitig abwertet. Auf eine Nachfrage meinerseits, warum in der Musik für
Männer und Frauen unterschiedliche Standards in Bezug auf Schönheit gelten, bringt
sie eine ihrer Ansicht nach unterschiedliche Musikausrichtung von Männern und
Frauen ins Spiel:
„Es ist halt auch oft so, dass die Frauen ‘ne ganz andere Musik machen als die Männer, so ‘ne, ich
kann immer wieder nur sagen, dieser Whitney-Houston-Stil, und wenn die Frauen dann als Ein-
zelperson ein Video drehen und du andauernd das Gesicht siehst und den Körper siehst und das
einfach nichts hergibt, dann spricht es die Zuschauer nicht an. Deswegen muss so ‘ne Person
immer wieder was hergeben. Und auch nicht immer dasselbe, sondern immer wieder was anderes,
sonst wird‘s langweilig, weil‘s halt auch nur eine Person ist. In ‘ner Band, da kann man die ganze
Band mal filmen, aber bei denen ist es dann oft eine Einzelperson, die ist immer wieder drauf, in
verschiedenen Situationen in verschiedenen Videos, aber im Prinzip ändert sich nichts, und es ist
auch oft die Musik immer wieder gleich. Zum Beispiel, ich hab vorhin gesagt, ich hör auch
Michael Bolton, ich hör die Kassette einmal und dann tu ich sie ganz schnell wieder weg, weil
jedes Lied gleich ist, und weil jedes Lied denselben Text hat, praktisch, es geht immer um dassel-
be.“
Während Rockmusiker, meist Männer, ihrer Meinung nach eher Gruppen bilden und
als Kollektiv schon genügend visuelle Reize bieten (‚Männer müssen nicht schön
Verhandlungssache Geschlecht 433

sein‘), können sich Popsängerinnen oder auch Popsänger, die eher als Einzelpersonen
auftreten, nicht auf eine Band stützen – womit sie sich auch die erotisierende Dar-
stellung von Frauenkörpern erklärt.
In diesem Zitat zeigt sich die Verknüpfung einiger in der Tabelle festgehaltener
Ebenen deutlich. Nicht nur musikalische Ausrichtung und visuelle Verdinglichung
unterscheiden sich ihrer Meinung nach bei Männern und Frauen, sondern auch die
Bewertung, mit denen sie die beiden geschlechtlich kodierten Richtungen versieht:
Während Rock für sie gehaltvoll ist, beschreibt sie mir Pop als langweilig, immer wie-
der gleich und verbindet damit etwas später im Interview auch eine andere
Rezeptionsweise. Bei Pop stehen Spaß und Genuss, auch Gefühl für sie im Mittelpunkt,
während bei den ernsthafteren Rockstücken die Begriffe Konzentration und Mühe fal-
len – und damit wechselt auch ihre Positionierung im Gespräch mit mir zwischen der
kritisch-distanzierten Expertin und der begeisterten Musikvideoseherin hin und her.
Das Hochwertige und das Lustvolle, das Männliche und das Weibliche, das Eine
und das Andere – die Konstruktionsmechanismen der Bipolarität sind deutlich sichtbar.
Die zunächst als widersprüchlich empfundene Ausprägung ihres Musikgeschmacks
wird im Verlauf des Interviews von ihr selbst als vergeschlechtlichte interpretiert und
dadurch ausgebaut, dass sie andere polarisierende Deutungsmuster daran anknüpft, als
explizit Gesagtes, aber auch als implizit Gemeintes. Geschlecht dient Lisa also zum
einen als zentrale Ordnungskategorie, zum anderen aber auch als Ursache, die
Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten erklären kann. Danach gefragt, warum in ihrer
Schule Jungen eher selbst Musik machen als Mädchen, bemüht sie erst ein biologisti-
sches Erklärungsmuster (Jungen sind von Natur aus aggressiver), das sie jedoch gleich
darauf als blödes Klischee verwirft, um nach kulturellen Ursachen für den Unterschied
zu suchen, wobei sie die Tradition der Gitarre spielenden Cowboys am Lagerfeuer
erwähnt. Auf den ersten Blick akzeptiert sie also das System der Zweige-
schlechtlichkeit, trennt fast alle Elemente in ihrem Musikfeld in zwei Bereiche, männ-
lich/weiblich, und bewertet diese auch unterschiedlich, den Regeln des dominanten
Diskurses folgend.
Allerdings – und hier wird es meiner Meinung nach wirklich spannend – reflektiert
Lisa diesen Prozess der polaren Bedeutungszuweisung und hinterfragt ihre eigenen
Aussagen immer wieder, denn sie setzt sich im Gespräch mit mir auch mit ihrer eigenen
Stellung in diesem Gefüge auseinander und stellt ihre Identität situativ her, z.B. über
Identifikationen mit Musikerinnen bzw. Musiker und anderen handelnden Personen.
Bei dieser zwangsläufig stattfindenden Positionierung tauchen immer neue Widersprü-
che auf. Als sie mir z.B. die Musikvideos beschreibt, die ihr im Augenblick besonders
gut gefallen, kommen ihr zuerst die Hard Rock- und Heavy Metal-Videos in den Sinn,
wobei sie die (dafür nicht unbedingt typische) Ballade November rain von Guns‘N
Roses mit ihren melodramatisch anmutenden Bildern einer Hochzeit, die mit Tod endet,
als besonders gelungen hervorhebt. Beim Versuch, auch ein Video ihrer zweiten, ‚ande-
ren‘ Richtung zu berücksichtigen, merkt sie plötzlich, dass die Sängerin Vanessa Wil-
liams darin keinen besonders großen Handlungsspielraum hat und verwirft es daraufhin
wieder:
434 Ute Bechdolf
„Das Lied ist schön, aber das spielt sich alles in einem Raum ab, sie steht da in einem Pullover,
hat die Arme verschränkt, guckt nachdenklich in die Luft und singt. Und dann geht sie mal ein
Stück und hockt sich auf ihr Sofa und singt weiter. Hat nicht so viel.“
Sie verhandelt damit den Widerspruch zwischen ihrer Geschmackspräferenz und den
zuvor aufgestellten Kriterien für ein gutes Video und entdeckt dabei kritische Aspekte
an dieser Repräsentationsweise. Auch bei den Einzelinterpretationen im zweiten In-
terview nimmt sie eine ablehnende Haltung gegenüber den traditionellen Festlegungen
der männlichen und weiblichen Figuren ein und kritisiert die immer gleiche Zuschrei-
bung von Aktivität vs. Passivität oder die Aufteilung in handelnder oder auch voyeuris-
tischer Mann und behandelte bzw. betrachtete Frau. In narrativen Clips zieht sie aktive
Frauen solange vor, wie sie bestimmte Grenzen, was die sexuelle Aggression angeht,
nicht überschreiten. So macht ihr etwa die Umkehrung der Rap-Konventionen in Salt
‚n‘ Pepas Video Shoop großen Spaß, hier betrachten die Frauen am Strand die gutge-
bauten Männer mit begehrlichen Blicken. Auch Madonna bewundert sie wegen ihrer
unglaublichen Wandlungsfähigkeit, ihre Erotik-Selbstinszenierungen sind ihr allerdings
zu heftig, und bei Justify My Love empfindet sie, obwohl sie die Musik bisher mochte,
angesichts der drastischen Bilder kein richtiges Vergnügen mehr.
Indem sie die Geschlechter-Oppositionen aufgreift und kritisiert, rekonstruiert Lisa
zwar die dominanten Diskurse, tut dies aber nicht bedingungslos, sondern relativiert,
verhandelt Brüche und Widersprüche, versucht Ausnahmen heranzuziehen und probiert
alternative Deutungsmuster aus. Durch wechselnde Identifikationen versucht sie sich
selbst immer wieder aus dem System herauszunehmen, sucht nach Auswegen aus dem
Entweder-Oder und der damit verbundenen Hierarchie. Dadurch, dass sie wenig Geld
für Musik ausgibt, lieber Sängerin als Keyboarderin wäre, Whitney Houston mag und
sexuelle Darstellungen in Musikvideos nicht zwangsläufig erotisch findet (wie sie dies
den jungen Männern ihres Alters zuschreibt), positioniert sie sich als ‚weiblich‘.
Dadurch, dass sie gern Heavy Metal hört, sich Experten-Wissen darüber angeeignet hat
und musikalisch nicht einem Herdentrieb folgen will, positioniert sie sich explizit als
Individuum, was implizit aber, im Kontext des zuvor von ihr Gesagten, die Deutung
‚männlich‘ zur Folge hat, der sie dann wieder ausweichen muss. Umgekehrt verweigert
sie vor allem dann die Identifikation mit dem eigenen Geschlecht, wenn sie etwa davor
in einem anderen Gesprächskontext das als ‚weiblich‘ Bezeichnete ausgesondert und
abgewertet hat. Sie bewegt sich somit in einem Spannungsfeld hin und her: zwischen
ihrer Identifikation mit gesellschaftlich konstruierter und normierter Weiblichkeit (die
mit gleichzeitigem Machtverlust einhergeht) und einem Bemühen, sich als ‚männlich‘
konnotierte Attribute anzueignen (was Stigmatisierung zur Folge haben kann). Dazwi-
schen liegt die immer wieder aufscheinende Weigerung, sich überhaupt festlegen zu
lassen – ein deutlich artikuliertes Bestehen auf einem autonomen Subjektstatus. Sie
dekonstruiert damit in letzter Konsequenz die gängige Universalisierung, die das männ-
liche Subjekt mit dem Menschen schlechthin gleichsetzt, Weibliches jedoch als das
Andere markiert und ausgrenzt (z.B. Maurer 1996). An einigen Stellen des Interviews
versucht sie daher, Geschlecht zur ‚Verhandlungssache‘ zu machen, sich selbst einen
Sonderstatus einzuräumen, der Gleichzeitigkeiten und Übergänge ermöglicht – ein sehr
Verhandlungssache Geschlecht 435

differenzierter und letztlich utopische Elemente beinhaltender Prozess von ‚doing gen-
der‘.
Das Fallbeispiel Lisa zeigt, wie Geschlecht als Kategorie, als Differenz und als
Machtverhältnis bei der Musikvideo-Rezeption wirksam wird – in einem Prozess der
fortwährenden Re- und Dekonstruktion. Während solche komplexen Verhandlungen
bei der Detailanalyse eines Interviews auseinander dividiert und unter die Lupe genom-
men werden können, sind sie im Alltag unentwirrbar ineinander verwoben. Der
Medienalltag zeichnet sich ja dadurch aus, dass alle wichtigen kulturelle Prozesse unre-
flektiert, unkommentiert und unbewusst vonstatten gehen. Es wäre daher sinnvoll, in
weiteren Forschungsprojekten nicht nur den (in einer Interview-Ausnahmesituation)
gemeinsam geführten Dialog über Musikvideos zu analysieren, sondern auch den kon-
kreten Musik- und Fernsehalltag von Jugendlichen teilnehmend zu erforschen, um das
System der Zweigeschlechtlichkeit bei seiner alltäglichen Arbeit beobachten zu können.
Allerdings, und das kann hier am Ende nur kurz angemerkt werden, ist die For-
scherin in jedem Fall immer auch selbst in diesem System positioniert: Die Jugendlich-
en sprechen ja nicht mit einem Neutrum, sondern mit mir, einer weiblichen Forscherin
mit eigenen Musikvorlieben und Clip-Rezeptionsweisen, mit eigenen Wünschen und
Fantasien. Einerseits untersuche ich die Konstruktion von Geschlecht und bin dabei um
Dekonstruktion vorgegebener Anordnungen bemüht, da mein Erkenntnisinteresse auf
eine Lockerung und Umwertung starrer Geschlechterkonventionen zielt. Andererseits
reproduziere ich in diesem wissenschaftlichen Tun die Differenz wie auch die Kate-
gorie Geschlecht immer wieder aufs neue. Aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg
– nur die ständige Selbstreflexion im Forschungsprozess und das Bemühen, die eigenen
Positionierungen sichtbar und damit auch kritisierbar zu machen.

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Kulturelle und mediale Praxisformen Jugendlicher

Waldemar Vogelgesang

1 Vorbemerkung

Zu den geläufigen soziologischen Gesellschaftsdiagnosen gehört die Beobachtung


der Auflösung von traditionellen Wertmaßstäben und Gemeinschaftsformen.
Ursprünglich gesellschaftlich vorgeprägte Rollen und Lebenspläne werden indivi-
duell verfügbar, geraten zunehmend in die Hoheit des Einzelnen. Er kann – zumin-
dest prinzipiell – seine Arbeit, seinen Beruf, seine Vereins-, Partei-, Kirchen- oder
Sektenmitgliedschaft sowie seinen kulturellen oder subkulturellen Stil frei wählen
und wechseln. Er ist der Bastler seines Lebens, das im Spannungsverhältnis zwi-
schen Globalisierungs- und Partikularisierungsprozessen unter der Devise steht:
Man hat keine Wahl, außer zu wählen.
Diese Entwicklung hat mittlerweile auch die Jugendlichen und ihre Lebensfor-
men voll erfasst, gewissermaßen als Fortsetzung (oder Vollendung!) der langen Ent-
wicklungsphase der Individualisierung des Lebens in der modernen Gesellschaft.
Das Jugendalter, das der Vorbereitung auf individuelle Lebensführung dient, wird
selbst individualisiert. Die Statuspassage nimmt Züge einer Jugendbiografie an.
Selbst bei lediglich kursorischer Betrachtung fällt auf, welche Vielfalt die jugend-
liche Daseinsgestaltung angenommen hat. In Fortführung und Steigerung des auch
in der älteren Jugendforschung ausgewiesenen Trends zur jugendeigenen Gruppen-
bildung hat sich im Sog gesamtgesellschaftlicher Differenzierungs- und Plura-
lisierungsprozesse eine breite, mittlerweile beinah unüberschaubare Palette von kul-
turellen Formen und Szenen mit spezifischen Handlungs-, Zeichen- und Deutungs-
mustern gebildet (vgl. Müller-Bachmann 2002; Vogelgesang 2005).
Diese alltagskulturelle Diversifizierung zwingt die Jugendlichen dazu, sich
selektiv zu verhalten. Wahlen und Entscheidungen müssen getroffen werden, wel-
cher Jugendkultur man sich anschließt, mithin welcher gruppeneigene Habitus als
individuelles und kollektives Flaggensignal adaptiert und performativ eingesetzt
wird. Dabei spielt es vielfach keine Rolle, ob man Mitglied dieser Gruppe ist, also
faktisch-interaktiv zum Gruppenensemble gehört, oder lediglich nominell-virtuell in
den entsprechenden jugendkulturellen Rahmen involviert ist. Gerade die expressiven
Jugendszenen – wie etwa die Techno- und Hip-Hop-Fangemeinde – haben durch die
wachsende Mediatisierung und Kommerzialisierung eine internationale Stilsprache
440 Waldemar Vogelgesang

ausgebildet, deren Elemente als Erkennungszeichen und Verständigungsbasis fun-


gieren und ad hoc (z.B. in der Disco) einen sozialen Nahraum generieren, in dem
exzessive Fankulte, körperbezogene Expressionen und stilgebundene Selbstinszenie-
rungen ausgelebt werden können. Mode, Musik und Handlungen erhalten hier eine
gruppenbezogene emblematische Bedeutung und Ausstrahlung, etablieren ein eige-
nes jugendkulturelles Kommunikationssystem und Szenenarrangement, das den
Anhängern Profilierungs- und Identifizierungschancen eröffnet. Jugendkulturelle
Stile und Praxisformen sind also sowohl ein Instrument des Ausdrucks wie der Dis-
tinktion von Kommunikationsbeziehungen. Sie erzeugen ein spezifisches Idiom, ein
Konglomerat von Signalen, die in einer Art Dialektik von Zuordnung und Abgren-
zung eine relativ klare Grenzziehung nach außen sowie Zugehörigkeitsgefühle nach
innen illustrieren und stimulieren.

2 Jugend als gesellschaftliches Muster

Um die Bedeutung jugendkultureller Praxisformen und szenischer Inklusionspro-


zesse richtig einordnen zu können, gilt es zunächst einmal ganz grundsätzlich an die
gesellschaftliche Verortung der Jugend zu erinnern. Damit man den Strukturwandel
des Aufwachsens und die sich daraus für die Jugendforschung und Jugendtheorie
ergebenden Konsequenzen richtig einordnen und der Gefahr einer „Sorgenfalten-
Soziologie entgehen kann, die ihrem Gegenstand von einer Wendung des Zeitgeistes
(Themenmode) zur nächsten folgt“ (Hondrich 1999: 79), muss Jugend als eine
gesellschaftlich bedingte Lebensphase konzeptualisiert werden. Nur vor diesem Hin-
tergrund können auch die fundamentalen Wandlungsprozesse, denen die Jugend in
der Postmoderne unterworfen ist, angemessen thematisiert werden. Ich beziehe mich
dabei weitestgehend auf Überlegungen, wie sie Richard Münchmeier (1998) vorge-
tragen hat.
Dem Alltagsverständnis zu Folge scheint der Gegenstand der Jugendforschung
leicht zu definieren und ebenso leicht abzugrenzen zu sein: Die Sozialgruppe Jugend
wird vor allem durch ihr Alter bestimmt, d.h. sie wird als spezifische Lebensalters-
gruppe zwischen Kindheit und Erwachsensein begriffen. Ablösung von der Her-
kunftsfamilie und Verselbstständigung werden in dieser Sichtweise als die primären
Funktionen eines biografischen Durchgangsstadiums angesehen, wobei allenfalls die
Festlegung der Altersgrenzen noch strittig erscheint. Allerdings ist dieses Lebensal-
tersmodell von Jugend nur scheinbar eindeutig, denn es abstrahiert weitestgehend
von den objektiven Bedingungen des Jungseins und ihrer subjektiven Bewältigung.
Definitorische Exaktheit wird durch die Suspendierung von Inhaltsfragen erzielt:
Jugend umfasst danach die Mitglieder einer Akteursgruppe, die zu einem be-
stimmten Zeitpunkt jung sind und einer gewissen Altersspanne angehören. Was aber
bedeutet jung sein, welche Chancen und Risiken sind damit verbunden, welche
Bedingungen des Aufwachsens kennzeichnen dieses Alter, welche Anforderungen
Kulturelle und mediale Praxisformen Jugendlicher 441

und Ressourcen finden Jugendliche in der „ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft“


(Dahrendorf) vor?
Viele dieser inhaltlichen Fragen ließen sich stellen. Sie werfen das Problem auf,
darüber nachzudenken, welche Themen die zentralen und wichtigen sind, diejenigen
also, die gewissermaßen die Jugend strukturieren und ausmachen. Mithin ist die Fra-
ge, wie das Jugendalter von der Kindheit einerseits und dem Erwachsenenalter ande-
rerseits abzugrenzen sei, also keineswegs die Hauptfrage. Wichtiger ist es vielmehr,
von der Erkenntnis auszugehen, dass Jugend ein Strukturmuster darstellt, eine
gesellschaftlich entwickelte und ausgestaltete Lebensform, die den Zweck hat,
bestimmte individuelle und soziale Erfordernisse und Funktionen zu gewährleisten.
Was Jugend also bedeutet – und zwar sowohl für die Gesellschaft als auch für den
jungen Menschen selbst –, wird weitaus stärker durch die Art und Weise bestimmt,
wie die Jugendphase vergesellschaftet ist, als durch die simple Tatsache des rein
zeitgebundenen Lebensalters.
Dies ist keineswegs eine neue Entwicklung, sondern ein alter – freilich manch-
mal vergessener – Erkenntnisstand der Jugendforschung. Jugend, wie wir sie heute
kennen, als eigene Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenendasein, mit
eigenen Ordnungen und Aufgaben ist ein Produkt und Projekt der europäischen
Moderne, die vor allem im 19. Jahrhundert einen völlig neuen Typus adoleszenter
Vergesellschaftung entstehen ließ: Jugend als Moratorium und Passagenzeit. Als
Hauptaufgaben wurden die Qualifizierung und die Vorbereitung auf das spätere
Leben – vor allem als Arbeits- und Erwerbsperson – angesehen. Aber es erfolgte
auch eine Aufwertung der individuellen Bedürfnisse, Persönlichkeitsbildung und
Entscheidungsbefugnisse, damit die Heranwachsenden in einer sich individua-
lisierenden, äußere soziale Kontrollen und festlegende Milieus abbauenden Gesell-
schaft bestehen konnten – ein Prozess, der bis in die Gegenwart fortwirkt und an
Dynamik zugenommen hat (vgl. Gestrich 2001).
Die Tatsache, dass Individualität gesellschaftlich institutionalisiert wird, bedeu-
tet also, dass eine eigenständige Lebensplanung nicht nur möglich ist, sondern dem
Einzelnen auch abverlangt wird. Wahlfreiheit und Wahlzwang durchdringen einan-
der. Das bedeutet, im Zuge der Individualisierung werden die Grundlagen und die
Zukunftsversprechen, die mit dem traditionalen Konzept von Jugend verknüpft wor-
den waren, ambivalenter, brüchiger, ungewisser. Das betrifft das Verhältnis der
Generationen in Familie und Gesellschaft ebenso wie die Verlängerung von Schul-
und Ausbildungszeiten bei gleichzeitig zurückgehenden beruflichen Chancen, die
Pluralisierung von Wertmustern ebenso wie die steigenden Anforderungen an
Selbstständigkeit, Mobilität und Anpassungsfähigkeit. Die enttraditionalisierte
Gesellschaft potenziert somit – auch für die Jugendlichen – gleichermaßen Freihei-
ten und Zumutungen. Heutigen jungen Menschen fehlt die institutionelle Stütze
(oder gesellschaftliche Pauschalversicherung) der religiös fundierten und stratifika-
torisch geordneten Lebenswelt der Vormoderne. Lebenserfahrungen werden tem-
poraler, pluraler und relativer, womit ihre Lebensläufe selbst zu einem Problem wer-
den, mit dem sie konstruktiv umgehen müssen. Als Konsequenz sieht die neuere
Identitätsforschung das Ende der Normalbiografie für gekommen: „Die Biografie
442 Waldemar Vogelgesang

der Person wird zur frei schwebenden, sich selbst tragenden Konstruktion“ (Schi-
mank 2002: 231) – „biografischer Inkrementalismus“ (ebd.: 235) lautet entsprechend
das Gebot der Stunde.
Damit sind zugleich die Optionen und Ambivalenzen des individualisierten
Lebenslaufs markiert. Denn der Abschied von der Normalbiografie setzt die Jugend-
lichen stärker Zufällen, einem größeren Entscheidungsdruck und letztlich auch
höheren Scheiternsrisiken aus. Es ist zugleich deutlich geworden, dass man diese
Fragen nur angemessen diskutieren und eruieren kann, wenn man sich ihnen gesamt-
gesellschaftlich nähert, d.h. die Mikro- und Makroebene gleichzeitig in den Blick
nimmt. Worüber muss man vor diesem Hintergrund dann eigentlich reden, nachden-
ken und forschen, wenn man die heutige Jugend verstehen möchte? Ist es ihr ausge-
fallenes Outfit – die schrillen Frisuren, die provozierende (bauchfreie) Bekleidung
oder die ausgefallene Körperornamentik, die sich in einer wachsenden Attraktivität
und Selbstverständlichkeit von Piercings, Brandings und Tattoos zeigt? Ist es ihr
expressiver, vielfach szenegebundener Verhaltensstil, mit dem sie sich demonstrativ
untereinander und von den Erwachsenen abgrenzt und zugleich eine eigene Ästhetik
kreiert und Stilsprache repräsentiert. Ist es ihre Medienfaszination, die sie zur
Avantgarde – und kaufkräftigen Konsumentengruppe – jedweder elektronischen
Innovation macht? Sind es gar ihre flippigen und schnoddrigen Sprüche und Parolen
– wir haben null Bock auf gar nichts –, mit denen sie ihr Lebensgefühl und ihren
Alltagsfrust zum Ausdruck bringt?
So grell und provokant sich die heutige Jugend auch darzustellen vermag, die
Forschung muss hinter diese bunte Fassade blicken. Zu sehr bleiben nämlich die
schillernden Expressionsformen emblematischer Selbstinszenierung und performati-
ver Zugehörigkeitsdemonstration an der Oberfläche, die sich noch dazu erstaunlich
rasch mit dem Strom der Moden und Stile verändern. Sie machen für sich genom-
men noch keinen Zugang zur Lebenssituation der Jugendlichen möglich. Aber sie
können sehr wohl eine Anlass- und Brückenfunktion haben, um mit ihnen in Kon-
takt zu kommen und im Rahmen einer fokussierten Ethnografie auch Deutungsmus-
ter für ihren äußerlichen Habitus offen legen, mit dem die Jugendlichen immer auch
eine Selbstbeschreibung ihres Daseins und ihrer aktuellen Befindlichkeit vorneh-
men. Diese Äußerlichkeiten fangen aber erst dann an zu sprechen und etwas über die
heutige Jugend auszusagen, wenn man sie auf deren Lebenslagen und Gesellungen
bezieht. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den Strategien, wie Jugendliche mit Medien
umgehen. Sie sind für sie Ausdruck sozialer und kultureller Muster, die auf höchst
unterschiedliche – und manchmal auch sehr eigenwillige – mediale Gebrauchsfor-
men verweisen. Diese aufzudecken setzt Nähe, Kontinuität und Empathie voraus,
also Forschungstugenden, die einen Lebensweltbezug ermöglichen. Nur aus dieser
Perspektive wird sichtbar, wie groß die Macht der Unterscheidungen ist, die diver-
gierende mediale Aneignungsformen zu erzeugen vermögen. Wie wichtig und not-
wendig dies gerade im Kontext der Computer- und Netznutzung ist, zeigen die
immer wieder verbreiteten kulturkritischen Pauschaldiagnosen, die für das „Reich
des digitalen Doubles der Welt“ (Weibel 1991: 57) einen ultimativen und irre-
versiblen Niedergang jedweder körperlichen, sozialen und historischen Erfahrung
Kulturelle und mediale Praxisformen Jugendlicher 443

prophezeien. Solche Kassandrarufe stehen, wie unsere Forschungen zeigen, in einem


eklatanten Widerspruch zur Kultur der virtuellen Sphäre und ihrer produktiven Inbe-
sitznahme gerade durch die junge Generation. Die „digitalen Spektakel“ (van den
Boom 1995) in den „künstlichen Paradiesen“ (Glaser 1995) erschließen sich ganz
offensichtlich nicht aus der Distanz.

3 Jugend- und medienkulturelle Wahlnachbarschaften im


Modernisierungsprozess

Aber diese Erkenntnis geht keineswegs zwangsläufig mit einer Versachlichung des
Mediendiskurses einher. Fakten und Vermutungen konfundieren bisweilen – gerade
in Bezug auf die neuen Medien – auf eine schier unentwirrbare Weise. Bereits Mitte
der 1990er Jahre haben Mike Sandbothe und Walther Zimmerli (1994: 7f.) vor über-
triebenen Hoffnungen auf rationale Geländegewinne in der Mediendebatte gewarnt:
„Weite Teile der in den Schnittbereichen von Literatur-, Medien- und Computerwissenschaf-
ten geführten Diskussion wurden dabei zumeist entweder von apokalyptischen Schreckbildern
oder von medien-euphorischen Heilsvisionen geprägt. Auf der Grundlage dieser globalen
Szenarien hat sich eine neue Diskursgattung entwickelt, die man als media fiction bezeichnen
könnte. Ihr Markenzeichen ist eine sich als gezielte Ironie präsentierende methodische
Unschärfe, durch welche die phänomenologischen Intuitionen, die ihr zu Grunde liegen, noto-
risch verschliffen werden. […] Charakteristisch für die Gesamtlage der Mediendebatte ist bis
heute, dass sich fantasievolle media fiction und seriöse Medienwissenschaft in einem Zustand
wechselseitiger Nichtbeachtung befinden.“
Diese Feststellung hat nichts von ihrer Relevanz eingebüßt, wohl aber die
Anschlussüberlegung, die die Autoren machen:
„Eine Änderung dieses Zustands ist umso notwendiger, als er mit dazu geführt hat, dass
detaillierte kommunikationssoziologische Analysen, medienphänomenologische und techno-
logiephilosophische Feindifferenzierungen sowie mediensoziologische Differentialinterpreta-
tionen inmitten der enormen Literaturflut zum Medienthema Mangelware geblieben sind.“
(ebd.).
Denn bereits seit Ende der 1980er Jahre ist in der Medienforschung unverkennbar
eine Erweiterung der Fragestellungen zu konstatieren, verbunden mit alternierenden
theoretischen Konzepten und methodischen Zugriffen (vgl. Hepp 1999/2004a; Krotz
2001; Hepp 2004b). Nicht mehr die Fetische Inhalt und Wirkung und ihre kausalisti-
sche Beziehung bilden den Untersuchungsschwerpunkt, sondern die Betonung des
Rezeptionsvorgangs und die in ihm vollzogenen Prozesse der Interpretation, Sinnge-
bung und Konstruktion der Realität. Ein solches Verständnis der Medienaneignung
zielt nicht mehr auf eine kausal-analytische Deutung, vielmehr geht es um die
Rekonstruktionen jener Sinn- und Sozialsysteme, in denen Medien für die Rezi-
pienten bedeutsam werden.
Dabei zeigt sich, dass die Vielzahl der Nutzungsmöglichkeiten, die Medien
eröffnen, zur Herausbildung von spezialisierten personalen Identitäten und
medienaffinen Sozialformen führen – und dies keineswegs nur in der Gegenwart.
444 Waldemar Vogelgesang

Denn was in einer Vielzahl von medien- und kulturhistorischen Studien belegt wur-
de, erfährt im Zeitalter der digitalen Revolution auf beinah dramatische Weise
Bestätigung: Die dominierenden Medien einer Kultur formen den kommunikativen
Austausch, stiften neue Gesellungsformen und Allianzen und prägen die vorherr-
schenden Erkenntnisformen, Themen und Institutionen. Rainer Winter und Roland
Eckert (1990: 141) haben dies in ihrer Studie Mediengeschichte und kulturelle Dif-
ferenzierung sehr deutlich herausgestellt:
„Der Druck und in Ansätzen auch die Schrift haben die Heilsverwaltung des Klerus untergra-
ben, indem sie die Artikulation abweichender Meinungen ermöglicht haben. Die Briefpost im
Verein mit Tagebuch und Lesezirkel hat eine spezialisierte Innerlichkeit mitteilbar gemacht,
das Standfoto die Repräsentation der Familie, das Fotoalbum, der Amateurfilm und der
Videofilm die Biografie visualisiert. Mit dem Radio, der Schallplatte und dem Kassettenrekor-
der sind musikalische und tänzerische Formen der Selbstdarstellung kommunikabel gewor-
den. […] Durch Video sind medial vermittelte Aggressionen, Träume und Sexualität jederzeit
verfügbar. […] Minitel bzw. Btx ermöglichen eine ästhetische Selbstentfaltung unter Aus-
schaltung moralischer Kategorien, indem sie den Identitätswechsel zum Programm machen.“
Und sie schlussfolgern: „Neue Formen der Kommunikation haben so andere Formen der
Wahrnehmung, des Verhältnisses zur Welt und des Umgangs mit anderen hervorgebracht“
(ebd.).
Wenn schon in der Vergangenheit Medien eine wichtige Funktion als Kultur-, Kom-
munikations- und Identitätsgenerator zukam, so beschleunigt und verstärkt sich
diese Entwicklung heute durch die IuK-Technologie in einem atemberaubenden
Tempo. Obwohl weder die Auswirkungen noch das Ende dieses Transformations-
prozesses exakt prognostizierbar sind, soviel steht bereits fest: Alle Lebens- und
Gesellschaftsbereiche sind tangiert. Ob Wirtschaft und Wissenschaft, Politik und
Kultur, Öffentlichkeit und Privatsphäre, die neuen Medien haben hier bereits deutli-
che Spuren hinterlassen. In diesem Zusammenhang kann die steile Karriere des
Begriffs ‚Multimedia‘, der im Übrigen im Dezember 1995 von der Gesellschaft für
deutsche Sprache zum Wort des Jahres erklärt wurde, gleichermaßen als Indikator
für eine unter starke Dynamik geratene kommunikationstechnologische Entwicklung
wie auch gesellschaftliche Debatte darüber angesehen werden. Dabei liegt der letzte
Medienschub erst wenige Jahre zurück: Kabel und Satellit machten Übertragungs-
techniken verfügbar, die seit den 1980er Jahren zu einer Expansion und zu weitrei-
chenden Transformationen des deutschen Mediensystems führten. Gefördert wurde
beides durch eine (rechtliche) Deregulierung und eine Öffnung auch des elektroni-
schen Mediensektors für mehr Wettbewerb. Es entstand hier zu Lande das duale
Rundfunksystem, in dem öffentlich-rechtliche und private Rundfunkanbieter mit-
einander konkurrieren.
Diese Veränderungen dürften von den künftig zu erwartenden noch übertroffen
werden. Dabei deutet die Wortschöpfung Multimedia die Richtung der Veränderung
an: Bisher getrennte Kommunikationstechniken, sozusagen Unimedien, verschmel-
zen miteinander. Es findet eine Integration von gesprochener Sprache, Text, Video,
Audio, Telekommunikation, Unterhaltungselektronik und Computertechnik statt.
Diese Entwicklung bedeutet aber nicht nur eine quantitative Steigerung von Kom-
munikationsangeboten, die Integration führt zugleich zu ganz neuen Medien- und
Kulturelle und mediale Praxisformen Jugendlicher 445

Nutzungsformen. Aus soziologischer Perspektive interessiert in diesem Zusammen-


hang nun weniger, welche technischen Voraussetzungen (z.B. Digitalisierung und
Datenkompression, veränderte Übertragungswege, neue Zusatz- und Endgeräte) die
Multimedia-Nutzung erst ermöglicht haben, sondern wie sich dadurch die uns
bekannten Formen personaler und medialer Kommunikation nachhaltig verändert
haben resp. zukünftig noch weiter verändern werden:
„Ein großes Problem ist die wachsende Diskrepanz zwischen dem immens gestiegenen Infor-
mationsaufkommen einerseits und der begrenzten Verarbeitungskapazität der Medien und der
Mediennutzer andererseits. Scheinbar nimmt die Verarbeitungskapazität der Medien zu,
zumindest gibt es immer spezialisiertere Medienangebote. Aber die vielen Spezialmedien […]
erweitern nicht eigentlich die Sphäre der Öffentlichkeit, das Forum des gesellschaftlichen
Diskurses, auf dem über politische Prioritäten gestritten wird. Sie haben vielmehr zu einer
enormen Segmentierung des Publikums geführt, zu einer Aufspaltung in eine Vielzahl gege-
neinander abgeschotteter Teil- und Unterforen. Die Spezialmedien sorgen ihrerseits dafür,
dass sich die Teilpublika weiter spezialisieren und differenzieren, indem sie den Fachjargon,
den esoterischen Diskurs pflegen und zur Ausbildung spezieller Normensysteme und
eigentümlicher Weltsichten beitragen“ (Schulz 1993: 24).
Die von Schulz gewählten Umschreibungen – z.B. „Teilpublika“ mit „esoterischem
Fachjargon“ und einer „eigentümlichen Weltsicht“ – haben einen stark negativen
Tenor. Wir plädieren für eine normative Entdramatisierung und schlagen stattdessen
Formulierungen wie medienbestimmte Wahlnachbarschaften oder Medienspezialkul-
turen vor. Zum Ausdruck wird damit gebracht, dass Medien eine bedeutende Rolle
als Auslöser und Konstituenten sozialer und (populär-)kultureller Differenzierungs-
und Segmentierungsprozesse spielen – und dies nicht zuletzt in der jugendlichen
Lebenswelt. Von den Beatniks bis zu den Heavy Metal-Fans, von den Wanna-bes
(Szenebegriff für die jugendlichen Anhänger des Popstars Madonna) bis zu den Hor-
rorfreaks, von den Computer-Hackern bis zu den verschiedenen Spielarten von
Netz-Usern reicht der Bogen medienbestimmter Selbst- und Weltgestaltung. Die
Aufzählung zeigt, dass den Medien gerade in den verschiedenen Jugendkulturen –
ergänzt und kombiniert mit einem bestimmten Outfit und Verhaltensstil – verstärkt
die Funktion von exklusiven Identitätszeichen zukommt. Zudem annoncieren die
medialen Gebrauchsstile und die durch sie bestimmten Szenen, Cliquen und Grup-
pen auch einen grundlegenden Wandel innerhalb der Genese von Jugendkulturen,
denn die Verankerung von jugendlichen Lebensformen in klassenspezifischen
Stammkulturen wird zunehmend abgelöst durch individualitäts- und marktbezogene
Jugendkulturen.
Aber in den neuen jugendkulturellen Wahlnachbarschaften manifestieren sich
nicht nur veränderte Entstehungsbedingungen, sondern sie stiften auch affektive
Allianzen und szenetypische Erlebnisformen. Ihre Feten, Happenings und Sessions
markieren – unter zivilisationstheoretischer Perspektive – eine Grenzüberschreitung
der Alltagsordnung und ein gesteigertes Bedürfnis nach Reizen und Stimulationen.
Die von ihnen präferierten Medien übernehmen dabei die Funktion von Impulsge-
bern und Transformatoren. Sie konstituieren eine Sondersituation, in welcher die
zivilisatorisch bedingte Disziplinierung der Affekte aufgebrochen und – für eine
bestimmte Zeit – überwunden werden kann. Rogge (1988) deutet die Vehemenz, mit
446 Waldemar Vogelgesang

der Jugendliche das medienkulturelle Erlebnisangebot in Anspruch nehmen, als


Ausdruck einer Grundstörung des Zivilisationsprozesses. Uns scheint es angemes-
sener, angesichts der Pluralisierung und Diversifizierung jugendlicher Medien- und
Affektkulturen, eher von einer Partialisierung des Zivilisationsprozesses zu spre-
chen. Die Medienfreaks und ihre alltagstranszendierenden Praktiken sind Beispiele
dafür, dass unter (nach-)modernen Lebensbedingungen und Daseinsverhältnissen die
affektuelle und erlebnismäßige Integration sich immer weniger gesamtgesellschaft-
lich als vielmehr in Spezialkulturen und abgegrenzten Raumzonen vollzieht. Was
heute zählt, ist situationsangepasstes Emotionsmanagement. ‚Rahmung‘ und ‚Modu-
lation‘ im Sinne Goffmans (1977) bestimmen jeweils, was zulässig und/oder gefor-
dert ist. An die Stelle genereller Affektkontrollen tritt das Erlernen von Situationsde-
finitionen und Trennregeln. Hier liegt freilich ein Sprengsatz, denn der Erwerb ent-
sprechender Kompetenzen ist ein voraussetzungsvoller Prozess, weil nicht absolute
Gebote verinnerlicht werden müssen, sondern diffizile Konditionalprogramme. Die
von uns untersuchten Medienfans verfügen über dieses Skriptwissen, freilich nicht
von Anfang an. Es ist vielmehr Resultat und Endstufe einer spezifischen Rezeptions-
und Medienkarriere. Vor allem die Freaks, also die Gruppe von Jugendlichen, die
am tiefsten in der jeweiligen Spezialkultur verwurzelt sind, entwickeln eine erstaun-
liche Virtuosität bei der Funktionalisierung äußerer (medienbestimmter) Umstände
für innere (affektuelle) Zustände. Sie sind letztlich prototypische Repräsentanten der
für die Gegenwartsgesellschaft diagnostizierten zunehmenden Dominanz von Erleb-
nisrationalität (vgl. Schulze 1992).
Die Medienvergnügen der Grufties, Computerfreaks, Online-Rollenspieler und
vieler anderer Spezialkulturen können somit auch als Teil einer Entwicklung angese-
hen werden, die sich als Trend zum spannenden Müßiggang einer wachsenden Zahl
jugendeigener Szenen und Stilkreationen beschreiben lässt. In selbst geschaffenen
sozial-räumlichen Enklaven können sie ihren Emotionen und ihrer Risikolust freien
Lauf lassen. Bereits Anfang der 1980er Jahre weist eine Repräsentativbefragung
(vgl. Jugendwerk der Deutschen Shell 1982) einen Anteil von 24% von Jugendlich-
en aus, für die in ihrer Freizeit die Suche nach Erlebnis und Nervenkitzel eine wich-
tige Rolle spielt; Tendenz steigend, wie jüngste Untersuchungen zeigen (vgl. Raithel
2001; Schmidt 2002). Eingelagert ist dieser Bedeutungszuwachs jugendlicher
Affekt- und Abenteuerkulturen in einen allgemeinen Prozess der erlebnismäßigen
Spezialisierung. Im Sinne der neueren Zivilisationstheorie handelt es sich dabei um
einen Vorgang der „Informalisierung“ (Wouters 1999), der zur Elastisierung herr-
schender Verhaltensstandards und zur Kultivierung von Emotionen in teil- oder sub-
kulturellen Nischen führt. An die Stelle einer flächendeckenden und umfassenden
Affektkontrolle tritt die partielle Entzivilisierung. In bewusster Distanz zu den
Selbstdisziplinierungsanforderungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene entstehen
affektive Zonen und Milieus, in denen gezielt außeralltägliche Zustände hergestellt
werden. Die erlebnisorientierte Ausrichtung zahlreicher jugend- und medienkulturel-
len Praxen kann somit auch als affektiv grundiertes experimentum libertatis interpre-
tiert werden. Oder allgemeiner formuliert:
Kulturelle und mediale Praxisformen Jugendlicher 447
„So könnte es durchaus ein zivilisatorischer Fortschritt sein, dass nicht mehr nur die konsens-
fähigen Emotionen evoziert werden, sondern, wie es der Amoral des Marktes und der Moral
der Individualisierung entspricht, auch emotionale Spezialkulturen sich ausbilden und darstel-
len“ (Eckert et al. 1990: 157).

4 Jugendszenen als Orte kultureller Produktivität und


Differenzierung

Versucht man die Befunde aus unseren Jugend- und Medienstudien unter einer stär-
ker differenzierungssoziologischen Perspektive zu betrachten, dann ist festzuhalten,
dass die Vielfalt der Nutzungs- und Kodierungsmöglichkeiten, die Medien eröffnen,
zur Herausbildung von neuen Spezialkulturen führen – und dies keineswegs nur im
Jugendbereich. Verbunden ist hiermit eine Steigerung selbst gewählten und selbst
definierten Lebens. Personale Identität wird verstärkt auch über mediale Spezia-
lisierungen und Gruppierungen befestigt. Jenseits von Stand, Klasse und Schicht
etablieren sich neue medien- und szenegebundene Distinktions-, Identitäts- und
Sozialformen. Diese Ergebnisse stehen in deutlichem Widerspruch zu der in be-
stimmten Kreisen der Kulturkritik immer noch verbreiteten Überzeugung, die Kom-
munikationsmedien seien die großen kulturellen Gleichmacher oder gar die Produ-
zenten einer farblos-eindimensionalen Einheitskultur. Analog zu Helmut Schelskys
(1953) Vorstellungen von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ aus den 1950er
Jahren wird hier – allerdings auf globalem Niveau – eine „nivellierte Weltkultur“
behauptet. Damit sollen die Entwicklungen und Folgen transkultureller Medienkom-
munikation gefasst werden, die zu international vereinheitlichten Interaktionsmus-
tern, Werten, Normen und Bedürfnissen beitragen. Siegfried J. Schmidt (1994:
302ff.) spricht in diesem Zusammenhang von „Entdifferenzierungsphänomenen“,
die in – meist negativ konnotierten – Schlagworten wie Vermassung, Ameri-
kanisierung oder auch Kommerzialisierung zum Ausdruck kommen. Entdifferen-
zierung meint in diesem Zusammenhang, dass Massenmedien – und hier insbeson-
dere das Fernsehen – zu weltweiten Standardisierungen führen. Barbara Sichter-
mann (1997: 47) hat dies in einer spitzzüngigen Fernsehkritik auf den Punkt
gebracht: „Gegen die Amerikanisierung der deutschen – und nicht nur der deutschen
– TV-Unterhaltung ist kein Kraut gewachsen.“
Die mit der weltweiten Vermarktung von Medienprodukten einhergehenden
Angleichungsprozesse repräsentieren jedoch nur einen Wirkungsaspekt. Denn
gleichzeitig – und das belegen unsere Forschungsergebnisse nachdrücklich – sind
auch unübersehbare Differenzierungsprozesse in Gang gesetzt worden. So ermögli-
chen die verschiedenen Medien und Programmgattungen nicht nur neue Wahlmög-
lichkeiten, sondern eröffnen auch größere Handlungsspielräume und tragen damit zu
einer Pluralisierung von Sinn- und Sozialwelten bei. Diese Pluralisierung kann in
zwei Bereichen verdeutlicht werden. Zum einen werden kulturelle Praxisformen
dehierarchisiert, d.h. die ehemals fest gefügten Unterscheidungen einer hierarchisch
448 Waldemar Vogelgesang

strukturierten Hochkultur, die nur hohe und niedere Kultur, Wesentliches und Ober-
flächliches, guten und schlechten Geschmack kennt, werden ersetzt durch miteinan-
der konkurrierende Spezialkulturen, die je nach Stilensemble spezifische Mediennut-
zungsformen, alltagsästhetische Schemata und Deutungsmuster entwickeln. Zum
anderen mindert der horizontale Differenzierungsprozess, der sich in immer neuen
und zunehmend spezialisierteren Wahlnachbarschaften dokumentiert, auch die
begriffliche Reichweite der Subkulturkonzepte, soweit sie noch von einem hierarchi-
schen Verhältnis zwischen Kultur und Teilkultur ausgehen. Mit dem Begriff der
Spezialkultur versuchen wir diesen Transformationen Rechnung zu tragen. Gerade
für die jugendlichen Medienkulturen trifft dies in besonderem Maße zu. Sie sind
keine sub- oder gegenkulturellen Entwürfe, sondern sie verbinden die überkom-
mene, hegemoniale Kultur mit verschiedensten Teilkulturen. Aber die Medien ver-
drängen nicht die anderen Wirklichkeiten, sondern pluralisieren sie.
Dabei spielen verstärkt auch jugendkulturelle Globalisierungsprozesse eine
wichtige Rolle. Hintergrund dieser Entwicklung ist das Faktum, dass in den global
media cities (Krätke 2002, Hepp 2004b: 267-274) transnationale Konzerne populär-
kulturelle Produkte aller Art – und zwar angefangen von Filmen und Serien über
Videoclips und Computerspiele bis zu den unterschiedlichsten Musikstilen – für den
Weltmarkt produzieren. Fraglos sind diese global verbreiteten Produkte (und die
damit verbundenen Images) Angebote zur Selbststilisierung und Gruppenbildung.
Aber führen sie auch zu deren Nivellierung und Gleichschaltung, wie immer wieder
befürchtet wird? So umschreibt der französische Romancier Frédérik Beigbeder die
Zukunftsperspektive der transnationalen und konsumorientierten Jugendmilieus fol-
gendermaßen: „Eines Tages werden wir nicht mehr Länder, sondern Marken bewoh-
nen: Wir sind dann die McDonaldianer und die Microsofties“ (zit. n. Roth 2002: 25).
Der uniformierten Konzernwelt werden in dieser Vorstellung standardisierte und
homogenisierte Jugendkulturen gegenübergestellt, die sich dem Konsumdruck und
der Kommerzialisierung der übermächtigen Marktakteure nicht entziehen können.
Unsere bisherigen Forschungen zeigen aber, dass gerade in den jugendlichen
Medienszenen die populärkulturellen Fertigprodukte der Medienbranche höchst
unterschiedlich und eigenwillig verwendet werden. Zwar haben gerade die expressi-
ven jugendlichen Musikkulturen, wie etwa die Punk-, Techno- und Hip-Hop-Fange-
meinschaften, durch die wachsende Mediatisierung und Kommerzialisierung eine
internationale Stilsprache ausgebildet, aber sie weisen stets auch einen besonderen
lokalen Akzent auf. Dieser Kontextualisierungsaspekt, also die Frage, inwiefern die
normierte populärkulturelle Botschaft durch nationale, regionale oder milieuspezifi-
sche Aneignungspraxen überlagert wird, zählt zu den zentralen Themenstellungen
der gegenwärtigen Jugendkulturforschung (vgl. Kaya 2001; Pilkington et al. 2002;
Klein/Friedrich 2003).
Versucht man vor dem Hintergrund dieser Entwicklung und mit Bezug auf die
aktuelle Forschungslage eine Systematisierung der zeitgenössischen jugend- und
medienkulturellen Praxisformen, dann offenbart ihr stilistisches Substrat und ihre
Kulturelle und mediale Praxisformen Jugendlicher 449

soziale Verortung folgende Strukturmerkmale, die gleichsam als analytisch-kate-


goriales Raster für die heutige Jugendkultursphäre insgesamt angesehen werden
können:
• Die Zahl von Jugendkulturen hat stark zugenommen. Die Schätzungen schwan-
ken zwischen 100 und 200, wobei die Zahl der Anhänger allerdings große
Unterschiede aufweist. Zum Mainstream in den jugendlichen Musikszenen zäh-
len derzeit die Rapper und Raver, also die Anhänger von Hip-Hop und Techno
mit jeweils weit mehr als einer Million Fans (Pluralisierung).
• Jugendkulturen unterliegen ständigen Differenzierungen und Aufspaltungen.
Aus der Rockszene haben sich die Stilrichtungen des Punk, New Wave, Hard-
core und Heavy Metal abgespalten. Die Metal-Kultur ihrerseits hat sich zwi-
schenzeitlich ebenfalls in mehrere Untergruppierungen wie Black Metal, Dark
Metal und Doom ausdifferenziert. Die Abspaltung von Subszenen wird
regelrecht zum Kampfmittel zur Sicherung von Identität und Autonomie. Man
kann deshalb auch von einem Mainstream der Minderheiten sprechen (Diversifi-
zierung).
• Auch wenn sich eine große Anzahl von Jugendlichen einer Szene zugehörig
fühlt – in unserem Jugendsurvey aus dem Jahr 2000 (vgl. Vogelgesang 2001)
sagte rd. die Hälfte der Befragten, dass sie Anhänger einer Medienszene sind –,
ihre Szenebindung ist jedoch unterschiedlich intensiv. Drei Typen des Fantums
lassen sich dabei unterscheiden: der Novize, der Tourist und der Freak. Sie mar-
kieren einerseits gestufte Formen szenegebundenen Wissens und andererseits,
wenn auch nicht zwangsläufig, Karriereabschnitte innerhalb einer Szene
(gestufte Szenebindung).
• Es sind vor allem die jugendlichen Szeneveteranen, die ihr Wissen und ihre Stil-
hoheit auch sehr prononciert als Konfrontations- und Abgrenzungsstrategie
gegenüber Erwachsenen einsetzen. In spielerisch-aufreizender Lässigkeit
demonstrieren sie die ungleiche Verteilung vor allem von Medienkompetenzen.
Gerade ihre Leichtigkeit und Virtuosität in der visuellen Wahrnehmung – und
zwar von dem Bilderspektakel der Musikclips bis zu den virtuellen Welten der
Computerspiele – verdeutlichen, dass der Umgang mit Medien und ihren Inhal-
ten sich immer weiter auseinander entwickelt, denn selbst aufgeschlossene und
wohlmeinende Erwachsene können diese medialen Produkte nicht in ihre all-
tagsästhetischen Schemata transponieren; Ratlosigkeit, Verwirrung und Empö-
rung sind dann nicht selten die Folge. Die Anzeichen mehren sich, dass sich der
Generationen-Konflikt zukünftig viel stärker als Medien-Konflikt zeigen dürfte
(asymmetrische Wahrnehmungsstile).
• Jugendkulturen sind Formationen auf Zeit, deren Leben und Überleben aufs
Engste mit ihrer Stilexklusivität verknüpft ist. Deren Verlust ist gleichbedeutend
mit einer Entzauberung und Auflösung ihrer Identität und hängt wie ein Damo-
klesschwert über allen jugendkulturellen Stilgemeinschaften. In dem Maße näm-
450 Waldemar Vogelgesang

lich, wie ihre Szenesymbole – z.B. die XXL-Klamotten, Baseballkappen und


Turnschuhe (Sneakes) bei den Hip-Hop-Fans – von vielen aufgegriffen werden,
inflationieren sie und werden schließlich für ihren Zweck untauglich. Jugend-
kulturen als gemeinschaftliche Lebensentwürfe scheitern nicht einfach an der
Unrealisierbarkeit ihrer Konzepte, sondern blühen und welken mit den Kon-
junkturen ihrer Symbole und Karrieren ihrer Protagonisten. Ein markanter Ein-
schnitt in der Grunge-Szene war beispielsweise der Freitod ihres Idols Curt
Cobain von der Gruppe Nirvana im Jahr 1994 (Kampf um Exklusivität und Dis-
tinktion).
• Mit der Expansion des Jugendkulturmarktes zu Beginn der 1980er Jahre und der
freien Wählbarkeit von kulturellen Mustern und Gruppierungen, verlieren klas-
senkulturell orientierte Stilbildungsprozesse an Bedeutung. Nicht mehr die Ver-
ankerung von jugendlichen Lebensformen in der herkunftsspezifischen parent
culture ist bestimmend für die heutigen Jugendkulturen und -szenen, sondern
viel eher modische Stilbasteleien, die als postmoderne, identitätsstiftende
Bezugspunkte tendenziell allen Jugendlichen verfügbar sind. Während Punks
und Popper untrennbar mit ihrer Herkunftskultur verbunden sind – dem Arbei-
termilieu und dem Bürgertum –, gibt es bei den Techno-Anhängern keine
Schichtabhängigkeit mehr. Der Trend ist offenkundig: An die Stelle der Milieu-
gebundenheit ist die Marktorientierung getreten (Marktabhängigkeit anstelle
von Herkunftsgebundenheit).
• Durch Fixierungen, Übersteigerungen und Radikalisierungen kann es auch zu
problematischen Entwicklungen innerhalb von bestimmten Jugendkulturen und
-gruppen kommen. Zu den aktuellen Konfliktszenen zählen Skinheads, Autono-
me, Hooligans, Satanisten und Faschos, für die aggressive Männlichkeit und
Gewalt die dominanten Ausdrucksmittel sind. Hinzu kommen rigide Macht-,
Unterwerfungs- und Bestrafungsrituale, die den Ausstieg zu einem hohen per-
sönlichen Risiko machen. Neben diesen Härtegruppen, gibt es noch andere
geschlossene Gemeinschaften: die so genannten Rückzugskulturen. Zu nennen
sind hier in erster Linie Jugendsekten und bestimmte Esoterikgruppen, die mit
wesentlich subtileren Zwangs- und Kontrollmitteln operieren, um jugendliche
Mitglieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Nicht selten ist der Preis, den der
Einzelne in diesen vermeintlichen Heils- und Erlösungszirkeln zahlen muss,
sehr hoch: das eigene Ich (deviante Jugendszenen).

5 Fazit: Distinktion durch Stilisierung

Für die Mehrzahl der Jugendszenen ist jedoch die Freiwilligkeit und Selbstbestim-
mung ihrer Mitglieder oberstes Gebot. Dabei zeigen ihre jugendlichen Anhänger
auch meist sehr demonstrativ, zu welcher Gruppierung sie gehören. Hinzu kommt,
dass Szenen ihre eigenen Orte und Treffpunkte haben, für die eine hohe Erlebnis-
Kulturelle und mediale Praxisformen Jugendlicher 451

dichte charakteristisch ist. Hier ist Emotion pur erlebbar, ganz im Unterschied zur
verwalteten, geplanten und rationalitätsbestimmten Erwachsenenwelt. Des Weiteren
verdeutlichen Jugendkulturen, dass die Individualisierung des heutigen Lebens nicht
zwangsläufig in eine Vereinzelung mündet und keineswegs als Verfallsprozess
sozialer Bindungen begriffen werden muss, sondern sie sind gleichsam der Prototyp
neuer Formen „posttraditionaler Vergemeinschaftung“ (Hitzler 1998) mit je eigenen
Stilen, Ritualen und Symbolen.
Eingebunden ist diese Entwicklung in einen gesamtgesellschaftlichen Transfor-
mationsprozess, dessen zeitdiagnostische Schlüsselbegriffe – Individualisierung,
Traditionserosion, Pluralisierung von Lebensstilen – einen grundlegenden Wandel
der Moderne signalisieren. Wie kein anderer hat Hans Magnus Enzensberger (1991:
264) die damit einhergehende „Exotik des Alltags“ plastisch beschrieben, deren
Skizzierung so anschaulich gelingt, dass man geneigt ist, von einer literarischen
Form von Alltagssoziologie zu sprechen:
„Sie [gemeint ist die Exotik des Alltags; W.V.] ist am deutlichsten in der Provinz. Niederbay-
erische Marktflecken, Dörfer in der Eifel, Kleinstädte in Holstein bevölkern sich mit Figuren,
von denen noch vor dreißig Jahren niemand sich etwas träumen ließ. Also Golf spielende
Metzger, aus Thailand importierte Ehefrauen, V-Männer mit Schrebergärten, türkische Mul-
lahs, Apothekerinnen in Nicaragua-Komitees, Mercedes fahrende Landstreicher, Autonome
mit Bio-Gärten, Waffen sammelnde Finanzbeamte, Pfauen züchtende Kleinbauern, militante
Lesbierinnen, tamilische Eisverkäufer, Altphilologen im Warentermingeschäft, Söldner auf
Heimaturlaub, extremistische Tierschützer, Kokaindealer mit Bräunungsstudios, Dominas mit
Kunden aus dem höheren Management, Computer-Freaks, die zwischen kalifornischen
Datenbanken und hessischen Naturschutzparks pendeln, Schreiner, die goldene Türen nach
Saudi-Arabien liefern, Kunstfälscher, Karl-May-Forscher, Bodygards, Jazz-Experten, Sterbe-
helfer und Porno-Produzenten. An die Stelle der Eigenbrötler und der Dorfidioten, der Käuze
und der Sonderlinge ist der durchschnittliche Abweichler getreten, der unter Millionen seines-
gleichen gar nicht mehr auffällt.“
In der von Enzensberger hier so eindrucksvoll umschriebenen Alltags-Exotik sind
auch unsere Forschungsbeispiele angesiedelt. Ob jugendliche Video-Cliquen oder
Spiele-Clans, die Szenen der Grufties, Black Metal-Fans oder Cyberpunks, was hier
sichtbar wird sind kleine Lebenswelten, in deren szenischem Rahmen die Insider
einerseits als eigenständige Gestalter alltäglicher Bezüge und Ordnungen in
Erscheinung treten, andererseits aber auch eine sichtbare und expressiv-ausdrückli-
che Abgrenzungs- und Absetzbewegung auf soziokultureller Ebene vornehmen. Ihre
jugendlichen Protagonisten repräsentieren Stilgemeinschaften, die sich nahtlos in die
bunt-plurale Welt zeitgenössischer Jugendformationen einfügen. Für diese gilt:
„Die vornehmlich freizeitbezogenen Szenen und Jugendkulturen verstärken eine Tendenz,
dass Jugendliche nicht mehr für konventionelle Entwicklungs- und Persönlichkeitsvorstellun-
gen verfügbar sind, denn sie wählen […] in sensibler Reaktion auf gesamtkulturelle Zustände
und Angebote ihre eigenen Werte der Motivverwirklichung.“ (Baacke/Ferchhoff 1988: 318)
Die Analyse hat weiterhin gezeigt, dass in der „Multioptionsgesellschaft“ (Gross
1994) die Medien und ihre spezialisierten Aneignungsmodi gleichermaßen indivi-
duelle wie kulturelle Muster potenzieren. Vor diesem Hintergrund entpuppt sich die
These von der nivellierten Medienkultur als ein Mythos. Solche Vorstellungen ste-
hen nicht nur im Widerspruch zu den Befunden der neueren Stil- und Milieufor-
452 Waldemar Vogelgesang

schung, sondern sie ignorieren auch völlig, auf welch differenzierte Weise gerade
die Akteure in medienbestimmten Spezialkulturen in ihrem Aneignungshabitus
hoch- und alltagskulturelle Momente miteinander zu verbinden wissen. Joachim Höf-
lich (1996: 268) kommt bei seinen Untersuchungen von kommunikativen Netzwer-
ken zu ganz ähnlichen Ergebnissen:
„Jedes Medium eröffnet aufgrund multipler Kommunikationskanäle die Teilhabe an einer
Vielzahl potenzieller sozialer Welten […] und elektronischer Gemeinschaften, die sich nach-
gerade durch medienspezifische Gebrauchsweisen, Bedeutungshorizonte, auf die Medien hin
bezogene Identitäten und Distinktionsinteressen unterscheiden.“ (Höflich 1996: 268)
Künftige Jugend- und Medienforschung sollte ein besonderes Augenmerk auf die
empirische Beobachtung und theoretische Konzeptualisierung dieser Prozesse
medienstimulierter Selbst- und (Sub-)Weltgestaltung richten. Allerdings darf sich
angesichts des dynamischen Medien- und Stilmarktes und seiner produktiven Inbe-
sitznahme durch die Jugendlichen die Forschungsarbeit nicht in typologischen oder
szenischen Momentaufnahmen erschöpfen. Denn selbst arrivierte Jugendforscher
verlieren auf dem heutigen Jugendmarkt nur allzu leicht die Orientierung und stellen
dann resigniert fest, dass die „unzähligen Varianten von Cliquen und Jugendkulturen
[…] sich dem erklärenden und deutenden Zugriff entziehen“ (Ferchhoff 1995: 65).
Jugendkulturelle Feldrecherchen, so notwendig sie auch sind, müssen durch Rück-
griff auf geeignete theoretische Konzepte Tiefenstrukturen offen legen, die jenseits
der Optionalitäten und Ambivalenzen der individualisierten Gesellschaft Musterer-
kennungen ermöglichen. Die Stiltheorie von John Clark (1979), das Encoding/Deco-
ding-Modell von Stuart Hall (1980), neuere Vorstellungen von Medienkompetenz,
die selbstgesteuertes Lernen betonen (vgl. Tully 2004), oder das von Andreas Hepp
(2005) weiterentwickelte Aneignungskonzept können in diesem Zusammenhang als
wichtige Theoriedesiderate zur Erklärung der Entstehung, Etablierung und Verän-
derung von jugendlichen Medienszenen und jugendkulturellen Praktiken sein. Das
bedeutet, kontrastierend zur herkömmlichen – vorrangig auf die individuelle Nut-
zung zielende – Betrachtungsweise, ist eine relationale und kulturelle Perspektive zu
wählen, um szenetypische Codesysteme und Kommunikationsmuster – man könnte
auch von Szenen-Semantiken sprechen – empirisch aufzuhellen und theoretisch zu
verorten.

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Über die Autorinnen und Autoren

Jannis Androutsopoulos, Dr. phil., Juniorprofessor für Medienkommunikation an der


Universität Hannover (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: Herausge-
ber von „Discourse Constructions of Youth Identities“ (gemeinsam mit Alexan-
dra Georgakopoulou, Amsterdam/Philadelphia 2003) und von „HipHop: glo-
bale Kultur – lokale Praktiken“ (Bielefeld 2003).
Ien Ang, PhD, Professorin für Cultural Studies und Direktorin des Centre for Cul-
tural Research an der Universität von Western Sydney (Australien). Buchveröf-
fentlichungen u.a.: „Das Gefühl Dallas. Zur Produktion des Trivialen“ (Biele-
feld 1986), „Living Rooms Wars. Rethinking Media Audiences for a Postmo-
dern World“ (London/New York 1991) und „On Not Speaking Chinese: Living
Between Asia and the West“ (London u.a. 2001), Herausgeberin von
„Alter/Asians: Asian-Australian Identities in Art, Media and Popular Culture“
(gemeinsam mit Sharon Chalmers, Lisa Law und Mandy Thomas, Sydney
2001).
Ute Bechdolf, Dr. rer. soc., Direktorin des Deutsch-Amerikanischen Instituts in
Tübingen (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: „Puzzling Gender. Re-
und Dekonstruktionen von Geschlechterverhältnissen im und beim Musik-
fernsehen“ (Weinheim 1999), „Politics and Pop, People and Partnership. 50
Jahre Deutsch-Amerikanisches Institut Tübingen“ (Tübingen 2002) und „Cul-
ture to go - Wie amerikanisch ist Tübingen?“ (Ed. mit Kaspar Maase, Tübingen
2005).
Johanna Dorer, Dr. phil., Ass.-Professorin am Institut für Publizistik- und Kom-
munikationswissenschaft der Universität Wien (Österreich). Buchveröffentli-
chungen u.a.: „Kommunikation und Macht: Public Relations – eine Annä-
herung“ (gemeinsam mit Matthias Marschik, Wien 1993), Herausgeberin von
„Feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft. Ansätze, Befunde
und Perspektiven der aktuellen Entwicklung“ (gemeinsam mit Brigitte Geiger,
Wiesbaden 2002) und von „Radiokultur von Morgen. Ansichten – Aussichten –
Alternativen“ (gemeinsam mit Alexander Baratsits, Wien 1995).
Andreas Dörner, Dr. phil., Professor für Medienwissenschaft an der Philipps-Uni-
versität Marburg (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: „Politischer
Mythos und symbolische Politik“ (Opladen 1995, TB-Ausgabe Reinbek 1996);
„Politische Kultur und Medienunterhaltung“ (Konstanz 1999), „Politainment.
Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft“ (Frankfurt a.M. 2001) und „Wahl-
Kämpfe. Betrachtungen über ein demokratisches Ritual“ (Frankfurt a.M. 2002).
456 Über die Autorinnen und Autoren

Caroline Düvel, Dipl.-Medienwiss., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet


Kommunikationswissenschaft, Fachbereich Kulturwissenschaften an der Uni-
versität Bremen (Deutschland).
John Fiske, Professor em. für Communication Acts an der Universität von Wis-
consin-Madison (USA). Buchveröffentlichungen u.a.: „Television Culture“
(London/New York 1987), „Media Matters – Everyday Culture and Political
Change“ (Minneapolis/London 1994), „Lesarten des Populären“ (Wien 1999)
und „Die Fabrikation des Populären“ (Bielefeld 2001).
Ursula Ganz-Blättler, Dr. phil., Assistenzprofessorin am Institut für Medien und
Journalismus der Universität Lugano (Schweiz). Buchveröffentlichungen u.a.:
„Andacht und Abenteuer“ (Tübingen 1990), „Morde im Paradies“ (gemeinsam
mit Brigitte Scherer, Monika Grosskopf und Ute Wahl, Konstanz 1994) sowie
Herausgeberin von „Sinnbildlich schief. Missgeschicke bei Symbolgenese und
Symbolgebrauch“ (gemeinsam mit Paul Michel, Bern/Frankfurt 2003).
Udo Göttlich, Dr., PD am Rhein-Rhur-Institut für Sozialforschung und Politikbera-
tung an der Universität Duisburg-Essen, Campus Duisburg (Deutschland).
Buchveröffentlichungen u.a.: „Kritik der Medien. Reflexionsstufen kritisch-
materialistischer Medientheorien“ (Opladen 1996), Herausgeber von „Cultural
Studies. Grundlagentexte zur Einführung“ (gemeinsam mit Roger Bromley und
Carsten Winter, Lüneburg 1999), von „Politik des Vergnügens. Zur Diskussion
der Populärkultur in den Cultural Studies“ (gemeinsam mit Rainer Winter,
Köln 1999) sowie von „Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Die Heraus-
forderung der Cultural Studies“ (gemeinsam mit Clemens Albrecht und Win-
fried Gebhardt, Köln 2002).
Lawrence Grossberg, Morris Davis Professor für Communication Studies und
Direktor des Cultural Studies Programms an der Universität von North Caro-
lina-Chapel Hill (USA). Buchveröffentlichungen u.a.: „We Gotta Get Out of
This Place. Popular Conversatism and Postmodern Culture“ (New York/Lon-
don 1992), „What‘s Going On? Cultural Studies und Popularkultur“ (Wien
2000), „Caught in the Crossfire: Kids, Politics and America‘s Future“ (London
u.a. 2005), Herausgeber von „Cultural Studies“ (gemeinsam mit C. Nelson/P.
Treichler, New York, London 1992), von „Without Guarantees: In Honour of
Stuart Hall“ (gemeinsam mit Paul Gilroy und Angela McRobbie, London u.a.
2000) sowie von „New Keywords: A Revised Vocabulary of Culture and
Society“ (gemeinsam mit Tony Bennett und Meaghan Morris, London u.a.
2005).
Andreas Hepp, Dr. phil., Professor für Kommunikationswissenschaft, Fachbereich
Kulturwissenschaften an der Universität Bremen (Deutschland). Buchveröffent-
lichungen u.a.: „Fernsehaneignung und Alltagsgespräche. Fernsehnutzung aus
der Perspektive der Cultural Studies“ (Opladen 1998), „Cultural Studies und
Medienanalyse“ (Wiesbaden 1999, 2. Auflage 2004), „Netzwerke der Medien.
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Medienkulturen und Globalisierung“ (Wiesbaden 2004), Herausgeber von


„Grundlagentexte zur transkulturellen Kommunikation“ (gemeinsam mit Mar-
tin Löffelholz, Konstanz 2002), „Populäre Events. Medienevents, Spielevents,
Spaßevents“ (gemeinsam mit Waldemar Vogelgesang, Opladen 2003) und „Die
Cultural Studies Kontroverse“ (gemeinsam mit Carsten Winter, Lüneburg
2003).
Ralf Hinz, Dr. phil., Lehrbeauftragter an der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Frankfurt a.M., an der Ruhr-Universität Bochum (Deutschland) und an der
Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich (Schweiz), Lehrer am Quirinus-
Gymnasium Neuss (Deutschland). Buchveröffentlichung: „Cultural Studies und
Pop. Zur Kritik der Urteilskraft wissenschaftlicher und journalistischer Rede
über populäre Kultur“ (Opladen/Wiesbaden 1998).
Brigitte Hipfl, Dr. phil., Ao.-Professorin am Institut für Medien- und Kommunikati-
onswissenschaft der Universität Klagenfurt (Österreich). Buchveröffentlichun-
gen u.a.: Herausgeberin von „Sündiger Genuss? Filmerfahrungen von Frauen“
(gemeinsam mit Frigga Haug, Hamburg 1995), von „Bewegte Identitäten.
Medien in transkulturellen Kontexten“ (gemeinsam mit Brigitta Busch und
Kevin Robins, Klagenfurt 2001) und von „Identitätsräume“ (gemeinsam mit
Elisabeth Klaus und Uta Scheer, Bielefeld 2004).
Karl H. Hörning, Dr. rer. pol., Professor em. am Institut für Soziologie der RWTH
Aachen (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: „Zeitpioniere“ (gemein-
sam mit Anette Gerhard und Matthias Michailow; Frankfurt a.M. 1990, 3.
Auflage 1998; engl. Übersetzung Cambridge 1995), „Metamorphosen der
Technik“ (gemeinsam mit Karin Dollhausen, Opladen 1997) und „Experten des
Alltags“ (Weilerswist 2001), Herausgeber von „Widerspenstige Kulturen“
(gemeinsam mit Rainer Winter, Frankfurt a.M. 1999, 2. Auflage 2004) und
„Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und Praxis“
(gemeinsam mit Julia Reuter, Bielefeld 2004).
Siegfried Jäger, Dr. phil., Professor em. für Germanistik an der Fakultät für Geistes-
wissenschaften der Universität Duisburg/Essen, Campus Duisburg (Deutsch-
land). Buchveröffentlichungen u.a.: „BrandSätze. Rassismus im Alltag“ (Duis-
burg 1992, 4. Auflage 1996), „Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung“
(Duisburg 1993, vierte Auflage Münster 2004), Herausgeber von „‚Diese
Rechte ist immer noch Bestandteil unserer Welt.‘ Aspekte einer neuen Konser-
vativen Revolution“ (gemeinsam mit Jobst Paul, Duisburg 2001) sowie von
„Gefühlte Geschichte und Kämpfe um Identität“ (gemeinsam mit Franz Janu-
schek, Münster 2004).
Elisabeth Klaus, Dr. phil., Professorin am Fachbereich Kommunikationswissen-
schaft der Universität Salzburg (Österreich). Buchveröffentlichungen u.a.:
„Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung. Zur Bedeutung der
Frauen in den Massenmedien und im Journalismus“ (2. aktualisierte Aufl. Mün-
458 Über die Autorinnen und Autoren

ster/Wien 2005), Herausgeberin von „Kommunikationswissenschaft und Gen-


der Studies“ (gemeinsam mit Jutta Röser und Ulla Wischermann, 2. unver.
Aufl. Opladen/Wiesbaden 2002) sowie von „Identitätsräume“ (gemeinsam mit
Brigitte Hipfl und Uta Scheer, Bielefeld 2004).
Friedrich Krotz, Dr. phil., Professor für Kommunikationswissenschaft/soziale Kom-
munikation am Seminar für Medien und Kommunikation der Universität Erfurt
(Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: „Die Mediatisierung kommunika-
tiven Handelns“ (Wiesbaden 2001) und „Neue Theorien entwickeln“ (Köln
2005), Herausgeber von „Die Zuschauer als Fernsehregisseure? Zum Ver-
ständnis individueller Nutzungs- und Rezeptionsmuster“ (gemeinsam mit Uwe
Hasebrink, Baden-Baden/Hamburg 1996), von „Mythen der Mediengesell-
schaft – The Media Society and its Myths“ (gemeinsam mit Patrick Rössler,
Konstanz 2005) und von „Globalisierung der Medienkommunikation“
(gemeinsam mit Andreas Hepp und Carsten Winter, Wiesbaden 2005).
Matthias Marschik, Dr. phil., Universitätsdozent am Institut für Zeitgeschichte der
Universität Linz (Österreich). Buchveröffentlichungen u.a.: „Frauenfussball
und Maskulinität“ (Münster 2003), „Flieger, grüß mir die Sonne… Eine kleine
Kulturgeschichte der Luftfahrt“ (Wien 2000) und „Johann Dolanski: Die Hohl-
welttheorie“ (Wien 2005).
Lothar Mikos, Dr. phil., Professor für AV-Medienwissenschaft an der Hochschule
für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam Babelsberg (Deutschland).
Buchveröffentlichungen u.a.: „Fernsehen im Erleben der Zuschauer“ (Mün-
chen/Berlin 1994), „Fern-Sehen“ (Berlin 2001), „Film- und Fernsehanalyse“
(Konstanz 2003), Herausgeber von „Die Werkzeugkiste der Cultural Studies“
(gemeinsam mit Udo Göttlich und Rainer Winter, Bielefeld 2001) und „Quali-
tative Medienforschung“ (gemeinsam mit Claudia Wegener, Konstanz 2005).
Eggo Müller, Dr. phil., Ass.-Professor am Instituut Media en Re/presentive an der
Universität Ultrecht (Niederlande). Buchveröffentlichungen u.a.: „Paarungs-
spiele“ (Berlin 1999), Herausgeber von „Ansichten einer zukünftigen Medien-
wissenschaft“ (gemeinsam mit Rainer Bohn und Rainer Ruppert, Berlin 1988),
von „Der Film in der Geschichte“ (gemeinsam mit Knut Hickethier und Rainer
Rother, Berlin 2001) und von „Euro 2004 – Medienfußball im Europäischen
Vergleich“ (mit Jürgen Schwier, Köln 2005).
Klaus Neumann-Braun, Dr. phil., Professor am Institut für Medienwissenschaften
der Universität Basel (Schweiz). Buchveröffentlichungen u.a.: „Rundfunkunter-
haltung. Zur Inszenierung publikumsnaher Kommunikationsereignisse“ (Tübin-
gen 1993), „Die Welt der Gothics“ (gemeinsam mit Axel Schmidt, Wiesbaden
2005), Herausgeber von „Medien- und Kommunikationssoziologie“ (gemein-
sam mit Stefan Müller-Doohm, München 2000), „Kulturinszenierungen“ (ge-
meinsam mit Stefan Müller-Doohm, Frankfurt a.M. 2002) und von „Coolhun-
ters“ (gemeinsam mit Birgit Richard, Frankfurt a.M. 2005).
Über die Autorinnen und Autoren 459

Rudi Renger, Dr. phil., Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft


am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg (Öster-
reich). Buchveröffentlichungen u.a.: „Populärer Journalismus. Nachrichten
zwischen Fakten und Fiktion“ (Innsbruck u.a. 2000), Herausgeber von „Dialog
der Kulturen: Die multikulturelle Gesellschaft und die Medien“ (gemeinsam
mit Kurt Luger, Wien 1994), von „Journalismus in der Informationsgesell-
schaft“ (gemeinsam mit Hans H. Fabris und Roman Hummel, Innsbruck u.a.
1999) und von „Kommunikationswelten“ (gemeinsam mit Gabriele Siegert,
Innsbruck u.a. 1997).
Julia Reuter, Dr. phil., Juniorprofessorin für Allgemeine Soziologie mit Schwer-
punkt Entwicklungssoziologie an der Universität Trier (Deutschland). Buch-
veröffentlichungen: „Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in
der Soziologie des Fremden“ (Bielefeld 2002) und Herausgeberin von „Doing
Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und Praxis“ (gemeinsam
mit Karl H. Hörning, Bielefeld 2004).
Axel Schmidt, Dr. phil., Forschungsassistent am Institut für Soziologie der Universi-
tät Koblenz-Landau, Campus Landau (Deutschland). Buchveröffentlichungen:
„Die Welt der Gothics“ (gemeinsam mit Klaus Neumann-Braun, Wiesbaden
2005), Herausgeber von „Popvisionen – Links in die Zukunft“ (gemeinsam mit
Klaus Neumann-Braun, Frankfurt 2003).
Mark Terkessidis, Dr. phil., freier Autor in Köln (Deutschland). Buchveröffentli-
chungen u.a.: „Kulturkampf – Volk, Nation, der Westen und die Neue Rechte“
(Köln 1995), „Psychologie des Rassismus“ (Wiesbaden 1998), „Die Banalität
des Rassismus“ (Bielefeld 2004), Herausgeber von „Mainstream der Minder-
heiten“ (gemeinsam mit Tom Holert, Berlin u.a. 1996) und von „Globalkolorit.
Multikulturalismus und Populärkultur“ (gemeinsam mit Ruth Mayer, St.
Andrä/Wördern 1998).
Waldemar Vogelgesang, Dr. phil., Vert.-Professor für allgemeine Soziologie an der
Universität Trier (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: „Jugendliche
Videocliquen“ (Opladen 1991), „‚Meine Zukunft bin ich!‘ Alltag und Lebens-
planung Jugendlicher“ (Frankfurt a.M./New York 2001), „Jugend, Alltag und
Kultur. Eine Forschungsbilanz“ (Wiesbaden 2005), Herausgeber von „Populäre
Events. Medienevents, Spielevents und Spaßevents“ (gemeinsam mit Andreas
Hepp, Opladen 2003).
Rainer Winter, Dr. phil., Professor für Medien- und Kulturtheorie am Institut für
Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Klagenfurt (Öster-
reich). Buchveröffentlichungen u.a.: „Filmsoziologie. Eine Einführung in das
Verhältnis von Film, Kultur und Gesellschaft“ (München 1992), „Der produk-
tive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozess“
(München/Berlin 1995), „Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik
der Macht“ (Weilerswist 2001), Herausgeber von „Widerspenstige Kulturen“
460 Über die Autorinnen und Autoren

(gemeinsam mit Karl H. Hörning, Frankfurt a.M. 1999), von „Politik des Ver-
gnügens. Zur Diskussion der Populärkultur in den Cultural Studies“
(gemeinsam mit Udo Göttlich, Köln 1999) und von „Globales Amerika?“
(gemeinsam mit Ulrich Beck und Natan Sznaider, Bielefeld 2003).
Frank Wittmann, lic. phil., Assistent am Department für Gesellschaftswissenschaf-
ten der Universität Fribourg (Schweiz). Herausgeber von „African Media Cul-
tures: Transdisciplinary Perspectives“ (gemeinsam mit Rose Marie Beck, Köln
2004) und „Entre tradition orale et neuvelles technologies: où vont les mass
médias au Sénégal?“ (gemeinsam mit Martin Taureg, Dakar 2005).
Hans-Jürgen Wulff, Dr. phil., Professor für Medienwissenschaft an der Universität
Kiel (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: „Die Erzählung der Gewalt“
(Münster 1985, Neuauflage 1997) und „Konzeptionen der psychischen Krank-
heit im Film“ (Münster 1985, Neuauflagen 1995 und 1998: „Psychiatrie im
Film“) und „Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft“ (gemeinsam
mit Nils Borstnar und Eckhard Pabst, Konstanz 2002).
Index

Affekt 28, 35, 39, 389, 445-446 246, 257, 270, 272-277, 279, 281, 288,
Alltag 13-14, 25-26, 28, 30-31, 34, 292, 296, 305, 307, 318, 320, 337, 406,
36-37, 41-43, 45-46, 52-58, 65-66, 73, 428, 430, 452
83-85, 94, 101, 104, 113-114, 116-119, Bewusstsein 28, 32-33, 35, 61-62,
121, 135, 146, 156, 158, 163, 166, 169, 69, 73, 97, 99, 102, 105, 113, 134, 179,
178, 184, 187, 193-196, 202-205, 210, 208-209, 257, 261, 292, 299-301, 328,
212, 221-224, 229, 241, 244, 246, 331, 333-334, 388-389, 412
248-249, 262, 269-271, 274-275, Bewusstseinsindustrie 11, 274
277-279, 291-292, 295, 301, 304, 306, Binarität 28, 208-209, 321
331, 334, 340, 343-344, 360, 383, 386, Bricolage 81, 238, 243-244, 246, 249, 387
388, 390-391, 393, 395, 399-400, CCCS 9, 19, 24, 94, 98, 178-180, 212,
403-418, 429, 431, 435, 439-440, 442, 219, 237, 243
445-446, 448-449, 451-452 Common Sense 29, 33, 51-55, 286
Aneignung 9, 11-12, 16, 18, 38, Computer 64, 115, 117-120, 129,
50, 82, 87, 89, 117, 161, 193, 195-196, 160-161, 182-183, 362, 442-446,
205, 209, 221, 224, 231, 237, 240-241, 448-449, 451
243, 246, 248, 256, 287, 361, 389-390, Cyberkultur 119, 150, 160, 170,
394, 399-400, 404-407, 409, 412-419, 353, 361, 388, 451
442, 448, 451-452 Dekodierung 9, 11, 73, 95-96, 103,
Anthropologie 30-31, 33-34, 70-72, 131, 158, 201, 222, 274-276, 288, 452
102, 109-110, 116, 185, 232, 237, 243, Dekonstruktion 18, 28, 30, 36, 84-85,
286, 308, 312, 331, 346 89, 203, 206, 259-260, 430, 434-435
Artikulation 11, 17-18, 25-28, 30, Deterritorialisierung 27, 161, 404
33-37, 53, 64, 67, 69, 77, 86, 121, 150, Dialektik 31-33, 126, 195, 238, 385, 390,
155, 158, 160, 163, 167, 169, 183, 188, 440
196, 246, 261, 281, 311-312, 318, 320, Diaspora 170, 367, 374
324, 328, 339, 346, 355, 375, 390, Differenz 12, 14, 16-18, 28-29, 42, 44-45,
399-400, 405-407, 413, 415-418, 428, 50, 54, 68, 86, 104, 121, 126, 128, 143,
434, 444 188, 197, 205, 209, 260-262, 302,
Ästhetik 30-31, 34, 55, 58, 72, 89, 179, 305-306, 312-322, 324, 331, 336,
194, 226, 256, 261-263, 304, 368, 339-340, 345, 368-369, 383-384, 410,
386-391, 431, 442, 444, 448-449 414, 417, 425-430, 435, 447
Bedeutung 9, 13-14, 16, 30, 32-33, Diskurs 9-10, 12, 15, 17, 26, 29, 33-35,
35, 38, 41-45, 47-51, 53, 55-59, 61-66, 45, 47, 49, 52-53, 64, 68, 70-78, 84-87,
68-71, 74, 76-78, 88-89, 95, 97-102, 89-90, 95, 102-105, 109, 114-116, 119,
105, 109-111, 113, 115-118, 121, 125, 128, 130, 132, 134, 140, 146-147,
128-130, 132-134, 136, 139-140, 143, 149-150, 158, 183, 185, 196-198, 203,
145, 147, 149, 158, 160, 163, 167, 177, 206, 208-210, 213-214, 220, 224, 226,
186-187, 193-196, 201, 204-205, 207, 228, 237-239, 241-242, 247, 249,
210-211, 213-214, 223, 229, 232, 243, 256-257, 259-260, 263, 269-270,
462 Index
273-274, 276-277, 280, 290, 292, Fluss 15, 46, 56-58, 71, 110, 155, 157,
300-301, 318, 321, 328-348, 354-355, 163, 165-170, 226, 312, 329, 332-333,
357-359, 361-362, 367, 369, 373, 406, 342, 347, 358-359, 369, 402
419, 427, 429-430, 433-434, 443, 445 Formation 10, 23-24, 26, 46, 70,
Diskursanalyse 184, 197-198, 238, 97, 103-104, 110, 158, 186-187, 196,
241-242, 327-328, 332-333, 335, 220, 226, 333, 335, 379, 449
337-338, 340, 368-369 Gattung 130, 238, 240-242, 246, 248,
Dispositiv 83, 85, 357, 362 250, 265
Disziplinarität 10-11, 13, 16, 23, 25, Gefühlsstruktur 30-31
82-83, 127, 155-157, 177-178, Gemeinschaft 24, 30-31, 36-37,
181-182, 184-185, 206, 219, 221, 232, 73-75, 77, 82, 97, 118, 226, 233, 241,
249, 255, 261, 327, 425 243-244, 285, 288-293, 296, 313, 321,
Disziplinierung 31, 34, 42-43, 58, 114, 328, 330, 376, 384-385, 387, 394, 439,
356, 358, 361-363, 445-446 450, 452
Elite 34, 46-47, 76, 93, 193, 227, 271, Gender 11-12, 15-16, 18, 56-57, 179,
368, 373, 388, 390 201-214, 225, 292, 302, 363, 425-427,
Ethik 26, 29, 31-32, 34, 37, 53, 71, 435
342, 356, 374 Genre 17, 57, 71, 74, 89, 100, 130, 146,
Ethnie 203, 208-209, 213, 375 179, 203, 209-210, 229, 239-240,
Ethnizität 224, 243-245, 318, 327, 330, 272-274, 278, 280, 285-287, 290-292,
338-339, 427, 429 295-296, 371, 375, 426
Ethnografie 14, 61, 63, 66, 68, Gesellschaft 9-10, 14, 30-32, 34,
70-73, 76-77, 81-87, 89-90, 110, 182, 42-43, 51, 53, 64, 68, 83-84, 87, 94,
186, 188, 225, 237-239, 244, 248, 383, 96-105, 109, 111-116, 120, 125,
392-393, 408, 442 127-128, 130-131, 133-135, 139, 141,
Ethnozentrismus 25 169, 179, 183-184, 187-188, 193-194,
Europa 29-32, 76-77, 187, 255, 301, 196-198, 202, 204-206, 208-210,
337, 367, 377, 441 212-213, 225, 227-232, 237-238, 240,
Fan 48, 54-56, 70, 89, 117, 202, 241, 242, 245-246, 249, 260, 263, 273-275,
246-247, 257, 262, 264, 285, 287, 296, 281, 285, 292-294, 299-300, 302,
439-440, 445, 448-451 304-305, 307, 311-312, 314, 316-317,
Feminismus 57, 74-75, 84, 150, 319, 327-328, 331, 334, 336, 344-345,
179, 182-183, 185, 201-207, 211-214, 354, 356-358, 360, 363, 368-369, 371,
228, 233, 361, 425-426, 429 373-374, 376, 378-379, 384, 386-387,
Fernsehen 9, 17-18, 34, 58, 61-67, 390-392, 399, 402-403, 406, 426-427,
136, 160, 162, 182-185, 195, 221-225, 434, 439-441, 444-445, 452
229, 248, 258, 271-272, 276, 289, Gewalt 226, 262, 342, 344, 346, 367,
293-295, 304, 314, 316, 355, 359, 429, 371, 378-379, 381, 450
447 Global 12, 27, 71, 75-77, 87, 159-160,
Film 18, 57, 84, 88-89, 126, 130-131, 164, 166-169, 243, 246-247, 249,
139, 146, 148-149, 160, 162, 183-184, 302-303, 305, 311, 313, 316, 319-320,
201, 225-231, 245, 262-263, 272, 331, 334-335, 338-340, 343-344,
303-304, 315, 318, 323, 369, 372, 448 362-363, 368-369, 377, 404, 443,
447-448
Index 463
Globalisierung 13, 15, 17, 27, 76, 120, Imperialismus 30, 76, 373
135, 157-161, 163, 169, 185, 238, Industrialisierung 27, 97, 303
242-244, 246, 302-303, 311-313, 324, Informationsgesellschaft 270, 295, 356
335, 338-339, 344, 347, 354, 367-369, Intellektuelle 23-27, 31-32, 37, 50,
373, 379-380, 439, 448 61, 93, 136, 156, 180-181, 183, 187,
Habitus 113-114, 245, 263, 395, 439, 442 205-206, 211, 220, 256, 259, 261-263,
Handeln 26, 37, 39, 43, 110, 112-117, 279, 313, 320
119, 121, 128-130, 132-135, 161, 164, Interaktion 25, 77, 84, 87, 101,
166, 196, 198, 201, 210, 244, 291, 299, 112-113, 115, 118, 120, 127-130,
392, 394, 400, 408, 415, 427, 433-434 133-135, 197, 237, 239-240, 244-246,
Handlung 12, 18, 25, 28, 34, 279, 294, 360-361, 369, 377, 392, 394,
36-37, 63, 73-74, 77, 101-102, 396, 401-404, 415, 428, 447
104-105, 110-113, 116, 118, 121, Interdisziplinarität 13, 19, 23, 25,
128-129, 133-135, 140, 196, 227, 181-182, 185, 205, 231-233, 238, 242,
238-240, 243, 247-248, 289, 291, 301, 249, 271, 425
329, 331, 335, 342-343, 357, 373, 383, Internet 17, 157, 160, 162, 168-169, 201,
389-392, 394-395, 400, 405, 408, 412, 211, 247, 304, 353-355, 357, 359-363,
427, 433, 439-440, 447 395, 405
Handlungsfähigkeit 12, 37, 39 Interpretationsgemeinschaft 73, 288,
Hegemonie 36, 42, 54-55, 58, 76, 292-293
95, 130-131, 136, 205, 207, 220-223, Intertextualität 55, 57, 242
227, 232, 246-247, 305, 316, 319-321, Intervention 24, 26-27, 29, 72,
323, 329, 341, 343-345, 348, 354, 448 74-75, 88, 90, 156, 183, 187, 202,
Herrschaft 25-26, 36, 104, 114, 205-206, 209-211, 261, 314, 344
169, 223, 245, 263, 340 Journalismus 16-18, 168, 201, 210,
Hochschule 23, 255, 258-259, 425 257, 269-281, 356
Hybridität 17, 238, 244-246, 250, Jugend 18, 93, 146, 179-180, 182, 212,
313, 320-322, 338, 367-368, 376-378 227, 243-248, 255, 292, 322, 353, 367,
Identifikation 12, 28, 142-144, 370, 374, 378-379, 383, 388-389,
147-148, 209, 226, 301-302, 339-340, 391-392, 399-400, 403-404, 407-408,
368, 388, 406, 427, 433-434 413, 417-420, 427-430, 435, 439-443,
Identität 11-12, 17, 28-29, 31, 33, 35, 445-452
37-38, 88, 125, 132-134, 141-142, 144, Jugendkultur 18, 180, 246-247, 367,
146, 202-203, 219-220, 223-227, 230, 377, 388, 394, 425, 439-440, 445,
232-233, 238-239, 243-244, 260, 292, 448-452
299-303, 306-307, 311-314, 316, Kampf 17, 24, 29, 33, 35-37, 45, 77, 99,
321-322, 328-329, 331, 333, 335-340, 111, 119, 125, 140, 145, 181, 210,
345, 348, 362, 367-369, 374, 395, 407, 223-224, 229, 321, 324, 328, 331, 334,
420, 426, 433, 441, 443-445, 447, 340, 342-343, 345, 347, 354-355, 357,
449-450, 452 370, 373, 449-450
Ideologie 11, 28, 33-35, 42, 51-55, 76, 81, Kapital 27, 113, 164, 220, 338-340, 347,
83, 89, 95, 140, 197, 202, 208-210, 430
224-227, 230, 259, 277-279, 301, 305, Kapitalismus 23, 27, 43, 53-54, 70,
328, 333-334, 368, 374, 385, 387, 389, 77, 126, 166, 169, 209, 263, 301-302,
394 304, 307, 334, 338, 340, 347
464 Index
Klasse 11, 44, 49, 57, 69, 97-98, 126, Kritische Theorie 11, 43, 90, 105, 125,
131, 178-179, 203, 208-209, 213, 178, 187, 233
221-222, 224-225, 302, 305, 328, 336, Kulturalismus 94, 111
354, 356, 379, 431, 445, 447, 450 Kulturanalyse 9-14, 24, 29, 33, 93,
Kodierung 9, 11, 103, 130-131, 97, 109-111, 113-117, 237-239, 249,
158, 184, 222, 274, 276, 288, 290, 360, 269
447, 452 Kulturbegriff 29-32, 94, 97, 99-100,
Kolonisierung 30, 42, 195, 321 205, 213, 222, 311-313, 333
Kommerzialisierung 13, 27, 272, 302 Kulturkritik 32, 193, 442, 447
Kommunikations- und Medientheorie 67, Kultursoziologie 93, 97, 125-126, 133,
93, 101, 103-105, 134-135, 168, 198, 135, 185, 255
201, 206, 225, 428 Kulturtheorie 28, 34-35, 55, 63, 65,
Kommunikations- und Medienwissen- 67, 72-73, 94, 96, 99-101, 109, 112,
schaft 11, 14, 16, 18, 23, 62, 96, 103, 117, 184, 193, 392, 406
125-127, 129, 155, 157, 165, 168-170, Kulturwissenschaft 9-10, 93, 97, 103, 112,
177-185, 187, 194, 199, 201-202, 204, 115, 125, 129, 134, 156, 170, 177-178,
206-207, 213, 219-220, 249, 269, 271, 181-183, 185, 187, 255, 258-259, 272,
281, 293, 425, 427, 443 274, 281, 299, 313, 332, 425, 427
Kommunikationsforschung 15, 106, 155, Kunst 30, 46, 49, 55, 57, 98, 131, 186,
157, 159, 167-168, 170 246-247, 256, 259-260, 263, 270,
Konnektivität 15, 155, 157-171, 404, 272-273, 278, 287, 304, 314, 316, 321,
410-413, 416-418 372, 374, 376, 389, 431, 451
Konservativismus 28, 36, 97, 203, 226, Legitimität 10, 23, 25, 72, 119,
231, 233, 312, 327, 335, 340 198, 206, 227, 245, 258, 260-261, 287,
Konstruktivismus 32-35, 128, 167, 227, 291
231, 426 Lesart 25, 42, 50, 57-58, 73, 110, 131,
Konsum 17, 43, 56, 59, 63-64, 67-68, 147, 274, 276, 306
76-77, 96, 114, 126, 131, 155, 180, Linke 23-24, 231, 256, 260, 262, 327-328
202, 220, 255, 261-262, 264, 270-273, Literatur 25, 30-31, 41, 46-47, 62, 70, 72,
281, 293, 296, 300-303, 305-306, 86, 97-98, 183-184, 233, 263, 270, 272,
314-316, 338, 361, 405-406, 442, 448 288, 290, 293, 304, 327, 427, 451
Konsumkultur 23, 304, 307 Literaturwissenschaft 10-11, 16,
Kontextualismus 14, 33, 61, 63, 65-69, 18, 93, 97, 126, 204, 237, 311, 313
73-74, 76-77, 168, 228 Lokal 12, 27, 36, 62, 66, 76-77, 81,
Kontrolle 18, 35, 42-43, 47-48, 50-51, 118-119, 158, 161, 164, 243-246, 249,
68-69, 77, 84, 142, 161, 241, 272, 287, 294, 299, 305, 331, 334, 339, 343-344,
344, 354, 356-358, 360-362, 396, 414, 347, 362, 368-369, 377-379, 400, 402,
418, 441, 450 405, 410-411, 415-417, 448
Körper 28, 47-48, 50, 56, 77, 115-120, Macht 9-13, 15-16, 18-19, 23, 25-26,
141-143, 149, 203, 332, 334, 353-354, 28-30, 32, 34, 36, 42-43, 45, 53-54, 58,
357, 361-362, 386, 388, 394, 410, 432, 70-71, 77, 81, 93, 104, 111, 113-115,
440, 442 130, 139-140, 147, 155, 157, 160,
Kritik 11-12, 28, 30, 43, 50, 55-56, 58, 164-166, 168-171, 186, 188, 193-194,
97-98, 105, 113, 169-170, 263, 379, 198, 201-203, 205, 222-225, 232, 238,
429 242, 249, 263, 272, 277, 279, 292, 305,
Index 465
312, 318, 321-322, 324, 328-329, 331, Nationalisierung 338
343-344, 348, 354, 357-363, 369, 379, Nationalismus 242, 337, 344
384, 427, 434-435, 442, 450 Nationalität 31, 69
Marxismus 93-94, 97-98, 100, 103, Nationalsozialismus 125, 146, 228
105, 220-221, 223, 225, 228-229, 232, Nationalstaat 31, 170, 339
260, 347 Netzwerk 15, 36, 64-65, 81, 115, 120, 143,
Massengesellschaft 31 155, 157, 163-171, 275, 290, 402-405,
Materialismus 35, 93-98, 100-105, 225 411-412, 414-415, 417, 452
Medienkultur 13, 16-18, 85, 93, 101, Netzwerktheorie 34, 170
104, 165, 219, 222-231, 267, 271, 406, Öffentlichkeit 6, 16, 172, 219, 228,
443, 446, 448, 451 232, 240, 272, 292, 313, 355, 357, 362,
Mediensoziologie 93, 135, 443 391, 403, 444-445
Mehrdeutigkeit 29-31, 35, 276, 278, 376 Ökonomie 11-12, 23, 25, 27, 34,
Methode 9-10, 18, 25, 43, 61, 67-68, 36-37, 42-43, 75, 96, 98-100, 103-104,
81-82, 85, 87-89, 126, 148, 186, 206, 113, 130, 139, 155, 159, 167, 169, 178,
211, 220, 222, 228, 232, 237-238, 240, 186-187, 195, 198, 220-222, 225, 227,
242, 250, 369, 392-395, 408-409, 429 229-230, 261-263, 274, 279, 290, 294,
Minderheit 41, 46, 76, 170, 258, 306, 324, 340, 343, 353-354, 373,
316-317, 322, 327, 340, 367, 449 378-379
Mobilität 18, 27-28, 31, 34, 36, 71, 75, 83, Ordnung 32, 45, 58, 62, 73, 99, 110, 112,
98, 119, 147, 160-161, 165-167, 169, 115-116, 141-144, 146-149, 204-205,
257, 303, 313, 315, 343-344, 357, 239, 245, 278, 290, 301, 305, 337, 341,
399-405, 407-419, 441 363, 385, 414, 428, 433, 441, 451
Mobilkommunikation 18, 119-120, Ort 12, 18, 26-28, 30, 36, 39, 113,
158, 161, 360, 362, 399-407, 409-420 118, 141-142, 145, 160-161, 164, 205,
Moderne 31, 161, 220, 301, 338, 385, 441, 261, 274, 279, 294, 300-301, 316, 318,
451 320-321, 324, 329, 332, 346, 362, 392,
Moral 26, 31, 71, 82, 87, 90, 262, 370, 399-404, 409-412, 414, 416, 418, 428,
374, 376, 383-384, 431, 444, 447 447, 450
Multikulturalismus 11, 17, 225, 312-313, Pädagogik 16, 18, 23, 180, 183,
315-317, 327-328, 334, 336, 340-341, 294, 355, 374, 376
344-345 Paradox 26, 114, 156, 159, 165, 167, 289,
Musik 17, 23, 34, 230, 241, 255-257, 385, 387
262-263, 265, 270, 315, 367-370, Philosophie 29, 32, 34, 100, 112,
372-373, 375-381, 389, 425, 427-429, 183, 224, 272, 385, 443
431-435, 440, 444, 448-449 Politik 10, 19, 24-26, 28-29, 34-35,
Musikfernsehen 427-429, 431 56-57, 66, 69, 72, 74, 76, 81, 89, 187,
Musikindustrie 262, 369 203, 206, 222-224, 229, 231-232, 257,
Musikjournalismus 16, 183, 255-256, 271, 278-280, 314, 322, 328, 334-335,
258-261 337-339, 341, 343-344, 348, 370, 373,
Musikvideo 18, 210, 427-435 375, 379, 444
Mythos 57, 84, 301, 303-308, 333, 353, Politikwissenschaft 16, 18, 219-220, 222
385, 390, 451 Polysemie 101, 195, 222, 229,
Nation 23, 203, 321, 329, 333-336, 278, 388, 428
338-339
466 Index
Populärkultur 14, 36, 41-44, 50-51, Raum 12, 18, 27, 29-30, 32, 34, 47, 64,
55-58, 83, 93-94, 126, 146, 150, 67-68, 71, 98, 113-114, 116, 118-120,
179-181, 183-185, 187, 194, 203, 210, 127, 142, 146-147, 150, 160-161,
223, 258, 269-272, 274, 276-277, 281, 166-167, 169-170, 203, 211, 244, 290,
290, 428, 431-432, 448 294, 302, 304-305, 321-322, 338,
Postkolonialismus 28, 30, 71, 259, 311, 358-359, 362, 399-404, 410-418, 434,
313, 320, 367, 372 446
Postmoderne 28-29, 62, 71, 75, 83, Realismus 84
87, 180, 203, 206, 209-210, 225, Realität 24, 32, 34-35, 54, 70-71, 76, 99,
229-230, 260, 263, 293, 299, 301, 311, 111, 117, 129, 132, 143-146, 198, 206,
313, 318, 340, 347, 387, 440, 450 221, 224, 228, 232, 246, 270, 275, 277,
Poststrukturalismus 28, 70, 97, 290-291, 302, 304-307, 313, 333-334,
103, 105, 110, 141, 179, 183, 203, 206, 346, 357-358, 394, 402-403, 408, 410,
210-211, 221, 257, 259-260, 426 418, 443
Praxis 10, 12, 14, 17, 23-24, 26-27, 33, Regulation 331, 339, 406
35, 37-38, 54-55, 62, 72, 76, 90, 100, Religion 69, 305, 317, 320, 323, 334-335,
102-106, 109, 111-116, 118-121, 129, 379, 383-387, 389, 395
131, 134, 136, 168, 183, 186, 196, 198, Repräsentation 12, 28, 32-33, 54, 57,
205-206, 221-223, 225, 229, 233-234, 72-73, 81, 84-85, 90, 99, 102, 110, 115,
241-242, 263, 270, 272, 285, 290, 295, 129, 143, 148, 160, 162, 187, 209, 226,
322, 392-394, 403, 439-440, 447-448 260, 291, 306, 314, 316, 322-324, 328,
Produktion 10, 12, 18, 33, 43, 55, 406, 408, 427, 430, 434, 444
72, 95-101, 103-104, 112-113, 130, Rezeption 9, 11, 18, 55, 61,
133, 139, 186-187, 197, 201, 211, 221, 64-66, 72, 75, 89, 94, 96, 126, 130-132,
224-225, 229, 240, 242, 244, 256, 135, 140, 194-196, 201-203, 208-211,
271-275, 278, 293-296, 300, 304, 306, 221, 227, 230-231, 240-242, 246-248,
315, 340, 358-359, 361, 363, 369, 255, 263, 270-272, 276, 279, 294, 306,
380-381, 392, 395, 405-406 362, 405, 425-429, 431, 433, 435, 443,
Produktivität 18, 26, 30, 42-43, 45, 446
57, 194-195, 241, 247, 277, 313, 359, Rezeptionsforschung 14, 61-63,
447 65-67, 72-73, 75-76, 213-214, 428
Psychologie 16, 18, 184, 286, 386 Rezipient 15, 61-68, 70, 73, 75-76, 89, 95,
Publikum 25, 27, 33, 61-67, 73-74, 76-77, 101, 131-133, 139, 194, 196-197,
82, 96, 103, 136, 155, 181, 193, 196, 208-210, 224, 241, 247-248, 270,
201, 211-213, 219, 222, 224-226, 228, 273-274, 276-279, 288, 303-304, 306,
230, 255, 257-258, 262-264, 269-280, 360, 428, 443
286, 288, 290, 292, 294-295, 359-361, Ritual 17, 112, 147, 273, 288-289,
369, 372, 374, 376, 426, 445 304-305, 451
Publikumsforschung 201, 203, Semiotik 9, 32-33, 43, 47, 110-111, 116,
207, 210-211, 355 130, 132, 182, 197, 206, 221, 223-225,
Radio 63, 129, 162, 211, 240-241, 289, 231-233, 237, 259, 333, 383
355, 378, 381, 395, 444 Sozialwissenschaft 11, 16, 19, 65, 81, 84,
Rasse 44, 69, 302, 313, 328-329, 336, 109, 125-128, 156, 183, 219-220, 228,
347, 368 230, 232-233, 258-259, 379, 392
Index 467
Soziologie 11, 16, 18, 25, 31, 63, Subkultur 70, 93, 179-180, 182,
82, 84-85, 97, 112, 120, 125, 134, 194, 196, 237, 243, 257-258, 261, 264,
155-156, 159, 165, 179-180, 182, 320, 322, 386, 388, 392, 439, 446, 448
184-185, 187, 206, 225, 232, 237, 249, Symbol 33, 56, 64, 68, 73, 76, 83, 90, 97,
261, 395, 439-440, 445, 447 99, 101, 109-112, 115-116, 118, 120,
Spätmoderne 29, 116, 244 122, 127-129, 133-135, 141-149, 158,
Sprache 13, 27, 41, 44-50, 70, 97, 162, 193, 196-198, 203, 223, 226,
99-102, 117, 128-130, 134, 142-144, 232-233, 238, 241-242, 247, 259-261,
150, 162, 170, 184, 186, 188, 226, 263, 275, 287, 289-290, 292-293,
237-238, 241-246, 248-249, 257, 259, 303-306, 315-316, 319, 323, 333, 346,
272, 287, 289, 294, 317, 328, 332, 334, 368, 374, 384, 386-388, 394, 406,
368-369, 394, 444 450-451, 455
Sprachwissenschaft 16, 125, 127, Symbolischer Interaktionismus 14,
130, 180, 182, 237-238, 243, 247, 249 125, 128, 132, 134
Staat 23, 31, 34, 93, 167, 229, 231, Szene 18, 57, 182, 246-247, 261, 264,
263, 292, 318, 323, 337, 345, 357-358, 318, 386-396, 439-440, 442, 445-447,
363, 378 449-452
Strategie 25-26, 28, 31, 34, 43, 45, 72-73, Taktik 43, 45, 194, 292, 331
84, 88, 112, 114, 118, 127, 187, 193, Technik 63-65, 67-68, 71, 97, 100-101,
207, 209, 227, 239, 259, 262, 272, 277, 103-104, 114-120, 130, 160, 222, 224,
287, 289, 291, 302, 304, 306, 311, 314, 237, 241, 259, 270, 272, 290, 294, 301,
316, 318, 322, 324, 343, 346, 355-358, 338-339, 353-355, 357-361, 363, 394,
360, 376, 391, 393, 395, 427-428, 442, 444-445
449 Technologie 29, 32, 63-64, 69, 96,
Struktur 17, 23, 25-27, 29, 32, 36, 42, 45, 102-104, 150, 160-161, 168-169, 196,
47, 57-58, 75, 82-83, 85, 88, 90, 98, 211, 222, 258, 291, 304, 353-355, 357,
103, 105, 109-111, 113-115, 119, 359-363, 399, 401-406, 411, 419, 427,
128-130, 132-134, 140-142, 144-146, 443-444
148-149, 161, 163-167, 169, 183, Telefon 64, 119, 160, 399, 401, 403-404,
186-187, 193-195, 198, 201, 205, 406, 410, 412, 414-415, 419-420
208-209, 220-222, 229, 231, 240-243, Text 13-14, 24-25, 27, 33-34, 41-43,
248, 263, 274-276, 278-279, 281, 287, 45-46, 48, 50-51, 53-58, 62, 64, 72, 82,
289-290, 293, 300-303, 305, 330, 332, 84, 90, 101, 103, 109-112, 116, 118,
335, 343-344, 363, 383, 392, 408-409, 121, 127, 130-131, 179-180, 182, 186,
411, 440-441, 448-449 194-198, 203, 210, 222, 225-228,
Strukturalismus 43, 94-98, 102, 104, 237-238, 240-242, 247, 256-257,
197, 228, 233 259-263, 273-275, 277-279, 281, 288,
Subjekt 32, 37, 83, 89-90, 112-113, 115, 290-291, 293, 306, 317, 319, 332, 353,
120, 125, 130-131, 139-148, 184, 186, 358, 369-371, 373, 376, 378, 392,
196, 205-206, 208, 210-211, 227, 272, 395-396, 410, 427-428, 431-432, 444
299, 301-302, 307, 313, 321-322, Textanalyse 55, 156, 169, 179, 183,
330-331, 334, 387, 390, 392, 434 186, 195, 226, 230-231, 259, 369, 426
Subjektivität 28, 33, 35, 83, 87, 131, Textualität 9, 25, 30, 42, 54-56,
141, 144, 188, 270, 276, 302, 426 58, 62, 64-65, 68, 86, 194, 197, 221,
468 Index
229, 241, 270, 273-275, 277-279, 369, Vermittlung 26, 29, 31-35, 102,
427 105, 110, 120, 180, 194, 196-197, 219,
Theorie 10, 13, 15-16, 18, 24, 26, 28-31, 248, 277, 279, 303, 386
33, 37, 61-62, 74, 85, 94-96, 98, Video 46, 48, 57-58, 62, 64, 117, 222,
100-102, 105, 112, 127-128, 130, 224, 242, 245-246, 315, 355, 359, 394,
133-135, 144, 163, 167, 185-187, 197, 427-429, 431-434, 444, 448, 451
205-207, 211, 221-222, 224-225, Werbung 17, 47-48, 56, 100, 158, 160,
231-233, 249-250, 257, 259-260, 263, 221, 246, 285, 290-291, 300-301,
280, 311, 320, 393-395, 401-403, 303-307, 314-315, 355-356, 358, 395
410-411, 418, 426-427, 452 Widerstand 36, 43, 73, 85, 147,
Tradition 10, 12, 14-16, 18, 30-31, 43, 62, 180, 188, 210, 222, 225, 227, 244, 249,
76, 83-85, 93, 97-98, 101, 112, 115, 279, 322, 338-339, 344, 355, 358, 373,
126-127, 133, 148-149, 155-156, 166, 381
168, 178, 180-183, 188, 193, 195, 202, Wissen 23, 25-26, 62-63, 66, 69, 71,
221, 223, 228, 230, 232-233, 259-260, 74-75, 81, 86-87, 110, 112-113, 116,
263, 270, 272-274, 278, 303, 305, 312, 119, 121, 126, 129-131, 134, 187,
314-316, 319-321, 333, 335, 338, 368, 196-198, 220, 224, 232, 239-241,
373, 377-379, 383-384, 387, 409, 427, 245-247, 255, 272, 285, 291, 301-302,
433-434, 439, 441, 451 306, 329, 331, 333, 347, 356-358,
Transkulturalität 185, 187, 345, 376, 447 360-363, 394, 430, 434, 449
Transmission 273, 275, 288-289, 419 Zeichen 45, 50-51, 53, 97, 99-100,
Transnationalität 71, 75, 77, 345, 368, 103-105, 109-111, 122, 128, 141, 143,
380, 448 219, 223, 244, 316, 320, 328, 332, 368,
Universität 10, 23, 26, 32, 55, 125, 370, 376, 384, 386-387, 439
156, 183, 204-205, 237, 255-256, Zeit 23, 26, 30, 32, 34, 36, 53, 65, 68,
261-263, 425 82, 113-116, 118-119, 131, 210, 232,
Unterhaltung 64-65, 88, 185, 208, 261, 289, 302, 329, 333, 338, 356,
219, 223-227, 229-231, 233, 258, 359-363, 388, 400-401, 410-412, 428,
270-274, 276-277, 279, 285, 290-291, 449
293, 295, 301, 304-305, 314-315, 444, Zuschauer 54-55, 61, 64, 68,
447 72-73, 75, 88-89, 101, 182, 195, 210,
Vergnügen 34, 44-48, 50-59, 89, 221-222, 226, 237, 247-248, 277, 288,
145, 148, 150, 186, 202, 210, 212, 256, 294, 361, 426, 428, 432
291, 305, 428, 434

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