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Keine Wanderer auf der Ostsee

Die Erinnerung an das Schicksal von 15 Millionen vertriebenen Deutschen wandelt sich
von Rainer Blasius

Nun ist die "Wilhelm Gustloff" in aller Munde. Günter Grass hat sich dieser Tragödie auf See
angenommen, bei der das Kreuzfahrt-, Lazarett- und schließlich Kasernenschiff am 30. Januar
1945 nach drei sowjetischen Torpedotreffern auf der Fahrt von Gotenhafen (Gdingen) nach
Kiel unterging: Über 7000 Passagiere, hauptsächlich Frauen und Kinder, verloren ihr Leben.

Mehr als zwei Millionen Zivilisten und - zumeist verwundete - Soldaten wurden zwischen
Ende Januar und Anfang Mai 1945 aus dem Osten in westdeutsche Häfen evakuiert. Circa 20
000 fanden dabei den Tod. Die "Wilhelm Gustloff" war der größte der versenkten
Transporter. Es folgten am 10. Februar die "Steuben", am 17. Februar die "Eifel", am 12.
März die "Andros", am 10. April die "Neuwerk", am 13. April die "Karlsruhe" und am 16.
April die "Goya". Als erster widmete Jürgen Thorwald 1951 in dem Buch "Es begann an der
Weichsel" der "Flucht über die Ostsee" ein eigenes und einfühlsam geschriebenes Kapitel.
Der grauenhafte Überlebenskampf der "Gustloff"-Passagiere war 1960 das Thema eines
Spielfilms: "Nacht fiel über Gotenhafen". Zu runden Jahrestagen erschienen Gedenkartikel an
die Schiffskatastrophe in Zeitungen und Illustrierten, dann ein Sachbuch in Großbritannien.
Zuletzt wurde der Untergang der "Gustloff" in der Fernsehserie "Die große Flucht" im
vergangenen Dezember eindrucksvoll nachgezeichnet. Und jetzt das Grass-Buch - mit
entsprechender Begleitmusik, daß die Beschreibung der Leiden der deutschen Bevölkerung
auf der Flucht vor der Roten Armee in der Bundesrepublik tabuisiert und in der DDR
überhaupt verboten gewesen sei, daß man das Thema im Westen "einzig den
Vertriebenenverbänden überlassen" habe, "oft mit revanchistischem Nebenton". Ein Grass-
Fan begrüßte die Novelle "Im Krebsgang" sogar mit der Notwendigkeit, "dieses Thema nicht
den Rechtsextremisten zu überlassen".

Wie ist mit dem - in der DDR vollkommen ignorierten - Thema Flucht und Vertreibung in der
Bundesrepublik umgegangen worden? Immerhin entstand in den fünfziger Jahren -
herausgegeben vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte
und betreut von dem Historiker Theodor Schieder - die acht Bände umfassende
"Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mittel-Europa", ein groß angelegtes
Oral-History-Projekt aus der Perspektive der deutschen Opfer. Im wahrsten Sinne des Wortes
betroffen waren von den schrecklichen Maßnahmen, die trotz der Potsdamer Beschlüsse der
Hauptsiegermächte weder "ordnungsgemäß" noch gar "human" erfolgten, immerhin 15
Millionen Menschen: In der Bundesrepublik wurden 1950 bei einer Volkszählung 7,9
Millionen Vertriebene erfaßt, in der DDR 4,065 Millionen und in Österreich etwa 400 000
registriert, dazu muß man die 2,2 Millionen Todesopfer durch Flucht und Vertreibung zählen.

Die Interessen der Entwurzelten, die bereits 1950 mit ihrem Verzicht auf Rache und
Vergeltung in der "Charta der Deutschen Heimatvertriebenen" einen richtungweisenden und
versöhnenden Beitrag geleistet hatten, wurden im ersten Bundestag durch 61 Abgeordnete,
die sich auf alle Parteien verteilten, vertreten. Im zweiten Bundestag stieg die
Abgeordnetenzahl durch den Einzug des "Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten"
(BHE) sogar auf 86. 1957 scheiterte der BHE bereits an der Fünf-Prozent-Klausel, weil sich
seine Wähler, wie ein Gründungsmitglied einmal betonte, "nach ihrer Eingliederung den
saturierten Kreisen zuwandten".

Trotz des schon erwähnten eigenen Bundesministeriums für Vertriebene zog die meiste
Aufmerksamkeit Hans-Christoph Seebohm auf sich. Der Verkehrsminister der Jahre 1949 bis
1966, geboren in Oberschlesien, trat als Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft
hervor. Gefürchtet waren im Bundeskanzleramt und im Auswärtigen Amt seine
Pfingsttreffen- und Sonntagsreden Anfang der sechziger Jahre, als er die "Rückgabe der
geraubten sudetendeutschen Gebiete an das sudetendeutsche Volk" forderte. Mit Bildung der
Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD verlor Seebohm sein Ministeramt; er starb 1967.

Letzter Vertriebenenminister war von Februar bis Oktober 1969 Heinrich Windelen. In seiner
kurzen Amtszeit setzte er im Bundeskabinett Ende Juni gegen den heftigen Widerstand des
Bundesaußenministers Brandt durch, daß beim Bundesarchiv eine Dokumentation über die
Verbrechen an Vertriebenen in Auftrag gegeben wurde. Nach dem Regierungswechsel wurde
dann die Ostpolitik der Regierung Brandt (SPD)/Scheel (FDP) nicht nur von den
Unionsparteien, sondern besonders von den Vertriebenenverbänden attackiert. Damals galt
aus der Regierungsperspektive und der Sicht der politischen Linken jeder, der an das Leid von
Flucht und Vertreibung erinnerte, ganz einfach als Revanchist. Außerdem wurden die
Vertriebenen als Gegner der Aussöhnung mit den östlichen Nachbarstaaten geschmäht.

Im Sommer 1974 drang Windelen als stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion


im Bundestag darauf, die fertiggestellte Dokumentation über Vertreibungsverbrechen zu
veröffentlichen. Als idealer Zeitpunkt erschien ihm der 30. Jahrestag des Kriegsendes. Die
Bundesregierung lehnte wegen außenpolitischer Bedenken ab und wies darauf hin, daß
Windelen selbst fünf Jahre zuvor einer Nichtveröffentlichung zugestimmt habe. Erst in den
achtziger Jahren, unter der Regierung Kohl (CDU)/Genscher (FDP), wurden die
Erhebungsbögen - erstellt auf der Grundlage der veröffentlichten und der unveröffentlicht
gebliebenen Teile der Schieder-Dokumentation - und der Schlußbericht des Bundesarchivs für
die Forschung freigegeben.

Jede Beschäftigung mit dem Thema Flucht und Vertreibung führte in den siebziger und
achtziger Jahren schnell zu Protesten aus dem osteuropäischen Ausland, aber auch aus dem
westlichen Ausland und dem Inland. Wer sich wissenschaftlich mit diesem Komplex
beschäftigte oder auch nur davon sprach, setzte sich der Gefahr aus, als Aufrechner, als
Relativierer der Besatzungsverbrechen des "Dritten Reiches" und der Schuld an der
Judenvernichtung abgestempelt zu werden. So konnte der amerikanische Völkerrechtler
Alfred M. de Zayas mit dem Buch "Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der
Deutschen" 1977 hervortreten, während die westdeutsche Zeitgeschichtsforschung über
Aufsatzbände nicht hinauskam. 1984 wurde die Schieder-Dokumentation in einer
Taschenbuchausgabe einem größeren Leserkreis zugänglich gemacht.

Der Archivar Josef Henke stellte 1985 in einem Forschungs- und Quellenüberblick treffend
fest: "40 Jahre nach Ende der blutigen Herrschaft des NS-Regimes stehen die Namen von
Auschwitz, Treblinka, Majdanek, Lidice, Oradour, Rotterdam und Coventry, aber auch von
Nemmersdorf, Metgethen, Königsberg, Lamsdorf, Aussig und Dresden als Mahnung,
jederzeit für eine menschliche Zukunft ohne Terror, Verbrechen, Flucht und Vertreibung
einzutreten, damit der Tod von Millionen Menschen vieler Nationen vielleicht nicht umsonst
gewesen sein mag." Im selben Jahr verstieg sich Bundespräsident Richard von Weizsäcker am
8. Mai zu der - ganz auf die Außenwirkung abzielenden - Formulierung von der
"erzwungenen Wanderung von Millionen von Deutschen nach Westen". Zehn Jahre später
nahm Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer von den "Grünen" überraschenderweise
Anstoß daran, daß die politische Linke nicht auf die Leiden der Heimatvertriebenen geachtet
habe: "Auch dieses Wegsehen war kein Ruhmesblatt in der Aufarbeitung historischer
Wahrheiten."
Mittlerweile arbeiten polnische und deutsche Historiker gemeinsam an einer mehrbändigen
Edition polnischer Quellen über "Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950", um
die "Leiche im Keller der deutsch-polnischen Beziehungen" doch noch wissenschaftlich
würdig zu bestatten - was in den deutsch-tschechischen Beziehungen nach wie vor als
unvorstellbar erscheint. Immerhin gab der polnische Außenminister Bartoszewski 1995 die
Richtung vor durch ein Zitat von Jan Josef Lipski: "Wir haben uns daran beteiligt, Millionen
Menschen ihrer Heimat zu berauben. Das uns angetane Böse, auch das größte, ist keine
Rechtfertigung und darf auch keine sein für das Böse, das wir anderen zugefügt haben." Wenn
schon Hauptleidtragende des "Dritten Reiches" selbstkritisch eine Täterperspektive
einnehmen, können sogar Altachtundsechziger für sich endlich das Ende der Verdrängung
von Flucht und Vertreibung einläuten. Sie zeigen allmählich öffentliches Interesse am
schrecklichen Schicksal der Millionen von Deutschen, die sich 1944/45 - im Gegensatz zu
den vom Nationalsozialismus Verfolgten und den in Konzentrationslagern und Gefängnissen
Geknechteten - sicherlich nicht "befreit" fühlten.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.02.2002, Nr. 34 / Seite 10

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