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Auswirkungen Präzessionssprünge

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Shlomo Sand, Erfindung des jüdischen Volkes

Berlin · 2011 Uwe Topper

Shlomo Sand (2010): Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf
dem Prüfstand (Propyläen, Ullstein Berlin)

Buchbesprechung

Der Autor, Shlomo (Salomon) Sand, geboren 1946 in Linz (Österreich) und heute
Professor für Geschichte in Tel Aviv (Israel), macht es sich zur Aufgabe, die Entstehung
der Begriffe „Jüdisches Volk“, „jüdische Rasse“ usw. aufzuklären, worin er einen Auftrag
zur Friedensstiftung in Israel-Palästina als vorderstes Anliegen sieht. Manche seiner Sätze
– und das seitenweise – könnten aus Veröffentlichungen der Chronologiekritiker
stammen, so sehr gleichen sie in Inhalt und Absicht unseren Arbeiten. Und doch scheint
es, daß er sich nie ernsthaft mit unseren Entdeckungen beschäftigt hat, auch wenn eine
völlige Unkenntnis der in den letzten zwanzig Jahren mit gewissem Mediengeschrei
herausgekommenen Chronologieumstürzung diesem weltoffenen und vielsprachigen
Fachmann nicht angelastet werden kann.
„Es kommt nicht von ungefähr, dass der moderne jüdische Nationalismus lieber die
fiktiv-ethnischen Aspekte in der Tradition betont. Er verteidigte sie wie eine wertvolle
Beute, knetete sie in seinen ideologischen Labors ordentlich durch, walzte sie als
säkulares historisches „Wissen“ aus und schnitt alle Spuren der Vergangenheit aus ihr
heraus. Das nationale Gedächtnis wurde auf den Nährboden eines verordneten
Vergessens gepflanzt, daher sein sensationeller Erfolg.“ (S. 285) – Ein Musterbeispiel für
den runden Tisch von Edwin Johnson oder die „Große Aktion“ von Kammeier? Genau als
das entpuppt sich die Quintessenz des Buches, und doch werden weder Jesuiten noch
Bollandisten, weder Jean Hardouin noch Peter Franz Joseph Müller je erwähnt. Denn hier
geht es um den Zionismus, und nur um diesen. Wir können mit dieser Arbeit einen
Sonderfall von Geschichtsherstellung studieren, wie er so sauber und wissenschaftlich zu
diesem Thema noch nie vorgetragen wurde.
Vorarbeiten gab es, aber sie blieben im Märchen stecken, von den neuen nenne ich nur:
„Wer schrieb die Bibel“ von Friedman (1987) und „Keine Posaunen vor Jericho“ von
Finkelstein und Silberman (2004). Sie kamen wissenschaftlich daher und verfehlten doch
schon im Ansatz ihr Ziel, indem sie versäumten, kritisch und unvoreingenommen die
Entwicklung unseres Geschichtsbildes zu analysieren.
Anders dieses Buch von Shlomo Sand. Es ist ein Muster an bewußter Forschung,
verantwortungsvoll und akribisch hergestellt, mit 560 bibliographischen Anmerkungen
versehen; ein Fundus von gediegenem Wissen und geduldiger Lektüre, und eine
Fundgrube für weitere Forschungen.
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Wie der Autor im Vorwort zur deutschen Ausgabe betont, wurde das Buch „eigentlich in
hebräischer Sprache geschrieben“, denn es ist die Sprache, in der er denkt und – wie es
scheint – auch träumt, wie er sagt; doch seine eigentliche Muttersprache ist jiddisch, wie
er anfügt. Und so dürfte er die Übersetzung durch Alice Meroz auch durchgesehen
haben, sie ist vorbildlich in ihrem bildhaften Duktus und mitreißenden Stil.

Die Implantierung des Gedächtnisses

Das Buch erschien 2008 in Hebräisch in Tel Aviv und wurde von den Fachkollegen sehr
kritisch beachtet, teils auch wegen der politischen Haltung scharf angegriffen. 2009
schrieb Shlomo Sand über einen Vortrag von Ernest Rénan (von 1883): De la Nation et du
‚Peuple Juif’chez Renan (Paris), konnte aber dennoch das französische Publikum nicht
aufrütteln. Nun ist es endlich in Deutsch erschienen und hat einen erstaunlichen Wirbel
ausgelöst. Wohlverdient, möchte man sagen, wenn nicht die Bedenken dabei wären, daß
es – wie so häufig bei modernen wissenschaftlichen Arbeiten – von den Parteiungen zu
ihren Zwecken gebraucht und dabei zerrieben werden könnte.
Um diesem vorzubeugen, hat Sand sein Werk zunächst ganz volkstümlich begonnen: mit
drei Schicksalen von Einwanderern in Israel. Daß es seine eigenen Vorfahren sind, erfährt
man erst am Ende des Kapitels, und das gibt dem ‚Sprungbrett’, das den Leser in die
Geschichte führt, einen besonderen Reiz.
Im zweiten Abschnitt der Einleitung, „Das implantierte Gedächtnis“, geht der Autor dann
gleich radikal ins Wesentliche. Geschichtsschreibung ist bewußte Manipulation seitens
einer Elite, ist Planung einer Zukunft mit Hilfe der Vergangenheit, die aus verständlichen
Gründen unbekannt ist und bleiben wird. „Zu den obersten Prioritäten der staatlichen
Erziehung gehörte die Reproduktion des implantierten Gedächtnisses, und ihr Herzstück
war die Nationalgeschichte.“ (S. 41) Dabei ist der Zionismus keineswegs ein Sonderfall
sondern bettet sich organisch in das Erwachen der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert
ein. „Auch die israelischen Erinnerungslandschaften entstanden in einem alles andere als
spontanen Vorgang. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden sie von
begabten Neuerfindern der Vergangenheit Schicht um Schicht rekonstruiert.“ (S. 45)
Erstaunlich sind die einzelnen Etappen der Erzeugnung einer Vorstellung von einer
jüdischen Rasse, wobei Darwins Abstammungsthese keineswegs am Anfang der
Entwicklung stand, sondern mittendrin wie ein zeitgemäßer Wurf, wie Sand sehr schön
deutlich macht (ab S. 126):

Knox, Robert (1850): The Races of Man (London) (der Autor ist aus Schottland)
Redfield, James W. (1852): Comparative Physiognomy, or Resemblances Between Men
and Animals (USA)
Carus, Carl Gustav (1853): Die Symbolik der menschlichen Gestalt (Deutschland)
Gobineau, Arthur de (1853): Essai sur l’inégalité des races humaines (t. 1, France)
Graetz, Heinrich (1853-1876): Geschichte der Juden (11 Bde., Leipzig)
Darwin, Charles (1859): On the Origin of Species

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Nordmann, Johannes (1861): Die Juden und der deutsche Staat (Berlin), „das erste Werk,
das Antijudaismus auf einer rassistischen Grundlage proklamierte“
Hess, Moses (1862): Rom und Jerusalem.

Dieses Kapitel des 2. Teils, „Rasse und Nation“, gehört zu den aufklärendsten
Erkenntnissen Sands. Das Thema wird noch einmal aufgegriffen im letzten Teil des
Buches, wo Absurditäten (pardon: moderne wissenschaftliche Entdeckungen) wie
Genome oder Gene für Juden oder gar Kahanim vorgestellt werden, wobei dem Autor
der Schalk im Nacken sitzt und die Ausdrucksweise von köstlich ironisch bis zornig
wetternd wird. Der Begriff „jüdisches Gen“ wurde tatsächlich wissenschaftlich schon
1911 publiziert (S. 390 f) und gilt bis heute als diskussionswürdig.

Damit wäre der Rahmen umrissen, aber der Reichtum des Buches nur angedeutet. Man
erfährt so manches über liebgewordene Personen, das man mit Verwunderung zur
Kenntnis nimmt: „(Martin) Bubers Vision von der Nation bestand darin, diese als eine
biologische Kette der Generationen von den Erzvätern und -müttern bis in die Gegenwart
zu denken und eine Gemeinsamkeit des Blutes zu empfinden, die in unvordenkliche
Zeiten zurückreichte.“ Und nach einem längeren Zitat nach Buber „in kabbalistischer
Verklausulierung“ fährt Sand fort: „Eine neoromantische Mystik von Erbgut und Boden
liegt dem spirituellen Nationalismus des charismatischen Religionswissenschaftlers
zugrunde, der viele junge jüdische Intellektuelle aus Osteuropa um sich scharte.“ (S. 381
f). Ja, vom Erbgut und Blut ist hier häufig die Rede, Ausdrücke, von denen wir lange
entwöhnt waren, kommen wieder zur Sprache: „Max Nordau, Herzls rechte Hand und
der Stichwortgeber auf den ersten Zionistenkongressen, ... war in der intellektuellen Welt
des Fin de siècle bekannter als Herzl. Der Verfasser des berühmten Werkes Entartung
war einer der prominenten Konservativen, die die Welt vor den Gefahren der modernen
Kunst, der Homosexualität und der Geisteskrankheiten, die Folgen physisch-rassischer
Entartung seien, zu warnen suchten.“ (S. 379) Man lese es bitte im Zusammenhang, es ist
noch um einen Grad härter, als wir es uns träumen ließen.
Die Gegenseite kommt ebenfalls zu Wort, der späte Renan sowie Kautsky vor allem,
sodann Boas und Fishberg, die schon 1911 ihre Bedenken publizierten, wenn sie auch
weniger Widerhall hatten, aber zumindest zur Ehrenrettung der amerikanischen
Anthropologie angeführt werden können. (S. 396 f)

Chronologische Überraschung

Sand bietet sogar eine „chronologische Überraschung“! (S. 212 ff) Zwischen der
Zerstörung des Tempels von Jerusalem durch Titus („70 AD“) und der Eroberung der
Stadt durch die Moslems im „7. Jh.“, also mehr als ein halbes Jahrtausend, scheint die Zeit
dort stillgestanden zu sein! Diese Überraschung ist ihm so eindrucksvoll, daß er sie (S.
270) wiederholt, diesmal deutlich abgeschwächt, denn „im nationalen
historiographischen Diskurs finden sich keinerlei zufriedenstellende Antworten zu diesen
Fragen.“ Wenn er daran anschließend von den „Teilnehmerlisten des Konzils zu Nicäa im
Jahre 325“ spricht und dies als gesichertes Wissen benützt, zeigt er allerdings, daß er
trotz aller kritischen Sicht doch einige Schritte noch nicht zu gehen wagte. Ob man das

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überhaupt von einem gestandenen (immerhin 60-jährigen) Akademiker erwarten darf?
Vielleicht doch, denn Teilnehmerlisten dieses Konzils gibt es auch bei den Theologen
nicht.
So sind auch die Kapitel über die arabischen Himjaren und über die große jüdische
Stammesführerin der Kabylen, die Kahina, oder die ausführliche Untersuchung über die
Chasaren zwar ungemein belesen und spannend geschrieben, aber dennoch innerhalb
des märchenhaften Kontextes geblieben, den Sand ansonsten so scharf als Erfindung
herausstellt. Er kennt die vielen Fälschungsvorwürfe, die zu diesem ausgeuferten
Forschungsbereich gehören, nimmt dennoch einige Nachrichten als vertrauenswürdige
Tatsachen an. Erst gegen Ende seiner langen Untersuchung zu den jüdischen Chasaren
wird ihm immer deutlicher, daß nun auch hier erfundene Geschichte vorliegt. „Die
nationale Geschichtsschreibung versucht nicht wirklich, die Kulturen der Vergangenheit
zu erforschen, ihr Hauptanliegen war bisher die rein auf die Gegenwart gerichtete
Schaffung einer Metaidentität sowie der Aufbau eines Staates.“ (S. 363) Da endlich zeigt
er das große Problem des aschkenasischen Judentums auf, das wiederum als
chronologische Überraschung bezeichnet werden könnte: Das Chasarenreich war im 11.
Jahrhundert untergegangen, aber das kulturelle Leben im osteuropäischen Schtetl
beginnt erst im 16./17. Jahrhundert. Ein halbes Jahrtausend liegt leer und ohne
Zeugnisse. Hinzukommt der unerklärliche Sprachwechsel vom türkisch oder ugrischen
Chasarisch zum deutschen Jiddisch (das er möglicherweise dem Gotischen annähern
könnte). Woraus dann die Erkenntnis entspringt: „Das Judentum war schon immer eine
bedeutende, sich aus verschiedenen Strömungen zusammensetzende religiöse Kultur,
aber keine wandernde und fremde ‚Nation’.“

In diesem Zusammenhang und mehrmals im ganzen Werk streift Sand das ewige
Problem der juristischen Zugehörigkeit durch Abstammung in seiner Kulturgruppe. Der
gottverheißene Samen Abrahams, zahlreich wie der Sand am Meer, gilt nicht als Recht
für ein Kind, sich jüdisch zu nennen, sondern nur die Herkunft aus einer jüdischen
Mutter. Das ist Gesetz in Israel. Dieses Dilemma, das surreale Züge annimmt, hat ein
Dichter von höchsten Gnaden, der kürzlich (16. Januar 2011 in Berlin) verstorbene Ivan
Denes, in einem Roman dargestellt, „Gott am Wannsee“ (1993), der nicht nur an Witz und
Weisheit sondern auch an Sprachschönheit alles in den Schatten stellt, was in unserer
Zeit zu diesem Thema gedruckt wurde.

Ein kleiner Hinweis für den Leser: Druckfehler kommen in jedem Buch vor, mit
Setzfehlern hat das nichts mehr zu tun, es sind zuweilen Scan-Fehler. Die
Ausdrucksweise u.Ztr. (für die Jahre nach Chr. Geb.) und v.u.Ztr. (für die Jahre davor)
können selbst aufmerksame Lektoren manchmal verwechseln, es sind mindestens drei
solcher Fehler in diesem sonst sehr ordentlichen Buch.

Abschließend: ein so lebendig geschriebenes Werk zu einem so schwierigen Thema habe


ich selten gelesen, es wird als Eckpfeiler einer neuen Denkweise überleben. Dabei sieht
Sand selbst diese Chance als gering an: „Die Konstruktion eines neuen Geschichtsbildes
steht immer unter dem Einfluss einer nationalen Ideologie und folgt deren Logik.
Historische Einsichten, die von der althergebrachten nationalen Meistererzählung
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abweichen, können nur dann akzeptiert werden, wenn man sich nicht vor ihren
Konsequenzen zu fürchten braucht.“ (S. 363)
Im Grunde geht Sands Forderung in Richtung einer bekannten anarchistischen Devise:
Zu welchem Volk ich gehöre, das bestimme bitte ich. Und nur ich! Etwa so, wie es bei der
Einwanderung bis 1947 in Israel praktiziert wurde (S. 417 ff). Volkszugehörigkeit ist
Gefühlssache. Daß Sands besonderes Mitgefühl dem unterworfenen Volk Palästinas gilt,
braucht kaum noch erwähnt zu werden. Es ist von diesem mutigen und aufgeklärten
Denker nicht anders zu erwarten.

26. 1. 2011

Siehe auch die Besprechung des Fortsetzungsbandes von Shlomo Sand hier.

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