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Samuel IJsseling

Rhetorik und Philosophie


Eine historisch-systematische Einführung

problemata
frommann-holzboog 108
Herausgeber der Reihe "problemata": Günther Holzboog

Der Text des vorliegenden Bandes wurde von Michael Astroh aus dem
Niederländischen übersetzt, von Birgit Nehren bearbeitet und vom
Verfasser autorisiert.

j
unlvorsltäte-I
Bibliothek '
I Freiburg I. Sr.
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

IJssding, Samuel:
Rhetorik und Philosophie : e. histor.-systemat. Einf. I Samuel IJ sseling. [Der Text d.
vorliegenden Bd. wurde von Michael Astroh aus d. Niederländ. übers., von Birgit Nehren
bearb. u. vom Verf. autoris.].-
Stuttgart-Bad Cannstatt : frommann-holzboog, 1988
(problemata ; 108)
Einheitssacht. : Retorick en filosofie (clt.)
ISBN 3-7728- t 038-1 Gewebe
ISBN 3-7728-1039-X brosch.
NE: Nehren, Birgit [Bearb.J; GT

© der Originalausgabe: Samuel IJsseling


© der deutschen Ausgabe: Friedrich Frommann Verlag· Günther Holzboog
Stuttgart-Bad Cannstatt 1988
Satz und Druck: Maisch & Queck, Gerlingen
Einband: Otto W Zluhan, Bietigheim
-.- -

Zusammenfassung

Philosophie und Rhetorik stehen seit ihrem Entstehen in Griechenland


in einem Spannungsverhältnis zueinander. Es kommt zum ersten Mal in
der Polemik zwischen Platon und den Sophist,en zum Ausdruck und
kehrt im Laufe der Geschichte des Denkens immer wieder. Der Konflikt
ist konstitutiv für die Philosophie und setzt ihr zugleich Grenzen.
Die vorliegende Arbeit beabsichtigt nicht so sehr, die Geschichte der
Rhetorik darzustellen, sie will vielmehr einige Aspekte des Konflikts
zwischen Rhetorik und Philosophie in verschiedenen Epochen der Ge-
schichte des Denkens erhellen. In diesem Konflikt stehen das Statut der
Vernunft, der Sprache, der Wissenschaft und des Subjekts im Vorder-
grund; eine beherrschende Stellung nimmt dabei die Frage ein: Was
geschieht überhaupt, wenn gesprochen und geschrieben wird?
Summary

From their ongm in Greece, philosophy and rhetoric have been in


conflict with each other. This tenuous relationship, which was first
expressed in the polemic between Plato and the Sophists and which
returns continuaHy in the history of thought, not onIy constitm:es
philosophy, but also defines mts limits. The aim of this study is not so
much to give an overview of the history of rhetoric, but rather to
elucidate a number of aspects in the conflict between rhetoric and
philosophy which arise in various periods of the history of thought.
Within this conflict, the status of reason, of language, of science and the
subject are the issues; and therein ]ies the fundam·ental question whether
one is ever able to be entirely present to one's own speaking.

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Inhalt

, I. Die Rehabilitierung der Rhetorik 9


II. Platon und die Sophisten 16

IH. Isokrates und die Macht des Logos 31


IV. Geschichte und System der griechischen Rhetorik 43
V. Rhetorik und Philosophie in Rom 54
~ VI. Augustinus und die Rhetorik 63
VII. Die "Freien Künste" und die Erziehung im Mittelalter 70
VIII. Die italienischen Humanisten 81
IX. Francis Bacon, Rene Descartes und die "Neue Wissen-
schaft" 89
X. Pascal und die "Kunst zu überzeugen" 105
XI. Die heilige Beredsamkeit 110
XII. Kant und die Aufklärung 123

XIII. Marx, Nietzsche und Freud 134


XIV, Nietzsche und die Philosophie 150
XV. Die Philosophen und die Metaphorik 166
XVI. Wer spricht, wenn gesprochen wird? 183

XVII. Bibliographie 197

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------------------~----~

I. Die Rehabilitierung der Rhetorik

Die Rhetorik oder Rhetorica wurde im Altertum bestimmt als die Kunst,
gut und überzeugend zu sprechen und zu schreiben: ars bene dicendi
und ars persuadendi. Diese Kunst umfaßte sowohl die praktische Fertig-
keit, eine gute und überzeugende Rede zu halten als auch die theoreti-
sche Wissenschaft, die die Regeln und Bedingungen einer schönen und
kraftvollen, gut gegliederten und verantwortlichen Darstellung formu-
lierte.
Die Kunst der Rhetorik hat seit dem griechischen Altertum bis spät
ins neunzehnte Jahrhundert hinein in hohem Ansehen gestanden. In der
paideia - Erziehung und Bildung - spielte sie eine herausragende Rolle.
Bei Griechen und Römern ein Gegenstand ernsthaft,er Studien und
fortwährender Diskussion, wurde sie von den frühchristlichen Autoren
übernommen, die sich ihrer zur Verkündigung der christlichen Botschaft
bedienten. Im Mittelalter schli·eßlich gehörte die Rhetorik zum soge-
nannten trivium, d. h. sie war ein Teil dessen, was alle jungen Menschen,
die eine schulische Ausbildung genossen, lernen mußten, Von den italie-
nischen Humanisten vielfach verherrlicht, haben die Jesuiten sie um
1600 zur Grundlage ihres Unterrichtssystems (der humaniora) gemacht.
Seit dieser Zeit erschienen zahlreiche Handbücher und Traktate zum
Thema Rhetorik, die zum Teil eine rein praktische, oft aber auch eine
theoretische Aufgabe erfüllten. Sie nahmen den Platz dessen ,ein,. was wir
heute als Literaturwissenschaft oder literarische Kritik bezeichnen,. und
behandelten selbst das, was heute Argumentationslehre oder Theorie der
persuasiven Kommunikation heißt.
Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts geriet die Rhetorik in
Mißkredit. In den verschiedenen Erziehungseinrichtungen wurde sie
nicht länger gelehrt. Das Wort Rhetorik erhielt einen pejorativen Sinn,
der an zweifelhafte Kunstgriffe, an Täuschung und Betrug,. an ein An-
einanderreihen von leeren Worten, abgegriffenen Redensarten und Ge-

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meinplätzen denken ließ. Rhetorisch wurde mit schwülstig gleichge-
setzt.
Gegenwärtig läßt sich vielerorts eine Wiederbelebung und Rehabilita-
tion der Rhetorik feststellen. Die Zahl der Veröffentlichungen, die das
Wort Rhetorik im Titel führen, nimmt stetig zu. Rhetorik nimmt hier
wieder einen eindeutig positiven Sinn an. Eine große Zahl von Untersu-
chungen widmet sich ganz oder teilweise, historisch oder systematisch,.
mittel- oder unmittelbar rhetorischen Problemen. Die Bibliographie, die
wir diesem Band beigeben, zeichnet ein authentisches Bild dieser Ent-
wicklung. Bei klassischen Philologen und Historikern, bei Literatur-
theoretikern und denen, die sich mit persuasiver Kommunikation be-
schäftigen, steht die Rhetorik wieder im Mittelpunkt des Interesses.
Auch eine Reihe zeitgenössischer Philosophen messen der rhetorischen
Problematik große Bedeutung bei.
Die Rehabilitierung der Rhetorik vollzieht sich auf verschiedenen
Gebieten. Das inzwischen klassische Werk von eh. Perelmann Traite de
l'argumentation mit dem Untertitel La nouvelle rhhorique behandelt die
unterschiedlichen Formen des Argumentierens*. Rhetorik wird hier als
eine Theorie der Argumentation verstanden. Diese Argumentationslehre
ist eng verbunden mit Logik und Wissenschaftskritik.
1936 veröffentlichte 1. A. Richards seine Philosophy of Rhetoric. In
diesem wichtigen Beitrag zur Erneuerung der Rhetorik geht er zunächst
der Frage nach, warum wir einander entweder gar nicht oder aber falsch
verstehen und begreifen. Richards untersucht sodann, wie dem abgehol-
fen werden könne und fragt: Worin unterscheidet sich gute von schlech-
ter Kommunikation, und was können wir tun, um sie so gut wie möglich
zu gestalten?
Zur verbalen Kommunikation liegt inzwischen eine umfangreiche
Literatur vor, die auch auf die Kommunikationswissenschaft und Rheto-
rik der Kommunikation eingeht. Probleme, die in dieser Wissenschaft in
Angriff genommen werden, sind u. a.: Wie erreicht das, was wir sagen
oder schreiben, den anderen? Wie kann und muß Information übermit-
telt werden? Wie wird Information empfangen und verarbeitet? Welche

* Zu den bibliographischen Angaben vgl. das Literaturverzeichnis am Ende des Bandes.

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Grenzen und Möglichkeiten, welche Bedingungen und konkreten Um-
stände bestimmen die zwischenmenschliche Kommunikation?
Ein besonderer Bereich der Kommunikationswissenschaft ist die
Theorie der persuasiven Kommunikation mittels der großen Massenme-
dien (Presse, Radio, Fernsehen, Fi]m). Insbesondere die Techniken der
Werbung, politische und ideologische Propaganda sowie die gezielte
Meinungsbildung genießen eine ungeteilte Aufmerksamkeit. Die Theo-
rie der persuasiven Kommunikation wird auch Rhetorik genannt. Sie
kann beschreibenden, normativen und kritischen Charakter haben. Sie
kann den Prozeß des Überzeugens und Überzeugtwerdens detaiUiert
beschreiben. Sie vermag Regeln und Normen aufzusteHen, die die
Kommunikation befolgen muß, um wirklich überzeugend zu sein.
Schließlich weiß sie die verborgenen Überz,eugungskräfte ans Licht zu
bringen und die "hidden persuasers" zu entlarven. Die Kommunika-
tionstheorie ist natürlich nicht unabhängig von der Argumentations-
lehre. Wissenschaften wie Psychologie und Soziologie, Hermeneutik
und Semiotik gewinnen hier große Bedeutung. Es fällt auf, daß Kommu-
nikationswissenschaftler in hohem Maß·e an der klassischen Rhetorik
interessiert sind.
Die Kommunikationswissenschaft erforscht und formuliert darüber I
\
hinaus die Gesetzmäßigkeiten des "öffentlichen Sprechens", das viele
unterschiedliche Formen annehmen kann: so bei Gelegenheitsanspra-
chen, Vorträgen, Lesungen, Reden in PoEtik oder vor Gericht, in
Unterricht und Vorlesung (Didaktik), in der christlichen Verkündigung
(Katechese) und selbst bei der Redaktion und Veröffentlichung von
Artikeln und Büchern, von Referaten und Berichten oder von Texten
überhaupt. Im letzten Fall handelt es sich gewiß nicht um eine Art des
,Sprechens(, sondern vielmehr um eine Form der verbalen Kommunika-
tion und Publikation. Die Regeln für alle diese Formen verbaler Kom-
munikation aufzustellen, macht ebenfalls einen Teil der Rhetorik aus.
Auch die Literaturwissenschaft wendet sich von neuem der Rhetorik
zu. Hier beschränkt sie sich oft auf die Stilanalyse (Stilistik),. manchmal
sogar auf di,e linguistische Erforschung der sogenannten Redefiguren
(Metapher, Metonymie usw.). Die Rhhorique generale der Gruppe I!
aus Lüttich z. B. thematisiert ausschließlich diese Figuren. Im Prinzip

11
j1edoch bestreitet die Rhetorik ein viel breiteres Terrain. Die Kritik an der
Rhetorique generale hat denn auch wiederholt angemerkt, daß es sich
hier nicht um eine allgemeine, sondern um eine eingeschränkte Rhetorik
handelt (rhetorique restreinte). Wie bedeutend und fruchtbar das Stu-
dium der Metapher und der Metonymie auch sein mag, so darf dieses
kleine Teilgebiet keinesfalls für die ganze, viel umfassendere Wissen-
schaft genommen werden.
A. Kibedi-Varga, Professor für französische Philologie in Amsterdam,
hielt in seiner Antrittsvorlesung Die Wissenschaftlichkeit der Literatur-
wissenschaft ein Plädoyer für die Rehabilitierung der traditionellen
Rhetorik. Er schätzt die klassische Rhetorik als das beste und wissen-
schaftlich am ehesten zu vertretende Instrument zur Analyse literari-
scher Texte. Die rhetorische Literaturwissenschaft räumt dem Text eine
besondere Stelle ein. Er wird als eine kommunikative Einheit aufgefaßt,
die auf bestimmte Weise strukturiert ist, die sich stets aus informativen
und persuasiven Elementen zusammensetzt und offensichtlich eine Wir-
kung auf den Leser ausübt. Nun bedient sich die rhetorische Textanalyse
gewiß einer Reihe von Hilfswissenschaften, die auch früher schon von
der Rhetorik benutzt wurden: Sprachwissenschaft, Logik, Psychologie
und Soziologie. Auf diesem Gebiet ist noch vieles zu tun, denn den
Hilfswissenschaften der alten Rhetorik fehlte es häufig an zureichender
Wissenschaftlichkeit. Dennoch bietet die alte Rhetorik dem Literatur-
theoretiker eine bewährte Terminologie und ein angemessenes Arbeits-
instrument, das sie zu ihrem Vorteil ganz im Hinblick auf Texte und
nicht in Anlehnung an andere Wissenschaften gewinnt.
Die rhetorische Literaturwissenschaft benutzt die Rhetorik in erster
Linie als Werkzeug zur Analyse ,literarischer' Texte . Sie kann aber auch
zur Analyse ,philosophischer' Texte herangezogen werden. Zu diesem
Zweck müssen nur die Kriterien aufgesucht werden, nach denen sich die
,Textsorten' voneinander unterscheiden lassen. Das ist selbstverständlich
keine einfache Aufgabe. Will man den Unterschied zwischen einem
philosophischen und einem literarischen Text präzise bestimmen, steht
man vor zahllosen Problemen. Es läßt sich jedoch nicht leugnen, daß
philosophische Texte in der Tat Texte sind. Und Texte tragen von sich
aus zu ihrer rhetorischen Analyse bei.

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Schließlich läßt sich auch von seiten der heutigen Philosophie ein
wachsendes, vielfältig begründetes Interesse an der Rhetorik feststellen.
In erster Linie richten Philosophen ihre Aufmerksamkeit natürlich auf
Argumentation und Kommunikation. Es geht jedoch um sehr viel mehr.
Wie verschieden und vielfältig die zeitgenössische Philosophie auch sein
mag, bei allen Philosophen der Gegenwart läßt sich ein gemeinsamer
Zug wahrnehmen: die Aufmerksamkeit auf die Sprache. Wer wirklich
beginnt, sich auf die Sprache zu besinnen, stößt notwendig auf das
Problem der Rhetorik. Die zeitgenössische Philosophie zeigt darüber
hinaus die offenkundige Neigung, über sich selbst nachzudenken, über
ihre Stellung und Funktion in der Gesellschaft, ihr mehr oder weniger
ideologisches Sein und ihre Verbreitung innerhalb des Erziehungswe-
sens. Natürlich hat sie dies immer schon getan. In unserer Zeit jedoch
gewinnen solche Überlegungen einen ganz eigenen Charakter. Die Auf-
merksamkeit richtet sich nämlich nicht in erster Linie auf den Inhalt von
Philosophie, sondern vielmehr auf ihre Form. Das Problem der Philoso-
phie ist ein rhetorisches Problem.
Zur Form der Philosophie gehört ihre Textualität. Es ist ein ganz und
gar vernachlässigtes, zugleich aber sehr formelles und allgemeines Cha-
rakteristikum von Philosophie, daß sie aus einer Gruppe von Texten
besteht. Dabei kann es sich um Texte unterschiedlicher Art handeln:
Bücher und Zeitschriftenartikel, Vorträge und Vorlesungen, Kollegien
und Lehrgänge, sogar Tagebücher,. Romane, Dramen und Gedichte. Wie
sehr sich Philosophen auch voneinander unterscheiden, wie groß die
Gegensätze zwischen Hegel und Bolzano, Nietzsehe und Husserl,
Heidegger und Carnap, Sartre und Wittgenstein sein mögen, zumindest
darin kommen sie überein, daß ihre Philosophie aus Texten besteht. Nur
wer ihre Werke liest oder ihrem Unterricht zuhört, kann Zugang zu
ihrer Philosophie gewinnen. Einen anderen Weg gibt es nicht. Selbst
wenn man eine ,eigene' Philosophie aufbauen möchte, besteht auch sie
stets wieder aus Texten, und diese sogenannten ,eigenen' Texte sind nur
aufgrund von anderen Texten möglich.
Philosophische Texte sind wahrscheinlich von anderer Art als nicht-
philosophische. Außerdem unterscheiden sich die Texte in vieler Hin-
sicht auch von Philosoph zu Philosoph. Sie unterscheiden sich u. a. in

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ihrem Aufbau und Stil, in ihrer Wortwahl und Argumentationsweise, in
ihrer Thematik und Absicht. In vieler Hinsicht stimmen sie jedoch auch
überein. Sie sind alle auf die eine oder andere Art strukturiert und weisen
teils individuelle, teils allgemeine Stilelemente auf.. In allen diesen Texten
wird etwas mitgeteilt, wird argumentiert. Sie enthalten sowohl informa-
tive als auch persuasive Elemente. Und schließlich haben sie alle eine
Wirkung erzielt, vielleicht viel Gutes ausgerichtet, vielleicht viel Unheil
gestiftet.
Faßt man Philosophie als eine Gruppe von Texten auf, kann man eine
Reihe von Fragen stellen, die vielleicht nicht das Wesen der Philosophie
selbst betreffen, aber dennoch von großer Bedeutung für sie sind: Was
ist ein Text oder gar ein Werk? Wie ist ein Text aufgebaut? Inwieweit ist
jeder Text aus Fragmenten und Bruchstücken anderer Texte zusammen-
gesetzt? Welche Textteile sind bestimmend für das Ganze,. welche sind
von geringerer Bedeutung? Welche sind die zentralen Themen des
Textes? Wie sind die Themen miteinander verbunden, inwieweit stehen
sie zueinander in Gegensatz? Wie verschieben und verändern sich diese
Themen, und welche Mechanismen stehen hinter solchen Verschiebun-
gen und Veränderungen? Welche Funktion, welcher Stellenwert kommt
in diesem Zusammenhang den Stilfiguren zu? Was kann in einem
philosophischen Text gesagt werden, was nicht? Inwieweit sind Struktur
und Stil von Philosophie bestimmend für das, was in ihr zur Sprache
kommt? Und weiter, welche Faktoren machen den Text zu einem Text-
und genau zu diesem Text? Inwieweit sind innere oder äußere Macht-
strukturen beim Zustandekommen eines Textes am Werk? Mit anderen
Worten: Welchen Einfluß besitzen Machtinstanzen in Politik und Erzie-
hungswesen, in Kultur und Kirche auf das,. was gesagt oder nicht gesagt
wird? Welche Rolle spielen Elemente wie Angst und Begierde? Wer
schreibt eigentlich, wenn geschrieben wird? Was ist ein Autor? Was kann
schließlich ein Text bewirken und unter welchen Umständen? Wie steht
es mit den ethischen und politischen, theologischen und metaphysischen
Überzeugungen, die in den Menschen lebendig sind, und die die Folge
eines Netzes von Texten sind, das über der Welt ausgebreitet liegt? Und
wie steht es damit, daß man offensichtlich am Schreiben und Lesen von

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Texten Gefallen findet? Kurz gesagt, was geschieht überhaupt, wenn
gesprochen und geschrieben wird?
Will man diese und ähnliche Fragen beantworten, ist die Rhetorik ein
unverzichtbares Hilfsmittel. Die Antwort auf diese Fragen ist auch für
den Status und den Vollzug philosophischen Arbeitens von grundsätz-
licher Bedeutung.
Nun sind die Beziehungen zwischen Philosophie und Rhetorik nie
besonders gut gewesen. Ihr Verhältnis zueinander ist offensichtlich
gespannt. Seit ihrer Entstehung in Griechenland hat dieser Konflikt das
Denken unausgesetzt bestimmt und auf die Philosophie einen großen
Einfluß ausgeübt. Bis zu einem gewissen Grade hat die Spannung
zwischen Rhetorik und Philosophie selbst Inhalt und Form von Philoso-
phie als solcher bestimmt.
Auch heute wird von einem Konflikt zwischen Rhetorik und Philoso-
phie gesprochen. Klar zum Ausdruck gebracht wird dieser Konflikt bei
Nietzsche, Marx und Freud, in einem gewissen Sinne sogar hei Heideg-
ger, und bei verschiedenen Autoren, die sich von diesen Denkern
inspirieren lassen: Wir denken hier an J. Derrida, R. Barthes, M. Fou-
cault, J. Lacan und L. Althusser. Durch den direkten oder indirekten
Bezug auf die Rhetorik stellen sie die etablierte Philosophie und die
traditionelle Metaphysik radikal in Frage. Eine historische und systema-
tische Übersicht über die verschiedenen Facetten dieser alt,en Auseinan-
dersetzung soll daher einen Einblick in den aktuellen Konflikt ermögli-
chen. Jedes der folgenden Kapitel wird daher auf die Vergangenheit
zurückgreifen, um von dort aus - in einer anhalt,enden Zirkelbewegung -
das N,etz von Problemen zu beleuchten, mit denen sich das heutige
Denken konfrontiert sieht. Diese Zirkelbewegung wird uns ständig die
Frage vor Augen führen: Was geschieht, wenn gesprochen oder ge-
schrieben wird?

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11. Platon und die Sophisten

Beinahe alles wahrhaft Große der wesdichen Welt ist im alten Griechen-
land entstanden. Dies gilt u. a. auch für die Philosophie als der systema-
tischen Suche nach endgültiger Wahrheit. Dies gilt ebenso für die
Rhetorik als der bewußt ausgeübten Kunst, gut und überzeugend zu
sprechen und zu schreiben. Griechenland ist auch der Ort, an dem der
Konflikt zwischen Philosophie und Rhetorik zuerst ausgebrochen ist;
und zwar auf eine Weise, die in der Folge für das ganze europäische
Denken und die westliche Kultur bestimmend gewesen ist.
Mit Platon erreichte der Konflikt zwischen Philosophie und Rhetorik
einen Höhepunkt. Er stand der Rhetorik unverkennbar negativ und ab-
weisend, in vieler Hinsicht sogar ausgesprochen feindselig gegenüber.
Platons ablehnende Haltung kommt u. a. im Gorgias und, vielleicht
etwas nuancierter, im Phaidros zum Ausdruck.
Der Dialog Gorgias trägt den Untertitel, Über die Rhetorik'. Ebenso
gut hätte er ,Gegen die Rhetorik< lauten können, da es sich offensichtlich
um einen polemischen Dialog handelt. Gesprächspartner sind in erster
Linie Sokrates und Gorgias. Letzterer war ein mächtiger und einflußrei-
cher Rhetor und einer der genialsten Sophisten. Im ersten Teil des
Dialogs versuchen Sokrates und Gorgias gemeinsam zu einer Definition
von Rhetorik zu gelangen. Rhetorik wird bestimmt als die Kunst, eine
Rede zu halten, die eine Überzeugung oder ein Ganzes von Überzeu-
gungen für die Menschen annehmbar werden läßt. Rhetorik ist die
Kunst zu überreden, Überredungskunst. Sokrates merkt dazu an,. daß
die rhetorische oder überzeugende Rede keine wirkliche Einsicht und
kein sachliches Wissen (episteme) bewirken könne, sondern einzig und
allein Überzeugungen, Ansichten und Meinungen (doxa) aufdränge.
Gorgias dagegen weist auf die zweifellos wundervolle und zugleich
universale Macht der Rede hin. Mit Hilfe eines korrekten und zutreffen-
den Wortes, durch eine schöne und kraftvolle Rede könnten die Men-
schen veranlaßt werden, das zu denken, was wünschenswert sei und für

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richtig befunden werde. Man könne sie beeinflussen, sich so zu beneh-
men und so zu handeln, wie es als sinnvoll und gerechtfertigt angesehen
werde. Natürlich müsse man in rechter und vertretbarer Weise von der
Rhetorik Gebrauch machen. Sokrates antwortet darauf, daß man zu-
nächst eine deutliche und wahrhaftige Einsicht in das haben müsse, was
richtig und gerecht sei; und eine solche Einsicht könne weder aus einer
rhetorischen Rede abgeleitet noch durch sie erlangt werden. Sokrates
fügt hinzu, daß die Rhetorik dann auch keine Wissenschaft sei, denn sie
beruhe nicht auf wirk]icher Einsicht und beziehe sich auch nicht auf die
wahre Wirklichkeit. Die Rhetorik sei eine Sache der Schmeichelei, der
Schönfärberei, des schönen Scheins und des Wahrscheinlichen. Es han-
dele sich nicht um eine ernsthafte Angelegenheit . Sie sei der Kochkunst
vergleichbar, die zwar eine bestimmte Art von Genuß schaffe, aber nicht
wirklich die Gesundheit fördere. Auch sei sie der Kunst sichzurechtzu-
machen ähnlich, mit deren Hilfe ein Mensch auf einen anderen anzie-
hend wirken könne, die aber, im Gegensatz zur Gymnastik, dem Körper
keine wirkliche Schönheit verleihe.
Polos, ein anderer Gesprächspartner des Sokrates,. beharrt auf der
tatsächlichen und wirksamen Macht des Redners gerade auf politischem
Gebiet. Der Redner beherrsche durch sein Wort das Leben der polis, des
Staates und der Gesellschaft. Sokrates hält dem entgegen,. daß ,es in der
Politik vor allem um das Gute und Gerechte gehen müsse. Diese Ideen
könnten niemals durch die Macht oder die Gewalttätigkeit des Wortes
verwirklicht werden. Macht und Gewalt seien das Gegenteil dessen, was
gut und gerecht ist.
KaUikles möchte schließlich geltend machen, daß es sich in der Politik
in erster Linie um ein Spiel um die Macht handele, in dem die Rhetorik
unverzichtbar und gerechtfertigt sei . Die Verherrlichung der Macht des
Wortes und die Verherrlichung der Macht schlechthin seien eng mitein-
ander verbunden. Sokrales jedoch möchte sich nicht an di,esem Spiel der
Mächte beteiligen. Er entscheidet sich ausdrücklich für das Leben des
Philosophen, das durch Freiheit und Glück, durch Einsicht und Recht-
schaffenheit gekennzeichnet werde. Der Staat oder die politische Ord~
nung sollten nach seiner Ansicht so eingerichtet werden,. daß j,edem
Menschen ein derartiges Leben ermöglicht und freigestellt werde. So

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weit die Problematik des Gorgias, den E. R. Dodds den ,modernsten'
der Dialoge Platons genannt hat.
Im Phaidros nimmt Platon einen differenzierteren Standpunkt ein.
Dieser an Themen sehr reiche Dialog beginnt folgendermaßen: Der
junge Phaidros, den Sokrates sehr liebt, besitzt eine Rede eines gewissen
L ysias, der dem Kreis um Gorgias angehörte und Rhetorik lehrte. Er
war einer der ersten, die ihre Reden niederschrieben und sie zur Übung
von ihren Studenten auswendig lernen ließen. Die Rede, die Phaidros bei
sich trägt, und die er auswendig kennt, handelt von der Liebe. Er
möchte sich mit Sokrates über dieses Thema unterhalten. Zu Anfang
erstreckt sich ihre Unterredung auch auf den Inhalt der Rede, aber
allmählich beginnen sie, allgemein über den Vortrag und die Ni,eder-
schrift von Reden zu diskutieren. Ihr Gespräch handelt nun von der
Form, von der Rhetorik als Kunst.
Es wird unterschieden zwischen schlechter und guter Rhetorik.
Schlechte Rhetorik wird in Rednerschulen wie der des Lysias gelehrt.
Solche Rhetorik hat allein auf das Wahrscheinliche Bezug (doxa), auf die
Überzeugung, auf das Überzeugen und sogar auf das Illusionäre. Gute
Rhetorik dagegen hat ihre Grundlage in der Philosophie. Nur sie bezieht
sich auf Wahrheit und Einsicht. Sie ist eine philosophische und dialekti-
sche Rhetorik, eine Kunst, mit Hilfe des Wortes zum Ziel zu leiten
(psychagoge) und im Gespräch miteinander zur Wahrheit zu gelangen.
Es könne, so Platon, unter Umständen sinnvoll sein, das gewöhnliche
Volk über einen kurzen Zeitraum in einer bilderreichen Sprache zu
unterweisen. Zu diesem Zweck könnten Beispiele zur Verdeutlichung
oder zur Nachahmung herangezogen, maßgebliche Zeugen und ihre
Argumente angeführt, auf Tradition und Überlieferung zurückgegriffen,
Mythen und Geschichten erzählt werden. AU dies aber bewirke kein
wahres Wissen, keine wirkliche Einsicht,. sondern bloß ein Bündel von
mehr oder weniger vagen Überzeugungen. Es werde nicht eigentlich
etwas gelernt, sondern es gehe allein darum, zu überreden und umzu-
stimmen. Überredung und Glauben werden in Frage gestellt. Diese
monologische Art des Unterrichts sei letzten Endes unfruchtbar und
könne überdies sehr gefährlich sein, da man kein einziges Kriterium für
die Wahrheit der Überzeugungen besitze. Nach Platon darf man daher

18
ReM

von dieser monologischen Rhetorik nur unter der Bedingung Gebrauch


machen, daß der Dozent, der Lehrmemster oder der Redner schon im
Besitz wirklicher Einsicht und wahrer Wissenschaft ist. Wirkliche Ein-
sicht in die Dinge zu haben und wahre Kenntnis der Wirklichkeit zu
besitzen, ist ein Privileg des Philosophen. Er kann nur durch das G,e-
spräch, durch die Unterredung, den Dialog, durch Dialektik zur Ein-
sicht kommen. Diese Dialektik ist denn auch die einzig wahre Rhetorik.
Am Schluß des Phaidros äußert Sokrates sein Urteil über Lysias, den
Autor der Rede, die Phaidros mitgebracht hat,. und über Isokrates, den
Schüler des Gorgias, der nicht weit von Platons Akademie eine Rheto-
renschule leitete. Lysias ist nach Sokrates das genaue Gegenteil eines
Philosophen. Er kann sich nicht auf ein wahrhaftes Streben nach Ein-
sicht berufen, sondern nur auf Texte und Schrihen, die das Ergebnis
eines langen Drehens und Wendens, ein Produkt von Schere und Leim-
topf sind. Er ist also nicht viel mehr als ein Dichter, ein Literat oder
Schriftsteller. Die Wörter "Dichter" oder "Schriftsteller" haben für
PI at on einen eindeutig pejorativen Sinn. Das Urtea über Isokrates ist
nuancierter. Sokrates sagt von ihm - möglicherweise ironisch, vielleicht
auch ernsthaft gemeint -, er sei noch jung (tatsächlich zehn Jahre älter als
Platon) und zeichne sich auf literarischem Gebiet aus. Zudem habe er ein
so großes natürliches Verlangen nach Weisheit, daß es gut möglich sei,
daß aus ihm ein Philosoph werden könne (Phaidros, 279b). Platons
Urteil über die Rhetorik ist zweifellos recht negativ und seine Haltung
ihr gegenüber eher feindselig. Er stellt die Diskussion oder den Dialog
über den Monolog oder den Unterricht ,ex cathedra'. Überdies spricht
er der Philosophie den unbedingten Vorrang vor der Rhetorik zu. Ihre
Überlegenheit haben die meisten Philosophen nach Platon stets von
neuem bestätigt und unterstrichen. Wie wir sehen werden, liegen die
Dinge in der Praxis jedoch anders, und die eher praxis bezogenen Rheto-
riker werden in der Regel den Primat der Philosophie vor der Rhetorik
bestreiten.
Wie sollen wir nun Platons negatives Urteil und seine feindselige
Haltung verstehen? Nietzsche sah darin einen Ausdruck für Platons
verborgenen MachtwiUen - für seine Mißgunst gegenüber der Macht
und dem Ansehen, das den Rednern im Altertum gezollt wurde. Das ist

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natürlich ein für Nietzsehe typischer Standpunkt. Wir werden später
noch darauf zurückkommen. Zunächst ist es jedoch wichtig, Einblick in
den Kontext zu erhalten, innerhalb dessen sich Platons Zurückweisung
der Rhetorik bewegt, und die Folgen zu verstehen, die diese Ablehnung
für die Philosophie zeitigte. Bekanntlich hatte Platon wenig Achtung vor
den schönen Künsten, namentlich nicht vor der Kunst des Wortes, gegen
die er eine besondere Abneigung hegte. Dichter und Redner sollten aus
dem idealen und utopischen Staat, wie Platon ihn sich vorstellte,. ver-
bannt werden. Die Kunst im engeren Sinne galt Platon nur als eine
trügerische oder zumindest oberHächliche Nachahmung. Der Gedanke,
daß. die Kunst eine enthüllende Funktion hat und darum ein wesentliches
Moment im Ereignis der Wahrheit ist,. dieser Gedanke, den man u. a. bei
den Romantikern, den deutschen Idealisten, bei Nietzsche und Heideg-
ger findet, ist gewiß nicht platonisch.
Um Platons Ablehnung der Rhetorik recht zu verstehen, muß man
sich vergegenwärtigen, daß die Rhetorik im Altertum sehr hoch geachtet
wurde, und daß der Redner ein außergewöhnlich mächtiger Mann war.
Versuchen wir dies zu verdeutlichen.
Die ,rhetorike techne' galt den Griechen als wahre Kunst. Sie war eine
sehr erhabene Kunst, für die es auf anderen Gebieten der griechischen
Kultur nichts Entsprechendes gab. Sie stand sowohl in der Ausübung als
auch in der theoretischen Reflexion über die Praxis in hoher Blüte.
Zweifellos ist dieser Aufschwung an die griechische Sprache gebunden,
die Nietzsehe einst ,.,die sprechbarste aller Sprachen" (Musarion Ausg.,
V, S.4) genannt hat, und am die Tatsache, daß die Griechen gern und
viel, sehr nuanciert und mit deutlicher Artikulation sprachen. Sie waren
auf ihre Sprache und die vollkommene Beherrschung derselben außerge-
wöhnlich stolz. Sie unterschieden sich von den anderen Völkern, den
Barbaren, die nur stammelten, durch ihre Sprache und die Meisterschaft
über dieselbe. Gut und nuanciert, schön und intelligent sprechen zu
lernen, nahm in der griechischen Bildung und Kultur, der ,paideia"
einen ganz besonderen Platz ein. Die Rhetorik war nicht eines unter
vielen Fächern, in denen man in der Schule unterrichtet wurde, sie war
vielmehr das weitaus bedeutsamste und in einem gewissen Sinn sogar das
einzige Fach. Man mußte nämlmch lernen, über alles zu sprechen, was es

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überhaupt zu sagen und zu wissen gab, auch über philosophische
Probleme. Die größte Karriere, die man machen konnte, war die des
Rhetors,. und beinahe alle Menschen, der,en Namen wir noch kennen,
haben eine Ausbildung als Rhetor erhalten ..
Rhetor war derjenige, der mit Erfolg gelernt hatte, eine Rede zu
halten. Der Rhetor war ein mächtiger Mann und gehörte der Aristokra-
tie an. Er war Teil einer wirklichen Elite, die in der Gesellschaft das
Sagen hatte. Wenn man die Machtverhältnisse im alten Griechenland
verstehen will, muß man sich den bedeutenden Unterschied vor Augen
führen, der zwischen denen, die gut zu sprechen verstanden (den
Mächtigen), und denen, die es nicht konnten (den Machtlosen), bestand.
Diodoros Siculus schreibt einmal: "Herrliehers als Redegewalt könnte
Einer wohl nicht leicht finden. Denn in ihr besteht der Vorzug der
Hellenen vor den Barbaren, der Gebildeten vor den Ungebildeten, und
nur durch sie allein vermag es der Einzelne, die Menge zu bewältigen.
Und überhaupt erscheint jedes Ding so, wie die Redegabe des Sprechen-
den es darzustellen vermag." (Bibliotheca historica, 1.2).
Die Griechen waren sich der Macht der Sprache und der Rede, und
damit auch der Macht desjenigen bewußt,. der die Sprache beherrscht
und eine schöne und wohlgesetzte Rede zu halten weiß. Diese Macht
kam u. a . in Rechtsprechung und Politik zum Ausdruck.
In einem Strafprozeß weiß der Sprachgewandte für Schuld oder
Unschuld zu plädieren und vermag einen Freispruch oder eine Verurtei-
lung zu erwirken. Wo Rechte oder Privilegien, die man hat oder zu
haben glaubt, bestritten werden, wird derjenige, der seine Rechte und
Privilegien gut verteidigen kann, Anerkennung finde-no In noch stärke-
rem Maße gilt dies in Bezug auf das Eigentum, das man erworben hat.
Man kann sein Eigentum, seine Besitzungen oder Territorien mit Waffen
oder durch den Bau von Mauern und Befestigungen verteidigen . Es ist
jedoch viel effektiver, subtiler und menschlicher, seinen Besitz mit Hilfe
des Wortes zu verteidigen. Denn B·esitz besteht allein dank des Wortes.
Die Rhetorik hat daher fast immer etwas mit Eigentum, mit dem
Erw,erb vermeintlicher Rechte, mit Machtpositionen und Privilegien zu
tun. Eine Anekdote, die über Corax und Tisias, die vermutlich ersten
Rhetoren,. erzählt wird, ist dafür bezeichnend. Corax, so heißt es, soHte

21
Tisias lehren, in einer Diskussion stets recht zu behalten, und Tisias nur
dann ein Honorar für die erhaltenen Lektionen bezahlen, wenn sein
erstes öffentliches Plädoyer die Zweckmäßigkeit von Corax' Unterricht
beweisen würde. Tisias folgt dem Unterricht mit Gewinn, tritt aber
nicht als Rechtsanwalt auf, sondern wird selbst Lehrer der Beredsamkeit
und übertrifft seinen Lehrmeister Corax. Dieser nun drängt auf Bezah-
lung, doch vergebens. Es kommt schließlich so weit, daß Corax Tisias
vor Gericht bringt. Tisias sagt dort: ,,Ich soll Euch beweisen, daß Eure
Forderung nach Bezahlung unbegründet ist. Entweder überzeuge ich
Euch, daß ich Euch nichts schuldig bin, und dann brauche ich Euch
natürlich nicht zu bezahlen. Oder ich überzeuge Euch nicht und muß
Euch dann auch nicht bezahlen, d,enn in diesem Fall zeigt sich, daß Euer
Unterricht nichts bewirkt hat,. und wie wir übereinkamen, muß ich nur
dann bezahlen, wenn ich mein erstes Plädoyer gewinne. (( Corax antwor-
tete: "Entweder überzeugst du mich nicht, und dann mußt du natürlich
bezahlen, oder du überzeugst mich doch,. was dann beweist, daß mein
Unterricht erfolgreich war, und dann hast du gemäß unserer Abma-
chung Deine Schuld zu begleichen."
Die Anekdote spricht für sich selbst. Man verteidigt seine Rechte und
sein Eigentum mit Hilfe des Wortes. Ist man nun nicht in der Lage, sein
Wort so scharfsinnig zu führen, kann man einen ,Advokaten' in An-
spruch nehmen, jemanden, den man zu Hilfe ruft, um ein eigenes
Anliegen wahrzunehmen. Da es jedoch in den meisten griechischen
Städten nicht erlaubt war, das eigene Anliegen in der Öffentlichkeit
durch einen anderen vertreten zu lassen, und man verpflichtet war, dies
selbst zu tun, pflegte man jemanden zu beauftragen, gegen eine ange-
messene Vergütung eine Rede (logos) aufzusetzen und niederzuschrei-
ben, die man dann auswendig lernte. Diese schriftlichen Reden haben
übrigens einen wichtigen Beitrag zur Entstehung der griechischen Prosa
geleistet.
Politik ist natürlich eng mit der Verteidigung von Rechten und
Privilegien, von Eigentum und Territorien, sowohl materieUer wie gei-
stiger Art, verbunden. Die griechische Demokratie war darüber hinaus
ganz auf die öffentliche Diskussion in der Volksversammlung gegründet.
In der Tyrannei oder D'iktatur hat nur ein Mann das Sagen und er

22
diktiert, was gut und was nicht gut ist. Die Tyrannei kann abgeschafft
werden, indem der Diktator mit physischer Gewalt entmachtet und
ermordet wird. Viel subtiler, menschlicher und auch effektiver ist es,
ihm mit den Mitteln des Wortes sein aHeiniges Recht auf die Sprache zu
nehmen und ihn möglicherweise dadurch zum Schweigen zu bringen,
daß man ihn widerlegt. In einer demokratischen O'rdnung - und sie war
für die alten Griechen die ideale Staatsform - ist es in erster Linie das
Wort, wodurch Politik in die Tat umgesetzt und verteidigt wird, wo-
durch dem Volk bestimmte politische Beschlüsse abgenötigt werden.
Die ,rhetorike techne' und die ,arete politike' waren daher eng miteinan-
der verwoben.
Auch die Geschichtsschreibung hatte im Altertum eine politische
Aufgabe. Thukydides, ein Schüler von Gorgias, der mit großem stilisti-
schem und rhetorischem Geschick den Peloponnesischen Krieg be-
schrieben hat, ging es um die Verteidigung erworbener Rechte und die
Sicherung geistiger wie materieller Eigentümer und Territorien. Durch
seine Schriften übte der Historiker auf die Staatsführung und Politik
seiner Zeit Macht aus. Kallisthenes soll für sich in Anspruch genommen
haben, daß er durch die Macht seiner Worte das Schicksal Alexanders
des Großen und seiner Taten für die kommenden Generationen in der
Hand hatte. Er war überzeugt, durch sein Wort die Zukunft bestimmen
zu können.
Wort und Rede besaßen großen Einfluß in Rechtsprechung und
Politik. Aber damit sind wir noch nicht bis zur tiefsten Schicht vorgesto~
ßen. Da ist nämlich noch mehr. Die Wortführer schlechthin waren die
Dichter und Sänger. Sie waren es, die durch ihren Lobgesang d,en
Glauben an die Götter und Helden wachhielten. Sie waren es, die durch
ihr Wort das ganze Gefüge von Werten, von Sinn und Unsinn, von Gut
und Böse, von Ruhm und Tadel bewahrten, weitergaben - ja ermöglich-
ten. In ihren Worten war das ganze Wissen des Menschen über die
Vergangenheit anwesend, und alles, was das Herz des Menschen bewegt,
brachten sie zur Sprache. Der Dichter hatte die Aufgabe, einen Lobg,e-
sang auf Götter und Menschen, Dinge und Geschehnisse zu sing,en, um
sie dadurch der Vergessenhemt zu entrücken. Es war der Auftrag des
Dichters zu nennen oder einen Namen zu geben, zu rühmen oder den

23
Ruhm an dessen zu verkündigen, was ist. Dieses Nennen und Rühmen
blieb nicht ohne Auswirkung. Denn dadurch konnten die Dinge auf-
leuchten, erscheinen, schimmern, Glanz und Farbe erhalten (doxa). Der
Mensch konnte der Anonymität des namenlosen Nichts entrissen wer-
den, um berühmt oder gar berüchtigt zu werden. Für die Griechen
waren der Name, der gute oder schlechte Rut Ehre oder Schande nichts
Nebensächliches. Der Name ers·chloß den begrenzten Raum, in dem der
Mensch sein Dasein verwirklichen konnte und mußte. Der Leumund
war einer der Götter, die am wenigsten greifbar waren und am meisten
gefürchtet wurden.
Dazu kam die außergewöhnliche Macht des Schicksals, das die Grie-
ehen ebenfalls ,logos" die Römer ,fatum' nannten. Es ist dasjenige, was
über den Menschen gesagt ist. Es ist die Legende, die über einen
Menschen die Runde macht, die seiner Geburt vorausgeht und seinen
Tod überlebt. Dieses Schicksal oder der dem Menschen zugemessene
Teil ist das abgesteckte Feld, in dem der Mensch - ob er will oder nicht-
am Leben teilhat.
Immer wieder findet man bei den Griechen Lobreden auf den Logos,
und dieses Wort kann u. a. "Sprache" und "Rede" bedeuten. In seiner
Lobrede auf Helena (§ 8) schreibt Gorgias:,.,Der logos ist der große
Herrscher (dynastes). Die Rede vollbringt mit den geringsten und nich-
tigsten Mitteln die wunderbarsten und göttlichsten Werke. Sie vermag
nämlich die Furcht und die Angst zu vertreiben, Verdruß und Unlust zu
überwinden; sie vermag Freude und Glück zu stiften und Mitleid zu
wecken." Isokrates glaubt sogar, daß, das Wort Herr und Meister
(hegemon) aB dessen sem, was wir tun und denken (Nicocles, § 5-9). Das
Bewußtsein, mit Hilfe des Wortes alles zu vermögen, beherrscht das
Altertum in einer für uns zuweilen nur schwer verständlichen Weise.
Die Sophist.en - namentlich Gorgias, Prodikos und Protagoras -
müssen auf dem Hintergrund der Vorstellung gesehen werden, daß Wort
und Rede, daß Wortführer, Politiker und Redner, Dichter und Säng,er
Macht besitzen. Die Sophisten entstammen überdies der rhetorischen
Tradition und haben auch einen wichtigen Beitrag dazu geliefert. Sophist
und Rhetor sind - wie man bei Platon liest - dasselbe oder unterscheiden
sich zumindest kaum voneinander (Gorgias, 520 a).

24
Die Sophisten waren sich der Macht der Sprache durchaus bewußt. Sie
waren überzeugt, daß uns D'inge und Menschen so erscheinen, wie sie
von den offiziellen Wortführern dargestellt werden. Das Seiende ist nach
ihnen in der Weise für den Menschen unverborgen, wie es durch die
Vorredner in die Unverborgenheit gerückt wird. Die Sophisten gingen
davon aus, daß der Mensch von einem Ganzen von Überzeugungen
durchdrungen und umgeben wird. Diese bestehen sowohl in den er-
scheinenden Dingen (doxa) als auch in den ,subjektiven' Glaubensmei-
nungen (pistis). Die Dinge erscheinen kraft des Wortes, die Glaubens-
meinungen sind das Resultat des Überzeugens (peitho). Diese Gesamt-
heit von Überzeugungen erweist sich prinzipiell als veränderlich und
beeinflußbar. Zum Verändern und Beeinflussen ist eine bestimmte Praxis
vonnöten: diejenige des überzeugenden und persuasiven Sprechens. SoU
diese Praxis wirkungsvoll sein, sind Meisterschaft im Umgang mit dem
Wort und vollkommene Beherrschung der Sprache erforderlich. Wer sie
besitzt, ist Herr und Meister der Wahrheit.
Kehren wir nun zu Platon zurück. Wir sahen, daß er im Gorgias und
im Phaidros eine ablehnende Haltung gegenüber der Rhetorik angenom-
men hatte. In seinem Kampf gegen sie hatte er vor allem die Sophisten
und - bis zu einem gewissen Grad - auch die Dichter vor Augen.
Übrigens tritt Phton in beinahe allen seinen Dialogen in eine polemische
Diskussion mit den Sophisten ein, die die bedeutendsten Philosophen
seiner Zeit waren. Rhetorik und Sophistik sind stets wiederkehrende
Themen in Platons Denken, man kann sogar sagen, daß die Platonische
Philosophie aus der polemischen Auseinandersetzung mit dem Rhetor
und dem Sophisten hervorgegangen ist.
Waren sich die Sophisten der Macht des Wortes bewußt, so ist sich
Platon über die grundsätzliche Ambivalenz des Wortes im klaren. Das
Wort kann den Menschen führen, aber auch verführen und in die Irre
leiten. Eine gute Rede kann dem Menschen zwar eine Reihe von mehr
oder weniger festen Überzeugungen zum Bewußtsein bringen, sie ver-
mag sogar einen gemeinschaftlichen Standpunkt oder tatsächlichen Kon-
sens zu bewerkstelligen, aber sie gibt kein Kriterium an die Hand, um zu
entscheiden, ob diese Überzeugungen richtig sind, um festzusteUen, ob
der tatsächliche Konsens auf einer allgemeinen Wahrheit beruht oder

25
nicht. Das Wort des Redners richtet sich nach PIaton nur auf das Wahr-
scheinliche, das - positiv gesehen - in demjenigen bestehen kann,. was
möglicherweise wahr ist. Negativ gesehen macht es dasjenige aus, was
nur einen Schein von Wahrheit besitzt, was in der Tat das Gegenteil der
Wahrheit ist: das Illusionäre.
Platon ist sich auch bewußt, daß das Wort des Dichters dem Gesang
der Sirenen ähnelt. Es zeichnet sich durch eine große Anziehungskraft
aus, der man sich, wie O'dysseus, nur durch eine List entziehen kann.
Die Rhetorik ist, wie Plutarch später sagt, eine ,techne alypias' (Vita X
ürat., 1), d. h. eine Fertigkeit, allem Übel und Elend seinen Verdruß zu
nehmen, alles Leid und Unrecht zu verschleiern und zu beschönigen .
Durch den Dichter und in der Literatur soll dem Menschen eine
imaginäre und illusionäre Welt vorgestellt werden, in der er sich sicher
weiß. Ebenso wie das Getränk kann das Dichterwort eine Art Verges-
senheit bewirken. Es kann den Menschen einschläfern und ihn beruhi-
gen, indem es die harte Wirklichkeit verschleiert und verbirgt.
Platon hat nicht zuletzt eine klare VorsteHung von der tyrannischen
Macht des Redners,. dessen Wort prinzipiell und von Grund auf gewalt-
tätig ist. Philosophen wie Platon stehen der Gewalt und allen Machtver-
hältnissen äußerst kritisch gegenüber und scheuen davor zurück. Das
platonische Ideal des Philosophierens besteht u. a. darin, die tatsächli-
chen Machtverhältnisse zu entlarven.
Aufgrund der Ambivalenz, des verbergenden Charakters und der
Gewalttätigkeit des Wortes hat sich Platon vom geschriebenen Wort,
vom Monolog des Redners und vom einsamen Dichterwort abgekehrt
und sich dem dialogischen Wort des Gesprächs zugewandt. Die Ge-
sprächspartner müssen danach trachten, auf ein innerliches Wort zu
hören und ihm als dem Bindenden und Befehlenden im Gespräch Gehör
zu schenken. Man muß der Stimme des ,daimonion' gehorchen. Platon
sucht außerdem nach einem Kriterium, um zwischen einem wahren und
einem unwahren Wort unterscheiden zu können. Dies zieht schließlich
die Scheidung der Ordnung des Sinnlichen von der des Intelligiblen nach
sich. Die erstere ist die Welt des Erscheinens, des Sich-Zeigens, der
Doxa und des Physischen. Die letztere ist die Welt des wahren S.eins, des
Ideellen und des Wesens, der episteme und der Metaphysik. Mit dieser

26
Hinwendung zu dem inneren Wort und der dazugehörigen Verinnerli-
chung, mit der Unterscheidung zwischen dem Erscheinen und dem Sein
ist die westliche Metaphysik geboren. Die Wirklichkeit, die ihr zu-
grunde liegt, steht ~osgelöst (absolviert) vom Wort und von dem Spre-
chen über diese Wirklichkeit. Es handelt sich daher um eine absolute
Wirklichkeit.
Die Folgen all dessen sind beträchtlich und selbst heutzutage noch
nicht vollständig zu übersehen. Worum handelt es sich im einzelnen?
Bleibt man im Gebiet der Philosophie und der Wissenschaft, das Platon
zugänglich macht,. so kann man sagen, daß er die Macht der Rhetorik
gebrochen hat. Alles, was von Rednern, Dichtern, religiösen und weltli-
chen Machthabern behauptet wird, bleibt im Bereich des Wahrscheinli-
chen . Es ist doxa, Tradition, Vorurteil, Ideologie oder bleibt zumindest
unsicher und unterliegt Zweifeln. In Philosophie und Wissenschaft aber
müssen alle Behauptungen auf die eine oder andere Weise kritisch
verantwortet und begründet werden.
Platons Zurückweisung der Rhetorik hatte demnach auch zur Folge"
daß man ihr in der Philosophie fast keine Aufmerksamkeit geschenkt
hat. Es gibt natürlich Ausnahmen, um gleich mit Aristoteles anzufan-
gen, der eine Abhandlung über die Rhetorik geschrieben hat. Im allge-
meinen haben die Philosophen ;edoch wenig Wertschätzung für sie
aufgebracht. Für die subtilere und verborgene Rhetorik, die vielleicht
jedem philosophischen Text eigen ist, hatte man ohnehin kaum einen
Blick. Wie schon der Redner Cicero bemerkt, erweist sich Platon in der
Widerlegung des Gorgias und der Rhetorik als ein ausgezeichneter
Rhetor (De Or. I. 47). Offensichtlich hat Platon den Streit gewonnen.
Kraft seiner Worte war er imstande, seine Auffassung von Philosophie
durchzusetzen. In der Philosophie hat man der Sprache in der Folge
wenig oder überhaupt keine Aufmerksamkeit geschenkt. Stilistisch gese-
hen kann man sagen, daß die Philosophen im allgemeinen einen erbärm-
lichen Stil schreiben. Thematmsch gesehen stand die Sprache meist nicht
im Mittelpunkt des Interesses.
Platons Polemik gegen die Sophisten und Rhetoren hatte überdies zur
Folge, daß so etwas wie Metaphysik entstehen konnte, wohlgemerkt
eine Metaphysik mit ontotheologischer Struktur. Sie ist ein riesiges

27
Bauwerk, an dem zahlreiche Philosophen nach Platon stetig gearbeitet
haben. Heutzutage droht es auf allen Seiten einzustürzen. Strukturell ist
diese Einsturzgefahr an die radikale Besinnung auf die Sprache und an
die allerorts wahrnehmbare Rehabilitierung der Rhetorik gebunden.
Cicero gibt zu Platons Polemik gegen die Rhetorik den nachfolgenden
Kommentar ab, der aus verschiedenen Gründen eine gewisse Aktualität
besitzt. Er schreibt über die Geschichte des alten Griechenland: "Aber
wie es manche gab, und zwar nicht wenige, die im Staate durch die
zwiefache Weisheit des Hancldns und des Redens, die sich nicht vonein-
ander trennen läßt, hervorglänzten, wie Themistokles, Perikles, Thera-
menes,. oder die zwar selbst nicht an Staatsgeschäften teilnahmen, aber
doch Lehrer der Staatsweisheit waren, wie Gorgias, Thrasymachus,
Isokrates: so fanden sich dagegen auch Männer,. die,. obwohl mit Gelehr-
samkeit und Geistesgaben reichlich ausgestattet, doch aus Grundsatz
sich des Staatswesens und der öffentlichen Geschäfte enthielten und
diese Redeübung,en verspotteten und verachteten. Unter diesen war
Sokrates die Hauptperson, er, der nach dem Zeugnisse aller Gelehrten
und dem Urteile von ganz Griechenland, an Einsicht, Scharfsinn, Ge-
schmack und Feinheit, sowie auch an Beredsamkeit (eloquentia), Vielsei-
tigkeit und Fülle, er mochte nun bei einer Untersuchung eine Seite
verteidigen, welche er wollte, leicht alle übertraf .... Hieraus entsprang,
um mich so auszudrücken, die Trennung (discidium) der lingua (d,em
äußeren und materiellen Wort des Rhetoren) vom cor (dem inneren Wort
des Herzens oder der eigentlichen Bedeutung), die wahrlich ungereimt,
schädlich und tadelnswert ist und bewirkt hat, daß andere uns die
Weisheit, andere uns das Reden lehrten." (De Or. III, 16, 59-61)
Ciceros Kommentar ist aus verschiedenen Gründen sehr interessant:
Zunächst wegen der Trennung von Philosophie und Politik, die Platon
von Cicero und später von den italienischen Humanisten vorgeworfen
wird; sodann wegen der Unt,erscheidung zwischen dem äußeren, sinnli-
chen und dem inneren, intelligiblen Wort, zwischen der Sprache und
dem Denken" zwischen dem Wort des Rhetoren und dem Wort des
Philosophen, oder, übersetzt in de Saussures Terminologie, zwischen
Signifiant und Signifie. Diese Unterscheidung wird von Cicero und
vielen anderen nach ihm - besonders heute - zurückgewiesen. Leugnet

28
man diese Differenz, heginnt auch die (platonische) Metaphysik zu
wanken.
Außerhalb der Welt der Philosophie - die Wörter ,innerhalb' und
,außerhalb' sind natürlich problematisch - hat Platon den Streit jedoch
keineswegs für sich entschieden. H.1. Marrou schreibt in seiner Ge-
schichte der Erziehung im klassischen Altertum: "Geschichtlich gesehen,
ist Platon unterlegen. Es ist ihm nicht gelungen, bei der Nachweh mit
seinem Erziehungsideal durchzudringen. Im großen und ganzen hat
Isokrates gesiegt,. er ist der Erzieher Griechenlands, dann der ganzen
antiken Welt geworden. Dieser Erfolg ist schon im Zeitaher der beiden
großen Meister spürbar. Er macht sich von Generation zu Generation
immer deutlicher bemerkbar. Die Rhetorik ist der eigentliche Gegen-
stand des griechischen Hochschulunterrichts, der hohen Bildung geblie-
ben. 'e (S. 288) In der Schule des Isokrates, die in der Nähe der platoni-
schen Akademie gelegen war, lernte man vorzutragen und in der Öffent-
lichkeit zu sprechen, man lernte rechtschaffen zu denken, zu sprechen
und zu leben. Man lernte, gut und überzeugend über alles zu sprechen,
was zur Sprache gebracht werden konnte, auch über philosophische
Probleme. Die Philosophie war der Rhetorik jedoch untergeordnet .
Dieser Schule entstammen viele große Männer, die eine wichtige Rolle
im politischen und gesellschaftlichen Leben spielen sollten. Sie haben die
rhetorische Tradition der Griechen fortgesetzt und nach Rom weiterge~
tragen. Aus dieser Tradition sind die großen klassischen Autoren wie
Cicero, Ovid, Livius und Vergil hervorgegangen. Auch die Kirchenvä-
ter, die außer großen Theologen und Gläubigen auch große Redner und
Prediger waren, wurden fast alle von der rhetorischen Tradition geprägt.
Sie wußten, daß der Glaube eine Frage des Überzeugtseins ist und daß
dieser Glaube durch überzeugendes, überredendes Sprechen verkündigt
werden mußte. Der Glaube besteht allein dank seiner Verkündigung. In
der italienischen Renaissance wird die rhetorische Tradition wieder
aufgenommen. Um 1590 wird die Rhetorik von den Jesuit,en sogar zum
Hauptfach im Gymnasialunterricht gemacht. Erst als später mit Francis
Bacon und Rene Descartes eine ,neue Wissenschaft' aus der Taufe
gehoben wird, wird die Rhetorik immer weiter zurückgedrängt. In der
zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts verschwindet sie fast

29
gänzlich aus dem Erziehungswesen. Heutzutage aber, wo die persuasive
Kommunikation Triumphe feiert und die radikale Besinnung auf die
Sprache einen besonderen Platz einnimmt, ist eine gewisse Rehabilitie-
rung der Rhetorik wahrzunehmen. Als persuasive Technik, als kritische
Disziplin, um Texte zu analysieren und ihren verborgenen, persuasiven
Charakter ans Licht zu bringen, gewinnt sie erneut an Interesse.

30
111. Isokrates und die Macht des Logos

In den Werken der griechischen Redner und Sophisten begegnet man


wiederholt Lobreden auf die Macht des Logos. Das Wort "logos" kann
viele verschiedene Bedeutungen annehmen. In der Lobrede der Sophi-
sten und Redner bedeutet es vor allem dergleichen wie Sprache und
Wort, eine Kette oder ein Gewebe aus Worten, Text, Erzählung, Erörte-
rung, Rede oder Ansprache. Eine sehr bekannte Lobrede auf den Logos
ist bei Isokrates in seinem Werk Nicocles nachzulesen. Sie hat bei vielen
späteren Schriftstellern Anklang gefunden und wurde immer wieder auf-
genommen. Um ihrer Bedeutung willen und weil sie zu zahlreichen Be-
denken Anlaß geben kann,. zitieren wir Isokrates an dieser Stelle aus-
führlich. Er schreibt: "Durch das Übrige nämlich, was wir besitzen,
zeichnen wir uns vor den anderen Geschöpfen nicht aus, sondern steh,en
vielen in Rücksicht auf Geschwindigkeit und Stärke und die übrigen
Eigenschaften nach, weil uns aber (die Gabe) geworden ist, einander zu
überreden, und uns selbst aufzuklären, worüber wir nur wollen, so
haben wir nicht nur aufgehört nach der Art der Tiere zu leben, sondern
auch durch Zusammentreten Städte gegründet, und uns Gesetze gege-
ben, und Künste erfunden, und beinahe alles, was durch uns mit
Klugheit und Kunst zustande gebracht wurde, hat uns die Sprache
ausführen helfen. Denn sie hat über das,. was gerecht und ungerecht, was
schimpflich und edel ist, Gesetze gegeben, Bestimmungen, ohne welche
wir nicht imstande wären beisammen zu wohnen; mit ihr weisen wir die
Schlechten zurecht und preisen die Guten; durch sie unterrichten wir die
Unverständigen und erproben die Klugen; denn zu sprechen wie man
soll, halten wir für das beste Zeichen des richtigen Denkens, und eine
wahre und gesetzliche und gerechte Sprache ist ein Spiegel eines guten
und treuen Herzens; mit ihr streiten wir über das Zweifelhafte und
untersuchen das Unbekannte; denn dieselben Beweismittel, mit welchen
wir andere beim Reden überzeugen, gebrauchen wir auch beim Überle-
gen,. und beredt nennen wir die, welche vor der Menge sprechen

31
können,. für wohlüberlegend aber halten wir die, welche über die Dinge
am besten mit sich selbst sich besprechen. Wenn man kurz über dieses
Vermögen sprechen soll, so werden wir finden, daß nichts, was mit
Überlegung getan wird,. ohne die Sprache geschieht, sondern daß die
Sprache allen Handlungen und Gedanken zu Grunde liegt, und daß
diejenigen sich am meisten bedienen, welche am meisten Verstand
haben." Isokrates fügt hinzu: "Daher sind diejenigen, welche von
denen, die sich mit dem Unterrichte und dem Studium der Beredsamkeit
befassen, nachteilig zu reden sich erdreisten, ebenso verabscheuenswert,.
als die, welche sich an den Tempeln der Götter vergreifen." (Nicocles,
5-9) Beides ist Blasphemie.
Der Text spricht für sich selbst; um aber seine wirkliche Tragweit,e zu
erfassen,. ist es ratsam, bei verschiedenen Punkten etwas 'länger zu
verweilen. Für Isokrates ist das Vermögen zu sprechen oder das Verfü-
gen über den Logos dasjenige Merkmal, das den Menschen vom Tier
unterscheidet,. das ihn über das Tier erhebt. Man erkennt darin sehr
leicht die klassische Definition des Menschen wieder. Er ist ein "zoon
logon echon ce, ein Lebewesen, das im Besitz des Logos ist. Im Lateini-
schen wird dies mit "anima! rationale" wiedergegeben, im Deutschen
mit ".vernünftiges Wesen". Mit dieser Übersetzung hat sich eine rätsel-
hafte Verschiebung von Logos im Sinne von Sprache zu Logos im Sinne
von Vernunft vollzogen. Wir werden darauf noch zurückkommen, zu-
nächst aber muß man sich vor Augen führen, daß auch das Wort ,ratio'
noch eine Verbundenheit mit ,oratio' ausdrückt. Sie wird von Isokrates
dadurch zur Sprache gebracht, daß er im Wort sowohl ein Anzeichen als
auch eine Bedingung des Verstandes sieht.
Für Isokrates ist die Sprache zugleich die notwendige Voraussetzung
und die Grundlage menschlicher Kommunikation. Sie ermöglicht es den
Menschen zusammenzuleben,. Städte zu bauen und ,eine Kultur zu
stiften, um mitemnand.er in Diskussion zu treten und im Dialog Zu
stehen. Kommunikation wird als ein wechselseitiger Austausch von
Überzeugungen verstanden. Dies geschieht u. a. im Unterricht, in der
Ausübung und Weitergabe der Wissenschaft und dadurch, daß man
einander zu erkennen gibt, was man auf dem Herzen hat, was man denkt
und weiß, was man fühlt und will. Gemeinschaftlichkeit bedeutet, in

32
einem System von annähernd gleichen Auffassungen zusammenzu-
leben.
Das Wort bringt aber auch ein System von Unterschieden und Unter-
scheidungen zustande. Durch das Wort unterscheidet sich der Mensch
vom Tier. Durch das Wort entstehen Unterschiede unter den Menschen.
Es gibt einen Unterschied zwischen verständig und unverständig, richtig
und unrichtig, Recht und Unrecht, gut und böse,. Ehre und Schande,
gutem und schlechtem Ruf. Ohne ein derartiges System von Unterschei-
dungen wäre ein Zusammenleben von Menschen unmöglich, ohne der-
artige Unterschiede würde für den Menschen alles gleichgültig. Ohne
das Wort gäbe es keine menschlichen Beziehungen, keinen Bezug aufein-
ander, keine Freundschaft und keine Spannung. Es gäbe weder Stadt
noch Staat, keine Politik, kein Recht und keine Rechtsprechung, keine
Gesetze und keine Gesetzgebung, keine Beurteilung und keine Verurtei-
lung, weder Unterricht noch Wissenschaft, weder Literatur noch Phi-
losophie und endlich auch keine Lobrede auf den Logos. DafaJus ergibt
sich, daß die Sprache für die philosophische Reflexion niemals bloß ein
Gegenstand unter vielen anderen sein kann. Sie ist vielmehr eine tran-
szendentale Bedingung der Möglichkeit jeder Philosophie.
Bei Isokrates lesen wir schließlich, daß der Logos alles, was wir tun
und denken, ,leitet'. Im Griechischen steht an dieser Stelle das Wort
,hegemon c• Es bedeutet soviel wie Anführer, Fürst, Bahnbrecher, Füh-
rer, ,princeps' oder Prinzip. Der Logos ist der ,hegemon' unserer Taten,
unserer Arbeit und ihrer Ergebnisse, er ist der Führer dessen, was wir
erwägen, sowohl unseres Denkens als auch seines Resultates, des Ge-
dankens. Ein Redner ist j1emand, der aufgrund mannigfacher Studien
und langjähriger Übung eine vollkomm,ene Meisterschaft über den Lo-
gos gewonnen hat, der semne Sprache perfekt beherrscht. Vermöge
dessen ist er ein kompet,enter und mächtiger Mann.
Diese Hegemonie des Logos wurde in der Geschichte der Philosophie
mehr und mehr als eine Hegemonie der ,ratio' oder der Vernunft
interpretiert. Die Lobrede auf die Macht des Wortes wurde allmählich
zu einer Lobrede auf die Macht der Vernunft. So schreibt J. Locke in
seinem Ess,ay Concerning Human Understanding (lU, 10,34): "Reason
must be our last guide and judge in everything. ((

33
Die Worte ,judge' und ,guide' können als eine Übersetzung des
griechischen ,hegemon' angesehen werden. Kant wurde seiner Loblieder
auf die Autonomie der Vernunft und auf die Vernünftigkeit nicht müde.
Hegd vermerkt in seinem Buch über Die Vernunft in der Geschichte, daß
wir entdecken müssen, "daß die Vernunft die Weh beherrscht, daß es
also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist" (5.28). Für
Hege! ist die Vernunft eine allgewaltige Notwendigkeit, die sich mit
Hilfe von allerlei Listen und Kunstgriffen unwiderruflich und unerbitt-
lich durchsetzen und verwirklichen soll. Man kann hier übrigens bemer-
ken, daß die Wörter "Macht", "List" und vielleicht sogar "verwirkli-
ehen" aus der Rhetorik entlehnt sind.
Was schließlich dazu beigetragen hat, daß sich dieser Bedeutungswan-
del von Logos im Sinne von Rede oder Darlegung zu Logos im Sinne
von Redlichkeit oder Vernunft vollziehen konnte, ist ein ebenso kompli-
ziertes wie fesselndes Problem. Faktoren, die diese Verschiebung mitbe-
stimmt haben, sind zweifellos Platons feindselige und abweisende Hal-
tung gegenüber der Rhetorik, die verschiedenen Bedeutungen, die das
Wort Logos von altersher haben kann, und der theologische Rahmen, in
dem das Problem des Logos gesteHt werden soHte. Platon wendet sich
von der schriftlichen Erörterung, vom Monolog des Redners, von der
monologischen Poesie und Mythologie, vom magischen Wort und von
der Religion ab und zum Dialog hin, um darin auf das innerliche WOrt
zu hören, das verpflichtet und befiehlt. Diese Abkehr vom materiellen,
les- und hörbaren Wort, diese Hinwendung an das innerliche,geistige
Wort ist auch aufgrund der Tatsache möglich, daß Logos bei den
Griechen viele Bedeutungen haben kann. Neben Darlegung oder WOrt
kann es auch Zahl, Rechnung, Abrechnung, Aufzählung, Ordnung,
Zusammenhang und anderes mehr bedeuten. Die Wendung ,logon dido-
c
nai , die man auch bei Platon findet, heißt dann soviel wie, vor anderen
wie vor sich selbst Rechenscha.ft ablegen oder mit etwas rechnen.
,Legein' bedeutet neben erzählen .auch (auf)zählen. Überdies kann das
Wort ,logos' stets in einem doppelten Sinne gebraucht werden: es
bezeichnet sowohl die Rede als auch das, wovon die Rede handelt,
sowohl die Erzählung als auch das, was erzählt wird. Es kann Satz oder
Sinn ,einer Äußerung bedeuten.

34
Unter dem innerlichen und geistigen Wort wurde in der Geschichte
auch das göttliche Wort verstanden. Das göttliche Wort kann, wie zum
Beispiel in der Stoa, sowohl das göttliche Gesetz als auch· das Schicksal
sein. Dieses göttliche Ges·etz ist die unerbittliche und unwiderrufliche
Weltordnung, die nach göttlichem Ratschluß angeordnet worden ist. So
spricht Chrysipp vom "Logos, demgemäß das Gewordene geworden ist,
das Werdende wird und das Künftige sein soll", vom Logos als dem
"vernünftigen Gesetz, durch das alles in der Welt Gestalt annimmt"
(von Arnim,. Stoicorum Veterum Fragmenta~ 9'13). Hier gewinnt na-
mentlich die Dimension der Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit an
Bedeutung.
Das göttliche Wort kann auch, wie es die frühchristliche Theologie
tat, als persönlicher und schaffender Gedanke Gottes angesehen werden.
Unter diesem Gesichtspunkt soll der Logos schließlich als letzter Grund
von allem, was ist, verstanden werden - als ratio essendi. Leibniz will
Notwendigkeit und Schöpfung schließlich in ein System göttlicher Be-
rechnung integrieren.
Außer als ewige Notwendigkeit und begründendes Prinzip faßte man
den Logos auch auf als das menschliche Vermögen - ratio oder Vernunft
- zu denken, Gesetzmäßigkeit zu entdecken, Wirklichkeit zu begrün-
den, den Zusammenhang aBer Dinge zu erkennen und jede Behauptung
kritisch zu verantworten.
ABe diese verschiedenen Dimensionen des Logos nahm Hege] in seine
Wissenschaft der Logik auf, die den Abschluß einer langen Entwicklung
bildet. Die Hegeische Logik fällt gänzlich mit jener Metaphysik zusam-
men, die erst durch Platons ablehnende Haltung gegenüber der Rhetorik
möglich wurde . Sie stellt den Endpunkt einer langen Geschichte dar.
Mit Hegel haben wir uns weit von der Problematik des Isokrates
entfernt,. der in seiner Lobrede auf die Hegemonie des Logos über das
gesprochene und geschriebene Wort, über die Rede und das Gespräch
handelt. Seine Ausführungen sind gewiß nicht platonisch, vielmehr
fügen sie sich ganz in den Rahmen des sophistischen Denkens ein.
Isokrat·es bringt ein Sprachverständnis zum Ausdruck, das bei zahlrei-
chen griechischen Dichtern und Denkern lebendig ist, von denen Platon
sich absetzt. Auch bei diesen Vor-, oder besser, Nicht-Platonikern ist

35
vom ,.Logos des Menschen" vom ,Logos Gottes' und vom ,Logos der
Welt' die Rede. Was aber verstehen sie darunter?
CL Ramnoux kommt in ihren Etudes pr,esocratiques aufgrund einer
Analyse vieler Texte zu folgendem Ergebnis: Der Logos des Menschen ist
in erster Linie das Orakel,. das über einen Menschen gesprochen ist. Es
konkretisiert sich im Namen, den sich der Mensch niemals selbst gibt,
sondern der ihm gegeben wird. Dieser Name ist an das, was über den
Menschen erzählt wird. Es ist seine Lebensgeschichte oder die Legende,
die über ihn schon vor seiner Geburt die Runde machte und die seinen
Tod überlebt. Dieser Name kann ein gutes oder ein böses Omen sein,
Ruhm oder Tadel einbringen. Anstelle von ,logos' spricht man auch von
,kleos', d. h. Ruhm oder Ruf. ,En logoi' sein bedeutet soviel wie ,ge-
schätzt werden' oder ,mitreden dürfen'. Der Name, die Legende oder
die Erzählung erschließen den beschränkten Raum, in dem ein Mensch
als solcher sein Dasein vollziehen kann un.cl muß. Es ist der ihm zuge-
messene Teil. Er verleiht ihm seine Ordnung und Gestalt, seine Identität
und Selbständigkeit, seine Anwesenheit in der Welt. Die Unvereinbar-
keit sich widersprechender Erzählungen über ein und denselben Men-
sehen macht das Wesen der tragischen Existenz aus, wie sie in den grie-
chischen Tragödien zum Ausdruck kommt. Diese Erzählung über den
Menschen wird von Sängern und Dichtern, den öffentlichen Wortfüh-
rern, vorgetragen. Ihre Worte bleiben nicht ohne Wirkung, denn sie
stiften oder vereiteln Identität, Selbständigkeit und Anwesenheit. Sie
sind keinesfalls Ausdruck bloßer Willkür. Man muß öffentlich aner-
kannt, benannt und aufgerufen sein, um als Wortführer auftreten zu
können. All das gehört zum Logos des Dichters. Man muß sich ü.berdies
in eine Tradition fügen und zuerst darauf hören, was die Musen den
Dichtern zu sagen aufgeben .
Ähnliches kann man vom Logos Gottes sag,en. Er ist der Name Gottes,
das, was über die Götter erzählt wird. Er ist die Herrlichkeit, die Glorie,
der Glanz und der Ruhm d,er Götter. Dies alles besteht dank ihrer
Verherrlichung, des Lobgesangs, der Lobrede, dank der Verkündigung
ihrer Taten. 'Öffentliche Wortführer wurden zu diesem Zweck angestellt.
Was hier über die Götter der Griechen gesagt wurde, gilt zum Teil auch
von dem Gott der jüdisch-christlichen Üherlieferung. Auch hier ist

36
Gottes Logos sein Name und seine Glorie. Er ist die Offenbarung. In
der christlichen Gemeinde wird zu seinem Lob gesungen, wird von
seinen wunderbaren Werken erzählt.
Der Logos der Welt ist die Geschichte, die über die Welt erzählt wird .
Er besteht in all den Reden, die über sie geführt werden, in dem Netz
von Worten, die über die Dinge ausgebreitet liegen, oder in dem System
von Interpretationen, die allem, das ist, gegeben werden.
Diese Vorstellung des Logos und das Problem der Macht des Wortes
überhaupt muß man vor Augen haben,. will man begreifen, welchen
Stellenwert die Rhetorik in Griechenland besaß, will man begreifen, wo-
gegen Platon sich absetzte, wovon er sich zu lösen trachtete. Diese fun-
damentale Doppeldeutigkeit des Wortes macht die Suche nach einem
Kriterium nötig, um zu entscheiden, ob das, was wahr ist oder nicht, die
Rede oder das Wort ist .
Wie steht es nun um die Wahrheit? In welcher Weise wird das Problem
der Wahrheit gestellt? Seit der Zeit Platons bis in unsere Tage haben
Philosophen immer wieder und mit vielen Nuancen behauptet, daß alles,
was von Dichtern und Schriftstellern, Rednern und Propheten, Macht-
habern und Wortführern wie auch immer über den Menschen, die
Götter und die Welt gesagt wird, nicht mehr als doxa sein kann. Doxa
bezeichnet hier alle Arten von (Glaubens-)Überzeugungen, Ansichten,.
Meinungen, unkritischen Standpunkten, überlieferten Einsichten, Vor-
urteilen oder gar Formen des ideologischen Denkens. In diesen Fällen ist
das, was gesagt wird, zumindest unsicher; Zweifeln hält es nicht Stand.
Es führt leicht zum D'ogmatismus und stellt deshalb eine Gefahr für die
menschliche Freiheit dar. Der Philosoph nimmt eine grundsätzlich
skeptische Haltung ein und verlangt, daß alle Behauptungen verantwor-
tet,. fundiert, bewiesen, kritisch untersucht und entschieden werden.
Dieses Verantworten und Entscheiden gehört zur Grundstruktur des
philosophischen und wissenschaftlichen Sprechens. Dies ist übrigens
auch eine Frage des Stils, denn anhand stilistischer Merkmale können
philosophische und wissenschaftliche Texte von nicht-philosophischen
und nicht-wissenschaftlichen unterschieden werden. Zunächst, d. h.
strukturell gesehen, ist die Frage, auf welche Weise solches Verantwor-
ten, Begriinden, Beweisen und Entscheiden vonstatten geht, nicht von

37
Belang. Dieser Vorgang kann die unterschiedlichsten Formen annehmen
und ist in der Geschichte tatsächlich unter vielerlei Gestalten hervorge-
treten. Man hat versucht, Behauptungen durch erste Prinzipien, durch
Evidenz, Erfahrung, Vernunft, Logizität, Universalität, Generalisier-
barkeit und anderes mehr zu begründen. In der Vergangenheit wurde oft
und heftig darüber gestritten, welche dieser Begründungsformen recht-
mäßig sei. Dies ist noch heute der Fall. Alle Philosophien stimmen darin
überein, daß jede von ihnen prinzipielle Gültigkeit zu erlangen sucht.
Zusammenfassend kann man sagen, daß bei einer solchen O'ption die
nicht-philosophische und nicht-wissenschaftliche Rede zur doxa führt,
die philosophische und wissenschaftliche Rede dagegen durch den Ver-
such gekennzeichnet ist, zur episteme zu gelangen, d. h. zu einer all-
gemeingültigen und gesicherten Erkenntnis.
Doch dies ist nur eine Seite des Problems. Aus der Sicht der Rhetorik
stellt sich das Problem der Wahrheit ganz anders dar. Die Überzeugung
von der Hegemonie des Logos und die Verherrlichung der Rede in all
ihren verschiedenen Formen und Gestalten setzen auch eine andere
Auffassung von Philosophie und Wissenschaft voraus. Zur Verdeutli-
chung sei auf M. Heidegger verwiesen, der wiederholt von Logos und
Doxa spricht und der einem Sprach- und Wahrheitsverständnis an-
hängt, das in vieler Hinsicht eng an die vorplatonische, nicht-meta-
physische, rhetorische und sophistische Tradition der alten Griechen
anknüpft.
C
,Logos ist im Denken Heideggers ein Grundwort. Es deutet auf ein
ursprüngliches Geschehen hin: auf ein Entdecken und Verdecken,. auf
Entbergung und Verbergung, auf ein Enthüllen und Verhüllen, das sich
zuallererst im Sprechen vollzieht. Das Sprechen ist ein Ins-Werk-Setzen
der Wahrheit (Holzwege, S.50). Das Wort spricht die Wahrheit nicht
aus,. sondern stiftet Wahrheit. Es läßt die Dinge und die Menschen, die
Götter und die Welt in der Unverborgenheit anwesen. Das In-der-
Unverborgenheit-anwesen-Lassen oder Enthüllen ist gleichzeitig ein 1n-
die-Verborgenheit-Zurückdrängen oder Verhüllen. Dieses Ent- und Ver-
hüllen ist ein, einziges Geschehen. Das Sprechen ist nicht das eine Mal ein
EnthüBen und das andere Mal ein Verhüllen. Es ist als EnthüHung
wesentlich Verhüllung, als Verhüllung wesentlich Enthüllung. Darin

38
besteht das Geschehen der Wahrheit selbst. Das Enthüllen und Verhül-
len geschieht in einer doppelten Bewegung . Einerseits ist das Sprechen
Unterscheidung und Auseinandersetzung. Andererseits ist das Sprechen
Verbindung und Sammlung. Auseinandersetzung und Sammlung sind
Heideggersche Übersetzungen für das griechische Wort logos. Der Lo-
gos ist "in sich zumal ein Entbergen und Verbergen" (Vorträge und
Au/sätze, S. 221).
Das Sprechen als Sagen ist ein Zeigen, ein Sehen-Lassen und Zur-
Erscheinung-Bringen. Das Zeigen eröffnet den Raum, in dem ,etwas als
das,. was es in Wirklichkeit ist, anwesend sein kann. Es ist ein Nennen,
das enthüllt und erfahren läßt, das die Dinge zum Leuchten und Glänzen
bringt (Hölderlin, S. 188,41). "Der Name macht bekannt. Wer einen
Namen hat, ist weithin bekannt" (ebd.). Ohne Namen oder ohne das
Wort sinken alle Dinge, die Welt und auch das Ich in eine dunkle
Anonymität zurück, und man kann nicht einmal mehr sagen, daß sie
sind. "Im Wort, in der Sprache werd,en und sind erst die Dinge" (Ein-
führung in die Metaphysik, S. 11). ))'" daß ein Ding, das Wort,. einern
anderen Ding das Sein verschafft" (Unterwegs zur Sprache, S. 192).
Fast alles, was Heidegger über das Sagen und Nennen, über das
Sprechen und die Sprache äußert, ist in seinen Schriften über. die Dichter
nachzulesen, die seiner Ansicht nach die Sprache und das, was sich im
Sprechen und Hören, im Schreiben und Lesen zuträgt, .am ursprünglich-
sten erfahren. Die Sprache selbst ist Urpoesie, d. h. eine ursprüngliche
Stiftung des Seins, ein wirkliches Geschehen-Lassen der Wahrheit
(Holzwege, S. 61). Heidegger ist sich jedoch bewußt, daß in Philosophie
und Wissenschaft ein anderes Sprachverständnis arn Werk ist, das die
gesamte Platonische und nach-p~atonische Philosophie kennzeichnet. Es
hat sich nämlich ein Wandel vollzogen, und zwar eine ".Änderung des
Zeichens vom Zeigenden zum Bezeichnenden";. sie "beruht im Wandel
des Wesens der Wahrheit" (Unterwegs zur Sprache, S.245).
Wenn nun die Worte die Wahrheit stiften, so fragt man sich, wie ,es mit
der Doppeldeutigkeit des Wortes bestellt ist, derer sich Platon bewußt
war, und die ihn dazu brachte, sich von den Dichtern und Sophisten
abzuwenden. Heidegger, der die philosophische Tradition einschließlich
Platon gut kennt, muß auch für die grundsätzliche Schwierigkeit emp-

39
fänglich gewesen sein, die Platon und viele andere nach ihm zum
Ausdruck gebracht haben.
Heidegger hat darüber wohl gründlich nachgedacht. Er handelt sehr
ausführlich über die doxa, vor allem in der Einführung in die Metaphy-
sik. Dieses Werk macht es sich nicht so sehr zur Aufgabe, in die Meta-
physik einzuführen, als vielmehr aus ihr h,erauszuführen. Im Kapitel
Sein und Schein spielt Heidegger in einer für ihn charakteristischen
Weise mit den Wörtern "scheinen" und "erscheinen") glänzen, schim-
mern, zum Vorschein kommen,. ins Licht treten, Ansehen und An-
schein. Über die doxa sagt er, doxa stehe an erster Stelle nicht für eine
Art subjektives Überzeugtsein oder für eine subjektive Meinung. Es
hedeute vielmehr vor allem Glanz oder Schimmer, Ansehen, Ruhm,
Bekanntheit, Name,. Ruf, Ehre. Es habe auch mit Anschein und Anse-
hen (eidos) oder mit demjenigen zu tun, was von einem Menschen und
von einem Ding erscheint. Es kann auch die Meinung sein, die man über
sich selbst, den anderen und das andere hat. Diese Meinung wird auf der
Grundlage dessen gebildet, was von einem selbst und von anderen
(Menschen und Dingen) ans Licht tritt. Doxa wird von Heidegger mit
phainomai und physis in Zusammenhang gebracht. Es geht dabei stets
um das Erscheinen und Auftreten, Sich-Zeigen und Hervortun, 1ns-
Licht-Treten und Anwesendsein. Durch das Wort, vor allem des Dich-
ters und des Sängers, des Redners und des Wortführers., wird dieses
Erscheinen und In5-Licht-Treten bewirkt.P'indar hegreift in diesem
Sinne das Wesen der Poesie als ein Rühmen und versteht das Dichten als
ein Ins-Lieht-Stellen. Heidegger fügt hinzu: "Das. Rühmen, Ansehen
zuweisen und aufweisen, heißt griechisch: In5-Licht-Stellen und damit
5tändigkeit, Sein verschaffen. Ruhm ist für die Griechen nichts, was
einer dazu bekommt oder nicht; es ist die Weise des höchsten Seins."
(5. 78)
Deutlicher kann man kaum werden. Die Doxa der Menschen und Göt-
ter ist das Sein der Menschen und Götter selbst . Als ein In-die-Unverbor-
genheit-Gelangen ist sie ein wesentlicher Bestandteil der Wahrheit.
Doch muß man sich stets von neuem fragen, wie es unter diesen Voraus-
setzungen um die platonische (und philosophische) Schwierigkeit ange-
sichts der Doppeldeutigkeit des Wortes und des verführerischen und

40
täuschenden Charakters der Rede steht. Oder anders gesagt: Ruhm ist
vergänglich und oft fehl am Platze. Der Schein trügt, und das Wort
verbirgt und verhüllt oft mehr, als es enthüllt. Darüber hinaus kann man
sich fragen, ob a11 dies letzten Endes nicht zu völliger Willkür führt.
Können Dichter und Sänger nicht ohne weiteres - und zwar mit allen
Folgen - sagen, was sie wollen? Muß darum nicht ein deutlicher
Unterschied zwischen dem wahren und nicht-wahren, vielleicht sogar
zwischen dem gerechtfertigten und ungerechtfertigten Wort gemacht
werden? Heidegger antwortet auf diese Schwierigkeit im Anschluß an
die Tradition der alten Griechen. Es gibt keine Wahrheit und kein Recht
außerhalb des Logos. Ohne das Wort gibt es nur Finsternis, und nichts
tritt in Erscheinung. Ohne die Rede kann nichts unterschieden werden
und nichts hat Bedeutung oder Sinn. Außerhalb des Zeichensystems, das
die Sprache ist, gibt es nichts, das sich abheben und auszeichnen kann.
Weil dieser Logos keine Garantie für die Wahrheit und Gerechtigkeit ist,
geraten wir Menschen wesentlich in die Irre. Wir sind von Natur aus
"Irrende", und der Weg, den wir zurücklegen, ist vollends ein "Irrweg".
Es handelt sich dabei nicht um einen Irrtum im Sinne eines verkehrten
Weges; es geht nicht um einen Irrtum im Sinne eines Vergessens oder
einer unrichtigen Einsicht. Dies würde zumindest unterstellen, daß es
dennoch einen rechten Weg gäbe, daß außerhalb des Logos dennoch eine
wahre Welt bestünde. Es hedeutet vielmehr,. daß wir in nichts einen
endgültigen Halt besitzen, daß es nirgends eine letzte Instanz gibt, an
der wir uns festklammern könnten. Dies schließt jedoch keinesfalls ein,.
daß man einfach behaupten kann, was man will. Das Sprechen ist in
jedem Fall an strenge Regeln gebunden. Es muß den Gesetzen der
Grammatik und der Verstehbarkeit gehorchen. Darüber hinaus muß es
vor allem demjenigen Gehör schenken, was uns der Logos zu sagen hat
und zu sagen aufgibt. Von größerer Bedeutung ist jedoch, daß nur dann
von einem wahren Wort und ,einem wirklichen Sagen gesprochen werden
kann, wenn es eine Zukunft eröffnet, Perspektiven und Möglichkeiten
einräumt und Freiheit bewirkt. Das Sprechen und Sagen ist unwahr,
wenn es neue Wege verschließt und Unfreiheit oder Entfremdung zu-
stande bringt. Natürlich ist in diesem Zusammenhang die Dimension der
Zeit sehr wichtig . Denn man besitzt kein sicheres Kriterium, um zu

41
entscheiden, ob ein Wort oder eine Rede wahr ist oder nicht. In den
meisten Fällen findet sich nicht einmal ein unmittelbarer Hinweis dar-
auf, ob ein Wort etwas eröffnet oder verschließt. Allein die Zeit kann
dies entscheiden, sie allein bringt endgültig Rat.
Wir lassen offen, ob eine derartige Lösung vollauf befriedigt. Doch ist
wohl klar geworden, daß Heidegger einen strikt nicht-platonischen und
völlig nicht-metaphysischen Standpunkt vertritt. Vielleicht ist dieser
Standpunkt der einzige wirklich nicht-metaphysische und alle anderen
setzen auf die eine oder andere Art doch eine implizite Metaphysik
voraus. Gleichzeitig aber darf man nicht verkennen, daß sich Heidegg ers
Auffassung eng an das Sprachverständnis der ahen Griechen anschließ.t,
wie es u. a. auch in Isokrates' Lobrede auf die Macht des Logos Zum
Ausdruck kommt.

42
IV. Geschichte und System der griechischen
Rhetorik

Im Altertum wurde H omer gewöhnlich als der Vater der Rhetorik


angesehen. Fast die Hälfte der !lias und mehr als zwei Drittel der
Odyssee bestehen aus Reden, die von den auftretenden Personen gehal-
ten werden. Beinahe alle rhetorischen Regeln und Vorschriften, die
später ausdrücklich formuliert wurden, werden darin bereits praktisch
angewandt. Redegewandtheit wird von Homer als ein Geschenk der
Götter angesehen. Er läßt Odysseus sagen: "Also verleihen nicht allen
die Götter, was lieb und was schön ist: Wuchs und Verstand und die
Gabe zu reden. Ein Mann hat das Aussehn,. grade als wäre er brüchig;
ein Gou aber formt ihm die Worte; von Entzücken schauen die Leute
auf ihn und er redet, ohne sich je zu versprechen, schmeichlerisch,
schamhaft; bei aUen Leuten, die sich versammeln, steht er in Ehre und
Ansehn; geht er die Straßen entlang, so schaun sie ihn wie einen Gott
an." (Gd.) 8, 167ft) Gleichzeitig ist die Redegewandtheit für Horner
eine Frage der Erziehung. So muß AchiHes lernen, "wohlberedt in
Worten zu sein und rüstig in Taten" (!lias, 9, 443). Sprachgewandtheit ist
ein hohes und erstrebenswertes Ideal.
Als Wissenschaft, die systematisch Regeln formuliert, um gut und
überzeugend zu sprechen, um eine treffliche Rede zu halten,. ist die
Rhetorik im fünften vorchristlichen Jahrhundert in Sizilien entstanden.
Die ersten, die sich auf diese Wissenschaft verlegten, sollen Corax und
Tisias gewesen sein. Corax war ein Schüler des Empedokles und der
Lehrer des Tisias. Er war der erste, der sich für seinen Unterricht in der
Rhetorik bezahlen ließ. Er hat eine Reihe von Handbüchern geschrie-
ben,. die alle verlorengingen. Corax teilte die Rede in fünf Teile ein*: das
exordium oder proemium,. d. h. die Einleitung; die narratio, d. h. die

* Wir geben hier wie im folgenden nur die lateinische Terminologie, nicht die grmechische
wieder. Sie hat sich in der rhetorischen Literatur allgemein eingebürgert.

43
-
Darstellung der Tatsachen oder die Erläuterung der Situation; die argu-
mentatio, d. h. die Argumentation, die sowohl eine positive Beweisfüh-
rung, probatio, als auch eine Widerlegung, refutatio, sein kann; die
disgressio, d. h. der Exkurs; und die peroratio, d. h. der Epilog oder der
Schluß.
Tisias war der Lehrer von Gorgias, Lysias und Isokrates. Wahrschein-
lich hat auch er eine Anleitung geschrieben, die ebenfalls verlorenging.
Er soll betont haben, daß das Wahrscheinliche mehr Überzeugungskraft
besitze als die Wahrheit. Corax und Tisias waren beide ausgesprochene
Pragmatiker. Der erstere engagierte sich insbesondere in Politik und
Rechtsprechung, der letztere mehr im Erziehungswesen. Er lehrte Rhe-
torik. Beicle unterschieden zwei Arten, eine Rede zu halten: das genus
judici.ale oder die gerichtliche Beredsamkeit und das genus deliberativum
oder die darstellende Beredsamkeit. Bei der ersten geht es um Recht und
Unrecht, Schuld oder Unschuld. Bei der zweiten handelt es sich darum,
anderen eine Sache nahezulegen oder von ihr abzuraten.
Gorgias von Leontini war ein Schüler des Tisias. Im Jahre 427 v. Chr.
kommt er als Botschafter nach Athen und macht dort großen Eindruck.
Zweifellos war er der genialste der Sophisten. Einer der Dialoge Platons
wurde nach ihm benannt. Der Geschichtsschreiber Thukydides war
einer seiner Schüler. Gorgias hat den zwei bestehenden genera ein
drittes, das genus demonstrativum oder die epideiktische Beredsamkeit
hinzugefügt. In diesem Fall geht es darum, eine Sache mit a11 ihren
verschiedenen Facetten ans Licht zu bringen. Dieser Gattung gehört vor
allem die Lobrede (panegyrik) an. In der Lobrede auf die Götter und die
Menschen oder auf die Dinge und Ereignisse werden ihre Schönheit, ihr
Glanz, ihr Schimmern, ihr Adel und ihre Kraft herausgesteBt, gegebe-
nenfalls auch ihre Häßlichkeit, ihre Niedrigkeit und Feigheit herausge-
kehrt. Diese dritte Gattung steht der Poesie sehr nahe. Für Gorgias
waren daher nicht nur die Ordnung dessen, was man sagen will, und die
Reihenfolge der Argumente bedeutsam; für ihn zählte gerade auch die
Schönheit des Stils. Große, beinahe übertriebene Aufmerksamkeit wird
der Musikalität der Sprache, dem Rhythmus der Wörter und Sätze, dem
stilistischen Aufbau der Rede und schließlich den rhetorischen Figuren,
wie der Bildersprache, dem Vergleich und der Gegenüberstellung, ge-

44
widmet. Solche Figuren dienen in erster Linie der Einkleidung und
Ausschmückung (ornatus) dessen, was man zu sagen hat. Sie haben nach
Gorgias aber auch eine persuasive Funktion und geben einer Rede erst
die wirkliche Üherzeugungskraft.
Bei Gorgias steht der persuasive Charakter der Rede im Mittelpunkt
des Interesses. Der Redner muß sicb auf die Gefühle und Regung,en
seiner Zuhörerschaft berufen. Durch seine Worte kann er die Menschen
dazu bringen, Freude und Mitleid, Liebe und Bewunderung, Wertschät-
zung und Achtung zu empfinden oder Haß, Abneigung und MißbiUi-
gung erregen. Durch seine Meisterschaft über das Wort und die voll-
kommene Beherrschung der Sprache kann der Redner mit geringfügigen
Mitteln die erhabensten und herrlichsten Dinge erreichen. Er kann den
Menschen führen, wohin er will, denn er übt Macht aus über alle die
Überzeugungen, die dem Menschen eigen sind, und in denen er sich
aufhält. Für Gorgias setzt dies eine ganze Philosophie über den Status
des Menschen und der Welt voraus. Und es knüpfen sich zahlreiche
philosophische Implikationen daran. Nach Gorgias ist die Welt, in der
der Mensch sich bewegt, nichts anderes als die Einheit von mehr oder
weniger ,emotionalen Überzeugungen. Nicht ganz zu Unrecht spricht
H. Gomperz in seinem Buch Sophistik und Rhetorik von Gorgias'
angeblichem "philosophischem Nihilismus'! (S. 1). Der Mensch lebt
gleichsam immer und notwendigerweise in einer Welt von Illusionen.
Das Bild, das er von sich selbst oder von seiner Welt hat, ist illusionär.
Es erlaubt ihm aber zu überleben. G]eichzeitig ist zu bedenken, daß der
Gebrauch des Wortes "illusionär" nicht unproblematisch ist: Es scheint
zu suggerieren, daß hinter alledem doch noch dergleichen wie eine
wahre, dem Menschen nur unzugängliche Welt bestünde. Das liegt
sicher nicht in Gorgias' Absicht. Nach seiner Auffassung gibt es nur eine
W~lt aus Bildern und Überzeugungen.
!sokrates (436-338 v. ehr.) wurde maßgeblich von Gorgias beein-
Hußt. Als Lehrer der Rhetorik stand er einer Athener Rednerschule vor,
die Cicero mit dem Troianischen Pferd verglichen hat, das nur große
Männer in sich birgt. Sie spielte in der Politik,. im geseHschafdichen
Leben uhd in der Erziehung eine bedeutende Rolle. Es ist nicht sicher,
ob Isokrates ein Handbuch schrieb. Jedenfalls ist davon nichts erhalten

45
-
geblieben. Er hat uns immerhin einige sehr schöne, in einem wohldurch-
dachten Stil geschriebene Reden hinterlassen. An seiner Lobrede auf
Athen soll er zehn Jahre gearbeitet haben.
Isokrates kann zweifellos als der Vater der griechischen paideia he-
zeichnet werden. Er lehrte die Griechen beredsam zu sein, g,erecht zu
denken und mit Anstand zu leben (Beredsamkeit, rechtschaffenes Den-
ken und Lebensart). Seine typisch humanistischen Ideale wurden von
einem aristokratischen, überlegenen Skeptizismus getragen, der sich mit
einer offenkundig pragmatischen Lebenshaltung verband . Eine Philoso-
phie im Sinne Platons, die wahrhafte Wissenschaft sein sollte, hielt er für
unmöglich. Für ihn ist es nicht möglich,. zu einer Universalität de jure
oder zu einer prinzipiellen Allgemeinheit zu gelangen, bestenfalls ist eine
faktmsche Universalität oder ein tatsächlicher, gesellschaftlicher Konsens
zu erreichen. Die Philosophie ist, nach Isokrares, für die Jugend eine
löbliche Angelegenheit, mit der ma.n jedoch zeitig und im rechten
Augenblick aufhören muß. Sie ist lebens- und weltfremd und hat wenig
praktische Bedeutung. Selbstverständlich muß man die philosophische
Problematik ernsthaft zur Kenntnis nehmen, da sie nun einmal Bestand-
teil einer allgemeinen Bildung ist. Man muß über alles in angemessener
Weise sprechen können, auch über die Philosophie. Solche Philosophie
ist jedoch dem Ideal der Beredsamkeit und Lebensart eindeutig unterge-
ordnet. Das Entscheidende ist, sich im individuellen wie im gemein-
schaftlichen Leben zur·echtfinden zu können. Einerseits hat eine derar-
tige Haltung bei Philosophen immer wieder Verärgerung ausgelöst. Sie
haben lsakrates entweder totgeschwiegen oder mit sarkastischen Bemer-
kungen überschüttet und der Oberflächlichkeit und des Opportunismus
bezichtigt. Andererseits hat diese Einstellung die eher pragmatisch den-
kenden Autoren stets aufs Neue zu faszinieren vermocht.
Aristoteles (384-322 v. ehr.) soH anfangs,. was die Rhetorik angeht,
die Ansicht Platons geteilt haben. In einem nicht erhaltenen Dialog soll
er sie entschieden abgelehnt haben. Später findet er einen ganz anderen,
zugleich neuartigen Zugang zu dieser Problematik. Er schreibt eine
,techne rhetoriker, ein dreibändiges, ziemlich unsystematisches Werk,
das wahrscheinlich in verschiedenen Perioden geschrieben und später zu
einem Ganzen zusammengefügt wurde.

46
Für Aristoteles ist die Rhetorik das Gegenstück,. der Widerpart und
das notwendige Komplement der Dialektik, einer streng wissenschaftli-
chen und logischen Methode. Die gewöhnliche, reale Kommunikation
zwischen Menschen vollzieht sich jedoch meist nicht in dieser Weise.
Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Dennoch wird auch hier fortwäh-
rend argum,entiert, werden viele Behauptungen aufgestellt und unter~
schiedliche Auffassungen ausgetauscht. Wann immer Menschen einan-
der etwas empfehlen oder von etwas abraten, wann immer sie Recht und
Unrecht beurteilen oder einander etwas als nachahmenswert oder ver-
werflich vorstellen - es geschieht nie in einer vollkommen berechtigten
und rein wissenschaftlichen Art und Weise. Dennoch werden sie voll-
ständig überzeugt. Aristoteles beschreibt nun das gesamte Feld der
persuasiven Kommunikation mit wissenschaftlichen Methoden. Für ihn
ist die Rhetorik weniger die Technik des Überredens selbst als vielmehr
die Erforschung a11 j'ener Elemente, die in jeder konkreten Situation zum
Überzeugen und Überzeugtwerden beitragen. Er untersucht,. mit wel-
chen Mitteln, in welchem Maße und unter welchen Bedingungen man
einander wirklich von etwas überzeugen kann. So handelt z. B. ein
großer Teil des zweiten Buchs seiner Rhetorik von der Psychologie des
Zuhörers oder des Publikums, an das man sich mündlich oder schriftlich
wendet. Nach Aristoteles muß man seine Zuhörerschaft gut kennen,
wenn man sie von etwas überzeugen will. Man muß für die Motivatio-
nen und das affektive Leben der Menschen im allgemeinen und einze~ner
Gruppierungen im besonderen Verständnis haben und von Grund auf
mit ihren verschiedenen Charakteren vertraut sein - mit dem ganzen
Geflecht aus Sehnsüchten und Gefühlen wie Angst und Mut, Liebe und
Haß, Scham und Schamlosigkeit, Mitleid und Gefühllosigkeit, Eifer-
sucht und Verachtung. Auch die Unt,erschiede zwischen dem affektiven
Leben junger und alter, reicher und armer, mächtiger und schwacher
Menschen muß man kennen. Die Analyse des affektiven und emotiona-
len Lebens, wie sie Aristoteles in seinem Werk über die Rhetorik
vorgelegt hat,. ist ein wichtiger Beitrag zur Entstehung der Psychologie
und der Charakterologie . Die Seelenkunde im Sinne eines Wissens über
den konkreten Menschen und über alles, was ihn bewegt" ist zu ,einem
großen Teil eine Frucht der Rhetorik. Nech lange nach Aristoteles wird

47
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das meiste von demjenigen, was wir heute Psychologie nennen, in den
Traktaten über die Beredsamkeit zu finden sein.
In der gesamten rhetorischen Literatur fällt eine geradezu obsessive
Tendenz zur Einteilung und Klassifikation auf. Es werden eine Reihe
von Unterscheidungen, Auf- und Unterteilungen eingeführt. Dies gilt
auch für Aristoteles. Viele der Unterscheidungen, die er trifft, gehörten
wohl schon in seiner Zeit zum Gemeingut. Sie haben ihre RoHe bis hin
zur gegenwärtigen Rhetorik weitergespielt.
Eine der ersten Unterscheidungen,. die Aristoteles trifft, ist die Eintei-
lung der Beredsamkeit in drei genera. Das erste Genre ist die gerichtliche
Beredsamkeit - genus judiciale. Es bezieht sich auf die Vergangenheit
oder auf das, was früher geschehen ist, und betrifft die Rechtsordnung.
Es hat einen positiven Aspekt, die Verteidigung, und einen negativen,
die Heschuldigung. Das zweite Genre ist die beratende Beredsamkeit _
genus deliberativum. Es bezieht sich auf die Zukunft oder das, was noch
geschehen soll, und betrifft die Ordnung des Nützlichen. Sein positiver
Aspekt ist das Anraten, sein negativer das Abraten. Das dritte Genre ist
die epideiktisehe Beredsamkeit - genus demonstrativum. Es bezieht sich
auf die Gegenwart oder auf dasjenige, was ist, und betrifft die Ordnung
des Schönen. Loben und Verherrlichen sind seine positiven, Tadeln und
Bloßstellen seine negativen Aspekte.
Darüber hinaus gibt es fünf Aufgaben, die jeder Redner erfüllen muß
(offieia oratoris ): 1. die inventio (das Finden oder die Suche nach dem,
was man behaupten will); 2. die dispositio (die Anordnung dessen, was
man gefunden hat);. 3. die eloeutio (das Formulieren oder In-Worte_
Fassen); 4. die aetio (der Vortrag); 5. die memoria (das Auswendig_
lernen).
Die inventio ist eine Zusammenstellung des Materials, in die alle
Facetten und Aspekte der Sache, über die man sprechen will, einge-
bracht werden. Sie besteht darin, die verschiedenen Argumente aufzu_
spüren, die man gebrauchen kann. Bei der inventio spielt die sogenannte
topica eine wichtige Rolle. Der topos (loeus) ist der Ort, an dem man die
Argumente finden kann. Er ist eine Art Brunnen, aus dem man schöp_
fen, eine Waffen-, Vorrats- oder Schatzkammer, der man alles Nötige
entnehmen kann. Die topiea ist eine Art Raster aus leeren Formen, das

48
beim Auffinden von Argumenten hilfreich sein kann. Ein klassisches
Beispiel ist der lateinische Spruch: quis,. quid, ubi, quibus auxiliis, cur,
quomodo, quando (wer, was, wo, mit welchen Mitteln, warum, auf
welche Weise und wann). Will man eine Rede halten oder eine Untersu-
chung ansteHen, so sind diese Fragen eine unerschöpfliche QueUe von
Möglichkeiten, um Stoff zu sammeln. Die Aristotelische topica war für
die Logik von großer Bedeutung.
Die dispositio besteht im Ordnen dessen, was man gefunden hat. Man
muß den Stoff ordnen, die verschiedenen Argumente in eine Rang- und
Reihenfolge bringen, ein Schema aufsteHen und die Rede einteilen. Zu
einer solchen dispositio gehört alles, was sich auf den Aufbau oder die
Struktur einer Rede bezieht. Die Regeln, die Aristoteles für die dispositio
angibt, sind von vielen nachfolgenden Autoren weiter ausgearbeitet und
genauer bestimmt worden. Sie fallen natürlich in Anbetracht der ver-
schiedenen Redeformen unterschiedlich aus . Eine Parlamentsrede, eine
akademische Vorlesung, ein Essay und eine wissenschaftliche Veröffent-
lichung sind verschieden aufgebaut. Sie alle müssen j,edoch spezifischen,
strengen Anforderungen gerecht werden. Sie zu formulieren, gehört
·ebenfalls zu den Aufgaben der Rhetorik.
Die elocutio besteht darin, den gefundenen Stoff in Worte zu fassen
und demjenigen, was man behaupten will, stilistisch Gestalt zu verlei-
hen. Sie ist eine Frage des Stils. Man muß seiner Rede die gebührende
Form geben und die ihr angemessenste, Anziehungskraft ausübende
Formulierung suchen. Die Sprache soll nicht nur grammatisch richtig
sein, sie muß auch eine gewisse Eleganz und Schönheit besitzen. Aristo-
teles gibt eine Reihe (praktischer) Anweisungen für den Satzbau, den
Rhythmus der Sätze, die BiIdersprache, die rhetorischen Figuren, die
korrekte und angemessene Wortwahl und die Übereinstimmung des Stils
mit dem Thema der Rede. Theophrastes, ein Schüler des Aristoteles, saH
in einem verlorengegangenen Werk insbesondere diese Stillehre ausgear-
beitet haben. Ihm wird eine Klassifikation der Stilqualitäten zugeschrie-
ben, die sich in der gesamten rhetorischen Tradition durchgesetzt hat.
Nach Theophrastes sollte der Stil 1. übereinstimmend mit den Regeln
der Sprache; 2. deutlich; 3. dem Thema angemessen; 4. schön, elegant
und anmutig sein. Außerdem saH er drei Stilarten unterschieden haben:

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1. der schlichte Stil (genus subtile); 2. der mittlere Stil (genus medium);
3. der erhabene Stil (genus sublime). Die Stillehre oder Stilistik wird in
der Folgezeit ein wichtiger Bestandteil der Rhetorik bleiben.
Die drei Aufgaben der Rede sind nach Aristoteles: 1. docere (unter-
richten oder informieren); 2. movere (bewegen oder zu etwas antreiben);
3. placere (gefallen oder Freude bereiten).
Das docere soll die Sache,. die man behandelt, in angemessener Weise
darstellen (narratio), die erforderliche Information bieten und das Publi-
kum (die Zuhörer oder Leser) darüber unterrichten, was sich in Wahr-
heit zugetragen hat. Dies ist der informative Aspekt der Rede.
Das placere soll das zuhörende oder lesende Publikum in einem
gewissen Maße erfr·euen. So kann man die Aufmerksamkeit auf sich
ziehen und durch einen fesselnden Stil und einen guten Aufbau der Rede
die Spannung erhalten. Dies macht die Rhetorik im Sinne der Beredsam-
keit oder ars bene dicendi aus.
Das movere soll den Menschen bewegen, ein Urteil zu fällen, einen
Beschluß. zu fassen oder zu einer Überzeugung zu gelangen. Dieser
Erregung der Geister (animos impellere) dienen insbesondere das exor-
dium (der Beginn) und die peroratio (das zusammenfassende Schlußwort
oder die Konklusion), aber auch aUe anderen Teile einer Rede sollen
beim Publikum BeifaU oder Ablehnung bewirken. Dies ist der persuasive
Aspekt der Rede, in dem sich die Rhetorik als Überzeugungskunst oder
ars persuadendi darstellt.
Eine Rede enthält stets informative und persuasive Elemente. Selbst
der informative Teil hat immer auch persuasiven Charakter. Um das
Publikum in gebührender Weise zu unterrichten,. muß man eine Aus-
wahl trdfen unter den Informationen, die man gerne weiterleiten
möchte oder auch nicht. Objektive Information ist zwar gefordert, doch
ist absolute Vollständigkeit entweder unmöglich oder langweilt so sehr,
~

daß die Rede ihren Sinn verliert. Um das Publikum wirklich informieren
zu können, muß man zudem wissen, was ihm schon bekannt ist - oder
wenigstens bekannt sein sollte. Auch muß man klar zu verstehen geben ,
daß man mit Autorität und Kompetenz spricht.
D,er persuasive Aspekt einer Rede besteht in der Vermittlung VOn
Argumenten. Das Publikum wird mit Hilfe von Beweisen überzeugt, die

50
Aristoteles nun ihrerseits in verschiedene Arten aufgeteilt hat. Zuerst
wird zwischen äußerlichen, nicht künstlichen oder natürlichen Beweisen
(atechnoi) und innerlichen" künstlichen oder technischen Beweisen (en-
technoi) unterschieden. Äußerlich sind diejenigen Argumente, die im
strengen Sinn des Wortes nicht Bestandteil der rhetorischen, d. h. der
technisch und künstlich aufgebauten Rede sind. Innerlich sind diejeni-
gen Argumente, die Bestandteil einer solchen Rede sind.
Für äußerliche Argumente gibt Aristoteles Beispiele aus der gerichtli-
chen Beredsamkeit: die bestehenden Gesetze, abgeschlossene Verträge,
Vereinbarungen, ein Geständnis, ein geleisteter Eid, die Jurisprudenz.
Hinsichtlich der anderen Gattungen der Rede nennt er Gerüchte, die
umgehen, die öffentliche Meinung, alle auf Autorität gestützten Argu-
mente, die Zeugnisse früherer Generationen - unsere Zitate. Später hat
man dem noch die "objektiven Tatsachen" hinzugefügt. All dies gehört
nicht zur Rede als solcher, es sind jedoch Dinge, auf die man sich
berufen kann. Die innerlichen Argumente sind dreifacher Natur: 1. das
ethos des Redenden, d. h. seine Vertrauenswürdigkeit, Zuständigkeit
und Autorität in der angesprochenen Sache,. selbst sein Lebenswandel
und seine moralische Integrität; 2. das pathos des Publikums, d. h. im
weitest,en Sinne die Gemütsverfassung der Zuhörer oder Leser; 3. die
Argumente, die dem Bereich des logos selbst zugehören, d. h . die logi-
schen Beweise.
Die letzteren werden ihr,erseits in logische Beweise im engeren und im
weiteren Sinn unterteilt. Logisch im engeren Sinn ist allein die vollstän-
dige Darstellung einer Argumentation oder der Syllogismus (die Deduk~
tion). Im gewöhnlichen Sprechen und in der alltäglichen Kommunika-
tion wird davon wenig Gebrauch gemacht; es hätte hier auch wenig
Sinn. Diese Art der Argumentation wird allein in einer streng wissen-
schaftlichen Rede wirksam. Logische Beweise im weiteren Sinn, d. h.
diejenigen, die sich der rhetorischen Logik bedienen, sind das soge-
nannte enthymem und das paradigma.
Ein enthymem ist ein verkürzter oder unvollständiger Syllogismus. Es
ist eine unvollkommene, oder hesser, praktische Art der Argumentation,
die sich auf das Publikum einsteHt . (Zum Beispiel: "Politikern ist nicht
zu vertrauen, denn Politik ist eine schlechte Sache." Als deduktive - im

51
übrigen aber auch nicht vollständige - Argumentation könnte dafür
stehen: "Politiker betreiben Politik; Politik zu betreiben bedeutet, sich
der Macht zu bedienen; Machtgebrauch ist immer falsch;. wer falsch
handelt, dem ist nicht zu vertrauen, also ... ".) Der ganze Bereich der
persuasiven Kommunikation und sogar die zwischen M,enschen ge-
bräuchlichsten Argumentationen setzen sich größtenteils aus derartigen
Beweisführungen zusammen. Manchmal bestehen sie zu Recht, manch-
mal nicht. Oft jedoch besitzen sie (unabhängig davon) große Überzeu-
gungskraft.
Das zweite "logmsche'( Argument ist das paradigma, d. h. die Verwen-
dung eines Beispiels, das nach Aristoteles real oder fiktiv sein kann.
Reale Beispiele sind u. a.. historische Ereignisse oder Personen und
tatsächliche Situationen und Vorfälle. (Zum Beispiel (!): Rechtschaffen_
heit bedeutet, wie Herr X zu handeln, oder besteht darin, nichts zu
stehlen, oder seine Macht nicht zu mißbrauchen usw.) Eine Tatsache
und selbst eine Reihe von Tatsachen kann für Aristoteles nmchts anderes
als ein paradigma sein. Induktion ist für ihn stets eine Sache des
Beispiels. Fiktive Beispiele sind u. a. Parabeln, Fabeln und Erzählungen.
Beispiele können nach Ariswteles zur Erklärung und Verdeudichung
(jemanden durch das Anführen eines Beispiels zu einer gewissen Einsicht
bringen), zur Nachahmung (jemanden durch das Beispielgeben zu einet"
bestimmten Handlungsweise anspornen oder ihn von ihr abhalten) und
zur Wiederholung (jemandem durch das Aufzeigen eines beispielhaften
Wegs den Weg weisen) dienen. Die wissenschaftlichsten Methoden (von
griechisch methodos: hodos - der Weg),. die im Unterricht vermittelt und
von den Gelehrten als selbstverständlich weitergegeben werden, gehören
in dieser Hinsicht dem Bereich des P'aradigmas an. ;
Soweit das System der Aristotelischen Rhetorik. Es wurde etwa
dreihundert Jahre später in Rom durch Cicero und Quintilian an ver...
schiedenen SteHen ergänzt und ausgebaut. In der Folgezeit haben die
unterschiedlichsten Schriftsteller eine Reihe von besonderen Aspekten
sorgfältiger ausgearbeitet. Manche von ihnen haben ihre ganze Auf-
merksamkeit der inventio und der topica geschenkt, andere verlegten
sich mehr auf die dispositio (den Aufbau der Rede und die O'rdnung der
Argumente) oder auf die elocutio (die Stilistik). Manche haben die

52
t= - Me'

persuasiven Aspekte der Rede ausgearbeitet,. andere die ästhetischen


Gesichtspunkte (Literaturwissenschaft). Vor allem die Stilfiguren sind
auf ein außergewöhnlich großes Interesse gestoßen. In seiner Grund-
struktur jedoch hat das Aristotelische System der Rhetorik den Jahrhun-
derten standgehalten und auf diese Weise semne Gediegenheit unter
Beweis gestellt.
Angesichts des gespannten Verhältnisses zwischen Rhetorik und Phi-
losophie gewinnt Aristoteles' Abhandlung über die Rhetorik besondere
Bedeutung. Seit der Zeit Platons hatten sich die beiden Disziplinen
auseinanderentwickelt. Offensichtliche Feindschaft oder zumindest völ-
lige Indiffer·enz bestimmte ihr Verhältnis. Selbst bei Aristotdes driften
Rhetorik und Philosophie weit auseinander. Er hat zwar ein bedeutendes
Werk über die Rhetorik geschrieben, in erster Linie ist sie darin aber
Gegenstand einer philosophischen und wissenschaftlichen Untersu-
chung. Die Philosophie als solche ist nicht rhetorisch, die Rhetorik nicht
philosophisch. Der Traktat über die Rhetorik bietet eine wissenschaftli-
che Theorie der persuasiven Kommunikation . Er entspricht dem Ideal,
das Aristotdes vor Augen stand: sein Leben der Betrachtung und
Erkenntnis der gesamten Wirklichkeit in allen ihren Schattierungen zu
widmen. Ein Teil derselben ist die persuasive Kommunikation.
Aristotdes steht gewiß nicht auf der Seite der Sophisten und Rheto-
ren. Er ist ein Philosoph. Durch sein Werk über die Rhetorik hat er
einen für die Philosophie nicht zu unterschätzenden Beitrag geleistet.
Dies gilt nicht nur für die Philosophie der Sprache und der Kommunika-
tion, sondern auch für die "Psychologie" und die "Ethik". Durch seine
Analyse des menschlichen pathos hat er viele Einsichten in das, was das
menschliche Herz bewegt, zusammengetragen. Durch seine Analyse des
ethos des Redners hat er deutlich gemacht, was ein Mensch dem anderen
bedeuten kann und muß. Vor aUem aber hat er mit seiner Abhandlung
über die Rhetorik einen bedeutenden Beitrag geleistet zu einer mögli-
chen rhetorischen Analyse und kritischen Lektüre literarischer, wissen-
schaftlicher und philosophischer Texte.

53
V. Rhetorik und P'hilosophie in Rom

Durch die politischen Veränderungen in Griechenland,. den Untergang


der griechischen Stadtstaaten und das Entstehen eines einzigen groß,en
hellenistischen Reiches verliert der Rhetor allmählich seine tatsächliche
Macht. Die Rhetorik wird mehr und mehr zu einer Angelegenheit der
Schulen, mit allen Folgen, die dies nach sich zieht. Das noch lebendige,
aufsteigende Rom sollte den griechischen Lehrmeistern jedoch schon
bald einen neuen, großen Aufgabenbereich bieten. In großer Zahl kamen
sie nach Rom, um die Römer ihre Technik zu lehren. Zu Anfang stießen
sie auf erheblichen Widerstand und ihr Unterricht gab häufig Anlaß zu
Diskussionen. Im Gegensatz zum Griechen war der Römer ein Mann
von wenig Worten. Sehr bald jedoch sahen die Römer ein, welch groß,e
Bedeutung die Rhetorik haben konnte. AUe wichtigen Angelegenheiten
wurden bei ihnen in öffentlichen Debatten und Diskussionen verhan-
delt;. insofern war es für sie von Interesse, eine Sache treffend darzustel-
len. Die Römer waren pragmatisch genug, um zu wissen, daß niemand
mit der nackten Wahrheit schlechthin Vorlieb nimmt. Sie muß vermittelt
werden . Diese pragmatische EinsteBung und das wachsende Bewußtsein
von der Macht der Rhetorik haben eine Gestalt wie Cicero entstehen
lassen.
Cicero (106-43 v. ehr.) war ein großer, vielleicht der größte Redner )

den die Geschichte gekannt hat. Er hinterließ eine Reihe von Schriften )

die die Rhetorik ausdrücklich zum Thema haben. Von Philosophen wird
er gewöhnlich nicht sehr hoch geachtet. Es gibt Ausnahmen, wie die
italienischen Humanisten und die Philosophen der Renaissance, die
meisten halten ihn jedoch für einen Eklektiker, der zu Kompromissen
neigt, für pragmatisch und oberflächlich. Seine eigentliche Bedeutung
soll darin liegen, daß er es ermöglichte, den Reichtum der griechischen
Philosophie an die römische Welt weiterzugeben. Auf dem Hintergrund
der Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Rhetorik ist er je-
doch ein äußerst wichtiger Autor.

54
Ciceros großes Ideal ist die Vereinigung des Philosophen, des Staats-
mannes und des Redners in einer einzigen Person. Er erstrebt eine
Synthese von Philosophie, Rhetorik und Politik. Philosoph zu sein
bedeutet für ihn, eine profunde Kenntnis der Philosophie zu besitzen,
die für den Redner von großem Interesse ist. ,.,Niemand darf hoffen",
schreibt er,. "ein Redner im wahren Sinne des Wortes zu sein, wenn er
nicht gründliche Kenntnis von allen Wissenschaften und von den großen
Problemen besitzt" (De Or. I, 20). So bedeutsam die Philosophie für
Cicero auch sein mag, sie ist für ihn doch nur eines der Gebiete,. in denen
der Redner sich auskennen und die er beherrschen muß. Philosophen
fragen sich vielleicht, ob die Philosophie ein Gegenstand des Wissens ist,
ein Gebiet, das man beherrschen kann. Platon hielt die Philosophie
unverkennbar für etwas anderes, und viele Philosophen stimmen Kant
zu, wenn er sagt, daß man keine Philosophie, sondern nur das Philoso-
phieren lehren kann. Für Cicero liegen die Dinge anders. Für ihn ist die
Philosophie eine kulturelle Errungenschaft, die man sich aneignen kann.
Di,e meisten Philosophen halten die Synthese vo.n Philosophie und
Politik, wie Cicero si,e vorstellt, für zu einfach. Vielleicht ist dies wahr.
Cicero. weist jedoch wiederholt darauf hin, daß beide ursprünglich eins
waren, und daß der alleinige Sinn der Philosophie ihre politische Bedeu-
tung ist. Er wirft Sokrates daher vor, daß ,er sich aus dem politischen und
sozialen Leben zurückzog und mit Verachtung darauf herabsah (D'e Or.
III, 16, 59-61). Politik ist die Gesamtheit von Machtverhältnissen, ein
Spiel der Mächte. In diesem Rahmen bewegt sich auch das Denken
Ciceros. Der Mensch - auch der Philosoph - kann sich diesem Spiel
unmöglich entziehen . Selbst wenn er glaubt, abseits zu stehen,. spielt er
dennoch darin mit - oft in verborgener Weise.
In seinen Reden spricht Cicero gewöhnlich eher das Herz oder den
Willen als den Kopf oder den Verstand des Menschen an. Alles, was
vorgebracht wird" muß in erster Linie Anziehungskraft ausüben und
darum gut und schön formuliert werden. Wie für alle großen Redner, so
ist auch für Cicero Einsicht wesentlich an das Verlangen gebunden. Er
ist davon überzeugt, daß das Urteil des Menschen eher durch Liebe und
Haß, Begierde und Zorn,. Freude und Trauer, Ho.ffnung und Furcht
oder welche Mo.tive auch immer geformt wird als durch die Wahrheit

55
eines Systems von Regeln und Wissen. (De 0'r. Il, 42, 178). Kenntnisse
entstehen nach Cicero stets aus Interessen, und die Kenntnisse lassen
sich beeinflussen, indem man die Interessen bestimmt.
Nicht allein Philosophie und Politik, sondern auch Philosophie und
Rhetorik waren ursprünglich eins . Unter dem Einfluß Platons haben sie
sich voneinander geschieden. Cicero hält diese Trennung für sehr bedau-
ernswert. Er findet sie "absurd, unbrauchbar und verwerflich, weil
zwischen dem" der zu wissen lernt, und dem, der zu sprechen lernt, kein
Unterschied besteht" (De Gr. IlI, 16, 61). Die Trennung ist für Cicero
unsinnig, da zwischen res und verbum, Sache und Ausdruck, zwischen
Inhalt und Form, Denken und Sprechen eine unauflösliche Einheit
besteht.
Als Cicero einst in Athen weilte" las er, seinen eigenen Worten
zufolge, sehr aufmerksam Platons Gorgias. Er sagt darüber: "Am mei-
sten hat mich in diesem Werk verwundert, daß sich Platon,. während er
mit den Rednern seinen Spott treibt, selbst als ein großer Redner (orator
summus) erweist" (De Gr. I, 11, 47). Für Cicero geht es in diesem
Dialog einzig und allein um einen Streit mit Worten,. in dem Platon
eindeutig die Oherhand behält. Kraft seiner Worte und der Schärfe·
seiner Formulierungen gelingt es ihm, anderen seine Auffassung über
das Wesen der Philosophie und deren Verhältnis zur Rhetorik aufzu-
drängen. Diese Bemerkung ist vielfach als eine typisch ciceronianisehe
Platitüde interpretiert worden. Doch ist sie mehr als dies. Ciceros
Auslegung des Gorgias paßt insgesamt in den Rahmen seiner Auffassung
über das Verhältnis zwischen Philosophie und Rhetorik. Sein Einwand
gibt zu bedenken, daß sogar die meisten wirklich "philosophischen"
Texte von einer verborgenen und oft sehr subtilen Rhetorik durchzogen
sind.
Die angestrebte Synthese zwischen Philosophie und Politik und die
grundsätzliche Einheit von Philosophie und Rhetorik erklären auch ,
warum Cicero kein Bewunderer metaphysischer Fragestellungen war. Er
war an einem gewissen faktischen consensus hinsichtlich der Grundfra_
gen menschlicher Existenz interessiert. Viel mehr ist nicht .zu erreichen .
D'er consensus gentium, die allgemeine Übereinstimmung der unter-
schiedlichen Völker, ist eines der wichtigsten Argumente in der D'iskus_

56
si on ethischer und theologischer Probleme. Eine höhere Autorität als
dieses gemeinschaftliche Überzeugtsein gibt es für Cicero nicht.
Nach Cicero gewinnt vor allem Quintilian für qie römische Rhetorik
an Bedeutung. Er wurde etwa dreißig Jahre vor unserer Zeitrechnung in
Spanien geboren und kam bereits früh nach Rom. Er lehrte dort bis an
sein Lebensende Rhetorik. Er muß ein hervorragender Lehrer gewesen
sein. Aus s,einer Feder stammt ein Werk mit dem Titel Institutio oratoria,
ein aristotelisch inspiriertes Handbuch (institutio) zur literarischen Bil-
dung von jungen Menschen, von Wortführern und Rednern, Schriftstel-
lern und Lesern und all denen, die sich mit Literatur beschäftigen. Diese
lnstitutio oratoria hat großen Einfluß ausgeübt und wurde stets hoch
geachtet. Luther und Melanchthon zogen sie allen anderen Werken des
Altertums vor. Erasmus hat sie gründlich studiert und P. Bayle be-
hauptete,. daß jeder,. der Bücher schreiben wolle, ohne die aufmerksame
Lektüre dieser lnstitutio dazu nicht imstande sei.
Die lnstitutio oratoria besteht aus zwölf Büchern. In den beiden
ersten wird die Erziehung von Kindern und jungen Menschen behan-
delt. Sie müssen die Grammatik und Orthographie erlernen und vor
allem viel lesen. Vom Rhetor werden sie in die Rhetorik eingew,eiht.
Rhetorik wird als ars bene dicendi (H, 17,. 37) oder als bene dicendi
scientia (II, 14, 5) bestimmt, d. h. als Kunst und Wissenschaft, sich gut
auszudrücken. Die jungen Menschen müssen gut sprechen lernen, und
gut bedeutet hier mehr als bloß grammatisch richtig. Sie müssen sich klar
und deutlich, schnell und mit einer gewissen Eleganz ausdrücken kön-
nen. Quintilian weist schließlich auch auf die soziale und gesdlschaftli-
che Bedeutung dieser Fertigkeit hin.
In den folgenden fünf Büchern w,erden die Geschichte der Rhetorik,
ihre verschiedenen Genera und die officia oratoris behandelt, d. i. das-
jenige, was jemand,. der eine gute D'arstellung geben will, zu tun hat.
Auch die Einteilung einer guten Rede und eines Textes überhaupt, das
ErsteHen eines Schemas, die verschiedenen Arten von Argumenten,
derer man sich in einer Rede bedienen kann, das Eingehen auf die Ge-
fühle des Publikums, der Gebrauch des Humors und die Wirkung eines
Wortes überhaupt werden besprochen.

57
Das achte und neunte Buch behandeln den Stil (elocutio), der verschie-
denen Anforderungen gerecht werden muß. Was man sagt oder schreibt,
muß grammatisch richtig und gutes Latein sein. Zudem muß der Stil klar
und deutlich sein und dem Thema entsprechen. Man sollte vermeiden,
geradeheraus zu sagen, worum. es geht, sondern die Sache weiter ausfüh-
ren und gut einkleiden. Zuletzt werden die " tropen '" die Wörter mit
metaphorischer Bedeutung besprochen, die als mutatio a propria sign.ifi-
catione verbi in aliam (VIH, 6, 1), d. h. als Abänderung der eigentlichen
Bedeutung eines Wortes in eine andere aufgefaßt werden. Das Problem
des Übergangs von der eigentlichen zur uneigentlichen Bedeutung und
die Diskrepanz zwischen heiden wird in der Folge die ganze rhetorische
Literatur beschäftigen. Die Art, wie Quintilian und viele andere nach
ihm dieses Problem angehen, ist an verschiedene philosophische Voraus-
setzungen gebunden, deren man sich nicht immer bewußt ist. Wir
werden darauf später noch zurückkommen. Im Zusammenhang mit der
übertragenen Bedeutung von Wörtern und Ausdrücken führt der Autor
auch eine Reihe von Tropen und Figuren auf, die er zu definieren sucht.
Unter Metapher versteht er einen verkürzten Vergleich: brevior est
similitudo (VIII, 6, 84-9). Die Verkürzung besteht darin, daß der erste
Teil des Vergleichs und die Wörter "wie'( oder "so wie" weggelassen
werden. Wenn man z. B. für einen Menschen die Ausdrücke "Löw,e((
oder "Esel" gebraucht, läßt man "so stark wie" oder "so dumm wie't
aus. Aus dem Kontext ist die gemeim:eBecleutung jedoch ersichtlich.
Die Metonymie ist eine nominis pro nomine positio (VIII, 6, 23), d. h.
die Ersetzung eines Namens durch einen anderen. 'Quintilian führt als
ff
Beispiel an, daß man gerne von "venus" anstatt von "coitus spreche.
Das zehnte Buch wendet sich in erster Linie an diejenigen, die Zu
schreiben beabsichtigen. Der Autor gibt eine Reihe von Richtlinien für
die Niederschrift und Redaktion eines Textes. Es gebe eine außerge_
wöhnliche M,enge von Wörtern, die man sich durch beständiges Lesen
aneignen, und aus deren großer Anz.ahl man die besten sorgfältig
auswählen sollte . Man sollte auch häufig korrigieren. Um dabei erfolg_
reich zu sein,. sei es ratsam, den Text jedesmat eine Zeitlang liegenzulas~
sen. Später, wenn man ihn wieder zur Hand nehme, könne man dann
versuchen, ihn von seinen Unvollkommenheiten zu befreien. Quintilian

58
setzt sich auch mit der Überwindung auseinander, die es viele Menschen
kostet, etwas zu Papier zu bringen. Dieses Hindernis läßt sich seiner
Ansicht nach nur durch häufiges Schreiben, und anfangs durch die
getreue Nachahmung schon gefestigter Modelle und Schemata ausräu-
men. Ausführlich widmet er sich dem Problem der beiden Geschwindig-
keiten: jener des Denkens, der Gedanken und jener des Schreibens, der
Hand, die sich nicht miteinander decken. Nach Quintilian muß sich der
Schreibende an die Schnelligkeit der Hand halten. Es sei besser, nicht zu
diktieren. Die Ruhe und Langsamkeit der Hand würden dem Text eine
eigene Schönheit und besondere Kraft verleihen.
Im Gegensatz zu Platon schätzt Quintilian das geschriebene Wort s,ehr
hoch ein. Sowohl die Lektüre vorhandener Werke als auch die Praxis des
Schreibens gehören für ihn zu den erhabensten menschlichen Beschäfti-
gungen. Das geschriebene Wort hat im übrigen Vorrang vor dem gespro-
chenen. Das heißt, daß bei Quintilian die Rhetorik allmählich von einer
Kunst des Überzeugens in eine Theorie der Literatur übergeht.
Das elfte Buch beschäftigt sich mit der memoria, dem Auswendigler-
nen der Rede, und der artio, ihrem Vortrag. Das zwölfte Buch schließ-
lich behandelt die verschiedenen Eigenschaften, die ein Redner besitzen
muß. In erster Linie soll er ein guter Mensch sein. Nur ein moralisch
hochstehender und rechtschaffen lebender Mensch kann nach Quintilian
ein guter Schriftsteller und mächtiger Redner sein. Er beruft sich damit
auf ein bekanntes Wort Catos, der den Redner als vir bonus dicendi
peritus (XII, 1, 1) definiert, d. h. als einen guten Mann, der befähigt ist,
sein Wort zu führen. Darüber hinaus sollte man Kenntnisse des Rechts
und der Geschichte besitzen, umfassend gebildet und auf vielerlei Gebie-
ten belesen sein. Selbstverständlich sollte der Redner auch eine profunde
Kenntnis der Philosophie erworben haben.
Angesichts des Verhältnisses von Philosophie und Rhetorik deckt sich
Quintilians Standpunkt zum Teil mit dem Ciceros. Er bedauert ihre
Trennung und behauptet, daß die ganze Philosophi,e zum Gebiet der
Rhetorik gehöre. Der Redner müsse die Philosophie heherrschen, um
ein guter Redner zu sein. Ein großer Redner sei auch Herr und Meister
der Philosophie, weil er imstande sei, einen Sachverhalt gut in Worte zu
fassen und treffend zu formulieren. Im Gegensatz zu Cicero versucht

59
2&

Quintilian jedoch nicht, Philosophie und Rhetorik miteinander zu ver-


söhnen. Über die Philosophie äußert er sich eher bitter und sarkastisch.
Er schreibt, daß sich jemand nur dann Redner nennen dürfe, wenn er
auch Philosoph sei, dann aber "ein römischer Philosoph ... , der sich
nicht in abgeschiedenen Erörterungen, sondern in praktischen Versu-
chen und Leistungen als ein Mann von echter Bürgerart erweist. (XII,
C(

2, 7) Bei den meisten Philosophen ist nach Quintilian das letztere nicht
der Fall. Viele von ihnen glauben, eine rhetorische Bildung nicht nötig
zu haben; sie sind jedoch arrogant, denn ein Philosoph" der etwas auf
sich hält, muß sich vor allem gut auszudrücken wissen. Genau das aber
lehrt der Rhetor.
Quintilian schreibt: "Schlichtere Einfalt ist bei Soldaten geziemend.
Solchen, die, wie bestimmte Leute es machen, ihr Bekenntnis zur
Philosophie betont zur Schau stellen, stehen die meisten Schmuckmittel
der Rede übel zu Gesicht, und zwar vor allem solche, die aus den
Gefühlswirkungen stammen, die sie ja zu sittlichen Fehlern erklären. c(
(XI, 1, 33,) An anderer SteHe sagt er: " .... die anderen waren in ihrer
Faulheit anmaßender, indem sie plötzlich die Stirn in ernste Falten legten
und den Bart wachsen ließen, als hätUn sie die Lehren der Redekunst
verachten gelernt, und dann eine kurze Zeit in den Philosophenschulen
saßen, um von nun an,. in der Öffentlichkeit griesgrämig, zu Hause
ausgelassen, durch die Verachtung aBer anderen Menschen um Ansehen
zu buhlen. (XII, 3, 12) So kann man noch viele andere Texte anführen.
<C

Quintilian faßt seine Tirade gegen die Philosophen folgendermaß.en


zusammen: "Philosophia enim simulari potest,eloquentia non potest . «(

(XII, 3, 12) Philosophie - eine Sache der Innerlichkeit - kann man leicht
heucheln, Beredsamkeit - die Fähigkeit, sich nach außen zu w,enden _
dagegen nicht.
Der Autor der lnstitutio oratoria ist sichaHerdings der Schärfe seines
Angriffes gegen die Philosophen bewußt. Er ist willens, sich ihre
Verteidigungsrede anzuhören, aber er gibt zu hedenken, daß "die Phi-
losophen, wenn sie sich dessen mit der Kraft der Rede annähmen, sich
der Waffe der Rhetorik bedienten, nicht ihrer eigenen." (XII, 2, 5)
" ... uti rhetorum armis, non suis, ... " (a.a.O.) So wie Cicero über den
Gorgias Platons anmerkt, daß er sich einer verborgenen und subtilen

60
Rhetorik bediene, stellt Quintilian fest, daß jede philosophische Rede
die Rhetorik voraussetze. Die Philosophie sei völlig an ihren sprachli-
chen Ausdruck und dessen Gesetze gebunden.
Das Spannungsverhältnis zwischen Rhetorik und Philosophie erreicht
bei Quintilian einen gewissen Höhepunkt. Platon spottete über die
Rhetorik. Quintilian hat wenig gute Worte für die Philosophen übrig.
Hinter alledem verbirgt sich noch ein ganz anderes Geflecht von Gegen-
sätzen. Bei Philosophen und Rhetoren kommen offensichtlich entgegen-
gesetzte Auffassungen vom Wesen des Menschen, des Logos, der Wahr-
heit, von der Bedeutung der Sprache für das Dasein und über den Sinn
der Kultur zum Tragen. Angesichts dessen muß man sich vor Augen
halten, daß Quintilian der typische Vertreter einer etablierten Ordnung
ist. Er ist der bekannte Dozent eines anerkannten Lehrinstituts. Er
verfügt über große Gelehrsamkeit, Belesenheit und eine hohe Bildung.
Er hat Kultur und achtet sie sehr. Jeden, der Kultur und Bildung
verachtet oder in Frage stellt, hält er für heuchlerisch, für einen welt-
fremden und unpraktischen Sonderling. Er wird auch für die sogenann-
ten Kontestatäre, die Kritiker der damahgen Ges.ellschaft, nicht viel
übrig gehabt haben. Die paideia, Erziehung und Kultur, ist für ihn eine
Frage der Anpassung, der Heranbildung einer Elite. AUe, die sich nicht
anpassen waUen oder können" alle,. die nicht gebildet sind, bleiben
Randerscheinungen und tragen nichts zur wahren Menschlichkeit bei .
Natürlich teilen nicht aUe seine Zeitgenossen den Standpunkt Quinti-
lians. Die "Philosophen" dachten in dieser Sache anders. So hehandelt
der Philosoph und Stoiker Seneca (gest. 65 n. ehr.) in einem Brief (Epist.
88) zwar die sogenannten artes liberales, hat aber auch seine Bedenken
gegen sie. Die artes liberales oder freien Künste sind die praktischen und
theoretischen Fertigkeiten, die der freie Bürger ausübt, ohne damit Geld
verdienen zu wollen, und die in der klassischen Erziehung vermittelt
werden. Seneca nennt deren sieben: Grammatik, Dialektik, Rhetorik,
Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik. Er gibt jedoch zu
bedenken, daß es eigentlich nur eine einzige freie Kunst gibt,. die darin
besteht, sich auf die Weisheit (sapientia) oder die Philosophie zu vede-
gen. Sie ist die einzige Kunst, die wirklich frei macht. AUes übrige ist
belangloses Kinderspiel. Wörtlich heißt es da: "Ceterum unum studium

61
vere liberale est, quod liberum facit, hoc est sapientiae, sublime, forte,
magnanimum; cetera pusiHa et puerilia sunt. Er fügt hinzu, daß die
C(

sogenannten freien Künste, zu denen auch die Rhetorik gehört, den


Menschen nicht zu wahrer Tugendhaftigkeit leiten, sondern ihn viel-
mehr von ihr entfernt halten. Dieser Brief Senecas wurde zur selben Zeit
geschrieben wie die I nstitutio oratoria Quintilians!.
Auch die Gegenüberstellung von Wissenschaft (Gelehrsamkeit und
sogar philosophischer Gelehrsamkeit) und Weisheit (sapienti.a, sofia)
scheint einen Aspekt des Gegensatzes zwischen Rhetorik und Philoso-
phie auszumachen. Doch sollte man sich keine allzu einfache Vorstel-
lung von diesem Gegensatz machen, denn auch der Rhetor behauptet,
die Weisheit in hervorragender Weise zu vermehren. In seinem Fall
handelt es sich jedoch eher um die praktische und pragmatische Weisheit
eines Menschen, der gewandt ist in Sprache und Denken, rechtschaffen
in der Weh steht und seinen Platz in der Gesellschaft kennt.

, '

62
VI. Augustinus un,d die Rhetorik

Der Konflikt zwischen dem Christentum und der antiken Kultur, mit
dem die Kirche im Altertum konfrontiert wurde,. darf keinesfalls unter-
schätzt werden. Die christliche Botschaft und die klassische Literatur
waren in vieler Hinsicht nicht miteinander vereinbar - und die Kirchen-
väter waren sich dessen bewußt. Die gebildeten Christen hatten meist
eine Ausbildung zum Rhetor genossen und kannten die klassische
Literatur zweifellos gut. Viele von ihnen hatten erkannt,. daß sie stili-
stisch und inhaltlich eine schier unerreichbare Schönheit hesaß. Sie
waren vertraut mit der Rhetorik sowohl als einer Kunst des Überzeu-
gens als auch im literaturwissenschaftlichen Sinne. Zugleich standen sie
einer Religion gegenüber, die als ihre höchste Autorität ein Korpus von
Texten mit sich bringt: die Heilige Schrift. Für den geschulten Rhetoren
wurden diese Texte häufig zu einer QueHe des Mißvergnügens und
Ärgernisses. Überdies wurde die neue Religion durch Redner (Prediger)
und Schriftsteller (Lehrer und Apologeten) verkündigt, die zunächst
hinter jenen,. mit denen sie vertraut waren, weit zurückstanden.
In einem Brief des Hieronymus (347-419) kommt dieser Konflikt sehr
beredt zum Ausdruck. Er schreibt (Epist. XXII), daß er in Zukunft das
Leben eines Asketen führ,en und alles preisgeben wolle. Er konnte
jedoch unmöglich auf seine Bibliothek verzichten. Seine Fasten- und
Bußübungen standen im Wechsel mit der Lektüre von Cic,ero und
Plautus. Jedesmal wenn er zur Heiligen Schrift griff, störten ihn deren
Stil und Formgebung außerordentlich. Eines Tages wird er krank und
muß im Traum vor dem Richter erscheinen, um sich zu verantworten.
Hieronymus sagt: "Ich bin Christ," Aber der Richter antwortet: "Du
bist kein Christ, sondern ein Ciceronianer (non christianus,. sed cicero-
nianus), denn da, wo dein Schatz liegt, ist auch dein Herz." Hieronymus
schweigt erschrocken und schwört sodann,. keine heidnischen Bücher
mehr zu lesen. Von diesem Augenblick an ist er überzeugt, daß die
heidnische Poesie, die rhetorische Literatur und weltliche Weisheit

63
m

nichts anderes als "die Speise des Teufels" sind. Später wird er unablässig
aufzuzeigen suchen, daß die Heilige Schrift poetische und stilistische
Schönheit und literarische und rhetorische Werte besitzt, die keinesfalls
hinter jenen der klassischen Literatur zurückstehen.. Ein derartiger Ver-
such, die Heilige Schrift und die Werke des Altertums gegeneinander
abzuwägen, wurde bei den frühmittelaherlichen Autoren zu einem der
bedeutendsten Themen. Häufig sollten sie sich auf diesem Wege auch
mit der rhetorischen Problematik auseinandersetzen.
Auch Augustinus (354-43'0) wurde mit dem Konflikt zwischen Chri-
stentum und antiker Kultur konfronti,ert. Soweit bekannt, war er ein
außerordentlicher Stilist und großer Redner. Seine Bekenntnisse gehören
stilistisch und literarisch gesehen zum Besten,. was das christliche Alter-
tum an Literatur hervorgebracht hat. Er war als Prediger so bekannt,
daß seine Predigten schon zu seinen Lebzeiten überall verbreitet waren.
Als Katechet verstand er es, mit großer Einfachheit und beträchtlicher
Klarheit dem gewöhnlichen Volk die christliche Botschaft auszulegen.
Er war gleichzeitig ein hervorragender Polemiker und Meister in öffent-
lichen Diskussionen. Seine Dispute besaßen eine derartige Anziehungs_
kraft, daß die Menschen in Massen.zusammenströmten,. um Augustinus
zu hören. Zugleich nahm er jedoch Anstoß daran; wie er schreibt,
"kommen die Menschen offensichtlich eher des Schauspiels, denn der
Wahrheit wegen" (Epist. 44,1).
In seiner Jugend hatte Augustinus eine umfassende Ausbildung Zum
Rhetor erhaben. Er kannte die klassischen Werke und war ein großer
Bewunderer Ciceros. Nach Abschluß seiner Studien sah er sich regelmä-
ßig mit dem Problem der "akademischen Arbeitslosigkeit" konfrontiert,
aber er muß ein brillanter und zudem ehrgeiziger Lehrer der Rhetorik
gewesen sein. Mit zweiunddreißig Jahren bekehrt er sich zum Christen_
tum. Diesem Glaubenswandel gingen, wie zur Vorbereitung, eine Hin-
wendung auf die Philosophie - anfangs den Manichäismus,. später den
Neoplatonismus - und eine Abkehr von der Rhetorik voraus. In den
Bekenntnissen, in denen er diese Wandlung beschreibt,. ergeht er sich in
abwertenden und spottenden Bemerkungen über die Rhetorik. Sie sei
Wortkrämerei, ein Gemisch aus List und Betrug;. die Unwahrheit werde
in einen Überfluß von Worten eingekleidet und geglättet. D'ie Rhetorik

64
steht für eine vollkommene Leere, die mit hohlen Phrasen angefüllt
wird. Noch stärker als bei Platon ist hier die Spannung zwischen Philo-
sophie und Rhetorik spürbar.
Vor und während seines Übergangs zum Christentum hat Augustinus
an der Heiligen Schrift Anstoß genommen. Die Bibel ist für ihn eher ein
Hindernis als eine Einladung zum Eintritt in die Kirche. Die Schrift
besteht in seinen Augen aus einer Reihe von enttäuschenden Texten, die
vielleicht für einfache Mitglieder wie seine Mutter,. nicht aber für Intel-
lektuelle wie ihn geeignet sind. Ihr Stil und ihre Sprache, ihre Formge-
bung und ihr Aufbau erfüllen ihn sogar mit Abscheu. Der gelehrte,
höchst gebildete Ambrosius wird ihn in Mailand schließlich lehren, wie
er die Schrift zu lesen hat. Es handelt sich um eine "geistliche Bedeu-
tung e( und um eine "innere Wahrheit". Augustinus muß von Ambrosius
sehr tief beeindruckt gewesen sein. Er bemerkt, daß der Bischof von
Mailand,. im Gegensatz zur Gewohnheit, nicht laut liest (Conf VI, 3,. 3).
Diese stille Art zu lesen und die ständige Aufmerksamkeit auf den
eigentlichen Sinn sind ein wichtiger Aspekt der Veränderung, die Augu-
stinus durchmachte. So wie große SchriftsteHer bedeutend sind,. weil sie
einen neuen Stil zu schreiben eingeführt haben, sind es große Denker
häufig deshalb, weil sie eine neue Art zu lesen gelehrt haben. Natürlich
haben wichtige Denker gut geles,en, doch ,gut' bedeutet wohl hei jedem
von ihnen etwas anderes. Man denke zum Beispiel an Kant,. der die
traditionellen metaphysischen Texte als eine Wirkung des transzendenta-
len Scheins las; an Hegel, der in den philosophischen Schriften Momente
des Werdens des absoluten Wissens sah; an ScheHing, der die Mythen als
eine Manifestation von Identität und Differenz las; an Marx, der bei
seiner Lektüre besonders für die sozial-ökonomischen und politischen
Hintergründe und Implikationen empfänglich war; und an Nietzsche,
der in allen philosophischen Texten eine verborgene Rhetorik a.m Werke
sah. Auch Augustinus hat für die - um Nietzsche zu zitieren - "unv,er-
gleichliche Kunst gut zu lesen" einen wichtigen Beitrag geleistet. D'urch
Ambrosius' Anregung las er die Texte zum ersten Mal mit dem Blick für
ihre geistliche Bedeutung und innere Wahrheit.
Außer diesem neuen Stil zu lesen hat er sich auch einen neuen Stil zu
sprechen (und zu schreiben) angeeignet. Augustinus' umfangreiches

65
CEuvre ist von von Bemerkungen über die Sprache, die persuasive
Kommunikation und jenes neue Ideal des Sprechens, dem er huldigt. Im
vierten Buch von De doctrina christiana geht er ausdrücklich darauf ein.
Man kann dort lesen,. daß Augustinus die rhetorische Technik an sich
weder für gut noch für schlecht hält. Alles hängt davon ab, wie man sich
ihrer bedient. Die Rhetorik selbst ist ein neutrales Mittel. Sie kann ein
Gift, aber auch ein Heilmittel sein. Allein das Ziel bestimmt ihren Wert.
Die Rhetorik ist gut, wenn sie im Dienste der Wahrheit steht, d. h.
wenn sie zur Verkündigung der christlichen Botschaft verwendet wird.
Sowohl das Lesen als auch das Schreiben rein literarischer Texte, in
denen die sprachlichen Mittel zum Selbstzweck werden, lehnt Augusti-
nus entschieden ab. "Absit a nobis, inquam, tanta dementia": Fern von
uns sei - sage ich - eine derartige Torheit (De doetr. ehr. IV, 14,30).
Dennoch darf man bei der Verkündigung der Wahrheit versuchen,.
Gefallen zu erwecken. Es ist erlaubt, die christliche Botschaft schön ,
anziehend 'und stilgerecht in Worte zu fass,en - jedoch nur unter einer
Bedingung: Es ist nur insoweit gestattet, als es nützlich ist, d. h. nUr
dann, wenn man dadurch Gehör zu finden versteht, Aufmerksamkeit Zu
wecken und zu erhalten weiß und die Zuhörerschaft gegen Ermüdung Zu
schützen vermag (IV, 10, 25). Augustinus war darin übrigens ein Meister.
Die rhetorische Technik und die oratorischen Regeln,. wie sie von
Cicero und anderen gelehrt wurden, haben zweifellos ihren Nutzen. Es
mag hilfreich sein, sie zu kennen. Augustinus zufolge aber sind sie weder
notwendig noch unentbehrlich. H. I. Marrou behauptet in seinem Buch
St. Augustin et la fin de la culture antique,. ~ daß der Augustinische
Standpunkt eine Revolution in der klassischen Erziehung darstelle . Seit
Jahrhunderten - tatsächlich seit der Zeit des Isokrates, die schon sechs-
hundert Jahre zurücklag - war das große Ideal der ,paideia' die Erzie-
hung zur Beredsamkeit, die an ein rechtscha.ffenes Leben und Denken
gebunden war. Das ist für Augustinus nicht länger der Fall. Ebenso-
wenig wie man, um ein guter Christ zu sein, einer intellektuellen Elite
angehören muß, ist es erforderlich, ein Rhetor zu sein, um semnen
Glauben weitergeben zu können.
Auch die Anforderung,en, die Augustinus an den Stil einer Rede oder
eines geschriebenen Textes stellt,. sind im Vergleich zum klassischen

66
Altertum neu. Seiner Ansicht nach muß er klar und einfach, sachlich und
ernst und nicht zuletzt biblisch inspiriert sein. Es wird nicht mehr
verlangt, daß alles Gesagte oder Geschriebene in jeder Hinsicht sprach-
lich und grammatisch gerechtfertigt ist (Latinitas). Um der Deutlichkeit
willen mag man getrost von den üblichen Sprachgewohnheiten und
grammatischen Regeln abweichen. Der Schönheit einzig und aHein um
ihrer selbst willen nachzustreben, bedeutet einen Mangel an Ernst und
Sachlichkeit. Was wahre Schönheit anbelangt, so steht der biblische
Sprachgebrauch darin nicht hinter dem der heidnischen Schriften zu-
rück. Im Gegenteil: das biblische Wort genießt aufgrund seiner Wahr-
haftigkeit den Vorzug. (IV) 6,. 9)
Nach diesen Hemerkungen über die Rückführung der Rhetorik auf ein
neutrales Mittel und über die Anforderungen, die Augustinus an den Stil
stellt - Schönheit spielt hier offensichtlich eine untergeordnete Rolle -
fragt man sich vielleicht erstaunt und verwundert, wie es denn mit der
wirklichen und tatsächlichen Schönheit der Augustinischen Sprache
selbst bestellt ist. Viele seiner Schriften gehören immerhin zum Besten
der lateinischen Literatur. Manch einer hat darin einen Widerspruch
gesehen und behaupt,et, daß sich Augustinus nicht in jedem Falle an
seine eigenen Ideale und Prinzipien gehalten hat. Wahrscheinlich verhält
es sich jedoch nicht so. Die Schönheit seines Stils besteht eben darin, daß
Augustinus so klar und einfach, so ernst und sachlich wie möglich zu
sagen versucht, was er zu sagen hat. Dank seiner großen Begabung und
rhetorischen Schulung war er gerade darin erfolgreich. Er hat auf diese
Weise gleichsam ungewollt ein Werk hinterlassen,. das auch bei rein
literarisch (oder rhetorisch) Interessierten Bewunderung hervorzurufen
vermag.
Damit aber haben wir das Wichtigste in Anbetra,cht seiner Haltung
gegenüber der Rhetorik noch nicht gesagt; auch nicht in Anbetracht des
Spannungsverhältnisses zwischen Ausdruck (Rhetorik) und Wahrheit
(Philosophie), wie es sich in seinem Falle darstellt . Hinter allem Gesag~
ten verbirgt sich noch etwas anderes;. eine ,eigene Auffassung vom Wesen
der Sprache und der Kommunikation, von der Bedeutung monologi-
scher Rede und dialogischen Gesprächs. Eines seiner Hauptprobleme
bestand für Augustinus darin, zu verstehen, wie man mit Hilfe von

67
Worten - und es handelt sich dabei ja in der Tat um Zeichen - jemanden
etwas lehren könne. In einem Werk mit dem Titel De magistro (D'er
Lehrmeister) kommt er zu folgendem Schluß: Der Mensch kann durch
die Sprache und sein Sprechen wohl etwas mitteilen und in Erinnerung
rufen j. wirklich etwas lehren kann er allerdings nicht. Wahre Einsicht ist
durch Worte weder zu übermitteln noch zu erlangen. Die Wahrheit
selbst ist nmcht mitteilbar. Um wirklich zur Einsicht zu gelangen und die
Wahrheit einzusehen, ist eine innere Erleuchtung und Illumination
notwendig. Man lernt: nicht voneinander, sondern nur von einem magi-
ster interior, einem inneren Lehrmeister, in dessen Lehre man durch die
Besinnung auf sich selbst gehen kann . Augustinus nennt ihn auch "den
Christus", der nicht ein äugerliches, materielles, hör- oder lesbares )

sondern ein innerliches und geistliches Wort spricht. Der Mensch kann
ihn nur in seinem Herzen vernehmen und mit den Ohren seines Geistes
auf ihn hören. Allein dieses Wort ist wirklich von Bedeutung,. denn der
Geist macht lebendig, und der Buchstabe tötet.
Augustinus stellt daher die Forderung,. sich in sich seibst zu kehren,
da in der Innerlichkeit des Menschen die Wahrheit wohne ("Redi in
teipsum, in interiore hominis habitat veritas"). Nicht die Sprache,
sondern der Geist ist das Haus der Wahrheit. Ausdrücklich wendet sich
Augustinus sowohl vom monologischen Wort der Redner als auch vom
dialogischen Wort Platons ab, um sich dem innerlichen Gespräch mit
einem nicht empirisch gegebenen Anderen zuzuwenden, den er "Gott"
nennt. Es ist das Gebet. Letzten Endes kann man von einem äußerlichen
Lehrer nichts lernen. Der traditionelle Unterricht wird in De magistro
deshalb radikal in Frage gestellt. Auch durch das Zwiegespräch gelangt
man nicht zur Wahrheit . Die Dialoge, die Augustinus anfänglich ge-
schrieben hat, sind daher von ganz anderer Art als die platonischen. Sie
laufen alle auf ein Selbstgespräch mit dem Schöpfer hinaus. Bei Augusti-
nus ist die Wahrheit nicht länger eine Frage des Wortes, wie es bei den
Sophisten und, in einem gewissen Sinn, sogar noch bei PIaton der Fall
war; die Wahrheit ist vielmehr ein innerliches Geschehen.
Das innerliche Gespräch mit Gott oder das Gebet ist im Vergleich mit
dem rhetorischen Monolog und dem platonischen Dialog eine neue Art
des Sprechens. Es ist nicht an eine Sprache gebunden und ist gleichzeitig

68
die wichtigste Voraussetzung dafür, daß man zur Wahrheit findet. In De
doctrina christiana und in De magistro besteht der beste Rat, den
Augustinus all denen gibt, die sprechen oder schreiben wollen, darin,
mit Gott zu sprechen und ihm zuzuhören. Auch die Bekenntnisse, in
denen der Autor seinen eigenen Weg zur Wahrheit schildert, sind in
Form eines Gebets geschrieben. Es handelt sich um eine bekenntnishafte
sprachliche Selbstdarstellung einem anderen gegenüber, der nicht in die
menschliche Ordnung gehört, der die erschaffene Welt übersteigt und
selbst ihr Schöpfer ist. Dieses innerliche Gespräch muß letztlich zu einer
gewissen Wortlosigkeit führen. Schweigen und Zuhören w,erden der
Sprache und dem Ausdruck vorgezogen. Zumindest muß man jeden
Überfluß an Worten vermeiden und darf nicht beten,. wie die Heiden es
tun. Sofern man überhaupt Worte gebraucht, süll man sich durch die
Bibel inspirieren lassen und nur diejenigen Worte sagen, die der Herr
selbst uns gelehrt hat.
Obwühl Augustinus ein Meister des Wortes, ein überragender Redner
und Schriftsteller ist" lehnt er jede Verherrlichung der Rhetürik ab und
weist jede Auffassung zurück, die die Wahrheit als eine Wirkung der
Sprache oder als ein Resultat menschlicher Rede begreift. Für ihn ist die
Wahrheit göttlichen Ursprungs. Wie es allerdings mit der Schlüssigkeit
der biblischen Texte und der Wirksamkeit der christlichen Botschaft in
der gläubigen Gemeinde bestellt ist, bleibt unklar. Auch die Rolle des
persuasiven Sprechens in Form einer Predigt, die ein Ganzes von Glau-
bensüberzeugungen zustande bringt,. kommt hier nicht wirklich zu
ihrem Recht. Bei Augustinus besteht eine offenkundige Tendenz,. die
Wahrheit von ihrer Verlautbarung zu lösen und sie als eine rein geistliche
und göttliche Angelegenheit aufzufassen. Das bezeichnende Wort wird
von dem, der es zur Bezeichnung verwendet, getrennt.
Wenngleich Augustinus ein grüß er Redner war und einen bedeuten-
den Beitrag zur geistlichen Ber,edsamkeit gdeistet hat, steht er nicht auf
der Seite der Rhetorik, sondern vielmehr auf der der "Philosophie". D'ie
Philosophie der Innerlichkeit und der eigentlichen Bedeutung hinter
oder unter den Wörtern ist übrigens ohne ihn nicht denkbar.

69
VII. Die "Fr,eien Künste" und die Erziehung
im Mittelalter

Im mittelalterlichen Erziehungswesen nahmen die artes lib'erales, die


freien Künste einen wichtigen Platz ein. Man sprach vom septenniurn
(dem Siebenweg), der in das tri'Vium (den Dreiweg) und das quadrivium
(den Vierweg) unterteilt wurde. Das trivium umfaßte Grammatik, Rhe-
torik und Dialektik, das quadrivium Arithmetik, Geometrie, Musik und
Astronomie.
Im Grammatikunterricht lernte man zunachst Lesen und Schreiben.
Die Grammatik als ars recte loquendi enthielt die Regeln des korrekten
Sprechens und Schreibens. Sie behandelte die Rechtschreibung, den
Wortschatz und insbesondere die Struktur der Sprache (Subjekt, Prädi-
kat, Substantiv, Pronomen, Partizip usw.). Dabei wurde meist voraus-
gesetzt, daß die Struktur der Sprache der des Seienden und der des
Begreifens entspreche. Diese Voraussetzung hat u. a. zu einer sogenann_
ten grammatica speculativa geführt. In vieler Hinsicht ist die mittelalter_
liche Grammatik ein Vorläufer der modernen Linguistik.
Die Rhetorik war der zweite, manchmal auch der dritte Weg des
triviums. Diese Disziplin bezog sich vor allem auf den Stil und auf die
Art, wie man etwas sagt. In der Rhetorik als der ars bene dicendi und der
ars persuadendi standen Schönheit, Anziehungs- und Überzeugungs_
kraft im Mittelpunkt. Man gab Regeln dafür an, wie das zu Sagende
einzukleiden und auszuschmücken war. Im Grunde genommen waren
Einkleidung und Ausschmückung nebensächlich. Die Rhetorik deckte
sich zu einem großen Teil mit dem, was man heute als Literaturwissen_
schaft bezeichnet.
In der Dialektik wurden der Begriff, das Urteil und die Argumenta_
tion behandelt. Im Kapitel über die Argumentation wurde die Rhetorik
oft von neuem besprochen. Außer der eigendichen Argumentation
wurden nämlich auch der Trugschluß,. der unvollständige Syllogismus
und das nicht streng rationale Überzeugen behandelt. 1m Mittdpunkt

70
dieser Übedegung,en standen Wahrheit, Vernünftigkeit und Einsicht.
Die Dialektik fiel großenteils mit dem zusammen, was wir heute, beson-
ders seit Kant, Philosophie nennen.
Die sieben freien Künste bereiteten im Mittelalter nicht mehr, wie im
Altertum, auf die Philosophie oder die phi~osophische Weisheit vor,
sondern vielmehr auf die Theologie, die souverän außerhalb und über
den freien Künsten stand und als die einzige echte Wissenschaft und
wahre Weisheit angesehen wurde. Die fremen Künste (und die Philoso-
phie) galten als Hilfsmittel (ancilla) der Theologie, als Durchgangsphase
auf dem Wege zum Wissen über die göttlichen Dinge.
Der bedeutendste Beitrag zur Klassifikation der sieben freien Künste
und sogar zur Heiligung dieser Einteilung stammt von einem gewissen
Martianus Capella, einem nicht-christlichen Zeitgenossen des Augusti-
nus, gleichfalls aus Nord-Afrika stammend. Um das Jahr 420 schrieb er
ein allegorisches, für den modernen Leser etwas sonderbares Buch mit
dem Titel De nuptiis Philologiae et Mercurii (Über die Heirat zwischen
Philologia und Mercurius). Dieses Werk hat im Mittelalter großen
Einfluß ausgeübt und wurde vielfach kommentiert. Der Autor be-
schreibt die Heirat zwischen dem Gott Merkur und der Philologia, die
das Wissen des Menschen im ganzen vorstellt. Sie wird durch diese
Heirat in den Stand der Götter erhoben. Als Brautgeschenk empfängt sie
sieben Brautjungfern, die freien Künste. Sie werden als Frauen personifi-
ziert, denen verschiedene Attribute zugesprochen werden. Zum Beispiel
ist die Grammatik eine alte Frau, die in einem Kästchen aus Elfenbein
einige Messer und Feilen mit sich führt, um die Sprachfehler der Kinder
chirurgisch zu heilen. Die Rhetorik ist eine junge, schöne und große
. Frau, die ein mit diversen rhetorischen Figuren v,erziertes Kleid trägt. Sie
ist mit Waffen ausgerüstet, mit denen sie den Gegner angreifen und
verwunden kann. Sie besitzt Schönheit und Überzeugungskraft. Auch
die anderen Künste wurden ähnlich dargestellt. Im Mittelalter war man
mit diesen allegorischen Figuren vollkommen vertraut. Sie wurden
häufig abgebildet, u. a . auf den Portalen gotischer Kathedralen (Notre
Dame in Paris, Chartres).
Im frühen Mittelalter haben verschiedene Autoren über die freien
Künste geschrieben. In ihren Werken behandelten sie auch die Rhetorik.

71
Die wichtigsten unter ihnen sind: Cassiodor,. Isidor von Sevilla, Beda
Venerabilis, Alkuin und Notker.
Cassiodor (490-583) schrieb De artibus ac disciplinis liberalium litte-
rarum (P. L., LXX, S.1149-1220). Im zweiten Kapitel geht er aus-
drücklich auf die Rhetorik ein. Er schätzt die profane Literatur (saecula-
res litterae), die weltlichen Schriftsteller (mundani auctores) und die
Weltweisheit (mundi sapientia). Ihr Studium ist für das Studium der
Bibel unverzichtbar. Über die Rhetorik sagt er, daß sie vor allem in
bürgerlichen Angelegenheiten notwendig und achtenswert sei (".maxime
in civilibus quaestionibus necessaria nimis er honorabilis aestimatur" -
S. 1151). Darüber hinaus gibt er eine detaillierte Einteilung der Rhetorik.
Isidor von Sevilla (560-636) hat ein umfangreiches Werk mit dem
Titel Etymologarium [ibri XX (P. L.,. LXXXII, S. 74-727) geschrieben.
Dieses enzyklopädische Kompendium des menschlichen Wissens zeugt
von einer enormen Belesenheit. Es enthält ausführliche Darstellungen
der Natur und der Weltgeschichte. Das zw·emte Buch behandelt die
Rhetorik und die Dialektik. Sowohl Isidor als auch Cassiodor geht es in
erster Linie darum, das Erbe des klassischen Altertums zu bewahren und
weiterzugeben. Ihre Werke sind wenig originell und recht schulmäßig.
Beda Venerabilis (672-735) hat ein Werk über die Poesie (De arte
metrica) verfaßt, das Reim, Rhythmus, Versfüße und dergleichen mehr
behandelt. In der Einleitung zu einem relativ kurzen Text mit dem Titel
De schematibus et tropis sacrae scripturae (P. L., XC, S. 175-186) betont
er, daß die Heilige Schrift allen anderen Texten in nichts nachstehe und
ihnen in vieler Hinsicht sogar überlegen sei. Sie ist überlegen in Anbe-
tracht ihrer Autorität, die eine göttliche ist, in Anbetracht ihres Nutzens
- sie weist den Weg zum ewigen und wahrhaftigen Leben -, in Anbe-
tracht ihres Alters - sie ist älter als alle anderen Schriften; und schließlich
auch in Anbetracht der Art zu sprechen oder des Stils. Beda sagt: ,,lpsa
praeeminet in positione dicendi. ({ Anschließend gibt er eine Liste der
sogenannten schemata oder Figuren (17) und tropen (15). Jedesmal führt
er eine Definition und einige Beispiele an, die alle der Heiligen Schrift
entlehnt sind, um so zugleich deren Überlegenheit aufzuzeigen. Als
Schemata bespricht er u. a. di,e Konjunktion, die Subjunktion, die
Wiederholung und den Vergleich. Als Tropen behandelt er die Kata-

72
------------~==--~=~

chrese, die Synekdoche, die Periphrase, die Allegorie und natürlich die
Metapher und die Metonymie. Die Metapher wird als rerum et ver-
borum translatio (Übertragung der Wärter und Dinge) definiert, die
Metonymie als transnominatio, ab alia significatione ad aliam proximita-
tern translata (Namensverschiebung,. von einer Bedeutung zu einer
anderen benachbarten übertragen). Auf das Problem der Überlegenheit
der Bibel kommen wir unten noch zurück.
Alkuin (730-804) schrieb den D'i.alogus de rhetorica et virtutibus
(P. L., CI, S. 919- 950). Es handelt sich um einen ganz s.chulmäßig im
Wechsel von Frage und Antwort aufgebauten, fiktiven Dialog zwischen
Kar! dem Großen (Carolus rex) und Alkuin (Albinus magister), Es wird
fast ausschließlich von der Struktur der Rechtsprechung gesprochen:
darüber, wie Recht zu sprechen ist, und über die gerichtliche Beredsam-
keit. Der Kontext dieser Schrift ist von großer Bedeutung. Auf dem
europäischen Festland herrschen wahre Barbarei, Kulturlosigkeit und
Unwissenheit. KarI der Große will im Fränkischen Reich die Bildung
fördern und die Kultur zur Entfaltung bringen. Er bedient sich dazu
englischer Mönche, u. a. auch des Alkuin. Eine Reihe von Klosterschu-
len wird gegründet, in denen Grammatik, Rhetorik und Dialektik
unterrichtet werden. Die Fähigkeit, sein Wort gut zu führ,en, wird als
sehr wichtig für eine ordentliche Rechtsprechung angesehen.
Notker Labeo (950-1022), genannt "Teutonicus", war Leiter der
Klosterschule von St. Gallen. Er übersetzte das Werk des Martianus
Capella ins Althochdeutsche und verfaßte zudem eine ars rhetorica. Er
hatte großen Einfluß auf die Entstehung einer autochthonen deutschen
Literatur.
Die Schriften Cassiodors, Isidors, Bedas, Alkuins und Notkers haben
aufgrund ihrer etwas naiven Schlichtheit und Unmittelbarkeit einen
gewissen Reiz. Auf den ersten Blick enthalten sie wenig, was zu einer
besseren Einsicht in das gespannte Verhältnis zwischen Rhetorik und
Philosophie beiträgt. Zwei Probleme, die in diesen Werken regelmäßig
vorgetragen werden, sind in diesem Zusammenhang jedoch von Bedeu-
tung: die Rechtsprechung, die, wie wir sehen werden, später als Modell
für den Unterricht diente, und vor allem das Ansehen der Heiligen
Schrift.

73
Die Heilige Schrift ist ein Text oder eine Sammlung von Texten, die im
Mittelalter mit großer Ehrfurcht gelesen wurden: Der Text wurde
eingehend studiert und in der Liturgie feierlich vorgetragen. Die Rheto-
rik war fur die Lektüre von großer Bedeutung. Die Hermeneutik oder
Interpretation schloß sich eng an die rhetorische Analyse an und der
liturgische Vortrag setzte eine rhetorische Schulung voraus. Die Heilige
Schrift galt überdies als ein in jeder Hinsicht überlegenes Werk. Es gab
im Mittelalter eine klare Rangordnung innerhalb des Bestandes von
überlieferten Texten. Obenan stand die Bibel, die die höchst,eMacht
darstellte und als Kriterium für die Wahrheit und den Wert aUer anderen
Texte fungierte. Auch sie besaßen eine gewisse, wenn auch untergeord-
nete Autorität. Auch unter diesen Texten gab es eine gewisse Hierarchie.
Der Bibel folgte unmittelbar die christliche Tradition mit den Werken
heiliger und nicht-heiliger Autoren. Die nicht-christliche Tradition
schloß sich daran an; auch sie war einer bestimmten Rangordnung
unterworfen. Wenn im Mittelalter große Spannungen zwischen Philoso-
phie und Theologie) Vernunft und Glauben, autonomem Denken und
Lehrmeinung, weltlicher und göttlicher Weisheit bestehen, handelt es
sich in erster Linie um eine Spannung innerhalb dieser Texthierarchie
und um das Ansehen verschiedener Traditionen. Letzten Endes handelt
es sich um ein rhetorisches Problem, denn alle Argumente, die man der
Tradition oder den vorliegenden Texten entlehnt, sind in der Tat keine
"philosophischen", sondern "rhetorische" Argumente.
Auch das, was im Hochmittelalter ausdrücklich über die Rhetorik
gesagt wird,. wirft im Hinblick auf den Konflikt zwischen Rhetorik und
Philosophie nicht viel ab. Selbst als gegen Ende des dreizehnten Jahr-
hunderts Aristoteles' Abhandlung über die Rhetorik in Europa bekannt
wird, hat das keine große Bedeutung. Der Traktat wurde im Mittelalter
nur selten studiert. Einzig und allein bei Aegidius Romanus findet sich,
. soviel wir wissen, eine Diskussion über das Verhältnis zwischen Philoso-
phie (in Wirklichkeit vor allem Ethik und Politik) und Rhetorik. Sie fällt
bei diesem Autor eindeutig zugunsten der Philosophie und zum N ach-
teil der Rhetorik aus. Von größerer Bedeutung für das Spannungsver-
häknis zwischen den heiden Disziplinen ist die reale Struktur des

74
Unterrichts. Dabei ist nicht so sehr die rhetorische Theorie, sondern
vielmehr die rhetorische Praxis relevant.
Während des Hochmittelalters stand in der Schule wohl zunächst die
sogenannte lectio im Mittelpunkt des Geschehens. Sie bestand im Lesen
und Auslegen eines Textes, der eine gewisse Autorität besaß (z. B. die
Bibel,. Petrus Lombardus usw.). Die Auslegung schloß vor allem eine
gründliche Analyse (expositio) ein, in der eine Reihe von Unterscheidun-
gen getroffen wurden. Außerdem wurden eine Anzahl Fragen mit
Argumenten pro und contra formuliert. Diese lectio wurde dann allmäh-
lich von der sogenannten disputatio verdrängt, einem öffentlichen Streit-
gespräch oder einer Diskussion vor einem Publikum. Dieser Disput war
eine Art angewandter Dialektik. In der Tat ging es in solchen Streitge-
sprächen recht rhetorisch zu. Die Rhetorik wurde weniger doziert als
vielmehr praktisch ausgeübt. Die rhetorische Struktur der disputatio ist
deutlich aus der FragesteHung oder Aufgabe, der Zielsetzung und dem
Aufbau der Argumentation zu ersehen. Es ist von Interesse, der dispu-
tatio unter solchen rein formalen, stilistischen und strukturellen Ge-
sichtspunkten einige Aufmerksamkeit zu widmen.
In der disputatio wird dem Redenden ein bestimmtes Problem vorge-
legt. Es wird eine Frage formuliert und der Redende muß eine hefriedi-
gende Antwort geben. Viele dieser Fragen und Antworten wurden unter
dem Titel Quaestiones disputatae de quolibet üherliefert. Der Deutlich-
keit halber geben wir hier einige, vieneicht etwas tendenziös gewählte
Beispiele: Heinrich von Gent (Quaest. Disp., XV, 15): "Utrum lieeat
disputari de potestate prelatorum a magistris in scholis?" (Ist es den
Lehrern der Schulen erlaubt, über die Macht der Prälaten zu disputie-
ren?) Thomas von Aquin (Quaest. Disp., V, 26): "Utrum religiosi
debeant tolerare suos impugnatores?" (Müssen Geistliche gegenüber
ihren Gegnern tolerant sein?) Jakob von Viterbo (Quaest. Disp.) IU, 9):
"Utrum in Deo sit prius et posterius?" (Gibt es in Gott ein Früher und
ein Später?) Derselbe (Quaest. Disp., III, 18): "Utrum angeli magis se
diligant mutuo quam duo homines?" (Lieben Engel einander mehr als
zwei Menschen?) Derselbe (Quaest. Disp., I, 16): ,.,Utrum scilicet felicior
sit mulier nupta quam virgo nuptura?" (Ist eine verheiratete Frau
glücklicher als eine Jungfrau, die im Begriff ist zu heiraten?) Derselbe

75
(Quaest. Disp., III, 22): "Utrum virgo, quae votum virginitatis emisit,
videns adversum se venire violatorern, cuius violentiam non possit
effugere nisi ipsum occidendo, debeat ipsum occidere vel magis debeat
permittere se violari?" (Muß eine Jungfrau, die das Gelübde der Jung-
fräulichkeit abgelegt hat, im Falle, daß sie einen Menschen, der sie
vergewaltigen will, auf sich zukommen sieht,. denselben töten, wenn ihr
kein anderer Ausweg bleibt, um der Vergewaltigung zu entgehen, oder
muß sie es zulassen, vergewaltigt zu werden?) Und so kann man noch
zahllose Beispiele anführen. Dabei fällt auf, daß die Aufgaben den
sogenannten declamationes der römischen Rednerschulen sehr ähnlich
sind. Als gegen Ende der Republik (44 v. ehr.) die Rhetorik in Rom aus
dem öffentlichen Leben verdrängt und zu einer Angelegenheit der
Schulen wurde, legte man den Schülern derartige Aufgaben vor. Bei
Sueton findet sich das folgende Beispiel: "Einige junge Leute aus der
Stadt begaben sich im Sommer nach Ostma und trafen am dortigen Strand
Fischer,. die gerade die Netze ausgeworfen hatten. Sie kamen mit den
Fischern überein, daß sie den Fang für einen festgesetzten Betrag
erhalten sollten. Die Summe wurde bezahlt, und man wartete auf das
Einholen der Netze. Als sie schließlich am Strand lagen, schien es, daß
kein einziger Fisch im Netz war, wohl aber ein geschlossener, mit Gold
gefüllter Korb. Daraufhin behaupteten die Käufer, daß der Fang ihnen
gehöre. Die Fischer entgegneten jedoch, daß der Korb mit dem Gold
ihnen zukomme." (Rhet. I, 1). Die Schüler mußten in einer überzeugen-
den und gut gegliederten Rede einen der beiden Standpunkte verteidi-
gen. Seneca der Ältere führt ein weiteres Beispiel an.: "Das Gesetz
verlangt, daß eine Priesterin rein und unhefleckt ist. Ein Mädchen wird
von Seeräubern gefangen genommen und verkauft. Ein Bordellbesitzer
erwirbt sie und zwingt sie zur Prostitution. Wenn die Männer zu ihr
kommen, versucht sie, sie zu überreden, daß sie sie unberührt lassen, sie
wohl aber bezahlen. Es gelingt ihr,. bis eines Tages ein Soldat zu ihr
kommt, der sich nicht bereden läßt. Er versucht sie zu überwältigen, sie
tötet ihn jedoch. Sie wird vor Gericht gesteHt und freigesprochen. In der
Folge wird sie zu ihrer Familie zurückgeschickt. Zu Hause angekom-
men, bittet sie um Aufnahme unter die Priesterinnen. Ihr Antrag wird
abgelehnt." (Contr. 1,2) Die Ähnlichkeit mit den Problemen der mittel-

76
aherlichen disputationes ist frappierend. Wichtiger ist aber folgendes:
Bei den Römern handelte es sich um rhetorische Aufgaben für die
Schüler einer Rednerschule. Die Studenten mußten ihren Standpunkt in
dieser Sache öffentlich verteidigen und übten sich dadurch im Disputie-
ren. Auch die mittelalterliche disputatio war eine rhetorische Aufgabe.
Das öffentliche Streitgespräch machte einen wesentlichen Bestandtei~
des mittelalterlichen Unterrichtswesens aus. Es hatte zweifellos auch
zum Ziel disputieren" argumentieren und formulieren zu lernen. Zu-
gleich war aber auch etwas Sportliches oder Spielerisches daran. Das be-
deutet nicht, daß die Probleme nicht ernst genommen wurden und keine
Konsequenzen nach sich gezogen hätten; man darf aber nicht vergessen,
daß es sich um eine "schulische" Angelegenheit handelte.
Im öffentlichen Disput ging es darum, einen wirklichen oder imaginä-
ren Gegner zu übertreffen oder zu widerlegen, um zuletzt als Sieger aus
dem Streit hervorzugehen. Ziel des Ganzen war der Sieg. Natürlich ging
es auch um die Wahrheit; was aber ist diese Wahrheit? Im Streitgespräch
versuchte man, die anderen für sich zu gewinnen. Man wollte die
Zustimmung der anderen, sogar aller anderen" erwerben. Allgemeine
Anerkennung mittels einer guten Argumentation und Rede zu finden,
stand im Vordergrund. Wenn man nicht alle Gegner oder gar keinen von
ihnen überzeugen konnte, bestand in einigen Fällen auch noch die
Möglichkei"t zu sagen: "Und doch ist es wahrl" Man berief sich dann auf
eine höhere Autorität, die die Behauptungen trotz allem als wahr
anerkennen würde. Diese höhere Instanz war im Mittelalter letzten
Endes das Wort Gottes. Auch damals konnte eine solche Inanspruch-
nahme pathologische Formen annehmen. Dies geschah dann, wenn man
durch dick und dünn, gegen aUe Wahrscheinlichkeit, ohne sich an etwas
oder an jemandem zu stören,. rücksichtslos an der Verteidigung einer
anfechtbaren und völlig absurden Position festhielt. Man verfiel dann in
die Idiotie einer strikten Partikularität. Die Berufung auf Höheres
konnte sich jedoch auch im Rahmen des Annehmbaren halten, der
natürlich nicht zu allen Zeiten derselbe war. Der Fortschritt des Wissens
war gewöhnlich mit einer Verlegung der gesetzten Grenzen verbunden .
Was hier über die Struktur der mittelalterlichen Streitgespräche gesagt
wurde, gilt übrigens auch für die Struktur der meisten zeitgenössischen

77
UB, F=reJburg r. Br"
philosophischen oder quasi-philosophischen Diskussionen, möglicher-
weise sogar für die Struktur der meisten philosophischen Auseinander-
setzungen. Auch in der zeitgenössischen Diskussion interessiert, wer als
Gewinner aus dem Wortstreit hervorgeht und allgemeine Anerkennung
findet. Wenn man keine Anerkennung zu erwerben vermag, kann man
auch heute noch darauf beharren, daß das, was man behauptet, doch
wahr sei. In unserer Zeit beruft man sich dann gewöhnlich nicht mehr
auf das Wort Gottes, sondern auf die sogenannten Tatsachen, die
Vernunft, die Evidenz usw., die ihrerseits eine Art "göttlichen" Anse-
hens besitzen. Die Verteidigung des eigenen Standpunkts kann auch hier
pathologische Formen annehmen,. sie kann sich aber auch in den
schwankenden Grenzen des Erträglichen halten. Zu ihnen gehären u. a.
der mehr oder weniger allgemein anerkannte Rahmen des Denkens, die
gängigen Modelle des Wissens und eine Reihe von Selbstverständlichkei-
ten, die für eine bestimmte Zeit kennzeichnend sind.
Kehren wir nun aber zur mittelalterlichen disputatio zurück! Die
Argumentation oder die Struktur der Antwort, die man auf die gestellte
Aufgabe hin vortrug, war gewöhnlich folgendermaßen aufgebaut: Zu-
nächst wird behauptet, daß die Antwort aufgrund von Zeugnissen aus
der Überlieferung wohl verneinend (videtur quod non) oder vielleicht
zustimmend (videtur quod sie) lauten müsse. Dann werden einige Argu-
mente vorgetragen, d. h. andere Zeugnisse aus der Überlieferung, die
suggerieren, daß die Antwort eher das Gegenteil sein müsse, also
zustimmend oder vielleicht verneinend (sed contra). Anschließend wer-
den einige Unterscheidungen und Nuancierungen vorgenommen.
Schließ.lich kommt man zu einer definitiven, meist sogar detaillierten
Lösung. Übrigens war nicht nur die disputatio in dieser Weise aufgebaut;
das Gesagte trifft auch auf die meisten anderen philosophischen und
theologischen Betrachtungen zu.
In der Argumentation berief man sich fast ausschließlich auf Zeugniss.e
aus der Tradition oder auf Autorität gestützte Argumente, d. h. auf
Texte, und zwar machtvolle Texte (auctoritates). Nicht alle Texte hatten
j,edoch denselben Wert. Manche besaßen mehr Autorität als andere. Wie
wir oben gesehen haben, gab es eine klar erkennbare Hierarchi,e in der
Gesamtheit der Texte.

78
Im Mittelpunkt stand das argumentum ex verba. Dies gilt nicht nur
für juristische, ethische,. politische oder theologische, sondern auch für
philosophische und metaphysische Fragen. Die mittelalterliche Philoso-
phie ist in erster Linie eine Philosophie des logos (verbum). Dies ist
charakteristisch für ihr Denken. Es ist dem philosophischen Stil eigen,
der in vieler Hinsicht neu ist gegenüber dem der Alten, und der sich auch
von dem der Modernen merklich unterscheidet .
Drei Faktoren haben diesen eigenen Stil des Philosophierens be-
stimmt. Erstens wird die Philosophie in hohem Maße von dem juristi-
schen Verfahren inspiriert, das sich natürlich auf Gesetzestexte und ihre
Interpretation stützt. Das gesamte Umfeld des öffentlichen Streitge-
sprächs, die Rangordnung der Teilnehmer und die Art und Weise, wie es
vonstatten ging, lassen an einen Gerichtshof denken. Zweitens wurde
der philosophische Stil durch eine unerhört große Ehrfurcht vor dem
geschriebenen Wort motiviert. Was geschrieben steht, hat allein dadurch,
daß es geschrieben steht, Macht. Das geschriebene Wort par ex ce lle nce
war natürlich Die Schrift, die zugleich auch als Das Gesetz fungierte.
Drittens darf man nicht vergessen, daß Gott für den mittelalterlichen
Menschen in erster Linie die 'Ordnung des Wortes bedeutet. Gott ist ein
sprechender Gott. Sein Sohn wurde Das Wort genannt. Er hat sich durch
das Wort geoffenbart und ist in den heiligen Büchern zugänglich gewor-
den, vielleicht sogar in den Büchern der Alten und später selbst im
"Buch der Natur" (Nikolaus von Kues), das Gott selbst geschrieben hat.
Das moderne Denken hat versucht, diesen Stil des Philosophierens zu
überwinden. Es ist ihm gelungen. Doch saUte man die Nachwirkungen
und den Einfluß des mittelalterlichen Stils auf das moderne Denken
nicht unterschätzen. Leibniz' Theodizee, Kants Kritik und Hegels Ge-
schichtsphilosophie wurden noch von dem Modell des juristischen
Verfahrens und des Gerichtshofes inspiriert. Die Macht des Geschriebe-
nen hat der Macht der autonomen Vernunft Platz gemacht; doch auch sie
wird immer noch als Gesetz oder als "ätherische Schrift" verstanden. Im
ganzen modernen Denken bleibt schließlich der Gott der Bibel die große
Herausforderung.
Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß die mittelaltediche Phi-
losophie eine rhetorische Struktur hesitzt. Zumal vom platonischen

79
Standpunkt ist dies offenkundig. Man war sich dessen im Mittelalter
jedoch selten oder überhaupt nicht bewußt. Der Rhetorik selbst
schenkte man nur wenig Aufmerksamkeit. Natürlich nahmen die freien
Künste - und damit auch die Rhetorik - im Unterricht einen besonder,en
Platz ein. Es ist wahr, daß Marieken van Nimwegen dazu bereit war,
ihre Seele an Moenen, den Teufel, zu verkaufen, um dafür eine gründli-
che Kenntnis der Künste, und vor allem der "schönsten aller Künste" ,
der Rhetorik, zu erhalten. Die mittelalterliche Philosophie schenkt den
stilistischen und ethischen Aspekten der philosophischen Rede jedoch
keine Beachtung. Die italienischen Humdlnisten werden darauf heftig
reagieren. Noch weniger Aufmerksamkeit zollt man der verborgenen
oder unbewußten Rhetorik. Um sie zu entdecken, muß man auf Auto-
ren wie Marx, Nietzsche und Freud warten.

80
VIII. Die italienischen Humanisten

Francesco Petrarca (1304-1374) wird häufig als der Begründer des


italienischen Humanismus angesehen. Er steht am Anfang eines breiten
Stroms von Denkern und Schriftstellern - in Wirklichkeit vor allem
Philologen, Juristen und Historikern -, die gewöhnlich die italienischen
Humanisten genannt werden. Es ist natürlich nicht einfach, diese Bewe-
gung in ihren Umrissen zu charakterisieren, da sie sehr unterschiedliche
Erscheinungen hervorgebracht hat. Mit einigen Vereinfachungen ist es
jedoch möglich, bei den verschiedenen humanistischen Autoren eine An-
zahl stets wiederkehrender Themen und Grundstrukturen aufzuzeigen.
Zunächst fällt auf, daß sie sich beinahe alle ausdrücklich von der
scholastischen und mittelalterlichen Dialektik distanzierten und sich
ganz bewußt der klassischen Rhetorik zuwandten - sowohl aus ästheti-
schen als auch aus praktischen Gründen. Sie verabscheuten das barbari-
sche Latein des Mittelalters und verherrlichten die Sprache Ciceros. Ihr
Angriff auf die rationalistische Syllogistik entsprang nicht so sehr rein
logischen Gründen, sondern ergab sich vielmehr von einern ästhetischen
Standpunkt her. Sie zogen die schöne und anmutige Form der ]ogischen
Folgerichtigkeit vor. In ihren Augen hatte die mittelalterliche Philoso-
phie jegliche Verbindung mit dem politischen und sozialen Leben verlo-
ren. Sie wollten diesen Zusammenhang wiederherstellen und die Phi-
losophie erneut für die politische Praxis fruchtbar machen . Die Entwick-
lung der Städte und die sich wandelnde Lebensweise der Intellektuellen
haben hierbei eine große Rolle gespielt. Im Gegensatz zu den Mönchen
blieben die Denker der neuen Generation nicht länger als Junggesellen in
den Klosterschulen. Verheirat,et und der Welt zugewandt, führten sie ein
Dasein, das mit dem politischen und gesellschaftlichen Leben ihrer Zeit
in engem Zusammenhang stand.
Im allgemeinen oder zumindest anfangs waren sie den Naturwissen-
schaften abgeneigt und gaben den Humanwissenschaften den Vorzug.
Ihr Hauptinteresse galt nicht dem Studium der unveränderlichen Natur

81
und der Weh der Dinge, sondern der Erforschung des veränderlichen
und veränderbaren Menschen und seiner kulturellen Welt. Recht und
Politik, Tradition und Geschichte, Kultur und klassische Literatur sowie
das Sprachenstudium standen für sie im Mittelpunkt. Sie waren in erster
Linie Philo-logen und studierten mit großer Liebe und Bewunderung
den logos - sowohl im Sinne der Sprache als einer Struktur als auch im
Sinne der Gesamtheit überlieferter Texte, in denen die Weisheit der
Alten bewahrt ist. Die Philo-Iogie war für sie keine Hilfswissenschaft,
sondern die Wissenschaft überhaupt; sie deckte sich zu einem großen
Teil mit der Philo-sophie.
Die italienischen Humanisten verherrlichten Cicero, seine Idee vom
Menschsein und von menschlicher Bildung. Die Einheit von Weisheit
und Praxis, von Philosophie und Politik, der römische Rechtsstaat und
die klassische Erziehung, die den Menschen lehrte, richtig und rechtmä-
ßig zu denken, zu leben und zu sprechen, hatten für sie große Anzie-
hungskraft. Im Hinblick auf die Sprache betonten sie die "göttliche"
Schönheit und Eleganz des Lateinischen. Es war ihnen bewußt, daß die
Sprache und deren Beherrschung eine ungeheure Macht darstellten. In
ihren Augen war das römische Reich durch seine einheitliche und
ausgewogene Sprache groß und mächtig geworden. Ihrer Meinung nach
haben die überragenden Redner die Tugendhaftigkeit des Menschen, die
Struktur des Zusammenlebens und das ganze menschliche Wissen gestif-
tet und erhalten, bewahrt und überliefert. Die Humanisten waren
schließlich von der grundlegenden Einheit von res und verbum über-
zeugt. Sie beschäftigten sich darum auch mehr mit dem Wort und dem
Ausdruck als mit der nackten Wahrheit, die für sie eine dialektische
Abstraktion war und so gut wie keine praktische Bedeutung besaß. Die
konkrete Wahrheit mußte in und durch vernünftiges Handeln verwirk-
licht werden, das begleitet werden sollte vom verständigen Wort des
"Redners", der vertraut war mit der Geschichte und aufgrund seiner
Kenntnis der Sache das Wort führen konnte.
Um dies etwas zu konkretisieren, verweilen wir einen Augenblick bei
verschiedenen großen Autoren dieser Epoche. Petrarca unternahm 1333
eine lange Reise nach Paris, Flandern, Lüttich, Aachen und Köln. Er
war fortwährend auf der Suche nach alten Manuskripten und fand

82
schließlich in Lüttich zwei unbekannte Reden Ciceros. Um 1345 hat er
Cola di Rienzo aktiv bei seinen Versuchen unterstützt, in Rom eine neue
römische Republik zu errichten. Petrarcas politische Ziele waren eng an
das alte Ideal der Humanität und der republikanischen Gesellschafts-
form gebunden. Sobald Cola di Rienzi Anzeichen eines bloßen Verlan-
gens nach Macht zeigte, distanzierte sich Petrarca öffentlich von ihm.
Fetrarca ist natürlich besonders durch seine Liebesgedichte an Laura
bekannt. Er war ein großer Dichter. Er war jedoch auch ein ausgespro-
chener Befürworter einer sogenannten poetischen Theologie, die für ihn
in erster Linie eine Frage des Sagens, des In-Worte~Fassens war. Um
geziemend und angemessen über theologische Themen sprechen zu
können,. müsse man sich einer poetischen Sprache bedienen. Er zog
daher entschieden gegen die scholastischen Philosophen und Theologen
zu Felde, die in seinen Augen jegliches Gefühl für Schönheit verloren
hatten.
Neben Boccaccio war Coluccio Salutati (1331-1406) der bedeutendste
Schüler Petrarcas. Er hatte große Achtung vor den artes liberales, über
ihnen stand jedoch nach seiner Ansicht die Jurisprudenz. Als wichtigste
der freien Künste sollte die Rhetorik ganz in ihrem Dienst stehen.
Sa]utati entwickelte auch einen neuen, antischolastischen Begriff von
Philosophie. Sofern sie auf die Praxis bezogen ist, identifiziert er sie mit
der Rechtsprechung. Die theoretische Philosophie dagegen wird mit der
Poesie in Verbindung gebracht. Wirkliche Weisheit ist ihm zufolge
keinesfalls eine Frage der Theorie oder Kontemplation, sondern des
verständigen und entschlossenen Handdns,. das mit den Gesetzen und
Absprachen übereinkommt, die die Menschheit im Lauf der Zeiten
getroffen haben. Um diese Weisheit zu erwerben, muß man zunächst die
Tradition zu Rate ziehen. Allein die Erfahrung,. die der Mensch in seiner
Geschichte zusammengetragen hat und die in allen seinen Gesetzen zum
Ausdruck kommt, bietet die für eine vernünftige Praxis erfordedichen
Richtlinien. Dieser Vorrang der Praxis vor der Theorie und die zugehö-
rige Bewertung der Geschichte sind charakteristisch für die gesamte
Frührenaissance.
Auch Lorenzo Valla (1407-1457) entwirft eine neue Philosophie. Die
Logik ist in ihr nur ein HilfsmitteL Die Rhetorik wird aufgrund ihrer

83
ethischen und polmtischen Möglichkeiten in den Mittelpunkt gestellt.
Man kann hier sogar von einer Identifikation von Philosophie und
Rhetorik sprechen,. wie es H. B. Gerl in ihrem Buch Rhetorik als
Philosophie. Lorenzo Valla getan hat. In seinen Disputationes dialecticae
trägt Valla einen scharfen Angriff gegen die rein theoretische und
dogmatische Philosophie der aristotelischen Schule vor. Übrigens trieb
er seine Polemik so weit, daß es ihn seinen Lehrstuhl für Rhetorik in
Pavia kostete. In den Elegantiarum linguae latinae libri VI verherrlicht
er die Schönheit und die politische und kulturelle Macht des Lateini-
schen. In diesem Werk hat er auch eine Philosophie der Sprache ausgear-
beitet, die in vieler Hinsicht an W. von Humboldt, den Sprachphiloso-
phen des neunzehnten Jahrhunderts, denken läßt. So bestätigt er die
Einheit von Denken und Sprechen. Auch verbum und res, Form und
Inhalt sind untrennbar mitemnander verbunden. Die Dinge sind dem
Menschen nur mittels des Wortes zugänglich, und die Welt erschließt
sich ihm durch die Sprache. Wer eine Sprache beherrscht,. hat dadurch
auch eine gewisse Macht über die Wirklichkeit gewonnen. Jede Spra-
che ist eine Art Interpretation oder Entwurf der Welt, und das Erler-
nen einer neuen Sprache macht zugleich mit einer neuen Welt be-
kannt.
Mario Nizolio (1488-1567) geht in seiner Ablehnung der theoreti-
schen Philosophie wohl am weitesten. In einem Werk mit dem Titel De
veris principiis et vera ratione philosophandi wirft er der Tradition vor,
Philosophie und Rhetorik voneinander getrennt zu haben. Eben dieser
Trennung wegen sind Sokrates, Platon und Aristoteles in seinen Augen
keine großen Philosophen,. sondern dekadente Gestalten, die eine Epo-
che der Barbarei auf ethischem, poEtischem und ästhetischem Gebiet
eingeleitet haben. Nizolio ergreift ausdrücklich Partei für Gorgias und
Isokrates, für Cicero und Quintilian sowie die humanistische und
rhetorische Tradition,. der die Menschheit alles wahrhaft Große Zu
danken habe. Philosophieren bedeutet für Nizolio auch, Macht über
sich selbst und andere zu erlangen . Sie erst macht den Menschen groß
und menschlich.
Der italienische Humanismus hat einen außerordentlichen Einfluß auf
das Erziehungsideal der Jesuiten ausgeübt. Die Societas Jesu, gegrundet

84
um 1540, hat sich sehr schnell auf das höhere Schulwesen (die Huma-
niora) verlegt. Um 1600, als der junge Descartes bei den Jesuiten von La
Fleche erzogen wurde, verfügten sie bereits über mehr als 250 Kollegien.
Diese Schulen waren einzigartig und zeigten in Struktur und Programm
eine auffallende Einheitlichkeit, die die Jesuiten durch die sogenannte
ratio studiorum von 1586 gesetzlich festgelegt hatten.. Auf dem Pro-
gramm standen Grammatik, Rhetorik, Philosophie und die genannten
,humanites'. Die Rhetorik nahm eine zentrale Stellung ein. Das letzte
Schuljahr wurde deshalb auch ,rhetorica' genannt. Die Struktur des
Erziehungswesens war ein System von ,concours', ein System der Kon-
kurrenz. Die bedeutendsten Preise wurden in der Rhetorik verliehen.
Der beste Student erhielt den Titel ,imperator\ ,tribunus' oder ,censor'.
Diese Titel sind bezeichnend; sie bringen das Bewußtsein zum Aus-
druck, daß das WOrt und die vollkommene Sprachbeherrschung eine
tatsächliche Macht darstellen.
Viele junge Menschen sind von diesen Jesuitenkollegien geprägt wor-
den. Aus ihrem Kreis stammen zahlreiche Schul- und Handbücher für
den Gebrauch im Rhetorikunterricht. Die ratio studiorum sollte in der
Tat bis ins neunzehnte] ahrhundert hinein das ganze höhere und univer-
sitäre Unterrichtswesen, besonders der katholischen Länder, beherr-
schen. Erst zu Beginn der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ist
die Rhetorik aUmählich aus den Lehrplänen verschwunden; sie wurde
von einem anderen, eher kartesmanisch und naturwissenschaftlich orien-
tierten Wissenschaftsmdeal verdrängt.
Descartes, auf den wir noch zu sprechen kommen, sollte sich nach
seiner humanistischen Erziehung bei den Jesuiten ausdrücklich gegen
eine humanistische und rhetorische Bildung aussprechen. In seinem
Discours de la methode beschreibt er, wie er sich dem Wissenschafts-
ideal, in dessen Geist er herangebildet wurde, entzog, um zu einer neuen
Wissenschaft zu gelangen, die auf der unmittelbaren Evidenz des cogito
gründet. Beinahe hundert Jahre nach Descartes' Discours de la methode
nimmt j1edoch der neapolitanische Philosoph G. B. Vico (1668-1744) die
wichtigsten Themen der großen italienischen Humanisten wieder auf.
Vico war in erster Linie Historiker und Jurist. Er hat Wesentliches zur
Kenntnis der altrömischen Geschichte beigetragen, und er war ein

85
großer Kenner des römischen Rechts. Er war ein großer Bewunderer
Petrarcas und Vallas. Lange Zeit hatte er einen Lehrstuhl für Rhetorik
inne. Wie Descartes so beabsichtigte auch Vico, eine neue Wis.senschaft
zu entwerfen (scienza nuov.a); allerdings in einem ganz anderen Sinne.
Auch Vico sucht nach einer festen Grundlage und einem unbezweifelba-
ren Ausgangspunkt für das Wissen. Aber er findet sie nicht in der
Evidenz, der ,clara et distinc.ta perceptio' oder der unbestreitbaren
Gewißheit des kartesianischen cogito, sondern in der Umkehrbarkeit·
oder Identität des verum und des factum, der Wahrheit und der Faktizi-
tät. Letztere ist nach Vico das,. was gemacht worden ist (facere), was der
Mensch zustandebringt und verwirklicht. Er schreibt: ,.,Inmitten des
unermeßlichen Ozeans des Zweifels gibt es nur ein wenig festen Grund:
die Identität von verum und factum." Sein Kernspruch lautet: "Verum et
factum convertuntur". (VergL K. Löwith, Vicos Grundsatz: Verum et
factum convertuntur.)
Bei Vi co erhalten die Geschichte und die Geschichtswissenschaft
eindeutig den Vorrang vor der Natur und den übrigen Wissenschaften.
In der Geschichte wird nämlich durch einen fortschreitenden menschli-
chen Entwurf, der als eine auf- und niedergehende Bewegung (corso und
ricorso) verläuft, die faktische Welt zustande gebracht. Zu jener fakti-
schen Welt gehären u. a. das Recht und die Ökonomie, die Politik und
der Staat, die Religion und die Erziehung - und auch die moderne
Wissenschaft. Nach Vico ist nmrgends größere Gewißheit zu erreichen als
da, wo derjenige, der etwas gemacht hat, dies auch selbst erzählt ,
beschreibt und erklärt. Dies gilt auch für Wissens~haften wie Mathema-
tik und Physik, die der Mensch doch als Wissenschaften entwirft. Es gilt
sogar für die Natur an sich oder das Objekt der Naturwissenschaften,
die allerdings nicht vom Menschen, sondern von Gott geschaffen sind.
Über sie kann deshalb nicht der Mensch, wohl aber Gott absolute
Gewißheit haben.
Bei der Entstehung von Staat und Politik, der sittlichen und rechtli-
chen Ordnung, der Religion und der Kultur und für den Entwurf der
modernen Wissenschaft hat di,e Sprache eine bedeutende Rolle gespielt.
Nach Vico hat nicht der menschliche Geist (ingenium) die Sprache,
sondern umgekehrt, die Sprache den Geist geformt. Die Menschen

86
haben sie einander überliefert und stets verfeinert. Das mythische und
poetische Wort und später das sachliche und rationale Wort haben die
Welt, in der wir jetzt leben, erschlossen. Die großen Wortführer sind in
der Lage, diese Welt zu erhalten, zu bewahren, weiter auszubauen und
zu verändern.
In seiner Antrittsrede als Professor der Rhetorik, die den Titel De
nostri temporis studiorum ratione trägt, hält Vico ein Plädoyer für die
Rhetorik und formuliert eine Reihe von Einwänden gegen das kartesia-
nisch inspirierte Wissenschafts- und Erziehungsideal. Seine Kritik läuft
auf folgendes hinaus: Bei den Kartesianern und den französischen
Rationalisten des siebzehnten Jahrhunderts, in der Logik und Gramma-
tik von Port Royal und in der geometrischen Methode dieser Zeit ist
weder für die Geschichte noch für die Geschichtswissenschaft Platz,
weder für eine wissenschaftliche Poetik noch für die Rhetorik.
Bei den Kartesianern und Rationalisten geht es allein um ewige und
sich immerfort gleichbleib ende Wahrheiten. Verlautbarung und Verän-
derung bleiben außerhalb ihres Gesichtsfeldes. Nach Vico verliert diese
Philosophie daher jeglichen Zusammenhang mit der politischen und
gesellschaftlichen Praxis, die darin besteht, die Welt zu verändern.
Bei den Kartesianern und Rationalisten besitzt auch die Geschichts-
wissenschaft keinen Stellenwert. Sie kann keine wahre Wissenschaft
sein, da sie stets und ausschließlich auf Autoritäten und zufälligen
Tatsachen, auf Dokumenten und Texten beruht, die weder angesichts
des methodischen Zweifels Bestand haben noch der Ordnung des Evi-
denten angehören. Eine eigentlich wissenschaftliche Kenntnis der Ge-
schichte ist daher nicht möglich. Mit der Geschichtswissenschaft fällt
nach Vicos Ansicht auch die Weisheit fort. Aber nur durch die Erfah-
rung, die der Mensch in seiner Vergangenheit zusammengetragen hat, ist
er weise geworden. Diese Weisheit ist in einem Ganzen von Texten und
Dokumenten, Einrichtungen und Verordnungen niedergelegt,. das sie
verkörpert. Man kann sie sich nur durch ein gründliches Studium der
Geschichte zueigen machen.
Schließlich findet auch das mythische und poetische, Wirklichkeit
stiftende Wort als eine eigentümliche und ursprüngliche QueUe von
Intelligibilität bei den Kartesianern und Rationalisten keinen Raum -

87
vorn rhetorischen Wort ganz zu schweigen. Die Poesie und die oratori-
sche Rede können unter Umständen sehr schön und anmutig sein, mit
Wissenschaft: aber haben sie nichts zu tun. Nach Vico geht dem Men-
schen damit eine reale Möglichkeit zur Freude verloren. Noch schlim-
mer ist aber, daß den Menschen auf diese Weise ein überragendes. Mittel
entgeht, um einander gegenseitig zu hohen ethischen Leistungen und zu
reifem politischem Handeln anzuspornen. Es ist nicht einmal mehr
möglich, den Menschen für die Suche nach der Wahrheit zu gewinnen.
Trotz Vicos fundamentaler Einwände hat sich das kartesianische
Wissenschaftsideal, sei es in rationalistischer, sei es in empiristischer
Form durchgesetzt. Gleichzeitig darf jedoch nicht verkannt werden, daß
verschiedene der von Vico gestellten Probleme im spekulativen deut-
schen Idealismus schöpferisch aufgenommen und verarbeitet wurden.
Mittelbar hat Vico auf die deutschen Philosophen; namentlich Herder
und Hegel, einen ziemlich großen Einfluß ausgeübt. Letzterer hat sein
Werk wahrscheinlich niemals gelesen. Das ist nicht erstaunlich, denn
Vico ist zeit seines Lebens niemals wirklich bekannt geworden und
wurde schon sehr bald nach seinem Tod vergessen. Erst der italienische
Hegelianer B. eroce hat ihn um 1910 entdeckt und seine philosophische
Bedeutung herausgestellt.

88
IX. Francis Bacon, Rene Descartes
und die "Neue Wissenschaft"

Im Mittelalter und zur Zeit der italienischen Humanisten sind zwei


verschiedene Ansätze im Stil des Philosophierens wirksam. Mit ihnen
verbinden sich unterschiedliche Auffassungen vom Wesen der Wissen-
schaft und der Wahrheit, vom Wesen des Menschen und seiner Bildung,
insbesondere auch vom Wesen und der Aufgabe der Sprache. Jene
Ansätze sind jedoch nicht die einzig möglichen. Um das Jahr 1600 tritt
namentlich durch Francis Bacon und Rene Desclrtes ein neues Ideal der
Wissenschaftlichkeit auf den Plan, das sich merklich von mittdalterli-
chen und humanistischen Vorstellungen unterscheidet. Mit diesem Ideal
sind ein neuer Stil des Philosophierens, andere Auffassungen von Wahr-
heit, Menschsein und Sprache verbunden. Im Licht des Konflikts zwi-
schen Rhetorik und Philosophie und auf dem Hintergrund des Vorange-
gangenen ist es von Interesse, bei der Entstehung und Ausarbeitung
dessen zu verweilen, was als die ,neue Wissenschaft' bezeichnet wurde.
Bei Francis Bacon (1561-1626) geht es nicht so sehr darum, mit Hilfe
des Wortes Macht über den Menschen zu erlangen als vidm,ehr durch die
Erkenntnis Macht über die Natur auszuüben. Er möchte eine "mensch~i­
che Herrschaft über die Natur errichten" (".instauratio magna imperii
humani in naturam CC). Zugleich ist sich Bacon der ,Hegemonie' der
Sprache und dessen, was im Lauf der Jahrhunderte darüber bereits
gesag.t wurde, voHauf bewußt. Der logos, verstanden als Sprachstruktur,
als Gewehe aus Worten oder Texten und als die Gesamtheit von Erzäh-
lungen und Fabeln, hesitzt nach seiner Ansicht eine ungeahnte Macht.
Diese Macht stellt in seinen Augen jedoch etwas Negatives dar. Sie ist
eine Bedrohung und eine Gefahr für die reale Macht des Menschen über
die Natur. Sie wirkt störend und entfr·emdend. Der Mensch sollte sich
von ihr befreien und sie von sich abschütteln.
In seinem Novum organon scientiarum (1620) äußert sich Bacon über
die sogenannten "Idole", d. h. die Trug- und Götzenbilder, die Vorur-

89
teile,. die der Mensch besitzt und die den menschlichen Geist besetzt
halten (occupatio). Sie erfüllen ihn in einem Maße, daß die Wahrheit
keinen Eingang mehr finden kann. Bacon unterscheidet vier Arten: die
idola tribus (die Trugbilder des Stammes, die dem ganzen menschlichen
Geschlecht aneignen), die idola specus (die Trugbilder der Höhle, die
dem Individuum zugehören), die idola lori (die Vorurteile des Markt-
platzes, die die Sprache mit sich führt) und die idola theatri (die
Vorurteile, die dem Menschen durch die Schule vermittelt werden). Die
drei letzteren nehmen ausdrücklich auf die Sprache und die mündliche
Überlieferung Bezug und sind eng mit der Rhetorik verbunden.
In § 42 bespricht Bacon die idola specus. Sie entstehen infolg e des
Umgangs mit anderen Menschen, infolge von Büchern,. die man zufällig
gelesen hat, oder infolge der Autorität, die man bewundert oder verehrt.
Bacon weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß der individuelle
menschliche Geist, was seine konkrete Struktur angeht, eine veränderli-
che und zufälÜge Angelegenheit ist; denn er wird durch a11 das geformt,
was man mehr oder weniger zufällig gehört und gelesen hat. Zum Teil
besteht er sogar aus den Meinungen und Auffassungen, die man sich
zueigen gemacht hat. Der menschliche Geist ist überdies zumeist ge-
stört, da durch die Erziehung sein wahres Verhältnis zur Natur verloren-
gegangen 1St.
In § 43 behandelt er die Vorurteile, die die Sprache mit sich führt.
Bacon sagt hier, daß die Menschen mit Hilfe von Wörtern, die auf dem
,.,Markt" ausgetauscht werden, eine Gemeinschaft bilden. Gewöhnlich
werd,en diese Worte von der Masse den Dingen selbst zugeschrieben. Es
vollzieht sich sozusagen eine Art Identifikation zwischen Wort und
Ding, aufgrund derer die Wörter dem Verstand Gewalt antun. Sie
bringen alles in Unordnung und vedeiten die Menschen zu seichten und
unfruchtbaren Diskussionen und Phantasien.
Zur vierten Art von Idolen (§ 44) gehören die vielen Geschichten, die
von Theologen und Philosophen erzählt werden. Es sind die Theorien ,
die philosophischen und wissenschaftlichen Systeme, die den Menschen
in der Schule vermittelt werden. Sie haben die Welt zu' einer Art Theater,
zu einer großen Dichtung gemacht. Die Welt ist zu einer Szene gewor-
den, auf der sich die fremdartigsten Fabeln zutragen.

90
N ach Bacon muß der Mensch versuchen, sich all dieser Idole zu
entledigen. Dies kann in einem fortschreitenden Prozeß der Lösung und
Befreiung geschehen. Der "besetzte" Geist muß "entsetzt" werden. Es
gilt, eine Art Leere oder Offenheit zu erreichen, so daß die Wahrheit
einströmen kann. Worin eine solche "Leere" bestehen könnte, ist nicht
von vornherein klar. Ist sie etwas anderes als das Nichtsein des Geistes?
Ist der Geist, als logos verstanden, etwas anderes als das Werk all jener
Geschichten,. die über und für den Menschen erzählt werden? Es ist in
manchen Kreisen üblich,. den menschlichen Geist als eine Art ,.,unbe-
schriebenes Blatt Papier" (Locke) aufzufassen, aber ist der konkr,ete
Geist nicht gerade die Gesamtheit von Inschriften, die durch die unter-
schiedlichen Arten von Erfahrungen eingekerbt werden? Dies aUes
bedeutet natürlich nicht, daß es unmöglich wäre, sich aus einer Reihe
von Vorurteilen zu befreien. Und eben daran ist Bacon gelegen. Man
kann sich jedoch nicht des logos entledigen. Das Problem des Vorurteils
stellt sich deshalb auf kompliziertere Weise dar als Bacon es suggeriert.
Der negative Teil dieser Philosophie - die Befreiung von den Vorurtei-
len - ist zweifellos Bacons stärkste Seite. Klar und deutlich sind hier
auch die Anspielungen auf die Rhetorik, die er entschieden zurückweist.
Der positive Teil ist weitaus schwächer. Bacon beruft sich darin auf die
Induktion, die als wissenschaftliche Methode bekanntlich zahllose Dis-
kussionen angeregt hat. Ihre Problematik ist niemals zur völligen Befrie-
digung gelöst worden. Bei Aristoteles gehört sie auf jeden Fan ins Gebiet
der Rhetorik. Sie gehört zur Gattung des "Paradigma". Dies ist auch
einer der Gründe, weshalb es solange gedauert hat, bis man die Induk-
tion als eine wissenschaftliche Methode zulassen wollte.
Bei Rene Descartes liegen die Dinge etwas komplizierter. Er sucht
nach einem Jundamentum absolutum et inconcussum veritatis, einer ab-
soluten und unerschütterlichen Grundlage der Wahrheit. Sie kann weder
durch Induktion noch durch Erfahrung gefunden werden; ebensowenig
ist sie in der Gesamtheit üherlieferter oder aktueller Theorien oder in
den Geschichten, die im Umlauf sind, enthalten. Erfahrung und Tradi-
tion vermitteln nur Überzeugungen und Meinungen, nicht aber eine
wiss·enschaftlich vertretbare Wahrheit. Die Überlieferung selbst gehört
großenteils in den Bereich des Vorurteils. In einem Brief an Regius vom

91
24. Mai 1640 schreibt Descartes: "Von Überzeugung (persuasion) ist die
Rede, wenn es einen Grund gibt, der uns noch zweifeln lassen kann. Es
ist jedoch von Wissenschaft (science) die Rede, wenn es einen so starken
Grund gibt, daß er niemals wanken kann." Um diese Wissenschaft oder
fundierte Kenntnis zu erlangen,. muß man bereit sein, an allem zu
zweifeln; an aUem, was man sieht und wahrnimmt, aber natürlich auch
an allem, was man hört und gehört hat, was man liest und gelesen hat.
Das einzige, was dem Zweifel zu widerstehen scheint, ist der Akt des
Zweifdns selbst. Man kann versuchen,. sich aUes fortzudenken, aber das
Denken selbst kann man sich nicht fortdenken, denn dieses Sich-etwas-
Fortdenken bleibt selbst stets ein Denken. Insofern ist für Descartes das
wahr, was im Denken vollkommen evident ist. ,,1Hud omne esse verum,.
quod valde dare et distincte percipio" (Med . III).
Die kartesianische Problematik wird im Rahmen des Konflikts zwi-
schen Rhetorik und Philosophie um so interessanter, wenn man be-
denkt, wie er zu dieser Grundeinsicht gekommen ist.
Descartes scheint einst einen Text mit dem Titel Histoire de mon esprit
verfaßt zu haben. Diese Schrift ist verlorengegangen. Wir wissen aber
von ihrer Existenz durch einen Brief, den ein gewisser Guez de Balzac an
Descartes gerichtet hat. In jenen Zeilen vom 30. März 1628 wird darauf
angespielt. Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß Descartes das,
was er in dieser "Geschichte seines Geistes" schrieb, mehr oder weniger
in seinen Discours de la methode (1637) aufgenommen hat. In sechs
Kapiteln erzählt er darin eine lange, autobiographische Geschichte. Es
ist die DarsteUung seiner Geistesgeschichte, seiner Erziehung,. der Schul-
jahre und dessen, was ihm im Anschluß daran begegnet ist. Der Discours
de la methode ist eine typische Form von erzählender Philosophie und
macht als solche ein ganz einzigartiges Genre der philosophischen
Literatur aus. Wir werden diese Geschichte teilweise und soweit wie
möglich mit seinen eigenen Worten nacherzählen.
Descartes beschreiht, wie er von Kindesbeinen an in der Literatur (aux
lettres) unterrichtet wurde. Weil man ihn davon überzeugt hatte, daß
man durch diese Wissenschaft eine genaue und sichere Kenntnms aU
dessen erwerben könne, was für das Leben nützlich sei, empfand er ein
außerordentlich großes Verlangen (extreme desir), sie zu erlernen. Er

92
berichtet weiter, daß er an einer der berühmtesten Schulen Europas
studiert habe (une des plus celebres eroles de l'Europe), an der seiner
Meinung nach die gelehrtesten Männer unterrichteten. Es handelt sich
um das Jesuitenkolleg von La Fleche,. dem der junge Descartes von 1604
bis 1612 als Schüler angehörte. Den Lehrplan dieses Kollegs haben wir
bereits im vorangegangenen Kapitel besprochen. Wie Descartes schreibt,
hielten ihn seine Lehrer für einen guten Schüler. Er war vor allem damit
beschäftigt, eine Vielzahl guter Bücher zu lesen und Sprachen zu erler-
nen. Er machte mit der klassischen Literatur Bekanntschaft und widmete
sich mit großem Interesse den Übungen, die ihm in der Schule abver-
langt wurden. Er entdeckte, daß die Beredsamkeit eine unvergleichliche
Kraft und Schönheit besitze und daß die Poesie sehr mitreißende Ge-
fühle hervorrufen könne ("que l'eloquence ades forces et des beautes
incomparables, que la poesie ades de]icatesses et des douceurs tres
CC
ravissantes Er hatte große Achtung vor der Rhetorik und war in die
).

Poesie verliebt ("j'estimais fort I'eloquence et j'etais amoureux de 1a


poesie").
Zugleich aber - und in zunehmendem Maße - empfindet er emnen
gewissen Zweifel, vor allem an der Philosophie, die er gelehrt wurde. Er
sieht sich mit einer Reihe von verschiedenen, oft gegensätzlichen Mei-
nungen (opinions) konfrontiert und begreift, daß die Philosophie dem
Menschen Mittel an dme Hand gibt, um über alles mit dem Anschein von
Wahrheit zu sprechen und dadurch die Bewunderung der weniger
Gebildeten zu erwecken ("que la philosophie donne moyen de parler
vraisemblablement de toutes choses et de s,e faire admirer des moins
savants"). Mit anderen Worten: Descartes entdeckt,. daß die Philosophie
das Vokabular bereitstellt, das den Menschen in den Stand setzt, auf
inteUigente Weise über zahllose Probleme zu sprechen. Diese Möglich-
keit verschafft ihm ein gewisses Maß an Macht und Ansehen. Wie wir
sehen werden, liegt Descartes wenig an einer derartigen Macht und an
einem solchen Ansehen. Die Zweifel wachsen und führen ihn schließlich
so weit, daß er fast alles, was nur wahrschemnlich ist, für falsch hält (",je
reputais presque pour faux tout ce qui n'etait que vraisemblable").
Schließlich hat er so schnell wie möglich und in dem Maße, wie es sein
Alter zuließ, sich den Lehrern zu entziehen, das Studium der Literatur

93
völlig aufgegeben ("je quittais entierement l'etude des leures"). Er .ist
sich seiner Unwissenheit (ignorance) bewußt und statt sich, wie es üblich
war, unter die Gelehrten einzureihen, zieht er es vor, auf Reisen zu
gehen, umherzuschweifen, Menschen zu begegnen, fremde Länder zu
besuchen, Forsthäuser und Armeen kennenzulernen u. a. m. Er will
keine andere Erkenntnis mehr anerkennen als diejenige, die im großen
Buch der Welt zu finden ist (te grand livre du monde). Descartes ist
sicherlich nicht der erste, der diese Metapher gebraucht und das Buch
der Welt den Büchern der Überlieferung entgegenstellt. Bei ihm gewinnt
dieser Gegensatz jedoch eine ganz eigene Bedeutung.
Im Winter 1619/20 häh er sich in Deutschland auf. Der Dreißigjährige
Krieg ist gerade ausgebrochen, Descartes ist dreiundzwanzig Jahre alt.
Den ganzen Tag über sitzt er irgendwo in einer deutschen Stadt in einer
gut geheizten Stube. Hier beginnt er nachzudenken. Er bemerkt, wie
fremd eine Stadt eigentlich aussieht. Zu Anfang waren die Städte kleine
Sprengel, die allmählich größer wurden. In einer Stadt ist alles unregel-
mäßig und in Unordnung. Große Häuser stehen neben kleinen. Die
Straßen verlaufen krumm und unregelmäßig, hier und da sind sie breit )

dann wieder schmal. Die Gebäude werden häufig wiederhergestellt und


überall wird angebaut. Es sähe natürlich ganz anders aus, wenn sie ein
einziger ,ingenieur' nach einem Plan und wohlgeordnet errichtet hätte.
D,er Bau einer Stadt ist auf alle Fälle eine Frage des Zufalls: Viele
verschiedene Menschen bauen willkürlich nebeneinander,. planlos, ganz
den Umständen und Absichten entsprechend. Sie machen dabei von
dem, was schon stand, und von den Grundmauern vormaliger Häuser
Gebrauch. Descartes geht auf, daß es sich mit der Wissenschaft genauso
verhält, zumindest mit der ,science des livres'. Auch in den Büchern
findet man eine Vielzahl von Meinungen aufgehäuft, die viele verschie-
dene Menschen sehr unordentlich und zufällig zusammengetragen ha-
ben. In jedem Buch werden in hohem Maße Bruchstücke oder Frag-
mente aus anderen und älteren Büchern verwendet. Ein Buch ist nicht
das Werk eines einzelnen Autors, sondern stammt von mehreren, denn
jeder Schriftsteller übernimmt stets vieles von anderen. Jedes Buch
ähnelt darum einer alten Stadt, und so verhält es sich auch mit der
Wissenschaft, sofern sie in Büchern niedergelegt wird.

94
Descartes vergleicht hier die reale Wissenschaft mit ,einer Stadt. Es ist
interessant, daß L. Wittgenstein dasselbe Bild für die Sprache gebraucht.
In den Philosophischen Untersuchungen heißt es in § 18: "Unsere Spra-
che kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen
und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus
verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte
mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern."
Für Wittgenstein ist die alte Stadt das Bild für die gewöhnliche
Umgangssprache; die neue, künstliche und geplante Stadt ist das Bad der
Sprache der Logik, der Wissenschaftstheorie und der N aturwissenschaf-
ten.
Descartes fährt fort: Da wir alle Kinder waren, ehe wir erwachsen
wurden, mußten wir uns lange Zeit dureh unsere Begierden (appetits)
und unsere Erzieher (precepteurs) leiten lassen. Beide lagen oft miteinan-
der im Streit, beide haben uns wohl nicht immer zum Besten geraten.
Daraus folgt nun, daß unsere Uneile unmöglich so rein und begründet
sein können, wie sie es wären, wenn wir vom Augenblick unserer
Geburt an den Verstand völlig beherrscht und uns von ihm stets hätten
leiten lassen. Weil unsere Urteile teils unseren Begierden entspringen
und uns teils durch andere Menschen glaubhaft werden, sind wir mit
einer großen Anzahl von ,Vorurteilen ( behaftet. Wenn wir eine objektive
und wahre Wissenschaft aufbauen wollen, müssen wir versuchen, uns
von ihnen zu befreien. Diese Emanzipation kann dadurch geschehen,
daß man zumindest einmal in seinem Leben alles bezweifelt. Das
Einzige, was nicht angezweifelt werden kann,. ist der Akt des Zweifelns
selbst; und so gelangt Descartes zu seinem berühmten: ,.,Je pense donc je
. "
SUlS.
Um eine absolut sichere Erkenntnis zu gewinnen, müssen wir versu~
ehen, selbst zu denken, ohne auf die Fundamente zu bauen, die andere
gelegt haben, ohne uns an die Grundsätze zu halten, die andere uns
eingeredet haben. Wenn wir wirklich heginnen wollen, selbst zu denken,
ist das erste Gebot, jedes übereilte Urteil zu vermeiden. Nach Deseart,es'
Worten müssen wir wie jemand vorgehen,. der aUein im Dunkeln läuft
und vorsichtig, alles abtastend, seinen Weg zu finden sucht. Wir dürfen
nur das anerkennen, was jedem Zweif.el standhält. Folglich dürfen wir

95
uns nicht durch die Meinungen anderer leiten lassen, sondern müssen
jederzeit selbst eine bessere suchen und dabei berücksichtigen, daß wir
uns gemeinhin eher durch Gewohnheiten und Vorbilder leiten lassen als
von sicheren, unumstößlichen Einsichten. Wir müssen bedenken, daß
das Maß an Zustimmung keineswegs die Gültigkeit oder Wahrheit einer
Sache beweist. Wir müssen sogar davon ausgehen, daß ein einzelner
Mensch die Wahrheit wohl eher findet als ein ganzes Volk.
Soweit die Geschichte Descartes'. Was er hier erzählend darstellt und
berichtet, hat natürlich weitreichende Konsequenzen. Descartes hat
einen neuen Bereich des Wissens eröffnet. Nicht zu Unrecht wird er als
der Vater der modernen Wissenschaft und Philosophie bezeichnet.
Zugleich finden hier eine Reihe von Verschiebungen statt, die mit
weitreichenden Grundannahmen eil1hergehen. Bei Descartes sind eine
Reihe von Überzeugungen arn Werk, die er nicht kritisch untersucht.
Welcher Art sind diese Verlagerungen und Voraussetzungen? Wahr-
heit ist für Descartes Gewißheit. Wahr ist das,. was als sicher nachgewie-
sen werden kann oder was im Denken oder in der Evidenz fundiert ist
Die Wahrheit ist nicht länger dasjenige, was geschrieben steht. Ebenso-
wenig besteht sie in dem, was im Sprechen und Sagen begründet ist.
Noch weniger kann von einer Wahrheit die Rede sein, die in einer
sozialen und politischen Praxis verwirklicht wird.
Das Denken ist bei Descartes zu einem Gegenstand geworden, der der
Macht des Menschen völlig ausgesetzt sein dürfte. Aus seiner Sicht ist
der Mensch unumschränkter Herr und Meister seines eigenen Denkens,
das nicht länger an Sprache und Tradition gebunden ist. Wie wir gesehen
haben, weist Descartes auch darauf hin, daß wir voller Vorurteile
stecken, daß unsere Urteile reiner und begründeter wären, wenn wir uns
von Geburt an gänzlich im Besitz unseres Verstandes befänden und uns
durch ihn allein leiten ließen. Fast alles, was wir erlernt haben, ist
vielmehr eine Art Verfremdung, aus der wir uns befreien sollten.
Im dritten Kapitel seines Discours de la methode spricht Descartes klar
aus, daß der Mensch Herr und Meister seines eigenen Denkens ist. In
diesem Abschnitt setzt er sich selbst einige vorläufige, moralische Re-
geln, um von da an so glücklich wie möglich weiterzulehen (,.,de vivre
des lors le plus heureusement que je pourrais"). Die erste Regel verlangt

96
zum Beispiel, den Gesetzen und Sitten des eigenen Landes zu gehorchen
und an dem Glauben festzuhalten, in dem man durch Gottes Gnade von
Kindesbeinen an erzogen wurde. Die dritte fordert, daß man stets
versucht, eher sich selbst zu überwinden als das Schicksal, eher das
eigene Verlangen zu verändern als die Ordnung der Welt, sich an den
Glauben zu gewöhnen, daß nichts vollständig in unserer Macht steht, es
sei denn unsere Gedanken ("de m'accoutumer acroire qu'il n'y arien qui
soit entmerement en notre pouvoir que nos pensees"). Mit diesen Regeln
sichert sich Descartes gegen die drohende Vereinsamung und Verzweif-
lung ab, denen jeder Philosoph ausgesetzt ist. Zugleich bestätigt er S0',
daß das Denken auf keine Weise an einen historischen K0'ntext, in dem
es sich v0'Hzieht, gebunden ist. Jegliche gesellschaftskritische Funkti0'n
der Philosophie schließt er aus. Denken ist seiner Ansicht nach weder an
die Sprache noch an das, was schon gesagt worden ist, noch an die sich
selbst interpretierende Geschichte gebunden, in der die Welt das, was sie
ist, geworden ist. Es hat weder sittliche noch politische Bedeutung.
Aus Descartes' Perspektive ist die Sprache also ein völlig neutrales
Mittel, ein Instrument, das dem Menschen zur Verfügung steht, um
seine eigenen persönlichen und inneren Gedanken mitzuteilen und
auszudrücken. Die Sprache ist zu einem Mittel geworden, das gebraucht
wird, sie ist nicht länger eine Mitte, in der sich der Mensch aufhält.
Sowohl Francis Bacon als auch Rene Descartes sind typische Vertre-
ter, ja sogar die Urheber eines neuen Wissensideals, eines neuen Stils
wissenschaftlicher und philosophischer Praxis. Diese Erneuerungen
wurden natürlich durch viele der ihnen vorangehenden Denker vorberei-
tet. Ihre Nachfolger haben sie weiterentwickelt, bisweilen sogar verän-
dert. Bei heiden findet man eine ausgesprochen feindselige Haltung
gegenüber der Rhetorik. Auch darin sind sie gewiß nicht die ersten
gewesen - man denke an Platon; ebens0'wenig werden sie die letzten
sein. Man kann sogar sagen, daß die ganze moderne Philosophie und
insbesondere die moderne Wissenschaft von dieser ablehnenden Haltung
gegenüber der Rhetorik gekennzeichnet sind.
In England, dem Lande Bacons,. bestand aber eine sehr lebendige
rhetorische Tradition ehe, während und noch lange nachdem er sein
Novum Organon geschrieben hatte. WS. Howell hat das in seinem

97
Buch Logic and Rhetoric in England. 1500-1700 sehr deutlich dargelegt.
Nicht nur bei den Predigern, sondern insbesondere auch bei denen,. die
sich mit politischer Philosophie (Hobbes) beschäftigten, wurde die
Rhetorik sehr hoch eingeschätzt. In Frankreich, dem Lande Descartes',
und auch in den Niederlanden gab es ebenfalls eine umfangreiche
rhetorische Literatur ehe, während und noch lange nachdem sich Des-
cartes von den ,humaniora' abgewandt hatte. Wir nennen hier nur einige
Namen: Eines der ersten Bücher, die in Frankreich gedruckt wurden,
war Guillaume Fichets Abhandlung über die Rhetorik (1470). In den
Jahren 1521 bis 1544 erschienen sechs Auflagen von Pierre Fabris Grand
et vrai art de pleine rhhorique. Bekannt sind auch die Rhetoricae
distinctiones von Petrus Ramus oder Pierre de la Ramee (1549) und die
Rhhorique franfaise von Antoine Foclin (1555). Bernard Lamy ver-
öffentlichte eine ausführliche Arbeit unter dem Titel Rhetorique DU I' art
de parler (1675). Aus der Einleitung zu diesem Werk geht hervor, daß
das Studium der Literatur äußerst nützlich ist, "non seulement dans les
ecoles, mais aussi dans toute la vie, lorsqu' on achete, lorsqu'on vend." .
Erwähnt seien schließlich noch der Traite des hudes von Charles Rollin
in sechs Teilen, dessen vierter Abschnitt über die Rhetorik handelt
(1726), der Traitedes tropes von Dumarsais (1730), La rhhorique ou les
regles de l'eloquence von Gibert (1749) und die Rhhorique franfaise von
Crevier (1767).
Es fällt auf, daß in aUen diesen Schriften zur Rhetorik nur wenig oder
gar nichts über das Verhältnis zwischen Philosophie und Rhetorik gesagt
wird. Im Gegensatz zu Isokrates, Cicero, Quintilian, Augustinus und
den italienischen Humanisten schenken die modernen Autoren den
philosophischen Implikationen ihrer Disziplin kaum Aufmerksamkeit.
Petrus Ramus ist zweifeHos eine Ausnahme; er wendet sich vehement
gegen die Dialektik der Aristoteliker. Im allgemeinen aber wird nicht
über Phi]osophie gesprochen. Es scheint, als habe man sich auf seiten der
Rhetorik damit abgefunden, daß Philosophi,e und Rhetorik sich ausein-
anderentwickeln und nichts miteinander zu schaffen haben. Rhetorik ist
dann nur eine Sache der Formulierung, des Ausdrucks, und hat nichts
mit der Wahrheit zu tun. Die Formulierung wird als eine rein äußerliche
Angelegenheit angesehen, das Denken als eine innere. Der Macht der

98
Rhetorik und ihrem Nutzen ,nicht allein für die Schule, sondern für das
ganze Leben, sofern man kauft und verkauft', werden zwar große
Achtung gezollt, aber keine philosophischen Konsequenzen daraus ge-
zogen. Es scheint, als hege die Rhetorik Minderwertigkeitsgefühle ge-
genüber der Philosophie. So selbsthewußt und selbstgefällig die großen
Redner manchmal auch waren, so detailliert und nuanciert die rhetori-
schen Regeln ausgearbeitet und so besessen zahlreiche Unterscheidun-
gen auch angebracht wurden: philosophische Prätentionen hatte man
nicht. Wahrscheinlich hängt dies mit jenem fundamentalen Dualismus
zusammen, der für die Neuzeit kennzeichnend ist. Wir denken hier an
den Dualismus von Äußerlichkeit und Innerlichkeit, von Denken und
Sprechen, Gedanken und Äußerung, von Seele und Leib, Philosophie
und Rhetorik. Bacon und Descartes gehören zu den Urhebern dieses
Dualismus.
Vielleicht ist Bacons positiver Beitrag zur Wissenschaft geringer als
der negative, und vielleicht ist Descartes in seinem Denken weniger
vorsichtig vorangeschritten, als er es sich vorgenommen hatte. Dennoch
kann man sagen, daß sie einen neuen Wissenschaftstyp und einen neuen
Stil des Denkens ermöglichten . Nun handelt es smch bei dieser neuen
oder modernen Wissenschaft um eine vielschichtige und komplizierte
Angelegenheit, um eine Einheit von vielfältig ineinander verschränkten
Methoden und Projekten, die zudem seit 1600 noch zahlreiche Ände-
rungen erfahren hat. Es lassen sich jedoch einige rein formale Kennzei-
chen des modernen Denkens herausarbeiten .
Charakteristisch ist die Forderung nach Rechtfertigung . Alles, was
gesagt und behauptet wird, alle Theorien, denen gehuldigt, alle Auffas-
sungen,. denen angehangen wird, müssen gerechtfertigt werden. Man
sucht nach einer Fundierung, nach einer Basis, aufgrund derer man
etwas als wahr und gewiß annimmt. Natürlich stellt sich diese Verant-
wortung oder dieses Fundament bei den v,erschiedenen Denkern nicht
immer einheitlich dar. Man sucht fortwährend nach einem anderen
,.,Ort". Unter anderem kann es sich um folgendes handeln: Vernünftig-
keit (Rationalismus), VeraHgemeinerbarkeit (Kant), Evidenz, Wahrneh-
mung oder die unmittelbare Gegenwart für den Menschen sdbst und die
Welt (Phänomenologie), Tatsächlichkeit und Objektivität (Empirismus),

99
Formalisierbarkeit und ähnliches mehr. Dabei geht es stets um einen
Grund (logos), der selbst aber nichts mehr mit der Sprache oder dem
Sprechen zu tun hat.
Ein zweites Merkmal des modernen Denkens ist seine Ablehnung der
Rhetorik. Als persuasive Technik wird sie für völlig überflüssig, für
gefährlich und irreführend erachtet. Die aufgrund einer persuasiven
Rede erworbenen Einsichten stehen denjenigen radikal entgegen, die
wissenschaftlich erarbeitet werden. Der ästhetische Aspekt dessen, was
gesagt oder geschrieben wird, ist nebensächlich und für die wissenschaft-
liche Darstellung unwesentlich. Ein staistisch besonders gut geschriebe-
ner Text, der sich flüssig und angenehm liest, wird leicht für oberfläch-
lich und wenig wissenschaftlich gehalten. Man sucht die "nackte" Wahr-
heit oder die "nackten" Tatsachen, und jede "Einkleidung" (ornatus) ist
nichts weiter als eben Einkleidung und gehört nicht zur Sache selbst.
Dennoch muß das philosophische Sprechen ganz spezifischen Stilform.en
genügen und in sehr bestimmterWeise aufgebaut sein. Form und Aufbau
werden gleichsam unbewußt überliefert und nachgeahmt. Mit Rhetorik
soH das jedoch nicht zusammenhängen. Sie wird zurückgewiesen. Viel-
leicht müssen wir die romantischen Tendenzen des Denkens, die manch-
mal übrigens allzu leichtfertig als Irrationalismus und als Zerstörung der
Vernunft (Lukacs) bezeichnet werden, und den spekulativen deutschen
Idealismus, der zumindest die poEtischen und praktischen Implikatio-
nen von Philosophie retten wollte, davon ausnehmen. Eine Politik ohne
Rhetorik erscheint uns unmöglich.
Ein drittes Kennzeichen ist das geringe Maß an Aufmerks.amkeit auf
die Sprache. Obwohl die gesamte Philosophie und die Wissenschaft
zumindest teilweise aus Texten im Sinne von Büchern und Artikeln ,
Vorträgen und Vorlesungen, Kollegien und Diskussionen bestehen,
schenkt man der Frage, was eigentlich ein Text ist, so gut wie keine
Beachtung. Wie ein Text wirklich zustande kommt, was genau ge-
schieht, wenn er geschrieben oder gelesen wird, und was er beim Leser
oder Zuhörer ausrichtet: das sind Fragen, die nicht gesteHt werden. Die
Sprache, die doch eine notwendige Moglichkeitsbedingung eines jeden
Textes ist, zieht als solche nur wenig Interesse auf sich. Friedrich
Nietzsche, der übrigens als Philologe begann und als junger Professor in

100
Basel über die Rhetorik der Griechen und Römer las, war einer der
ersten, die eine radikale philosophische Besinnung mit einer grundsätzli-
chen Reflexion über die Sprache und über den Stellenwert des Textes als
solchem verbanden.
Wie sich zeigt, beachtet das moderne Denken die verborgene und
subtile Rhetorik, die jede philosophische und wissenschaftliche Rede
kennzeichnet, so gut wie überhaupt nicht. Weder für den verborgenen
persuasiven Charakter dessen, was gesagt und geschrieben wird, noch
für die verborgenen Machtstrukturen, die in einer Philosophie oder in
einer Wissenschaft wirksam sind, hat man einen Blick. Die Frag,e, ob im
Denken nicht eine Reihe von Machtpositionen aufrecht erhalten und
abgesichert, verteidigt und gerechtfertigt werden, wird nicht gestellt.
Selbst die Verteidigungs- und Abwehrmechanismen, die in einem Text
am Werk sind und die - wie wir noch sehen werden - zu seiner Entste-
hung notwendig sind, entgehen den neuzeitlichen Denkern. Man muß auf
Autoren wie Marx, Nietzsche und Freud warten, die alledem größere
Aufmerksamkeit schenken.
Außer ihnen haben viele Philosophen und Wissenschaftler - und zwar
die größten unter ihnen - sich doch wohl einen Begriff von der verborge-
nen rhetorischen Struktur ihrer Disziplinen gemacht. Diese Einsicht
kommt in vielfähiger Weise zum Ausdruck.
Ein erstes Anzeichen dafür ist das Unbehagen an der autoritären
Unterrichtsstruktur. Es findet sich nicht nur und nicht vorrangig auf
seiten der Studenten, sondern vielmehr auf seiten der Dozenten. Der
Unterricht ist der eigentliche Ort, an dem Philosophie und Wissenschaft
vermittelt werden, ja sogar stattfinden. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis,
die Beziehung des Professors, der sagt und verkündet, was er entdeckt
hat,. zum Studenten, der ihm zuhört und seine Äußerungen gezwunge-
nermaßen akzeptiert, ist natürlich gerade das Gegenteil einer wirklich
philosophischen oder wissenschaftlichen Arbeitsweise. Nun hat man
zwar viele Versuche unternommen, dieses Verhältnis zu ändern und eine
eher sokratische Art des Lehrens einzuführen, meistens aber ohne
Erfolg. Sokratische Diskussionen unter Freunden sind nur in einem ganz
kleinen Kreis Auserkorener möglich. In dem Maße, in dem die Demo-
kratisierung des Unterrichts zunimmt und immer mehr Menschen eine

101
wissenschaftliche Ausbildung erhalten,. verstärkt sich auch seine autori-
täre Struktur. Während Kant, Hegel oder Nietzsche ihr KoHeg noch für
höchstens zwanzig Studenten abhielten, liest heute ein Philosoph oft vor
der zehnfachen Anzahl. Dies ändert nichts daran, daß zahlreiche neue
Experimente im Unterrichtswesen außerordentlich interessant sind.
Man kann sie auch als Reaktionen auf die autoritäre, d. h. rhetorische
Struktur der traditionellen Lehrveranstaltungen betrachten. Ob in die-
sen Experimenten andere Aspekte des Konflikts zwischen Rhetorik und
Philosophie hinreichend berücksichtigt werden, möchten wir an di,eser
Stelle offenlassen.
Eine zweite Äußerung dieser Einsicht in die rhetorische Struktur von
Philosophie und Wissenschaft ist das Bewußtsein von der Unmöglichkeit
und Notwendigkeit, eine Einleitung zu geben oder zu schreiben. Jeder
gute Dozent spornt seine Studenten natürlich regelmäßig an, selbst zu
denken und zu urteilen. Um aber dazu in der Lage zu sein, muß man
zunächst sorgfältig in das Vokabular, die zu befolgenden Methoden, die
überlieferten Schemata und das bereits bekannte Material eingeführt
werden. Eine derartige Einleitung ist jedoch stets eine Form rhetorischer
Indoktrination, sei es, daß es sich um eine einführende Vorlesung, sei es,
daß es sich um ein zur Einführung dienendes Buch oder um eine
Einleitung zu einem Buch handelt. Das anschaulichste Beispiel für
heides, die Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer Einführung in die
Philosophie, ist Hegels Vorrede zur Phänomenologie des Geistes. Der
Autor sagt darin ausdrücklich, daß es philosophisch gesehen unmöglich
und unangemessen sei, ein einleitendes Vorwort zu einem philosophi-
schen Werk zu schreiben. Ein derartiges Unterfangen steht nämlich im
Widerspruch zur Philosophie selbst, die nicht aus einer Reihe von
Behauptungen besteht, die notgedrungen angenommen werden müssen;
vielmehr stellt sie die wirkliche,. denkende Entwicklung des Gedankens
dar. Hege! kann es jedoch nicht unterlassen, ein Vorwort zu schreiben,
da er dem Leser zumindest eine Anleitung geben muß, wie er das Werk
zu lesen hat. Hegels Vorrede ist einer der wichtigsten Texte in der ge-
samten Geschichte der Philosophie. Sie ist zugleich auch eine Mi-
schung aus einem rein philosophischen und einem eindeutig rhetori-
schen Text.

102
Ein dritter Hinweis auf die Tatsache, daß man sich der rhetorischen
Struktur von Philosophie und Wissenschaft bewußt ist, liegt im Unbeha-
gen an ihrer Popularisierung und der (gleichzeitigen) Einsicht in deren
Notwendigkeit. Prinzipiell gesehen ist "Popularisierung" natürlich das-
selbe wie "Publikation". Bei Veröffentlichungen unterscheidet man gern
zwischen rein wissenschaftlichen und sogenannten popularisierenden
oder populären Werken. Gewöhnlich wird von den letzteren mit Herab-
lassung gesprochen. Doch sollte man das Folgende keinesfalls unbeach-
tet lassen: Wenn eine Philosophie oder eine bestimmte Wissenschaft
(Chemie, Soziologie, Psychoanalyse usw.) eine Rolle innerhalb der
Gesellschaft spielen und bei den Menschen eine gewisse Bekanntheit
genießen, so ist dies ganz und gar ihrer Popularisierung zu verdanken.
Selbst das, was der Intellektuelle über das begrenzte Fachgebiet hinaus,
das er beherrscht, weiß, kennt er ausschließlich durch Artikel in populä-
ren Zeitschriften, durch einfache Einleitungen und Übersichten oder
durch das Medium der Werbung. Dies gilt zum Beispiel auch für das,.
was man über Platon, Augustinus, das Mittelalter, den Marxismus, die
Soziologie, die Astronomie, die Kybernetik und ähnliches mehr weiß.
Sogar von Menschen, die sich von Berufs wegen mit Philosophie be-
schäftigen, darf man nicht erwarten, daß sie alle Texte des Altertums, der
Kirchenväter und der großen Philosophen der Neuzeit und Geg,enwart
gelesen haben. Dennoch hat man ein gewisses Recht, darüber zu spre-
chen. Die Popularisierung hat ferner auch die Aufgahe, eine erste
Bekanntschaft mit einer Thematik zu vermitteln, durch die man sich
dann zu einer v,ertieften Auseinandersetzung angeregt fühlt. Ohne diese
Anregung wird sich niemand für ein bestimmtes Gebiet interessieren.
Etwas anziehend und reizvoll vorzustellen, ist ein typisch rhetorisches
Unterfangen.
AU diese Probleme angesichts der autoritären Struktur des U nter-
richts, der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer Einleitung und der
Bedeutung der Popularisierung sind rhetorischer Natur. Sie beziehen
sich auch auf Fragen folgender Art: Was ist eigentlich ,ein Text? Wie ist es
um die Materialität und Extensität von Wörtern bestellt? Was gen au
ereignet sich, wenn gesprochen oder geschrieben wird? Und was ist
schließlich Sprache?

103
Bacon und Descartes haben die Prinzipien der neuen Wissenschaft
formuliert. Sie haben die Normen aufgestellt, denen die Wissenschaft
genügen muß, um wahre Wissenschaft zu sein. Zu ihren Prinzipien
gehört die Ablehnung jeglicher Form von Rhetorik. Gefordert wird eine
radikale Rechtfertigung. Gleichzeitig scheint die neue Wissenschaft der
Rhetorik nicht völlig entrinnen zu können. Eine grundsätzliche Verant-
wortung ist nicht jederzeit möglich. Die Prinzipien sind nicht in allen
Fällen haltbar, und die Normen können nicht immer und in jeder Hin-
sicht befolgt werden.

104
x. Pascal und die "Kunst zu überzeugen"

Blaise Pascal (1623-1662) war ein großer Gläubiger und ein feinfühliger
Mensch,. vor allem aber auch ein bedeutender Mathematiker. Für die
Philosophie im allgemeinen und die Metaphysik im besonderen hatte er
wohl nicht viel übrig. Metaphysische Spekulationen sind für ihn wertlos;
er verwirft den ,Gott der Philosophen'. Ausdrücklich und regelmäßig
bekennt er dagegen seinen Glauben an den ,Gott Abrahams, Isaaks und
Jakobs', an den ,Vater von Jesus von Nazareth', jenen Gott, den man
nach Pascal nur in und durch Christus kennenlernen kann. Selbst für die
traditionelle Logik als Methode oder Weg zur Wahrheit weißer nur
wenig Anerkennung aufzubringen. Er bevorzugt unumschränkt die
mathematische und geometrische Methode. Pascal schreibt: ,.,La me-
thode de ne point errer est recherchee de tout le monde. Les logiciens
font profession d'y conduire, les geometres seuls y arrivent, et, hors de
leur science et de ce qui l'imite, il n'y a point de veritables demonstra-
tions." Dies bedeutet nicht, daß es außerhalb der Mathematik keine
Wahrheit oder Einsicht gäbe; im GegenteiL Pascal unterscheidet zwi-
schen dem ,esprit geometrique' und dem ,esprit de finesse'. Letzterer
besteht in einem scharfsinnigen und intuitiven Erfühlen und Verstehen
dessen, was die Menschen bewegt und die Welt in Gang hält, was die
Menschen woUen und beabsichtigen, und was verdient,. ausgeführt zu
werden. Der ,.esprit geometrique' vermag einen voHkommen zuverlässi-
gen Beweis des Behaupteten zu liefern. Pascal merkt an, daß nur selten
beide Geistesstrukturen in einem Menschen vereint sind. Es herrscht
zwischen ihnen sogar ein hartnäckiges Mißverständnis. Mathematiker
machen sich lächerlich, wenn sie Dinge, die sich nicht dazu eignen, in
der ihnen eigenen Art und Weise beurteilen. Der feinsinnige Geist sieht
für gewöhnlich widerwillig und verständnislos auf eine mathematische
Erörterung herab.
Pascal hat eine Schrift mit dem Titel De l'esprit geomitrique et de l'art
de persuader verfaßt. Sie besteht aus zwei Teilen. Der erste behandelt die

105
geometrische Methode, der zweite die Kunst zu überzeugen. Wie mo-
derne Forscher aufgezeigt hahen,. begen hier zwei verschiedene, vonein-
ander unabhängige Texte vor, die um 1645 verfaßt und erst später
zusammengefügt wurden. Uns interessiert vor allem der zweite Teil.
Auch er handelt zunächst von der geometrischen Methode, sie ist nach
Ansicht des Autors die einzige, die den Menschen wirklich überzeugen
kann, da sie sich ausschließlich des Verstandes bedient. Sie ist, so Pascal,
leicht zu erlernen und von außergewöhnlichem Nutzen, obschon sie sich
auf den Bereich der Mathematik beschränkt. Pascal gibt eine Reihe
präziser Regeln für Definitionen, Axiome und Beweise. Sie müssen
strikt befolgt werden, damit die Methode wirklich geometrisch und
tatsächlich überzeugend sein kann. Wir gehen nicht weiter darauf ein;
dieser Text enthält aber eine Reihe anderer Dinge, die für unsere
Problematik von großer Bedeutung sind.
Wie Pascal gleich zu Anfang sagt, gibt es zwei Zugangswege (entrees),
auf denen die Meinungen die Seele durchdringen können: der Verstand
(tentendement, l'esprit) und der Wille (la volonte, le azur). Der natürli-
che Weg (la voie naturelle) ist der des Verstandes, der gewöhnliche (la
voie ordinaire) jedoch der des Willens, denn die Menschen nehmen im
allgemeinen nicht so sehr dasjenige an, was bewiesen ist, als vielmehr
dasjenige,. was sie wünschen, was sie angenehm finden und was ihnen
behagt. Der zweite Weg wird zwar von jedem desavouiert und für
gemein, unwert, fremd und widernatürlich gehalten, er bleibt jedoch der
eigentliche Weg.
Pascal unterscheidet sodann zwischen göttlichen Wahrheiten (ies veri-
tes divines) und solchen, die innerhalb unserer Fassungskraft (Ies verites
de notre portee) liegen. Die göttlichen Wahrheiten sind nach Ansicht des
gläubigen Pascal nicht Gegenstand der Überzeugungskunst. Nur Gott
kann sie in die Seele eindringen lassen, und zwar so, wie es ihm gefällt.
Es ist eine Frage der Gnade, die dem Menschen durch Gott verliehen
wird und die ganz und gar der übernatürlichen Ordnung angehört. Was
die Wahrheiten innerhalb unserer Fassungskraft angeht, erklärt Pascal,
daß sie durch zwei Türen (portes) in die Seele eintreten können: durch
den Verstand oder den Geist und durch den Willen oder das Herz. Er
mach t darauf aufm,erksam,. daß nur sehr wenige Wahrheiten kraft des

106
Verstandes angenommen werden, während sie massenhaft durch die
kühnen Grillen des Willens (par fes caprices temeraires de La volonte)
in die Seele gelangen. Zwischen Verstand und Willen wird außerdem
ein heftiger Streit ausgefochten, dessen Ausgang stets unsicher ist. Um
den Streit zu schlichten und zu beurteilen, müßte man genau wissen,
was sich eigentlich im Inneren des Menschen zuträgt. Fast immer ist
dies unbekannt, selbst dem Menschen, in dem sich dieser Streit ab-
spielt.
Allein in der Mathematik kommt es auf den Verstand an, und wenn
man smch strikt an die Regeln der geometrischen Methode hält, über-
zeugt ihre Beweisführung ohne weiteres. Auf aUen anderen Wissensge-
bieten liegen die Dinge viel komplizierter. Will man außerhalb des
Bereichs der Mathematik jemanden von etwas überzeugen, muß man
zunächst den Geist desjenigen kennen, den man überzeugen will,. d. h.
die Prinzipien, denen er anhängt. Ferner muß man auch sein Herz
kennen,. d. h. alles, was er begehrt und liebt, und letztlich muß man
wissen, wie das,. wovon man den anderen überzeugen will, mit seinen
Prinzipien und Wertschätzungen zusammenhängt.
Bei der Überzeugungskunst geht es darum, den anderen mit Hilfe des
Verstandes für sich zu gewinnen (convaincre), indem man ihm Beweise
vorlegt (demontrer), auf seine Wünsche eingeht (agreer) und ihn erfreut
(plaire). Ersteres ist verhältnismäßig einfach; es gibt dafür eindeutige
Regeln. Gleichzeitig ist der Bereich, in dem strenge, d. h. mathematische
Beweise geführt werden können, sehr begrenzt. Auf Wünsche und
Begierden anzuspielen und eine Sache wirklich anziehend darzustellen,
ist ungleich schwieriger und erfordert große Subtilität. Aber auch dafür
gibt es nach Pascal Regeln. Auch im menschlichen Begehren gibt es
Gesetzmäßigkeiten. Da diese zweite Art des Überzeugens einen aus ge-
breiteteren Argumentationsbereich umfaßt, ist die Kenntnis dieser Re-
geln und Gesetzmäßigkeiten sehr viel wichtiger und nützlicher. Diese
Regeln sind natüdich sehr viel schwieriger und komplizierter. Sie sind
jedoch ebenso sicher wie die des mathematischen Beweisens (des regles
aussi sures pour plaire que pour demontrer). Pascal sieht sich zwar nicht
in der Lage, diese Regeln anzugeben, doch wenn man sie besäße, könnte
man die Gunst von Königen und Machthabern und jeder anderen Art

107
von Menschen erwerben . Wer diese Regeln kennte, besäße in jedem Fall
eine außergewöhnliche Macht.
Die Regeln für das Behagen sind äußerst schwierig (d'une extreme
difficulte), da die Prinzipien des Begehrens nicht immer dieselben und
zudem veränderlich sind (ies pr.incipes du plaisir ne sont pas fermes et
stahles). Sie unterscheiden sich von Mensch zu Mensch und von Gruppe
zu Gruppe. Oft werden sie auch durch äußere Umstände verändert.
Pascal gibt eine Reihe von Beispielen: das Herz eines Mannes unterschei-
det sich von dem einer Frau, das eines Reichen von dem eines Armen,
das eines Fürsten von dem eines Untertanen, das eines Soldaten von dem
eines Kaufmanns, das eines Bürgers von dem eines Bauern, das eines
Älteren von dem eines Jüngeren, das eines Gesunden von dem eines
Kranken usw. Hinzu kommt, daß das beiläufigste Ereignis aUes verän-
dern kann. Das spricht aber nicht gegen die Gültigkeit solcher Regeln
und Gesetze.
Pascal war nicht in der Lage, diese Regeln anzugeben. Heutzutage hat
man darin große Fortschritte gemacht. Mit Hilfe der angewandten
Soziologie, Psychologie und Psychoanalyse hat man - oft durch ausge-
klügelte Experimente - eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten hinsichtlich
der Persuasibilität dessen ausgemacht, der als "Empfänger"einer "Bot-
schaft" bezeichnet wird. Ferner konnte man eine Anzahl Regeln formu-
lieren, die der sogenannte "Sender" und seine "Botschaft" befolgen
müssen, um wirklich überzeugend zu sein. Solche Gesetzmäßigkeiten
können sich auf Gruppen oder einzelne Individuen beziehen. Dabei sind
Variablen und Konstanten zu unterscheiden: Zu den individuellen Varia-
blen,. die untersucht wurden, gehören z. B. Geschlecht, Intelligenz,
Lebensalter ("objektive" Variablen) und Selbstwertgefühl, Aggressivität,
autoritäres Verhalten ("subjektive(C Variablen). Zu den Gruppenvaria-
blen gehören u. a. die Zusammengehörigkeit (Kohäsion), der Konfor-
mitätsdruck einer Grupp~, ihre geltenden Normen usw. Hierüber liegt
ein breitgefächertes SchrIfttum vor. Auch über die Regeln, denen der
"Sender" und die "Botschaft" genügen müssen, ist viel geschrieben
worden. Was jedoch die fundamentale und vielleicht verborgene persua-
sive Struktur philosophischer und wissenschaftlicher Texte angeht, ist
außer bei Kenneth Burke nur wenig zu finden.

108
Doch kehren wir für einen Augenblick zu Pascal zurück. Im Rahmen
des problematischen Spannungsverhältnisses zwischen Philosophie und
Rhetorik muß man erkennen, daß er den strengen, verstandesmäßigen
Beweis fast ausschließlich dem Bereich der Mathematik vorbehält. Alles,
was in der Philosophie als wahr angenommen wird, gehört seiner An-
sicht nach eher dem Bereich des "agreer" und des "plaireC< an. Damit ist
nicht gesagt, daß für Pascal die Philosophie wertlos wäre. Es bedeutet
jedoch, daß sie wohl etwas vorsichtiger sein sonte, als sie es gewöhnlich
ist, und daß sie auch weniger anmaßend sein sollte, als sie gemeinhin ist.
Pascal ist kein Skeptiker, aber als ein besonders feinfühliger Mensch hat
er die Probleme erahnt, mit denen manche Denker des zwanzigsten
Jahrhunderts konfrontiert werden.

109
XI. Die heilige Beredsamkeit

Es mag vieHeichterstaunen, daß man in einer philosophischen Studie


einem Kapitel über die eloquentia sacra, die heilige Beredsamkeit oder
die Verkündigung des Wortes Gottes und der christlichen Botschaft
begegnet. Im Rahmen des problematischen Spannungsverhältnisses zwi-
schen Rhetorik und Philosophie ist das Phänomen der christlichen
Predigt jedoch von großer Bedeutung. Warum?
An erster Stelle ist die heilige Beredsamkeit - im Vergleich mit der
griechischen und römischen" Rhetorik - ein neues und eigenständiges
Genre, da die Kunst des Uberzeugens im Altertum vorrangig eine
juristische, politische und möglicherweise poetische, aber nicht in dem
Maße eine religiöse Bedeutung besaß, wie es in der Predigt der Fan ist.
Die heilige Beredsamkeit läßt sich in gewisser Hinsicht zwar der bera-
tenden unterordnen, da der Prediger gleichfalls versucht, seiner Zuhö-
rerschaft zu einer bestimmten Praxis zu- oder abzuraten. Oft ist sie
sogar epideiktisch, denn der Prediger versucht Gottes Lob zu verkünden
und seine Wundertaten zu erzählen und auszulegen. Ihre Eigenheit
besteht jedoch in ihrem Anspruch,. Gottes Wort zu sprechen und die
(göttliche) Wahrheit und das Heil des Menschen zu verkünden. Die
Predigt hat daher ihren eigenen Ort. Nicht Gerichtshof und Prozeß,
nicht Volksversammlung und politische Debatte, sondern Kirche und
Gottesdienst sind der Rahmen, in dem die Predigt stattfindet. Insofern
ist sie eine heilige Beredsamkeit.
Auch sollte man die Bedeutung der Predigt für die europäische Kultur
nicht unterschätzen. Sie hat in der Entstehung des christlichen Bewußt-
seins eine große RoHe gespielt. Sonntag für Sonntag ist an unzähligen
Orten, in vielen Kirchen und Gemeinden ,Gottes Wort' verkündigt
worden. Für einen großen Teil der Bevölkerung war dies oft der einzige,
zumindest der wichtigste Unterricht, den sie erhielt. Daß die europäi-
sche Kultur eine christliche (Volks-)Kultur wurde, ist zu einem großen
Teil diesem unausgesetzt wiederholten Unterricht zu verdanken, viel-

110
leicht sogar zuzuschreiben. Sie hat die öffentliche Meinung und die
Gesamtheit der alltäglichen ethischen, politischen und selbst metaphysi-
schen Auffassungen und Überzeugungen geformt.
Schließlich ist das Phänomen der Predigt im Rahmen des Konflikts
zwischen Rhetorik und Philosophie auch deshalb von Bedeutung, weil
Philosophen im allgemeinen sehr verächtlich auf die Predigt herabgese-
hen haben. Und in dem Maße, in dem die Theologie allmählich meta-
physisch wurde, haben selbst die Theologen nur wenig Wertschätzung
für die Prediger aufgebracht. In dieser Geringschätzung der Prediger
kommt der Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie klar zum
Ausdruck.
Wendet man sich als Philosoph der heiligen Beredsamkeit zu, so fallen
einige Dinge unmittelbar ins Auge. Zunächst sind seit Augustinus" De
doctrina christiana zahlreiche Bücher als Richtlinien oder Handbücher
für Prediger geschrieben worden. In dieser Literatur über die Technik
des Predigens (ars praedicandi) wird auf vielfältige Weise von den
klassischen Werken über Rhetorik Gebrauch gemacht. Aristoteles, Ci-
cero, Quintilian und viele andere sind stets implizit oder explizit gegen-
wärtig. Hierzu sei noch bemerkt, daß die ars praedicandi ein wichtiges
Fach in den sogenannten Seminaren oder in der Ausbildung der Prediger
war. Es wurde jedoch nur wenig über die Geschichte der Predigt
geschrieben. Noch weniger findet man über die Philosophie der Predigt.
Wir verstehen darunter eine systematische und theoretische Reflexion
auf das Wesen und den Status der Predigt sowie auf ihre Funktion im
Leben der Gemeinschaft. Über die Frage, was eine Predigt wirklich
ausmacht, und über das Problem, was auf seiten des Predigers und der
Zuhörerschaft geschieht, wenn gepredigt wird, ist wenig nachgedacht
worden.
Im Hinblick auf eine solche Philosophie der Predigt sind Martin
Luther und Friedrich Sch~eiermacher zweifellos bedeutsame Autoren.
Luther (1483-1546), der die deutsche Philosophie, namentlich den
spekulativen Idealismus, stärker beeinflußt hat als manchmal vermutet
wird, sagt einmal in der ihm eigenen Sprache: "Des predigers mund und
wort das ick gehort habe ist nicht sein sondern des Heiligen Geistes wort
und predig, der da durch solch auswendig mittd inwendig den glauben

111
gibt und also heiligt" (W A., 45,616,32). Es lohnt die Mühe, bei diesem
Text etwas länger zu verweilen. Luther sagt, daß das Wort des Predigers
nicht sein eigenes, sondern Wort Gottes, des Heiligen Geistes, ist. Gott
spricht durch den Mund des Predigers. Das Wort des Predigers ist nur
ein äußerliches MitteL Es ist die Veräußerlichung (die Materialität des
Wortes) einer Innerlichkeit (des Heiligen Geistes). Es ist die Verkörpe-
rung (Inkarnation) des göttlichen Wortes. Damit das Wort des Predigers
wirklich Wort Gottes ist, muß es natürlich bestimmte Bedingungen
erfüllen. Es muß vollständig von der Heiligen Schrift inspiriert sein und
die Wunderwerke Gottes lobpreisen. Es muß das Heil verkünden.
Außerdem muß der Prediger als solcher auf irgendeine Weise öffentlich
angestellt oder von der Gemeinde berufen sein.
Da das Wort des Predigers Wort Gottes ist, richtet es in der Gemeinde
auch wirklich etwas aus. Was bewirkt es? Das Wort des Predigers
spendet den Glauben und heiligt dadurch. Erstens ist es für den Glauben
konstitutiv. Das muß so grundsätzlich wie möglich verstanden werden.
Es ist nämlich nicht so,. daß der Zuhörer das Wort glauben muß,
vielmehr macht es ihn gläubig. Es muß natürlich mit einer gewissen
Offenheit und Empfänglichkeit gehört werden, aber selbst diese Voraus-
setzungen werden durch die Predigt geschaffen und gestiftet. Der
Glaube ist eine feste Überzeugung (doxa), sie besteht nur dank und kraft
der Predigt (logos). Ohne Predigt gibt es keinen Glauben, und jenseits
des verkündigten Wortes gibt es keine gläubige Gemeinde. Denn nie-
mand hat Gott je gesehen, und die Gläubigen kennen ihn nur aus den
Erzählungen, die von Geschlecht zu Geschlecht überliefert werden. Wir
haben uns damit in vieler Hinsicht sehr weit von einer spekulativen
Metaphysik entfernt und befinden uns in der Nähe der Sophisten, im
Umkreis jenes Sprachverständnisses, das bei ihnen wirksam war. Viel-
leicht spielt dabei auch die nominalistische Tradition, von der Luther
geprägt wurde, eine wichtige Rolle.
Zweitens macht nach Luther das Wort des Predigers auch heilig. Es
heiligt, weil es den Glauben gibt ("den glauben gibt und also heiligte,).
Gläubig sein und heilig sein ist in dieser Hinsicht und im eigentlichen
Sinn des Wortes eben dasselbe. Die Predigt ist kein Ansporn, heilig zu
leben oder ein guter, edler und hochstehender Mensch zu sein, sondern

112
sie macht als solche den Menschen heilig. Die Predigt verleiht die Kraft
und das Vermögen, ein guter Mensch zu sein. Sie gibt die Gnade und ist
deshalb ein Sakrament, d. h. ein äußeres Zeichen, durch das in der
Innerlichkeit etwas bewirkt wird. Das Wort des Predigers verkündigt
das Heil, das Stärke und Mut, Erbauung und Trost, Sicherheit und
Orientierung mst. Die Predigt weist dem Menschen den Weg. Sie remcht
gleichsam das Schema an, dem gemäß der Mensch sein Dasein vollziehen
kann, sie liefert ihm den Rahmen, in dem sich der Mensch sicher fühlen
und zu Hause wissen darf. Sie ist eine Beruhigung und weckt Vertrauen;
gleichzeitig aber ist sie eine Herausforderung und ein Urteil.
Am deutlichsten kommt dies in einem Wort zum Ausdruck) das für
die Predigt kennzeichnend ist: das Wort des Predigers ist erb.aulich. Es
erbaut den Menschen in seinem konkreten Dasein. Es stiftet oder baut
eine Welt auf, in der sich der Mensch aufhalten kann, es stiftet und ver-
wirklicht eine gläubige Gemeinde, in der die Menschen einander die
Botschaft von und über Gott überliefern. Im Wort ,erbauen' ist noch ein
Rest des griechischen ,poiein' bewahrt. Die Predigt ist ,ein ,poetischer'
logos von und über Gott, von und über den Menschen. Dieser logos ist
aus der Sicht des Menschen konstitutiv (erbauend) für die Existenz
Gottes, konstitutiv für die konkrete Existenz oder Daseinsweise des
Menschen. Gott ist für den Gläubigen in erster Linie eine ,Person' aus
einer ahen, überlief.erten Erzählung, die unter den Gläubigen weiterer-
zählt wird. Jeder Mensch steht in einem Zusammenhang von Erzählun-
gen, die ihm und die über ihn erzählt werden: Erzählungen üher den
Menschen,. über seine Vergangenheit und Zukunft, über seine Welt und
seinen Gott. Dieser Zusammenhang von Erzählungen eröffnet und
begrenzt den Raum, in dem der Mensch sein Dasein vollziehen kann und
darf: sein konkretes Dasein mit allen Ängsten und Erwartungen, Idealen
und Enttäuschungen, Verlangen und Schuldgefühlen, Werturteilen und
Einsichten. Auch die Predigt macht einen Teil eines solchen Zusammen-
hangs von Erzählungen aus.
Im Anschluß hieran müssen wir noch an einen anderen Gedanken
Lutherserinnern, auf den G. Ebeling in seinem Buch Luther - Einfüh-
rung in sein Denken aufmerksam g,emacht hat. In Luthers Großem
Katechismus steht zu lesen: "Gott und Glaube gehören zuhaufe\ d. h.

113
sie gehären zueinander. Gott ist für Luther das höchste Gut oder das,
worauf der Mensch seine Hoffnung richtet und wovon er alles Heil
erwartet. Offensichtlich hat jeder Mensch seinen eigenen Gott: Er kann
die Karriere sein, die ihm vorschwebt, das Geld, der Bauch, menschliche
Beziehung usw., kurz aUes, wovon man alles erwartet. Natürlich ist ein
solcher Gott ein Abgott. Der Christ erwartet aU es vom ,wahren Gott<,
der sozusagen die reine N egativität ist, d. h. wesensmäßig und immer
anders als jegliche irdische Wirklichkeit. Dieser ,wahre Gott' ist nach
Luther wesentlich auch ein verkündigter Gott. An den wahr,en Gott
glauben bedeutet" ihn zu loben. Und Gott loben heißt Gottes Lob
verkündigen, Gottes Wunderwerke erzählen und einander die Schöp-
fung, die Befreiung und Zukunft des Menschen vorhalten. Außerhalb
von Lobgesang und Verkündigung gibt es keinen Gott für den Men-
schen. Luther gebraucht sogar die gewagte Formulierung: der Glaube ist
,creatrix divinitatis', d. h. schaffend im Hinblick auf Gott. Diese Formu-
lierung hat viel Ärger hervorgerufen, u. a. bei K. Barth. Das Ärgernis
beruht offensichtlich auf einem Mißverständnis. Wenn Luther sagt, daß
Gott nur dank und kraft des Glaubens besteht, so darf man dies
keinesfalls subjektivistisch oder anthropozentrisch auffassen, wie es
L. Feuerbach getan hat. Der wahre Glaube ist nämlich keine subjektive
und rein menschliche Angelegenheit, sondern eine göttliche. Der christ-
liche Glaube ist Ergebnis der christlichen Verkündigung, die ihrerseits
Wort Goues ist. Es handeh sich nicht um einen Subjektivismus; es
bedeutet vielmehr, daß Gott unmöglich Gegenstand einer rein theoreti-
schen und metaphysischen Betrachtung sein kann. Der ,.,Gott der Phi-
losophen" wird nicht nur von Pascal, sondern auch von Luther entschie-
den zurückgewiesen.
Bei Fr. Schleiermacher (1768-1834), dem Romantiker und Gegner der
Aufklärung, kehren verschiedene der oben genannten Themen wieder.
Für ihn macht die Verkündigung einen wesentlichen Teil des Gottesdien-
stes aus. Die Liturgie ist der einzig angemessene Ort, an dem über Gott
und die Religion gesprochen werden kann. Die Verkündigung ist Wir-
kung und Ausdruck des christlichen Bewußtseins. Sie ist gleichzeitig die
Fortsetzung und der weitere Ausbau desselben. Für Schleiermacher ist
die Erbauung eine zentrale Kategorie. Er greift damit entschiedener als

114
Luther auf den Begriff der religiösen Stimmung zurück. Hatte der
Glaube bei Luther vor allem praktische Bedeutung, so ist er bei Schleier-
macher in erster Linie eine Frage des Gefühls und des Gestimmtseins.
Die religiöse Stimmung wird nach Schleiermacher in und durch die
Predigt geweckt. Trotz dieser Akzentverschmebung und anderer, wich-
tiger Unterschiede stimmen ihre Auffassungen, was die Stellung des
Wortes in der gläubigen Gemeinde angeht, überein. Das Wort der
Predigt ist bei beiden konstitutiv für den Glauben.
Wie bereits erwähnt, ist die Haltung der meisten Theologen und
beinahe aller Philosophen gegenüber der Predigt ziemlich negativ. Im-
merhin sehen die Theologen im allgemeinen nicht mit Verachtung auf sie
herab, wohl aber mit einer gewissen Geringschätzung. Für die Theologie
ist die Predigt letzten Endes keine ernsthafte Angelegenheit. Sie ist eher
eine Frage der Frömmigkeit und der Spiritualität, gegebenenfalls einer
nicht-wissenschaftlichen, rhetorischen und katechetischen Bdehrung.
Mit der Theologie als Wissenschaft hat sie wenig zu tun. Von den
Philosophen dagegen wird die Predigt offensichtlich verachtet, meist
totgeschwiegen, oft sogar verspottet. )Prediger' ist für sie ein schlimme-
res Schimpfwort als ,Literat'. Die rhetorische und persuasive Verkündi-
gung ist das Gegenteil von Philosophie.
Diese Geringschätzung und Verachtung sind ein offenkundiger Aus-
druck für den Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie. Wie aber
soll er auf dieser Ebene verstanden werden? Eine ,Genealogie' der
Theologie und Philosophie wird diesen Punkt vielleicht hinreichend
erhellen. M. Heidegger, der sich intensiv mit der Entstehungsgeschichte
der Theologie und ihrem Status beschäftigt hat, schreibt in einem
Aufsatz, der die onto-theologische Struktur der Metaphysik behandelt,
die Theologie sei ursprünglich "das mythisch-dichtende Sagen von den
Göttern ohne Beziehung auf eine Glaubenslehre und eine kirchliche
Doktrin" (Identität und Differenz, S.50). Die Theologie ist von j,eher
ein logos über die Götter. Als logos ist sie ein Sagen und Zeigen, durch
das ein Raum eröffnet wird, in dem die Götter erscheinen und sein
können, was sie sind. Dieses Sagen und Zeigen geschieht zuerst im
Mythos; er ist die Manifestation der Götter mit Hilfe eines Wortes. Das
mythische und dichterische Sagen liegt nicht einfach im Machtbereich

115
des Menschen, vielmehr überkommt es ihn, namentlich den Dichter.
Gerade er läßt das Heilige sichtbar und wahrnehmbar werden.
Später wird die Theologie - in einer Entwicklung, die von Platon
eingeleitet wurde - mehr und mehr zur Metaphysik. Sie findet ihre erste
Vollendung in der christlichen Theologie. Heidegger sagt dazu: "Die
christliche Theologie ist in dem, was sie weiß und wie sie ihr Gewußtes
weiß,. Metaphysik." (Holzwege, S.187). Metaphysik bezeichnet hier
u. a. eine Einheit theoretischer und objektivierender Aussagen über
einen Gott (das Absolute), der zum Bestehenden und Anwesenden
gehören soll, unabhängig und losgelöst (absolutus) vom Sagen der
Dichter und Sänger. Und wir fügen hinzu: unabhängig und losgelöst von
der bekennenden und gläubigen Verkündigung. Diese Äußerungen wer-
den allesamt einem poetischen Lobgesang, einer liturgischen Feier oder
auch der Heiligen Schrift entlehnt,. die buchstäblich das Ergebnis einer
fortwährend wiederholten Danksagung und einer stets von neuem und
mit Ehrerbietung vorgetragenen Erzählung jener Geschehnisse sind, die
im Namen Gottes über den Menschen gekommen sind. Sie wurden in
der Folgezeit aus ihrem Zusammenhang gerissen, haben sich aus ihrem
ursprünglichen Kontext befreit, haben begonnen, als selbständige Be-
hauptungen ein eigenes Leben zu führen. So ist zum Beispiel die Aussage
,Gott hat die Welt geschaffen' ursprünglich ein Bekenntnis, das der
Mensch, erstaunt über alles, das ihn umgibt, und voll Bewunderung für
die Schöpfung, in Dankbarkeit und Ergebenheit ausgesprochen hat. Er
gebrauchte dazu ein Wort, nämlich ,Gott', das er einer alten, heiligen
Erzählung entnahm. Dadurch wollte er sich einer ihn ermutigenden
Tradition und einem Volk einfügen, mit dem er sich auf den Weg machen
wollte. Später wird jene Aussage zu einer theoretischen Bestätigung
eines höchsten Seienden, das dem Anwesenden angehört,. und für das
alle anderen Seienden anwesend sind, das als letzter (Erklärungs-)Grund
fungiert, unabhängig und losgelöst von der Geschichte, die der gläubige
Mensch erzählt. Später haben sich eine Reihe von Verschiebungen und
Änderungen ergeben, die keineswegs selbstverständlich sind. Der Be-
deutungswandel von logos und die Veränderung des Wesens der Wahr-
heit, auf die wir hereits hingewiesen haben,. sind hier von großer
Wichtigkeit.

116
Im Laufe der Zeit hat sich offensichtlich etwas mit der Theologie
ereignet. Das, was mit der Theologie geschehen ist, vollzieht sich
parallel zu dem, was der Philosophie bei Platon zugestoßen ist. Wie wir
gesehen haben, ist die Metaphysik aus seiner Auseinandersetzung mit
den Sophisten, den Dichtern und den R,ednern entstanden. Diese Ent-
wicklung hing eng mit der grundlegenden Doppeldeutigkeit des Wortes
zusammen. Bei der Genese der metaphysischen und wissenschaftlichen
Theologie hat sich etwa dasselbe zugetragen. U rsprüngEch ist die Theo-
logie ein dichterisches und mythisches Sagen, Lobgesang und Verherrli-
chung, Verkündigung und Feier, Danksagung und Lobpreis. In erster
Linie ist das eine Frage des Glaubens an den Sinn Gottes und an den
Lobpreis der Schöpfung. Nur im Lobgesang und in der Verkündigung
kann Gott als Gott erscheinen, kann die Wirklichkeit sich als Schöpfung
offenbaren. Zugleich ist diese Theologie auch ein Versuch,. sich selbst
und andere zu überreden und zu überzeugen, Menschen für sich zu
gewinnen und ihnen eine Glaubensauffassung einzureden; sie ist gleich-
zeitig Apologie und Rechtfertigung. Die Theologie ist ebenso eine Frage
des Glaubens im Sinne einer festen Überzeugung im Hinblick auf den
Ursprung,. den Sinn und die Zukunft des Daseins. Diese Überzeugung,
die man sich selbst und anderen entgegenhält, muß auf irgendeine Weise
verantwortet und abgesichert werden. Andernfalls gibt es keine Garantie
für die Wahrheit der Glaubensüberzeugung, und man läuft Gefahr,
etwas Willkürliches zu verkünden. Um die Verkündigung abzusichern
und eine Garantie für die Wahrheit der GblUbensüberzeugung zu gewin-
nen, muß ein an sich selbst bestehendes Reich der Wahrheit zugrundege-
legt werden, das von Verkündigung und Glauben unabhängig ist. Die
Wahrheit wird von ihrer Verlautbarung abgekoppelt und als ein selbstän-
diger Bereich verstanden, der vom Theologen außerhalb des ursprüngli-
chen Sagens ,erkannt wird. Was ursprünglich geglaubt und gefeiert wird,
wird nun gewußt und gelehrt. Die Theologie wird damit zu einem
absoluten Wissen, das selbst absolut ist und das Absolute kennt oder
weiß.
Es ist gerade diese metaphysis.che und wissenschaftliche Theologie,
die die Predigt für unwichtig hält, geringschätzt und oft sogar vernach-
lässigt. Die Predigt ist unter diesem Gesichtspunkt keine ernsthafte

117
Angelegenheit und nicht emnmal für die Wahrheit selbst von Belang. Sie
ist nur die rhetorische Verkündigung einer Reihe von Aussagen,. die auch
außerhalb von Glauben und Verkündigung absolut gelten. Man kann
sich natürlich fragen, ob sich die Theologie mit dieser Entwicklung nicht
ihr eigenes Grab gegraben hat. Daß sie schließlich auf den Tod Gottes
hinausgelaufen und für den modernen Menschen völlig unglaubwürdig
geworden ist, ist zumindest ein Anzeichen dafür.
Trotz ihres metaphysischen und wissenschaftlichen Charakters ist und
bleibt die Theologie doch von und ganz durchdrungen von einer offen-
baren oder verborgenen Rhetorik. Denn an erster Stelle ist sie eine
Wissenschaft, die sich mit Texten beschäftigt und ihre wichtigsten
Argumente stets der Tradition entlehnt, dem Konsens der Gläubigen,
.\ der Bibel und der Autorität der Lehre. Es ist wahr, daß beinahe alles,
was der Theologe behauptet, auf ein Zelebrieren, ein Kerygma und einen
Lobpreis zurückgeht. Schließlich wird der Theologe, da er von der
Existenz eines unabhängigen Reiches der Wahrheit und dem tatsächli-
chen Besitz dieser Wahrheit überzeugt ist, alle möglichen rhetorischen
Mittel - eventuell sogar Gewalt - anwenden, um den anderen diesem
Reich beitreten zu lassen und den Besitz mit ihm zu teilen. Das
Zelebrieren wird dann leicht zur Gewaltanwendung, das Kerygma Zur
Indoktrination und der Lobpreis zur bloßen Werbung oder Apologie.
Bei den Philosophen ist die Sachlage noch klarer. Sie weisen die
Predigt geradewegs als etwas Minderwertiges zurück. Kant macht aus
seiner Verachtung für die Prediger keinen Hehl. Die Rednerkunst - auch
die der "Kanzelredner« - hält er für "gar keiner Achtung würdig" (vgl.
das folgende Kapitel). Er sieht darin nichts anderes als eine Reihe von
listigen Kunstgriffen,. die im Widerspruch zur Autonomie und Freiheit
des Menschen stehen. Auch bei Hege1,. der in vieler Hinsicht ein
,Theologe' ist, findet man eine große Zahl spöttischer und sarkastischer
Bemerkungen über Prediger. In der Enzyklopädie wettert er gegen "die
Prediger ... , die ihren Zuhörern Dinge vorsagen, welche diese bereits
auswendig wissen, die ihnen geläufig sind und die sich von selbst
verstehen" (§ 3). Schriftsteller, Redner und Prediger sind aus Hegels
Sicht das Gegenteil von Philosophen. In der bekannten Vorrede zur
Phänomenologie des Geistes wendet er sich vehement gegen die Prediger

118
seiner Zeit. Er hat es dabei zweifellos auch auf 5chleiermacher abgese-
hen. Prediger vermitteln kein wirkliches Verständnis, sondern nur Ge-
fühl und Ekstase, keine wahrhafte Erkenntnis, sondern nur Erbauung.
Sie halten sich nicht an "die kalt fortschreitende Notwendigkeit der
Sache", für sie zählt nur "die gärende Begeisterung" (5. 13). Sie sprechen
vom Schönen, Heiligen, Ewigen, von der Liebe usw. wie von einer Art
Köder, um den Menschen zu verleiten (ebd.). In der besagten Vorrede
heißt es weiter: "Die Philosophie muß sich hüten, erbaulich sein zu
wollen" (S.14). In Glauben und Wissen spricht er im Hinblick auf
Schleiermacher vorn Priester als einem "Virtuose(n) des Erbauens und
der Begeisterung" (S. 90), dessen Kunstfertigkeit nichts mit Philosophie
zu tun hat. Am bezeichnendsten ist schließlich,. daß sich in seiner ganzen
Philosophie der Religion kein einziges Wort über die Verkündigung
findet! Die Religion hat, wie die Philosophie,. das Absolute zum Gegen-
stand,. die Religion auf der Ebene der Vorstellung und der Metapher, die
Philosophie auf der des Gedankens und des Begriffs. Für die Wirklich-
keit dieses Absoluten ist zwar die Arbeit des negativen oder des denken-
den und begrifflichen Fortschreitens notwendig, keineswegs aber die
rhetorische Verkündigung.
Mit dieser Auffassung stehen Kant und Hegel sicherlich nicht allein.
N ach Meinung fast aller Philosophen tun die Prediger nicht viel mehr
als: Trost bringen; Erbauung und Frömmigkeit wecken; das ausspre-
chen, was jeder schon weiß; eine Konstruktion oder ein Schema vorhal-
ten, an dem man sich festhalten kann; eine Lebensorientierung verkün-
digen;. beruhigen; Sicherheit und Gewißheit geben; ansteUe wirklich
verantwortbarer und fundierter Kenntnisse nur eine Reihe von Überzeu-
gungen mitteilen.
Das Urteil der Philosophen über die heilige Beredsamkeit ist hart.
Doch wird man sich fragen, ob der Philosoph tatsächlich etwas anderes
als der Prediger tut. Wir neigen zu der Behauptung, daß beide prinzipiell
dasselbe tun, aber auf unterschiedliche Weise. Der Philosoph geht
subtiler vor und hedient sich eines anderen Stils. Er teilt sich ausführli-
cher mit und wirkt vielleicht überzeugender. In heiden Fällen aber geht
es um einen Text, ein Geflecht von Worten, das dem Leser oder Zuhörer
vorgehalten wird und für ihn eine bestimmte Funktion, einen bestimm-

119
ten Sinn hat. Darunter fällt auch die Aufgabe, Trost zu spenden,
Sicherheit,. Vertrauen, Gewißheit und Orientierung zu geben. Das
Thema vom Trost der Philosophie ist schon sehr alt. Boethius sprach
darüber - De consolatione philosophiae - und machte einen Unterschied
zwischen dem Trost der Philosophie und dem der Poesie. Wahrschein-
lich ist jedes philosophische System eine Konstruktion oder ein Bau-
werk, worin sich der Mensch zu Hause fühlt und aUes Fremde vertraut
werden kann. Das Suchen nach Gewißheit, das Begründen oder Fundie-
ren von allem, was man behauptet, ist für die Philosophi,e bezeichnend
und bietet zweifeHos Halt und Sicherheit. Die Philosophie gibt dem
Menschen eine Reihe von Schemata an die Hand, die es ihm ermögli-
chen, seine Gedanken zu formulieren und in einem gewissen Sinne mit
seinem Dasein zurechtzukommen. Nicht ganz zu Unrecht spricht Jas-
pers von der Philosophie als ,Weltorientierung' . Zweifellos sind eine
philosophische Abhandlung und eine Predigt Texte ganz eigener Art,
die sich zumindest in Stil und Aufbau voneinander unterscheiden.
Diese Verschiedenheit sollte nicht unterschätzt werden, aber sie hebt
die Tatsache nicht auf, daß sie beide Texte sind. Die wichtigste Frage
ist und bleibt, was ein Text im menschlichen Dasein bedeutet und
ausrichtet.
Eine von philosophischer Seite außergewöhnlich interessante Überle-
gung zum Phänomen der Predigt find·et sich bei Nietzsche, der - wie die
meisten deutschen Philosophen - dem Predigermilieu entstammte.
Nietzsehe, der sich vielfältig gegen den erbärmlichen, barbarischen Stil
der Philosophen wendet, schreibt in§ 247 von Jenseits von Gut und
Böse: "In Deutschland aber gab es (bis auf die jüngste Zeit, wo eine Art
Tribünen-Beredsamkeit schüchtern und plump genug ihre jungen
Schwingen regt) eigentlich nur eine Gattung öffendicher und ungefähr
kunstmäßiger Rede: das ist di,e von der Kanzel herab. Der Prediger allein
wußte in Deutschland, was eine Silbe, was ein Wort wiegt, inwiefern ein
Satz schlägt, springt, stürzt, läuft, ausläuft,. er allein hatte Gewissen in
seinen Ohren, oft genug ein böses Gewissen: denn es fehlt nicht an
Gründen dafür, daß gerade von einem Deutschen Tüchtigkeit in der
Rede selten, fast immer zu spät erreicht wird. Das Meisterstück der
deutschen Prosa ist deshalb billigerweise das Meisterstück ihres größten

120
Predigers: die Bibel war bisher das beste deutsche Buch. Gegen Luthers
Bibel gehalten ist fast aUes übrige nur ,Literatur< - ein Ding, das nicht in
Deutschland gewachsen ist und darum auch nicht in deutsche Herzen
hineinwuchs und -wächst: wie es die Bibel getan hat." (Werke II
S. 714 f.) Wie aus diesem langen Zitat hervorgeht, konstatiert Nietzsche
einen engen Zusammenhang zwischen der Beredsamkeit,. die auch im
übrigen Paragraphen behanddt wird, und der Predigt, zwischen der
Bibel und der naturgemäß biblischen Predigt sowie zwischen der Predigt
und Luther, von dem er an anderer Stelle auch sagt, er sei "der beredtste
und unbescheidenste Bauer, den Deutschland gehabt hat" (Werke II,
S. 885). Weiterhin sieht man, daß Nietzsehe die christliche Beredsam-
keit, im Gegensatz zur übrigen Literatur, verherrlicht. Das ist natürlich
nicht unproblematisch. Andernorts wird Nietzsche nämlich all seine
Kraft aufwenden,. um die christliche Botschaft anzugreifen. Sein Ab-
scheu und seine Verachtung der christlichen Predigt sind beinahe gren-
zenlos. Wichtig ist jedoch, daß er nicht von der Metaphysik oder
Wissenschaft her gegen sie Stellung bezieht. Im Gegenteil. Er steHt der
christlichen Predigt keine Philosophie entgegen, sondern eine andere
Predigt, nämlich die Reden Zarathustras und die frohe Botschaft vorn
Einverständnis mit der Welt.
Es ist unmöglich, Nietzsches Haltung gegenüber dem Christentum in
wenigen Worten zusammenzufassen. Folgendes ist jedoch wichtig: Die
christliche Predigt verkündigt nach Nietzsehe eine Flucht aus der Welt,
eine Flucht aus der Welt des Scheins in eine wahre, dahinter liegende
Welt. Das Christentum ist ein Platonismus fürs Volk. Die christliche
Botschaft ist deshalb auch keine wirklich frohe Botschaft, denn sie läßt
den Menschen feige und unglücklich, sklavisch und unterwürfig,
schwach und schuldbewußt, asketisch und ergeben, klein und unbedeu-
tend, gehorsam und zum Herdentier werden. Alles,. was wirklich groß
und stark, selbstbewußt und mächtig, unschuldig und spontan, kreativ
und spielerisch ist, wird herabgewürdigt. Der christlichen Predigt zu-
folge darf man, so Nietzsehe, die Welt weder wirklich genießen noch sie
positiv annehmen. Dieser Predigt stellt er eine andere entgegen, die den
Menschen in der Tat groß und stark, edel und mächtig macht, die ihn
anleitet, das Leben zu genießen und der Erde treu zu bleiben, die ihm

121
das Bild eines Kindes entgegenhält, das spielen und tanzen kann, dem
alles ein Spiel ist.
Man mag hierüber denken, was man will. Aus unserer Perspektive ist
es jedoch von Bedeutung, daß Nietzsches Abkehr von der christlichen
Predigt und seine Verachtung für sie nicht die Predigt als solche betrifft.
Im Gegenteil. Er verherrlicht sie im Vergleich mit der Metaphysik.
Gemeint ist jedoch eine andere Predigt als die christliche, weil letztere
gerade nicht zugibt,. nur Predigt zu sein, sondern den Anspruch erhebt,
eine popularisierte Metaphysik zu sein. Nietzsehe - darauf werden wir
noch ausführlich eingehen - ergreift eindeutig Partei für die Rhetorik.

122
XII. Kant und die Aufklärung

Immanuel Kant (1724-1804) behandelt die Rhetorik in seiner Kritik der


Urteilskraft. Im § 51, der "Von der Einteilung der schönen Künste"
handelt, unterteilt er die Kunst in die redende und die bildende Kunst.
Die erstere wird in der Folge in die Beredsamkeit und die Dichtkunst
aufgeteilt. Redegewandtheit heißt, etwas auf eine angemessene und
schöne Weise zum Ausdruck bringen zu können. Sme schlägt sich nieder
in einem guten Stil sowohl im Wort als auch in der Schrift. Mit der
Dichtkunst ist die Poesie im weitesten Sinne des Wortes angesprochen.
Nach Kant müssen sich die schönen Künste im allgemeinen und die
Kunst des Wortes im besonderen durch ein hohes Maß an Freiheit
auszeichnen. Sie müssen in einem doppelten Sinne freie Künste sein: Sie
dürfen nicht um des Geldes willen,. im Hinblick auf Gewinn oder
finanzieHen Profit ausgeübt werden und dürfen nicht nach Effekten
haschen oder etwas erreichen und bewirken wollen. Insofern die Bered-
samkeit den schönen Künsten zugehört, hat sie in erster Linie die
Aufgabe, die Zuhörer angenehm zu unterhalten. Sie dient dem Vergnü-
gen. Eine gute Sprache ist für Hörer und Leser gleichermaßen eine an-
genehme Unterhaltung.
Im§ 53 wird unter dem Titel "Vergleichung des ästhetischen Werts der
schönen Künste untereinander" die hierarchische Einteilung der ver-
schiedenen Künste mit Rücksicht auf ihren ästhetischen Wert bespro-
chen. Kant räumt mn diesem Abschnitt der Dichtkunst zweifd~os den
ersten Platz ein. Denn sie ist von allen Künsten die freieste. Sie hat ihren
Ursprung in der Freiheit, läßt sich am wenigsten durch Vorschriften und
Vorbilder bestimmen und ist nur in geringem Maße an ihren Stoff
gebunden. Sie stiftet sogar Freiheit, da sie den Menschen über seine
völlige Bestimmtheit durch die Natur erhebt. Das Wort des Dichters
eröffnet neue Perspektiven und enthüllt andere Dimensionen. Es stärkt
sdbst das Vermögen des Gemüts, sich frei zu fühlen. Kant schreibt: "Sie
(die Poesie) spielt mit dem Schein, den sie nach Belieben bewirkt, ohne

123
-
doch dadurch zu betrügen; denn sie erklärt ihre Beschäftigung selbst für
bloßes Spiel, ... " (5.183). Und er fügt hinzu: "In der Dichtkunst geht
alles ehrlich und aufrichtig zu. Sie erklärt sich, ein bloßes unterhaltendes
Spiel mit der Einbildungskraft, und zwar der Form nach, einstimmig mit
Verstandesgesetzen treiben zu wollen,. und verlangt nicht, den Verstand
durch sinnliche DarsteHung zu überschleichen und zu verstricken." (S. 184)
Im Fall der Beredsamkeit als einer Überredungskunst dagegen liegen
nach Kants Auffassung die Dinge völlig anders. Er unterscheidet zwi-
schen der reinen Beredsamkeit, der Eloquenz, dem guten Stil, d. h. der
Wohlredenheit und der Kunst zu überreden oder ars oratoria. Erstere
dient einzig und allein dem Vergnügen und zielt darauf ab, die Zuhörer
oder Leser angenehm zu unterhalten. Sie ist harmlos, hat aber für sich
genommen auch wenig zu bedeuten. Mit der Überredungskunst dagegen
verhält es sich ganz anders. Sie ist kein freies Spiel, sondern ist an
ingeniöse und technische Vorschriften oder Regeln gebunden. Sie ist ein
Werk des berechnenden Verstandes, der zielbewußt: planend versucht,
etwas zu bewirken und zu erreichen. 1m Gegensatz zur Poesie vermag
sie die Freiheit des Menschen nicht zu fördern, sondern entzieht sie ihm.
Sie ist von Gewalttätigkeit gekennzeichnet und stellt eine ernste Bedro-
hung seiner Autonomie dar. Schließlich ist sie weder ehrlich noch
aufrichtig. Der Vortrag des Redners ist vielmehr eine Aneinanderreihung
listiger Kunstgriffe und betrügerischer "Tricks".
Die Überredungskunst bedient sich systematisch und zielbewußt des
schönen Scheins, um so die Gemüter der Zuhörer für sich zu gewinnen.
Sie ist Dialektik im Kantischen, d. i. pejorativen Sinn des Wortes. Als
Dialektik beraubt sie den Menschen seiner Freiheit, selbst zu denken
und zu entscheiden,. selbst zu urteilen und zu beurteilen. Der Dicht-
kunst entlehnt sie nur diejenigen Elemente, die ihrer Zielsetzung dien-
lich sind. Ihr Zweck besteht darin, den anderen zu überreden und Zu
überzeugen. Ehen um dieser Ahsicht willen ist die Überredung auch
keine wahre Kunst. Kunst ist ihrem Wesen nach stets freie Kunst. Di,e
ars oratoria dagegen ist nicht nur keine wahre Kunst,. sie ist zudem
gefährlich und letzten Endes menschenunwürdig.
Nach Kant darf sie deshalb auch nicht für ernste Angelegenheiten _
bei Gericht oder auf der Kanzel- verwendet werden ..."Denn", so sagt er,

124
"wenn es um bürgerliche Gesetze, um das Recht einzelner Personen,
oder um dauerhafte Belehrung und Bestimmung der Gemüter zur richti-
gen Kenntnis und gewissenhaften Beobachtung ihrer Pflicht, zu tun ist:
so ist es unter der Würde eines so wichtigen Geschäftes, auch nur eine
Spur von Üppigkeit des Witzes und der Einbildungskraft, noch mehr
aber von der Kunst, zu überreden und zu irgend jemandes Vorteil
einzunehmen, blicken zu lassen." Sie ist nicht ernst genug, da sie allzu
leicht dazu gebraucht werden kann, das Böse und das Unrecht, den
Irrtum und die Unwahrheit mit schönen Wonen zu verschleiern.
In einer langen Fußnote zum § 53 schreibt Kant: "Ich muß gestehen:
daß ein schönes Gedicht mir immer ein reines Vergnügen gemacht hat,
anstatt daß die Lesung der besten Rede eines römischen Volks- oder
jetzigen Parlaments- oder Kanzelredners jederzeit mit dem unangeneh-
men Gefühl der Mißbilligung einer hinterlistigen Kunst vermengt war,
welche die Menschen als Maschinen in wichtigen Dingen zu einem
Urteile zu bewegen versteht,. das im ruhigen Nachdenken alles Gewicht
bei ihnen verlieren muß. Beredtheit und Wohlredenheit (zusammen
Rhetorik) gehären zur schönen Kunst; aber Rednerkunst (ars oratoria)
ist, als Kunst sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu
bedienen (diese mögen immer so gut gemeint, oder auch wirklich gut
sein, als sie wollen), gar keiner Achtung würdig. Auch erhob sie sich
nur, sowohl in Athen als in Rom, zur höchsten Stufe zu einer Zeit, da
der Staat seinem Verderben zueilte und wahre patriotische Denkungsart
erloschen war. Wer, bei klarer Einsicht in Sachen, die Sprache nach
deren Reichtum und Reinigkeit in seiner Gewalt hat, und, bei einer
fruchtbaren, zur Darstellung seiner Ideen tüchtigen Einbildungskraft,
lebhaften Herzensanteil am wahren Guten nimmt, ist der vir .bonus
dicendi peritus, der Redner ohne Kunst, aber voll Nachdruck, wie ihn
Cicero haben will, ohne doch diesem Ideal selbst immer treu geblieben
zu sein." (S.184f.)
Man muß Kants negatives Urteil über die Rhetorik in seiner ganzen
Schwere auf sich wirken lassen. Wörtlich und kursiv gedruckt heißt es:
"Die Rednerkunst .. , ist gar keiner Achtung würdig." Diese der Phi-
losophie eigentümliche Verachtung für die Rhetorik steht natürlich in
krassem Gegensatz zu dem ungememn hohen Ansehen, das die techne

125
rhetorike oder ars oratoria im Altertum genoß. Sowohl die praktische
Fertigkeit, gut - und das hieß vor allem überzeugend - zu sprechen ah
auch die theoretische Besinnung darauf haben in dieser Zeit eine große
Rolle gespielt und sich zu hoher Blüte entfaltet. Kant sagt zwar, daß
diese Blütezeit sich erst einstellte, während die antike Welt im Begriff
war, zugrunde zu gehen; aber historisch gesehen ist das sicherlich falsch.
Allerdings ist diese Äußerung bezeichnend für Kant. Sein negatives
Urteil über die Rhetorik steht auch im Geg,ensatz zu einer noch zu Kants
Zeiten lebendigen Tradition, in der die Rhetorik wohl hoch geachtet
wurde.
Die letzten Zeilen der Fußnote Kants scheinen seinen Standpunkt
allerdings zu mildern und zu nuancieren. Vielleicht hat er doch einen
Augenblick lang gezögert. Zugleich werfen diese Sätze auch Fragen auf.
Kant fordert vom idealen Redner - und nicht einmal Cicero entspricht
uneingeschränkt diesen Anforderungen -,. daß er eine klare und deutli-
che Einsicht in die Sachen besitzt, die Sprache in seiner Gewalt hat, über
eine fruchtbare und gediegene Phantasie oder Einbildungskraft verfügt
und schließlich von wahrer Moralität, durch einen Herzensanteil am
wahren Guten gekennzeichnet ist. Auf die Frage, ob klare und deutliche
Einsicht - Descartes' clara et distineta perceptio? - ohne Vermittlung der
Sprache möglich ist, geht Kant nicht ein. Ebensowenig wirft er die Frage
auf,. worin eine wirkliche Beherrschung der Sprache bestehen könne.
Für Kant ist die Sprache offensichtlich ein neutrales Mittel, ein brauch-
bares Instrument, das man vollkommen in seiner Macht haben kann, das
sich ohne weiteres verwenden läßt, um klare und deutliche Ideen zum
Ausdruck zu bringen. Das ist natürlich nicht selbstverständlich. Im
Gegenteil; hier sind alte, überlieferte Auffassungen und Überzeugungen
(doxa) vom Wesen der Sprache wirksam, die Kant nicht kritisch verant-
wortet, die er - unbemerkt und ungewollt - seinen Lesern sogar aufzu-
drängen sucht.
Das negative Urteil, das Kant - von Jaspers einst "der Philosoph
schlechthin(C genannt - über die Rhetorik fäUt, ist bezeichnend für die
philosophische Tradition. Die meisten Philosophen von Platon bis Zur
Gegenwart halten die Rhetorik für etwas Minderwertiges. Sie ist in ihren
Augen keine ehrliche und ernsthafte Sache. Sie ist gewalttätig und richtet

126
sich einzig auf den Erhalt und Erwerb von Macht und Machtpositionen.
Sie ist nicht an der Wahrheit, sondern lediglich am S,chein der Wahrheit
interessiert. Letzten Endes ist sie sogar menschenunwürdig.
Kants Bemerkungen über die Überredungskunst sind gewiß nicht
unabhängig von seiner übrigen Philosophie. Sie fügen sich nahtlos in den
Rahmen seines Denkens und hängen aufs engste mit seiner Auffassung
über das Wesen der Aufklärung zusammen. In einem Aufsatz mit dem
Titel Was ist Aufklärung? definiert Kant: "Aufklärung ist der Ausgang
des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmün-
digkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines
anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn
die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der
Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines
anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen
Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faul-
heit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der
Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei
gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmün-
dig bleiben;. und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren
Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein . " (S.l)
Die Aufklärung ist für Kant eine emanzipatorische Bewegung. Bei
dieser Emanzipation geht es um den Konflikt zwischen Unmündigkeit
und Bevormundung einerseits und Mündigkeit und Mündigsprechung
andererseits. Die Unmündigkeit wird auf zwei sich ergänzende Ursa-
chen zurückgeführt: auf der einen Seite sind Trägheit und Feigheit, der
Mangel an Mut und Entschlossenheit des M,enschen, der von Natur aus
in der Lage ist, mündig zu sein,. selbst zu denken und zu sprechen; auf
der anderen Seite ist es die Gegenwart eines Vormundes, der im Namen
eines anderen denkt und spricht. Er wird der Einfachheit halber zu Hilfe
gerufen - man glaubt ihn nötig zu haben. Der Vormund erhält zugleich
die Unmündigkeit aufrecht. Denn die Menschen werden dumm gehal-
ten, ja sogar dumm gemacht, und dann ist es natürlich nmcht mehr
möglich, noch selbst zu denken und zu sprechen.
Kant führt die folgenden Beispiele an: "Habe ich ein Buch, das für
mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewiss,en hat, einen

127
Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw.: so brauche ich mich ja selbst
nicht zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur
bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für
mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen
(darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit,
auß,er dem daß der beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür
sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf
sich genommen haben." (S. 1)
Das einzige, was nach Kants Meinung zu dieser Emanzipation wirk-
lich erfordert wird, ist Freiheit. Sie besteht darin" überall und zu jeder
Zeit öffentlich den eigenen Verstand gebrauchen und nachdenken zu
dürfen. Kant weiß jedoch sehr gut, daß man hiervon auf die unterschied-
lichste Weise abgehalten wird. Überall heißt es: "Denkt nicht, räsonniert
nicht!" Der Offizier in der Armee sagt: "Räsonniert nicht, sondern
exerzierd"; der Gemstliche in der Kirche sagt: "Räsonniert nicht, sondern
glaubt!"; der Finanzrat im ökonomischen Leben sagt: ,.,Räsonniert nicht,
sondern bezahlt!" Es ist und bleibt jedoch die Aufgabe des Menschen,
sowohl jedes Individuum als auch die Menschheit als Ganze zu dieser
Freiheit zu erziehen. Es ist menschenunwürdig, dieses Ziel aufzugeben.
Mit der Erziehung des einzelnen Menschen zur Freiheit kann man nach
Kant nicht früh genug beginnen. Bereits das kleine Kind soll, wenn es
über genügend Urteilsvermögen verfügt, lernen, selbst zu urteilen und
zu entscheiden. Die Erziehung des Individuums zur Freiheit ist möglich,
da der Mensch von Natur aus ein vernünftiges Wesen ist. Eine entspre-
chende Erziehung der Menschheit ist allerdings viel schwieriger. Hier
spielen nämlich die Tradition) die poEtische Ordnung und die gesell-
schaftlichen Verhältnisse ,eine wichtige RoHe.
Die Grundtendenz dieses Aufsatzes über Aufklärung ist klar. Auch
der Zusammenhang zwischen dem, was Kant über Aufklärung, und
dem, was er über Rhetorik sagt, liegt auf der Hand. Der Grundgedanke
der Aufklärung ist Freiheit; ihre Losung lautet: "Habe den Mut, selbst
zu denken!" Der Redner entzieht dem Menschen aber gerade diese
Freiheit und wirft sich zu einem Vormund auf, der imN amen eines
anderen denkt und spricht. Er bestimmt, wie die anderen denken und
sprechen soUen. Dieser Redner kann ein Parlamentarier oder Politiker

128
sein, ein Prediger oder Priester, ein Rechtsanwalt bei Gericht, ein
Wissenschaftler, auf dessen Bücher man vertraut, oder ein M,ensch,. der
für kompetent gehalten wird und deshalb eine wahre Diktatur ausüben
kann. Selbst der ",Philosoph", der seine "Philosophie" lehrt, ist nicht viel
mehr als ein Redner. Aus Kants Perspektive ist jeder Lehrer oder
Erzieher ein "Redner", wenn er seinen Schülern oder Mündeln mit
Autorität entgegentritt und sie nicht als vernünftige Wesen lehrt, selbst
zu denken und zu urteilen.
Kein redlich denkender und moderner Mensch wird die weitreichende
Bedeutung dieses emanzipatorischen Gedankens unterschätzen. Unserer
Einschätzung nach ist das Problem des Konflikts zwischen Emanzipa-
tion und Rhetorik, des Konflikts zwischen der Forderung nach selbstän-
digem Denken und der Macht des Wortes verwickelter als Kant an-
nimmt. Werden die Kultur und das gesamte Erziehungswesen nicht
durch eine gewisse Gewalttätigkeit geprägt, die den Menschen bildet
und ihn zu dem macht, was er ist? Die Zivilisation ist ja im Grunde das
Gegenteil dessen, was der Mensch von Natur aus ist. Um zu dieser
Zivilisation Zugang zu finden, muß man sich stets in einem gewissen
Maße Gewalt antun. Sind nicht Wissenschaft und Philosophie, sofern sie
im geseHschaftlichen Leben eine Rolle spielen, ihrem Wesen nach von
zahlreichen rhetorischen Elementen durchzogen, mit deren Hilfe sie ihre
gesellschaftliche Aufgabe erst übernehmen können? Ist der Mensch denn
jemals "Herr und Meister im eigenen Haus" und kann er jemals in
völliger Freiheit über sein eigenes Denken und Sprechen verfügen? Für
Kant ist die Sprache ein Instrument, das der Mensch nach Belieben
gebrauchen kann, um seine Gedanken mitzuteilen; ein Instrument, das
als solches mit der Bildung von Gedanken nichts zu tun hat und noch
weniger mit der Wahrheit als einem Enthüllen und Verhüllen. Sind die
Beziehungen zwischen Sprache, Denken und Wahrheit wirklich so ein-
fach, wie Kamt glaubt? Ist der Mensch ein Wesen,. das seine Sprache un-
eingeschränkt in der Gewalt hat, oder ist er nicht vielmehr ein Wesen,
das sich gehorsam in eine Sprache, die es nicht geschaffen hat, fügen
muß? Ist die Macht dessen, was in der Vergangenheit schon gesagt
wurde, und der Erzählungen, die unter den Menschen die Runde
machen, nicht größer als Kant vermutet? Sind die Sprache und die ge~

129
gebenen Erzählungen (logos) nicht konstitutiv für die konkrete Existenz
des Menschen?
Wenn man sich diese Fragen zu eigen macht, ist es nicht verwunder-
lich, daß die Romantik als Reaktion auf die Aufklärung ganz andere
Töne anschlägt. Sprache und Tradition, Mythos und Sage, Heteronomie
und Inspiration, unbeherrschbare und unüberschaubare Mächte und
auch Stilistik und Rhetorik gelangen bei den Romantikern wieder zu
Ehren. Philosophiehistorikern ist es noch immer ein Rätsel, wie nach
dem äußerst kritischen und eher analytischen Denken Kants die spekula-
tiv-metaphysische und synthetische Philosophie von Männern wie He-
ge! überhaupt noch möglich war. Natürlich gibt es viele Faktoren, die
diesen Übergang begreifhch machen. Die Rehabilitation Spinozas und
seiner Auffassung von Totalität, die Radikalisierung der Kantischen
"transzendentalen Einheit der Apperzeption" oder der "transzendenta-
len Subjektivität", und die wachsende Einsicht, daß bei Kant weiterhin
ein doppelter Dualismus wirksam ist, sowohl der von "Ding an sich C(

und Erscheinung als auch der von theoretischer und praktischer Ver-
nunft, und schließlich die aufkommende Verherrlichung des Dunklen
und der Tiefsinnigkeit sind zweifellos Faktoren, die den deutschen
spekulativen Idealismus ermöglicht haben.
Ein Element wird häufig außer Acht gelassen und doch ist es von
großer Bedeutung: das rhetorische. Der junge Fichte wird nicht· zu
Unrecht als einer der wichtigsten Denker angesehen, die den Übergang
von der kritischen und analytischen Philosophie zum spekulativen Idea-
lismus möglich machten. Wenn man Fichtes eigenen Worten aus der
Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre glauben dart war es Zum
einen seine Absicht, der Wortführer Kants zu sein und nichts ander,es als
dieser selbst zu behaupt,en; zum anderen woHte er unabhängig von ihm
die Kantische Philosophie so formulieren, daß sie wirklich begreifbar
und in all ihren Konsequenzen einsehbar werde. Nach Fichte ist es Kant
nicht gelungen, das, was er wirklich zu sagen hatte, seinen Schülern
nahezubringen. Fichte will diesen Mißerfolg dadurch beheben, daß er
das Kantische Denken klarer formuliert. Dieses Bedürfnis, deutlicher zu
sein, hat bei der Entstehung von Fichtes eigener Philosophie, die übri-
gens zu den schwierigsten der ganzen Geschichte gehört, eine erhebliche

130
Rolle gespielt. Zweifellos geht es hier auch um ein rhetorisches Problem,
um die ,ars bene dicendi'. Allgemeiner formuliert, kann man sich fragen,
ob bei der Entstehung und Entwicklung eines philosophischen Systems
gerade dem Bestreben, seine Gedanken und Ideen so klar und überzeu-
gend wie möglich darzustellen, nicht eine zentrale Aufgabe zukommt.
Im Blick auf den angesprochenen Konflikt zwischen Philosophie und
Rhetorik möchten wir, was Kaut betrifft, selbst noch zwei Fragen
allgemeiner:er Art stellen: Wie steht es mit den rhetorischen Elementen in
Kants eigenem Werk? Und wie ist es um den Stil des Kantischen CEuvres
bestellt?
Zur Grundstruktur der kritischen Philosophie Kants gehört die M eta-
pher der Rechtsprechung. Nach seinen eigenen Worten erhebt Kant
Anklage gegen die Vernunft in allen ihren Werken, vor allem gegen die
Metaphysik und die Wissenschaft. Beide werden vor Gericht geladen,
und dann beginnt der Prozeß, der mit Freispruch oder Verurteilung
endigt. So wie bei Leibniz in seiner Theodizee - der Titel spricht es aus-
Gott wegen des Bösen und der scheinbaren Ungerechtigkeit in der Welt
angeklagt, und schließlich freigesprochen und gerechtfertigt wird, so
wird bei Kant die Metaphysik als Dialektik des Scheins verurteih, die
Wissenschaft als Synthese von Erfahrung und Verstand freigesprochen.
Der Gerichtshof ist neben der Kirche und dem Parlament der eigentliche
Ort, an dem die Rhetorik ihre Triumphe feiert. Natürlich ist es wichtig
zu wissen, Vfie bei Kant Freispruch und Verurteilung erzielt werden und
wer letzten Endes der Richter ist, aber die Metapher des Gerichtshofs
muß uns aufmerksam und behutsam werden lassen.
Die Frage nach dem Stil des Kantischen (Euvres bringt noch mehr
Probleme mit sich. Man weiß, daß Kant nicht mit großen stilistischen
Fähigkeiten begabt war. Wohlredenheit war gewiß nicht seine stärkste
Seite. Seine komplizierten Sätze sind weder besonders schön noch
angenehm und unterhaltsam für den Leser. Kant besitzt zwar ,einen eige-
nen, charakteristischen Stil, der aber nicht sehr flüssig und anziehend ist.
Man liest Kants Sprache nicht zum Vergnügen. Heinrich Heine ist
darauf ausdrücklich eingegangen. In einem etwas zynischen Büchlein
Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, das ,er 1834
in Paris verfaßt hat, heißt es: "Warum aber hat Kant seine »Kritik der

131
reinen Vernunft« in einem so grauen,. trocknen Packpapierstil geschrie-
ben? Ich glaube, weil er die mathematische Form des Descartes-Leibniz-
Wolffianer verwarf, fürchtete er, die Wissenschaft möchte etwas von
ihrer Würde einbüßen, wenn sie sich in einem leichten, zuvorkommend
heiteren Tone ausspräche. Er verlieh ihr daher eine steife, abstrakte
Form, die alle Vertraulichkeit der niederen Geistesklassen kalt ablehnte.
Er wollte sich von den damaligen Popularphilosophen, die nach bürger-
lichster Deutlichkeit strebten, vornehm absondern und er kleidete seine
Gedanken in eine hofmännisch abgekältete Kanzleisprache. Hier zeigt
sich ganz der Philister. Aber vielleicht hedurfte Kant zu seinem sorgfäl-
tig gemessenen Ideengang auch einer Sprache, die sorgfältig gemessener,
und er war nicht im Stande, eine bessere zu schaffen.« (S. 125)
Heines scheinbar etwas oberflächliche Bemerkung ist von großer
Wichtigkeit. Denn Heine weist darauf hin, daß in Kants Stil in gewisser
Weise die Machtpositionen des Philosophen verteidigt werden, daß die
Verwirklichung oder Erhaltung des Unterschieds zwischen höherer und
niederer Klasse hier zum Ausdruck kommt. Der für Kant charakteristi-
sche Stil ist deshalb nicht so unschuldig wie man denkt. Die Marxisten ,
für die Kant ein typischer Vertreter der bürgerlichen Ideologie ist,
werden später behaupten, sein Stil sei ein Aspekt des " Klassenkampfes'c .
Der Kant eigentümliche Stil hat in Heines Augen schwerwiegende
Folgen. Einige Zeilen weiter schreibt er: "Kant hat durch den schwerfäl-
ligen, steifleinenen Stil seines Hauptwerks sehr viel Schaden gestiftet.
Denn die geistlosen Nachahmer äfften ihn nach in dieser Äußerlichkeit,
und es entstand bei uns der Aberglaube, daß man kein Philosoph sei,
wenn man gut schriebe." (S. 125)
Heine, selbst ein ausgezeichneter Stilist, hat sich, wie Nietzsehe,
wiederholt über den schlechten Stil der deutschen Philosophen geärgert,
für den er jedoch eine Erklärung hat. In erster Linie ist er ein Ergebnis.
fortwährender Nachahmung und Wiederholung. Außerdem weiß
Heine, daß von der "sprachlosen Tiefsinnigkeit", die manche Philoso-
phen verherrlichen, nicht viel übrigbliebe,. wenn sie versuchten, ihr
Anliegen klar und deutlich zum Ausdruck zu bringen. Er sieht schließ-
lich ein, daß viele Leser einen philosophischen Text nur dann ernst
nehmen, wenn ihn ·eine gewisse Art von "Wissenschaftlichkeit" kenn ..

132
zeichnet. Oft besteht diese Wissenschaftlichkeit jedoch in nichts ande-
rem als dem Umstand, daß ein d.erartiger Text schlecht und unlesbar
geschrieben ist. Das gilt übrigens auch heute noch. In den Augen vieler
Menschen ist ein Artikel oder eine Studie, eine Dissertation oder ein
Buch nur dann ein gediegenes Werk, wenn es schwierig zu lesen ist. Ist
es flüssig und anziehend geschrieben, wird es leicht für oberflächlich
gehalten. Um wirklich ernst genommen zu werden und als bedeutender
Autor zu gelten, muß man eine Form wählen, die nur von einem kleinen
Kreis geschätzt wird, muß man einen Jargon beherrschen, der lediglich
einer Elite zugänglich ist.
Das Problem des Stils und der Form philosophischer und wissen-
schaftlicher Werke ist besonders interessant . Zweifellos haben Texte
dieser Art ihren eigenen Stil, ihre eigene Form. Sie werden nicht zuletzt
aufgrund dieser Eigenheit von anderen, zum Beispiel rein literarischen
Texten unterschieden. Es ist jedoch nicht ganz einfach zu sagen, worin
eben diese Eigenheit besteht. Hier stellt sich der Literaturwissenschaft
eine wichtige Aufgabe. Es fallt z. B. in die Augen, daß einige Stilformen
als nicht-philosophisch und nicht-wissenschaftlich abgelehnt werden. So
hat H. Weinrich in seinem Buch Literatur für Leser darauf hingewiesen,
daß im Altertum Philosophie und Wissenschaft vielfach in Form von
Erzählungen übermittelt wurden, die vom Lehrmeister vorgetragen
wurden. Diese Form der Vermittlung ist im modernen Unterricht völlig
verlorengegangen. Das Erzählen hat sich einzig in der literarischen Welt
erhalten, die in der Philosophie und in der Wissenschaft meist jedoch
nicht ernst genommen wird. Für Platon hat das Wort "Literator" stets
einen pejorativen Sinn. Und bezeichnenderweise wirft er den Sophisten
vor, daß sie sich darauf beschränken zu erzählen; das aber ist in der
Philosophie möglichst zu vermeiden (Sophistes, 242c).
Für Kant ist all dies kein philosophisches, sondern ein rein ästheti-
sches Problem. Wir selbst möchten sagen: die stilistische Formgebung
eines Textes ist vorrangig ein rhetorisches Problem. Philosophie präsen-
tiert sich stets und notwendig als Text - als Publikation, Vortrag, Vor-
lesung usw. - und nirgends gibt es eine Philosophie außerhalb solcher
Texte. Die Textualität ist sozusagen eine transzendentale Möglichkeits-
bedingung von Philosophie. Ein Philosoph kann dieses Problem deshalb
nicht einfach übergehen.

133
XIII. Marx, Nietzsehe und Freud

Im Juli 1972 hat das internationale kulturelle Zentrum in Cerisy-La-Salle


(Normandie) ein Kolloquium zum Thema: Nietzsehe aujourd'hui? ver-
anstaltet, an dem viele französische Philosophen, die sich mit Nietzsche
beschäftigen, teilnahmen. (Die einzelnen Beiträge wurden unter demsel-
ben Titel in der Zeitschrift Collection 10/18, Nr.817-818 herausgege-
ben.) Auch der deutsche Nietzschekenner Karl Löwith (t 1973) hat im
Verlauf dieser Tagung einen Vortrag gehalten. Er brachte seine Verwun-
derung und - in gewisser Hinsicht - auch seine Freude darüber zum
Ausdruck, daß Nietzsehe im heutigen Frankreich, anders als in
Deutschland, im Mittelpunkt des Interesses steht. Gleichzeitig nahm er
jedoch Anstoß daran, daß Nietzsehe in Frankreich ohne Zögern mit
Marx und Freud gleichgestellt wird. Löwith sagte: ,.,Nietzsche kann
nicht mit Freud und Marx in einen Sack gesteckt werden, denen es nicht
um Totalität ging. Auf dem Gebiet der Wissenschaft haben Freud und
Marx große Entdeckungen gemacht, aber Wissenschaftler sind stets nur
Spezialisten" (T. U, S. 209-210).
K. Löwith steHt damit einerseits Nietzsehe und andererseits Marx und
Freud einander gegenüber. Nietzsehe ist nach seiner Ansicht ein Philo-
soph, sogar ein Metaphysiker, dem es um die Totalität, um den letzten
Sinn alles Seienden geht. Marx und Freud dagegen sind Wissenschaftler~
die sich innerhalb eines begrenzten Fachgebietes bewegen. Die Gegen-
übersteHung, die Läwith hier anführt, ist übrigens sehr gebräuchlich. In
den gewöhnlichen Abrissen der modernen Philosophiegeschichte wird
Marx und Freud im allgemeinen wenig oder überhaupt keine Aufmerk-
samkeit geschenkt, während Nietzsehe lediglich unter und neben ande-
ren Philosophen eingeordnet wird.
Löwiths Verärgerung über die Tatsache, daß Marx, Nietzsche und
Freud über einen Kamm geschoren werden, zeugt von einem gründli-
chen Mißverständnis dessen, was der heutige französische Leser der
Lektüre dieser Autoren entnimmt. Es ist wichtig,. einen Augenblick bei

134
diesem Mißverständnis zu verweilen, da es eine sehr spezifische Proble-
matik zugänglich machen kann, die sich auch auf den Konflikt zwischen
Rhetorik und Philosophie auswirkt. Worin besteht sie?
Löwith hat in gewisser Hinsicht Recht, wenn er sagt, daß Marx kein
"Philosoph {( ist. Im traditionellen Sinn des Wortes ist er es tatsächlich
nicht mehr. In dem Moment, wo er sich von Feuerbach distanziert,
nimmt er auch von der Philosophie Abstand. Er spricht nicht länger von
der Totalität, der (transzendentalen) Subjektivität, der metaphysischen
Ordnung,. auch nicht von der Materie, der Freiheit oder dem Wesen des
Menschen. Marx spricht dagegen wohl - und zwar ganz ausdrückhch -
über die Philosophie oder über die Philosophien, die diese Themen
behandeln. Für Marx ist die Philosophie Ideologie. Mit anderen Worten:
Er will keine "Welterklärung" , sondern eine Erklärung des Phänomens
"Philosophie" geben. Auch Freud ist kein "Philosoph«. Er ist es niemals
gewesen. Er will weder eine Weltanschauung aufbauen noch die Totali-
tätsfrage stellen, er will weder metaphysische Fragen aufwerfen noch
eine definitive Erklärung der Erscheinungen bieten. D'ennoch spricht er
ausdrücklich von der Philosophie und von den Philosophien, die ihrer-
seits wohl eine Weltanschauung, eine Metaphysik oder eine letzte Erklä-
rung bereitstellen. Freud sucht das Faktum der Philosophie selbst zu er-
klären. Sie ist für ihn eine Erscheinung, die als solche eine Erklärung
verlangt.
Für Marx und Freud ist die Philosophie gleichsam ein Text mit einer
ganz eigenen und spezifischen Form, mit einem ganz eigenen und
spezifischen Inhalt, der nach einer ganz bestimmten Methode gelesen
wird. Bei dieser Art von Lektüre spielt die Rhetorik als kritische
Disziplin implizit oder explizit eine große Rolle. Wir werden darauf
noch näher eingehen.
Dasselbe gilt für Nietzsche. Auch er kann nicht so ohne weiteres als
ein "Philosoph" bezeichnet werden. Vielmehr versucht er, sich auf
mannigfache Weise von der Philosophie loszureißen.. Mit den unter-
schiedlichsten Strategien möchte er der Metaphysik entkommen. Sein
ganzes Werk (reuvr,e) steckt voller Manöver (man-CEuvres), die verhin-
dern süllen, daß es unmittelbar in einem traditionellen philosophischen
Rahmen begriffen und gefangengehalten wird. Die vielen Widersprüche,

135
die sich bei ihm finden, und die überschäumende Bildersprache, die er
verwendet, müssen als Aspekte dieser Strategie verstanden werden.
Nietzsche ist kein Philosoph mehr, eher ein ".Philo-loge", vielleicht ein
"Textuologe". Er liest die philosophischen Texte auf eine ganz neue
Weise. Er liest mit den Augen eines Menschen, der sehr empfänglich ist
für die linguistischen und stilistischen Momente des Textes, für seinen
persuasiven und rhetorischen Charakter und vor allem für die im Text
verborgen wirksamen Machtstrukturen.
Natürlich unterscheiden sich Marx, F reud und Nietzsehe in vieler
Hinsicht voneinander. Sie stimmen jedoch alle drei gerade darin überein,
daß sie sich dem Phänomen "Philosophie" auf eine ganz neue und
ursprüngliche Weise nähern. Sie haben eine neue Methode, !.,Philoso-
phie" zu lesen, etabliert. Und das hat man in Frankreich erkannt und
ausgearbeitet. Was Marx angeht, wurde dieser Gedanke vor allem von
L. Althusser entwickelt, was Freud angeht, von J. Laean und was Nietz-
sehe angeht, von J. Derrida und seinem Kreis. In wekhem Maße dabei
auch der heideggersche Zugang zur Philosophie eine wesentliche Rolle
gespielt hat, muß außer Acht gelassen werden. Auf aUe Fälle ist Heideg-
gers Einfluß - gerade was das ,.,Lesen" und"Erklären" von Philosophie
anlangt - größer, als man zuweilen annimmt.
In diesem Kapitel werden wir Marx' und Freuds Annäherungsweise
an das Phänomen "Philosophie" besprechen, im nachfolgenden über
Nietzsches Zugang zur Philosophie handeln.
Für K. Marx (1818-1883) ist die bestehende Philosophie Bestandteil
der konkreten Wirklichkeit. Philosophie als solche ist eine unverkenn-
bare Tatsache und gehört insofern zu der Welt, in der wir Menschen
unser Dasein vollziehen. Die Wirklichkeit oder die Welt ist nach Marx
ein dialektisch strukturiertes Feld mit drei wichtigen Strukturelementen :
der sozial-ökonomischen Praxis, der gesellschaftlichen und politischen
Organisation und den verschiedenen Formen von Ideologie. Die Ideolo-
gie stellt sich in einem doppelten Aspekt dar. Sie ist als eine Gesamtheit
von Einrichtungen und Institutionen, z. B. der Familie, der Schule, der
Armee, der Kirche, des Betriebslebens usw.) materielle Wirklichkeit.
Außerdem ist die Ideologie auch ein Zusammenhang von Vorstellungen
und Gedanken. Sie ist ein System von Ideen und Begriffen, von Auffas-

136
sungen und Meinungen, von Einsichten und Theorien. Zu dieser Einheit
von VorsteHungen gehören u. a. auch Religion, Moral, Mythologie und
Theologie sowie Philosophie und Metaphysik. Begriffe wie Freiheit,.
Fortschritt, Geschichte, Wahrheit, Objektivität, Subjektivität, Gott,
Mensch, Recht und Unrecht sind allesamt Teil dieser Ideologie.
Dme Ideologie ist in erster Linie eine Praxis und als solche ein Aspekt
des Klassenkampfes. Als Praxis zielt sie darauf ab, die konkrete Wirk-
lichkeit entweder zu bewahren oder zu verändern, denn sie kann zweier-
lei Aufgaben haben. Sie kann versuchen, die faktische und bewährte
Ordnung zu beherrschen, zu schützen und zu festigen, die bestehenden
Machtpositionen zu stärken und abzusichern, bestehende Machtverhält-
nisse zu rechtfertigen und zu verantworten: In diesem Falle spricht man
von einer "konservativen" Ideologie. Die Ideologie kann auch versu-
chen, die reale Ordnung zu verändern oder zu beseitigen und die
Machtverhältnisse umzugestalten. In diesem FaH wird von einer "revo-
lutionären" Ideologie gesprochen.
In erster Instanz ist die Ideologie unbewußt, denn sie ist vorrangig die
Welt, in der man lebt. Althusser spricht auch von einem ,monde vecu'.
In der zweiten Instanz kann diese Ideologie bewußt gemacht werden,
indem die reale Weh ausgesprochen, beschrieben und zur Sprache
gebracht oder die Gesamtheit impliziter Vorstellungen und Gedanken
expliziert und thematisiert wird. Philosophie ist nichts anderes als be-
wußt gemachte Ideologie.
Ideologien haben einen eminent rhetorischen Charakter. Es muß
nämlich etwas gegen reale oder gedachte Opponenten verteidigt werden:.
bestimmte Rechte und Pflichten, materieller und geistiger Besitz, Terri-
torien und Machtpositionen, Unterscheidungen und Kontraste. Eine
Philosophie ähnelt darum oft einer Verteidigungsrede (Apologie). Um
tatsächlich überzeugend zu wirken, muß eine Ideologie natürlich sehr
gut aufgebaut sein. Sie muß klar strukturiert sein, Geschlossenheit und
große Logizität aufweisen. Sie muß gewichtige Argumente liefern und in
der Lage sein, sich beständig den wechselnden Gegebenheiten anzupas-
sen. Nur dann ist eine Ideologie wirklich mächtig und überzeugend. Um
ihre Aufgaben erfüllen zu können, muß sie schließlich auch verbreitet,
verkündigt, gelehrt,. den Menschen nahegebracht und veröffentlicht

137
werden. Um Einsicht in den apologetischen Charakter einer Ideologie,
in ihre Überzeugungskraft und die dazu erforderliche Struktur sowie in
die Art ihrer Verbreitung zu gewinnen, kann die Rhetorik als kritische
und analytische Disziplin eine wichtige Aufgabe übernehmen. Marx
spricht zwar nicht ausdrücklich darüber, er ist jedoch ausgesprochen
empfänglich für den rhetorischen Charakter der Philosophie und aller
sozial-ökonomischen Theorien, wie Die deutsche Ideologie dem Leser
beweist. Außerdem war Marx zu sehr mit der klassischen Literatur und
den schönen Künsten vertraut, um nichts über die traditionelle Rhetorik
zu wissen. Auch in marxistischen Kreisen findet sich wenig oder gar
nichts über den rhetorischen Charakter der Ideologie. Vielleicht liegt
hier eine Aufgabe.
Bei Sigmund Freud (1856-1939) erscheinen die Dinge in mancher
Hinsicht durchsichtiger. Das ist begreiflich, denn er hat sich - weitaus
mehr als Marx - mit der Sprache beschäftigt, mit dem Bemühen, etwas in
Worte zu fassen und sich auszudrücken, mit dem Gespräch, mit der ver-
balen Kommunikation, mit der Struktur und den Mechanismen der Rede.
Man darf jedoch niemals vergessen, daß in der Psychoanalyse ni.chts
anderes von statten geht als ein Austausch von Worten. "In der analyti-
schen Behandlung geht nichts anderes vor als ein Austausch von Worten
zwischen dem Analysierten und dem Arzt" (G. W, XI, S. 9) . Ein großer
Teil des Freudschen CEuvres besteht in dem Versuch, Einblick zu
gewinnen in das, was sich abspielt, wenn Menschen miteinander spre-
chen. Die Freudsche Frage par excellence lautet: Was geschieht, wenn
gesprochen wird? Vielleicht liegt Freuds eigentliche Bedeutung darin,
daß er eine Reihe von Ges,etzmäßigkeiten und Strukturen des Dialogs
und des Monologs ans Licht gezogen hat. Das Gespräch nimmt bei
Freud eine zentrale Stelle ein. Seiner Ansicht nach hat jedes Gespräch
rhetorischen Charakter. Verschiedene zeitgenössische Richtungen der
Psychotherapie haben von Freud die entscheidende Bedeutung des
Gesprächs übernommen. Gleichwohl ist es enttäuschend, daß man in
der modernen therapeutischen Literatur oft wenig oder nichts mehr über
die rhetorische Struktur des Gesprachs wiederfindet. Daher kommt es
auch, daß die Literatur hin und wieder in Vereinfachungen und Oher-
flächlichkeiten ab gleitet.

138
Im Hinblick auf die Ausbildung des Psychoanalytikers empfiehlt
Freud insbesondere das Studium der Literaturwissenschaft und die
Sprachforschung (G. W, XIV, S.281-283). Er ist sich der Macht der
Sprache und des Wortes sehr wohl bewußt. In seinen Vorlesungen zur
Einführung in die Psychoanalyse schreibt er: "Worte waren ursprünglich
Zauber, und das Wort hat noch heute viel von seiner alten Zauberkraft
bewahrt. Durch Worte kann ein Mensch den anderen selig machen oder
zur Verzweiflung treiben, durch Worte überträgt der Lehrer sein Wissen
auf die Schüler, durch Worte reißt der Redner die Versammlung der
Zuhörer mit sich fort und bestimmt ihre Urteile und Entscheidungen.
Worte rufen Affekte hervor und sind das allgemeine Mittel zur Beein-
flussung der Menschen untereinander. Wir werden also die Verwendung
der Worte in der Psychotherapie nicht geringschätzen" (G. W, XI,
S.10).
Der Pariser Analytiker J. Lacan hat darum keineswegs zu Unrecht
oder etwa willkürlich die Freudsche Psychoanalyse in der Terminologie
der strukturalen Linguistik F. de Saussures und, was noch wichtiger ist,.
in den Begriffen der klassischen Rhetorik neu formuliert. Lacan schreibt
in seinem bekannten Werk Fonction et champs de la parole et du langage
en psychanalyse, daß für den Analytiker neben gründlichen linguisti-
schen Kenntnissen auch ein Studium desjenigen notwendig ist, was man
im Mittelalter die artes liberales nannte. Er schreibt: "Wir würden von
uns aus gern noch die folgenden Gebiete hinzufügen: die Rhetorik, die
Dialektik, und zwar in dem technischen Sinn, den dieser Begriff in der
Topik des Aristoteles besitzt, die Grammatik und - als den Gipfel einer
Ästhetik der Sprache - die Poetik." (Schriften 1, S. 130).
Die Freudsche Psychoanalyse ist in vieler Hinsicht eine Rhetorik
(Schriften 1, S. 107). JedenfaHs ist sie eher eine Rhetorik als eine Herme-
neutik, eher eine Analyse verborgener rhetorischer Strukturen als eine
Interpretation einer verborgenen Bedeutung oder eines versteckten
Sinnes. Man muß dies richtig verstehen. Die Psychoanalyse ist keine
Rhetorik im Sinne einer Kunst, gut und überzeugend zu sprechen und
zu schreiben. Sie ist auch keine normative Wissenschaft, die die Regeln
für eine konsequent aufgebaute und ästhetisch zu verantwortende Rede
erstellt. Sie ist es jedoch im Sinne einer kritischen Disziplin, die den

139
verborgenen und subtil rhetorischen Charakter desjenigen herauszustel-
len sucht, was der Mensch sagt und schreibt. Sie ist eine Fertigkeit, die es
erlaubt, mit großer Sensibilität für das Persuasive und Apologetische,
das Provokative und Verführerische in allem Sprechen und Schreiben zu
hören und zu lesen.
Wenn die Psychoanalyse eine Rhetorik ist, dann ist der Konflikt
zwischen ihr und der Philosophie ein Aspekt des umfassenderen Pro-
blems der Spannung zwischen Rhetorik und Philosophie. Der Konflikt
zwischen Psychoanalyse und Philosophie ist tiefgreifend. Beide machen
sich gegenseitig Vorwürfe und verketzern sich häufig. Die Spannung
zwischen Philosophie und Rhetorik erreicht darum hier einen gewissen
Höhepunkt.
Ausgehend von dem., was der Analytiker wirklich tut, und im Blick
auf das, was Freud über den Traum sagt, versuchen wir dies zu verdeut-
lichen und zu konkretisieren.
Was tut der Analytiker? Er hört auf das, was gesagt wird, und er liest,
was geschrieben steht. Er hört zu und liest mit ,gleichschwebender Auf-
merksamkeit' und wohlwollender Neutralität. Er hört zu,. ohne unmit-
telbar in eine Diskussion einzutreten, ohne verneinende oder bejahend,e
Erwiderungen zu geben, ohne ein Urteil zu fällen, eine Verurteilung
oder Billigung auszusprechen, ohne sich zu fragen, ob das Gesagte oder
Behauptete wohl richtig oder wahr ist, und schließlich, ohne es unmit-
telbar zu interpretieren oder zu deuten. Im analytischen Gespräch gibt
es nur ein einziges Medium: dasjenige, was gesagt wird. Nirgends tritt
der Analytiker außerhalb dieses Mediums. Ihn kennzeichnet ein sokrati-
sches Nichtwissen und die Entschlossenheit, nicht zu handeln. Die
sogenannten ,objektiven Tatsachen' haben für i~.n wenig Bedeutung,
und die Frage nach der Wahrheit im Sinne einer Ubereinstimmung des
Gesagten mit der sogenannten ,Wirklichkeit' stellt er nicht. Diese Hal-
tung nimmt d,er Analytiker vor allem im analytischen Gespräch ein. Er
wählt diese Einstellung jledoch auch bei allem anderen,. was er als
Analytiker hört und liest. Auch einen philosophischen Vortrag nimmt er
in dieser Weise auf.
Der Analytiker hört und liest demnach in dem Bewußtsein, daß sich
im Sprechen und Schreiben eine gewisse Befreiung vollzieht. Sprecher

140
und Schreiber befreien sich mit Hilfe des Wortes aus einer Reihe von
Ängsten und Faszinationen, von unbestimmten Reminiszenzen und
Obsessionen. Sie verwirklichen sich selbst und ,erlangen Klarheit über
ihr eigenes Sein, indem sie sich und ihre Welt für andere und sich sdbst
enthüllen. Zugleich weiß der Analytiker, daß sich in diesen Formen der
Äußerung eine gewisse Verfremdung einsteHt. Durch das Wort verbirgt
sich der Mensch vor sich selbst und vor anderen. Diese Verfremdung ist
notwendig und unvermeidlich, weil sie für jedes Sprechen und Schreiben
konstitutiv ist. Ohne diesen Prozeß (die Urverdrängung) ist keine
einzige Form der Äußerung möglich.
Warum ist hier von Verfremdung die Rede? Wenn ein Mensch das
Wort ergreift, scheint es, als ob er unmittelbar über das Wort verfügt und
uneingeschränkt dazu in der Lage ist, über sich und seine Welt zu
sprechen. Das ist jedoch nur teilwemse der Fall. Vor allem benennt der
Mensch sich und seine Umgebung stets mit Worten, die nicht ohne
weiteres seine eigenen sind. Er spricht eine Sprache, die immer die
Sprache von anderen ist. Er hat diese Sprache nicht selbst entworfen,
vielmehr bestand sie schon, als er das Wort ergriff. Will er sich wirklich
verständlich machen, ist er verpflichtet) sich der bestehenden Sprache zu
unterwerfen. Der Mensch muß seine Eigensinnigkeit preisgeben und in
die Ordnung der Allgemeinheit eintreten. Verweigert er dies,. verfällt er
in die ,Idiotie' der absoluten Besonderheit und jede Gemeinschaftlich-
keit ist unmöglich. Nur wenn er sich gehorsam der bestehenden Sprache
einfügt, kann er er selbst werden, kann die Welt für ihn Bedeutung er-
langen.
Der Mensch muß sich jedoch nicht nur der Sprache unterwerfen,
sondern auch all den Erzählungen, die über ihn und die Welt die Runde
machen. Denn jeder Mensch ist in ein Netz von Geschichten eingebun-
den, die über und gegen ihn erzählt werden. Dieses Geflecht konkreti-
siert sich u. a. in dem Namen, den er trägt, den er sich niemals selbst
gegeben hat, der im Gegenteil stets der Name eines anderen ist. Dieser
Name ist in erster Linie ein Eigenname, der den Menschen der Anony-
mität des namenlosen Nichts entzieht. Es ist aber auch der gut,e oder
schlechte Ruf, Lob und Tadel, die jeden Menschen begleiten und den
begrenzten Raum eröffnen, in dem der Mensch sein Dasein vollziehen

141
kann und muß. Das N,etz von Erzählungen konkretisiert sich auch in
den Wünschen und Erwartungen, dem Verlangen und den Verpflichtun-
gen, den Werturteilen und Zusammenhängen, die von Anderen an einen
Menschen herangebracht werden. Die Anderen können die Eltern und
die Erzieher sein, die Familie und die Gesellschaft. Zweifellos hat der
Mensch ein gewisses Maß an Freiheit gegenüber diesen Erzählungen,
aber auch sie besteht nur dank dieses Netzes, dem der Mensch seine
eigenen Wünsche und Ideale, seine Erwartungen und Enttäuschungen,
die Sicht seiner selbst und seiner Umwelt entlehnt. Ohne dieses Geflecht
von Erzählungen gäbe es für den Menschen nichts, das wirklich Bedeu-
tung hat.
Das ist noch nicht alles. Im Sprechen und Schreiben baut sich der
Mensch ein Bild seiner selbst und seiner Welt auf. Dieses Bild besteht
u. a. aus einem Ganzen von Überzeugungen (doxa), die der Mensch von
sich und seiner Umwelt besitzt. Dieses Ganze von Überzeugungen
bezieht sich auf das, was der Mensch zu sein glaubt - oder besser - auf
die Art und Weise, in der er sich selbst erscheint: als selbständige
Einheit, die eine bestimmte Stelle oder Position in der Welt innehat und
sich zu den Mitmenschen auf eine bestimmte Weise verhält. Dieses Bild
bezieht sich auch auf das, was der Mensch über die Welt und die Dinge
denkt, oder auf die Art, wie ihm die Wirklichkeit erscheint. Es hält ihn
fortwährend sich selbst und dem Anderen, mit dem er spricht, ,entgegen.
Er identifiziert sich mit diesem Bild und er identifiziert durch dasselbe
die Dinge um ihn her. Der Mensch entlehnt ihm seine Identität und
Selbständigkeit und findet hierdurch seinen Weg in der Welt. Es ist ihm
deshalb viel daran gelegen, di,eses Bild aufrechtzuerhalten und geg,ebe-
nenfaHs gegen wirkliche oder mögliche Opponenten und Angreifer zu
verteidigen. Er verlangt daher auch vom Anderen, daß dieser ihn mit
diesem Bild identifiziert und das Ganze seiner Überzeugungen an-
erkennt. Der Mensch fordert die Zustimmung des Anderen, da er sie
braucht, um seine Identität und seine Welt instandzuhalten. Ein großer
Teil dessen, was der Mensch sagt, zielt deshalb prinzipiell darauf ab, die
Zustimmung des Anderen zu erhalten oder zu erwerben. Jedes Wort
verlangt wesentlich und jederzeit nach Antwort. Jede Rede verlangt nach
Gegenrede. Die Antwort kann zustimmend oder bestätigend, ablehnend

142
oder verneinend sein . Aus d,er Bestätigung gewinnt der Mensch den
nötigen Halt. Und da jede Verneinung .oder Ablehnung mit einer
fundamentaler,en Bestätigung oder Anerkennung gepaart ist" kann auch
die Verneinung die erforderliche Sicherheit geben. Lediglich das radika~e
Schweigen des Anderen ist tödlich. Um nun eine Erwiderung zu erhal-
ten,. wendet der Mensch aUe möglichen rhetorischen Mittel an. Um sich
selbst und den Anderen von dem zu überzeugen, was er für sich selbst
und für ihn zu sein glaubt, macht er von einem sehr erfinderischen und
subtilen Spiel des Enthüllens und Verbergens, des Beweisens und Wider-
legens, des Verführens und Verführtwerdens Gebrauch. In diesem Spiel
verwirklicht sich der Mensch selbst. Er wird mehr und mehr er selbst
und wird sich zugleich in zunehmendem Maße fremd.
In der künstlichen Situation des psychoanalytischen Gesprächs enthält
sich der Analytiker ausdrücklich und bewußt jeder Form v.on Erwide-
rung. Er tut dies, um das ganze System v.on Bildern und Überzeugun-
gen, Identifikationen und Bestätigungen, das fortwährend zu versteinern
droht, in Bewegung zu bringen .oder zu halten. In der natürlichen
Gesprächssituation, im alltäglichen Sprechen und Schreiben beteiligt
sich der Mensch für gewöhnlich an diesem SpieL Aber auch hier, im
zwischenmenschlichen Kontakt, bleiben mehr als genug Gelegenheiten,
die das Versteinern verhindern.
Der Analytiker hört und liest schließlich in dem Bewußtsein, daß der
Mensch in seinen Äußerungen niemals ohne weiteres selbst zu Wort
kommt. Er weiß, daß der Mensch über seine eigenen Worte, über seine
Sprache nicht Herr und Meister ist. Di,e Freudsche Entdeckung läuft
letzten Endes auf die Erkenntnis hinaus, "daß der Mensch kein Herr sei
in seinem eigenen Haus" (G. w., XII, S. 11) . In allem Sprechen und
Schreiben sind vielerlei nicht greifbare Instanzen und dunkle Mächte
wirksam, die es beherrschen und bestimmen, die es bändigen. Sie sind
jedoch zugleich ,eine ständige Herausforderung, das Gespräch stets von
neuem fortzus.etzen oder wieder aufzunehmen. Zu diesen Instanzen
gehören zweifelsohne die Angst und die Begierde! die Angst vor dem
Nichtsein, der Nicht-Identität, dem Chaos, und die Begierde nach Sein,
Identität und Ordnung. Gerade diese Instanzen verleihen jedem Spre-
chen und Schreiben seinen rhetorischen Charakter.

143
Was hier über die verborgene rhetorische Struktur von Äußerungen
gesagt wurde, gilt nicht nur für das analytische Gespräch, sondern auch
für jede andere Form verbaler Kommunikation. Es gilt selbst für den
philosophischen Vortrag oder den philosophischen Text. D,enn so ver-
schieden philosophisches und nicht-philosophisches Sprechen auch sein
mögen, sie stimmen doch darin überein, daß gesprochen wird. Nun
kann ein Philosoph möglicherweise erkennen, daß dies alles zur verbor-
genen Struktur seines Sprechens gehört, er kann sich jedoch nicht davon
befreien, weil es einfach zur Struktur des Sprechens selbst gehört. Die
Instanzen, die das Sprechen beherrschen, sind letztlich nicht zu kontrol-
lieren. Jeder Versuch, sie dennoch zu kontrollieren, kann selbst nichts
anderes sein als eine neue Form des Sprechens.
Aus dem, was Freud über den Traum sagt, erhellt noch deutlicher,
welche Rolle die Rhetorik in der Psychoanalyse spielt. Der Traum ist
und bleibt für Freud der "königliche Weg" zum Unbewußten. Der
Traum und alles, was darin geschieht, ist für ihn das Modell, dem gemäß
er die unbewußte Aktivität des Menschen beschreibt und begreift.
In Die Traumdeutung (1900) behauptet Freud, daß bei der Entstehung
des Traumes zweierlei vonstatten geht: die Herstellung der Traumgedan-
ken (der latente Traum) und die Umwandlung derselben zum Traumin-
halt (der manifeste Traum) (G. W, lI/lII, S.510). Letzteres ist von
besonderer Bedeutung. Im Traum findet eine Umwandlung statt, wie
Freud an anderer Stelle sagt: eine ungewöhnliche Art von Transkription
(G. W, XI, S. 177). Diese Umwandlung, Transkription oder Transposi-
tion nennt Freud die Traumarbeit. Vier wichtige Mechanismen sind
daran beteiligt. Erstens die Verdichtung oder Kondensation, die Lacan
als Metapher auffaßt. Zweitens die Verschiebung, die Freud zuweilen
auch Übertragung nennt und die von Lacan als Metonymie verstanden
wird. Drittens die Rücksicht auf DarsteIlbarkeit, d. i. die Umsetzung des
Traumgedankens in visuelle Bilder. Schließlich ist noch die sekundäre
Bearbeitung zu nennen, durch die der Traum, ungeachtet seiner Ver-
stümmelung, dank der drei ersten Mechanismen zu einem fest Zusam-
menhängenden Ganzen wird. Sie vollzieht sich vor allem im Erinnern
und Erzählen des Traums. In diesem Zusammenhang muß man berück-

144
sichtigen, daß die Psychoanalyse niemals den "geträumten" Traum,
sondern stets den ,.,erzählten" Traum behandelt.
Wmr haben oben darauf hingewiesen, daß Lacan die Verdichtung als
Metapher und die Verschiebung als Metonymie auffaßt. Heide sind
Stilfiguren der klassischen Rhetorik. Lacan beschränkt sich jedoch kei-
neswegs auf diese beiden. In seinen Ecrits,. in denen er über die Rhetorik
Freuds spricht, gibt er eine lange Liste von Figuren und Tropen, die man
bereits bei Quintilian findet. Lacan schreibt: "Ellipse und Pleonasmus,
Hyperbaton und Syllepsis,. Rückgriff, Wiederholung und Apposition
sind syntaktische Verschiebungen, Metapher, Katachrese, Antonomasie,
Allegorie, Metonymie und Synekdoche sind semantische Verdichtun-
gen, in denen Freud uns die angeberischen und demonstrativen, die
heuchlerischen und überzeugenden, die zurückweisenden und verführ·e-
rischen Intentionen lesen lehrt, mit denen das Subjekt seine Traumrede
schmückt." (Schriften 1, S. 107).
Verweilen wir einen Augenblick bei der Verdichtung, der Verschie-
bung und der sekundären Bearbeitung. Die Verdichtung ist derjenige
Traummechanismus, durch den bestimmte Elemente weggelassen, an-
dere zu einem einzigen Element zusammengefügt werden, so daß von
einem komplexen Ganzen nur ein kleiner Teil bewahrt bleibt. (G. w.,
XI, S. 174) Infolge dieser Verdichtung ist der Traum oft sehr undurch-
sichtig und unbegreiflich (G. w., XI,. S. 176) und erscheint als eine
"höchst unvollständige und lückenhafte Wiedergabe" (G. w., II/III,
S.287). Die Undurchsichtigkeit macht die Deutungsarbeit notwendig,
in der tatsächlich die ,lacunes' (Lücken) das Wichtigste sind. Man muß
zwischen den Zeilen lesen können. Die Verdichtung ist eine Folge der
Zensur, zugleich aber auch ein Kunstgriff, um sich ihr zu entziehen. Man
träumt nur, was mehr oder weniger annehmbar und zulässig ist. Auf die
Zensur werden wir noch ausführlicher eingehen.
Die Verschiebung ist in der Traumarbeit derjenige Mechanismus,
durch den ein bestimmtes Element des Traumes durch ein anderes
ersetzt wird, mit dessen Hilfe der Akzent von einem wichtigen Element
fort und auf ein anderes von viel geringerer Bedeutung verlegt wird
w.,
(G. Xl, S. 177). Auch dies hat zur Folge, daß der Traum oft sehr
undeutlich ist und daher gedeutet werden muß. Auch die Verschiebung

145
ist eine Folge der Zensur und zugleich ein Kunstgriff oder eine Art List,
die Kontrollinstanz zum Narren zu ha~ten.
Worin besteht nun diese Zensur? Den Grundgedanken hat Freud dem
Bereich der politischen Herrschaft entnommen, die mit mächtiger Hand
in alles eingreift, was in den öffentlichen Medien geschrieben wird. In
den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse kann man darüber
folgendes lesen: "Nehmen Sie irgendeine politische Zeitung zur Hand,
Sie werden finden, daß von Stelle zu SteHe der Text weggeblieben ist und
an seiner Statt die Weiße des Papiers schimmert. Sie wissen, das ist das
Werk der Zeitungszensur. An diesen leer gewordenen Stellen stand etwas,
was der hohen Zensurbehörde mißliebig war, und darum wurde es
entf·ernt. Sie meinen, es ist schade darum, es wird wohl das Interessante-
ste gewesen sein, es war ,die beste Stelle'. Andere Male hat die Zensur
nicht auf den fertigen Satz gewirkt. Der Autor hat vorgesehen, welche
Stellen die Beanstandung durch die Zensur zu erwarten haben, und hat
sie darum vorbeugend gemildert, leicht modifiziert, oder sich mit Annä-
herungen und Anspielungen an das, was ihm eigentlich aus der Feder
fließen woBte, begnügt. Dann hat auch das Blatt keine leeren SteHen,
aber aus gewissen Umschweifen und Dunkelheiten des Ausdrucks wer-
den Sie die im vorhinein geübte Rücksicht auf die Zensur erraten
können." (G. W, XI, S. 139)
Das Zitat spricht für sich selbst. Indem Freud beschreibt, wie die
Zensur in der Presse wirkt, gibt er zugleich wieder, was im Traum
geschieht:. Für Freud ist der Traum ein Text, eine Komposition (G. W,
II/III, S.679), die sich aus vielerlei Sätzen und "Redeteilen" aufbaut
(G. w., XI, S. 180). Der Traum ist ein "Diskurs" und gleichzeitig eine
"Übertragung" oder n Übersetzung in eine andere Schrift oder Sprache"
(G. w., XI, S. 176). Den Traumdiskurs kontrolliert eine Macht, die
beständig in ihn eingreift. Man träumt deshalb nur das, was annehmbar
ist. Zugleich wendet man im Traum zahlreiche Kunstgriffe und Listen
an, um das Geträumte für die zensierende Macht annehmbar zu machen.
Für die Deutung des Traumes sind daher die weißen Flecken und die
Listen von Bedeutung. Die Veränderungen und Verschiebungen, die
Suggestionen und die dunklen Passagen sind das Interessanteste. Letzten
Endes greift Freud bei seiner Interpretation von Träumen weniger auf

146
ein hermeneutisches als vielmehr auf em strukturalistisches Modell
zurück.
Was sich nun im Traum vollzieht - die Traumarbeit - ist für Freud
auch das Modell, anhand dessen er begreift, was in jedem Sprechen und
Schreiben und in jedem Diskurs stattfindet. Nur was annehmbar ist,
wird geäußert. Es sind viele, oft nicht greifbare Instapzen am Werk - die
Zensur -, die das Sprechen und Schreiben in Fesseln schlagen. Zugleich
macht der Sprecher oder Schreiber in reichlichem Maße von den unter-
schiedlichsten Kunstgriffen und rhetorischen Mitteln Gebrauch, um das
Behauptete für diese Instanzen annehmbar zu machen. Zu diesen Instan-
zen gehären u. a. alle realen Machtverhähnisse und die bestehende
Ordnung, das System von Anordnungen und Verordnungen, von Gebo-
ten und Verboten, in denen sich der Mensch bewegt, oder das soge-
nannte Über-Ich. Sie beherrschen und bestimmen jede Rede. Michel
Foucault, der sich ausdrücklich und in der Tradition Freuds mit den
Machtinstanzen, die den Diskurs bestimmen, beschäftigt hat, spricht
von den großen Systemen der Ausschließung. In seinem Buch L'ordre
du discours (S. 21) nennt er drei dieser Systeme: la parole interdite (das
verbotene Wort), le partage de La folie (die Einteilung in vernünftig und
unvernünftig, gesund und krank, normal und anormal) und la volonte de
verite (den Willen zur Wahrheit). Diese und ähnliche Mächte zensieren
alles, was der Mensch sagt und schreibt.
Auch die philosophische Rede wird von einer derartigen Zensur
begleitet und beherrscht. Auch sie ist von zahlreichen Kunstgriffen und
Listen geprä.gt, um dieser Zensur zu entkommen oder sie zu täuschen.
Das hat natürlich Auswirkungen auf die Methode, wie man einen
philosophischen Text lesen soll. Das hermeneutische Modell erweist sich
unter diesem Gesichtspunkt als unangemessen, denn es geht in erster
Linie nicht um eine genaue Interpretation des Textes, sondern vielmehr
um den Versuch, die gestrichenen und ausgelassenen Abschnitte, die
Veränderungen und Verschiebungen freizulegen, die im Text vorhanden
sind. Selbst die Frage nach der Wahrheit ist nicht von primärer Bedeu~
tung. Fragt man sich, ob eine bestimmte Philosophie richtig ist oder
nicht, ist man schon der Macht der Zensur unterworfen. Es ist daher
besonders wichtig, den verschiedenen im Text wirksamen Mechanismen

147
Aufmerksamkeit zu schenken, namentlich der Verdichtung und der
Verschiebung. Mit anderen Worten: Man muß einen philosophischen
Vortrag mit großer OHenheit für seine metaphorische und metonymi-
sche Struktur lesen.
Noch deutlicher wird an dies,. wenn man erkennt, welcher Stellenwert
dabei der sekundären Bearbeitung zukommt. Ihrem Wesen nach ist sie
derjenige Prozeß, der aus dem Traum, der durch die Verdichtung und
Verschiebung ebenso wie durch die Zensur zu einem schwer beschädig-
ten Text voller Lücken und cl unkler Abschnitte wurde, doch wieder eine
zusammenhängende und kohärente Erzählung macht, indem er viele
Dinge hinzufügt und einschiebt (G. w., XI, S.185). Die sekundäre
Bearbeitung ist jedoch keineswegs ein Vorgang, der nur beim Traum
stattfindet. In seinem Buch Totem und Tabu (1912) schreibt Freud: "Die
sekundäre Bearbeitung des Produkts der Traumarbeit ist ein vortreff1i-
ches Beispiel für das Wesen und die Ansprüche eines Systems" (G. w.,
IX,. S.117). Und er fügt hinzu: "Eine intellektuelle Funktion in uns
fordert Vereinheitlichung, Zusammenhang und Verständlichkeit von
jedem Material der Wahrnehmung oder des Denkens, dessen sie sich
bemächtigt, und scheut sich nicht, ,einen unrichtigen Zusammenhang
herzustellen, wenn sie infolge besonderer Umstände den richtigen nicht
erfassen kann. "Freud nennt dann verschiedene Beispiele wie Phobien,
Zwangsgedanken, Formen von Wahn usw. Auch ein philosophisches
System ist seiner Ansicht nach das Ergebnis eines derartigen Vorgangs.
Die sekundäre Bearbeitung des Trauffi,es ist sdbst nur ein Beispiel für das
Wesen und die Ansprüche eines Systems überhaupt.
Für Freud ist ein phaosophisches System eine Rationalisierung. Es hat
stets etwas von einem Reiseführer für ängstliche M,enschen an sich
(G.w., XIV, S. 123). Es behütet und beschützt den Menschen vor dem
Unerwarteten und Beängstigenden, vor dem Absurden und Unbegreifli-
chen. Die Philosophie ist unter solchen Voraussetzungen eine Art
Festung oder BoUwerk,. eine Konstruktion, die mit Hilfe eines geistrei-
chen Verteidigungsmechanismus errichtet wird und in der sich der
Mensch vor allen wirklichen oder möglichen Feinden sicher weiß und
beschützt fühlt.

148
Freud und Marx unterscheiden sich in vieler Hinsicht voneinander.
Die Beziehungen zwischen Marxisten und Freudianern sind nicht immer
gleich gut. Die Marxisten werfen Freud vor, daß er zu w,enig auf die
Gesellschaft eingehe und eine Art von Anpassungspsychologie vertei-
dige. Althusser hat in einem Artikel über Freud et Lacan behauptet, daß
diese Annahme auf einem tiefgreifenden Mißverständnis beruhe. Hat
man erst einmal entdeckt" daß Marx und Freud zumindest darin überein-
stimmen, daß sie beide das Phänomen "Philosophie" zu erklären suchen
und daß in dieser Erklärung die Rhetorik eine große Rolle spielt" so
begreift man auch, daß beiden eine große (gesellschafts-)kritische Funk-
tion zukommt.

149
XlV. Nietzsehe und die Philosophie

Das CEuvre Friedrich Nietzsches (1844-1900) stellt in vieler Hinsicht


einen Bruch oder eine Wende in der Geschichte der Philosophie dar.
Einer der wichtigsten Aspekte dieses Einschnitts ist die grundsätzlich
veränderte Haltung gegenüber der Philosophie, die sich bei Nietzsehe
findet. Fast alle Philosophen haben versucht, ihren Standpunkt in Ab-
grenzung gegen die Philosophi,e ihrer Vorgänger oder ihrer Zeitgenossen
zu bestimmen. Immer war es ein philosophischer Standpunkt. Ihre
Haltung war eine philosophische. Die Frage nach der Wahrheit stand
dabei stets im Mittelpunkt. Man fragte sich, ob eine Philosophie wahr ist
oder nicht. Nietzsehe dagegen versucht, sozusagen "aus" der Philoso-
phie "herauszutreten". Er will nicht länger, wie die Philosophen, eine
letzte Erklärung des Seienden geben, er sucht vielmehr nach einer
genealogischen Erklärung der Philosophie als Wirklichkeit. Da die
Wahrheitsfrage und die Idee der Wahrheit einen wesentlichen Teil der
realen philosophischen Rede ausmachen, versucht er, auch diese The-
men als solche genealogisch zu erklären.
Es ist nun einmal unmöglich, Nietzsche einfach in die große philoso-
phische Tradition einzuordnen. Die verschiedensten Philosophen haben
immer wieder den Versuch gemacht, Nietzsche doch in die traditionelle
philosophische Auseinandersetzung einzubeziehen, ihn dem philosophi-
schen Korpus einzuverleiben und ihn in einen philosophischen Rahmen
zu pressen. All diese Unternehmungen zeugen von einem tiefgreifenden
Mißverständnis und sind nur dann möglich, wenn Nietzsche Gewalt
angetan wird. Diese Mißdeutung ist verständlich, denn ein Philosoph,
der insbesondere der Frage nach der Totalität nachgeht, kann schwerlich
erkennen, daß es außerhalb der Philosophie noch etwas gehen sollte,. das
er aus wesentlichen, definitiven Gründen nicht in sein Denken aufneh-
men kann. Weil Nietzsche jedes philosophische Sprechen angreift und
zur Diskussion stellt, ist die ihm angetane Gewalt eine rechtmäßige
Form der Selbstverteidigung.

150
Nietzsehe wendet zahlreiche Strategien an,. um sein Denken dem
traditionellen philosophischen Rahmen zu entziehen. Sein Leben lang
hat er mit der bestehenden Philosophie g,erungen. Im Kampf mit dem
Engel - dem Botschafter und der Botschaft - hat er bis zum Morgen-
grauen standgehalten und, wie Jakob im Alten Testament, ist auch er
nicht unversehrt aus dem Gefecht zurückgekehrt. Während nach dieser
Nacht Jakobs Hüfte verrenkt war und er fortan als Lahmer durchs
Leben gehen mußte, hat sich Nietzsehe eine seelische Verletzung zuge-
zogen, an der er schließlich zugrunde ging. Der große Widersacher, mit
dem er sich in seinen Streitschriften auf einen Kampf einläßt, ist die
bestehende Philosophie, die Moral und die Metaphysik. Die philosophi-
sche Rede ist der Gegenstand par ex celle n ce, dem er strategisch und
polemisch zu Leibe rückt. Er begreift jedoch, daß dieser Gegner sehr
stark ist und nicht völlig überwunden werden kann . Es ist schließlich
nicht möglich, der Philosophie ganz und gar zu entkommen, da jegliches
Bestreiten und Widerlegen einer Philosophie selbst eine neue Philoso-
phie ist. Gott und die Totalität,. die Wahrheit und das Gute, die Substanz
und die Subjektivität schüttelt man nicht so leicht ab, wie es manche
vielleicht wünschen.
Nietzsches Denken ist ein strategisches Denken. Es besteht darin,
"aus jedem U ein X zu machen, ein echtes, rechtes X, das heißt den
vorletzten Buchstaben vor dem letzten .. :' (Werke, 11, S. 13). Der letzte
Buchstabe oder das letzte Wort ist nicht uns vorbehalten. Man muß, wie
Nietzsche meint, entdecken, daß nach jedem Wort noch ein weiteres
gesagt werden kann und muß. Zu dieser Strategie gehört u. a. auch die
Methode, sich ständig selbst zu widersprechen, sich in überreichem
Maße einer bildhaften Sprache zu bedienen, und vo.r allem die Philoso-
phie als einen Text oder eine Interpretation zu betrachten . Wir werden
bei diesen verschiedenen strategischen Manövern einen Augenblick ver-
weilen.
Nietzsches Denken stellt in keiner Hinsicht ein schlüssiges System
dar. Dazu ist es zu aphoristisch und fragmentarisch und enthält vor
allem auch zu viele Widersprüche. "Alle Aussagen" (bei Nietzsche),
schreibt Jaspers in seinem Buch über Nietzsehe, "scheinen durch andere
aufgehoben zu werden. Das Sichwidersprechen ist der Grundzug Nietz-

151
scheschen Denkens. Man kann bei Nietzsehe fast immer zu einem Urteil
auch das Gegenteil finden. Der Schein ist, er habe über alles zwei
Meinungen. Daher kann man auch aus Nietzsehe für das, was man
gerade will, beliebig Zitate bringen." (S. 17). Aufgrund dieser ständigen
Widersprüchlichkeit läßt sich Nietzsche leicht zu allem gebrauchen und
mißbrauchen - wie es z. B. im Nationalsozialismus geschehen ist. Aus
demselben Grund läßt er sich auch nicht in ein System zwängen. Der
Widerstand gegen diesen Zwang ist von Nietzsehe ausdrücklich gewo]lt.
Durch seine kontradiktorische Ausdrucksweise verstößt er natürlich
vielfach gegen die Logik oder die Dialektik,. aber auch das ist seine
ausdrückliche Absicht. Als formale Grundsuuktur der philosophischen
Rede ist die Logik für ihn ein wesentlicher Teil der Philosophie und
ebenso problematisch wie diese selbst. Für Nietzsehe ist die Logik eine
Struktur, die geworden ist und deren Genealogie sich angeben läßt. Die
Beschreibung ihrer Entwicklungsgeschichte zeigt,. daß sie aus einem
rhetorischen Machtwort entstanden ist. Mächtige Instanzen haben sie
mit der Absicht angeordnet, sich Machtpositionen zu erhalten oder Zu
erwerben (Werke, III, S. 886); sie ist deshalb gänzlich von rhetorischer
Gewalt durchzogen.
Ein zweiter Aspekt in Nietzsches Strategie ist der überreiche Ge-
brauch einer bildhaften Sprache. Auch sie ist bewußt von ihm gewollt.
"Wir wollen euch die Welt noch so umsteHen mit Bildern, daß euch
schaudert" (Philosophenbuch, S. 72). Infolge dieser Abundanz erscheint
Nietzsches CEuvre oft mehr als Poesie denn als Philosophie. Manchmal
ähnelt es stärker einem literarischen Kunstwerk als einer philosophi-
schen Rede. Am deutlichsten ist dies in Also sprach Zarathustra zu
spüren,. aber auch andere Werke sind recht "poetisch". Mit seiner
bildlichen Sprache versucht Nietzsche u. a. nachzuweisen, daß die Phi-
losophie in Wirklichkeit nichts anderes ist und sein kann als Poesie. "Es
ist alles Bilderrede" (Werke, I, S. 1094). Nietzsches Bilder und Figuren,
Mythen und Metaphern sind eine Radikalisierung des traditionellen
philosophischen Sprachgebrauchs. Nietzsehe tut auf eine beinahe über-
triebene Weise, was - ohne es jedoch zu wissen oder zuzugeben - alle
Philosophen tun.

152
Der dritte und wichtigste Aspekt in Nietzsches Strategie ist der
folgende: Er thematisiert oder betrachtet die best,ehende Philosophie als
Phänomen oder Erscheinung, als Faktum im Sinne eines Erzeugnisses
oder einer unabweisbaren Wirklichkeit, als Werk im Sinne eines Bau-
werks, einer Konstruktion, eines Kunstwerks und insbesondere als
sprachliches Kunstwerk oder als "Text".
Für Nietzsche ist die Philosophie eine Erscheinung, die als sokhe
erklärt werden kann. Sie wird von ihm nicht als ein Moment eines sich
diskursiv verwirklichenden Geistes oder als eine notwendige und fort-
schreitende Selbstentfaltung der Wahrheit, sondern als ein Symptom
aufgefaßt (Der Wille zur Macht,§ 619). Jede Philosophie ist stets eine
Vordergrunds-Philosophie (Werke, 11, S. 751) und verbirgt eine andere.
Diese Erscheinung hat etwas von einem Bauwerk an sich (Werke, II,
S.565). Sie ist eine Konstruktion. Nietzsche gebraucht überschw,engli-
che Bilder, um dies zu verdeutlichen. So spricht er von der Philosophie
als einer Bastion, einer Burg, einem Tempel, einer ägyptischen Pyra-
mide,einer römischen Urnenhalle, einem Gerüst und einem Gefängnis.
Ebensowenig wie es Sinn hat, von der Wahrheit eines Gebäudes zu
sprechen - es sei denn im Heideggerschen Sinne -, hat es Sinn, nach der
Wahrheit einer Philosophie zu fragen. Allerdings kann man nach ihrer
Struktur und Funktion fragen. Für Nietzsche hat die Funktion der
Philosophie offensichtlich etwas mit dem Erwerb von Macht zu tun, mit
dem Abbruch einer unendlichen Bewegung, mit dem Entbergen und
Verbergen von Dimensionen und Möglichkeiten des Menschseins und
mit der Selbstverteidigung gegen die unterschiedlichsten Gegner. Nach
Nietzsche kann man sich selbst und die eigene Welt auch durch den
Aufbau eines philosophischen Systems erhalten . Nietzsche versteht die
Philosophie ferner als ein Faktum, das als Erzeugnis zur Ordnung des
Fiktiven gehört und in seiner Wirklichkeit nicht geleugnet werden kann.
Obgleich die Philosophie nach seiner Meinung aus einer Aneinanderrei-
hung von Fiktionen besteht, kann ihre Wirklichkeit unmöglich bestrit-
ten werden. Man kann sie selbst nicht einfach rückgängig machen
(Werke, I, S. 453). Die Philosophie zu verleugnen, hieße die Kultur und
die menschliche Welt in Abrede zu stellen. Der Versuch, hinter der
Philosophie eine ursprünglichere Welt zu entdecken, käme der Behaup-

153
tung einer "eigentlichen" Weh hinter der tatsächlichen gleich. Eine
ursprüngliche, eigentliche Welt besteht nicht oder ist zumindest für uns
nicht zugänglich, da die Welt stets eine (philosophisch) interpretierte
Wirklichkeit ist. Das Faktum der Philosophie kann jedoch zumindest
teilweise erklärt werden. Zu diesem Zweck soll ihre Genealogie oder
Entwicklungsgeschichte nachgezeichnet, sollen die Faktoren ermittelt
werden, die das Faktum zustandegebracht haben. Zu diesen Faktoren
gehören u. a. die Angst vor dem Chaos und das Verlangen nach Bestand
und Sicherheit, das Ressentiment und der Wille zur Macht.
Nietzsche hat die Philosophie schließlich auch als ein Sprachwerk, als
einen Text, als ein Gewebe aus Worten und als ein Netz aus Redensarten
und idiomatischen Wendungen betrachtet. Philosophie ist für ihn eine
Interpretation im Sinne einer Formulierung und Übersetzung. Von
größter Bedeutung ist für Nietzsehe deshalb die Frage, was es heißt,
etwas in Worte zu fassen, und welche Rolle die Sprache dabei spielt.
Natürlich ist die Sprache niemals nur ein philosophisches Thema unter
vielen anderen gewesen. Dennoch hat die traditionelle Philosophie die
Tatsache, daß sie aus Texten besteht, kaum ernst genommen. Nietzsche
war in vieler Hinsicht der erste, der seine radikale Reflexion auch auf die
Sprache bezieht.
Für Nietzsches Strukturanalyse der Philosophie, für die Frage,. wie die
philosophische Rede funktioniert, für die genealogische Darstellung der
Faktoren, die das Faktum der Philosophie entstehen ließen, und für die
Frage, was Formulieren und Interpretier,en bedeuten, spielt die Rhetorik
eine wichtige Rolle. Man kann sogar sagen, daß die rhetorische Proble-
matik für Nietzsches Denken bestimmend war, und daß ein GroßteH
seiner eigenen "philosophischen" Terminologie der klassischen rhetori-
schen Tradition entnommen ist. Das gilt im übrigen auch für den
sogenannten Willen zur Macht.
Das rhetorische Problem hat in Nietzsches Denken stets eine hervor-
ragende Stelle eingenommen. Schon früh ist er mit der Rhetorik kon-
frontiert worden, und zwar auf dreifache Weise. Zunächst stammt er aus
einem typischen Pastorenmilieu. Diese Umgebung ist seiner Ansicht
nach einer der wenigen Orte, wo die Überredungskunst praktisch,
zuweilen mit großer Geschicklichkeit, oft mit Erfolg ausgeübt wird.

154
Nietzsche wird sich später, im Gegensatz zu den meisten Philosophen,.
nicht scheuen, sich unter die Prediger und Verkünder der frohen Bot-
schaft einzureihen. AHerdings ist seine frohe Botschaft nicht die christli-
che, sie bleibt jedoch eine Botschaft, die verkündigt werden muß. Er legt
sie dem Antichristen oder dem Propheten Zarathustra in den Mund, der
ein Plädoyer für den Genuß hält und in allen Tonarten ausruft: Bleibt
der Erde treu!
Ferner hat Nietzsche in seinen jungen Jahren verschiedene deutsche
Sprachphilosophen gelesen, vor allem Gustav Gerber, vielleicht auch
Friedrich Gruppe. Diese Autoren behaupten, daß alle philosophischen
Probleme letztlich Sprachprobleme sind und unser Denken ganz und gar
von der Sprache beherrscht und bestimmt wird. Ihrer Meinung nach hat
die Sprache übrigens eine metaphorische und metonymische, d. h. rhe-
torische Struktur, durch die sich die Philosophen leicht verleiten lassen.
In seinem Buch Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn wird
Nietzsche behaupten, daß die Wahrheit nichts weiter ist als ein beweg-
liches Heer von Metaphern und Metonymien (Werke, 111,. S. 314).
Schließlich wird Nietzsche insbesondere durch die Lektüre der grie-
chischen und römischen Literatur während seines Studiums der k~assi­
sehen Philologie an den Universitäten Bonn und Leipzig mit der Rheto-
rik konfrontiert. Als der vierundzwanzigjährige Professor an der Baseler
Universität selbst klassische Philologie zu lehren beginnt, wird die
rhetorische Problematik unmittelbar zum zentralen Thema. 1872 bis
1873 hält er eine Vorlesung über Die Geschichte der Griechischen
Beredsamkeit, 1874 über Rhetorik und 1874 bis 1876 über Die Ge-
schichte der Griechischen Literatur. Nietzsche hielt seine Vorlesungen
über die Rhetorik im Altertum an der Baseler Universität vor einer sehr
kleinen Zuhörerschaft, die zwischen drei und elf Studenten schwankte.
Das ist ein neuedicher Beweis dafür, daß wichtige Dinge meist nicht in
überfüllten Hörsälen, sondern im kleinen Kreis ausgesprochen werden.
"Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen, Gedanken, die
mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt" (Werke, 11, S. 1067). Im
Hinblick auf den Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie sind diese
Vorlesungen außergewöhnlich interessant. In den vorangegangenen Ka-
piteln haben wir immer wieder auf sie zurückgegriffen.

155
Nietzsche betont, daß die Rhetorik bei den ahen Griechen sehr hoch
geschätzt wurde und daß der Rhetor großes Ansehen genoß. Die
Rhetorik war für die Griechen eine Kunst, ja eine der erhabensten
Künste. In ihrer Bindung an die griechische Sprache war sie eine typisch
griechische Kunst, für die es auf anderen Gebieten dieser Kultur keine
Entsprechung gab. Die Griechen waren in erster Linie Wortkünstler,
und ihre Beredsamkeit war ".das Atemholen dieses Künstlervolkes"
(Mus. Ausg., V, S. 7). "Die Erziehung zum Redevirtuosen war die Spitze
der hellenischen Kultur" (Mus. Ausg.) V, S.33). Diese Kunst Zidte
darauf ab, den Anderen mit Hilfe von Worten oder der Sprache zu
überzeugen und zu überreden. Sie diente als technische Fertigkeit zum
Erwerb von Anerkennung und Zustimmung, und zwar einer allgemei-
nen und gemeinschaftlichen Anerkennung und Zustimmung. Ferner
stellte die Rhetorik eine außerordentliche Macht dar,. und ein wahrer,
bedeutender Redner war sich dieser Macht zur Genüge bewußt. Nietz-
sehe schreibt: "Die maßloseste Überhebung, ais Rhetoren und Stylisten,
alles zu können, geht durch das ganze Altertum, in einer für uns
unbegreiflichen Weise" (Mus. Ausg., V, S. 4). Und weiter heißt es: "Im
Reden können concentriert sich allmählich das HeHenische und seine
Macht, es wird wohl auch ihr Verhängnis darin liegen" (ebd.).
Nietzsche untersucht und diskutiert auch Platons feindseliges Verhält-
nis zur Rhetorik. Platon stand in einem endlos,en Streit mit den Sophi-
sten. Er haßte die Rhetorik und verabscheute die Rhetoren. "Er hat
einen großen Haß auf sie" (Mus. Ausg., V, S. 289). Nietzsche fragt sich:
"Wie ist der Kampf Plato's gegen die Rhetorik zu verstehen?" und er
antwortet: "Er beneidet ihren Einfluß!" (Werke, III, S. 337). Eifersucht
auf die Macht,. die der Redner unbestreitbar besaß, ist die einzige
Erklärung für Platons Feindseligkeit. Sie darf jedoch nicht allzu psycho-
logisch verstanden werden. Sie ist ein Ausdruck des Bestrebens,. sich
selbst zu erhalten. Sie ist ein Aspekt des Willens zum Dasein oder des
Willens zur Macht. Platons feindliche Haltung gegenüher der Rhetorik
ist jedoch ebenso ein Ausdruck des sogenannten Pathos der Wahrheit,
das nach Nietzsche letztlich nichts anderes ist als das Verlangen nach
Ruhm und Anerkennung (Mus. Ausg., IV, S. 141-147). Es geht dabei
nicht so sehr um den vergänglichen Ruhm od,er den Beifall des großen

156
publikums, sondern um Anerkennung und Zustimmung von seiten
nicht greifbarer und transzendenter Mächte,. die man sich in seiner
Philosophie erst konstruieren muß. Eine Folge der Platonischen Feind-
seligkeit gegenüber der Rhetorik ist die Entstehung der Metaphysik,. die
nur infolge der Loslösung der Wirklichkeit von dem Sprechen über die
Wirklichkeit möglich ist. Außerdem hat Platons Einstellung zur Folge,
daß die Philosophie im allgemeinen eine ablehnende Haltung gegenüber
der Rhetorik einnimmt. Seit Platon sind beinahe alle Philosophen davon
überzeugt, daß die Philosophie wenig oder nichts mit der Rhetorik zu
tun hat. In philosophischen Kreisen wird diese Überzeugung als selbst-
verständlich hingenommen.
Nietzsche weiß, daß die gesamte philosophis,che Tradition seit Platon
der Rhetorik ablehnend gegenübersteht. Der Philosoph verhält sich
gegenüber jeder Form von Doxa. und Überzeugung argwöhnisch und
verabscheut bewußt und ausdrücklich jede rhetorische Gewalt. Doch
Nietzsehe . . :. der ,.,Lehrmeister des großen Verdachts", wie er sich selbst
nennt (Werke, 11, S. 13) - wird behaupten, daß dieselbe philosophische
Tradition ganz und gar von einer verborgenen, unbewußten und oft sehr
feinen Rhetorik durchzogen und beherrscht wird. Philosophie ist in
seinen Augen einerseits eine Wirkung, andererseits ,ein Ausdruck des
Willens zur Macht. Man muß dies richtig verstehen. Wenn Nietzsche zu
zeigen versucht, daß die bestehende Philosophie rhetorisch ist, will er
dadurch zweifellos ihre Prätentionen entlarven. Er will ihr jedoch
keineswegs emne nicht-rhetorische Philosophie entgegenstellen. Auch
seine eigene Philosophie ist rhetorisch; und sie ist es sogar bewußt und in
einem besonderen Maße. Nach Nietzsche kann es keine andere als eine
rhetorische Philosophie geben. Der Philosoph "dekretiert" die Wahr-
heit. Er müßte dies anerkennen, und gerade die Tatsache, daß er sich
weigert, es zu tun, macht die Dekadenz der Philosophie aus.
Warum wird die Philosophie von einer verborgenen und subtilen
Rhetorik durchzogen? Die formalste und allgemeinste Antwort auf diese
Frage lautet: Weil das Philosophieren eine Sache der Sprache, der
Interpretation und Übersetzung ist und weil die Philosophie ausschließ-
lich aus einem Netz von Wörtern und Satzteilen besteht. Und Sprache
als solche ist wesentlich rhetorisch. "Die Sprache ist Rhetorik" (Mus.

157
Ausg., V, S.298). Ausgehend von den rhetorischen Figuren und dem
Problem der Interpretation werden wir letzteres im Rückgriff auf Nietz-
sche zu erläutern suchen.
In den Baseler Vorlesungen spricht Nietzsehe wiederholt und aus-
drücklich über die rhetorischen Figuren, namentlich über die Metapher,
die Synekdoche und die Metonymie (Mus. Ausg., V, S.297-300 und
S.316-319), die er hier auch definiert. Vielleicht ist diese Definition
vom Standpunkt verschiedener zeitgenössischer Studien her gesehen
recht problematisch, doch das ist hier nicht weiter von Bedeutung. Der
Begriff Metapher wird von Nietzsche meist als Sammelbezeichnung für
alle rhetorischen Figuren verwandt, die eine Übertragung, Verschiebung
oder Wandlung der Bedeutung mit sich bringen. Im engeren Sinne wird
unter Metapher ein verkürzter Vergleich verstanden, d. h. ein Vergleich,
in dem die Worte "wie" oder "so wie" ausgelassen werden. Zum Beispiel:
"Jan ist so dumm wie ein Esel" und ,.,Jan ist ein Esel". Bei der Metapher
findet nach Nietzsehe stets ein Übergang von einer Ordnung zu einer
anderen statt, z. B. von der menschlichen zur nicht-menschlichen (der
Fuß des Berges), von der nicht-menschlichen zur menschlichen O'rd-
nung (Person, Subjekt), von der Zeit zum Raum Gahr aus, Jahr ein) usw.
Die Synekdoche ist ein Ausdruck, durch den man einen Aspekt einer
Sache für das Ganze oder einen bestimmten Eindruck, den die Sache
erweckt, für sie selbst nimmt ("Dach" anstelle von "Haus" oder
"Schlange" aufgrund einer schlängelnden Bewegung). Die Metonymie
ähnelt der Synekdoche sehr. Bei ihr geht es um eine Verwechslung, z. B.
von Ursache und Wirkung oder umgekehrt ("S c hweiß" anstelle von
ec
"Arbeit", "der Autor ansteHe "des Werkes").
Das Wichtigste ist jedoch für Nietzsche, daß in jeder dieser Figuren
ein Übergang, eine Verwechslung, eine Verschiebung oder eine Übertra-
gung stattfindet. Das W~~t "Meta-pher" oder" übertragend" bringt dies
zum Ausdruck. Dieser Uhergang kann bewußt als literarischer Prozeß
ausgeführt werden. Meistens vollzieht er sich jedoch unbewußt. Ferner
gehört es auch zu seinem Wesen, daß er so sehnen wie möglich vergessen
wird und seine Spuren sich verwischen. Letzter·es kann sich aus dem
häufigen Gebrauch des jeweiligen Ausdrucks ergeben. Die Metapher
nutzt sich ab wie eine Münze,. die von Hand zu Hand geht. Das

158
Verwischen der Spuren ist jedoch in erster Linie die Folge eines aktiven
Vergessens oder einer Art von Verdrängung.
Nietzsche wird in der Folge behaupten, daß alle Wörter das Ergebnis
eines solchen Übergangs sind. Er schreibt: ,.,Alle Wörter aber sind an sich
und von Anfang an, in Bezug auf ihre Bedeutung Tropen. Von einer
eigendichen Bedeutung, die nur in speziellen Fällen übertragen würde,
kann gar nicht die Rede semn. Ebensowenig wie zwischen den eigentli-
chen Wörtern und den Tropen emn Unterschied ist, gibt es einen zwi-
schen der regelrechten Rede und den sogenannten rhetorischen Figuren.
Eigentlich ist aUes Figuration, was man Rede nennt. Die Tropen treten
nicht dann und wann an die Wörter heran, sondern sind deren eigenste
Natur" (Mus. Ausg., V, S. 299-300). Die gesamte Sprache als ein System
von Wörtern ist für Nietzsche eine Aneinanderreihung von Tropen und
Figuren. Der Unterschied zwischen eigentlichen und uneigentlichen
Ausdrücken ist unhaltbar. Es gibt daher auch keine sogenannten ad-
äquaten Formulierungen. Die Sprache ist ihrem Wesen und ihrer Struk-
tur nach metaphorisch und rhetorisch. Von daher erklärt sich, warum
Nietzsche in seinem späteren Werk immer weniger über die rhetorischen
Figuren spricht, um so mehr aber über die Wörter als solche.
Die Wörter sind nach Nietzsche das Resultat einer Reihe von kompli-
zierten Mechanismen und haben für den Status des Menschen und seiner
Welt konstitutive Bedeutung. Wörter sind möglich aufgrund eines Ab-
kürzungsprozesses, aufgrund eines Vergessens,. durch Auslassung und
Verdrängung. Sie werden geprägt durch das Gleichstellen des Nicht-
Gleichen, durch das Abbrechen oder Einstellen einer Bewegung, das
Verwechseln von Ursache und Wirkung, von Aktivität und Passivität,
durch die Vereinfachung oder Vereinheitlichung einer Vielheit, durch
das Verfälschen oder Fingieren der Wirklichkeit. Diese Mechanismen
sind eine notwendige Bedingung, um sprechen und schreiben zu kön-
nen. Wir gebrauchen die Wörter, um eine Leere auszufüllen, einen
Mangel zu kompensieren. "Wir stellen ein Wort hin, wo unser,e U nwis-
senheit anhebt" (w. z. M., § 482). Wir gebrauchen Wörter, um uns selbst
und unsere Welt instandzuhalten, denn es gehört nun einmal zu unserem
Bedürfnis nach Selbsterhaltung, uns einer Welt der Beständigkeit, einer
Welt der "Dinge« zu versichern (w. z. M., § 715).

159
In erster Linie bedeutet dies, daß di,e Wörter nichts Wirkliches
bezeichnen. Dies gilt insbesondere von Wörtern wie "das Ich", "der
WiHe", "die Macht" usw. Es gilt auch für alle Wörter eines philosophi-
schen Textes. "Subjekt, Objekt, ein Täter zum Tun, das Tun, und das,
was es tut, gesondert: vergessen wir nicht, daß dies eine bloße Semiotik
und nichts Reales bezeichnet" (Werke, IU, S. 777). Es bedeutet auch,
daß jedes Wort eine Unwahrheit einfuhrt, eine Verfälschung, eine Fik-
tmon, ein Irrtum ist. Hier ist jedoch Vorsicht geboten. Verfälschung und
Irrtum suggerieren, daß eine wahre Welt besteht, die durch das Wort
verfälscht wird. Das hat Nietzsche nicht gemeint. Er versucht vielmehr
den Unterschied oder den Gegensatz zwischen "wahr" und "falsch"
aufzuheben. Es besteht nichts anderes als unsere tatsächliche Welt, die
primär eine Weh von Wörtern ist. "Wohin ich sehe, lese ich Worte und
Winke zu Worten, aber ich weiß nicht, wo der Satz beginnt, der das
Rätsel all dieser Winke löst" (Werke, I, S. 929). Die Wörter bringen eine
Anzahl von Fiktionen hervor,. und ihre Gesamtheit nennen wir gewöhn-
lich die Welt oder die Wirklichkeit. Wir halten diese Fiktionen fortwäh-
rend uns selbst und einer dem anderen vor, so daß eine gewisse Gemein-
schaftlichkeit und ein gegenseitiges Verständnis entstehen. Wir verfüh-
ren einander und werden von einander verführt, und so erhalten wir uns
gegenseitig auf paradoxe Weise.
Das Problem der Interpretation, wie Nietzsche es sieht, schließt eng
hier an. Philosophie ist für ihn nichts anderes als eine Interpretation oder
ein Geflecht von Interpretationen. Das Wort "Interpretation" bedeutet
hier in erster Linie: Formulierung, Übertragung oder Übersetzung.
Interpretation ist eine Form von Dichtung. ),Der Philosoph dichtet,
indem er erkennt, und er erkennt, indem er dichtet" (Philosophenbuch,
S.194). Es ist ein "Auslegen", das zugleich ein "Hineinlegen'< ist
(w. z. M., § 556) oder ein "Wiederfinden" dessen, was man Zuvor "hin-
eingesteckt" hat (w. z. M., § 606). Interpretieren heißt, aBes, was ist und
geschieht, in einem zuvor entworfenen Seins schema unterbringen und es
nach überlieferten Kategorien und Modellen ordnen. Zu diesem Zweck
ist es einerseits notwendig, viele Aspekte zu vergessen und etwas nicht
wissen zu wollen, andererseits etwas hinzuzufügen und zu phantasieren.
Die Interpretation zielt darauf ab,. die Weh formulierbar und berechen-

160
bar zu machen (w. z. M., § 516) und eine gewisse Macht über sie zu
erwerben (w. z. M., § 643). Durch die Interpretation ermöglicht man das
menschliche Dasein und schafft ein gegenseitiges Verständnis (Wo z. M.,
§ 513).
Interpretation ist nach Nietzsche nicht die Interpretation von etwas,.
von Tatsachen oder von Wirklichkeit (genitivus objectivus). Etwas, eine
Tatsache oder die Wirklichkeit, ist für ihn immer schon das Resultat
einer Interpretation. "Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen"
(w. z. M., § 481). Die Interpretation ist dementsprechend stets eine
Interpretation früherer oder älterer Interpretationen. Sie ist "eine neue
Auslegung über eine alte Auslegung, die jetzt nur Zeichen ist" (w. z. M.,.
§604). Die Interpretation ist ein Text, der viel von einem "Palimpsest"
oder sogar von einem "Polypsest" an sich hat (Werke, I, S.226). Ein
Netz von Interpretationen macht sozusagen die Runde, und der Mensch
ist fortwährend damit beschäftigt. Wörter wie Subjekt und Objekt, Ich
und Welt, Tatsache und Ding, Gott und Mensch sind Fragmente dieses
Netzes. Es sind SteHen aus einem alten,. überlieferten Text.
Die Interpretation ist auch nicht jemandes Interpretation (genitivus
subjectivus). Wiederholt geht Nietzsche auf die Frage ein,. wer interpre-
tiert, wer spricht und schreibt. "Wer redet?" (W z. M.) § 275). Im
Rahmen der traditionellen Philosophie, in der die menschliche Subjekti-
vität eine besondere SteHe einnimmt, ist man unmittelbar geneigt zu
antworten: der Mensch! Er soll derjenige sein" der die möglicherweise
fingierte Welt aufgebaut hat, der die philosophische Rede führt. Ein
solcher Standpunkt entwickelt sich leicht zum Subjektivismus. Nietz-
sche ist jedoch kein Subjektivist. "Es ist alles subjektiv, sagt ihr, aber
schon das ist Auslegung" (w. z. M., § 481). Er wird behaupten, daß auch
der Mensch als Interpretierender oder als Subjekt und Ursprung der
sprachlichen Darstellung eine Fiktion, eine Konstruktion ist. Auch der
Interpretierende hinter der Interpretation ist ,.,etwas Hinzu-Erdichtetes,
Dahinter-Gestecktes" (w. z. M., § 481). So, wie der Täter hinter dem
run "hinzugedichtet" ist, ist auch er das Ergebnis einer Interpretation
(Werke, 11, S. ~90). Einen Interpretierenden hinter oder losgelöst von
der Interpretauon zu behaupten, stdlt den letzten Rest eines Glaubens
an das Semende oder die Präsenz, an die Subjektivität oder Gott dar. Und

161
dieser Glaube ist wiederum eine Interpretation. Letzten Endes darf man
deshalb auch nicht fragen, wer denn interpretiere. "Man darf nicht
fragen: wer interpretiert denn?, sondern das Interpretieren sdbst als eine
Form des Willens zur Macht, hat Dasein" (w. z. M., § 556). In jedem
Fall verwendet man im Sprechen Wörter,. die bekannt und vertraut sind.
Nietzsche sagt: "Wir drücken unsere Gedanken immer mit den Worten
aus, die uns zur Hand sind. Oder um meinen ganzen Verdacht auszu-
drücken: wir haben in jedem Momente eben nur den Gedanken, für
welchen uns die Worte zur Hand sind, die ihn ungefähr auszudrücken
vermögen." (Werke, I, S. 1177) Die Wörter, die wir gebrauchen, werd,en
uns überliefert, sie kommen aus einer langen Tradition heraus zu uns. Sie
sind Teil der Rede, die seit Menschengedenken geführt wird, oder des
Netzes von Interpretationen, die in der Weh die Runde machen. Sie
bestimmen und beherrschen unser Denken und unser Bewußtsein.
Außerdem liegt in den Wörtern oft eine ganze Mythologie und sogar
eine Theologie beschlossen. Wir können uns diesen Verhältnissen nie-
mals gänzlich entziehen. Jede Interpretation bedient sich vorangehender
Interpretationen.
Interpretieren heißt Formulieren. Es ist eine Art zu sprechen. Wenn
gesprochen wird, ist es niemals einfach nur der Mensch, der spricht. Der
Mensch wird gesprochen. Diese Formulierung findet sich nicht bei
Nietzsehe; sie stammt von J. Lacan. Er schreibt: "Le sujet est parle,
plutal qu'il ne parle" (Ecrits, S. 280). Bei Nietzsehe ist jedoch folgend.es
zu lesen: ,.,Der Skeptiker sagt: ,Ich weiß durchaus nicht, was ich tue! Ich
weiß durchaus nicht, was ich tun soll!'" Er antwortet darauf: "Du hast
recht, aber zweifle nicht daran: du wirst getan! In jedem Augenblicke!
Die Menschheit hat zu allen Zeiten das Aktivum und das Passivum ver-
wechselt, es ist ihr ewiger grammatikalischer Schnitzer." (Werke, I,
S. 1096). Der Mensch wird getan; er wird auch gesprochen. Er ist nicht
Subjekt und nicht Urs·prung, nicht Zentrum und nicht Eigentümer
seiner Wörter. Jede Affirmation des Menschen als Subjekt oder Zentrum
ist in Nietzsches Augen immer noch eine ,.• metaphysische" und sogar
".theologische" Behauptung.
Das Interpretieren im Sinne Nietzsches ist das Spid, beständig zu
verführen und verführt zu werden, sich sdbst und die anderen zu

162
überzeugen und von anderen überzeugt zu werden. Man kann sich
diesem Spiel nicht entziehen. Übrigens ist dies nicht wünschenswert,
denn alles,. was wir sind, verdanken wir diesem Spie1. Es ist das Spiel
des Willens zur Macht. Das einzige, was wir tun können, ist zu ver-
suchen, etwas Einblick in dieses Spiel zu erhalten, aber auch diese
Einsicht bleibt stets eine Interpretation und ist wiederum eine Folg,e
der Verführung.
Wenn nun Philosophie eine Interpretation ist, muß es ein Kriterium
geben, um zu entscheiden, ob eine bestimmte Interpretation angemessen
ist oder nicht. Kann man gleichermaßen alles behaupten, oder sind dem
Sprechen doch Grenzen gesetzt? Nietzsehe entgegnet darauf das Fol-
gende. Erstens ist eine Unendlichkeit von Interpretationen möglich.
Die Welt ist uns noch einmal unendlich geworden, insofern wir die
"
Möglichkeit nicht abweisen können, daß sie unendliche Interpretationen
in sich schließt" (Werke, II, S. 250). Nietzsche spricht von einer ,.,neuen
Unendlichkeit" und nennt dies auch seinen "Perspektivismus". Jede
Interpretation ist eine bestimmte Perspektive. Der Perspektivismus
hängt mit der metonymischen Struktur jeder möglichen Interpretation
zusammen. ] ede Perspektive und jede Interpretation sind nur aufgrund
eines "Nicht-wissen-Wollens" und eines "aktiven Vergessens" möglich.
Wir Menschen können nicht anders als auf diese Weise interpretieren
und müssen uns damit begnügen. Das Wissen um die Perspektivität
selbst darf jedoch niemals vergessen werden. Zweitens ist eine Perspek-
tive oder Interpretation nur insoweit tauglich oder besteht nur insofern
zu Recht, wie sie Macht besitzt. Jede Interpretation hat insoweit recht,
wie sie mächtig oder imstande ist, eine Welt einzurichten, in der man gut
lebt. Der Philosoph muß deshalb auch die Aufgabe eines Gesetzgebers
übernehmen. "Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und
Gesetzgeber" (Werke, II, S. 676). Die Wahrheit muß angeordnet werden,
und dies kann nur durch eine starke und kräftige Rede geschehen.
Nietzsches Haupteinwände gegen die (platonische) Metaphysik lauten
daher: Sie hat den Perspektivismus vergessen und ihre eigene Interpreta-
tion verabsolutiert. Sie hat ferner - um ein bekanntes Wort von Marx zu
gebrauchen - die Wdt nur unterschiedlich interpretiert statt sie zu ver-
ändern.

163
Für Nietzsche hat allem Anschein nach der Wille zur Macht das letzte
Wort. Er beherrscht und bestimmt das Sprechen. Er ist der wichtigste
Faktor, der das Faktum der Philosophie erklären kann, und er fungiert
als entscheidendes Kriterium für die Rechtmäßigkeit einer Interpreta-
tion. Hierin besteht natürlich eine grundsätzliche Schwierigkeit. Ist der
Wille zur Macht nicht selbst eine Interpretation? SteHt er nicht gleicher-
maßen eine beschränkte Sicht, eine bestimmte Perspektive dar, die von
Nietzsehe verabsolutiert wird? D,er Wille zur Macht ist selbst nur ein
Wort. Fällt Nietzsehe auf diese Weise in die traditioneHe Metaphysik
zurück? An die Stelle von Aristoteles' "energeia", von Platons ,.,idea ce,
des mittelalterlichen "Gottes", d,er "Subjektivität" der Moderne, des
"Geistes" bei Hege! und des "Willens" bei Schelling und Schopenhauer
tritt hier als letzte Erklärung und als letztes Wort der "Wille zur Macht" .
Dies ist Heideggers wichtigster Einwand gegen Nietzsche. Aufgrund der
Behauptung des Willens zur Macht als eines ersten und letzten Prinzips
soll Nietzsche - so Heidegger - der letzte große Metaphysiker sein. Bei
ihm soll die Metaphysik selbst zur Vollendung gdangen. Das Problem
ist vielleicht doch noch etwas komplizierter als Heidegger es uns dar-
stellt.
Im § 22 seines Buches Jenseits von Gut und Böse spricht Nietzsehe
ausdrücklich vom Willen zur Macht,. der in allem wirksam sein soll und
wahrhaft tyrannisch die Wirklichkeit beherrscht. Er fügt j'edoch hinzu:
"Gesetzt, daß auch dies nur Interpretation ist - und ihr werdet eifrig
genug sein, dies einzuwenden? - nun, um so besser.(' (Werke, 11, S. 586)
Auch der Wille zur Macht soU nur eine Interpretation sein, nur eine
Perspektive oder nur ein Wort. Wenn das richtig ist, müßte das letzte
Wort "Interpretation(' lauten. Die Frage, die dann zu stellen wäre, heißt:
"Interpretation (C, was ist das? Man muß mit dieser Frage j!edoch vorsich-
tig umgehen. Nach Nietzsche stellt jede "Was-Frage" schon die Einord-
nung von etwas in ein zuvor entworfenes Seins schema dar. Die Frage
nach dem Wesen einer Sache ist eine philosophische Frage, und die
Antwort darauf ist stets eine philosophische Interpretation. Die Frage
nach der Interpretation kann darum nur auf strategische Weise gestellt
werden. In jedem Fall ist das Interpretieren keine substantielle Wirklich-
keit und kein Subjekt, das sich selbst besitzt. Es hat keinen Mittelpunkt

164
und ist sich selbst nicht einsichtig. Das Interpretieren ist nicht für sich
selbst gegenwärtig. Es ist auch für den Menschen nicht vollkommen
einsichtig zu machen. In jeder Frage nach dem Interpretieren wird es
selbst schon vorausgesetzt. Ebensowenig wie die Frage nach der Sprache
und dem Sprechen außerhalb der Sprache und des Sprechens gesteHt
werden kann, läßt sich die Frage nach dem Interpretieren von der Inter-
pretation lösen.
Wenn man sich diese Schwierigkeiten vor Augen hält, kann man
vielleicht mit aller gebotenen Vorsicht sagen, daß, das Interpretieren ein
Geschehen ohne Zentrum und ohne Ort ist. Dieses Geschehen ist der
rhetorische Austausch eines Netzes von Überzeugungen, eines Gewebes
von Worten. Diesem Geschehen entnimmt der Mensch seine konkrete
Existenz,. sein Bad von sich selbst und seiner Welt, seine Ideale und
Erwartungen, seine Fragen und Antworten. In diesem Geschehen wird
auf metonymische und perspektivische Weise alles das offenbar, wovon
man interpretierend sagt, daß es "ist". Nietzsche neigt jedoch beständig
zu der Behauptung, daß jede Interpretation eine Verfälschung, j1ede
Formulierung eine Verzeichnung ist. Die Sprache ist für ihn Unwahr-
heit. Vielleicht käme man ein gutes Stück weiter, wenn man wirklich
ernst nähme, daß es nichts anderes als Interpretation gibt und daß diese
Interpretation dann das ,;lnsWerk setzen der Wahrhemt« (Heidegger) ist.
Eine andere Wahrheit als diejenige, die im Sprechen und Schreiben
geboren wird, gibt es nicht. Alles Sprechen und Schreiben ist demnach
ein Enthüllen und Verbergen, nicht von etwas, das schon irgendwo auf
irgend eine Weise für irgendeine Instanz präsent wäre, sondern ein
Enthüllen und Verbergen, das als ein originales und originäres Gesche-
hen das Seiende in Erscheinung treten und verschwinden läßt. Diese
Auffassung entspricht jedoch eher Heidegger als Nietzsche; vielleicht
hat aber Heidegger das Geschehen des Sprechens und Schreibens noch
tiefer durchdrungen als Nietzsche.

165
xv. Die Philosophen und die Metap,horik

In der rhetorischen Literatur ist seit dem klassischen Altertum bis in


unsere Tage hinein viel über die Metapher gesprochen worden. Die
Rhetorik zeigt sogar in zunehmendem Maße die Neigung, sich auf das
Studium der Stilfiguren zu beschränken, unter denen die Metapher einen
hervorragenden Platz einnimmt. Wenn man diese - übrigens kaum noch
überschaubare - Literatur zur Metaphorik ins Auge faßt, fällt sofort auf,
daß über die Definition der Metapher, über ihre Stellung und ihre
Funktion, über ihren Sinn und Wert in der Rede große Uneinigkeit
besteht. Ferner wird man feststeHen, daß die Auffassungen der verschie-
denen Philosophen über den metaphorischen Sprachgebrauch erheblich
voneinander abweichen.
Eine klassische Definition der Metapher findet sich in Aristoteles'
Poetica (XXI, 7). Er schreibt: "IlEl0cpOgU Ö'EOtLV 6v6Ila'to~ aAA01[;Q(ov
bucpogu." Schon die Übersetzung bringt viele Schwierigkeiten mit sich
und hat zahlreiche Diskussionen in Gang gebracht. Ross ühersetzt sehr
frei: "Metapher consists in giving the thing a name that belangs to
something else" (1457 b 7). Eine wördichere Übersetzung lautet: "Eine
Metapher ist eine Übertragung eines Wortes (cl. h. seiner Bedeutung) auf
etwas anderes". Oder deutlicher gesagt: eine Metapher ist der übertra-
gene Gebrauch eines Wortes. Aristoteles fügt hinzu: "Metapher ist die
Übertragung eines fremden Nomens, entweder von der Gattung auf die
Art oder von der Art auf die Gattung oder von einer Art auf eine andere
oder gemäß der Analogie." Der Zusatz ist weniger eine Bestimmung der
Metapher als vielmehr eine gewisse Klassifikation unterschiedlicher Ar-
ten von Metaphorik. Aristoteles' Bestimmung ist in fast allen Untersu-
chungen über die Metapher wiederzufinden. Das bedeutet kemneswegs,
daß man ihr uneingeschränkt zustimmt. Das Gegenteil ist der FalL Die
größte Schwierigkeit der Definition liegt in ihrer Unbestimmtheit. Die
Übertragung (metaphora) wird nämlich als Übertragung (epiphora) be-

166
zeichnet. Auf die vielen Diskussionen, die hierüber geführt wurden,
gehen wir an dieser Stelle nicht ein.
CC
Bei Quintilian heißt es: "Metaphora est brevior similitudo (Institutio
Oratoria, VIII, 6, 4) - die Metapher ist ein kürzerer Vergleich. Auch die
Interpretation dieser Bestimmung hat zahlreiche Probleme aufgeworfen.
In dem übrigens ebenso klassischen Traite des tropes von Dumarsais
(1730) findet man die folgende Definition: "La metaphore est une figure
par laquelle on transporte pour ainsi dire (sie) la signification propre
d'un mot a une autre signification qui ne lui convient qu'en vertu d'une
comparaison qui es! dans l'esprit" (Traite, 1,4). Im Groot Woordenboek
der Nederlandse taal von Van Dale liest man: "Die Metapher ist ein
übertragender, figürlicher Ausdruck, der auf einem Vergleich beruht
(Beispiel: Wüsten schiff für Kamel). ce Man könnte viele andere Bestim-
mungen dieser Art zitieren. H. H. Lieb kommt in seiner Dissertation
Der Umfang des historischen Metapherbegriffs sogar auf 125 verschie-
dene Definitionen. Die meisten von ihnen enthalten die folgenden
Wörter: L übertragend,. figürlich, 2. Vergleich, Analogie, 3. eigentlich
und uneigentlich. Wir werden darauf noch zurückkommen.
Auch über die Stellung und die Funktion,. den Sinn und den Wert der
Metapher besteht keine Einigkeit. Für manche Autoren ist sie lediglich
eine Verzierung oder ein Ornament. Sie ist ein reiner Zusatz um der
Schönheit,. Eleganz oder Lebendigkeit willen. Vielleicht dient sie der
Verdeutlichung oder Erklärung. Sie kann darauf abzielen,. etwas zu
akzentuieren oder Aufmerksamkeit zu erregen. Für viele andere Auto-
ren ist die Metapher eine bittere Notwendigkeit. Sie ist kein Zusatz, son-
dern gehört unbedingt und unverzichtbar zum Sprechen.
Die Haltung der Philosophen gegenüber dem metaphorischen Sprach-
gebrauch schwankt zwischen radikaler Ablehnung und uneingeschränk-
ter Verherrlichung. Zwischen diesen Extremen gibt es zahlreiche nuan-
ciertere Standpunkte. Wir treffen unter ihnen eine Auswahl und be-
schränken uns darauf, einige charakteristische Positionen zu besprechen.
Viele Autoren vertreten den Standpunkt: Es existiert ein radikaler und
rigoroser Unterschied zwischen dem metaphorischen, figürlichen, unei-
gentlichen und übertragenen G·ebrauch der Sprache einerseits und ihrer
exakten,. adäquaten, wörtlichen und nicht übertragenen Verwendung

167
andererseits. Wissenschaft und Philosophie schließen grundsätzlich je-
den metaphorischen Sprachgebrauch aus. Die Philosophie muß und
kann zu einer adäquaten und exakten Ausdrucksweise gelangen. Die
Metapher ist ein letzter und zugleich auch gefährlicher und verführeri-
scher Rest eines nicht wissenschaftlichen Sprechens, ein Rudiment auf
dem Weg "vom Mythos zum Logos«. Die Behauptung, etwas sei meta-
phorisch oder bloß metaphorisch, besagt, daß es nicht wissenschaftlich
und nicht streng philosophisch sei. Darin ist folglich auch eine Anklage
oder ein Vorwurf enthalten. Es wird ein Mangel oder eine Störung ang,e-
zeigt, die behoben werden muß.
Andere Autoren - unter ihnen die Romantiker - unterscheiden zwar
eine metaphorische, gegebenenfalls poetische Sprache von einer exakten
und streng wissenschaftlichen Sprache. Um jedoch auszusprechen, was
den Menschen wirklich bewegt, ist nur das poetische Sprechen angemes-
sen. Der Philosoph muß "die Sprache der Götter" (Hemsterhuis) spre-
chen. Man findet diesen Standpunkt u. a. bei N ovalis, für den das
Dichten der höchste Grad des Denkens ist und nur eine poetische
Philosophie die Wahrheit auszudrücken vermag. Auch Hölderlin vertritt
diese Auffassung. Für ihn ist "die Dichtung Anfang und Ende aller
Wissenschaft". Einen ähnlichen Standpunkt findet man häufig auch bei
verschiedenen zeitgenössischen Verteidigern der Metaphysik. Sie ver-
weisen meist auf das Problem der Analogie, das schon bei Aristoteles mit
dem der Metaphorik verbunden ist.
Wieder andere Autoren behaupten, daß die Spra.che an sich metapho-
risch ist und daß die Unterscheidung zwischen eigentlicher und unei-
gentlieher Sprache keinen Sinn hat. Man beruft sich hierbei - vielleicht
zu Unrecht - auf Quintilians Wort: "Paene iam quidquid loquimur
figura est" (lnst. Or., IX, 3). (Beinahe alles, was wir sagen, ist figürlich.)
Die Behauptung, daß die Sprache an sich metaphorisch ist und die
Unterscheidung zwischen eigentlichen und uneigentlichen Ausdrücken
keinen Sinn hat, findet man bei Nietzsche, wie wir im vorangegangenen
Kapitel gesehen haben. Er vertritt sicherlich nicht als einziger diese
Auffassung. Jean Paul schreibt in seiner Vorschule der Ästhetik (1804):
"Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörter-
buch erblaßter Metaphern" (S. 179). Georg Runze vermerkt in seinem

168
Aufsatz Sprache und Religion (]889): "Der metaphorische Ausdruck ist
die Grundbestimmtheit der menschlichen Sprache überhaupe' (S.14).
Nach seinem Dafürhalten hat jedes Wort eine metaphorische und,. wie er
sagt, imaginäre Komponente, die den "Begriff" verdunkelt. Selbst in den
abstraktesten Wörtern trifft man noch auf Rudimente einer Mythologie,
der man niemals völlig entgehen kann. Als Beispiele nennt er: Materie,
Geist, Substanz, Kraft, Schwere usw. Sowohl bei Jean Paul als auch bei
Runze erlangt das Problem der Entstehung von Wörtern besondere
B,edeutung. Einen interessanten Standpunkt nimmt A. Biese ein. Im
zweiten Kapitel seines Werkes Die Philosophie des Metaphorischen in
Grundlinien dargestellt (1893) sagt er: "Die Sprache ist durch und durch
metaphorisch: sie verkörpert das Seelische und sie verg,eistigt das Kör~
perliche, sie ist ein analoges Abkürzungsbild alles Lebens, das auf einer
Wechselwirkung und inniger Verschmelzung von Leib und Seele beruht"
(S.22). Für Biese ist die Sprache durch und durch metaphorisch. Es ist
demnach unmöglich und falsch, einer eigentlichen oder wörtlichen
Bedeutung eine uneigentliche oder figürliche entgegenzustellen, "denn
was dem unwissenden Menschen als eigentlich erscheint, ergibt sich für
den Forscher als durchaus bildlich" (S.24).
Biese sieht die ganze Problematik der Metapher auf dem Hintergrund
des Gegensatzes zwischen Seele und Körper oder zwischen der sinnli~
chen und der intelligiblen Welt. Fast alle Autoren, die zwischen eigentli-
cher und uneigentlieher Sprache unterscheiden, machen übrigens von
dies,em Gegensatz Gebrauch. Für Biese ist er jedoch problematisch.
Einerseits gilt ihm Sinnlichkeit stets als vergeistigt und Körperlichkeit
stets als beseelt. Andererseits ist der Geist stets mit dem Stoff verschmol-
zen. In der Sprache kommt diese Wechselwirkung zwischen Körper und
Seele, zwischen Stoff und Geist zum Ausdruck.. Im fünften Kapitel
seiner Philosophie des Metaphorischen spricht er eigens über die Meta-
pher in der Philosophie. Er bezieht hier direkt Stellung gegen Hegel,
ohne ihm übrigens gerecht zu werden. Hegels Dialektik ist in seinen
Augen eine Dialektik des reinen Denkens, und eine solche Dialektik ist
bloßer Wahn. Ein reines Denken gibt es einfach nicht, und Hegel ist
zweifellos ein Opfer des metaphorischen Scheins . Alle Ideen sind nur
H ypostasierung.en der Sprache oder unbewußte metaphorische Personi-

169
fikationen. Dies gilt auch für die Substanz bei Spinoza,. das Ich bei
Fichte, das Absolute bei Hegel, den Willen bei Schopenhauer und das
Unbewußte bei E. von Hartmann. Biese schreibt: "Wir kommen eben
nimmer, auch im Denken nicht, aus dem ,metaphorischen Leihen'
heraus; und eine Geschichte des Metaphorischen ist nicht nur eine
Geschichte der menschlichen Irrtümer, sondern überhaupt der Mensch-
heit mit ihren Schranken des Wissens und Glaubens und Schaffens. C(

(S. 115) Die Geschichte der Philosophie ist für Biese eine Geschichte von
Irrtümern. Er ist ein ausgesprochener Sprachskeptiker. Doch läßt er es
dabei nicht bewenden. Am Ende seines Werkes schreibt er: "Das
Metaphorische ist das Göttliche im Menschen, das wahrhaft Schöpferi-
sche, soweit es die Durchgeistigung des Stoffes bedeutet,. soweit es Geist
in die Natur, Leben in das Starre und Tote trägt." (S. 224) Die Metapher
hat eine schöpferische Funktion. Sie läßt neue Bedeutungen entstehen
und stiftet neuen Sinn.
Wenn Autoren wie Runze und Biese behaupten, daß alle Wörter
ursprünglich und endgültig Metaphern sind, besteht die Gefahr, daß das
Wort "Metapher" seine Bedeutung verliert. Man entbehrt dann jeder
Möglichkeit, zwischen Ausdrücken wie "ein Meer von Tränen" und
"das Meer, das zwischen England und dem Kontinent liegt", oder "das
Schiff der Wüste" und "das Schiff im Hafen" zu unterscheiden. Fällt
dieser Unterschied weg, kann man gewissen Philosophen nicht länger
vorwerfen, daß sie "nur metaphorisch" sprechen. Dennoch erhebt Biese
diesen Vorwurf gegen Hege!. Nietzsche war in dieser Hinsicht radikaler;
er erkannte die Schwierigkeiten, die mit einem solchen Vorwurf verbun-
den sind.
Nietzsehe, Jean Paul, Runze, Biese, in einem gewissen Maße sogar
Schelling und viele andere wie G. Gerber, O. F. Gruppe, F. M. Müller
und F. Mauthner bestätigen, jeder auf seine Weise, die Universalität der
Metapher. Sie lehnen die Unterscheidung zwischen übertragenem und
eigentlichem Sprechen ab und behaupten, daß alles Sprechen ursprüng-
lich und ]etztendlich metaphorisch ist. Bei den meisten führt dies zu
einem gewissen Sprachskeptizismus. Metaphysik ist in ihren Augen
unmöglich oder zumindest eine äußerst problematische Sache. Noch ein
anderer Denker nimmt eine derartige Haltung gegenüber der Metapho-

170
rik ein; es ist Karl Jaspers. Bei ihm führt sie jedoch keineswegs zu einem
Skeptizismus. Vielmehr eröffnet der metaphorische Charakter des Spre-
chens aus seiner Sicht den Raum, innerhalb dessen eine Metaphysik
möglich wird.
Jaspers hat in sein Werk Von der Wahrheit (1947) auch ein Kapitel
über die Sprache aufgenommen. In einem Paragraphen mit dem Titel
,.,Die Universalität der Metapher" (S. 398-399) behauptet er, daß zwi-
schen Wörtern mit eigentlicher Bedeutung und solchen, die als Meta-
phern angesehen werden, nur ein relativer Unterschied besteht. Wörter
mit eigentlicher Bedeutung sind diejenigen, bei denen man, durch ihren
ständigen Gebrauch, vergessen hat, daß sie Metaphern sind. Voller
Zustimmung zitiert er Nietzsche und G. Gerber: "Alle Wörter sind
Lautbilder und in Bezug auf ihre Bedeutung an sich und von Anfang an
Tropen; ,eigentliche Worte( gibt es in der Sprache nicht.« Er fährt fort,
daß die Wörter nur dadurch eine sogenannte eigentliche Bedeutung
erlangten, daß wir ihren Ursprung vergessen. Die Einsicht in den
Grundcharakter der Sprache hat zahlreiche Konsequenzen für die Inter-
pretation, die Kommunikation und den "Zeichencharakter" der Spra-
che. Wörter sind niemals reine (eindeutige) Zeichen, sondern eröffnen
aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit ein ganzes Bedeutungsfeld. Die Sprache
ist das Medium, in dem sich die Philosophie entfaltet, und das Denken
ist an sie gebunden. Zweifellos handelt es sich um ein unzulängliches
Mittel, und das Denken hat deshalb auch seine Grenzen. Dieses M,edium
besitzt jedoch einen eigenen Reichtum, und zwar gerade weil die Wörter
metaphorisch sind und einen ganzen Bereich von Verweisungen eröH-
nen. Jaspers hält die Sprachkritikeinerseits für sehr nützlich, da sie uns
von vielen Irrtümern und Versehen, die sich aus der Sprache ergeben,
befreien kann. Sie kann uns auf nichtssagende Wörter, Doppeldeutigkei-
ten und das Übergewicht einer Terminologie hinweisen. Sie kann uns
auch von einem weit verbreiteten ".$prachaberglauben ce befreien, in dem
der Verweisungscharakter der Wörter verlorengegangen ist. Anderer-
seits aber hat die Sprachkritik auch ihre Grenzen, denn die Sprache ist
nun einmal das einzige Medium,. in welchem sich das Philosophieren
vollzieht. Diese Sprache ist selbstverständlich metaphorisch.

171
All dies heißt für Jaspers nicht,. daß eine Metaphysik unmöglich wäre.
Die Universalität der Metapher führt bei ihm nicht zu einem Sprach-
skeptizismus. Im Gegenteil. Der metaphorische Charakter der Sprache
ermöglicht gerade die Metaphysik. Völlig befriedigend ist dieser Stand-
punkt nicht, weil die Sprache, das In-Worte-Fassen und Sprechen bei
Jaspers, gemessen an der Philosophie, doch zu sehr äußerlich bleibt.
Letztendlich ist die Sprache in einem gewissen Sinn ein Zusatz. Der
Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie wird hierdurch erheblich
abgeschwächt.
Bei H egel ist die Sachlage viel komplizierter. Auch er hat seine eigene
Auffassung über die Metaphorik. Sein Standpunkt ist in vieler Hinsicht
sehr ursprünglich, kommt aber nicht immer klar zum Ausdruck und
weist zahlreiche Doppeldeutigkeiten auf. Wir gehen an dieser Stelle
ausführlich auf Hegels Auffassung ein, da sie es ermöglicht, in der Folge
verschiedene andere Facetten des Problems zu erhellen.
Hegel macht vielfach von dem Gegensatz zwischen "Begriff" und
"Vorstellung" Gebrauch. Einer der Bereiche, in den sich dieser Gegen-
satz auswirkt, ist das Verhältnis von Religion und Philosophie. Religion
ist die Wahrheit auf der Ebene der Vorstellung, Philosophie die Wahrheit
auf der Ebene des Begriffs. Wie man im Vorwort zur zweiten Ausgabe
der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften lesen kann, spre-
chen Religion und Philosophie verschiedene Sprachen: die Sprache der
Götter oder der Vorstellung und die Sprache der Menschen oder des
konkreten Begriffs. Nach Hege! sind Religion und Philosophie einander
nicht einfach entgegengesetzt. Ihr Inhalt ist derselbe. Die Sprache der
Götter und die Sprache der Menschen handeln beid,e vom Absoluten.
Die Philosophie begreift jedoch die Religion. Sie bringt die Vorstellung
der Religion auf die Ebene des Begriffs. Nach Hege! gehört es Zur
Aufgabe der Philosophen, "Begriffe an die SteHe von Vorstellungen zu
setzen" (Enz., §.3) oder "Vorstellungen in Gedanken zu verwandeln"
(Enz., § 5). Wie man in § 3 der Enzyklopädie lesen kann, ist die
Vorstellung die Bestimmtheit des Gefühls, der Anschauung, der Be-
gierde oder des Wollens, sofern es gewußt, aber noch nicht begriffen
wird. Die Vorstellung wird in diesem Sinne als eine Metapher des
Gedankens oder des Begriffs angesehen. "Vorstellungen überhaupt kön-

172
nen als Metaphern der Gedanken und Begriffe angesehen werden. (( Der
Philosoph ersetzt die Vorstellung oder die Metapher durch einen Begriff;
jedem Begriff ist jedoch eine Vorstellung oder eine Metapher zugeord-
net. Was nun genau eine Metapher ausmacht, wird an dieser Stelle noch
nicht klar - ebensowenig, worin die Wechselseitigkeit von Begriff und
Metapher besteht, und was es bedeutet, wenn die Metapher durch den
Begriff ersetzt wird. Wir werden in der Folge sehen, daß Hegel dieses
Ersetzen als ein llAufheben", d. h. als Überführung auf eine höhere
Ebene auffaßt, und daß er die Metapher auf dem Hintergrund des
Gegensatzes zwischen dem Sinnlichen (sensibilis) - dem Niederen - und
dem Geistigen (intelligibilis) - dem Höheren - begreift .
In der Philosophie der Religion äußert sich Hege] ausdrücklich über
die Vorstellung der Religion. Auch sie wird eine Metapher genannt (1,
S. 110). Die religiöse Vorstellung ist eine sinnliche Form oder ein BUd.
Wir sind uns hewußt, daß sie nur ein Bild von symbolischem oder
allegorischem Wert ist. Das heißt, wir haben es mit etwas Zweiseitigem
zu tun: dem Unmittelbaren, dem Äuß·erlichen und dem, was damit
eigentlich gemeint ist, dem Innerlichen. Hegel führt als Bdspiel an, daß
man von Gott spreche, der einen "Sohn" "hervorgebracht" habe. Wir
wissen, daß es sich lediglich um ein Bild handelt. "Sohn" und "hervor-
bringen ce sind Vorstellungen mit einem bestimmten, unmittelbaren und
sinnlichen Inhalt, die zugleich auch etwas anderes bedeuten. Letzteres
ist ihre innerliche und eigentliche Bedeutung. Ebenso ist das Sprechen
über den Zorn Gottes, seine Reue und seine Rache nur ein Bild. Wir
wissen, daß dies l,nicht im eigentlichen Sinne genommen,. daß es nur
Ähnlichkeit, Gleichnis, Bild ist" (ebd., S. 111). Die Vorstellung wird
daher auch als "in beständiger Unruhe zwischen der unmittdbaren
sinnlichen Anschauung und dem eigentlichen Gedanken" gekennzei,ch-
net (ebd., S. 116). Natürlich fäHt hier die Doppeldeutigkeit von neigent~
lieh" auf: eigentlich im Sinne des unmittelbar Gegebenen und im Sinne
dessen, was damit gemeint ist. Diese Ambivalenz kehrt regelmäßig
wieder.
Der Übergang von der Vorstellung zum Begriff durch die Aufhebung
spielt in Hegels Dialektik eine bedeutende Rolle. Schelling hat eine
derartige Vermittlung abgelehnt. In seiner Kritik an Hegel stellt er fest,

173
daß bei Hegel weder der Gegensatz zwischen Vorstellen und Denken
noch der Übergang von der einen zur anderen Ordnung geklärt wird
(S.w., XIII, S. 173). Beim späteren Schelling bleibt die Mythologie ein
unüberwindbarer Bestandteil der Philosophie, kann die Metapher nie-
mals in eine angemessene Formulierung übergehen. In gewisser Hinsicht
schließt sich daher sein Denken eng an das von Runze, Gerber usw. an .
Bei Hegel ist dieser Übergang von grundsätzlicher Bedeutung.
Wir sprechen hier über Vorstellung und Begriff, weil Hege! die
Vorstellung ausdrücklich als Metapher bezeichnet. Seiner Ansicht nach
kann die Metapher in der Philosophie aufgehoben werden. Sie kann es
nicht nur, sondern muß es sogar. Was nun genau eine Metapher ist, wird
hier noch nicht klar gesagt. Hegel äußert sich darüber viel bestimmter in
seinen Vorlesungen über die Ästhetik, in denen er der Metapher einen
Paragraphen widmet (S. 516-523). Er beginnt mit ,einer Definition. Die
Metapher ,.,ist eine ganz ins kurze gezogene Vergleichung, indem sie
zwar Bild und Bedeutung einander noch nicht gegenüber steHt, sondern
nur das Bild vorführt, den eigentlichen Sinn dessdben aber tilgt und
durch den Zusammenhang, in wekhem es vorkommt, die wirkHch
gemeinte Bedeutung in dem Bilde selber sogleich deutlich erkennen läßt,
obgleich sie nicht ausdrücklich angegeben ist" (5.517). Was meint Hegel
konkret an dieser Ste1le? Eine Metapher ist ein verkürzter Vergleich. Er
nimmt damit die klassische Definition Quintilians auf. Nur wenige
Zeilen vorher verweist er auf Aristoteles, der Vergleich und Metapher
dadurch unterscheidet, daß im Vergleich ein "als" hinzugefügt wird,
während es in der Metapher fehlt. Beim Vergleich ist ein Unterschied
zwischen dem Bild und der eigentlichen Bedeutung vorhanden. Dieser
Unterschied wird im Vergleich ausdrücklich ausgesprochen oder gesetzt.
Bei der Metapher ist er zwar an sich vorhanden, wird aber nicht
ausdrücklich ausgesprochen. Er bleibt implizit. Nach Hegel ist der
Vergleich an sich vollkommener, eben weil er explizit ist. Das heißt
jedoch nicht, daß er stets den Vorzug vor der Metapher genießt, denn
letztere ist direkter und unmittelbarer. Die Metapher bringt lediglich das
Bi~d ein. Se~ne eigentliche, d. h. u,rsprü~gli~he ,Bedeutung wird getilgt.
WIe Hegellffi folgenden sagen WIrd: dIe smnlIche Bedeutung wird zu
einer geistigen aufgehoben. Dieses Aufheben geht mit einer Vernichtung

174
und einer Übertragung auf eine höhere Ebene einher. Die entsprechende
Bedeutung ergibt sich unmittelbar aus dem Kontext. Weil sich der Sinn
der Metapher (der verbildlichte Sinn) nur aus dem Kontext erhellen läßt,
kann die Metapher niemals als selbständiges Kunstwerk auftreten. Sie
kann "nur als äußerer Schmuck" dienen (S. 518).
Hegel fährt fort: " ... jede Sprache (hat) schon an sich s,elber eine
Menge Metaphern. Sie entstehen alle dadurch, daß ein Wort, welches
zunächst nur etwas ganz Sinnliches bedeutet, auf Geistiges übertragen
wird." (ebd., S. 518) Hegel führt als Beispiel ,.,greifen({ und "begreifen"
an; er fügt hinzu, daß die meisten Wörter, die sich auf das Wissen
beziehen, ursprünglich eine rein sinnliche Bedeutung haben,. die später
zugunsteneiner geistigen aufgegeben wird. Das Metaphorische ver-
schwindet "im Gebrauch solch eines Wortes, das sich durch die Ge-
wohnheit aus einem uneigentlichen zu dem eigentlichen Ausdruck um-
wandelt" (ebd., S. 519), durch einen Prozeß der Abnutzung und schließ-
lich durch Aufhebung.
Über Ziel und Bedeutung der Metapher sagt Hegel folgendes: Das
eigentliche Wort ist an sich ein verstehbarer Ausdruck. Weshalb soU man
dann noch eine Metapher gebrauchen, die stets eine Zweiheit und
Doppeldeutigkeit einschließt? Für gewöhnlich heißt es, daß man die
Metapher ihrer Lebendigkeit wegen gebraucht. Sie soll in Anschaulich-
keit und VorsteBbarkeit bestehen. Hegel bemerkt dazu, daß wahre
Lebendigkeit gewiß nicht hier zu suchen ist. Er selbst gibt dann drei
Gründe für den Gebrauch von Metaphern an: 1. Verstärkung des Gesag-
ten,. 2. Vergeistigung des Stofflichen und Erhebung des Menschen über
die Ordnung des Sinnlichen, 3. die uneingeschränkte Lust der Phantasie.
Letztere ist für Hegel ein Negativum.
Zuletzt verherrlicht Hegel die nicht-metaphorische Ausdrucksweise.
Die großen griechischen Philosophen (Platon,. Aristoteles), Historiker
und Redner (Thukydides, Demosthenes) und Dichter (Horner, Sopho-
kIes) hielten sich an eigentliche Ausdrücke und duldeten weder Ver-
mischung noch Unklarheit. Dieser griechischen Welt stehen die Welt des
Ostens und später die mohammedanische Welt gegenüber. Sie sind
durch den Gebrauch unemgentlicher Ausdrücke gekennzeichnet. Für
Hegel sind beide Welten eindeutig minderwertig. Sie befinden sich noch

175
in einem niedrigeren Stadium der Entwicklung des Geistes. Er folgert,
daß ein Autor desto größer ist, je weniger Metaphern er verwendet.
Die Hegelsche Behandlung der Metapher muß auf dem Hintergrund
seiner Sprachphilosophie gesehen werden, wie er sie in den §§ 446-464
der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften dargestellt hat. In
diesen Paragraphen beschreibt er die dialektische Entwicklung von der
"Anschauung" zur "Vorstellung" und von dieser zum "Zeichen". Das
Zeichen ist in erster Instanz ein Symbol und wird durch seine enge
Bindung an die Vorstellung gekennzeichnet. Der Löwe als Symbol der
Kraft setzt eben die Materialität des Löwen voraus. In zweiter Instanz ist
das Zeichen "reines" Zeichen. Das reinste Zeichen ist das sprachliche
Zeichen. Es ist hieroglyphischer Natur und noch immer eng an die
Materialität der Vorstellung gebunden. Das in Buchstaben niederge-
schriebene Wort hat die Bindung an die Vorstellung aufgegeben, bleibt
aber dennoch an die Materialität des Buchstabens gebunden. Das Wort
"Löwe" besitzt keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der Vorstellung "Löwe".
Das gesprochene Wort, das nach Hegels Meinung vollkommener ist a~s
das geschriebene, weist nur noch ein Minimum an Materialität auf,
nämlich den vergänglichen Klang. Diese Dialektik läuft über einen
Prozeß fortschreitender Entmaterialisierung auf den reinen Begriff hin-
aus. Er ist weder seiner Form noch seinem Inhalt nach an die Materie
gebunden. Er ist nicht einmal mehr an die Sprache gebunden. Letztend-
lich kann diese Bewegung zur Idee des "Absoluten" führen. Obgleich
die Sprache in der Dialektik eine wichtige Stelle einnimmt, vermag sich
das reine Denken, das als Ausgangs- und Endpunkt dieser Gedankenbe-
wegung fungiert, über di.~ Sprache zu erheben. Eine derartige Bewegung
vollzieht sich auch im Ubergang von der Metapher zum eigentlichen
Wort und von diesem zur gemeinten Bedeutung.
Soweit Hegel über die Metaphorik. Dieser Standpunkt ist ein dialekti-
scher, und darin liegt auch seine Ursprünglichkeit. Hegels Position ist
jedoch nicht frei von Doppeldeutigkeiten und problematischen Voraus-
setzungen. Doppeldeutig ist u. a., daß die Metapher zugleich als not-
wendiges Moment der Dialektik und als bloßes Ornament anges,ehen
wird. Ambivalent ist ferner das Begriffspaar "eigentlich - uneigentlich")
das zudem fortwährend seine Bedeutung ändert. Wenn dieses Begriffs-

176
paar auch regelmäßig - und nicht nur von Hegel- in den Ausführungen
über die Metapher verwendet wird, so ist es doch kaum für die Entfal-
tung des Problems geeignet. Spricht man von der eigentlichen Bedeutung
eines Wortes oder gar eines Textes (einer Aneinanderreihung von Wör-
tern) und stellt sie der sogenannten wörtlichen Bedeutung gegenüber, so
setzt man voraus, daß irgendwo eine Wahrheit unabhängig von ihrer
Formulierung besteht und hält letzten Endes jeden Ausdruck für einen
Zusatz. Wenn man von eigentlichen, d. h. ursprünglichen, und übertra-
genen, d. h. abgeleiteten, Wörtern spricht, so wird man bald gewahr,
daß sich nirgends ein Unterscheidungskriterium findet, ob ein Wort
ursprünglich oder abgeleitet ist. Warum soU die Rede von Gott als
"absolutem Geist" oder als "Absolutem" eigentlicher sein als die Rede
von Gott, "der die Menschen mit einern Lächeln anschaut"? Natürlich
wird man sagen, daß der zweite Ausdruck nur eine bildliche Redeweise
ist und nicht wörtlich genommen werden darf, weil Gott nicht "lachen"
und im eigentlichen Sinne auch nicht "schauen" kann. Diese Ausdrucks-
weise muß 'Übersetzt werden. Diese Übersetzung wird schließlich eine
Erzählung über Gottes eigentliches Wesen sein. Aber wird sie nicht
gleichermaßen metaphorisch sein? Um es noch deutlicher zu sagen: Ist
die Aussage, daß Gott" Geist" oder gegebenenfaUs "allmächtig", "allge-
genwärtig" usw. ist, nicht ebenso sehr eine bloß bildliehe Redeweise?
Warum muß die Aussage, daß Gott der "Schöpfer" ist,. wördicher
genommen werden als die, daß er nein Kind in einer Krippe" ist, oder als
die, daß er "die Überzeugurigskraft unserer Worte" ist? Kann man
überhaupt Gott von der Rede trennen, die über ihn geführt wird?
Vielleicht wird man auf diese Fragen antworten, daß das Problem,
soweit es Gott betrifft, immer ein Problem der bildhaften Sprache ist.
Aber gilt dies nicht ebenso sehr für das Sprechen über den Menschen
und seine Welt? Wenn man von einem Menschen sagt, daß er "selbstän-
dig", daß er eine "Substanz er und ein "Subjekt" ist, wenn man von der
Welt sagt, daß sie "ein Daseinsfeld ist, in dem der Mensch seine konkrete
Existenz vollzieht", so ist dies gleichfalls "metaphorisch".
Eine Philosophie der Metapher scheint noch zahlreiche Schwierigkei-
ten mit sich zu bringen. M. Heidegger hat verschiedene von ihnen
erkannt. Zu Anfang hat auch er mit dem Problem der Eigentlichkeit und

177
r

Uneigentlichkeit gerungen. Aus einer hermeneutischen Tradition kom-


mend, hat er nach der eigentlichen Bedeutung der Gesamtheit von
Erzählungen gesucht, die von Dichtern und Denkern mitgeteilt werden.
Hinter oder unter dem, was der Mensch gesagt hat, soll ein eigentlicher
Sinn liegen, der nur mit Hilfe der Interpretation erreicht werden könne .
Nicht ganz zu Unrecht hat R. Buhmann die Inspiration zu seiner
Entmythologisierung beim frühen Heidegger gefunden. Später wird
Heidegger, angeregt durch seine Auseinandersetzung mit der Poesie,
diesen hermeneutischen Standpunkt aufgeben. Als Philosoph kann man
nämlich gegenüber den Dichtern verschiedene Positionen einnehmen.
Man kann ihre Worte einfach übergehen und so tun, als gebe es keine
Poesie. Auf diese Weise verschließt man sich natürlich einem sehr
großen Bereich menschlicher Erfahrung und Ausdrucksweisen. Außer-
dem schenkt man in diesem Fall dem BedeutungsgeHecht, das von den
Dichtern gestiftet wird, keine Aufmerksamkeit. Der Glaube an die
Götter und an die Ideale der Menschen, die Gesamtheit ethischer und
politischer Normen und das System menschlicher Beurteilungen und
Bewertungen sind großenteils durch das Wort der Dichter und Sänger
entstanden und überliefert worden. Als Philosoph kann man aber auch
versuchen, das, was die Dichter auf eine poetische oder metaphorische
Weise zum Ausdruck gebracht haben, besser zu sagen. ),Besser" meint
soviel wie adäquater, exakter, deutlicher, eigentlicher, wörtlicher usw.
Mit dieser zweiten Haltung gegenüber den Dichtern wird die Poesie als
solche vernichtet. Diese Haltung schließt auch eine außerordentliche
Anmaßung des Philosophen in sich. Er soll nämlich besser in Worte
fassen können, was von den Wortführern par excellence, von den Wort-
künstlern, gesagt wird. Dies läuft auf die Behauptung hinaus, daß
Sophokles weniger gut als Platon geschrieben habe. Die einzige erns-
thafte Haltung, die man nach Heidegger gegenüber der Poesie einneh-
men kann, besteht darin, ihr ihren eigenen Wert zu belassen. Das heißt
zu erkennen, daß die Rede des Dichters und die des Denkers zwei
eigene, ursprüngliche Möglichkeiten des menschlichen Sprechens sind,
die nicht eines aus dem anderen herleitbar sind. Zwischen Dichter und
Denker ist zwar ein Dialog möglich, doch geht es dabei nicht um die
philosophische Übersetzung oder Interpretation der dichterischen

178
Worte. Es handelt sich vielmehr darum, zu hören und sich ansprechen
zu lassen, sich etwas zu denken und zu sagen geben lassen, sich ein Wort
oder eine Wortfolge zu entleihen. Im Nachwort zu seinem Buch Was ist
Metaphysik? schreibt Heidegger: "Man kennt wohl manches über das
Verhältnis der Philosophie und der Poesie. Wir wissen aber nichts von
der Zwiesprache der Dichter und Denker, die ,nahe wohnen auf ge-
trenntesten Bergen'" (S.51).
Es bleibt noch mehr zu sagen. Heidegger ist bekanntlich eines meta-
phorischen Sprachgebrauchs beschuldigt worden. Dieser Vorwurf
kommt natürlich vor allem von denjenigen, die eine radikale Trennung
von metaphorischer und nicht-metaphorischer Rede vertreten und jedes
metaphorische Sprechen aus Philosophie und Wissenschaft ausschließen
woBen. Im Falle Heideggers läuft diese Kritik auf die Behauptung
hinaus, daß sein Denken weder wissenschaftlich noch streng philoso-
phisch sei. Heidegger antwortet auf diesen Vorwurf und macht dabei
eine wichtige Aussage über die Metaphorik. In Der Satz vom Grund
schreibt er: "Die Vorstellung von ,übertragen' und von der Metapher
beruht auf der Unterscheidung, wenn nicht gar Trennung des Sinnlichen
und Nichtsinnlichen als zweier für sich bestehender Bereiche. Die
Aufstellung dieser Scheidung des Sinnlichen und Nichtsinnlichen, des
Physischen und des Nichtphysischen ist ein Grundzug dessen, was Meta-
physik heißt und das abendländische Denken maßgebend bestimmt. Mit
der Einsicht, daß die genannte Unterscheidung des Sinnlichen und
Nichtsinnlichen unzureichend bleibt, verliert die Metaphysik den Rang
der maßgeblichen Denkweise. Mit der Einsicht in das Beschränkte der
Metaphysik wird auch die maßgebende Vorstellung von der ,Metapher(
hinfällig. Sie gibt nämlich das Maß für unsere Vorstellung vom Wesen
der Sprache. Darum dient die Metapher als vielgebrauchtes Hilfsmittel
bei der Auslegung der Werke des Dichtens und des künstlerischen
Bildens überhaupt. Das Metaphorische gibt es nur innerhalb der Meta-
physik." (S. 88 f.) Deutlicher geht es nicht. "Das Metaphorische gibt es
nur innerhalb der M,etaphysik." Meta-phorik und Meta-physik sind
nach Heidegger strukturell miteinander verbunden. Der Umgang mit
dem Begriff "Metapher" setzt eine Sprachauffassung voraus, die für das
metaphysische Denken bezeichnend ist. Wenn man der Metaphysik

179
entgehen oder, wie Heidegger, sie überwinden will, ist die Rede vom
Metaphorischen und Nicht-Metaphorischen unbrauchbar. Dies alles läßt
an Nietzsche denken, der schreibt, daß wir den (metaphysischen) Gott
niemals hinter uns lassen werden, solange wir noch vorbehaltlos an die
Grammatik glauben.
Es fällt nicht leicht, dieses Kapitel über die Philosophen und die
Metaphorik abzuschließen. Es müßte noch vieles gesagt werden. Zum
~ I :
Abschluß wollen wir nur einige allgemein,e Erwägungen formulieren.
I'
:ii
Besonders auffällig ist die große Uneinigkeit unter den Philosophen,
nicht nur über die Bestimmung der Metapher, sondern auch bezüglich
der Position, die man angesichts der Stellung und Aufgabe der Metapher
innerhalb einer (philosophischen) Rede einnimmt. Im Blick auf das oben
Ausgeführte wird man sich fragen, ob der Gebrauch von Metaphern
nicht in erster Linie motiviert ist durch die prinzipielle Unmöglichkeit,
sich angemessen auszudrücken, und durch die Notwendigkeit, sich
mehr oder weniger euphemistisch über den Menschen und seine Welt zu
äußern. Wird die metaphorische Sprechweise überdies nicht auch durch
all die Verbote und Gebote hervorgerufen, die jede Rede umgeben? Oder
durch eine Zensur, die das Spr,echen beschränkt und es zugleich heraus-
fordert, sich in bestimmter Weise zu strukturieren? (Vgl. Kap. 13,)
In der Haltung der emnzelnen Philosophen gegenüber der Metaphorik
kommt zweifellos ein wesentlicher Aspekt des Konflikts zwischen Rhe-
torik und Philosophie zum Ausdruck. Die Philosophen, die eine rheto-
rische Komponente ihrer besonderen Sprechweise überhaupt in Abrede
stellen, werden auch die Metapher ablehnen und die Möglichkeit einer
nicht-metaphorischen Philosophie behaupten. Diejenigen dagegen, die
erkennen, daß jedes philosophische Sprechen von zahlreichen rhetori-
schen Elementen durchzogen ist, werden geltend machen, daß man der
Metaphorik niemals vollständig entraten kann. Hinzu kommt, daß
diejenigen Philosophen, die glauben, der Metaphorik entkommen zu
! können, häufig und unbemerkt eine eigentliche Bedeutung,. die unab-
::1
!i
hängig vom Zeichensystem Sprache bestehen soll, behaupten. Für sie ist
die Sprache letzten Endes ein Zusatz, und es entgeht ihnen, daß die
I
i
Philosophie grundsätzlich aus Texten besteht. Diejenigen, die ihr Ge-
schäft als Philosophie der Sprache begreifen - wobei der Genitiv sowohl

180
ein genzttvus objectivus als auch ein genitivus subjectivus ist -, sind
davon überzeugt, daß sich nur dank der sprachlichen Zeichen etwas ab-
zeichnen kann. Sie erkennen, daß Philosophie eine Frage des Sprechens
und In-Worte-Fassens ist.
Bekanntlich hat die Metapher für das Denken eine wichtige Rolle
gespielt. Vielleicht sind viele Probleme der traditionellen Metaphysik ein
Ergebnis des "metaphysischen Scheins" (Wittgenstein). Die Metaphorik
hat jedoch auch das Denken über die Metapher bestimmt. Schon das
Wort "Metapher" ist eine Metapher. Überdies hat vor allem die Meta-
pher von der nackten (eigentlichen) Wahrheit und ihrer Einkleidung
(Ornament) ihre Spuren im Denken über die Metapher hinterlassen.
Wenn man behauptet, die Metaphysik sei das "Opfer" eines metaphori-
schen Sprachgebrauchs, so gilt dies in noch stärkerem Maße für die
Philosophie der Metapher. "Opfer" ist jedoch kein glücklich gewählter
Ausdruck. Er suggeriert bereits, daß eine Philosophie der Metapher
möglich ist, die sich nicht durch die Metaphorik leiten läßt. Gerade diese
Suggestion wird durch die Metapher der nackten Wahrheit geweckt.
Übrigens ist es gar nicht so dramatisch, sich in seinem Denken von
Metaphern leiten zu lassen. Sie müssen die Sache nicht in jedem FaH
verdunkeln. Oftmals können sie auch zur Verdeutlichung beitragen. Das
Sprechen - auch das philosophische - ist stets Enthüllung und Verhül-
lung.
Es verwundert,. daß in der Philosophie zwar vielfach über die M eta-
pher, doch nur selten über die Metonymie gesprochen wird. Ihre Proble-
matik ist jedoch viel bedeutsamer. Die metonymische Struktur der
Philosophie bringt viel größere Schwierigkeiten mit sich als die meta-
phorische. Mit metonymischer Struktur ist gemeint, daß philosophische
Behauptungen nur darum möglich sind, weil einige Aspekte der Sache
ausgelassen, vergessen und verdrängt werden,. ein einzelner Gesichts-
punkt dagegen überakzentuiert wird. Als klassische Beispiele der Meto-
nymie gelten Ausdrücke wie "ich trinke ein Glas" oder "ich lese Coupe-
rus". Natürlich trinke ich kein Glas, sondern Wasser; ich lese auch nicht
Couperus, sondern eines seiner Werke. Doch die Wörter "Glas" und
"Wasser" sind ihrerseits metonymisch. Nirgends wird sich das Wort
finden, wonach Mallarme sein Leben lang g,esucht hat, das die Wirklich-

181
keit geradehin und definitiv, ohne Auslassungen und vollständig aus-
sprechen kann. Das erste oder letzte Wort ist einfach unmöglich. Das
Problem der metonymischen Struktur der Philosophie drängt sich noch
stärker auf, wenn man in der Rhhorique generale der Gruppe aus
Lüttich liest, daß eine Metapher nur aufgrund einer doppelten Metony-
mie möglich ist. Vielleicht ist das Problem der metonymischen Struktur
der Philosophie sogar dasselbe wie das des epochalen Charakters der
Metaphysik, wie Heidegger es dargestellt hat.

182
XVI. Wer spricht, wenn gesprochen wird?

Bei unserer Untersuchung des Konflikts zwischen Rhetorik und Philo-


sophie stand uns eine zentrale Frage fortwährend vor Augen: Was
geschieht überhaupt, wenn gesprochen wird? Oder: Was geschieht,
wenn geschrieben wird? Ihre Beantwortung ist von großer Bedeutung
für FragesteUungen wie die folgenden: Was ist Literatur? Was ist Phi-
losophie? Und vor allem.: Was ist der Mensch, der doch ein sprechendes
Wesen ist? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen,
glauben wir, auf eine Reihe von Aspekten hingewiesen zu haben, die für
die Beantwortung dieser zentralen Frage von Bedeutung sind. Im letzten
Kapitel wollen wir abschließend auf die Frage eingehen : Wer spricht,
wenn gesprochen wird? Wer schreibt, wenn geschrieben wird?
Wer spricht? Wer schreibt? Zunächst scheint die Antwort auf diese
Fragen völlig evident. Der Mensch- und nur er - schreibt und spricht.
Die Tiere und die Bäume, die Engel und die Götter sprechen lediglich in
Erzählungen - und zwar in solchen, die von Menschen mitgeteilt
werden. Vielleicht haben uns die Dinge etwas zu "sagen", wie die
Redensart geht, und vielleicht "verkünden die Himmel den Ruhm
Gottes", wie in den Psalmen zu lesen steht. Aber dieses Sagen und
Verkünden voHzieht sich nur dank des menschlichen Wortes. Der
Mensch - und nur der Mensch - spricht. Problematisch bleibt dagegen,.
was es damit genau auf sich hat. Vielleicht kann man die Frage auch
anders formulieren: Wie kommt ein Text zustande? Wie kommt eine
Rede zustande? Oder noch anders: Was ist eigentlich ein Text,. eine
Rede, ein Werk?
Die moderne Subjektivitätsphilosophie - von Descartes bis hin in
unsere Tage - hielt es für selbstverständlich, daß der Mensch das Subjekt
seines eigenen Sprechens ist. Er soll Quelle und Ursprung der G,edan-
ken, Herr und Meister der Wörter sein, die diese Gedanken zum
Ausdruck bringen. Er soll der tragende Mittelpunkt der Sprache sein.
Für viele zeitgenössische Denker, die sich von Marx, Nietzsehe und

183
Freud, vielleicht auch von Heidegger inspirieren lassen, ist dies nicht
mehr selbstverständlich. Der Mensch als Subjekt ist ihrer Meinung nach
nicht einfachhin der Ursprung seines eigenen Wortes. Die Quelle, aus
der das Sprechen entspringt, ist eine andere als das Bewußtsein. Der
Mensch ist nicht Herr und Meister im eigenen Haus. Für viele Philoso-
phen sind Subjektivität und Bewußtsein eher ein Ergebnis des Sprechens,
eine Wirkung der Sprache. Doch lassen wir die Ansichten der Philoso-
phen vorläufig auf sich beruhen und halten uns an die Wortführer par
excellence: die Propheten und die Dichter. Wahrscheinlich wissen sie
besser als jeder andere, was Sprechen heißt.
Der Prophetismus ist eine weit verbreitete Erscheinung im Altertum
und nimmt in der jüdischen Welt eine besondere Stelle ein. Die Prophe-
ten sind in erster Linie nicht Menschen, die die Zukunft voraussagen,
sondern geben durch Gesang und Worte kund, was für den weiteren
Verlauf der Ereignisse bestimmend ist. Sie sprechen ihr Wort im Namen
von Instanzen, die einer anderen Ordnung a]s sie selbst angehören. Sie
sprechen "Gottes Wort". Es geht sozusagen durch sie hindurch. Es wird
ihnen eingegeben oder eingeflüstert. Oft kommt es gegen ihren Willen
und ohne ihr Wissen über ihre Lippen.
Für die jüdisch-christliche Tradition ist sogar die gesamte Bibel _ das
Gesetz und die Propheten - Wort Gottes. Sie ist ein "inspiriertes" Buch.
Seit dem vierten nachchristlichen Jahrhundert spricht man deshalb auch
von Gott als ihrem Autor (auctor). Nicht der Mensch, sondern Gott hat
die Bibel geschrieben, und daraus leitet die Bibel auch ihre Autorität
(auctoritas) ab. Grundsätzlich ist zu bedenken, daß es sich nicht um
irgendeinen Text handelt, sondern um einen Text, der in der westlichen
Tradition auch "Das Buch der Bücher" oder "Die Schrift" genannt wird.
Aus der Bibel lassen sich übrigens viele Texte zitieren, die ausdrücklich
von Inspiration, Einflüsterung, spiritueller Eingebung usw. sprechen.
, '
Einer der beredtesten ist zweifellos ein Abschnitt aus dem Matthäus-
I,
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i: ', I ~I
1

evangelium: "Wenn man euch vor Gericht stellt, so sorget euch nicht
" I',
.1, darum, wie oder was ihr reden sollt; denn es wird euch in jener Stunde
:' ! :
1 I: gegeben werden, was ihr reden sollt. Denn nicht ihr seid es, die reden,
sondern der Geist eures Vaters ist es, der in euch redet" (Matt. 10,
1 I
19-20). Gemäß den Propheten spricht "Gott". Man wird nicht in Ab-
1 !
I ' '!
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I,
I'
1
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rede stellen, daß hier eine Erfahrung in Worte gefaßt wird. Allerdings
wird man sich fragen, was dieses Wort "Gott" bedeutet.
Bei den Dichtern, die oft auch Seher und Propheten sind, findet man
Ähnliches. So beginnt Homer seine Odyssee mit den bekannten Worten:
"Künde mir, Muse, von ihm, dem vielbewanderten Manne, welcher so
weit irrfuhr nach der heiligen Troja Zerstörung." Homer wendet sich an
die Muse. Diese Anrufung ist sowohl in der griechischen Poesie als auch
in der späteren Literatur eine regelmäßig wiederkehrende Stilfigur. Sie
dient der Einleitung zu einem Werk und tritt häufig an einer wichtigen
Stelle des poetischen Textes auf. E. R.. Curtius, der sich mit dieser
Anrufung intensiv beschäftigt hat, schreibt in seinem Werk Europäische
Literatur und lateinisches Mittelalter: "Für uns sind die Musen schemen-
hafte Gestalten einer längst überlebten Tradition. Aber sie waren einmal
Lebensmächte. Sie hatten ihre Priester, ihre Diener,. ihre Verheißung -
und ihre Gegner. Jedes Blatt in der Geschichte der europäischen Litera-
tur spricht von ihnen." (S. 235) Die Musen sind Gestalten der griechi-
schen Mythologie, die in zahlreichen Varianten erzählt, wie die göttliche
Mnemosyne die neun Musen hervorbrachte. Mnemosyne ist das Ange-
denken. Sie ist strukturell der tödlichen Lethe, dem Vergessen, entge-
gengesetzt. Das Worte "Muse" bedeutet wahrscheinlich etwas ähnliches
wie "Wort" oder "Sprache". Dank der Muse wird Lhhe überwunden.
Durch das Wort kann etwas der Vergessenheit entrissen werden. Die
Musen bewirken Wahrheit (aletheia). Mnemosyne ist die Mutter aller
Poesie und nach Hesiod sogar jeglicher Philosophie. Er behauptet in
seiner Theogonie (26-33), daß sie ihm seine Philosophie eingeg,eben
habe. Ganz allgemein kann man sagen, daß Mnemosyne von den alten
Griechen als die Quelle allen Ausdrucks, als Möglichkeitsbedingung
jeglichen Sagens angesehen wurde. Ausdruck und Aussage sind nur
durch ein Hören auf die Muse möglich.
Im Mythos über Mnemosyne und die Musen haben die Griechen das
Wesen des dichterischen Sprechens zur Sprache gebracht. Dem Mythos
zufolge sind es nicht einfach die Dichter, die sprechen, vielmehr sind es
die Musen selbst, die unter der Leitung des Musagetes, Apollon, die
Dichter sagen lassen, was zu sagen ist. Der Dichter muß ehrerbietig vor

185
dem Geheimnis der Sprache zurücktreten und sich von der göttlichen
Muse leiten lassen.
Wenn die griechischen Dichter die Muse anrufen, handelt es sich
keineswegs um eine abgeschmackte literarische Einkleidung. Sie versu-
chen auf diese Weise, etwas über die Eigenart ihres Sagens auszusagen.
Wirklich etwas zu sagen - und dieses Sagen hat etwas mit der Wahrheit
zu tun -, bedeutet für sie, sich von den Musen sagen zu lassen, was zu
sagen ist. Der Dichter hört zu. Er wartet auf das, was man als "Inspira-
tion" bezeichnet, auf den Augenblick, in dem ihm die Worte eingeflößt
und dargereicht werden. Er hört darauf, was die Sprache ihm zu sagen
hat, ihm zu sagen gibt. Dies trifft bei den Griechen nicht nur auf die
Dichter, sondern letzten Endes auf alle wahren Wortführer zu: für die
Seher, die meist blind sind, um besser hören zu können, für die Redner,
die mit den Worten spielen, für die Könige und Gesetzgeber, die durch
ihr Wort eine Welt stiften können.
Der Anrufung der Muse als literarischer Form begegnet man in der
gesamten Literaturgeschichte, sowohl in der buchstäblichen Bedeutung
(Künde mir, Muse, .... ) als auch in zahlreichen Varianten. Im christli-
chen Mittelalter, das oft von der Ablehnung der heidnischen Muse
bestimmt wurde, tritt eine interessante Spielart in Erscheinung. Man ruft
den heiligen Geist an, Christus als den innerlichen Lehrmeister oder das
göttliche Wort. Dies ist nicht allein eine Frage des Glaubens, sondern
bringt auch zum Ausdruck, was wirkliches Sprechen ausmacht. Spre-
chen heißt: sich sagen lassen durch das "göttliche Wort".
Das wichtigste bei alledem ist, daß Sprechen stets als ein Hören, als
ein Gehör-schenken aufgefaßt wird, Es handelt sich nicht so sehr um ein
Hören auf einander oder auf andere sprechende Menschen, sondern in
erster Linie auf die Muse, das "göttliche" Wort, den Logos oder die
Sprache.
Die Thematik des Hörens auf die Sprache hat u. a, Heidegger erarbei-
tet. Er verweist übrigens regelmäßig auf den Mythos der Mnemosyne.
Schon in den vorangegangenen Kapiteln haben wir gesehen, daß Heideg-
gers Sprachverständnis sich eng an die frühgriechische Auffassung,
namentlich der Sophisten und der alten griechischen Dichter, anschließt.
Das Sprechen oder Sagen ist für Heidegger ein "ins Werk setzen der

186
Wahrheit". Das Sagen als solches ist ein Zeigen. Es ist ein Erscheinen-
lassen, ein Zum-Vorschein-bringen, das Stiften eines Auf.enthaltsortes
für Menschen und Götter. Dieses Erscheinen-lassen darf jedoch keines-
faUs als eine Form von Subjektivismus aufgefaßt werden. Das Sagen ist
in erster Linie ein gehorsames Hören auf dasjenige, was die Sprache zu
sagen hat und zu sagen gibt. Von Heidegger stammt der bekannte
Ausspruch: "Die Sprache spricht. Der Mensch spricht, insofern er der
Sprache entspricht. Das Entsprechen ist Hören." (Unterwegs zur Spra-
che~ S. 32f.) Unerfahrene Leser haben sich immer wieder über diesen
Ausspruch geärgert. Es ist sogar von "Sprachmystizismus" die Rede. In
Wirklichkeit handelt es sich hier um eine sehr traditionelle Einsicht, die
man wiederholt in der Weltliteratur antrifft und die zugleich eine
Erfahrung beschreibt, die beim Sprechen und Schreiben immer wieder
gemacht wird. Die Wörter kommen auf den Menschen herab; sie
überkommen ihn. Es ist zunächst eine Erfahrung der Dichter, die mit
den Wörtern spiden und die Möglichkeiten der Sprache abtasten . Aller-
dings ist es auch eine Erfahrung,. die jedem Schreibenden begegnet.
Verweilt man einen Augenblick bei dem, was sich im Schreiben ereignet,
so wird dies unmittelbar einsichtig. VieBeicht ist der Ausdruck "die
Sprache spricht" dunkel. Er ist aber gewiß nicht dunkler als der Aus-
druck "ich spreche". Fragt man sich, was man unter dem kleinen
Wörtchen "ich« versteht, stößt man auf eine Reihe von Problemen. Auf
jeden Fall wird man in einer Besinnung auf das Ich die Sprache nicht
außer Acht lassen können.
Schließlich bleibt noch das Zeugnis Stephane Mallarmes (gest. 1898),
der von aUen Dichtern wohl am tiefsten in das Geheimnis der Sprache
eingedrungen ist. Auf die Frage Qui parle? (Wer spricht?) antwortet er:
Le Mot lui-meme! (Das Wort selbst!) Die Frage und ihre Antwort hat
Michel Foucault in seinem Buch Les mots et fes choses zweimal (S. 316 f.
und S. 394) und gewiß nicht zufällig im Zusammenhang mit der Sprach-
philosophie Nietzsches zitiert. Auch er stellt wiederholt die Frage: Wer
redet? Aus seiner Perspektive lautet die Antwort sicherlich nicht: der
Mensch. Mallarme, der vielfältig über das Dichten dichtet und über das
Werk schreibt, fügt dem Zitierten hinzu: "Nicht ein Autor komponiert
das Werk, sondern es komponiert sich selbst. C(

187
Soweit die Propheten und Dichter. Um die Frage, wer spricht oder
wer schreibt, zu beantworten, ist es ebenso wichtig, bei der Frage, was
ist ein Autor, zu verweilen. M. Foucault hat 1969 vor der Socü?te
Franraise de Philosophie einen Vortrag mit dem Titel Qu'est-ce qu'un
auteur? gehalten. In seinen Ausführungen kommt er, übrigens ganz im
Sinne Nietzsches, zu dem Schluß, daß ein Autor in gewissem Sinn eine
Konstruktion sei. Foucault behauptet sogar: ".L'auteur n'est exactement
ni le proprietaire ni le responsable de ses textes; il n' en est ni le
producteur ni l'inventeur." (Genau genommen ist der Autor weder der
Eigentümer seiner Texte noch ist er für sie verantwortlich; er ist weder
ihr Produzent noch ihr Erfinder.) Vielleicht ist dies etwas übertrieben
formuliert - wie es bei Foucault häufiger der Fall ist. Fragt man sich
jedoch, was eigentlich ein (Euvre ist, wird man entdecken, daß er in
höherem Maße recht hat, als man zunächst vermutet.
Wie Foucault bemerkt, gibt es keine angemessene und befriedigende
Theorie darüber, was ein CEuvre ist. Man erkennt das sehr bald, wenn
man jemandes Nachlaß, z. B. den von Marx, Nietzsche, Husserl usw.
herausgeben will. Diese Autoren haben eine ungeheure Menge Papier
hinterlassen, worauf etwas aus ihrer Feder steht. Unter den Papieren
findet man u. a.: 1. Manuskripte von Texten, die der Autor selbst
herausgegeben hat (gedruckt oder sonstwie vervielfältigt) und solche, die
er nicht publiziert hat. 2. Texte, die zur Vorbereitung eines definitiven
Textes dienten (Entwürfe, Schemata, Aufzeichnungen usw.). 3. Inner-
halb der Manuskripte zahlreiche Durchstreichungen, Zusätze, Änderun-
gen und Verweise usw., die in den definitiven Text nicht aufgenommen
werden, aber doch von großer Bedeutung sein können. 4. Auszüge aus
Büchern und Artikeln, sowie Aufzeichnungen, die man bei der Lektüre
zu oder in Büchern gemacht hat (Unterstreichungen, Fragezeichen,
Bemerkungen usw.). 5. Sogar Aufzeichnungen von Vorlesungen, die
man besucht hat, Berichte über Gespräche, Vorträge, Diskussionen,
Versammlungen usw. (So fand man bei Marx noch Aufzeichnungen, die
er während seiner Schulzeit am Jesuitenkolleg in Trier und während
seines Studiums an den Universitäten Bonn und Berlin machte.)
6. Schließlich gibt es eine Menge von Notizen (geschriebenen Wörtern),
die zumindest auf den ersten Blick nicht zur Sache gehören (Adressen,

188
Verabredungen, Einfälle). Besonders schöne Beispiele für diese Art von
"Texten" sind Husserls Anmerkung auf einem seiner Manuskripte: "Gut
für den Papierkorb« und Nietzsches Satz: "Ich habe meinen Regen-
schirm vergessen". Die letzte Bemerkung wurde in die neue Kritische
Gesamtausgabe von Colli und Montinari tatsächlich aufgenommen (V,.
2, S.485). Vielleicht wird man sich hier fragen: Warum? Mit gleichem
Recht kann man fragen: Warum nicht? J. Derrida hat in seinem Essay La
question du style (in: Nietzsehe aujourd'hui,. S.235-287) gerade zu
dieser Bemerkung Nietzsches einen brillanten Kommentar geliefert.
Man neigt zu der Annahme, daß Auszüge aus Büchern, Zusammen-
fassungen von Vorträgen und Aufzeichnungen zu Vorlesungen nicht
zum CEuvre eines Autors gehören. Sie gehören zum Werk eines anderen:
zu dem des Verfassers jenes Buches, das man gelesen hat, zu dem des
Redners, der den Vortrag, oder zu dem des Dozenten, 'der die Vorlesung
hielt. Man kann sich jedoch fragen, ob ein selbst geschriebener Text
wirklich etwas völlig anderes ist. Auch darin nimmt man sehr viel von
dem auf, was man bei anderen gelesen, von anderen gehört hat. Neben
impliziten und expliziten Zitaten entlehnt man zweifellos alle Wörter
einer Sprache, die in einer bestimmten Region und in einem bestimmten
Fachgebiet gebräuchlich ist, vieHeicht mit Ausnahme der Neologismen,.
die man selbst bildet, die sich meist aber von anderen Wörtern ableiten.
Ferner übernimmt man zahlreiche Redewendungen und Ausdruckswei-
sen, oft sogar eine ganze Terminologie von anderen. Selbst beim Aufbau
eines Textes folgt man dem Vorbild anderer. Schließlich verwendet ein
Autor eine Reihe von Themen, die zuvor schon besprochen wurden,
und er bedient sich dabei des reichen Materials, das bereits in anderen
Texten vorhanden ist. Besonders in wissenschaftlichen und philosophi-
schen Texten wird sehr viel von anderen übernomm,en; übrigens ohne
daß deshalb von Plagiat die Rede wäre. In philosophischen Texten wird
die Problematik meist vollständig von anderen Philosophen entlehnt.
Der Autor bringt eine neue Ordnung in das Material, aber von wahrer
Originalität ist meist nicht die Rede. Wenn aber doch von einem
ursprünglichen Werk gesprochen wird, so liegt die Originalität in erster
Linie in der neuartigen Anordnung des Materials und in einer schöpferi-
schen Verarbeitung dessen, was schon gesagt wurde. Eine befriedigende

189
Erklärung, wann genau ein Plagiat vorliegt, ist in der philosophischen
Literatur oft schwer zu geben.
Auf dem Hintergrund dieser Probleme sollte ein CEuvre daher besser
nicht als das Werk eines Autors bezeichnet werden, sondern eher als ein
Knotenpunkt von Bedeutungen. Zum einen entsteht ein CEuvre aus
einern Geflecht früherer Reden und Behauptungen oder aus einem Netz
von älteren Texten, die dem wirklichen CEuvre vorangingen und es
ermöglichten. Zum anderen ermöglicht es auch unbegrenzt neue Reden
und neue Texte. Beispiele mögen diesen Zusammenhang verdeutlichen.
Betrachtet man das CEuvre von Marx als Ganzes, so zeigt sich, daß der
weitaus größte Teil dieser Schriften aus Kommentaren, Diskussionen
und Analysen zu anderen Texten besteht: zu denen der utopischen
Sozialisten wie Saint-Simon und Proudhon, zu denen von Philosophen
wie Hegel, Feuerbach und Stirner, zu denen von politischen Ökonomen
wie Ricardo und Smith usw. Gleichzeitig hat Marx' CEuvre einen
endlosen Strom von Publikationen hervorgebracht: die gesamte marxi-
stische Literatur. Dasselbe gilt für das CEuvre Freuds. Auch sein Werk ist
nicht einfach vom Himmel gefallen und hat eine ausgebreitete psycho-
analytische oder psychoanalytisch inspirierte Literatur hervorgerufen.
In der Tat gilt dies für alle bedeutenden Texte. Sie sind in ein Gewebe aus
schon bestehenden und neuen, möglichen Texten verwoben. Fragt man
sich: "Wer schreibt was?", so entdeckt man, wie schwierig es ist, scharfe
Grenzen zu ziehen. Julia Kristeva spricht in diesem Zusammenhang von
I ntertextualität.
Mit dem Hinweis auf M. Bahktine schreibt sie in ihrem Buch
LY~ELü)tl,'X.Y, Recherehes po ur une semanalyse : "Tout texte se construit
comme mosaique de citations, tout texte est absorption et transforma-
a
tion d'un autre texte; la place de la notion d'intersubjectivite s'installe
eelle d'intertextualite'C (S. 146). (Jeder Text baut sich als ein Mosaik aus
Zitaten auf, jeder Text ist die Absorption und Transformation eines
anderen Textes; an die SteHe des Begriffs der Intersubjektivität setzt sich
der Begriff der IntertextuaHtät.)
Was den Aufbau und die Konstruktion eines Textes angeht, kann man
verschiedene Standpunkte einnehmen. Der erste ist derjenige der Sub-
jektivitätsphilosophie. Sie geht davon aus, daß der Autor als Subjekt der

!!
"

190

'I
I
:1
autonome und unableitbare Ursprung und Besitzer seiner monologi-
schen Rede ist. Meistens geht damit die Behauptung einher, daß die
Aussage des Autors für ihn selbst vollkommen einsichtig ist, daß er
zumindest prinzipiell weiß, wovon er spricht. Ein zweiter Standpunkt
ist die Position der Philosophie der Intersubjektivität oder der dialogi-
schen Philosophie, deren bedeutendste Vertreter M. Buber, F. Rosen-
zweig, E. Rosenstock-Huessy, F. Ebner und einige Existentialisten sind.
Ihnen geht es nicht so sehr darum, daß der Mensch als Subjekt stets in
einer Beziehung zu anderen Menschen (Subjekten) steht, sondern viel-
mehr darum, daß die Subjektivität aus der gegenseitigen Ansprache
entsteht. Der Begriff des Subjekts erfährt dabei eine tiefgreifende Verän-
derung. Die menschliche Existenz wird als ein Dialog aufgefaßt, der sich
jedoch nicht zwischen zwei bereits konstituierten Sub;ekten vollzieht.
Vielmehr konstituiert sich die Subjektivität in und durch den Dialog.
"Kein Ich ohne Du". Das Gespräch ist folglich auch kein Austausch
schon bestehender Einsichten, die Einsicht wird vielmehr erst im Ge-
spräch geboren. Im Hinblick auf den Text werden diese Philosophen
behaupten,. daß er nur als Wort und Widerwort, als Anruf und Antwort
zustande kommen kann. Da sich Sprechende und Schreibende fortwäh-
rend gegenseitig in Anspruch nehmen, ist eine völlige Klarheit des
Gesagten nicht möglich. Auch das, womit man sich auseinandersetzt,
verschiebt sich fortwährend und ändert seine Bedeutung.
Der dritte Standpunkt ist die Position der Intertextualität. Hier wird
alles, was der Mensch sagt, als ein Gewebe aufgefaßt, das in ein viel
weiteres Geflecht von Texten verwoben ist, die alle miteinander verbun-
den sind und aufeinander verweisen. Auch der Sprechend,e oder Schrei-
bende ist in dieses Gewebe hineingeflochten . Er ist weder Zentrum noch
Ursprung, sondern wird gänzlich von dem Geflecht von Worten, die die
Runde machen, getragen. Der Gegensatz zwischen Monolog und Dialog
gerät in Verfall, und die Klarheit ist prinzipiell nebensächlich. Nicht das
Bezeichnende steht im Mittelpunkt, sondern die Aneinanderreihung von
Zeichen. Der Autor ist nicht mehr Besitzer oder Produzent seines
Textes, sondern wird von einer Totalität von Erzählungen besessen und
hervorgebracht, die sehr viel umfassender ist als er selbst.

191
Seit dem Humanismus und der Subjektivitätsphilosophie fordert man
für jedes Werk einen eindeutig nachweisbaren und identifizierbaren
Autor. "L'anonymat litteraire ne nous est pas supportable; nous ne
l'acceptons qu'a titre d'enigme", schreibt Foucault (ebd' S.85). Nicht
j

zu wissen, wer einen Text geschrieben hat, ist für den modernen und
wissenschaftlich gebildeten Menschen unerträglich, es sei denn, es han-
delt sich um ein Rätsel oder Puzzle. Nur ein Kind, das sehen weiß, wer
seine Bücher geschrieben hat, findet an ihnen noch einen uneinge-
schränkten Gefallen. Auch in den heutigen Massenmedien ist die Stelle
des Autors vieUeicht nicht besetzt. In der Wissenschaft steht die Frage
nach dem Verfasser jedoch weiterhin im Mittelpunkt. Ein großer Teil der
literar-historischen Kritik beschränkt sich darauf, herauszufinden, wer
dieses oder jenes Werk geschrieben hat, ob dieses oder jenes Werk, das
diesem oder jenem Autor zugeschrieben wird, auch wirklich von ihm
oder ihr stammt. Ganze Bibliotheken sind mit Schriften über die Home-
I
rische Frage angefüllt worden. Einige moderne Bibelexegeten beschäfti-
I'
1
gen sich ausschließlich damit herauszufinden, wer genau was geschrie-
1
1
ben hat. Mediävisten schenken dem Problem der Authentizität große
Aufmerksamkeit, und es kann sich sogar jemand einen großen Namen
I erwerben, indem er nachweist, daß die Grammatica speculativa, die
i,
traditionell Ijuns SCOtllS zugeschrieben wird, von Thomas von Erfurt
stammt. Sehr viele Veröffentlichungen sind der Suche nach der Identität
von Autoren wie Shakespeare, Perrault u. a. gewidmet. Ein Schulbei-
spiel für diese obsessive Suche nach emnem Autor ist wohl die Diskussion
um Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Nicht zu
wissen, wer das geschrieben hat, wird offensichtlich nur anerkannt,
I
" wenn dieses Nichtwissen als eine Herausforderung zu einer gründlichen
wissenschaftlichen Untersuchung verstanden wird.
Seit dem Humanismus wird nicht nur die Anonymität eines Werkes
nicht länger toleriert, sondern überdies will jeder Autor auch wirklich
ein Autor sein. Mit großen Buchstaben schreibt er seinen Namen unter
sein Werk, und er will sich damit einen Namen erwerben. Im Altertum
und im Mittelaher wurde einem Autor ein Text meist von anderen
zugeschrieben. Dies geschah vor allem, um dem Text damit eine gewisse
Autorität zu verleihen. In der Neuzeit schreibt man einen Text sich

192
-------------:--------:----:~----:--------:--~---.. -----

selbst zu. Der Autor, dem- ein Text durch and.ere oder durch sich selbst
zugeschrieben wird, ist eine Konstruktion. "Einen Interpreten hinter
einer Interpretation anzunehmen, ist selbst eine Interpretation", schreibt
Nietzsche. Ein Autor hinter einem CEuvre ist es gleichfalls. Der Verfas-
ser - und es macht wenig aus, ob man ihn" Gott", "den Menschen" oder
"Herrn A (( nennt- ist eine imaginäre Einheit, die als solche zum Werk
selbst gehört und im Zuschreibungsakt konstruiert wird. Die meisten
Autoren wissen dies nur allzu gut. M. Foucault schreibt in seinem Buch
Les mots et les choses über philosophische Text,e, daß es nicht die Denker
sind, die denken, sondern daß es ein System gibt, das als eine Art Netz
von Notwendigkeiten (n!seau de necessite) die verschiedenen Individua-
litäten ermöglicht, die wir dann Hobbes, Berkeley, Hume oder Condil-
lac nennen (S. 77).
Auf diese Weise haben wir einiges an Material zusammengetragen, um
die Frage zu beantworten: Wer spricht, wenn gesprochen wird? Oder:
wer schreibt, wenn geschrieben wird? Sprechen und Schreiben scheinen
sonderbare Angelegenheiten zu sein. Doch das Wichtigste ist noch nicht
gesagt worden.
Was bleibt noch zu sagen? Sprechen ist stets Sprechen mit und zu
einem anderen, und Schreiben ist stets Schreiben für einen .anderen.
Niemand lebt für sich allein, aber auch niemand spricht und schreibt
ausschließlich für sich selbst. Man muß jeweils auf irgendeine Weise
eingeladen oder herausgefordert werden, das Wort zu ergreifen und
immer will man irgendwie Gehör finden. Um dem beipflichten zu kön-
nen, muß man sich nicht unbedingt zur dialogischen Philosophie beken-
nen und den Standpunkt der Intertextualität aufgeben. Jedes Wort ist
seinem Wesen nach eine Antwort: eine Antwort auf ein Wort, das älter
und ursprünglicher ist als das eigene. Es ist ein Wort eines anderen. Jedes
Wort,\verlangt wesentlich nach einer Antwort:. nach einer Gegenrede im
SinneJvon Zustimmung oder Ablehnung, Billigung oder Tadel. Auch
diese Antwort ist das Wort eines anderen.
Wer oder was ist nun dieser "Andere"? In erster Linie ist es natürlich
derjenige, zu dem man spricht, oder der Leser, für den man schreibt
(eventuell die Zuhörerschaft oder das Publikum). Der Andere oder die
Anderen sind diejenigen, denen man Antwort gibt oder von denen man

193
Antwort erwartet. Sie sprechen mit, wenn wir sprechen. Es ist daher gar
nicht verwunderlich, daß man - wie eine der Hauptregeln der klassi-
schen Rhetorik lautet - sich vergegenwärtigen muß, vor welcher Zuhö-
rerschaft man spricht oder für welches Publikum man schreibt,. und daß
man sich darauf einstellen muß. Weil wir uns als Sprechende oder
Schreibende bewußt oder unbewußt den Forderungen unterwerfen, die
die Zuhörerschaft oder das Publikum an unsere Rede stellen, wird
dasjenige, was wir sagen, auch von anderen mitbestimmt. In erster Linie
ist der Andere der Mitmensch, zu dem man spricht und für den man
schreibt. Er spricht mit.
In erster Linie,. denn bei einer schärferen Analyse des Sprechens und
Schreibens scheint dieser Andere doch nicht bloß eine empirische
Größe, sondern ein idemifizierbarer Mitmensch oder eine wirkliche
Gruppe von Menschen zu sein. Der Mitmensch scheint eher einen
" Anderen" zu vertreten, der nicht identifiziert werden kann. Der Mit-
mensch gehört nämlich gleichfalls in die Verflechtung von Herausforde-
rung zum Sprechen und Bedürfnis nach Zuhörerschaft. Außerdem geht
die Anpassung an die Zuhörerschaft oder das Publikum niemals so weit,
daß die grundsätzlicheren Forderungen an den Sprechenden oder Schrei-
benden völlig außer Acht gelassen werden. Im Sprechen und Schreiben
scheinen andere Instanzen wirksam zu sein, die über die Zuhörerschaft
und das Publikum in ihrer Realität hinausreichen. Die Herausforderung,
das Wort zu ergreifen, scheint von weit her zu kommen. Das Verlangen
nach einer Antwort geht weiter als das nach zufälligem und vergäng-
lichem Beifall.
Im Sprechen und Schreiben sind Instanzen wirksam, vor denen wir
uns zu verantworten und zu rechtfertigen suchen. Sie stellen sozusagen
alles, was wir sagen, fortwährend in Frage oder unter Anklage. Sprechen
und Schreiben haben deshalb immer etwas von einer Verteidigungsrede
(Apologie) an sich, denn der Sprechende oder Schreibende muß sich
gegen die Anklage und Beschuldigung eines "Anderen" verteidigen, der
aUes, was wir behaupten, in Frage stdlt und nach dessen Freispruch man
verlangt. Sprechen und Schreiben haben stets auch etwas von einer
Provokation an sich, weil sie eine Gegen-Rede (im Sinne von Zustim-
mung oder Ablehnung) dieses "Anderen" herausfordern möchten. Alle

194
möglichen rhetorischen Mittel werden eingesetzt, um Freispruch und
Gegenrede zu erlangen.
Der "Andere" ist dem ungreifharen "Richter" im Roman Der Prozeß
von Franz Kafka oder dem unerreichbaren "Schloßherrn" in seinem
Buch Das Schloß sehr ähnlich. Vielleicht wird dieser ,.,Andere" in der
Tradition auch "Logos", "Vernunft", "Wahrheit" oder "Gott" genannt.
Sobald er jedoch namentlich angesprochen wird, wird er unwiderruflich
zu einem Teil der vorgetragenen Rede und fungiert als Fragment eines
Textes, der selbst eine rhetorische Verteidigung ist und nach Zustim-
mung verlangt. Es besteht eine unaufhebbare "Differenz" zwischen
dem, was wir sagen, und dem, was uns herausfordert, unsere Worte zu
sprechen.
Eine alte Erzählung kann uns vielleicht noch einen Schritt weiter
führen: die Erzählung von Tausend und einer Nacht. Es handelt sich hier
um eine ganze Reihe von Erzählungen, die alle in eine Rahmenerzählung
verwoben sind: die junge und schöne Scheherazade ist auserkoren, die
höchsten Freuden des Lebens zu genießen. Sie muß dafür jedoch mit
dem Tod bezahlen. Sie vermag ihr Leben nur zu retten und den Tod
hinauszuschieben, wenn sie jede Nacht aufs neue eine Geschichte er-
zählt. Durch ihre fesselnde Rede und ihre vortreffliche Darstellungs-
weise - die ars bene dicendi - gelingt es ihr tatsächlich, den Tod ständig
hinauszuschieben und den Genuß zu sichern. Wie die gesamte Wissen-
schaft und die Kultur grundsätzlich darauf abzielen, den Tod aufzu-
schieben, so ist vielleicht all unser Sprechen und Schreiben - auch die
Philosophie - bestrebt, dem Tod, dem großen Meister, dem Anderen par
excellence, zu entkommen. Sind wir nicht alle wie Scheherazade zum
Tod verurteilt? VieHeicht ist das dunkle Geheimnis des Todes - und
niemand weiß, was er mit diesem Wort sagen will- genau das, was unser
Sprechen und Schreiben von innen beherrscht und bestimmt, von innen
hervorruft und ermöglicht. "Das Wesensverhältnis zwischen Tod und
Sprache blitzt auf, ist aber noch ungedacht'C (Heidegger, Unterwegs zur
Sprache, S.215).

195
XVII. Bibliographie

Die nachfolgende Bibliographie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aufgenom-


men wurden nur jene Bücher oder Artikel, die ausdrücklich zitiert oder bei der Nieder-
schrift konsultiert wurden. Im allgemeinen handelt es sich jedoch um die wichtigsten
Veröffentlichungen, die zum Thema Rhetorik erschienen sind.
Nicht aufgenommen wurden klassische Texte zur Rhetorik (wie Aristoteles, Cicero,
Quintilian, Augustinus, Beda, Pascal usw.). Sie wurden stets so zitiert, daß sie leicht
wiederaufzufinden sind. Ebensowenig wurden Handbücher aus der Zeit vor 1800 aufge-
nommen, einige von ihnen wurden jedoch im Text nachgewiesen.
Verschiedene der nachfolgend aufgeführten Werke enthalten eine detaillierte Bibliogra-
phie; so insbesondere: Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik; Perelman, Traite
de l'argumentation; Kopperschmidt, Allgemeine Rhetorik; Plett, Einführung in die rheto-
rische Textanalyse. Wichtig ist auch Nummer 16 der Zeitschrift Communications (Du
Seuil, 1970). Zur Orientierung über dieamerikanische Literatur sei auf Drop, Qver
overtuigen verwiesen. Für die Problematik der Metapher ist die unten aufgeführte Biblio-
graphie von Shibles unverzichtbar. 1974 erschien auch eine ausführliche Bibliographie
(150 S.) von D. Breuer und G. Küpsch: Rhetoriklehrbücher des 16. .bis 20.Jahrhunderts,
die in H. Schanze, Rhetor.ik, aufgenommen wurde.
Schließlich werden in dieser Bibliographie eine Anzahl philosophischer Werke aufge-
führt, die nicht ausdrücklich auf die Rhetorik eingehen, die in unserem Text jedoch zitiert
wurden. Sie sind wichtig im Hinblick auf das Spannungsverhähnis zwischen Rhetorik und
Philosophie.

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