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Universität Bern, Institut für Germanistik

Vertiefungskurs: Dialektforschung 2.0


Frühlingssemester 2020, 17.8.20
PD Dr. Claudia Bucheli Berger

Standard und Mundart im Schulunterricht der


Deutschschweiz

Kathrin Stefanie Rösch


Lotzwilstrasse 28, 4900 Langenthal
kathrin.roesch@students.unibe.ch
16-115-776
Semester 6
Inhalt

1. Einführung .......................................................................................................................... 1
2. Hauptteil .............................................................................................................................. 1
2.1 Definition und Entwicklung des Konzepts der Diglossie............................................ 2
2.2 Kritik am Konzept der Diglossie ................................................................................. 4
2.3 Entwicklung des Spannungsfelds Standard-Mundart im Unterricht ........................... 7
2.4 Die Einstellung gegenüber der Standard-Mundart-Problematik ............................... 13
3. Fazit................................................................................................................................... 15
4. Bibliografie ....................................................................................................................... 16
1. Einführung
In dieser Arbeit soll betrachtet werden, wie das «komplexe und problematische» (Ber-
thele 2004, 111) Verhältnis von Standard und Mundart im Unterricht der Deutsch-
schweiz behandelt wird und welche Rolle dabei Geschichte, Lehrpläne und vor allem
die persönlichen Einstellungen der Lehrpersonen spielen. Eine breite Forschung zum
Thema ist vorhanden, ist das Spannungsfeld doch im Schulunterricht wie in keinem
anderen Bereich des Deutschschweizer Alltagslebens präsent. Raphael Bertheles Bei-
trag, der das gängige Prinzip der Diglossie kritisch betrachtet und somit einen Gegen-
pol zu Walter Haas’ Meinung darstellt, spielt dabei eine wichtige Rolle. Weiter zu
erwähnen sind vor allem Peter Sieber und Horst Sitta sowie Robert Schläpfer, deren
Beschreibungen vor allem im Punkt der Einstellung gegenüber der Standard-Mundart-
Problematik herbeigezogen wurden. Genau hier soll die Arbeit anknüpfen und hinter-
fragen, inwiefern denn die Haltung der Lehrpersonen den Unterricht oder die Schüler
und Schülerinnen beeinflussen kann. Um dies zu klären, wird in einem ersten Schritt
der Sonderfall der Deutschschweizer Sprachsituation beleuchtet, um danach eine his-
torische Skizze zu Handhabung der beiden Varietäten im Unterricht zu zeigen. Dabei
soll es sich nicht nur um den Deutschunterricht, sondern um den gesamten Umgang
mit den beiden Varietäten in allen Facetten des Schulalltages handeln. Nachdem dann
auch die aktuellen Methoden zur Standard-Mundart-Problematik im Unterricht be-
leuchtet wurden, sollen zuerst jene Umstände betrachtet werden, die die Haltung der
Schüler beeinflussen, um danach jene, denen die Lehrer ausgesetzt sind. Schlussend-
lich soll eruiert werden, wie stark der Schulunterricht die Spannung zwischen Mundart
und Standard noch unterstützt. In dieser Arbeit wird sich an sprachwissenschaftliche,
aber vor allem pädagogisch ausgerichtete Literatur gehalten. Des Weiteren wird der
aktuelle Lehrplan 21 konsultiert, der Einfachheit halber nur die Version des Kantons
Bern.

2. Hauptteil
Im Hauptteil wird das Konzept der Diglossie betrachtet. Dieser von Ferguson einge-
führter Entwurf beschreibt das Verhältnis zweier Varietäten, die kontemporär existie-
ren und die Sprecher und Sprecherinnen somit vor die Wahl des jeweiligen Gebrauchs
stellen. Vervollständigend wird Bertheles Kritik am Konzept betrachtet, um schluss-
endlich einschätzen zu können, ob und inwiefern es sich bei der Schweizer Sprachsi-
tuation um eine Diglossie handelt.

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2.1 Definition und Entwicklung des Konzepts der Diglossie
Der Begriff der Diglossie wurde erstmals von Charles Ferguson 1959 in seinem Auf-
satz Diglossia eingeführt. Diese neue Bezeichnung für eine linguistische Sondersitua-
tion, nämlich der Gebrauch zweier nahverwandten Varietäten, war nötig, denn der bis-
her verwendete Terminus bilingualism passte nicht zum beschriebenen Phänomen:

The term 'diglossia' is introduced here, modeled on the French diglossie,


which has been applied to this situation, since there seems to be no word
in regular use for this in English; other languages of Europe generally use
the word for 'bilingualism' in this special sense as well (Ferguson 1959,
325-326).

Um das Vorkommen von Diglossie in mehreren Sprachen besser zu erklären, verwen-


dete Ferguson die Bezeichnungen high variety (H) für die übergeordnete oder standar-
disierte und low variety (L) für die dialektale Varietät der untersuchten Sprachen (Fer-
guson 1959, 327). Ganz offensichtlich setzt diese Art der Unterteilung eine klare Hal-
tung gegenüber den Varietäten voraus, nämlich die Annahme, dass L grundsätzlich als
niedriger oder sozial weniger anerkannt bzw. H als prestigeträchtiger gilt. Dass diese
Unterteilung für den Sprachgebrauch in der Deutschschweiz weder zum Zeitpunkt der
Präsentation des Konzepts noch aktuell korrekt ist, ist offensichtlich. Trotzdem wurde
folgende Reaktion festgestellt:

Fergusons Diglossie-Konzept ist von den Schweizer Dialektologen und


Soziolinguistinnen begeistert aufgenommen worden: Endlich schien der
längst verspürte Sonderfall ihrer Situation auf den Punkt gebracht (Haas
2004, 83).

Die Definition des Phänomens wurde vielfach bearbeitet, so auch von Fishman, der
eine wichtige Voraussetzung für das Vorhandensein einer Diglossie in der funktionel-
len Verteilung der Varietäten sah (Hass 2004, 83). Damit ist gemeint, dass nicht sozi-
ale, sondern kontextuelle Parameter bestimmen, wann welche Variante verwendet
wird. Kolde verfeinerte diese Annahme und führte den Begriff der medialen Diglossie
ein, wonach die Wahl der Variante vom Medium, also von Mündlichkeit (L) oder
Schriftlichkeit (H), abhängig sei (Haas 2004, 84).

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Seit der Aufstellung dieser Theorie im Jahr 1981 hat das Medium der Schriftlichkeit
in der Deutschschweiz an Kraft verloren. Die Mundartvarietät hat sich in vielen Be-
reichen etabliert, dies auch aufgrund neuer Medien, so beispielsweise Handys, die er-
lauben, auch in der Schriftlichkeit die Mundart zu benutzen. Somit stellt sich die Frage,
ob es sich heute noch um eine Diglossie handelt, oder ob die Sprachsituation der
Deutschschweiz bereits in eine Form des Bilingualismus übergegangen ist (Haas 2004,
85). Um dies zu klären, muss der Begriff der Diglossie, nachdem er nun so gut wie
möglich definiert wurde, von anderen Phänomenen der Zweisprachigkeit abgegrenzt
werden. Nach Haas steht die Diglossie zwischen den zwei im Folgenden beschriebe-
nen Extremen: Der Registervariation und dem Bilingualismus (Haas 2004, 91):

Register haben die Aufgabe, eine Äusserung durch die Wahl der geeigne-
ten sprachlichen Mittel auf die Situation „zuzuschneiden‟ […]. Sprachge-
meinschaften, die nur Registervariation kennen, sind monolingual, denn
Registervariation spielt innerhalb der „gleichen Sprache‟ (Haas 2004, 90).

Im Unterschied zur Diglossie wird im Falle des Bilingualismus traditionell


mit zwei verschiedenen Sprachsystemen gerechnet. […] Typischerweise
aber kann der bilinguale Sprecher die Elemente den je „zuständigen‟ Va-
rietäten problemlos zuweisen und in entsprechenden Situationen ebenso
gut monolingual formulieren (Haas 2004, 91).

Ein weiteres Phänomen, das Standard-mit-Dialekt-Arrangement, sei einer Diglossie


schon sehr ähnlich. In einem solchen Arrangement sind ebenfalls zweit Varietäten, die
man als L und H bezeichnen könnte, vorhanden, werden aber nicht nach kontextuellen,
sondern nach sozialen Parametern verwendet. Des Weiteren beherrscht die Mehrzahl
der Sprecher nur noch H (Haas 2004, 97).

Nun stellt sich nach wie vor die Frage, wo Diglossie aufhört und Bilingualismus be-
ginnt. Einen genauen Punkt zu nennen ist quasi unmöglich, weshalb Haas hier vor-
schlägt, von der Erwerbssituation auszugehen: Das Erlernen des Standards sei für ei-
nen «typischen» Deutschschweizer nicht vergleichbar mit dem Erlernen einer anderen
Sprache, es geschehe mehr oder weniger automatisch, weshalb man von einem erwei-
terten Spracherwerb ausgehen kann (Haas 2004, 89-90). Des Weiteren sei die Ähn-
lichkeit zwischen Standard und Mundart so gross, dass es problemlos möglich sei,
neue Standard-Begriffe in den Dialekt zu integrieren (Haas 2004, 87-90). Es ist also

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vor allem das grosse gemeinsame Lexikon, das für eine Diglossie und gegen einen
Bilingualismus spricht. Das Vorhandensein einer typischen Erwerbsreihenfolge, näm-
lich zuerst L, als die eigentliche, zu Hause gesprochene Muttersprache und später H,
sei ein weiteres Merkmal einer Diglossie, das Ferguson erwähnte (Ferguson 1959,
331) und gleichzeitig ein wichtiges Mittel zur Aufrechterhaltung letzterer (Haas 2004,
90).

Laut Haas müsse jedoch berücksichtigt werden, dass Sprache einer kontinuierlichen
Entwicklung unterworfen sei und nie stillstehe. Er hat mehrere Wege beschrieben, die
aus der Diglossie heraus zu einer Monoglossie, entweder in der früheren L oder der
früheren H, führen können (Haas 2004, 95-100). Die Deutschschweizer Sprachsitua-
tion habe jedoch eine gesonderte Entwicklung zur sogenannten ausgebauten Diglossie
durchlaufen (Haas 2004, 101-104):

Grundlegend scheinen zwei gesellschaftliche Bedingungen: Zum einen


müssen die Eliten davon abgehalten werden, L aufzugeben oder aber zu
standardisieren. Zum andern muss die Beherrschung der H-Varietät verall-
gemeinert, die Diglossie „ausgebaut" werden (Haas 2004, 102).

Schlussendlich ist Haas’ Behauptung, dass mit dem Begriff der Diglossie die Deutsch-
schweizer Sprachsituation zum Stand der Publikation gut beschrieben ist (Haas 2004,
104), als akzeptabel zu werten. Haas bestätigt dies folgendermassen:

Es besteht kein Anlass, einem derart prototypischen Fall von Diglossie ei-
nen unzutreffenderen Namen zu geben (Haas 2004, 103).

2.2 Kritik am Konzept der Diglossie


Die Einordnung der Deutschschweizer Sprachsituation in das Konzept der Diglossie
dominiert in der Sprachwissenschaft (Berthele 2004, 112). Es ist jedoch problema-
tisch, dieses Konzept als gegebene Wahrheit zu interpretieren. Laut Berthele beruht es
nämlich auf Ideologie:

[…] dass das Insistieren auf dem Diglossie-Begriff letztlich linguistisch


keine Grundlagen hat, sondern eine primär ideologische Position darstellt.
Mit Ideologie ist hier gemeint, dass diese Position auf Grundannahmen
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basiert, die innerhalb einer linguistischen Theorie im engeren Sinne nicht
beweisbar sind (Berthele 2004, 112).

Zu diesen Grundannahmen gehören eine negative, verkrampfte Einstellung gegenüber


dem Standard und damit zusammenhängend die Furcht, dass er in den Status einer
Fremdsprache abrutschen könnte. Des Weiteren gehen Vertreter der Diglossie davon
aus, dass L und H existieren und funktional in den Gebrauchskontexten verteilt seien
(Berthele 2004, 114). Auch muss man bedenken, dass jene Gebrauchskontexte (bei-
spielsweise Predigten, politische Reden und Nachrichtensendungen für H und Kon-
versationen mit Familie oder Angestellten und Radiosendungen für L) nie empirisch
untersucht wurden (Berthele 2004, 114) und somit auf subjektiver Wahrnehmung be-
ruhen (Berthele 2004, 115). Der Autor unterstreicht in seiner Kritik weiter die Tatsa-
che, dass sich die Gebrauchskontexte und auch die Sprachgemeinschaft stetig wandeln
würden und die Annahmen der Diglossie somit nicht in Stein gemeisselt werden kön-
nen:

Insgesamt also muss man mindestens bei der Hälfte der 12 von Ferguson
aufgezählten Kontexte zumindest ein Fragezeichen machen. Leider blieb
meines Wissens bislang unerforscht, wie viel H auch in 'L-Kontexten' etwa
in Agglomerationen mit hohem Immigrantlnnenanteil verwendet wird.
[…] Ich gehe davon aus, dass es in der deutschen Schweiz eine ganz be-
trächtliche Überlappung im Gebrauch von L und H gibt, dass viele von
Ferguson klar H zugeordnete Kontexte oft L zugeordnet werden können,
und dass in einigen Fällen andererseits H in 'L-Kontexten' verwendet wird.
Es zeigt sich also, dass bereits für das erste Schlüsselkriterium Fergusons
die deutsche Schweiz alles andere als ein gutes Beispiel darstellt (Berthele
2004, 116).

Eine weitere Ungereimtheit findet Berthele in der Etikettierung der Varietäten mit H
und L. H sei die «wertvollere, überlegene, logische, ’eigentliche‛ Sprache» (Berthele
2014, 117) und L wird als «wertlos, gewöhnlich, weniger logisch» (Berthele 2014,
117) bewertet. Die Geringschätzung des Dialekts könne festgestellt werden, dafür zi-
tiert der Autor eine Person, die beschreibt, dass der Standard als richtige Sprache mit
Grammatik wahrgenommen würde, während die Mundart den Stand eines Dialekts
hätte (Berthele 2004, 117). Gezweifelt wird hingegen am unangefochtenen Stellenwert
der H-Varietät:

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Wenn aber - wie von Ferguson gemeint - die H-Varietät als die unzwei-
deutig bessere oder gar als einzig reale gesehen würde, dann wären die von
Frauchiger beschriebenen Zustände im schweizerischen Parlament äus-
serst erstaunlich. Wieso um Himmels willen sollten Parlamentarier denn
ihr ungehobeltes, dialektal gefärbtes Hochdeutsch pflegen, wenn es doch
damit so stark entwertet wird? - Die Antwort liegt natürlich darin, dass das
Prestige einer Varietät niemals losgelöst von der Gebrauchssituation gese-
hen werden darf (Berthele 2004, 118).

Es handle sich somit nicht um ein «covert prestige», also um ein «kanonisch gegebenes
Wertesystem» (Berthele 2004, 118-119), das den Gebrauch bestimme, sondern um das
Ansehen des Standards in der Deutschschweiz, das eben situationsabhängig und vari-
abel sei (Berthele 2004, 119). Erfahrungen damit würden zum Beispiel Deutsche Per-
sonen machen:

In Kollers (1992: 336) Untersuchungen zu den Deutschen in der Deutsch-


schweiz geben insgesamt 56% aller befragten Deutschen an, gelegentlich
oder häufig zu spüren (oder gespürt zu haben), dass das Hochdeutsche als
Sprache nicht geschätzt wird (Berthele 2004, 119).

Schlussendlich korrigiert Berthele den Umgang mit L und H folgendermassen:

Während man die H-Varietät in Fergusons Paradigma braucht, um sozial


aufzusteigen, braucht man in der deutschen Schweiz L, um überhaupt so-
zial einzusteigen.

Ein weiterer Punkt im Konzept der Diglossie ist der Spracherwerb. Der bereits in 2.1
erwähnte erweiterte Spracherwerb soll unterstreichen, dass es sich eben um eine
Diglossie und nicht um eine Form des Bilingualismus handelt. Diese Beschreibung
des Erwerbs ist jedoch nicht vollständig, denn die Rolle der Schule wurde bei Ferguson
nicht genauer betrachtet. Festgestellt wurde, dass das Erlernen und der Gebrauch des
Standards vor Schulbeginn neutral verlaufe (Berthele 2004, 124). Mit dem Eintritt in
die Schule würde der Erwerb gehemmt, da der Gebrauch der Mundart statt Standard
von Lehrpersonen in den unteren Stufen verbreitet sei (Berthele 2004, 124), weiterhin
würde der Standard an Schulen in tendenziell negativer Art und Weise aufgefasst:

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[…] was zählt, ist dass das Hochdeutsche in den Deutschschweizer Schu-
len konsequent mit Normativität, Schreiben, Prüfen, sehr formellen Situa-
tionen etc. verbunden ist, und nicht mit Schwatzen, Witze machen, etc. Die
Einstellungen dem Englischen gegenüber fielen wohl genauso negativ aus,
wenn man die Sprache von Shakespeares Nachkommen nur für die ent-
sprechenden normativ geprägten pragmatischen Situationen lernen würde
(Berthele 2004, 125).

Nachdem nun die Diglossie als Lösung für die komplexe Deutschschweizer Sprachsi-
tuation neutral und kritisch betrachtet wurde, stellt sich die Frage, welches Konzept
man für linguistische Betrachtungen verwenden soll. Grundsätzlich würde ich die
Diglossie, wie sie Ferguson, Fishman und Haas beschreiben, nicht als falsch anneh-
men, auch überzeugen mich die in 2.1 angeführten Argumente, eher eine Diglossie als
eine Form des Bilingualismus in der Sprachsituation zu sehen. Trotzdem empfinde ich
auch Bertheles Argumente, die die Diglossie zwar nicht kategorisch abweisen aber
zumindest in ihrer Macht ziemlich abschwächen, durchaus als einleuchtend. Des Wei-
teren muss bedenkt werden, dass die Beiträge von Haas und Berthele nicht mehr brand-
aktuell sind und sich in der Zwischenzeit vor allem in der modernen Technik viel ent-
wickelt hat. So würde ich behaupten, dass die Schriftlichkeit in L seit 2004 gerade mit
den elektronischen Chatmöglichkeiten zugenommen hat. Somit verliert die Idee der
Diglossie wie von Berthele bereits beschrieben an Gültigkeit, ist aber in ihren Grund-
zügen in meinen Augen immer noch einleuchtender als die anderen betrachteten Kon-
zepte. Deshalb wird auch im Folgenden von Diglossie gesprochen, auch wenn damit
nicht mehr Fergusons Definition gemeint ist und sie sich vielmehr an Bertheles Kri-
tikpunkten und an den modernen Entwicklungen orientiert.

2.3 Entwicklung des Spannungsfelds Standard-Mundart im Unterricht


Wie bereits im Teil 2.1 erwähnt, spielt das Bildungssystem beim Erhalt der Diglossie
eine nicht unwesentliche Rolle. In der ausgebauten Diglossie herrscht nach wie vor
eine totale Überlagerung, das heisst niemand beherrscht H, der nicht auch L beherrscht,
(Haas 2004, 103) zumindest, wenn man vom «typischen Deutschschweizer» und der
«typischen Deutschschweizerin» ausgeht. Weiter oben habe ich jedoch darauf hinge-
wiesen, dass auch die Idee einer ausgebauten Diglossie nicht mehr als zeitgemäss be-
trachtet werden kann und deshalb nicht mehr auf die aktuelle Situation anzuwenden
ist. Gerade durch viele Einwanderer und Einwandererinnen, seien es solche aus ande-
ren deutschsprachigen Ländern oder auch solche, deren erste Sprache nicht Deutsch

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ist, kann man nur noch bedingt von einem «typischen Deutschschweizer» und einer
«typischen Deutschschweizerin» sprechen. Es ist also nicht gegeben, dass jeder Schü-
ler und jede Schülerin als L1 die Mundart haben und dann in Form des erweiterten
Spracherwerbs den Standard erlernen. Die Schule hat laut Artikel 15, Absatz 1 des
Bundesgesetzes über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den
Sprachgemeinschaften den gesetzlichen Auftrag, das Standarddeutsche den Schülern
und Schülerinnen beizubringen bzw. zu fördern und zu pflegen:

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Bund und Kantone sorgen im Rahmen ihrer Zuständigkeit dafür, dass die
Unterrichtssprache, namentlich ihre Standardform, auf allen Unterrichts-
stufen besonders gepflegt wird (Bundesgesetz über die Landessprachen
und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften 2017, Artikel
15, Absatz 1).

Mit den gesetzlichen Vorgaben haben sich auch Sieber und Sitta in «Mundart und
Standardsprache als Problem der Schule» von 1986 auseinandergesetzt. Was damals
in den Gesetzen deutlicher zu erkennen war, war die Vorgabe, dass auch die Deutsch-
schweizerischen Mundarten gezielt gefördert werden müssten (Sieber/Sitta 1986, 42).
Dies ist, wie man im zitierten Artikel 15 erkennen kann, heute zwar nicht mehr gesetz-
lich vorgegeben, im Lehrplan selbst, wie weiter unten beschrieben, jedoch nach wie
vor ein wichtiger Punkt. Die Hoheit über die Lehrpläne liegt bei den Kantonen, ge-
meinsame Ziele des Unterrichts in Bezug auf die Sprache gibt es aber durchaus in der
gesamten Deutschschweiz, so beispielsweise die Standardsprachkompetenz und die
allgemeine Sprachkompetenz in beiden Varietäten. Schlussendlich soll der Unterricht
also nicht nur eine bestimmte Sprachform, sondern auch die Fähigkeit zum generellen
sprachlichen Handeln vermitteln, so beschrieben es bereits Sieber und Sitta (1986, 44-
45) und auch der Lehrplan 21 teilt diese Meinung, wie weiter unten genauer betrachtet
werden wird.

Grundsätzlich kann man also feststellen, dass die Handhabung von Mundart und Stan-
dard in der Schule vom Bund reguliert wird. Bedingung für einen der aktuellen Situa-
tion angepassten Lehrplan sind diese Gesetze, weshalb man die Wichtigkeit ihrer Ak-
tualität nicht unterschätzen sollte. Gerade mit der veränderten Erwerbssituation durch
neue Techniken und Medien, die weiter unten beschrieben wird und der Tatsache, dass
signifikante Anteile der Schülerinnen und Schüler einer Klasse nicht eine

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schweizerische Mundart als L1 haben, ist es nötig, darauf zu achten, dass diese Gesetze
konstant dem aktuellen Stand der Dinge angepasst werden.

Nach den gesetzlichen Vorgaben sollen in diesem Teil die anfänglichen Tendenzen
der Handhabung des Spannungsfeldes im Unterricht beschrieben werden. Über die
schriftsprachlichen Gewohnheiten in der heutigen Deutschschweiz ab der Alemanni-
sierung bis zum 16. Jahrhundert ist bekannt, dass man kaum einen Unterschied zwi-
schen dem gesprochenen und dem geschriebenen Dialekt machte (Schläpfer 1994, 16).
Mit der Einführung der Schulpflicht für eine kleine Bildungsschicht im 18. Jahrhun-
dert nahm das Prestige der Mundart ab, sie wurde als hindernd angesehen für den
Übergang zur neuen Kultursprache (Schläpfer 1994, 17). Dies hielt aber nicht allzu
lange an, denn im Zuge der Romantik erlebte das Ursprüngliche, dass man den
Deutschschweizer Dialekten zuwies, einen Aufschwung (Schläpfer 1994, 17). Trotz-
dem geriet die Mundart im19. Jahrhundert in Gefahr. Die seit den dreissiger Jahren
obligatorische Volksschule verwendete als Unterrichtssprache zumindest eine schwei-
zerische Annäherung an den Standard, orientierte sich also an der geschriebenen Spra-
che, was für Mundartfreunde eine Bedrohung war (Schläpfer 1994, 17-18). Auch sonst
war die schulische Vermittlung des Standards noch nicht wirklich ausgereift. Viele
Lehrer waren dieser Varietät selbst nicht ganz mächtig oder wussten aufgrund einer
noch eher rudimentären Ausbildung nicht, wie mit dem Spannungsfeld Mundart-Stan-
dard umzugehen sei (Ruoss 2019, 301ff.).

Der Stellung von Dialekt im Unterricht wandte sich erstmals Mörikofer zu und stütze
seine Aussage vor allem auf Pestalozzis Grundsatz, von bereits vorhandenem Wissen
des Kindes auszugehen und darauf aufzubauen, anstatt nur Neues zu vermitteln (Mö-
rikofer 1838 71-72). So verlangte Mörikofer vor allem auf den unteren Schulstufen
Mundart als Unterrichtssprache, denn dies sei der Natürlichkeit des Kindes entspre-
chend:

Er (Pestalozzi Anm. d. Verf.) vorzüglich machte klar, dass Sprechen und


Denken dasselbe sein müsse, dass jede Wesenheit und jeder Gedanke von
selbst seine Sprache finde, dass daher die nur formelle Auffassung der
Sprache von der Sache und der Natur abführe und ein nur formeller Sprach-
unterricht gehalt- und gedankenlos werden müsse (Mörikofer 1838, 73).

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Es werde ausserdem befürchtet, dass spontane Einfälle in der Hochsprache nicht so
geäussert werden könnten, wie sie eigentlich gemeint wären und somit die Interaktion
zwischen Lehrern und Schülern stark eingeschränkt werden könnte (Ruoss 2019, 308).
Die Vermittlung des Standards sollte damals also, wenn auch nicht sehr zentral, nach
wie vor eine Rolle im Unterricht spielen, jedoch müsse man dabei immer von der
Mundart ausgehen und beispielsweise mit Übersetzungen arbeiten (Mörikofer 1838,
80). Richtig etabliert hatte sich Mörikofers Idee vorerst nicht, Mundart und Standard
hielten im Unterricht ein instabiles Gleichgewicht (Schläpfer 1994, 17).

Wenn man sich nun der Weiterentwicklung der Handhabung des Spannungsfelds zu-
wendet, kann Folgendes festgestellt werden: Erst mit einer starken Mundartwelle in
den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts, die im Zuge der geistigen Landesverteidi-
gung entstand (Sieber/Sitta 1986, 19-20), konnte man deutlichere Tendenzen des
Mundart- und Standardgebrauchs im Unterricht bemerken. Nach der zweiten Mund-
artwelle Ende der sechziger Jahre stellte man gemäss Schläpfer (1994, 21) einen Rück-
gang des Standards zugunsten der Mundart fest. In vielen Bereichen hätte sie über-
handgenommen, so beispielsweise bei öffentlichen Reden, in der Politik, in der Kirche,
in Radio, Fernsehen und auch in Texten (Schläpfer 1994, 20ff.).

Parallel dazu kam es zu einer Umstrukturierung des Unterrichtsstils. Eine sozialinteg-


rative Form des Unterrichtens wurde dem traditionellen Frontalunterricht vorgezogen
(Schläpfer 1994, 26) und neue Methoden wie Gruppenarbeiten und Projekte etablier-
ten sich. Die logische Konsequenz davon war vermehrter und vor allem akzeptierter
Gebrauch von Mundart während der Lektion, denn die Vorstellung von unter sich stan-
dardsprechenden Deutschschweizer Schülern und Schülerinnen wirkte gemäss Schl-
äpfer (1994, 26) damals geradezu absurd.

Der Code-Wechsel kam aber noch in weiteren Bereichen vor, so bei den Arbeitsan-
weisungen, zur Bekräftigung, bei Unsicherheiten beider Seiten, also bei Lehrern und
Lehrerinnen und Schülern und Schülerinnen und grundsätzlich bei allen Themen, die
über den geplanten Stoff hinausgehen (Sieber/Sitta 1986, 60). In den achtziger Jahren
spürten die Kantone den Bedarf der Schulen an genaueren Weisungen im Umgang mit
Standard und Mundart. Diese Weisungen orientierten sich am damaligen Artikel 116
der Bundesverfassung, heute Artikel 15 des Sprachgesetzes, weiter oben erwähnt und

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zielten somit auf einen stärkeren Gebrauch des Standards ab (Sieber/Sitta 1986, 43-
44). Gleichzeitig wurden die beiden Aspekte der Standardsprachkompetenz und der
allgemeinen Sprachkompetenz eingeführt (Sieber/Sitta 1986, 44). Standard wird so zur
eigentlichen Unterrichtssprache, vorerst noch ab der Mittelstufe und unter Auslassung
der sogenannten «Herz- und Handfächer», musische und handwerkliche Fächer, Reli-
gion und Sport also (Sieber/Sitta 1986, 45-46). Hat diese nicht ganz klare Handhabung
zum allgemeinen Abbau der Sprachkompetenz geführt, den man laut Schläpfer seit
den fünfziger Jahren feststellen kann? Während die Tatsache, dass die eigentliche
Kompetenz immer stärker abnimmt, stimmt, muss aber gesagt sein, dass, hätte es sich
um eine kontinuierliche, von der Schule gesteuerte Abnahme der Fähigkeit gehalten,
mittlerweile die meisten jungen Leute quasi Analphabeten wären (Schläpfer 1994, 27),
was ja nicht der Fall ist.

Im Zuge der Harmonisierung der kantonalen Systeme und der Etablierung des Lehr-
plans 21, je nach Kanton zwischen 2015 und 2020 eingeführt, erarbeitet seit 2010
(EDK, 2018), hielten wiederum neue Vorgaben Einzug. Beim Umgang mit Standard
und Mundart in der Schule ist vor allem festzustellen, dass die Auseinandersetzung
mit Schülern nichtdeutscher Muttersprache an Bedeutung gewonnen hat (BKZ Allge-
meine Hinweise und Bestimmungen 2017, 33/BKZ Sprachen 2017, 4). Die Einführung
des Standards erfolgt nun bereits im Kindergarten, wobei nach wie vor grosser Wert
auf die Mundart gelegt wir (BKZ Allgemeine Hinweise und Bestimmungen 2017, 19).
Diese Veränderung lässt sich damit erklären, dass mittlerweile bereits Kinder im Vor-
schulalter mit der Standardsprache in Kontakt kommen. Die erhöhte Mobilität und vor
allem die Medien leiten diesen sehr frühen erweiterten Spracherwerb ein (Häcki Bu-
holzer/Burger 1994, 149-150) und machen somit auch einen früheren schulischen Um-
gang mit dem Standard sinnvoll. Des Weiteren wird deutlich, dass das Erlernen des
Standards nicht nur in der Verantwortung des Deutschunterrichts, sondern in der aller
Fächer liegt und die Kompetenzen Hören, Schreiben, Lesen und Sprechen in sämtli-
chen Bereichen gefördert werden sollen (BKZ Sprachen 2017, 5). Ganz konkret äus-
sert sich der Lehrplan zur Thematik Standard-Mundart nur in einem kurzen Abschnitt
und knüpft damit an die Erkenntnis an, von bereits Vorhandenem auszugehen:

Kinder bringen bereits Erfahrung in Mundart und Standardsprache mit. An


diesen Erfahrungen knüpft die Volksschule an, um beide Sprachformen

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spielerisch zu erproben, das vorhandene Interesse an Sprachen zu verstär-
ken sowie Gebrauch und Funktion der Mundart und Standardsprache zu
reflektieren. Im Deutschunterricht lernen die Schülerinnen und Schüler,
Mundart und Standardsprache situationsangepasst, kreativ, sorgfältig und
sprachlich korrekt anzuwenden (BKZ Sprachen 2017, 7-8).

In der aktuellen Handhabung des Spannungsfeldes Standard-Mundart im Unterricht


liegen die Schwerpunkte also vor allem auf einem breiten allgemeinen Spracherwerb
und der Pflege beider Varianten. Ausserdem wird die Wichtigkeit des Umgangs mit
Schülern, die nicht Deutsch als Muttersprache haben, immer grösser.

Zur Entwicklung im Umgang mit der Standard-Mundart kann ich abschliessend fest-
stellen, dass sie auf eine natürliche Art und Weise verlief. Dass man zu Beginn der
Institutionalisierung der Schule vermehrt auf die Schriftsprache zurückgriff, um so den
mundartsprechenden Schülern und Schülerinnen die Varietät des Lernens näherzu-
bringen, ist eine durchaus logische Reaktion. Auch die ersten Forschungsansätze von
Mörikofer basieren auf Faktoren, die von aussen gegeben waren, also den einfachen
Tatsachen, dass in der Deutschschweiz zwei Varietäten zusammenspielen und dass es
der Natur des Kindes mehr entspricht, in seiner vertrauteren Varietät zu sprechen.
Auch die Mundartwellen haben ihren Ursprung in Ereignissen, die nicht von jenen
Personen gesteuert wurden, die sie danach verteidigten oder ihre Effekte bewahren
wollten, sondern die ebenfalls von aussen gegeben waren. Auch die Einführung von
neuen Unterrichtsmethoden basierte nicht auf dem Wunsch, primär die Standard-
Mundart-Handhabung zu ändern, dies passierte dann automatisch, beispielsweise mit
vermehrter Gruppenarbeit, die in den meisten Fällen auf Mundart verläuft. Durch die
Harmonisierung der Lehrpläne in den letzten Jahren wurde die Standard-Mundart-
Problematik wieder stärker ins Licht gerückt und vermutlich bisher am stärksten von
professionellen Meinungen beeinflusst. Da man sich aber, wie weiter oben erwähnt,
nach wie vor auf die bereits vorhandenen Spracherfahrungen der Kinder konzentriert
und parallel nicht vergisst, dass man auf jene Schüler und Schülerinnen eingehen muss,
die eine andere L1 haben, kann man sagen, dass der Unterricht in der Deutschschweiz
in Bezug auf Mundart und Standard auf einem guten Weg ist.

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2.4 Die Einstellung gegenüber der Standard-Mundart-Problematik
Auch ohne grosse Nachforschung kann man den heutigen Deutschschweizer Umgang
mit Standard und Mundart im Alltag gut beschreiben. Die Mundart hat nach wie vor
ein klares Prestige und wird in immer mehr Situationen dem Standard vorgezogen.
Diese Entwicklungen hängen aber von diversen Faktoren ab, die einen starken Einfluss
auf den Gebrauch der Varianten haben. Der Wandel in der Gesellschaft Richtung
Dienstleistungsstaat im letzten Jahrhundert habe die Wichtigkeit der professionellen,
also standardsprachlichen, Kommunikation geschaffen (Sieber/Sitta 1986, 23ff.).
Gleichzeitig trug aber eine Veränderung der Wertvorstellungen dazu bei, dass sich eine
freie Wahl zwischen Varianten etabliere, es hänge also nicht mehr von Gesellschafts-
schicht oder Vorgesetzten ab, wie man spreche (Sieber/Sitta 1986, 25ff.). Vor allem in
den letzten Jahren änderte sich das Kommunikationsverhalten stark, festzustellen sei
eine klare Bevorzugung der Mundart auch im Geschriebenen, denn nur so könne man
sich im persönlichen Stil ausdrücken (Sieber/Sitta 1986, 26-27). Neben all diesen Ent-
wicklungen würde die Beliebtheit der Mundart auch einfach dadurch verstärkt, dass es
in der Deutschschweiz gar keine Notwendigkeit einer überregionalen Sprache gäbe
und ortsunabhängig problemlos der eigene Dialekt gesprochen werden könne (Sie-
ber/Sitta 1986, 30-31). Die Haltung gegenüber dem Standard stellt sich als etwas kom-
plizierter dar. Sie wird dadurch beeinflusst, dass oftmals die Einstellung gegenüber
Deutschland auf die Standardsprache übertragen würde und somit als eher kühl ange-
sehen würde (Sieber/Sitta 1986, 143), denn man müsse trotz allem zugeben, dass der
typische Schweizer Deutschland nicht gerade als sehr sympathisch empfindet. Man
müsse jedoch bei der Bewertung des Standards zwischen den verschiedenen Diszipli-
nen unterscheiden. Während geschriebenes Standarddeutsch und somit auch das Lesen
als ganz normal empfunden und akzeptiert würden (Sieber/Sitta 1986, 31-32), sei die
mündliche Verwendung der Varietät tendenziell unbeliebt (Sieber/Sitta 1986, 32). Das
passive Hören und Verstehen stelle kein Problem dar, mit dem aktiven Sprechen geht
jedoch eine gewisse Unsicherheit einher (Sieber/Sitta 1986, 32-33).

Grundsätzlich gilt, dass der Faktor der Motivation sehr wichtig ist in Bezug auf
Spracherwerb. Unterschieden wird zwischen integrativer und instrumenteller Motiva-
tion (Sieber/Sitta 1986, 139ff.), also zwischen dem Wunsch, die Sprache zu erlernen,
um Teil einer Gruppe zu werden und der Notwendigkeit, die Sprache zu lernen. Dass
der schulische Deutschunterricht instrumentell motiviert sei, liegt auf der Hand, aber

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auch da gäbe es einen Unterschied zwischen dem Schreiben, Lesen und Hören und
dem aktiven Sprechen, dieses sei für viele Schüler mit einer gewissen Angst verbunden
(Sieber/Sitta 1986, 140ff.). Obwohl es keine empirischen Studien über jene Muster
gibt, die die Spracheinstellung von Deutschschweizer Dialektsprechern beeinflussen,
kann man seit den neunziger Jahren bei jungen Menschen einen klaren Rückgang des
Standardgebrauchs feststellen (Häcki/Buholzer 1994, 153ff.). Bestätigt wird diese
Theorie durch Forschung, die sich mit der Einstellung von Schülern und Schülerinnen
verschiedener Stufen gegenüber dem Standard beschäftigt. Festgestellt wurde, dass
Kindergartenkinder eine neutrale Einstellung gegenüber dem Standard hätten, dies
aber nicht, weil sie ihn noch gar nicht kennen, sondern weil er noch in keinem schuli-
schen Zusammenhang stehe (Häcki Buholzer/Burger 1994, 164 ff.). Beim Übertritt in
die 1. Klasse gewinne der Standard an Beliebtheit, denn er sei etwas Neues und Span-
nendes für die Kinder (Häcki Buholzer/Burger 1994, 164ff.). Obwohl in den unteren
Stufen Standardsprecher als kompetenter angesehen werden, nehme diese Beliebtheit
aber schon ein Jahr später wieder ab und diese Tendenz bleibe bis in die Oberstufe
bestehen (Häcki Buholzer/Burger 1994, 164ff.).

Der grösste Einfluss auf die Haltung der Schüler gegenüber dem Standard haben zwei-
fellos die Lehrer. Ihre persönliche Einstellung sei aber wiederum von gewissen Fakto-
ren abhängig, so beispielsweise vom Kollegium, von Fortbildungen und auch von
Fachpublikationen (Sieber/Sitta 1986, 36-38). Die schulinterne Tradition beim Um-
gang mit Mundart und Standard, die didaktischen Entwicklungen und die gesetzlichen
Vorgaben seien hier jedoch die stärksten Aspekte (Sieber/Sitta 1986, 38-39). Traditi-
onen, die wohl für die meisten Schulen gelten, seien die Unterscheidungen zwischen
Fächern und Schulstufen. Typisch seien dabei der stärkere Mundartgebrauch bei den
unteren Stufen und in den bereits in 2.3 erwähnten «Herz- und Handfächern», sowie
in jenen Teilen der Lektion, bei denen es nicht um den eigentlichen Stoff ginge (Sie-
ber/Sitta 1986, 62ff.). Während also Oberstufen-, Gymnasial- und Berufsschullehrer
kein Problem mit konstantem Standardgebrauch zu haben schienen, wiesen Lehrer der
Unter- und Mittelstufe ein ambivalentes Verhältnis zur Variante auf (Sieber/Sitta
1986, 98-99), dies aber nicht nur aufgrund der bekannten historischen Fakten sondern
vor allem wegen eigenen Unsicherheiten und Schwierigkeiten. Dies beeinflusse je-
doch direkt die Haltung der Schüler und Schülerinnen, denn je stärker der Standard im

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Unterricht als Fremdsprache behandelt werde, desto grösser werde auch die Distanz
(Sieber/Sitta 1986, 140-141). Diese Verkrampfung beschreibt Sieber noch genauer:

Das kann seine Ursachen in Einstellungen wie den folgenden haben: Das
Hochdeutsche wird als «Fremdsprache» betrachtet und in eine unnötige
Distanz zur Mundart gerückt. Die eigene Kompetenz wird als gering ein-
gestuft. Beim Sprechen der Standardsprache fühlt man sich behindert. Die
Normen für die Standardsprache werden als (unerreichbar) hoch definiert.
Hochdeutschsprechen im Unterricht wird als ein «Muss» erfahren. Schrei-
ben wird kaum als persönliches, hilfreiches Medium betrachtet (Sieber
1988, 40).

Schlussendlich kann man also sagen, dass es zwar starke äussere Faktoren gibt, die
Schüler und Lehrer in ihrer Haltung beeinflussen, dass jedoch die Unsicherheit im
Umgang mit Standard, von der Lehrpersonen der unteren Stufe betroffen sind, nach
wie vor stark dafür verantwortlich ist, dass der Standard von den Schülern eher negativ
aufgenommen wird. Um diesen Teufelskreis zu brechen müsste man laut Sieber Übun-
gen planen, wo Standard und Mundart bewusst umgedreht werden würden, so bei-
spielsweise Scherzen im Standard und Erklärungen schwieriger Sachverhalte in
Mundart (Sieber 1988, 42 und Sieber/Sitta 1986, 141). Rash erinnert ausserdem an
folgenden wichtigen Punkt:

[…] they should concentrate more on the colloquial possibilities of HG


than on elevated style, complex syntax and correctness – complicated Ger-
man is not necessarily synonymous with good German (Rash 1998, 56).

3. Fazit
Dass die Spannung zwischen Mundart und Standard in sämtlichen Lebensbereichen
der Deutschschweizer eine wichtige Rolle spielt, ist unbestritten. Dabei ist der Um-
gang mit dieser Problematik gerade in der Schule sehr präsent. Während sich mittler-
weile in den Lehrplänen klar vorgegebene Methoden damit etabliert haben, konnte
festgestellt werden, dass deren Umsetzung schwieriger ist als gedacht. Offenbar ist es
nicht selbstverständlich, dass sämtliche Lehrpersonen den eigenen Umgang mit Mund-
art und vor allem Standard im Griff haben. Das die Problematik der Unsicherheit einen
direkten und tendenziell negativen Einfluss auf die Einstellung gegenüber den Varie-
täten der Schüler und Schülerinnen haben kann, wird in den Lehrplänen nicht

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angesprochen. Des Weiteren habe ich im Gespräch mit angehenden oder vor Kurzem
diplomierten Lehrerinnen herausgefunden, dass auch während der Ausbildung an der
Pädagogischen Hochschule davon ausgegangen wird, dass man den Standard ohne
Weiteres beherrschen und selbstverständlich verwenden kann. Schlussendlich kann
man davon ausgehen, dass die Deutschschweizer Schulen im Umgang mit den Varie-
täten gerade mit dem neuen, harmonischeren Lehrplan auf einem guten Weg sind.
Trotzdem wird die Macht des Einflusses der persönlichen Haltung der Lehrer und Leh-
rerinnen auf jene der Schüler und Schülerinnen unterschätzt. Damit wir also die ei-
gentlich hochgeschätzte Deutschschweizer Sprachsituation erhalten können, wird in
Zukunft diese Problematik auf den Tisch gebracht werden müssen.

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