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Friedrich Kittler

Wie man abschafft, wovon man spricht:

Der Autor von ,Ecce homo,

Ich danke Herbert Anton und Jochen Hörisch. Von ihnen


kam die Einladung, über Nietzsches letzte Reden zu reden.
Dann saß ich im Flugzeug nach Süden. Unten brannte die
Erde, eine halbe Nacht lang: Ölfelder und ihre Fackeln, von
Mossul bis zum Golf. Oben brannten noch ein paar dieser
Punktstrahler, die den Schlaf der anderen nicht behelligen.
Das Licht reichte, um in ,Ecce homo, zu blättern.
Tags darauf, unter der senkrechten Sonne, das Buch im
Sand. Nietzsche erzählte von seinen kranken Augen, und
wie er froh war, nichts mehr lesen zu können. In seltsamen
Nächten ohne Lampe hatte ich Zettel vollgeschrieben, ohne
sie wiederlesen zu können, und als ich es merkte, auch
gleich aufgeschrieben, daß Lesen Licht voraussetzt. Aber es
war ein mitteleuropäischer Kurzschluß gewesen. Unter der
senkrechten Sonne, beim «morgenländischen Überblick
1
über Europa» , flimmerten Meer und Buchstaben - an jenem
Tag las ich nicht weiter.
Wie die Sonne abschafft, was so als Diskurs läuft, Ist
also ganz einfach. Nur wenn einer aus Europa kommt, wo
Menschen «Tiere, die das Wort haben» heißen, muß er
schon ein paar Listen und Sprengsätze erfinden, bevor ab-
geschafft ist, wovon er spricht.

L~ut Nietzsche die Bedingung, um unsere Kultur analysieren zu


konnen. V~I. Werke.Kritische Gesamtausgabe. Hg. Giorgio Colli
~;: Mazz,no Montinari, Berlin-New York 1972//, Bd. Vll/2, s.

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1 ist, heiße Literatur. Literatur nicht als eine Textsorte, d'.~
über die Buchkulturen aller Zeiten und Völker verstreut wa-
Foucault, in seiner Untersuchung der Funktion Autorschaft re sondern als eine junge und unserer Kultur eigentümliche
hat auch beschrieben, was es heißt, mehr zu sein als nu; Er'scheinung. Dann bezeichnet Literatur eine unbegrenzte
ein Autor unter anderen. Foucault definiert: «Freud ist nicht Möglichkeit zum Diskurs (wie unbegrenzt, zeigt jede Buch-
einfach der Autor der Traumdeutung oder des Witzes; Marx messe) im Spielraum einer sehr begrenzten und begrenzen-
l~t nicht einfach der Autor des Manifests oder des Kapitals; den Regel. Erst seit dem 18. Jahrhundert sind als «Litera-
sie haben eine unbegrenzte Möglichkeit zum Diskurs ge- tur» nur noch Texte annehmbar, die «mit der Funktion Autor
schaffen.»2 Deshalb heißen Freud und Marx dem Begründer versehen sind: jeden Poesie- oder Fiktionstext befragt man
eines Diskurses vom Diskurs fortan: Diskursivitätsbegrün- danach, woher er kommt, wer ihn geschrieben hat, zu wel-
der. chem Zeitpunkt, unter welchen Umständen oder nach wel-
Man sieht, den Philosophen suchen, auch wenn er dage- chem Entwurf».4
gen anschreibt, noch immer Ursprünge und Gründungsakte Deutungs- und Archivierungstechniken von Literatur, Li-
heim. teraturmagazine also suchen die Wahrheit über Wörter seit-
Aber es gibt auch das Gegenteil: Leute, die eine unbe- dem beim Sprecher oder Schreiber. Was ein Witz ist. Als ob
grenzte Möglichkeit zu reden nicht geschaffen, sondern ab- Eigennamen nicht Wörter wie alle anderen wären. Nur muß
geschafft haben. So der Schreiber, den Foucault immer wie- einer schon in der Irrenanstalt sitzen, um das auszuspre-
der mit Freud und Marx in einem Atemzug nennt und nur in chen. Als der Psychiater Navratil einen Schizo fragte, wann
seiner Galerie von Diskursivitätsbegründern ausläßt.3 Und Werke gut seien, kam die nach allen Regeln unserer Kultur
das nicht von ungefähr. Denn erstens: wem die seltsame aufgesagte Antwort: «Wenn sie mit der Persönlichkeit über-
Funktion zufällt, eine Diskursivität abzuschaffen, kann von einstimmen». Aber als er nachfragte, woran die Übereinstim-
ihr kaum Denkmäler erwarten. Und zweitens schaffte jener mung zu erkennen sei, kam nur noch: «An der Unter-
Schreiber nicht irgendeine, sondern genau die Diskursivität schrift.»5
ab, deren Merkmal die Funktion namhafter Autorschaft sel- Drei Monate vor seiner Einweisung ins Irrenhaus, am
ber war. Ich spreche von Nietzsche. fünfundvierzigsten Geburtstag fing Nietzsche ,Ecce homo,
Die Diskursivität, deren Merkmal der obligate Autorname an. Und als das Buch fertig war, schrieb er einem Freund:
«Es geht dermaßen über den Begriff •Literatur, hinaus, daß
2 Michel Foucault, ,was ist ein Autor?,, in: Schriften zur Literatur, selbst in der Natur das Gleichnis fehlt» 6 (III 1338). Das ist
München 1974, S. 24.
3 Im Aufsatz ,Nietzsche, Freud, Marx• hatte Foucault noch ge-
schrieben, daß wir, auch und gerade wenn wir Nietzscheinter- 4 ,Wasist ein Autor?•,a.a.O.,S. 19.
pretieren, im Zirkel seiner Interpretationenstehenund ~onihn~n 5 Leo Navratil,Gespräche mit Schizophrenen. München 1978 s.
interpretiert werden. Vgl. Cahiers de Royaumont, Ph1losoph1e, 129/. '
Nr. 6 (1964), S. 185/. 6 Stellenangabenim Text verweisenauf Nietzsches Werke in drei

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Klartext. ~eine Rede davon, nur eine bestimmte Literatur zu
- Sie schreiben ja schon darüber, wie das Schreiben ein_em
v_~rabsc~1~denund eine andere zu beginnen; ,Ecce homo, Menschen und seiner Entwicklung entsprang. Deshalb feier-
raumt mit ihrem «Begriff» selber auf. Eine D"skursivität wird te Dilthey die Dichter-Autobiographien als Naturform all~r
abgeschafft. Aber auch keine andere-begründet. Das ist der Hermeneutik. Wie zahllose Schreiber im literarischen Ze1t-
ganze Unterschied zu Marx und Freud. Marx verschrieb sei- ä1terwar auch Nietzsche «seit seiner Jugend mit einer Be-
ne Theorie Leuten, die der europäischen Menschen-Defini- mächtigung seiner eigenen Vergangenheit beschäftigt, einer
tion zuwider nicht das Wort haben, sondern bloß Kinder autobiographischen Konstruktion also,. die die Zufäl!!.9._keit
(genau das besagt Proletariat). Freud übersetzte Zeichen seines Seins rechtferti en würde>/, «Fridericus Nietzsche,
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die die Hysterikerinnen auf seiner Couch nicht sprachen: De vita sua» hieß einer der Titelentwürfe für ,Ecce homo,.
sondern buchstäblich verkörperten. Nietzsches letztes Buch Und der Untertitel «Wie man wird, was man ist» gibt der
dagegen ist Übertretung und nichts als Übertretung. Es be- Autobiographie das Ziel vor, schreibend die Werke aus dem
gründet keinen anderen Diskurs mit anderen Merkmalen an- Menschen herzuleiten, der Namen und Identität im Schrei-
deren Adressen, anderen Verteilungsregeln; es macht' der "i ben dieser Werke erlangte.
«Literatur» im exakten neuzeitlichen Wortsinn einfach da- Dieser Zirkel öffnet, seit Rousseaus ,Confessions, und
durch ein Ende, daß ihre Regeln allesamt beim Wortgenom- Goethes ,Dichtung und Wahrheit,, einen Raum der Verdopp-
men werden. lungen und Wiederholungen. Der Mensch, aus dem die Wer-
«Der Mensch und das Werk» - so hatte Sainte-Beuve um ke herzuleiten sind, muß zunächst selber aus anderen Men-
1850 die zwei Pole getauft, zwischen denen die neue Gei- schen und deren Reden hergeleitet werden. So tat es der
steswissenschaft von der Literatur hin- und herlaufen sollte. Schreiber von <Dichtung und Wahrheit,, als er seine Verse
,Ecce homo, ist von vorn bis hinten auf diese Pole ausge- «VomVater hab' ich die Statur, des Lebens ernstes Führen,
richtet. Ein erster Teil erklärt, «warum ich so weise bin», vom Mütterchen die Frohnatur und Lust zu fabulieren» in
«warum ich so klug bin», «warum ich so gute Bücher Prosa setzte:
schreibe». Und nachdem so der Autor als Mensch erkannt «Mir war von meinem Vater eine gewisse lehrhafte Red-
ist, geht ein zweiter T~il die Schriften Nietzsches interpretie- seligkeit angeerbt, von meiner Mutter die Gabe, alles, was
rend durch, eine nach der anderen und in jener chronologi- die Einbildungskraft hervorbringen, fassen kann, heiter und
schen Reihenfolge, die um 1800 erfunden wurde, um herme- kräftig darzustellen, bekannte Märchen aufzufrischen, ande-
neutisch und editionstechnisch einen Stoß von Papieren re zu erfinden und zu erzählen, ja im Erzählen zu erfinden ...
einem Individuum zuordnen zu können.
Die Texte, an denen solche Literaturwissenschaft ihre
7 Pierre Klossowski, Nietzsche et le cercle vicieux. Paris 1969, S.
Wunscherfüllung hat, sind Autobiographien von Dichtern.
323. (Wie bei allen französisch zitierten Titeln meine Überset-
zung.)
Bänden, Hg. Karl Schlechta, München 1 1954-1956, Stellenanga- 8 Zitiert nach Erich Friedrich Podach, Friedrich Nietzsches Werke
ben ohne römische Bandzahl auf ,Ecce homo• in Band 11. des Zusammenbruchs, Heidelberg 1961, S. 164.

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-
Es begleiteten mich jene beiden elterlichen Gaben durchs kehr aus Verwandtschaft Identität. Wo als Erbschaft des
ganze Leben, mit einer dritten verbunden: mit dem Bedürf- Soh~s ein Wort des Vaters stand, erscheint als Sein des
nis, mich figürlich und gleichnisweise auszudrücken.» 9 Sohns sein Tod selber; wo als Mitgift des Sohns eine Lust
Der literarische Diskurs als heilige Hochzeit von väterli- der Mutter stand, erscheint als Sein des Sohns ihr Leben
chem Lehren (docere) und mütterlichem Ergötzen (delecta- selber.11 Nietzsche, statt seine Eltern bloß zu beerben, ist
re) - ob diese Herleitung selber lehrhafte Redseligkeit der sie. Das hat Folgen. Der Sohn Goethe konnte die lebbare
neuzeitlichen Familienschwärmerei oder Erfindung eines hi- Position aller guten Neurotiker beziehen, indem er sich zur
storischen Märchens ist, stehe dahin. Als Technik zur Indivi- Signifikantenbatterie der Familie rechnete und nicht rechne-
dualisierung von Reden ist sie jedenfalls gleich zum Pro- te12, die poetische Gabe nämlich einmal der Mutter und ein-
grammpunkt der neuen Literaturwissenschaft geworden. mal ihm selber zusprach. Der Sohn Nietzsche unterläßt
Wie um Goethes Rede vom poetisch-erotischen Mutterbezug solch doppelte Buchführung. Mit dem Wegfall einer «drit-
in eine Forschungstaktik zu überführen, forderte Sainte- ten» und eigenen «Gabe», des poetisch-metaphorischen
Beuve, «den großen Menschen zumindest zum Teil in sei- Ausdrucks, wird die ewige Wiederkehr zur ganz unmetapho-
nen Eltern und vor allem in seiner Mutter wiederzuerken- rischen Wahrheit, und das heißt zum Schicksal des Sohnes.
nen». Immer wieder, im Verhältnis einer Rede zu ihrem Nietzsche, sofern er sein toter Vater ist, lebt nicht nur «wie
Autor wie im Verhältnis dieses Autors zu seiner Familie, ein Schatten», gleichnisweise also, sondern «als Schatten in
hieß Literaturwissenschaft, den Schwachsinn vom Apfel Naumburg» (1070). Nietzsche, sofern er seine lebende Mut-
und Stamm nachzubeten. 10 ter ist, macht dem Sohn zu dessen fünfundvierzigsten Ge-
Was Wunder also, daß auch der Schreiber von ,Ecce ho- burtstag das Geschenk eines literarischen Kindes: ,Ecce ho-
mo, seine Größe und «Weisheit» gleich nach der betreffen- mo, selber (1069).
den Kapitelüberschrift von seinen Eltern herleitet: In •Dichtung und Wahrheit, konnte Freud eine frühe
«Das Glück meines Daseins, seine Einzigkeit vielleicht, Kindheitserinnerung freilegen, die das Unbewußte des
liegt in seinem Verhängnis: Ich bin, um es in Rätselform Schreibers Goethe, und das heißt seinen erotischen Bezug
auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine zur Mutter verbarg und verriet. Das neurotische Spiel zwi-
Mutter lebe ich noch und werde alt» (1070). schen Identität und Differenz zu den Eltern machte die Psy-
Die Wiederholung des Familienmodells aus ,Dichtung choanalyse von Literatur möglich. In ,Ecce homo, nichts
und Wahrheit, liegt zutage. Nur wird aus Weitergabe Wieder- dergleichen. Der psychoanalytischen Hermeneutik bleibt kei-
ne Lücke übrig, wenn das, was sie Schicksalsneurose

9 Goethes Werke, HamburgerAusgabe. Hg. Erich Trunz,Hamburg


1952// u.ö., Bd. IX, S. 447. 11 Vgl. dazuausführlich Jacques Derrida, •NietzschesOtobiogra-
10 Charles Sainte-Beuve,Nouveaux Lundis, Bd. III, Paris 2 1870, S. P,hie,,in diesemBand S. 7/f.
15-18. Vgl. dazu Elrud Kunne-lbsch, Die Stellung Nietzsches in 12 UbersolchdoppelteBuchführungvgl. JacquesLacan,Schriften
der modernen Literaturwissenschaft, Tübingen 1972, S. 46. Olten-Freiburg/Br.
1973/f, Bd. II, S. 181. '

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nennt, nicht im Unbewußten oder zwischen den Zeilen wal- sen!) erwachte langsam, schüchtern, zweifelhaft, aber end-
tet, sondern in der Rede manifest wird. Solche Reden lich redete es wieder» (1121).
schlie~t die Psychoanalyse denn auch sehr folgerichtig, un- Wo die alten lnitiationsrituale, aus denen Schamanen
term Titel Psychose nämlich, aus ihrem Feld aus. und Heilige hervorgingen, die vierzig Tage in der Wüste
Als unbewußte Effekte beschreibt Lacan «die Wiederkehr oder den narkotischen Scheintod hatten, verschwimmen
von bestimmten mehr oder minder schweren vitalen einfach die Buchstaben auf dem Papier. Als Ort der Nieder-
Unglücksfällen in eben dem Alter, wo sie einem Elternteil fahrt und Entrückung ersetzt das Buch den Busch. Wieder-
widerfahren sind, und bestimmte Aktivitäts- und Charakter- geboren wird: der neue Mensch und Autor Nietzsche. Es ist,
14
veränderungen beim Erreichen eines Lebensjahres, das zum mit Foucault zu reden, un phantastique de bibliotheque,
Beispiel dem Sterbealter des Vaters entspricht» 13• Als das aus dem lesenden einen Redenden, aus dem philologi-
schlichte und durchsichtige Begebenheit beschreibt Nietz- schen Beruf eine literarische Berufung macht.
sche: Benn fragte, ob «schon jemand einmal darüber nachge-
«Mein Vater starb mit sechsunddreißig Jahren ... Im glei- dacht habe, daß Nietzsche vierzehn Dioptrien trug, meistens
chen Jahr, wo sein Leben abwärts ging, ging auch das mei- zwei Gläser»15• Die Antwort: Nietzsche selber. Der Autor von
ne abwärts: im sechsunddreißigsten Lebensjahr nämlich ,Ecce homo, liest seine Augenschwäche als den Tod der
kam ich auf den niedrigsten Punkt meiner Vitalität» (1070). Philologie und das Ende einer Epoche, in der nach dem
Wer selber ausspricht, woran andere andere, zum Bei- Wort Friedrich Schlegels «Lesen und Schreiben nur dem
spiel Analytiker, herumrätseln lassen, entspringt der Psy- Grade nach verschieden» waren. 16 Seitdem «Jedermann le-
chologie und ihrer Besessenheit, nach Eltern und Familien sen lernen darf» 17 oder muß, seit der abgeschlossenen Al-
zu fahnden. Dort, wo der psychoanalytische Diskurs unmög- phabetisierung Mitteleuropas also nennen wir die zwei wohl-
lich wird, kommt ein mythischer auf Die buchstabengetreue unterschiedenen Kompetenzen Schreiben und Lesen eine
Wiederkehr des väterlichen Sterbealters macht den Tod zum einzige • die Bildung, die ein beständiges Hin und Her zwi-
lnitiationsritual. Im Jahr 1879 ist der sechsunddreißigjährige schen Schreiben und Lesen ist. Die ,Ecco homo,-Lehre, daß
Nietzsche in eine Unterwelt ohne Augenlicht herabgestie- keiner schreiben kann, der wie die Philologen pro Tag zwei-
gen: hundert Bücher wälzen muß, und keiner lesen darf, der
«Meine Augen allein machten ein Ende mit aller Bücher-
würmerei, auf deutsch Philologie: ich war vom •Buch• er- 14 Vgl. Schriften zur Literatur, S. 160.
löst, ich las jahrelang nichts mehr - die größte Wohltat, die 15 Roman des Phänotyp. GesammelteWerke, Hg. Dieter Wellers-
ich mir je erwiesen habe! - Jenes unterste Selbst, gleichsam hoff, Wiesbaden1959-61, Bd.11,S. 176. Hinweis von Georg Hol-
lenkamp.
verschüttet, gleichsam still geworden unter einem beständi-
16 Da~Näherein meinemAufsatz ,Autorschaft und Liebe,, in: Aus-
gen Hören-Müssen auf andre Selbste (· und das heißt ja le-
treibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften (Pa-
derborn1980).
13 Lacan, Die Familie. Schriften, Bd. III, 1980. 17 Nietzsche,Werke. Hg. Colli/Montinari,Bd. Vll/1, s. 134.

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Schreiber werden will (1094), verneint also die Regel selber Zeit mit sieben Jahren, wußte ich bereits, daß mich nie ein
auf der literarische Bildung beruhte. Aber sie verneint si~ me~schliches Wort erreichen würde» (1098). Es ist ja das
durch Wörtlichnehmen. Seit dem Jahr seiner Unterweltsfahrt Schicksal oder Fatum des lnfans, daß ihm kein Fatum, kein
liest Nietzsche nicht mehr, weil ihm aufgegangen ist, daß Gesagtes zu Ohren kommt_, nur weißes Rauschen, un-
«Lesen ein beständiges Hören-Müssen auf andre Selbste ·menschliches Blabla. Nietzsche in einer isolierten Aufzeich-
heißt». nung:
Genau diese Definition oder diesen Imperativ (was das- «Was ich fürchte, ist nicht die schreckliche Gestalt hinter
selbe ist) hat ein Jahrhundert zuvor die literarische Herme- meinem Stuhle, sondern ihre Stimme: auch nicht die Worte,
neutik errichtet. Ein Buch, das schon im Titel ,Die Kunst, sondern der schauderhaft unartikulierte Ton jener Gestalt.
Bücher zu lesen, lehrte, verordnete: «Wir müssen beim Le- Ja, wenn sie noch redete, wie Menschen reden» (III 148).
sen eines Gedichts unsere Persönlichkeit vergessen, und Aus diesem Schrecken des Hörens den Sieg eines
nur in dem Dichter leben und weben.»18 Und sein Seiten- Schreibens zu machen - das ist laut ,Ecce homo1 die Kunst
stück, ,Die Kunst zu denken>, fügte hinzu: «Bei der Ueber- des Stils und die Antwort auf die Frage, «warum ich so gute
sicht des Ganzen eines Werkes muß man auf den Geist, der Bücher schreibe»: «Einen Zustand, eine innere Spannung
dasselbe belebt, und auf den Charakter, der dasselbe von von Pathos durch Zeichen, eingerechnet das Tempo dieser
allen Andern unterscheidet, aufmerksam seyn, um sowohl Zeichen, mitzuteilen - das ist der Sinn jedes Stils; und in
die Eigenheiten des Denkers, als seiner Gedanken kennen Anbetracht, daß die Vielheit innerer Zustände bei mir außer-'
zu lernen.» 19 Das individualisierende Lesen, das seit 1800in ordentlich ist, gibt es bei mir viel Möglichkeiten des Stils -
die Reden eine Funktion Autorschaft einführt, die Erfindung die vielfachste Kunst des Stils überhaupt, über die je ein
des Menschen hinter den Wörtern also bestimmt auch Nietz- Mensch verfügt hat» {1104). In der Tat: wenn die artikulierte
sches Begriff vom Lesen. Er setzt das Gesetz nicht ab, um Rede eine vom Diskurs des anderen gesteuerte Filterung
die Wörter Wörter und die Menschen Menschen sein zu las- aus weißem Rauschen ist und wenn Nietzsches Ohren die-
sen, sondern wird nur vom lnitiationstod aus seinem An- ses Filtern nicht mitmachen, wird die Vielheit innerer Zu-
wendungsbereich geschleudert. stände außerordentlich.
So ist Nietzsche unter gebildeten, und das heißt abwech- Solchen Gewinn hat, wer sein Sprechen nicht wie Goe-
selnd lesenden und schreibenden Individuen einzig und in- the verwandtschaftlich definiert - es habe erstens etwas
dividuell darin daß er taub und blind ist. Er liest nicht mehr, vom Vater und zweitens etwas von der Mutter und sei drit-
er schreibt nu~. Seine kranken Augen versetzen ihn in __ eine tens doch etwas Eigenes -, sondern wer es mit unartikulier-
Lage, die infantil im Wortsinn ist: «In einer absurd fruhen ten und dissonanten Stimmen schlicht identisch nennt.
Nietzsche kann den zu Lebzeiten unmöglichen Satz schrei-
~en «ich bin als mein Vater bereits gestorben»; also bleibt
18 Johann Adam Bergk, Jena 1799, S. 326. .. •h_mauch das Wort vom Tod Gottes nicht im Hals stecken.
19 Bergk, Die Kunst zu denken. Ein Seitenstück zur Kunst, Bucher
Nietzsche kann den in Männerbünden unmöglichen Satz
zu lesen, Leipzig 1802, S. 183.

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schreiben «als meine Mutter lebe ich noch»; also findet er Taine führte Gewalttätigkeit und Melancholie der Germa-
auch einen Leitfaden, den alle Philosophie verliert: den Leit- nen zurück auf ihre rauhen feuchten Wälder, Trunksucht
faden des Leibes. Morbid und gesund, tot und lebendig zu- und grobe Ernährung, die Lebenslust und Kulturerfi~dun~
gleich durchmißt Nietzsche die Vielheit, die er ist. der Romanen auf ihr lichtes Meer und trockenes Klima.
Nietzsche zitiert also nur, wenn er die deutsche Bildung als
2 Alkoholismus beschreibt, oder wenn er folgert: «Paris, die
Provence, Florenz, Jerusalem, Athen - diese Namen bewei-
,Ecce homo,, die Schrift übers eigene Schreiben potenziert sen etwas: das Genie ist bedingt durch trockne Luft» (1085).
die Vielheit noch einmal. Das Kapitel «Warum ich so klug Und wie die Einzelheiten, so die Rahmenbegriffe. Nur die
bin» führt die «Originalität» (1100) Nietzsches auf ihre vielen ,Ecce homo>-Redaktionvon Peter Gast hat verschleiert, daß
äußeren und extradiskursiven Bedingungen zurück. Über der Autor Nietzsche seiner Rasse und seinen geschichtli-
die negativen Bedingungen hinaus - Nietzsche hat auf theo- chen Umständen in strenger Taine-Anwendung gleichen
logische, und das heißt väterliche Wörter nie gehört (1082) Rang wie dem Klima und der Ernährung gibt. Im Manuskript
und, zumal in «schwangeren», und das heißt mütterlichen gehört zum Komplex Rasse der stolze Zweizeiler «Noch ist
Zuständen nie gelesen (1087) -, kommen positive Bedingun- Polen nicht verloren, - / Denn es lebt Nietzky noch» 21 , zum
gen seiner Produktivität zu Wort. Alle hängen sie am Leit- Komplex Umstände das grandiose Argument: «Ich wäre
faden des Leibes: Rasse, Klima und Ernährung, Umstände. nicht möglich ohne eine Gegensatz-Art von Rasse, ohne
ird. was man ist» erfährt sehr einfa- Deutsche,ohne diese Deutsche, ohne Bismarck, ohne 1848,
an eine Suppe alla tedesca ißt und ohne ,Freiheitskriege•, ohne Kant, ohne Luther selbst... Die
e isc e ac guß-Bedürfnisse der Deutschen» ~ro~en Cu~~ur-Ver~rechen der Deutschen rechtfertigen sich
i de man von Hause, und das heißt vom in einer hoheren Okonomik der Cultur ... Selbst das Chri-
a Oe sc er ist und die «ausgezeichnet ~tenthum wird nothwendig: die höchste Form, die gefähr-
eertänder dem feuchten Mitteleuro- hc~ste,-~ieverführerischste im Nein zum Leben fordert erst
seine hochste Bejahung heraus - mich ... » 22
e Gle·c ung von eist, und <ißt>ist Al!e U'."ständebejahen, die zur großen Bejahung des Le-
1tz. ietzsches literarische Auto- bens in N~etzschenotwendig waren, heißt Bedingungen und
al nur die Literaturwissen- Etfe~te d'.~ser Autorschaft ins Universale erweitern. Auch
• icht umsonst läuft in der damit erfullt ,Ecce homo, ein Programm. Taine wollte das
,1:1r1"""''""''"Sel
mit Hippolyte Taine, dem
e ell genz» bescheinigt (III
,Hi.sto·lre e a ·tterature anglaise, stam· 20 Hippolyte Taine, Histoire de la litterature anglaise. Paris e1885
Bd. I, S. XXVI/. ,
e Ei e eiten dieser Dich· 21 Zitiert bei Pod h ~
22 Z't' b . ac ' erke des Zusammenbruchs, S. 257
'iert e, Podach, a.a.O., S. 318/. .

77
" ensch und Werk» Sainte-Beuves durch Einbezug d ein leichtes werden,das Schwerste zu schreiben: Die ,Um-
deutschen Literaturwissenschaft seit Herder und Goeth er wertungaller Werte,,und das heißt das Buch, mit de~ e n
· u • ezu
Mensch das Mittel zur Veränderung der Menschheitsge-
einer niversalhistorik ausbauen, der Geistesgeschichte mit
seiner ilieutheorie die methodische Sicherheit der Natur- schichte liefern wird, ist möglich.
wissenschaften verschaffen 23 und sie zu guter Letzt nach DerÜbermenschentsteht, wie Heinrich Schipperges das
deren Vorbild zu zukunftsmächtigen Prophetien ermächti- in seinemschönenNietzschebuchbeschreibt, durch Diatetik
gen. Wenn erst einmal Bedingungen und Umstände und Autotherapie.Schipperges irrt nur, wenn er diese Be-
25
menschlicher Produktivität erschöpfend untersucht sind, dienungsanleitungauf antike Lebenskunst zurückfuhrt.
·rd es möglich werden, daß die «Geisteswissenschaft den Kein Griechehat das gute Leben als Bedingung gu1er Bu-
enschen das Mittel liefert, die Ereignisse der Geschichte cher und veränderbarerGeschichte gesucht. Erst se t dem
bis zu einem gewissen Grad vorauszusehen und zu verän- 18. Jahrhundert.
dern•24. «... lernt der abendländischeMensch allmahlich, was es
Das ,Ecce homo>- Kapitel über Nietzsches Klugheit ist ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein,
eine einzige Erfolgsmeldung an Taine. Einer, der seit seiner einenKörperzu habensowie Existenzbedingungen, Lebens-
Entrüc ung aus der Philologie «nichts mehr getrieben hat erwartungen,eine individuelle und kollektive Gesundheit,
a s Physiologie, edizin und Naturwissenschaften» (1120), die manmodifizieren,und einen Raum, in dem man sie opti-
·rd zum ilieutheoretiker der eigenen Autorschaft. Im mal verteilen kann... Die Tatsache des Lebens ist n cht
Alleingang durchläuft Nietzsche die Bedingungskette von mehrder unzugänglicheUnterbau, der nur von Zeit zu Zeit
seinen erken zum enschen hinter ihnen und zu den Um- im Zufall und in der Schicksalhaftigkeit des Todes ans Licht
ständen hinter ihm. Er hat in «langer Übung» seinen Körper kommt. Sie wird zum Teil von der Kontrolle des Wissens
zu einem sehr feinen und zuverlässigen Instrument für Wir- und vom Eingriff der Macht erfaßt.»21
ungen klimatischen und meteorologischen Ursprungs» Schippergesschreibt eine Verkennung bei Nietzsche se •
ausgebaut (1085 und kann dank dieser Meßtechnik auch ber_fort. Dennso genau der Autor von ,Ecce homo, seine
zum Pra i er seines ilieus werden. Jeder Ortswechsel, optimalen~ilieubedingungen bespricht, so befangen be-
·ede Trin sitte. jedes Kochrezept - fortan fungieren sie alle spricht er dieses Besprechen. Nietzsche, sonst unbeküm-
in der ethode. «Wie man wird, was man ist». ,Ecce homo, mert u~d l~serfeindlich,antwortet für einmal auf hypothe ;.
programmiert also die Selbstproduktio_n eines ~utors in ge- seheEinwande:«Manwird mich fragen, warum ich e gent-
au dem futuristischen Sinn, den Tame ertraumte. Unter
eß- und planbaren extradiskursiven Bedingungen wird es
25 Vgl. HeinrichSchipperges Am L .
thropologik und Th , e1tfaden des Leibes.Zur An-
1975,S. 162. erapeutik Friedrich Nietzsches, Stuttgart
e, Essais de critique et d"histoire. Paris ,1896, Bd. 1,s.
26 Foucault,Se /' -
/. 170. xua ,tat und Wahrhei~ Bd. 1, Frankfu . 19TT,S.
2 isto e de /a fitterature anglaise, Bd. 1,S. XXIV.

8 79
lieh alle diese kleinen und nach herkömmlichem Urteil
Also hat Nietzsche, wenn er ein Jahrhundert später sein
gleichgültigen Dinge erzählt habe: ich schade mir selbst da-
«Leben erzählt» (1069) und alle «kleinen Dinge» bis hin zu
mit, um so mehr, wenn ich große Aufgaben zu vertreten be-
seiner Verdauung kundtut, wenig zu befürchten. Er folgt nur
stimmt sei. Antwort: diese kleinen Dinge ... sind über alle
Begriffe hinaus wichtiger als alles, was man bisher wichtig der biotechnischen Sprachregelung. Ihr exzessives Fort-
schreiben und nicht die Übertretung längst veralteter Rede-
nahm.» Sicher hat man irgendwann einmal «die Größe der
menschlichen Natur, ihre ,Göttlichkeit»• an «Begriffen» wie verbote ist seine Modernität. Nietzsche, all seinen Skrupeln
<«Gott,, ,Seele,, ,Tugend,, •Sünde»> usw. festgemacht zum Trotz, schöpft einfach die Möglichkeiten eines neuen
Redegebots aus. Als gegenwärtiger Autor und ehemaliger
(1096/), aber diese Zeiten, alteuropäische Zeiten, sind vor-
Literaturwissenschaftler kann der Schreiber von ,Ecce ho-
bei. Das theologische Konzept von Größe diente einem
mo, zugleich schreiben (in unserem intransitiven Wortsinn)
Machtgebilde der Askesen, Foltern und Todesstrafen, das
und über sein Schreiben schreiben.
längst von Psycho- und Biotechniken der Individualisierung
abgelöst worden ist. Die Literaturwissenschaft vom Autor
3
leistet ihr Teil, um das Konzept von Größe zu reformulieren
und in Begriffen nicht mehr von Ausschlüssen, sondern von
Die zweite Hälfte von ,Ecce homo, ist dieser Kurzschluß.
Produktionsbedingungen zu behandeln. Seitdem schadet es
Einem Schreiber, der andere Schreiber nicht liest und
keinem Autor mehr, seinen Körper auszustellen.
menschliche Worte nicht hört, einem Schreiber, der andere
Ein Buch von 1797, das schon im Titel auf die Produk-
Leser nicht erreicht, weil seine unmenschliche Stimme keine
tion ,al/zeitfertiger Schriftsteller, aus war, pries die Autobio-
Ohren findet (1100) - es bleibt ihm das Wiederlesen der
graphien als «eine jener vielen staunenswürdigen Erfindun-
eigenen Schriften. Und weil Lesen laut Nietzsche Wieder-
gen, mit welchen das laufende achtzehnte Jahrhundert alle
käuen wie die Kühe heißt (II 770), verzehrt das Wiederlesen
seine Vorgänger und Nachfolger so glorreich überstrahlet».
gut biotechnisch alles Fremde an jenen Schriften. Genau
Staunenswürdig nannte es die Kühnheit des neuen Autors,
das vermeldet, stolz und überrascht, ein Brief an Peter Gast:
«bey Leibes Leben, und ohne den entferntesten Gedanken
«Ich blättre seit einigen Tagen in meiner Literatur, der
an Testament, Tod und Grab, sein eigenes Leben zu be-
ich jetzt zum erstenma/e mich gewachsen fühle. Verstehen
schreiben und dem kurzweiligen Publikum sich mit allen
Sie das? Ich habe alles sehr gut gemacht, aber nie einen
Gebreche~ des Leibes und des Geistes, mit seinen Thorhei-
Begriff davon gehabt - im Gegenteil! ... Zum Beispiel die di-
ten, Geniestreichen, Bocksprüngen, Liebeleye~ und ~ase- versen Vorreden, das fünfte Buch ,gaya scienza, - Teufel
2
reyen, in puris naturalibus, zur Schau dar zu bieten» .
was steckt da drin! - Über die dritte und vierte Unzeitgemä~
ße we_rdenSie in Ecce homo eine Entdeckung lesen, daß Ih-
nen dre Haare zu Berge stehn - mir standen sie auch zu Ber-
27 Daniel Jenisch, Der allzeit-fertige Schriftsteller. Berlin 1797, S. ge. Beide reden nur von mir, anticipando ... Weder Wagner,
119, Hinweis von Heinrich Bosse. noch Schopenhauer kamen psychologisch darin vor ... Ich

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habe ~eide Schriften erst seit 14 Tagen verstanden!
Zeichen und Wunder!» (1111340) dern eine diskursive Regelung erzeugt das Ich = Ich-Sagen,
das ,Ecce homo, ist.
. Ein Zeichen ~nd Wunder ist vorab die Unterschrift dieser
Neu ist nur, wie Nietzsche dieses Verstehen selber ver-
Z~1len s~lber: Mit dem Namen Phönix sind sie signiert. Aber
steht. Daßer nur von sich schrieb, heißt im Brief eine nach-
die m~th1s~he Umbenennung hat gute Gründe: Im Wiederle-
trägliche Offenbarung, von der der Schreibende, als er ~ur
sen s_ind Nietzsches Schriften wiedergeboren worden, weil
Feder griff, «nie einen Begriff gehabt hat». Im Buch wir~
alle die Namen zu Asche wurden, die sie als Titel oder Mas-
daraus eine Bedingung und zuletzt eine List des Schrei-
ken trugen. Wagner und Schopenhauer, diese Themen der
bens.
,Unzeitgemäßen Betrachtungen, verbrennt die jähe Erleuch-
«Angenommen nämlich, daß die Aufgabe, die Bestim-
tung, daß Nietzsches Schriften immer schon und immer nur
mung, das Schicksal der Aufgabe über ein durchschnittli-
ihren Schreiber beschrieben haben.
ches Maß bedeutend hinausliegt, so würde keine Gefahr
Aber das ist noch kein Anlaß, daß dem Schreiber und
größer sein, als sich selbst mit dieser Aufgabe zu Gesicht
seinen Lesern die Haare zu Berge stehen. Auch der Wort-
bekommen. Daß man wird, was man ist, setzt voraus, daß
sinn von «Verstehen», den der Brief an Peter Gast hat, zählt
man nicht im entferntesten ahnt, was man ist» (1094/).
zum Diskurssystem Literatur. Seit Herders Literaturpsycho-
Wieder einmal geht es um die Gnade der Blindheit. Daß
logie sind Texte keine rhetorischen Variationen über Topoi
er weder andere Autoren und deren Bücher noch auch die
mehr, sondern unbewußte Selbstbeschreibungen seelischer
eigenen Bücher auf ihr wahres Thema - ihn selber - hin le-
Neigungen und Abgründe. Seit Goethes Autobiographie ist
sen konnte, hat den Autor Nietzsche möglich gemacht. «Nie-
das Wiederlesen eigener Werke die Entdeckung einer indivi-
mand schreibt, der nicht seine Selbstbiographie schriebe,
duellen Bildungsgeschichte in ihnen. Seit Schleiermachers
und dann am besten, wenn er am wenigsten darum weiß»,
Hermeneutik ist Verstehen grundsätzlich ein Besserverste-
formulierte Hebbel einige Jahrzehnte zuvor. 29 Die Hand glei-
hen - aus dem einfachen Grund, weil der Schöpfer am Ge- tet schreibend übers Papier und dann am besten, wenn
schaffenen alles verstehen konnte außer seinem Schöpfer-
28 Nietzsche am wenigsten auf sie aufpaßt - wie er denn diese
tum selber. Kurz, sobald und solange Reden Äußerungen
ecriture automatique-Hand «mitunter mit einigem Mißtrauen
eines Selbst heißen, kann ein Schreiber gar nicht umhin,
ansieht» (1111327).Der Autor ist ein anderer als Nietzsches
beim Wiederlesen früherer Schriften dieses Selbst und nur
sogenanntes Ich. Und er braucht mit diesem anderen nur
es wiederzufinden. Nicht Nietzsche in einer bestürzenden
eins zu werden, damit die Blindheit des Ich in eine List der
Offenbarung, wie er sagt, nicht Nietzsche in einem unerklär-
Schreibhand umschlägt. ,Ecce homo, nennt die Nichtnen-
lichen Größenwahn, wie die Psychiater sagen werden, son-
nung des eigenen Namens in den Frühschriften nicht mehr
(wie der Brief an Gast) Blindheit und Verkennung, sondern
28 Vgl. dazu meinen Aufsatz ,vergessen,,in: Texthermeneutik. Ak·
tualität, Geschichte, Kritik. Hg. Ulrich Nassen,Paderborn1979,
s. 214. 29 Tagebuch,Nr. 834. Werke. Hg. Gerhard Fricke u.a., München
1966, Bd.IV,5. 165. Hinweisvon GerhardKaiser.

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g~nz im G~g~~teil eine vorsätzliche und vorgängige Strate-
gie. Es heißt uber <Menschliches, Allzumenschliches,· In ,Ecce homo, wird dieses Lachen laut und öffentlich.
Das Buch springt mit Jener Barmherzigkeit, die einer Lehre
«Wie ich d~mals {1876) über mich dachte, mit w~lcher
u~ge~euren Sicherheit ich meine Aufgabe und das Welt- vom Willen zur Macht eignet, den blinden Nietzschelesern
h1storrsche an ihr in der Hand hielt, davon legt das ganze bei. Die Stellen, wo sie den Autornamen einzusetzen haben,
Buch, vor allem aber eine sehr ausdrückliche Stelle Zeugnis um zu verstehen, werden auf die Seitenzahl genau benannt
ab: nur daß ich, mit der mir instinktiven Arglist, auch hier oder gar wie Druckfehlerberichtigungen angege~en. So etwa
wieder das Wörtchen <ich, umging und diesmal nicht Scho- sub voce Paul Ree: «Der Verfasser des Buchs •Uber den Ur-
penhauer oder Wagner, sondern einen meiner Freunde den sprung der moralischen Empfindungen, (/isez: Nietzsche,
. '
ausgezeichneten Dr. Paul Ree, mit einer welthistorischen der erste Immoralist)» (1123). Vielleicht war es also nur
Glorie umstrahlte» (1122). Nietzsches Internierung ein, zwei Monate nach der Nieder-
schrift solcher Druckfehlerberichtigungen und Lesehilfen,
Der Schreiber von ,Ecce homo, weiß also, daß er nie
die uns um wahrlich unzeitgemäße Betrachtungen unter Ti-
nicht gewußt hat, wer er ist. Er räumt auf mit den Beschei-
denheitstopoi alteuropäischen Schreibertums und mit den teln wie ,Nietzsche als Erzieher, oder ,Friedrich Nietzsche in
Bayreuth, gebracht hat.
Unbewußtheitsmythen neuzeitlicher Autorschaft. Wenn die
Schriften das Wörtchen •ich, nur aus Arglist umgehen, dann Diese ausdrückliche Einsetzungsregel ist, auf doppelte
fallen Blindheit und Verkennung ganz auf seiten der Leser. Weise, Umwertung aller Werte. Sie verschiebt oder verrückt
Schreiben wird eine Macht oder Herausforderung, an deren erstens die Stellenwerte von Nietzsches Schriften. Seine
Bestehen das literarische Publikum meßbar ist. So kann verstreuten Publikationen schließen zusammen zum Werk,
Nietzsche «die hoffnungslosen unter [seinen] Lesern, zum dessen Einheit ein einziges Wort, «das Wörtchen •ich»> si-
Beispiel den typischen deutschen Professor» «daran erken- cherstellt. Ein Werk, ein Autor, ein Thema: Friedrich Nietz-
nen» {1122), daß sie auf die Nietzsche-Maske Wagner her- sche. zweitens aber ersetzt die Einsetzungsregel andere
eingefallen sind und einen Text der schieren Selbstoffenba- Einsetzungsregeln, die ein Jahrhundert lang gegolten hat-
ten.
rung als Sekundärliteratur gelesen haben. Sollen sie nur
kommen und <Richard Wagner in Bayreuth, im Namen eines Literarische Texte waren zum einen so geschrieben, daß
wissenschaftlichen Wagner-Bildes verreißen; Nietzsche ist der Empfänger,sofern er als schlichter Leser auftrat, an die
über solche Späße hinaus: «In meiner Jugend, wo ich vie- Stelle des beschriebenen Ich sein eigenes setzen konnte.
lerlei war, z.B. auch Maler, habe ich einmal ein Bild von Ri- G~rade seitdem Texte unter Marktbedingungen, und das
chard Wagner gemalt, unter dem Titel: Richard Wagner in heißt an31eine neuerdings «unbekannte Menge» geschrieben
Bayreuth. Einige Jahre später sagte ich mir: ,Teufel, es ist wurden, sollten sie jedem Leser ein Bild seiner unver-
gar nicht ähnlich., - Noch ein paar Jahre später antwortete v.:echselbarenIndividualität bieten. Der Trick zur Umgehung
ich ,um so besser! um so besser!,» 30 dieser Paradoxiewar die Erfindung des individuellen Allge-
30 Werke. Hg. Colli/Montinari, Bd. Vll/2, S. 255.
31 So formulierte Goethe in der «Zueignung» zum Faust.
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m • 32.
einen, Jener seltsamen Wesenheit, die Foucault als Den DaßNietzsches Schriften keine Leser implizit zur Selbst-
Me~schen beschrieben und verspottet hat. Wie um die Para- einsetzung einladen, steht geschrieben. Weil etwa die ,~e-
d~x1~ auszustellen, hieß Wielands ,Agathon, «das Bild eines burt der Tragödie, ihrem Wortlaut zum Trotz unterm Bild
w1rkll~hen Men_~chen», «in welchem Viele ihr eigenes und des dithyrambischen Künstlers nicht Wagner, sondern den
Alle die Hauptzuge der menschlichen Natur erkennen möch- «präexistentenDichter des Zarathustra hin~ez~ichne~ hat»,
ten»33. «erkannte[Wagner selber] sich in der Schrift nicht wieder»
Zum anderen waren die Texte so geschrieben daß der (1112). Und was von einem so ausgezeichneten Leser gilt,
E~pfänge~, sofern er den neuen Beruf des lnter~reten er- trifft selbstredend die durchschnittlichen. Sie können und
griff, an die Stelle des beschriebenen Ich das schreibende sie dürfen sich mit Namen wie Zarathustra nicht identifizie-
setzen konnt. Man weiß, wie viele Schriftsteller damals mit ren, denn «sechs Sätze daraus verstanden, das heißt: erlebt
Hippel verkündeten, daß «viele Schriftsteller sich selbst ko- haben, hebt auf eine höhere Stufe der Sterblichen hinauf,
piren und ihr eigenes Leben unter fremden Namen heraus- als ,moderne• Menschen erreichen könnten» (1099).
geben»34. Man weiß auch, wie rückhaltlos zumal die Goethe- Wieder sind die Voraussetzungen dieselben wie im Dis-
forschung diese Einsetzungsmöglichkeit ausgebeutet hat. kurssystem Literatur: Auch Nietzsche nennt Verstehen ein
Nur eines ist nicht geschehen: die zwei komplementären Erleben, das die Leser in den beschriebenen Helden ver-
Einsetzungsmöglichkeiten wurden nie zugleich befolgt. Die setzt. Die Folgen aber sind gerade umgekehrt: Nietzsches
Arglist der Diskursivität Literatur wäre sonst ans Licht ge- Schreibenerreicht nicht alle in ihrer Menschennatur und je-
kommen. Es gibt keine Bilder, die alle und jeden, Den Men- den in seiner Individualität, sondern «Keinen», sofern er
schen und jeden einzelnen porträtieren. Mensch, Individuum, Gegenwärtiger ist, und «Alle», sofern
,Ecce homo, praktiziert die genau entgegengesetzte Arg- sie aus dem anthropologischen Schlaf erwacht sein werden.
list. Wenn der Autor selber und ausdrücklich seine Arglist «Also sprach Zarathustra.»
rühmt, unter anderen Namen nur den seinen gerühmt zu ha- Schlimmernoch als den schlichten Lesern ergeht es den
ben, werden die von der Literatur implizierten Einsetzungs- Rezensentenund Professoren, die sich in Nietzsche-lnter-
möglichkeiten zunichte. pr:tationen versuchen. ,Ecce homo, macht sie einfach ar-
beitslos. Das Buch des Ich = Ich-Sagen übertritt die Regel
32 Vgl. Manfred Frank, Das individuelle Al/gemeine. Textstrukturie- daß der A~tor nur_imUnbewußten oder im Poetischen (wa~
rung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt/M. dasselbeist) an die Stelle seiner Helden sich selbst setzen
1977. d~rf. Als Goethe nach lebenslangen Umwegen doch noch
33 Wieland, Geschichte des Agathon. Sämmtliche Werke, Leipzig
einmalde~ •Werther, las und es in Verse brachte, daß Held
1824-26, Bd. IX, S. VIII.
und Schreiberdes Romans so verwandt waren wie Kastor
34 Theodor Gottlieb von Hippel, Selbstbiographie. Zitiert bei Erich
Kleinschmidt, ,Fiktion und Identifikation: Zur Ästhetik der Leser- ~n~3follux, der u~terweltliche und der überlebende Bru-
rolle im deutschen Roman zwischen 1770 und 1780,. DVj, 53 ~r, als _Goethedie Interpretation Amperes, wonach Tasso
(1979), S. 56, Anm. 3. ein gesteigerterWerther ist, begrüßte und übernahm, blieb

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~as Ich = Ich-Sagen so umgangen, wie es den Interpreten
keit, die ein Komplott zwischen Autoren und l~terp_r~tenist
~berlassen und nahegelegt wurde. Goethe über A e
uber Goethe: mp re . m Verdacht Derridas - das umvers1tare
und - nach eine . Sy-
stem seit 1800 ausmacht.39Zarathustra einen gesteigerten
«Als einer, der das Metier [der Interpretation] aus dem
Dithyrambiker zu nennen, folgt noch der Goetheschen
G~unde kennt, zeigt er die Verwandtschaft des Erzeugten
Sprachregelung; aber den Dithyrambiker und Zarat~ust~a
mit dem Erze~ger und beurteilt die verschiedenen poeti-
beide Masken Nietzsches zu nennen, ist eine Frechheit. ~1e
schen Produktionen als verschiedene Früchte verschiedener
degradiert alle künftigen Interpreten zu Lesern, denen Je-
Lebensepochen des Dichters. Er hat den abwechselnden
doch kein Spielraum der Identifikation, sondern nur d~r
Gang meiner irdischen Laufbahn und meiner Seelenzustän-
Buchstabengehorsam bleibt. «Lisez: Nietzsche» hat die
de im tiefsten ~tudiert und sogar die Fähigkeit gehabt, das
Form eines Imperativs. Der Verfall der Interpretationen zu
zu sehen, was ich nicht ausgesprochen und was sozusagen
nur zwischen den Zeilen zu lesen war.»36 einer einzigen und vorgeschriebenen Lesart ist die Erektio~
der Schrift in ihrer Nacktheit: die Erektion des Gesetzes. Mit
Die Interpretation hatte also zwischen die geschriebenen
Recht vergießt Nietzsche keine Träne darüber, daß es für
Zellen den Schreiber und seine Seele einzuschreiben. Daß
seine Schriften keine Augen und Ohren gibt (1098-1100): Be-
Tasso Goethe heißt - im Text bleibt es implizit, explizit
fehle können nicht ausgelegt und verstanden werden, nur
macht es die Deutung. Und wie um Foucaults These zu be-
ausgeführt oder nicht. ,Ecce homo, macht den Schreiber,
weisen, daß solche Hermeneutik erfunden wurde, um eine
den vormals die «Stimme hinter seinem Stuhle» schreckte,
Knappheit an Reden wettzumachen, und das heißt zu ver-
mit dieser Stimme und ihrem Schrecken eins. Der «schau-
leugnen, 37war diese Diskursvermehrung mittels Psycholo-
derhaft unartikulierte Ton» ist das Gesetz.
gie noch einmal vermehrbar. Goethe wandte die Methode
Deshalb tritt Nietzsche-Interpreten, die den Befehl ver-
Amperes auf Ampere selber an und suchte sich an Hand
weigern möchten, nur Schaum vor den Mund: unartikulier-
seiner Interpretation «seine Persönlichkeit klar zu ma-
tes Echo des unartikulierten Tons. Merkwürdig oft soll die
chen»38. Daß das Ich, bei Dichtern und Deutern, zwischen
wörtliche Befolgung der von ,Ecce homo, erlassenen Ein-
den Zeilen stand, sparte also keine Wörter und kein Papier
ein; es rief Einsetzungen nachgerade hervor. setzungsregeln beweisen, daß alles Scherz oder alles Non-
40
Nietzsche macht kurzen Prozeß mit dieser Arbeitslosig- sens war. So bei Podach, so bei einem gewissen Resen-

39 Vgl. Jacques Derrida, in: Austreibung des Geistes aus den Gei-
steswissenschaften. Paderborn 1980.
35 Trilogie der Leidenschaft, HA, Bd. 1,S. 380. Vgl. dazu Wilhelm
Meisters Wanderjahre, HA, Bd. VIII,S. 459. 40 Vgl. Nietzsches Werke des Zusammenbruchs, S. 204: «Nietz-
36 Goethes Gespräche mit Eckermann, 3. 5. 1827, Leipzig o.J., S. sche kommentiert im Ecce homo sich und seine Schriften; er
314. gibt auch Winke zum Verständnis des Ecce homo. Man findet
37 Vgl. Archäologie des Wissens. Frankfurt/M. 1973, S. 174/. sie leicht und braucht nur eine Stelle in •Nietzsche contra Wag-
38 Gespräche mit Eckermann, S. 315. n_er,,_die er inmitten der Arbeit am Ecce homo geschrieben hat,
richtig (!] zu lesen, Nietzsche statt •Wagner> und Ecce homo ➔
88
89
h~fft, der mittels <Ecce homo, einen «Zarathustra-Wahn»
-
sches gegen Innerlichkeit und Empathie zun~chst ge~
Nietzsches «deuten und dokumentieren» will und <Nietz- Nietzsche. Er räumte zwar ein, daß Rede~. die auf Ho . r
sche, an allen möglichen Nietzschestellen einsetzt, wo der oder Leser berechnet sind, Täuschung, List. Ge alt sei
Text «Wagner» oder «Zarathustra» hat. Aber das heißt Eulen können, also eine «objektive Interpretation nicht zula~ .
nach Athen tragen und allen Spott zurücklenken auf einen Ausgenommen von diesem Babel der Sprac_hen a~r- b teb
Deuter, der nur noch dokumentiert. 41 «das Werk» als eine Rede, die «immer wahr» 1st, weil s eo.
So schließlich in systematischer Wendung bei Dilthey. ne Berechnung und Wirkungsabsicht ein inneres Erleb 1s
Jan Kamerbeek hat zeigen können, daß das Programm des ausdrückt. 43 so wurde auf Schleichwegen an der acht vor-
Aufbaus der geschichtlichen Welt in den Geisteswissen- bei wieder eingeschmuggelt, was Nietzsche aus_geschlosse
schaften eine einzige Nietzsche-Polemik und Nietzsche-Ver- hatte: die Interpretation. Während Nietzsche 1m Irren a ~
42
leugnung war. Dilthey wandte die Dilthey-Einwände Nietz- saß, vermehrte Deutschland seine geistes ·ssensc a 1-
chen Lehrstühle.
statt ,Parsifal>einzusetzen.» So verbessert, schreibt (Pseudo-) Treueste Philologie nur hat es gesehen: Die späten
Nietzsche: <«Manmöchte es nämlich wünschen,daß der Nietz- Nietzsche-Texte stellen nach der Einsicht Karl Reinhard s
schesche Ecce homo heiter gemeint sei... Dennwas würdeder die Philologie vors unlösbare Rätsel «des Textes, der sie
ernstgemeinte Ecce homo sein? ... », (S. 204/) Allgemeinfordert selbst als Interpretation interpretiert» .... ,Ecce homo• spottet
Podach, Ecce homo nicht philosophisch, sondern «nachden und entgeht jeder Deutung eben darum, weil es Deuten sel-
schriftstellerisch entscheidenden Zügen - nach den Formkrite- ber als Macht ausübt. Hermeneutische Wahrheit, die ot-
rien - literarisch einzuordnen» (S. 205). Daswird hier unternom- wendig Wahrheit eines Ungesagten ist, fäll1 durch schlich-
men • mit dem Ergebnis, daß literarisch entscheidendnicht blo- tes Sagen dahin. Mögen alle Selbstinterpretationen und
ße Formkriterien, sondern Diskursivitätsmerkmalewie die Funk-
Selbsteinsetzungen, die Nietzsches Autobiographie or-
tion Autorschaft sind. Podach sieht in Ecce homo nur «denAn-
lauf zu einer Satura Menippea»(ebd.) - als ob antike Rhetorik nimmt, Fälschungen sein - das bleibt unentscheidbar aus
und nicht neuzeitliche Literatur die Satire und ihre Zielscheibe dem einfachen Grund, weil sie dann und nur dann im Sin
wäre. Nietzsches wahre Interpretationen sind. Denn die ah eit
41 Wilhelm Resenhöfft, Nietzsches Zarathustra-Wahn. Deutung und oder das « Wesenallen Interpretierens» interpretiert ietz-
Dokumentation zur Apokalypse des Übermenschen, Bern-Frank- sche als «Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, eg-
furt/M. 1972, S. 83: «Am köstlichsten sind die Stellen, wo man lassen, Ausstopfen, Umfälschen» (11890},um aus dieser phi-
nach Nietzsches Anweisung in ,Ecce homo>für Wagnerseinen lologischen Binsenwahrheit oder dieser philosophischtm
Namen einsetzen soll (in der 4. Unzeitgemäßen,aber warum
nicht auch hier?): <Alles,was Nietzschekann, wird ihm niemand
nachmachen, hat ihm keiner vorgemacht, soll ihm keinernach• 43 WilhelmDilthey, Gesammelte Schriften, Bd. V. Leipzi~e i
machen... »> 1924, s. 319f.
42 ,Oilthey versus Nietzsche,.Studia philosophica, 10 (1950), S.52· 44 <Nietzsches Klageder Ariadne,,in: K. R., Von Werken und For-
84. men. Vorträgeund Aufsätze,Bad Godesberg 1948, s. 484.

90 91
Frec~heit ein Gesetz herzuleiten: «Man darf nicht fragen: ist. Kaum daß Nietzsche «mit einem Zynismus, der welthis-
<wer interpretiert denn?> sondern das Interpretieren selber torisch werden wird, (sich] selbst erzählt hat» (1111334),geht
als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein (aber nichi er daran, Autorschaft als schiere Macht auszuüben. Damit
als ein <Sein>,sondern als ein Prozeß, ein Werden) als ein erst beginnen, wie auf das christologische Stichwort «Ecce
Affekt» (III 487). homo» hin, der Kampf und die Passion.
Mit der Möglichkeit der «objektiven Interpretation» (Dil-
they) verschwindet also zugleich ihr Korrelat: der Autor. 4
,Ecce homo,, dieser Kurzschluß zwischen Autor und Inter-
pret, gipfelt in einem Ich = Ich-Sagen, das in seiner sinnlo- Erster Akt der Machtergreifung. Alle Schriften, die ,Ecce ho-
sen und endlosen Wiederkehr Affekt oder unartikulierter mo, auf ihren Autor hin interpretierte, fordert Nietzsche,
Ton wird. Derselbe Autor, der als Philologe entdeckte und während das Manuskript nach Leipzig zum Druck geht, von
beschrieb, wie das 18. Jahrhundert mit seiner psychotech- seinem vormaligen Verleger zurück. So wie er und nur er sie
nischen Propaganda den Autor und das Interesse für ihn er- «jetzt erst verstanden hat», so gehören sie auch ihm und
fand (III 509/), macht ein Jahrhundert später diesem Spuk nur ihm. «Ca. 11 000 Mark» sind nicht zu wenig, um «im
ein Ende. Der ,Ecce homo,-Schreiber an Carl Fuchs: letzten Augenblick Alleinbesitzer meiner Werke zu werden»
«Alles erwogen, lieber Freund, hat es von jetzt ab keinen (1111347). Das historische Abenteuer, das ein Jahrhundert
Sinn mehr, über mich zu reden und zu schreiben; ich habe lang den Autor als Herrn der Rede paradieren ließ, fällt also
die Frage, wer ich bin, mit der Schrift, an der wir drucken, im letzten Augenblick auf die nackte Gewalt seines Anfangs
,Ecce homo,, für die nächste Ewigkeit ad acta gelegt» (111 zurück: Geldfragen und Urheberrechte.
1346). Wenn aber das Gesetz in seiner Gewalt erscheint, wird
Das narzißtisch-rauschhafte Ich = Ich-Sagen schafft dem- es auch schon übertreten, weil diese Gewalt nicht verhüllt
nach nicht nur, wie Jochen Hörisch zeigte, den Gott der bleiben darf. Deshalb führt die Machtergreifung zugleich
Theologie ab. 45 Es macht Schluß auch mit dem <Menschen> hinter die Diskursivität Literatur zurück. Bevor die Rede dem
einer Hermeneutik, die jene Theologie gern beerbt hätte. Autor zugeschrieben wurde, war sie ein Akt - «ein Akt, der
Das Ich des lch-Sagens verliert seine transzendentale Wür- seinen Platz hatte in der Bipolarität des Heiligen und des
de; es ist exhauriert, das heißt erschöpft und ausgeschöpft Profanen, des Erlaubten und Verbotenen, des Religiösen
in all seinen empirischen Bedingungen bis hin zu Vorspeise und Blasphemischen. Historisch gesehen war sie eine ge-
und Wohnort; es kann also factum brutum werden. ,Ecce fahrenreiche Tat, bevor sie zu einem Gut im Einzugsbereich
homo, heißt buchstäblich: wie man der Zufall wird, der man des Eigentums wurde.» 46
Daß die Rede ein Akt ist, demonstriert der zweite Akt der
Machtergreifung. Nach der ,Ecce homo,-Devise, er werde
45 Vgl. ,Stichworte zur Kritik der Diskurstheorie>, in: Urszenen. Li-
teraturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Hg. F.
A. Kittler und Horst Turk, Frankfurt/M. 1977, S. 196. 46 ,Was ist ein Autor?•, a.a.O., S. 18.

92 93
einmal gerade als Verbotener siegen (1066) macht N' t _ keiten offengelassen: daß das beschriebene «Genie des
h d" V - ' ie z
sc e 1e eroffentlichung des Buches zum Test auf d' Herzens» den Gott Dionysos (1106) und daß «Ecce homo
«deutschen Begriffe von Pressefreiheit»: «Mit diesem ,Ec;: den Gekreuzigten bezeichnet. Schlichte Postkarten machen
ho':10' möchte ich die Frage zu einem derartigen Ernste dieses Versäumnis, diese falsche Bescheidenheit gut. ietz-
ste1g~m, _daß die landläufigen und im Grunde vernünftigen sche unterschreibt mit jenen zwei Namen, wie die letzte Zei-
Begriffe uber das Erlaubte hier einmal einen Ausnahmefall le seines Buches sie nannte. Und daraufhin hat die acht.
zuließen" (III 1328). So fällt die Trennwand, die die Funktion der Krieg erklärt werden sollte, nicht durch Gegenkriegser-
Autorschaft zwischen juristischer (strafbarer) Person und li- klärungen ihrer Feldherrn, sondern durch Unzurechnungsfä-
terarischem (freien) Individuum errichtet hatte. Daß Nietz- higkeitserklärungen ihrer Beamten geantwortet. Es ist ·e
sche seinen amen ausstellt, ist keine ökonomische Zäh- mit den physiologischen Kleinigkeiten in ,Ecce homo-. Die
mung des Redeakts mehr, sondern der zugleich schlechthin Kriegserklärung unterstellte eine jurido-politische acht-
ris ante und schlechthin straflose Akt einer Machtergrei- struktur auch noch dort, wo unsere Kultur längst auf der
fung. «Um mich gegen deutsche Brutalitäten (•Konfiskation•) Höhe ihres Philosophen war und wie er nur noch mit Ge-
sicher zu stellen, werde ich die ersten Exemplare, vor der sundheit und Krankheit, Normalem und Anormalem operier-
Publi ation, dem Fürsten Bismarck und dem jungen Kaiser te. Was Nietzsche, dieser unzeitgemäße Terrorist, als Atten-
mit einer brieflichen Kriegserklärung übersenden: darauf tat und Dynamit geplant hatte, entziffern seine Psychiater in
dürfen ilitärs nicht mit Polizeimaßregeln antworten» (III Basel als «Ausbruch des ungemessenen Größenwahns» 47 ,
1338). Eine exzessive Autorschaft sprengt die privatrechtli· was Nietzsche an extradiskursiven Bedingungen seiner
c en und innenpolitischen Grenzen von Urheberrechtund Autorschaft genannt hatte, schrieben seine Psychiater in Je-
Pressefreiheit. War der literarische Autor ein Subjekt im na, statt darin wie befürchtet Banalitäten zu sehen, mit Fleiß
doppelten ortsinn: frei im Erfinden fingierter Reden und und Akribiezu einer ganzen Krankengeschichte aus.
Figuren, gesetzesunterstellt im Besitz seiner Werke,so wird Der psychiatrische Diskurs ist die tiefste Ironie des
ietzsche ein Souverän. Der selber als das Gesetzauftritt, Nietzscheschen. Die Klassifikation Größenwahn sc reibt
ist keinem Gesetz mehr untertan. Alles läuft wie in jenemal- einem Menschen als wahnsinniges Begehren zu, as nur
en rtz. der einem König erklärte, warum ein König nicht ein Effekt der Funktion Autorschaft war. Die Diagnose Sy-
Sujet von Witzen sein kann: «Le roi n'est pas sujet.» ,Ecce philos unterschreibt umgekehrt eben das Begehren, das
homo,. ietzsche sagt es, «redet die Sprache eines Weltre- <Eccehomo, schreiben machte. Darüber noch ein letztes
Wort.
g·erenden• (III 1337). .. .
Aber alles kam anders. Buch und Kriegserklarung erre1- Ein Herausgeber nahm •Ecce homo, vor den Größen-
c en den Feind nicht, weil sie keinen Absender mehr fan- wahn-Verdächtigungen der Psychiater in Schutz mit dem
den. ,Ecce homo, hatte die Autorfrage ad acta gelegt, also
erschwand im dritten Akt die Unterschrift «Nietzsch~_"·
~as 47 Zitiert bei Podach, Nietzsches Zusammenbruch, Heide berg
Buc hatte zwei Identifikations- oder Einsetzungsmogl1ch· 1930, s. 154.

94 95
Satz: «Bei den meisten Selbstbeschreibungen, auch solchen des Diskurses der oder dieser Fall.
von sehr intimem Charakter, könnte man statt der von Nietz- Und wirklich. Der Autor von ,Ecce homo, rühmt sich,
sche gebrauchten ersten Person getrost <das Genie>,<der «die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke zu brechen»
schaffende Mensch>oder dergleichen einsetzen, sie würden (1158). «Die Jahrtausende, die Völker, die Ersten und die
ihre Richtigkeit behalten.»48 Psychiatrisiert wird also nur das Letzten, die Philosophen und die alten Weiber» (1157) - sie
Sprechen, nicht das Gesprochene Nietzsches. Hätte er in alle sollen einem einzigen metaphysischen Diskurs verfallen
der dritten Person gesprochen und nicht die literarische- sein, den Nietzsche mit einem Federstreich abschafft. An
hermeneutischen Einsetzregeln übertreten, die das Ich = Ich der Stelle des Diskurses, der sie alle gehalten hat - der Dis-
-Sagen des Autors bloß zwischen den Zellen gestatten - kurs, den Nietzsche hält. Aber die Rede von einer solchen
alles wäre gut. Daß der Diskurs Grund und Ursprung Im Einheit aller Reden, die Rede von einer Metaphysik ist sel-
schaffenden Menschen hat, steht außer Frage. «Mantäuscht ber Metaphysik. Wie immer tut die Rede etwas anderes, als
sich», schrieb Taine, «wenn man das Dokument studiert, als sie sagt, daß sie tut. Was ,Ecce homo, tat, war bescheidener
wäre es allein. Das heißt die Dinge als simpler Gelehrter an- und wirksamer. Nicht ein universaler Diskurs, den es nie
gehen und einer Bibliotheksillusion verfallen. Im Grund gibt gab, sondern eine endliche, datierte, kurzlebige Diskursivität
es weder Mythologie noch Sprachen, sondern nur Men- namens Literatur kam zu Ende.
schen, die Worte und Bilder nach den Bedürfnissen ihrer Das Begehren dieses Endes aber spielt auf einem ande-
Organe und nach der Urform ihres Geistes anordnen.»49 Die ren Schauplatz. Der Autor von ,Ecce homo,, wie klug und
Bücher eine Illusion, die Sprachen eine Illusion - also weise und autorhaft das Buch ihn auch nennt, möchte es
sprach der Größenwahn. Ein Jahrhundert lang wurde er ge- gar nicht sein. Früher einmal hatte Nietzsche geseufzt: «Ich
nährt und gezüchtet, als hätte er seine eigene Widerlegung bin ein Worte-macher: was liegt an Worten! was liegt an
. 1 s1 Das nimmt
mir »
. ,Ecce homo, fünf Jahre später lachend
oder den Beweis geträumt, daß Mythologie ist. Und es
brauchte nur noch ein zufälliger Fall namens Nietzsche ein- auf: «Ich habe eine erschreckliche Angst davor, daß man
zutreten, der die dritte Person geisteswissenschaftlicher Re- mich eines Tages heilig spricht: man wird erraten warum
den in die erste Person literarischer Reden übersetzte, da- ich dies Buch vorher herausgebe, es soll verhüten, daß man
mit der Größenwahn explodierte. Wenn es den Wahnsinn Unsinn mit mir treibt ... Ich will kein Heiliger sein lieber
ausmacht, «in äußerstem Hochgefühl oder äußerster Angst noch ein Hanswurst...» (1152) '
seinen Diskurs mit schrecklichen Mächten begabt zu glau- . Heiligsprechung in der Neuzeit, unter literarischen Be-
ben»50, dann ist der Diskurs vom Menschen als Ursprung dingungen also, hieß Autorwerden. «Autorisiert» ist nach
dem Wortspiel Lacans, «ein Gedanke, der mit einem Autor-
52
namen versehen ist.» In den Schranken dieses Rechtsver-
48 Richard Oehler in: Nietzsche. Gesammelte Werke (Musarion-
Ausgabe), Bd. XXI,München 1928, S. 293.
49 Histoire de Ja litterature anglaise. Bd. 1, S. V. 51 Werke. Hg. Colli/Montinari, Bd. Vll/3, s. 59.
50 Foucault, Die Ordnung des Diskurses, München 1974, S. 10. 52 Le seminaire XX: Encore, Paris 1975, S. 51.

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hältnisses, das ein paar Eigennamen aus dem Verkeh stimmt, biographisch und medizinisch, weiß keine_r._ Aber es
und an den literarischen Himmel versetzte durfte die; z~g
die identifikationssüchtige Seele der Les~r/innen die s::~~
des Aut~rs n~ch~rleben und lieben. Das hatte nur einen Ha-
Ist auch nicht der Rede wert. Die Diagnose Syph1l1~tut et-
was ganz anderes: sie übersetzt die Rede von zerreißenden
MänadenIn den Diskurs der neuzeitlichen Biotechniken und
ken: ((Die Weiblein machen sich den Teufel was aus selbst- wird zum nachträglichen Fragezeichen hinter dem Satz «ich
losen, bloß objektiven Männern» (1105). Also folgte Nietz- bin nicht willens, mich zerreißen zu lassen».
sche, wenn er einen historischen Größenwahn aus der drit- Denn vielleicht wollte er nichts lieber. Es gibt in ,Ecce
ten in die erste Person übersetzte, nur dem Begehren eines homo, eine Stelle, wo der Wille, Autor und das heißt eine
B~gehrens. Nicht mehr selbstlos, nicht mehr objektiv • viel- ganze Person zu sein, einem anderen Begehren oder dem
leicht kann dann auch ein Mann das dunkle Objekt des Begehren einer anderen weicht. Derselbe Schreiber, der die
Begehrens figurieren, ((vorausgesetzt, daß die Wahrheit ein unter seinem Namen laufenden verstreuten Schriften herme-
Weib ist» (II 565), und das heißt mit der Wahrheit überhaupt neutisch und editionstechnisch in Alleinbesitz nimmt,
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nichts im Sinn hat, fährt Hanswurst im «ewigen Krieg zwi- schreibt über den «Hymnus auf das Leben (für gemischten
schen den Geschlechtern» (1105) jedenfalls glücklicher als Chor und Orchester)»: ((DerText, ausdrücklich bemerkt, weil
Heilige und Autoren. Denn der Hanswurst, dieses phallische ein Mißverständnis darüber im Umlauf ist, ist nicht von mir:
Wesen unter lauter Kostümfetzen, ist eine Maske vor Diony- er ist die erstaunliche Inspiration einer jungen Russin, mit
sos, dem geliebten und zerstückelten Gott der Mänaden. der ich damals befreundet war, des Fräulein Lou von Salo-
Nietzsche, um zu begründen, warum er so gute Bücher me» (1129). Ein Autor, der alle anderen Männernamen -
schreibt: ((Darf ich anbei die Vermutung wagen, daß ich die Wagner,Schopenhauer, Ree - wie einfache Druckfehler aus-
Weiblein kenne? Das gehört zu meiner dionysischen Mit- gemerzt hat, dementiert für einmal seine Autorschaft. Ein
gift ... Sie lieben mich alle - eine alte Geschichte... Zum Mißverständnis ist aus der Welt und Nietzsche • bloß der
Glück bin ich nicht willens, mich zerreißen zu lassen: das Komponist einer Frau. Ihr Text hat ((Größe»,seine Musik da-
vollkommene Weib zerreißt, wenn es liebt... Ich kenne diese zu «vielleicht auch». So bleibt nur noch die Korrektur eines
liebenswürdigen Mänaden» (1105). ganz anderen Druckfehlers. Der einzige ,Ecce homo>-Satz
((Ich kenne die Weiblein»: ein paar Monate später, in der ohne Ecce homo-Gebärde lautet:
Jenaer Krankengeschichte eines Irren namens Nietzsche, «Letzte Note der A-Klarinette cis nicht c. Druckfehler»
wurde aus diesem Satz der psychiatrische Eintrag «1866. (1129).
Syphilit. Ansteckung». 54 Wer das gesagt hat und ob es

53 Darüber ausführlich Jacques Derrida, Sporen. Die Stile Nietz-


sches, Venedig 1976.
54 Zitiert bei Podach, Nietzsches Zusammenbruch,S. 118.Vgl.
auch S. 158-162.

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