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8,10 Slowakei € 7,– Spanien € 7,– Tschechien Kc 200,-

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Die Greta der

NAOMI SEIBT
Lüge den Job?

neuen Rechten
TRUMPS WATERGATE
Kostet ihn die Corona-

Was jetzt?
europäischen Flüchtlingspolitik
Moria und die Scheinheiligkeit der
Vom Kampf gegen eine unterschätzte Volkskrankheit
Der unfruchtbare Mann
Nr. 38 / 12.9.2020
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 Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung
Betr.: Titel, Moria, #MeToo, »Dein SPIEGEL«

Fast jedes zehnte Paar in Deutschland zwischen 25 und

59 Jahren ist ungewollt kinderlos. Die Wissenschaft
hat den Beitrag des Mannes an dieser Enttäuschung
Julian Busch / DER SPIEGEL

lange unterschätzt. Inzwischen weiß man, dass die

Spermienqualität in den Industrieländern rapide ab-
nimmt. Schuld daran könnten zum Beispiel Weich-
macher im Plastik sein. Barbara Hardinghaus und Maik
Großekathöfer sprachen mit Andrologen und Bioche-
mikern. Sie besuchten Kinderwunschzentren, die ein-
Großekathöfer, Hardinghaus gerichtet sind wie Fünfsternehotels. Und sie suchten
nach Betroffenen. Die meisten Männer lehnten ab –
zu groß war die Scham und das Stigma. Diejenigen jedoch, die den Redakteuren ihre
Geschichte erzählten, waren fast schon froh, sich jemandem anvertrauen zu können.
»Diese Männer haben sich entschieden zu reden, weil sie ein Tabu brechen und
anderen Mut machen wollen«, sagt Großekathöfer. Bei wem es mit dem Kinder-
kriegen nicht klappe, der solle sich untersuchen lassen. Seite 92

Das neue
Die Reporter Giorgos Christides, Steffen Lüdke
und Katrin Kuntz waren in den vergangenen
Finanzmagazin
Alexandros Avramidis / DER SPIEGEL
Jahren fast ein Dutzend Mal im Flüchtlingslager
Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Aber
noch nie haben sie die Menschen so verzweifelt SPIEGEL GELD informiert
erlebt wie nach dem Großbrand von Dienstag-
verbrauchernah über Finanz-
nacht. »Die Flüchtlinge haben jede Hoffnung ver-
loren«, sagt Christides. Der Brand zeigt auch die produkte, Versicherungen,
Verlogenheit der europäischen Asylpolitik. Die Immobilien und Steuerspar-
EU betrachtete das Camp als Modell, tatsächlich Christides in Moria
jedoch waren die Bedingungen dort seit Jahren
möglichkeiten – und hilft so
menschenunwürdig. In Europas Hauptstädten herrscht nun scheinbar große bei Aufbau und Sicherung
Bestürzung. Die Bereitschaft, etwas an den Zuständen zu ändern, ist allerdings nach Ihres Vermögens.
wie vor gering. »Die Europäer könnten das Desaster nutzen, um ihre Flüchtlings-
politik neu auszurichten«, sagt Redakteur Maximilian Popp. »Es ist nur fraglich, ob
sie den Willen dazu aufbringen.« Seite 10
Themen der Ausgabe:

Immobilien
Es ist eines der großen Themen der Zeit: #MeToo. Doch so wichtig Geschichten über So verkauft man das
Männer sind, die ihre Macht für Sex ausnutzen, so schwierig ist es für Journalisten,
darüber zu schreiben. Aussagen stehen gegen Aussagen, ein falscher Vorwurf kann eigene Heim richtig
ein Leben zerstören. In diesem Feld bewegte sich auch Reporter Jürgen Dahlkamp
schon, als er mit Kollegen mutmaßliche Übergriffe beim Weißen Ring in Lübeck auf- Krankheit
deckte (SPIEGEL 12/2018). Nun beschreibt er den Fall eines bekannten Berliner
Arztes, der sich an schwulen Patienten vergriffen haben soll, und den Kampf der Zusatzversicherungen –
Journalisten von »BuzzFeed« und »Vice« um ihre Storys dazu. Das Berliner Land- welche sinnvoll sind
gericht hat die Artikel verboten. Die Begründung: zu viele Details und Vorwürfe;
zu wenig, was am Ende für den Arzt spreche, der die Vorwürfe bestreitet; deshalb
nicht ausgewogen genug. »Was die Richter in diesem Fall fordern, hat Folgen für die Haustiere
investigative Berichterstattung insgesamt. Keine guten«, sagt Dahlkamp. Seite 40 Was kosten Hund, Katze
und Hamster wirklich?

Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Trotzdem erleben

sie Gewalt in ihren Familien, oftmals weil die Eltern überfordert
sind. Experten befürchten, das könnte während der Pandemie noch Bildnachweise: Kai Bublitz

häufiger der Fall sein als sonst. In »Dein SPIEGEL« erfahren Kinder,
wie sie sich selbst helfen können – und anderen. Außerdem im Nächste Woche als
neuen Heft: Wieso die meisten Weltkarten ein verzerrtes Bild der
Erde zeichnen. »Dein SPIEGEL« erscheint am Dienstag. Beilage im SPIEGEL
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020 5

Titel
Fortpflanzung Immer mehr
Männer sind unfruchtbar –
woran liegt es? . . . . . . . . . . . . . . 92
Flüchtlingskrise
Leitartikel Die EU muss ihre
menschenverachtende
Flüchtlingspolitik beenden
Migration Wie konnte es
zu den Bränden im
Flüchtlingslager Moria
kommen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Deutschland
Grenzüberschreitende Corona-
Warn-App / Müntefering für
Rot-Rot / Die Gegendarstellung /
So gesehen: Faxen dicke . . . . 18
Diplomatie Ein Baustopp der
Pipeline Nord Stream 2
als Sanktion gegen Russland
ist unwahrscheinlich . . . . . . . . 24
Parteien Mit kruden Äußerun-
gen zum Fall Nawalny
gefährdet die Linke ihre
Koalitionsfähigkeit . . . . . . . . . . 27
Umwelt SPIEGEL-Gespräch
mit Wirtschaftsminister
Peter Altmaier über seine
neue Klimastrategie . . . . . . . . 28
Union Kann Norbert Röttgen
doch Parteichef werden? ...
Kommunen Manche Bürger
missachten die Corona-Regeln –
das kann teuer werden . . . . . 36
Verschwörungstheorien Der
Kulturhistoriker Michael
Butter erklärt die Faszination
irrationaler Deutungen . . . . . 38
Justiz Ein Aids-Mediziner soll
sich über Jahrzehnte an Patien-
ten vergangen haben – zwei
Medienberichte darüber hat das
Landgericht Berlin verboten 40
6 DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
Inhalt
74. Jahrgang | Heft 38 | 12. September 2020
Immobilien Die Erben des Film-
moguls Artur Brauner wollen
das berühmte Colosseum-Kino
loswerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
Reporter
Familienalbum / Wie
ehrlich sind Arbeitnehmer
im Homeoffice? . . . . . . . . . . . . . 46
8
Eine Meldung und ihre
Geschichte Was macht ein
Fußballfan, wenn er
nicht ins Stadion darf? . . . . . . 47
Anna Moneymaker / Getty Images
Karrieren Wie die 20-jährige
Naomi Seibt zur Anti-Greta
wurde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
Kolumne Leitkultur . . . . . . . . . 53
Wirtschaft
Tödliche Lüge
Guttenbergs Engagement
Kein anderes Industrieland hat die Pandemie für Wirecard war größer
so miserabel gemanagt wie die USA. Nun als gedacht / Datenschützer
zeigen Aussagen von Donald Trump, dass er streiten über Einsatz von
Microsoft-Programmen in
seine Bürger über die Gefährlichkeit des
der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . 54
Virus absichtlich getäuscht hat. Ist die Wahl am
3. November damit entschieden? Seite 72 Autoindustrie Mit dem
nahenden Ende des Verbren-
nungsmotors droht vielen
Zulieferern das Aus . . . . . . . . . 56
Haushalt Weil im Etat
riesige Lücken klaffen, muss
Finanzminister Scholz
erneut 100 Milliarden Euro
32 Schulden machen . . . . . . . . . . . 59
Angelos Tzortzinis / AFP
Konzerne Reimann-Manager
Peter Harf über das Vermögen
des Unternehmerclans und
seine Nachfolgeplanung . . . . 62
Immobilien Viele Städte über-
Katastrophe mit Ansage nehmen leere Ladenflächen
selbst, um die Verödung ihrer
Nach der Feuersbrunst von Moria gerät die EU City zu verhindern . . . . . . . . . 64
unter Druck: Politiker und Aktivisten fordern eine
Gastronomie Wirte fühlen
europaweite Verteilung der Flüchtlinge von den sich in der Coronakrise
griechischen Inseln. Die EU-Staaten sind zerstritten, von ihrer Versicherung im
die Bundesregierung scheut einen Alleingang. Seite 10 Stich gelassen . . . . . . . . . . . . . . . 66
Manager Psychische Erkran-
kungen von Führungskräften
sind noch immer ein Tabu 68
Ausland
Trumps mangelhafte Nuklear-
Diplomatie / Rückschlag von
#MeToo in Ägypten . . . . . . . . . 70
USA Nach den Enthüllungen
des Journalisten Bob
Woodward fragt sich das
Land: Trägt der Präsident
eine Mitschuld an
den vielen Corona-Toten?
Dynastien Donald Jr und
Ivanka – Familienfehde im
Haus Trump? . . . . . . . . . . . . . . . 74
Großbritannien SPIEGEL-
Gespräch mit dem Autor
John Kampfner über die Frage,
was im Königreich schlecht
läuft und in Deutschland
besser – angeblich . . . . . . . . . . 78
Analyse So könnten die
Brexit-Verhandlungen doch
noch erfolgreich enden . . . . . 81
Frankreich Was treibt
Clément Beaune um,
den Mann hinter
Macrons Europapolitik? . . . . 82
Diplomatie Wie Bulgariens
Premier Bojko Borissow
zum Handlanger der türki-
schen Regierung wurde . . . . . 84
Sport
Federer, Nadal, Djoković: Ende
einer Serie / Gut zu wissen:
Wie hoch ist die Infektions-
gefahr beim Fußball? . . . . . . . 85
Betrug Der Prozess gegen
einen Erfurter Mediziner
wegen bandenmäßigen
Dopings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
Freizeit Die Medaillenjagd
der fitten Senioren . . . . . . . . . . 88
Titelfoto: ANGELOS TZORTZINIS / AFP
Wissen
Freispruch für einen Zucht-
hengst / Riskante Cholesterin-
senker / Analyse: Warum die
Abschaltung eines Kohlekraft-
Marcus Simaitis / DER SPIEGEL
werks dem Klima schadet . . . 90
David Himbert / Polaris / laif
Corona Der Zwischenfall beim
Impfstofftest von AstraZeneca
und die Folgen . . . . . . . . . . . . . 102
Psychologie Was der amerika-
nische Psychiater Otto
How dare you? Kernberg über Donald Trump
denkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
72 Sie gilt als Postergirl und Gegenentwurf zu Greta
Thunberg: Naomi Seibt bezweifelt, dass der Archäologie Neue Ausgrabun-
gen zeigen, dass die Germanen
Klimawandel menschengemacht ist, und verbreitet keine Barbaren waren . . . . . 106
Verschwörungsmythen. Wie kam sie
der Mitte der Gesellschaft abhanden? Seite 48 Forensik Wie Tätowierungen
helfen, unbekannte Tote zu
identifizieren . . . . . . . . . . . . . . 108
»Brahms hat Heilkräfte« Kultur
Der chinesische Klassikstar Lang Lang spricht Jan Böhmermanns Twitter-
über seine Gewohnheiten vor Konzerten, Buch / Ein Thriller über Jean
Sebergs Affäre mit einem
seine Liebe zu deutscher Kultur – und über das Black-Panther-Aktivisten 110
Leben vor und nach jener Krankheit, die ihn
zur Schaffenspause zwang. Seite 118 Rassismus Literaturstar Zadie
Smith über Menschenhass, der
in den USA von der Sklaven-
zeit bis ins Heute reicht . . . 112
Karrieren Anke Engelke spielt
in einer neuen Netflix-Serie
eine Trauerrednerin . . . . . . . 116
Stars Pianist Lang Lang erklärt
im SPIEGEL-Gespräch sein
Faible für Sauerkraut und seine
neue Bach-Aufnahme . . . . . 118
Krimikritik James Ellroy ent-
wirft in »Jener Sturm« ein Los
Angeles voller Gewalt . . . . . 123
Tote Hose
SPIEGEL-TV-Programm . . . . . . . 77
Die Zeugungsfähigkeit der Männer nimmt rapide Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
ab: Die Spermien werden weniger, Impressum, Leserservice . . . 124
Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
langsamer und schlechter. Was macht das mit Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 126
Betroffenen? Woran liegt es? Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
Und was bedeutet es für die Gesellschaft? Seite 92 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 130
7
 Das deutsche Nachrichten-Magazin
Moralische Bankrotterklärung
Leitartikel Die EU-Flüchtlingspolitik ist nicht nur menschenverachtend –
sie nimmt Europa auch seinen letzten Trumpf.
M
oria. So ein kleines Wort. Fünf Buchstaben nur,
die die Wucht haben, unser Selbstverständnis
als Europäer zu zerstören. Oder, um präziser zu
sein, das Selbstverständnis jener Europäer, die
sich mit den grundlegenden Werten der EU identifizieren
können. Dazu zählt an erster Stelle die Wahrung der Men-
schenrechte.
Als das Feuer am Mittwoch in dem Flüchtlingscamp auf
der griechischen Insel Lesbos wütete, zeigten Videos im
Internet nicht nur Menschen in Panik, sondern auch Leute,
die »Bye-bye Moria!« sangen. Hoffentlich haben sie recht.
Denn das Lager mit seinen beschämenden Zuständen muss
verschwinden. Nicht nur weil es den Asylbewerbern dort
miserabel geht und Moria eine
moralische Bankrotterklärung
ist. Auch aus europäischem
Eigennutz.
Wie sonst sollte die EU in
Zukunft noch als Autorität auf
der Weltbühne auftreten? Wie
sollte ein deutscher oder franzö-
sischer Außenminister die chi-
nesische Regierung für die Miss-
achtung der Menschenrechte
kritisieren? Oder die russische?
Saudi-arabische? Iranische?
Jeder Despot könnte zu
Recht entgegnen: Sorgt doch
erst einmal selbst dafür, dass bei
euch keine Kinder in Baracken
ohne fließendes Wasser und
Strom hausen müssen. Obdachlose Flüchtlinge aus dem Camp Moria
Wenn Europa auf der inter-
nationalen Bühne eine wegwei-
sende Rolle spielen will, darf es in Fragen der Moral seine
Glaubwürdigkeit nicht verlieren. Militärisch gesehen ist die
EU im Vergleich zu China oder den USA ein Zwerg, und
auch was die Wirtschaftskraft betrifft, können sich die
beiden Mächte durchaus mit Europa messen. Als Besonder-
heit bleibt der EU nur die sogenannte Soft Power. Darunter
verstehen Politikwissenschaftler eine Form der Machtaus-
übung, die nicht auf militärischer oder wirtschaftlicher Stär-
ke beruht, sondern darauf, dass Staaten durch ihre Vorbild-
funktion und ihre Verlässlichkeit Einfluss nehmen können.
In der Vergangenheit verfügten die USA über diese Soft
Power, stets flankiert von der Hard Power ihrer Armee. In-
zwischen ist es um die weiche Macht der Vereinigten Staaten
nicht mehr gut bestellt. Schuld daran sind unter anderem
der Folterskandal im Straflager Abu Ghuraib, wo US-Wärter
die Insassen bis in den Tod quälten, oder die Behandlung der
Gefangenen in Guantanamo. Und natürlich Donald Trump,
der dem Land einen Skandal nach dem anderen beschert.
8 DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
Damit zumindest die EU in puncto Menschenrechte
eine ernst zu nehmende Stimme bleibt, wird es nicht
reichen, die Migranten von Lesbos zu evakuieren –
obwohl das der erste, zwingende Schritt in diesen Tagen
wäre. Für die Bundesregierung bedeutet dies, dass sie
sich nicht hinter dem Ruf nach einer »europäischen
Lösung« verstecken darf, solange klar ist, dass viele Regie-
rungen kein Interesse an der Aufnahme von Flüchtlingen
haben. Sie sollte mit gutem Beispiel vorangehen und
wenigstens ein paar Tausend der auf Lesbos Gestrandeten
aufnehmen.
Darüber hinaus benötigt die EU endlich eine kohärente
Asyl- und Migrationspolitik. Denn solange es Kriege und
Armut gibt, werden auch
weiter Menschen versuchen,
nach Europa zu gelangen.
Gewiss, die Steuerung von
Zuwanderung ist komplex, und
die Interessen der 27 Mitglied-
staaten stehen sich zum Teil
diametral entgegen. Und auch
bei den Bürgern kommt es
nicht überall gut an, wenn
Europa Flüchtlingen aus Syrien
oder Afghanistan eine neue
Heimat bietet.
Angelos Tzortzinis / AFP
Aber es gibt Lösungsansätze,
die Migrationsexperten seit
Langem empfehlen: die Errich-
tung humaner Aufnahmezen-
tren an Europas Außengrenzen
mit einer guten Gesundheitsver-
sorgung, keines Molochs wie
Moria. Dort könnten die Asyl-
anträge innerhalb weniger Wochen geprüft werden. Zudem
wäre es einen Versuch wert, weitere und EU-weite Rück-
nahmeabkommen mit afrikanischen Staaten für abgelehnte
Asylbewerber auszuhandeln, damit noch klarer wird: Wer
kein Bleiberecht hat, muss gehen. Wer aber einen Schutz-
titel erhält, wird innerhalb Europas einem Land zugewiesen.
Da sich manche Staaten weigern werden, Geflüchtete aufzu-
nehmen, muss notgedrungen das System der »flexiblen Soli-
darität« gelten. Das bedeutet auch, dass sich die Verweigerer
zumindest finanziell an der Flüchtlingshilfe beteiligen. Viele
Politiker fordern das schon jetzt.
In den kommenden Wochen will EU-Kommissionschefin
Ursula von der Leyen endlich einen Vorschlag für ein euro-
päisches Asylsystem vorlegen. Kaum jemand glaubt, dass
der Vorstoß Erfolg hat. Die EU ist in dieser Frage nicht
bekannt für solidarische Lösungen. Fest steht aber: So men-
schenverachtend wie jetzt kann das System nicht bleiben.
Katrin Elger
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Zurück ins Inferno
Migration Nach einem Großbrand liegt nicht nur das griechische
Flüchtlingslager Moria in Trümmern, sondern die gesamte europäische Asylpolitik.
Immer mehr Helfer und Politiker in Deutschland fordern eine Evakuierung
der Schutzsuchenden von den griechischen Inseln. Doch die Bundesregierung
versteckt sich hinter der EU.
 Flüchtlingskrise

S
hahrzad hat es geschafft, sie ist
Flüchtende auf Lesbos den Flammen entkommen, die
aus Moria, Europas größtem
Flüchtlingslager, ein Stück ver-
branntes Ödland machten. Nun
aber weiß sie nicht, wohin. Shahrzad, 25
Jahre alt, eine schüchterne Frau aus Af-
ghanistan mit feinen Gesichtszügen, sitzt
am frühen Mittwochabend neben ihrem
Mann und ihren zwei kleinen Kindern vor
dem abgebrannten Camp auf der grie-
chischen Insel Lesbos. Wie es weitergeht?
»Wir wissen es nicht«, sagt sie. Ihre Doku-
mente haben sie dabei, mehr kaum. »Wir
haben wenig zu essen, nur etwas Wasser.
Niemand sagt uns etwas.«
Als in der Nacht von Dienstag auf Mitt-
woch die Feuer ausbrachen, schlief die Fa-
milie, die seit acht Monaten in Moria lebt,
in ihrem Container im Lager. »Es war kalt,
wir waren in unsere Decken gewickelt«,
erzählt Shahrzad.
Dann roch sie Rauch. Sie wusste sofort,
dass etwas nicht stimmte. »Wir sind auf-
gewacht. Als wir die Flammen sahen und
die Schreie der Menschen hörten, packten
wir die Kinder und rannten in der Dunkel-
heit auf die Hügel.« Ungläubig hätten sie
auf die Flammen geblickt. Wieder löste
sich ihr Leben in nichts auf.
»Moria war nie ein guter Ort«, sagt
Shahrzad leise. Das Lager sei immer über-
füllt gewesen. Trostlosigkeit, Elend, Angst.
All das konnte die Familie hier jeden Tag
spüren. Aber zumindest hatte sie ein Dach
über dem Kopf.
Fast 13 000 Menschen sind durch den
Brand in Moria von heute auf morgen ob-
dachlos geworden. Griechenlands Premier
Kyriakos Mitsotakis hat den Notstand über
die Insel Lesbos verhängt, auf der das La-
ger liegt. Seine Regierung will die Geflüch-
teten vorerst auf Kriegsschiffen oder Fäh-
ren unterbringen – und in Zelten.
Die Ursachen für die Feuersbrunst sind
nicht vollständig geklärt. Auf Lesbos ma-
chen am Mittwoch teils wilde Theorien
die Runde, die Mutmaßungen reichen von
Brandstiftung durch Rechtsradikale oder
durch die Migranten selbst bis hin zu einer
von der Türkei organisierten Provokation.
Am Donnerstag teilt das griechische Mi-
grationsministerium mit, dass das Feuer
wohl von Asylbewerbern als Reaktion auf
die Corona-Quarantänemaßnahmen ge-
legt worden sei.
Sicher ist, dass mit Moria nicht nur ein
Lager in Trümmern liegt, sondern die ge-
samte europäische Asylpolitik.
Die EU wollte Moria als Modell eta-
Alexandros Avramidis / DER SPIEGEL

blieren. In sogenannten Hotspots auf

mehreren Mittelmeerinseln sollten Asyl-
anträge innerhalb weniger Wochen ge-
prüft werden. Anerkannte Flüchtlinge soll-
ten auf EU-Staaten verteilt, Menschen
ohne Schutzanspruch in die Türkei zurück-
geschickt werden. So jedenfalls sah es das

11

Flüchtlinge lebten am 1. März in dem Lager,
das Kapazitäten für knapp 3000 hatte.
5504
1. Jan. 2018
5 200
Hektar betrug die ursprüngl. Fläche
des Lagers in etwa. Das entspricht
der Größe von 7 Fußballfeldern.
Migrationsabkommen vor, das die EU 2016
mit der Türkei geschlossen hatte.
Kaum etwas davon ist passiert. Statt die
Gesuche von Asylbewerben rasch zu be-
arbeiten, hielten die griechischen Behör-
den die Schutzsuchenden zum Teil über
Jahre auf Lesbos und anderen Ägäisinseln
fest. Kaum ein Flüchtling wurde in die Tür-
kei zurückgebracht, aber auch kaum je-
mand durfte weiterreisen nach Nordeuro-
pa. Das Ergebnis ist, dass immer mehr
Menschen sich auf der Insel stauten.
Die EU nimmt für sich in Anspruch,
nicht nur eine wirtschaftliche und politi-
sche, sondern auch eine moralische Macht
zu sein. Auf Lesbos hat sie jede moralische
Autorität eingebüßt. Es ist kein Zufall, dass
Schutzsuchende in Moria eingesperrt, ge-
demütigt werden, keine Nachlässigkeit. Es
ist Teil der europäischen Migrationspolitik.
Wer Moria vor dem Brand durchquerte,
erlebte einen der schmutzigsten und ge-
fährlichsten Orte Europas. Die Menschen
lebten hier auf engstem Raum unter Pla-
12
19675
Flüchtlinge
teilten sich einen
Wasserhahn.*
nen, Müll verrottete überall, Bäche waren
durch Berge von Plastikflaschen verstopft.
Durch die Coronakrise hat sich die Lage
auf der Insel in den vergangenen Wochen
weiter verschärft. Moria ist lange vor dem
Brand zum Symbol für Europas Bigotterie
geworden. Der Berliner Politikberater Ge-
rald Knaus spricht von einem »Guantana-
mo für Flüchtlinge«.
Shahrzad, die Mutter aus Afghanistan,
blickt auf das Trümmerfeld. Während sie
erzählt, wie sie vor dem Terror der Taliban
in Afghanistan über die Türkei nach Grie-
chenland geflohen ist, ballt sich der blaue
Himmel über Moria erneut zu einer dunk-
len Rauchwolke zusammen. Ein weiteres
Feuer ist an diesem Mittwochabend im La-
ger ausgebrochen. Die Menschen, die vor
den ersten Bränden Zuflucht um das Camp
herum gesucht hatten, laufen los. Männer
schultern den Besitz ihrer Familie in
schwarzen Plastiksäcken, Kinder weinen
vor Angst, Frauen drängen sich durch die
Menge. Panik bricht aus.
Nach dem Brand
12 589
7. Sept. 2020
* in einigen Bereichen des Lagers;
Quellen: griechisches Innenministerium, Ärzte ohne Grenzen
160
Flüchtlinge
teilten sich
eine Toilette.*
»Wir müssen gehen. Jetzt. Wir werden
lebendig verbrannt«, ruft eine Freundin
Shahrzad aufgeregt zu. Die Familie reiht
sich eilig in die menschlichen Karawanen,
die sich auf die Straßen zubewegen – nur
weg vom brennenden Camp.
Alte Menschen in Rollstühlen, Kleinkin-
der mit Teddybären, schwangere Frauen,
junge Familien, Männer, Frauen und Kin-
der drängen sich die spärlich beleuchtete
Straße entlang in Richtung Mytilini, der
Hauptstadt von Lesbos. Doch sie kommen
nicht weit.
Der Marsch endet abrupt an einem der
Posten der Bereitschaftspolizei aus Athen.
Sie ist da, damit niemand aus der unmit-
telbaren Umgebung des Lagers fliehen
kann. »Verschwindet, geht zurück!«, brüllt
ein Polizist eine Familie mit Baby an. Als
Angelos Tzortzinis / AFP
eine Gruppe von Migranten aus Protest
die umliegenden Felder in Brand setzt, feu-
ert die Polizei Tränengas. Hunderte haben
keine andere Wahl, als sich zurück in Rich-
tung Inferno zu bewegen.
DER SPIEGEL Nr. 38/ 12.9. 2020

Die Menschen stolpern übereinander,
husten und weinen. Orientierungslos irren
sie im beißenden Gas umher. Keinerlei or-
ganisierte Hilfe ist in Sicht, keine Behör-
denmitarbeiter, keine Nothelfer. Shahrzad
und ihre Familie sind wie Tausende andere
gezwungen, sich für die Nacht am Straßen-
rand niederzulassen.
Das Feuer breitete sich rasend schnell
in Moria aus, überraschend jedoch war der
Ausbruch nicht. Die Katastrophe hat sich
über Monate, über Jahre hinweg ange-
bahnt. Für Flüchtlinge, Helfer, Ärztinnen
auf Lesbos stellte sich irgendwann nicht
mehr die Frage, ob das Camp in Flammen
aufgehen würde, sondern nur noch, wann.
Moria war ein Desaster mit Ansage. Und
dieses Desaster begann mit dem EU-Tür-
kei-Deal 2016.
Angela Merkel will nach dem turbulen-
ten Flüchtlingssommer 2015 mit dem Ab-
kommen ihre Kanzlerschaft retten. Doch
schnell wird klar: Ein zentraler Bestandteil
des Plans, die Abschiebungen in die Tür-
kei, funktioniert nicht. Richter blockieren
Abschiebungen, weil sie die Türkei für
nicht sicher genug halten. Asylbeamte
brauchen Monate statt wie versprochen
Tage für die Verfahren.
Zwar intensiviert die Regierung in An-
kara den Grenzschutz und stoppt fortan
viele Flüchtlingsboote. Die Zahl der Flücht-
linge, die die Inseln erreichen, hat sich nach
drei Jahren Flüchtlingsdeal um 97 Prozent
reduziert. Doch die wenigen Flüchtlinge,
die noch ankommen, sitzen fest. Die Lager
entwickeln sich zu Freiluftgefängnissen.
Das elendeste aller Insellager ist schon
bald das Camp Moria, eine ehemalige Ka-
serne. Es liegt inmitten von Olivenhainen
auf einem Hügel, umschlossen von Beton-
mauern und Stacheldraht. Durch das Lager
verläuft eine Art Hauptstraße, an dessen
Anfang ein großes Tor liegt, der Hauptein-
gang. Wer das Camp betritt, kommt an ei-
nem Schild vorbei: »Mitfinanziert von der
Europäischen Union. Budget: 6.167.750 Eu-
ro.« Im Innern stehen Wohncontainer,
selbst gebaute Marktstände, Flüchtlinge bie-
ten Melonen an, Telefonkarten und Ta-
schenlampen.
Das Essen im Camp wird dreimal am
Tag ausgegeben. Stundenlang stehen die
Bewohner Schlange und warten auf eines
der Essenspakete, in Plastik verpackt.
Manchmal gibt es nicht genug Pakete für
alle. In der Schlange herrscht das Recht
des Stärkeren.
Als Papst Franziskus im April 2016 Mo-
ria besucht, ist das Lager, das für knapp
3000 Menschen ausgerichtet ist, bereits
überfüllt. Der Papst nimmt zwölf syrische
Flüchtlinge mit nach Italien. Während des
kalten Winters nach seinem Besuch ster-
ben mindestens fünf Menschen in Moria.
Mitte 2018 hausen mehr als doppelt so
viele Menschen in dem Lager wie geplant.
Flüchtlingskrise
Die Bewohner finden keinen Platz mehr in
den Containern, ihnen werden Plätze im
Olivenhain zugewiesen, windige Zelte wer-
den aufgebaut, Holzverschläge. Der Hain
bekommt einen Namen: »der Dschungel«.
Es gibt kaum Toiletten, Frauen trauen sich
nachts nicht aus den Zelten, aus Angst vor
Vergewaltigungen.
Die griechische Regierung evakuiert in
dieser Zeit immer mal wieder Geflüchtete,
manchmal Hunderte an einem Tag. Es sind
immer nur so viele, dass gerade kein Mas-
senaufstand droht, aber nie so viele, dass
sich die Zustände in Moria substanziell
verbessern würden.
Zwischen Juli und Ende September
2019 erreichen mehr als 25 000 Flüchtlin-
ge die griechischen Inseln, fast so viele wie
im gesamten Jahr zuvor. Der Anstieg ist
mit 2015 nicht zu vergleichen, aber er
reicht aus, um das Lager an den Rand des
Kollapses zu führen.
Moria wächst an, unaufhaltsam, erst
auf 10 000, schließlich, im März 2020,
auf fast 20 000 Menschen. Die Infrastruk-
tur des Camps kollabiert. Die Wasser-
versorgung und die Leitungen rund um
Moria sind nicht für so viele Menschen
ausgelegt. In Teilen des Camps fällt stun-
denlang das Wasser aus, jeden Tag. Die
Dixi-Klos verdrecken.
Das Camp wird so groß, dass die Strom-
versorgung immer wieder zusammen-
bricht. Flüchtlinge zapfen die Leitungen
an. Psychologen berichten von Kindern,
die nachts aufschreien und in Panik aus
dem Zelt rennen, die sich mit Messern
selbst verletzen oder versuchen, sich das
Leben zu nehmen.
722
442
174
71
11
Mitsotakis Merkel
* Erstanträge
Quelle:
2015 Eurostat 2016
Die Bewohner von Lesbos haben lange
geduldet, dass ihre Insel zur Auffangsta-
tion für Schutzsuchende aus aller Welt
wurde. Nun aber kippt die Stimmung.
Premier Kyriakos Mitsotakis will im Früh-
jahr 2020 im Norden der Insel ein neues
geschlossenes Lager bauen. Zur Absiche-
rung des Grundstücks schickt er im Mor-
gengrauen Polizisten. Doch die Einheimi-
schen haben sich rund um den Ort ver-
sammelt. Sie prügeln auf die Beamten ein.
Die schlagen zurück.
Zwei Tage lang herrscht Chaos auf Les-
bos. Dann ziehen die Polizisten ab. Von
jetzt an richtet sich die Wut der Menschen
von Lesbos zunehmend gegen die Flücht-
linge.
Die Situation wird für die Griechen da-
durch erschwert, dass sich der türkische
Präsident Recep Tayyip Erdoğan immer
weniger an das Flüchtlingsabkommen mit
der EU gebunden fühlt. Die Migrations-
kontrollen durch die türkische Marine wer-
den seltener. Im März dieses Jahres öffnet
Erdoğan schließlich die Grenzen ganz.
In den Augen einiger Inselbewohner
werden Flüchtlinge nun zum Instrument
des türkischen Erzfeindes, NGOs und
Journalisten zu Staatsfeinden. Am Hafen
von Mytilini beschimpfen Einheimische
ein Boot mit ankommenden Flüchtlingen.
»Geht zurück in die Türkei!«, rufen sie.
Rechtsradikale übernehmen zwischenzeit-
lich die Kontrolle über Teile der Insel.
NGOs ziehen Helfer und Ärztinnen ab.
Lesbos befindet sich schon in einem
Ausnahmezustand, als Griechenland wie
der Rest der Welt von Corona heimge-
sucht wird. In den ersten Monaten der Pan-
Begrenzte Hilfe
Asylbewerber* in EU-Mitgliedstaaten in Tausend
Deutschland
Frankreich
Griechenland
Ungarn
143
138
75
0,5
Getty Images(2); WireImage; BESTIMAGE
Macron Orbán
2017 2018 2019
13

demie bleibt Lesbos noch weitgehend ver-
schont. Doch Behörden, Helfern, Flücht-
lingen ist früh klar, dass sich das irgend-
wann ändern wird. Alle wissen: Ist das Vi-
rus erst einmal im Camp, wird es sich ra-
sant verbreiten. Für den Notfall hat die
griechische Regierung einen Plan gefasst,
er ist benannt nach der sagenhaften Figur
der ersten Ärztin aus der griechischen An-
tike: Agnodike.
Ab dem 17. März dürfen die Flüchtlinge
das Lager wegen Corona praktisch nicht
mehr verlassen. Selbst wer nur zum Arzt
oder in den Supermarkt will, braucht eine
Genehmigung der Polizei. Allerdings lebt
ein Großteil der Geflüchteten ohnehin au-
ßerhalb des Lagers, im »Dschungel«. Viele
freiwillige Helfer müssen das Camp räu-
men, nur NGO-Mitarbeiterinnen, die für
das Funktionieren des Camps unerlässlich
sind, dürfen bleiben, Andrea Wegener ist
eine von ihnen.
Wegener, gläubige Christin aus dem Wes-
terwald, 45 Jahre alt, organisiert für die
NGO Euro Relief die Logistik im Camp.
Wenige kennen das Lager so gut wie sie.
Die letzten Wochen der Eskalation in Moria
hält sie in einem Onlinetagebuch fest. Im
März notiert sie: »Es kann doch nicht sein,
dass wir alle überrascht werden, wenn es
plötzlich Hunderte Corona-Fälle im Camp
gibt?! Dass wir überhaupt nicht vorbereitet
sind?! Die Leute sind nach dem Winter ge-
schwächt, es wird mehr Tote geben als unter
vergleichbaren Bevölkerungen.«
Ärztinnen und Ärzte fürchten noch mehr
als sonst um die psychische Gesundheit der
Flüchtlinge. Allein in den ersten beiden
Aprilwochen werden der NGO Fenix 13
Fälle von Gewalt gegen Frauen gemeldet.
Bei der Organisation Ärzte ohne Grenzen
lassen sich immer mehr Opfer von
Vergewaltigungen behandeln. »Ich hoffe,
dass es nicht zu Unruhen kommt«, notiert
Wegener im April. »In den letzten Wochen
lag eine Grundanspannung und eine latente
Gewalt in der Luft. Man weiß nicht, in wel-
che Richtung sie sich als Nächstes entlädt.
Die Ausgangssperre tut den Bewohnern
von Moria nicht gut.«
Trotz der Maßnahmen erreicht das Vi-
rus am 2. September Moria. Ein Somalier
hat Fieber. Kurz darauf wird er positiv ge-
testet. Die Behörden reagieren nach Plan.
Sie verschärfen den Lockdown im Camp
noch einmal. Fortan darf überhaupt nie-
mand mehr rein oder raus. Es ist eine He-
rausforderung, mutmaßlich Kranke und
Gesunde auf engstem Raum auseinander-
zuhalten. Im Camp machen Gerüchte die
Runde. Viele glauben, die Regierung wolle
das Virus als Vorwand nutzen, um einen
Zaun um Moria zu bauen.
Die NGOs laufen Sturm gegen die Mas-
senquarantäne. Ärzte ohne Grenzen ap-
pelliert auch an Deutschland. »Die Bun-
desregierung trägt eine besondere Mitver-
14
Flüchtlingskrise
antwortung für die desaströsen Verhältnis-
se in Moria«, schreiben die Ärzte. Deutsch-
land müsse nun auf EU-Ebene dafür sor-
gen, dass die Menschen vor Corona ge-
schützt würden.
Bis Dienstag, dem Tag vor dem Brand,
sind in Moria 35 Corona-Fälle bestätigt.
Auf Befehl der Verwaltung wird jede me-
dizinische Versorgung eingestellt, bis auf
Notfälle. Alle Schulen sind geschlossen.
Die Menschen können nicht mehr zum Su-
permarkt, sie müssen im Camp um Essen
anstehen. Am Ende sind der Frust und die
Verzweiflung der Bewohner über die Le-
bensbedingungen so groß, dass sie begin-
nen, selbst Feuer im Lager zu legen. Das
jedenfalls vermuten Beobachter vor Ort.
Massengrab Mittelmeer
Auf der Mittelmeerroute umgekommene
Migranten, gemeldete Fälle
5143
4054
3283 3139
2299
1885
2014 2015 2016 2017 2018 2019
2020: 562 bis zum 10. September
Seit 2014 starben demnach
auf der Mittelmeerroute
20 365
Migranten. Quelle: IOM
Seit 2014 hat die Europäische Union
Griechenland rund 2,9 Milliarden Euro für
die Unterbringung und Versorgung von
Flüchtlingen überwiesen. Die Summe ent-
spricht fast dem Halbjahresbudget des
Uno-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR), das
für die ganze Welt zuständig ist. Trotzdem
hat es Athen über all die Jahre versäumt,
eine auch nur halbwegs belastbare Infra-
struktur für Migrantinnen und Migranten
aufzubauen, die eine solche Eskalation hät-
te verhindern können. Und auch in Brüssel
hat offenbar nie jemand laut die Frage ge-
stellt, wohin all die Milliarden Hilfsgelder
geflossen sind. War es den Regierungen
egal? Oder wollte niemand zu genau hin-
sehen – Hauptsache, es kommen keine
Migranten aus dem Lager?
Politikberater Gerald Knaus, der als
Architekt des EU-Türkei-Deals gilt, ist
überzeugt, dass sich die Zustände in Mo-
ria nicht durch bloße Unfähigkeit der
verantwortlichen Politiker erklären las-
sen. Er glaubt, dass die Europäer das
Elend auf Lesbos bewusst in Kauf neh-
men, um mögliche Neuankömmlinge ab-
zuschrecken.
Unstrittig ist, dass die Regierenden in
Berlin, Paris, Brüssel froh waren, dass die
Flüchtlinge in den vergangenen Jahren vor
allem das Problem der anderen waren, der
Griechen und der Italiener. Das Feuer in
Moria hat ihrer Selbstlüge, wonach sich
das Thema Migration auslagern lässt, ein
Ende gesetzt.
Die Bestürzung in Europas Hauptstäd-
ten über die Brände scheint groß. »Ich bin
tief betroffen über die Ereignisse in Mo-
ria«, schrieb EU-Kommissionschefin Ur-
sula von der Leyen auf Twitter. Und trotz-
dem ist fraglich, ob die Politik irgendwel-
che Schlüsse aus dem Inferno ziehen will.
Es beginnt damit, dass schon die Grie-
chen keinen Grund sehen, an ihrer repres-
siven Migrationspolitik irgendetwas zu än-
dern. Zwar haben die Behörden am Mitt-
woch 400 unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge aus Lesbos weggebracht, der
Großteil der Menschen sitzt aber nach wie
vor auf der Insel fest. Die Regierung will
auch das Camp Moria so schnell wie mög-
lich wieder aufbauen, dann wohl als »ge-
schlossenes und kontrolliertes Camp«,
sagt der griechische Migrationsminister
Notis Mitarachi diese Woche.
»Wenn ein Feuer ausreicht, um ein La-
Daniel Etter / The New York Times / laif; Elvis Barukcic / AFP; Matt Cardy / Getty Images; Nicolo Lanfranchi / laif; Nilüfer Demir / AFP; Ozan Kose / AFP;
ger zu schließen, bekommen wir an jedem
Hotspot weitere Brände. Morgen hätten
wir ein Feuer in Samos, dann eins in
Chios«, erklärt ein hochrangiger Offiziel-
ler das Kalkül seiner Regierung. Nach den
Inseln würden auf dem Festland Brände
ausbrechen, da die Menschen nach Europa
ziehen möchten. Und wer kann ausschlie-
ßen, dass Migranten sich am Evros dann
selbst anzünden würden – sodass es am
Ende in Griechenland eine Selbstverbren-
nung gäbe wie jene, die den Arabischen
Frühling auslöste?
Im Hintergrund, so heißt es aus Berlin,
würden die Griechen auch eine mögliche
Umsiedlung von Flüchtlingen aus Moria
in andere EU-Staaten blockieren. Sie
fürchten offenbar, dass dann nur noch
mehr Migranten aus der Türkei kämen.
Athen und Ankara stehen im Streit um
Grenzen und Rohstoffe im Mittelmeer seit
Wochen kurz vor einem Krieg. In Mitso-
takis’ Umfeld ist die Sorge groß, Erdoğan
könnte erneut Menschen in Richtung Grie-
chenland schicken, um Athen unter Druck
zu setzen, so wie er es im Frühjahr schon
einmal getan hat.
Die Europäer sind in der Flüchtlings-
politik so zerstritten wie eh und je. Einige
wenige Staaten wie Luxemburg sind der
Auffassung, dass die EU nach der Kata-
DER SPIEGEL Nr. 38/ 12.9. 2020
 1 2

Chronik einer Eskalation

Alles beginnt im Jahr 2015,
als immer mehr Flüchtlinge
über die Türkei auf die
griechischen Inseln kom-
men. Ein syrischer Vater
bricht in Tränen aus, als er
die Insel Kos erreicht (1).
Rund zwei Wochen später
ertrinkt der kleine Alan
Kurdi (5) vor Bodrum, als
ein Flüchtlingsboot auf dem
Weg nach Griechenland
sinkt. Tausende nehmen die
Balkanroute, laufen zu Fuß,
reisen 2015 mit Zügen ab
3 5
Budapest auch Richtung
Deutschland weiter (3).
Etliche schöpfen, wie hier
vor Malta (4), Hoffnung auf
ein würdevolles Leben.
Doch bald schottet die EU
sich rigoros ab. Die Länder
der Balkanroute schließen 4
ihre Grenzen, Flüchtende
bleiben wie in Bosnien 2019
(2) im Transit gefangen.
Im Februar und März 2020
wehren griechische Grenzer
Migranten aus der Türkei mit
Gewalt ab (6). Es gibt Tote.

6
 Migranten in Moria

19000 Corona-Tests sollen

nun auf Lesbos
gemacht werden. 2,9 Milliarden Euro hat Griechenland
seit 2014 von der EU zur Unterstützung
von Migranten erhalten.

strophe von Moria nicht einfach zum All-
tag übergehen kann. Sie fordern, dass die
Mitgliedstaaten Geflüchtete aus Griechen-
land aufnehmen. Andere Staaten wie
Österreich lehnen das nach wie vor kate-
gorisch ab.
»Europa bleibt krank, solange es aus der
Flüchtlingskrise keinen Ausweg gefunden
hat«, sagt Luxemburgs Außenminister
Jean Asselborn gegenüber dem SPIEGEL.
»Für mich heißt der Missetäter Sebastian
Kurz. Er hat diese erbärmliche Situation
als Allererster zu verantworten.«
Tatsächlich profiliert sich Österreichs
Kanzler in der Flüchtlingspolitik seit Jah-
ren als Hardliner. »Ganz Europa ging Kurz’
Gerede auf den Leim, man müsse nur die
Grenzen schließen, damit sich das Flücht-
lingsproblem erledige«, kritisiert Assel-
born. »Dazu kommt, dass Österreich 2018,
ausgerechnet als es die EU-Ratspräsident-
schaft innehatte, den Uno-Migrationspakt
ablehnte.«
Asselborn hatte bereits beim Treffen der
EU-Innenminister im März vorgeschlagen,
war seine Idee. Auf Luxemburg kämen
mithin zehn Jugendliche, so Asselborn,
Deutschland müsste 1600 Kinder aufneh-
men, Frankreich 1200. »Als ich meinen
Vorschlag machte, sagte der Vertreter
Österreichs, sie würden keine Jugendli-
chen aufnehmen, sondern Container auf
die Insel schicken, Toiletten also«, erinnert
sich Asselborn.
Damit will er sich nun nicht mehr ab-
speisen lassen. Wenn die EU jetzt nicht
handele, dann sei ihr nicht mehr zu helfen,
sagt er. »Es ist an der Zeit, dass die Kom-
missionschefin alle Hebel in Bewegung
setzt, um auch jene zwei Drittel der EU-
Länder, die immer noch so tun, als gingen
sie die Flüchtlinge an Europas Haustür
nichts an, dazu zu bringen, sich solidarisch
zu zeigen.«
Bislang deutet wenig darauf hin, dass
ihr das gelingt. Nach mehrfachem Ver-
schieben will die Kommission Ende Sep-
tember ihre Vorschläge für ein neues Asyl-
und Migrationspaket präsentieren. Die
Details werden gehütet wie ein Schatz,
Und eine Verteilung der restlichen Flücht-
linge im Rahmen einer Koalition der Wil-
ligen, also auf mehr oder weniger frei-
williger Basis.
Selbst EU-Innenminister zweifeln da-
ran, dass solche Pläne wirklich einen Fort-
schritt bringen. Bereits im April forderten
Horst Seehofer und seine Kollegen aus
Frankreich, Spanien und Italien in einem
Schreiben an die Kommission, einer Re-
form nicht zustimmen zu wollen, bei der
sich Länder wie Ungarn aus der gemein-
samen Solidarität einfach verabschieden
können.
»Derzeit tragen eine Handvoll Mitglied-
staaten eine übergroße Last, was einen
Mangel an Solidarität zeigt und das Risiko
erhöht, dass das ganze System dysfunktio-
nal wird«, heißt es darin. »Daher setzen
wir uns für eine gerechte Aufteilung der
Verantwortung und die Schaffung eines
verbindlichen Mechanismus für eine ge-
rechte Verteilung ein.«
Weil sich die EU in der Flüchtlingspoli-
tik gelähmt präsentiert, gibt es immer
Angelos Tzortzinis / AFP

die unbegleiteten Minderjährigen aus Mo-
ria und den anderen Lagern in der EU zu
verteilen. Sogar eine Formel hatte Assel-
born für seine EU-Kollegen dabei. Zehn
Kinder pro halbe Million Einwohner, das
doch nach allem, was man hört, wird von
der Leyen vor allem Altbekanntes vor-
schlagen: ein erstes Überprüfen von Mi-
granten bereits an der Außengrenze, in-
klusive möglichst sofortiger Rückführung.
mehr Stimmen in Deutschland, die einen
Alleingang der Bundesregierung fordern
– um auf diese Weise wenigstens einigen
wenigen Notleidenden in Griechenland zu
helfen.

16 DER SPIEGEL Nr. 38/ 12.9. 2020


Mehrere Tausend Menschen demons-
trierten am Mittwochabend in Berlin für
eine Evakuierung der Geflüchteten aus
Moria. SPD-Vizechef Kevin Kühnert stand
in der Menge, auch die Fraktionschefin
der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-
Eckardt.
Vor allem CSU-Bundesinnenminister
Horst Seehofer gerät unter Druck. Er gilt
vielen in der Opposition als ein Haupt-
schuldiger für die Zustände in Moria. »See-
hofer hat schnelle Hilfe blockiert«, kriti-
siert Katja Kipping, Vorsitzende der Lin-
ken. »Jetzt hat er Kranke und vielleicht
sogar Tote auf dem Gewissen.«
Die SPD hat sich bei der Aufnahme von
Geflüchteten aus Griechenland lange Zeit
bedeckt gehalten. Nun spricht sich Kühnert
gegenüber dem SPIEGEL jedoch für eine
schnelle Aufnahme der Menschen aus und
fordert: »Die Frage der Verteilung von Ge-
flüchteten in der EU ist seit Jahren ungelöst.
Das bleibt dringend zu klären, wird jedoch
nicht in drei Tagen erledigt sein. Angesichts
der akuten humanitären Katastrophe brau-
chen wir jetzt keine neuen Arbeitsgruppen,
sondern müssen unmittelbar handeln«, so
Kühnert. »Deutschland kann jetzt nicht auf
eine europäische Lösung warten, sondern
sollte vorangehen.«
Der Streit um die Geflüchteten in Grie-
chenland spaltet die deutsche Politik seit
Langem. Ende 2019 und Anfang 2020 be-
suchten mehrere deutsche Politiker Moria.
Einige, darunter der niedersächsische In-
nenminister Boris Pistorius (SPD), schrie-
ben Briefe an Seehofer, baten ihn, beson-
ders Schutzbedürftige ins Land zu lassen.
Mehrere Kommunen und Städte taten sich
zusammen und erklärten sich bereit, Kin-
der aus Griechenland aufzunehmen.
Doch besonders in der Union ist eine
solche Aufnahme von Geflüchteten um-
stritten. Konservative Innenpolitiker hal-
ten Merkels Flüchtlingspolitik des Jahres
2015 für einen Fehler und betonen immer
wieder, dass es keinen weiteren deutschen
Alleingang geben dürfe.
In der Union gibt es aber auch andere
Stimmen. Bei einer Fraktionssitzung im
Frühjahr soll sich ein Abgeordneter, der
Landwirt ist, so geäußert haben: Wenn er
seine Tiere unter den Bedingungen der
Flüchtlingslager hielte, würde sein Betrieb
dichtgemacht.
Wenig später einigten sich Union und
SPD im Kanzleramt auf einen Minimal-
kompromiss. Deutschland werde Kinder
aufnehmen, »die entweder wegen einer
schweren Erkrankung dringend behand-
Pier Marco Tacca / Getty Images
lungsbedürftig oder aber unbegleitet und
jünger als 14 Jahre alt sind, die meisten da-
von Mädchen«.
Die Hilfsorganisationen in den Lagern
mussten, als es dann wirklich losgehen soll-
te, innerhalb kürzester Zeit helfen, passen-
de Flüchtlinge zu finden. Aber die meisten
Flüchtlingskrise
der unbegleiteten Kinder in Griechenland
sind Jungen. Es hat gedauert, aber immer-
hin: Insgesamt sollen in diesem Jahr bis
zu tausend Menschen aus Moria aufge-
nommen werden, unbegleitete Minderjäh-
rige, kranke Kinder und ihre Familien.
Nach dem Großbrand bietet Pistorius
nun an, er könne rund 500 Menschen aus
Moria in einem Landesaufnahmelager un-
terbringen. Deutschland könne, entspre-
chend hochgerechnet, insgesamt 5000 Mi-
grantinnen und Migranten aufnehmen, for-
dert er. Es sei keine Zeit mehr, einzelne
Gruppen auszusuchen. Warten auf eine
EU-Lösung sei auch keine Option: »Wenn
immer alle darauf warten, dass alle mit-
machen, macht am Ende niemand was.«
Das sei »die organisierte Verantwortungs-
losigkeit«. Notfalls müsse Bundeskanz-
lerin Merkel ihren Innenminister in die
Pflicht nehmen.
Thüringen und Berlin hatten schon zu-
vor eigene Aufnahmeprogramme angebo-
ten, bekamen aber eine Absage. Das Bun-
desinnenministerium lehnte die Initiative
Thüringens Anfang August mit der Be-
gründung ab, die rechtlichen Vorausset-
zungen seien nicht erfüllt. Nach dem
Brand sieht sich Ministerpräsident Bodo
Ramelow (Die Linke) bestätigt: »Die Zu-
stände in Moria waren schon vor dem
Feuer eine europäische Schande, und die
Lebensbedingungen dort waren uner-
träglich.« Es sei höchste Zeit, endlich die
Aufnahmeverfahren zu beschleunigen und
die Schutzsuchenden sofort europäisch
zu verteilen.
Im Moment sieht es nicht so aus, als
würde es dazu kommen. Zwar erklärten
sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron
am Donnerstag bereit, mehrere Hundert
minderjährige Flüchtlinge aus Moria in
Tatsächlich profiliert
sich Österreichs Kanzler
in der Flüchtlingspolitik
seit Jahren als Hardliner.
»Ganz Europa ging Kurz’
Gerede auf den Leim.
Man müsse nur die
Grenzen schließen, da-
mit sich das Flüchtlings-
problem erledige«, kriti-
siert Jean Asselborn.
einer europäischen Initiative aufzuneh-
men. Doch dabei handelt es sich um eine
weitgehend symbolische Handlung.
Thorsten Frei, stellvertretender Vorsit-
zender der Unionsfraktion im Bundestag,
sagt: »Einem nationalen Alleingang bei der
Aufnahme von Migranten stehe ich sehr
kritisch gegenüber. Er würde das Interesse
an einer Reform der europäischen Asylpoli-
tik schlagartig erlahmen lassen. Von einem
Alleingang könnte zudem leicht das Signal
ausgehen, dass der Weg nach Deutschland
frei ist.« Auch die Bundeskanzlerin hatte
sich in ihrer Sommerpressekonferenz für
eine europäische Lösung ausgesprochen.
Nichts machen, bis die EU was macht –
das scheint auch nach dem Brand die De-
vise der Bundesregierung zu sein. Sie führt
schon seit Jahren dazu, dass am Ende gar
nichts passiert.
Auf Lesbos harren die Flüchtlinge un-
terdessen am Donnerstag auf den Straßen
aus. Etliche haben die Nacht auf dem Park-
platz eines Lidl verbracht, andere haben
sich zwischen die Grabsteine eines Fried-
hofs gezwängt, um dort ein wenig Schutz
zu finden. An den Rändern einer Haupt-
straße stehen kleine Zelte. Menschen stre-
cken sich am Morgen in den Feldern, su-
chen bei 30 Grad Schatten unter den dür-
ren Ästen der Olivenbäume.
Polizisten schirmen die Hauptstadt
Mytilini derweil rigoros ab. Wütende An-
wohner blockieren die Straßen zusätzlich.
Helfer verteilen an vereinzelten Stellen auf
der Insel Wasser oder Nahrung. Um dort-
hin zu kommen, sind die meisten Flücht-
linge aber auf die Gunst der Polizisten an-
gewiesen.
Auf dem Hügel am Camp in Moria ist
es ganz still. Immer wieder brechen dort
am Donnerstag kleine Feuer aus. Ein übler
Brandgeruch hängt über dem Ort. Auf der
Insel findet sich niemand, der hierher zu-
rückkehren möchte.
Viele Geflüchtete und Anwohner wün-
schen sich, dass der Schandfleck Moria für
immer dem Erdboden gleichgemacht
bleibe. Und doch ist wahrscheinlicher,
dass das Camp wieder wachsen wird.
Die Regierung Mitsotakis hat mitge-
teilt, dass sie außer den unbegleiteten
Minderjährigen vorerst niemanden
von der Insel wegbringen wird.
Die Menschen am Wegesrand,
auf der nackten Straße, hören diese
Nachricht. Sie nehmen sie hin. Da
ist kein Hass zu spüren, keine Wut.
Dafür eine Art stoisches Aushalten.
Und eine tiefe Verlassenheit.
Giorgos Christides, Katharina Fiedler,
Hubert Gude, Kevin Hagen, Barbara
Hardinghaus, Valerie Höhne, Carolin
Katschak, Katrin Kuntz, Timo Lehmann,
Steffen Lüdke, Peter Müller, Maximilian
Popp, Lydia Rosenfelder, Maria Stöhr,
Britta Stuff, Steffen Winter
17
Deutschland

Patrick Franck / action press

Stählerne Legende Am Montag kehrte der Viermaster »Peking« nach 90 Jahren wieder in seinen Heimathafen
Hamburg zurück. Der Frachtsegler gehörte zu den Flying-P-Linern der Laeisz-Reederei. Beim Stapellauf 1911
war das Schiff mit 115 Meter Länge und einer Maximalladung von rund 4700 Tonnen eins der größten seiner Art.
Nun soll es als begehbares Museumsschiff dienen.

Grenzenlos warnen
Pandemie Länderübergreifende Corona-App-Meldungen ab Montag in der Testphase
 Die deutsche Corona-App soll bald
auch grenzüberschreitend eingesetzt wer-
den können – zumindest in einigen EU-
Ländern. Am Montag beginnt eine Test-
phase, an der sich zunächst Dänemark,
Tschechien, Italien, Lettland und Irland
mit ihren jeweiligen Warn-Apps beteili-
gen. Der Übergang in den Regelbetrieb ist
im Oktober geplant. Die Architektur für
die länderübergreifende Lösung wurde
federführend von der Deutschen Telekom
und von SAP entwickelt, die auch gemein-
sam die deutsche App betreiben. Unter-
gebracht ist der neue »Interoperabilitäts-
Gateway-Service« in einem Datencenter
der EU-Kommission in Luxemburg.
Die Riege der Länder mit »interope-
rablen« Corona-Apps, die auch vor
Risikokontakten warnen, die im Ausland
stattfinden, soll nach dem Willen der
Kommission möglichst bald erweitert
werden. Bislang funktioniert das nur mit
anderen dezentralen App-Lösungen –
und daher beispielsweise nicht mit der
des Nachbarlandes Frankreich, das einen
zentralen Ansatz verfolgt. Wie schon
die Einführung des deutschen Systems
dauert auch die Internationalisierung der
Warn-App erheblich länger als geplant.
Ursprünglich hatte Binnenmarktkommis-
sar Thierry Breton sie im Juni schon für
die »näher rückende Reisesaison« in Aus-
sicht gestellt. MP, ROM

18 DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020

Ex-Schalke-Manager
Staatsanwaltschaft
ermittelt
im Fall Assauer
 Nach Berichten über das
angeblich verschwundene
Vermögen des verstorbenen
Fußballmanagers Rudi As-
sauer hat die Staatsanwalt-
schaft Bochum ein Ermitt-
lungsverfahren eingeleitet.
»Es geht um den Vorwurf der
Untreue, das Verfahren rich-
tet sich gegen eine nament-
lich bekannte Person«, sagte
ein Sprecher der Behörde
dem SPIEGEL. Um wen es
Hanau-Attentäter
Lücken im
Waffenrecht
 Kommunale Behörden sol-
len sich künftig verpflichtend
darüber austauschen, wer in
ihrem Zuständigkeitsbereich
Waffen verwahrt. Das fordert
der Münchner Oberbürger-
meister Dieter Reiter (SPD) in
einem Brief an den Präsiden-
ten des Deutschen Städtetags.
Anlass der Initiative ist der
mangelnde Informationsfluss
im Fall des Hanauer Attentä-
ters Tobias R., der im Februar
zehn Menschen und sich
selbst erschoss. R. »wohnte
mehrere Jahre in München
und verwahrte hier auch seine
Schusswaffen, ohne aber in
München melderechtlich
Nachgezählt
Veränderungen beim kontaktlosen Bezahlen durch
die Covid-19-Pandemie
75%
der Befragten
bezahlten 2020
kontaktlos
Quelle: VISA Mobile
Payment Monitor 2020
sich bei der Person handelt,
wolle man »aus ermittlungs-
taktischen Gründen« nicht
sagen, so der Sprecher. Die
»Zeit« hatte jüngst über den
Verdacht berichtet, Assauer
sei gegen Ende seines Lebens
ausgeplündert worden. Dem
Artikel zufolge besaß Assauer
2010 ein Vermögen von
etwa 2,3 Millionen Euro, das
offenbar nur wenige Jahre
später spurlos verschwunden
war. Der Ex-Schalke-Funk-
tionär war zuletzt schwer
demenzkrank und wurde
von seiner Tochter gepflegt.
Er starb Anfang 2019 mit
74 Jahren. SMS
erfasst zu sein«, schreibt Rei-
ter. »Dem Main-Kinzig-Kreis
als zuständige Waffenbehörde
war der Umstand, dass R. sei-
ne Schusswaffen in München
verwahrte, bekannt« – nicht
jedoch den Münchner Behör-
den. In bayerischen Waffen-
behörden sei es »gängige Pra-
xis, bei einer auswärtigen
Verwahrung von Schusswaf-
fen« die Kollegen vor Ort zu
informieren, so Reiter. »Eine
gesetzliche Verpflichtung zu
dieser Informationsübermitt-
lung besteht aber nicht.« In-
sofern stelle sich die Frage,
»ob ein sicherheitsrechtlicher
Nachbesserungsbedarf im
Waffenrecht besteht«. Reiter
schlägt vor, den Aufbewah-
rungsort zusätzlich im natio-
nalen Waffenregister zu hin-
terlegen. AKM, FRI, MBA
Anstieg in allen
Altersgruppen, u.a.
aufgrund von
Hygienebedenken
55%
bezahlten 2019
kontaktlos
Alexander Neubacher Die Gegendarstellung
Am Corona-Lagerfeuer
Nach Raviolidose und Autokino taucht Corona-
bedingt das nächste Artefakt aus ökologisch
unbekümmerten Zeiten wieder auf: der Heizpilz.
Viele Städte und Gemeinden denken darüber
nach, ihr Verbot von Terrassenstrahlern für die
Außengastronomie aufzuheben, solange drinnen
im Schankraum die Aerosole drohen. Virenschutz
schlägt Klimaschutz, selbst bei einigen Grünen: »Das Überleben
der Gastronomen ist wichtiger als der Energieverbrauch«,
sagt Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer. Von einer
»speziellen Ausnahmesituation« spricht Grünenfraktionschef
Anton Hofreiter.
Nun dürfte der symbolische Nutzen eines Heizpilzverbots
fürs Weltklima ohnehin größer sein als seine tatsächliche
Bedeutung. Trotzdem finde ich es bemerkenswert, wie schnell
der Pragmatismus über den Dogmatismus siegt. Das Heizpilz-
comeback steht sinnbildlich für die Kompromisse, die uns
die Krise abnötigt. Und von »Extinction Rebellion« hat man
zuletzt auch nicht mehr so viel gehört.
Ich muss auch gestehen, dass ich die Heizpilze vermisst
habe. In ihrem rot glühenden Schein fanden jene oft recht inte-
ressanten Menschen zusammen, die zum Rauchen vor die
Tür geschickt worden waren. Man stand also dicht an dicht um
das Edelstahlfeuer herum, merkte, wie das Blut aus dem
heißen Kopf in die kalten Füße floss,
und fühlte sich wie in Paris, wo auf der
Früher wurde »terrasse chauffée« jedes anständigen
Propan ab- Bistros schon seit über hundert Jahren
gefackelt. So gegen den Winter angeheizt wird.
Aber ist es nicht doch irrsinnige Ver-
gesehen sind schwendung, die Freiluft zu erwärmen?
Heizpilze ef- Tatsächlich ist ein mit Propangas-
fiziente Reste- befeuerter Heizpilz nicht gerade Energie-
effizienzklasse A+++. Wenn man jedoch
verwertung. berücksichtigt, dass Propan eigentlich
ein Abfallprodukt der Erdöl- und Erd-
gasförderung ist, das an der Förderanlage früher sehr häufig
abgefackelt wurde, sieht die Sache anders aus. Danach sind
die Heizstrahler kein Beispiel für ineffiziente Verschwendung,
sondern geradezu für effiziente Resteverwertung.
Ein Satz, den ich von Befürwortern des Heizpilzverbots oft
gehört habe, lautet: »Früher gab’s so was doch auch nicht.«
Wer bei Kälte draußen sitzen wolle, solle sich gefälligst in eine
der Decken hüllen, die viele Cafés inzwischen vorhalten.
Nun weiß ich nicht, inwieweit man eine Decke in Corona-
Zeiten nach Gebrauch desinfizieren müsste, bevor sich der
nächste Gast hineinwickelt. Die Forschungslage hierzu ist dünn.
Allerdings wollte man im 18. Jahrhundert schon die nordame-
rikanische Urbevölkerung mittels virenverseuchter Decken aus-
rotten, man sollte also wohl besser vorsichtig sein.
Meine Hoffnung ist, dass sich klimapolitischer Aktionismus
wie das Heizpilzverbot ohnehin erübrigt, wenn ab nächstem
Jahr ein sinnvoller CO -Preis für alle Brenn- und Heizstoffe
²
fällig wird, also auch für Flaschen mit Flüssiggas. Das Biertrin-
ken auf einer beheizten Außenterrasse wird dadurch wohl
teurer. Doch bevor wegen der Pandemie unsere Lieblingsbar
schließt und die Ausgehkultur in den Städten vernichtet wird,
sollte es uns das Geld sicher wert sein.
An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen und Alexander Neubacher
im Wechsel.
19
Reichstagsgebäude I Chappattes Welt
Trennender Graben
 Der Politologe Wolfgang Merkel vom
Wissenschaftszentrum Berlin kritisiert
die Pläne des Bundestags für einen soge-
nannten Aha-Graben vor dem Reichs-
tagsgebäude zur Abwehr von Gefahren.
»Der Graben wäre ein architektonischer
und symbolischer Missgriff«, sagt der
Professor. Er würde die »Repräsentan-
ten« von den »Repräsentierten« tren-
nen. Merkel hält ihn auch nicht für
nötig für die Sicherheit. »Nicht einmal
der sogenannte ›Ansturm auf den
Reichstag‹ hat jemanden bedrängt«, so
der Professor über die Demonstranten,
die am vorvergangenen Samstag die
Stufen des Parlaments eroberten. »In
Zeiten, in denen wir uns wieder ange-
wöhnt haben, in illiberaler Manier über
die wehrhafte Demokratie zu reden,
bedeutet der Graben noch mal im Beson-
deren eine symbolische Schließung. Ein
fatales Zeichen politischer Abgehoben-
heit.« Die Baukommission des Ältes-
tenrats hatte im Februar beschlossen,
im Zuge des Baus eines Besucher- und
Informationszentrums vorm Reichs- Alternde Gesellschaft geld bekamen, dann Arbeitslosenhilfe
tagsgebäude den Graben zu errichten. und schließlich mit 58 in die vorgezogene
Der Name »Aha-Graben« leitet sich
»Demokratie ist eine Rente gehen konnten. Und das in Abstim-
daraus ab, dass dieser erst zu erkennen Lebensform« mung mit den Betrieben, die junge, billi-
ist, wenn man direkt davorsteht – »Aha« gere Leute einstellten. Der Staat und die
steht für die erstaunte Reaktion. TIL Der frühere SPD-Parteichef Versicherung bezahlten ja dafür.
Franz Müntefering, 80, SPIEGEL: Wie sieht gute Politik für eine
Henning Schacht

über sein neues Buch »Das alternde Gesellschaft aus?

Reichstagsgebäude II
Schutz durch die
Bundespolizei?
 Nach den rechtsextremen Ausschrei-
tungen am Bundestag könnte die Bun-
despolizei für die Sicherheit um das
Reichstagsgebäude zuständig werden.
Dieses Angebot unterbreitete Bundes-
innenminister Horst Seehofer (CSU) bei
einem Treffen mit Bundestagspräsident
Wolfgang Schäuble (CDU) und dem
Berliner Innensenator Andreas Geisel
(SPD), dessen Land bislang für den
Außenschutz zuständig ist. Die Bundes-
polizei schützt in Berlin fünf Bundes-
objekte: das Kanzleramt, das Schloss
Bellevue und drei Ministerien. Eine Ent-
scheidung zum Reichstag wurde noch
nicht gefällt. Einig war sich die Runde
laut Teilnehmern, dass sich Szenen wie
am 29. August nicht wiederholen dür-
fen. Rund 500 Demonstranten, darunter
Reichsbürger und Rechtsextremisten
mit Reichsfahnen, hatten die Treppe des
Bundestags besetzt. Für einen Moment
standen nur drei Polizisten zwischen der
Menge und einer Eingangstür. WOW
Jahr 2020+« und rot-rote
Koalitionen
SPIEGEL: Als Parteivorsitzender lehnten
Sie eine Koalition mit der Linken ab,
heute wirbt die SPD dafür. Zu Recht?
Müntefering: Ich mache das mal fest an
dem, was Bodo Ramelow in Thüringen
leistet. Man muss ihn nicht mögen, man
muss auch nicht die Linke wählen, aber
dass seine Partei sich demokratisch be-
wegt, ist nicht zu bestreiten. Den Versuch
von Teilen der Union, der Linken demo-
kratische Zuverlässigkeit abzusprechen,
halte ich für gefährlich. Die AfD steht klar
außerhalb unseres demokratischen Spek-
trums, die Linke nicht. Die SPD sollte
eine Koalition mit ihr nicht ausschließen.
SPIEGEL: Wie müssen wir uns Franz
Müntefering im Ruhestand vorstellen?
Müntefering: Gar nicht. Das genaue Ren-
teneintrittsalter ist ein kultureller Irrtum
unserer Zeit. Das gab es vor 150 Jahren
nicht, und das wird es in 150 Jahren nicht
mehr geben. Der eine kann mit 50 nicht
mehr, die andere kann noch mit 80. Als
wir 1998 an die Regierung kamen, lag das
Renteneintrittsalter im Schnitt bei 58 Jah-
ren. Was auch mit den Langzeitarbeits-
losen zu tun hatte, die mit 55 Arbeitslosen-
Müntefering: Wenn wir über Politik spre-
chen, denken die meisten an den verfass-
ten Staat. Demokratie ist aber nicht pri-
mär der Staat, das ist ein großer Fehler in
unserem Denken. Die ersten 19 Artikel
des Grundgesetzes betreffen einzelne Men-
schen. Der Staat ist für den Menschen da
und nicht umgekehrt. Deshalb ist Demo-
kratie auch eine Lebensform: Solange
man kann, ist jeder mitverantwortlich für
das, was passiert. In Familien, unter Nach-
barn, auf der Straße, überall. Die Men-
schen sagen mir: Wir wollen selbstbe-
stimmt leben. Ich antworte ihnen: Das
heißt aber nicht, Staat, mach mal. Der
Staat ist gefordert, Freiheit und Gerechtig-
keit zu sichern. Solidarität kann er nicht
erzwingen. Das müssen wir selbst tun.
SPIEGEL: Wie machen Sie Älteren Mut?
Müntefering: Im Rentenalter ist der
Tank nicht leer. Da ist noch richtiges
Leben, da ist Lernen, Lachen, Laufen,
Jahre, die man nicht vergeuden darf. Wir
sind heute 5,5 Millionen, die über 80
sind; 2045 werden es etwa 10 Millionen
sein. Früher dachte ich: Wenn ich sterbe,
würde ich gern einfach tot umkippen.
Das gilt nicht mehr. Ich möchte mein
Ende sehenden Auges erleben. Aber das
hat noch Zeit! LYR, TIL

20 DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020

Familienpolitik
Mehr
Kinderkrankentage
 Die Bundestagsfraktion der
Grünen fordert eine Erhöhung
der Kinderkrankentage auf
40 pro Jahr für jede Familie
während der Coronakrise.
Eltern brauchten mehr Unter-
stützung, um Beruf und Fami-
lie vereinbaren zu können, so
Katja Dörner, familienpoliti-
sche Sprecherin der Fraktion.
Zuvor hatte diese Erhöhung
bereits Serpil Midyatli, Chefin
der SPD Schleswig-Holstein
und Bundesvize, gefordert.
Die Koalition hatte sich aber
nur auf fünf zusätzliche Kin-
derkrankentage je Elternteil
und zehn für Alleinerziehende
verständigt. Damit gelten der-
zeit 30 Kinderkrankentage für
Bahnreform
Grüne rügen
Scheuer
 In einem Brief an Verkehrs-
minister Andreas Scheuer
(CSU) werfen grüne Abgeord-
nete dem Minister Tatenlosig-
keit in Sachen Schiene vor.
Scheuer hatte im vergangenen
Jahr einen Diskussionspro-
zess über die Zukunft der
Bahn »ohne Denkverbote«
angekündigt. Sie hätten die
Ankündigung »ernst genom-
men«, erklären die Grünen-
abgeordneten, und konkrete
Vorschläge gemacht. Doch
für Scheuer sei die angekün-
digte Reformdiskussion »kein
Thema mehr« gewesen. »Bis
heute haben Sie keinen einzi-
gen Vorschlag vorgelegt und
Scheuer
Paare oder Alleinerziehende.
Fraktionsvize Dörner reicht
das nicht: »Gerade für berufs-
tätige Eltern, deren Kinder
wegen einer Erkältung oder
ähnlichen akuten Erkrankun-
gen zu Hause bleiben sollen,
braucht es mehr als halbherzi-
ge Reformen.« Es dürfe nicht
erwartet werden, dass im
Homeoffice arbeitende Mütter
oder Väter sich um kranken
Nachwuchs kümmerten. Die
Grünen wollen eine Initiative
starten, um mehr Kinderkran-
kentage im Bundestag zu for-
dern. Zudem wollen sie die
derzeit gültigen 30 Kinderkran-
kentage dauerhaft festschrei-
ben lassen. In den EU-Ländern
Frankreich und Schweden dür-
fen Berufstätige deutlich länger
fehlen, wenn ihre Kinder
krank sind – in Schweden so-
gar an 120 Tagen im Jahr. HÖH
die Arbeit daran verweigert«,
heißt es in dem Brief, den
neben Fraktionschef Anton
Hofreiter der Bahn-Experte
der Fraktion, Matthias Gastel,
und der haushaltspolitische
Sprecher Sven-Christian Kind-
ler unterschrieben haben. Es
sei der falsche Ansatz, »plan-
los« Geld nachzuschießen und
dem Konzern gleichzeitig
»heftige Sparzwänge« aufzu-
bürden. Die Grünen erneuern
ihre Forderung nach einer
zweiten Bahn-Reform. »Da-
mit die Bahn-Reform nicht zu
einem weiteren hohlen Ver-
sprechen von Ihnen wird, for-
dern wir Sie auf, schleunigst
einen Dialogprozess zu skiz-
zieren«, schreiben sie Scheuer.
Regierung und Opposition
müssten die Bahn gemeinsam
»durch die Krise führen«. HÖH
Peter Kneffe l dpa
Sonja Och / DER SPIEGEL
Der Augenzeuge
»An der Grenze«
In Deutschland werden Blutkonserven knapp.
Edmund Chmeliczek, 38, koordiniert Spendetermine
für das Deutsche Rote Kreuz. Doch wegen der
Corona-Hygienevorschriften findet er kaum noch Räume.
 »Normalerweise reichen die Blutkonserven in Deutschland
vier Tage lang. Das ist unser Puffer. Doch gerade sind es
nur noch anderthalb Tage. Da bewegen wir uns wirklich an
der untersten Grenze. Wir versuchen gegenzusteuern.
Derzeit organisiere ich in Niederbayern Termine für Novem-
ber und Dezember. Dazu spreche ich mit Schulleitern und
Hausmeistern. Denn 80 Prozent unserer Blutspendeaktionen
finden in öffentlichen Gebäuden statt. In den Schulen kann
man oft von Unterrichtsräumen auf Turnhallen ausweichen.
Dennoch haben Schulleiter Bedenken. Sie wollen und müssen
eigene Hygienekonzepte umsetzen. Mancherorts dürfen
Eltern das Schulgelände nicht betreten. Wenn dann aber abends
hundert Menschen zur Blutspende über das Areal laufen, ist
ihnen das schwer zu vermitteln.
Mit der Coronakrise sind viele Blutspendetermine weg-
gefallen. Oft liegt das daran, dass die Räume zu eng sind,
um anderthalb Meter Abstand zu ermöglichen. Zum Beispiel
haben wir in einem Ort bei Landshut immer Termine in
einem Veranstaltungshaus angeboten. Dort herrschte meist
großer Andrang: Es kamen 150 Menschen. Wegen der
Hygienevorschriften reicht jetzt der Platz nicht mehr. Die
dortige Turnhalle wird gerade umgebaut. So konnte keine
der drei geplanten Veranstaltungen in diesem Jahr stattfinden,
und uns fehlen 450 Blutkonserven. Nicht nur in Dörfern
ist das ein Problem. Auch in Städten suche ich häufig lange
nach geeigneten Räumen, etwa wenn es keine Stadthalle
gibt.
Hinzu kommt: Die Kliniken holen jetzt Operationen nach,
die im Frühjahr ausgefallen sind. Der Bedarf an Blutkonserven
ist wieder gestiegen. Doch aktuell bleiben viele Spender
weg. Ich glaube, die Menschen wollen lieber das schöne Wetter
genießen, Sport machen und ihre Freizeit nutzen. Niemand
weiß ja, ob das im Herbst noch möglich sein wird.«
Aufgezeichnet von Sabrina Winter
21
So gesehen
Faxen dicke
Technologischer Artenschutz
mit Andreas Scheuer
 Digitalminister Andreas Scheuer will
auf dem nächsten Digitalisierungsgipfel
im Kanzleramt eine Kaufprämie für
Faxgeräte durchsetzen. »Es stehen viele
moderne Faxgeräte auf Halde. Die müs-
sen vom Hof, damit neue produziert
werden«, begründete der CSU-Politi-
ker seine Forderung in einer Schaltkon-
ferenz, die nur Teilnehmern mit Wähl-
scheibentelefon zugänglich war. Die
Faxgeräte deutscher Faxgerätehersteller
seien »topmodern«, erklärte der Minis-
ter. Ohne Produktion in den Manufak-
turen der Hersteller gebe es auch keine
Zulieferung von Faxprodukten wie
Thermopapierrollen oder Faxunterstell-
tischchen. Auch die Papierkorbindus-
trie leide. Daher dürfe eine Kaufprämie
kein Tabu sein.
Ohne Kauf- denAusgezahlt wer-
solle die Prämie
prämie für in Form von Reise-
deutsche gutscheinen, einzu-
lösen ausschließlich
Faxgeräte für Fahrten mit
leidet dampfbetriebenen
die Thermo- Eisenbahnen, sagte
Scheuer, der im
papier- Nebenberuf auch
industrie. Verkehrsminister ist:
»Mit dieser Entschei-
dung setzen wir zusätzliche Anreize für
die Dampfmaschine made in Germany
und überbrücken die Zeit, bis die
Draisine noch alltagstauglicher wird.«
Zudem würden so der Kohlestandort
Deutschland auf Dauer gefestigt
und die Arbeitsplätze Tausender Heizer
gesichert.
Kritiker unterstellen dem Minister
schon lange eine allzu große Nähe zur
Fax- und Dampflobby. Sie vermuten,
der CSU-Politiker strebe nach seiner
Entlassung einen Posten als Nachtwäch-
ter in einem Technikmuseum an.
Scheuer plant derweil bereits die nächste
Initiative. Sein »Gigaplan Internet«
wird in den kommenden Wochen von
berittenen Boten auf allen Marktplätzen
des Landes verkündet. Stefan Kuzmany
22
Demonstrierende in Berlin 2019
Klimaschutz
Fridays for Future nicht
sozial genug
 Der Paritätische Wohlfahrtsverband
hat den Unterstützerkreis für den Klima-
streik von Fridays for Future verlassen.
Das teilte Hauptgeschäftsführer Ulrich
Schneider dem SPIEGEL mit. »Wir
wollen eine sozial-ökologische Wende«,
sagt Schneider, doch soziale Fragen hät-
ten bei Fridays for Future offenbar keine
Mehrheit. Eigentlich wollte der Wohl-
fahrtsverband laut Schneider den
Klimastreik am 25. September etwa mit
Plakaten unterstützen. Doch Fridays
Corona-Beschränkungen
Hybride Parteitage
 Die CDU/CSU-Fraktion hat einen Vor-
schlag zur Änderung des Parteiengeset-
zes vorgelegt, um zunächst befristet bis
Ende 2021 sogenannte hybride Parteitage
zu ermöglichen. Ein entsprechender Ent-
wurf soll kommende Woche im Zuge der
Beratungen des Wahlgesetzes im Innen-
ausschuss behandelt werden, die Befas-
sung im Bundesrat ist für den 9. Oktober
geplant. Die Änderung sieht vor, dass
Parteitage mit Abstimmungen über Sach-
themen komplett digital stattfinden kön-
nen. Im Fall von Personenwahlen müsste
die Abstimmung über die Person aller-
dings analog erfolgen. Die Änderung soll
ausdrücklich dezentrale Abstimmungen
ermöglichen, sodass Wahlurnen für eine
Kandidatin oder einen Kandidaten an
verschiedenen Orten stehen könnten.
Mittels des modifizierten Parteiengeset-
Snapshot Photography
for Future habe sich nicht zu einem
Demonstrationsaufruf mit sozialer Aus-
sage durchringen können. Die Diskus-
sion mit den Umweltaktivisten sei nicht
auf Augenhöhe gewesen, so Schneider,
»Fridays for Future will allein bestimmen,
was passiert.« Der Wohlfahrtsverband
wolle sich weiter für Klimapolitik ein-
setzen und schließt nicht aus, dass seine
Organisation Fridays for Future in
Zukunft unterstützt. Die Umweltaktivis-
ten waren nicht für eine Stellungnahme
zu erreichen. Auf der Website zum
Klimastreik von Fridays for Future rufen
allerdings 55 zivilgesellschaftliche
Organisationen zur »sozial-ökologischen
Transformation« auf. RED
Michael Kappeler / dpa
CSU-Feier mit Bild von Kramp-Karrenbauer
zes könnte die CDU ihren für Dezember
geplanten Bundesparteitag komplett
digital oder in mehreren Hallen an ver-
schiedenen Orten abhalten. Die Wahl
des neuen Vorsitzenden müsste aber per
Papierwahl erfolgen. Die CDU-Gremien
wollen am Montag darüber entscheiden,
ob und wie der Parteitag angesichts
der Corona-Beschränkungen abgehalten
werden kann. FLO
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Pavel Golovkin / dpa

Kanzlerin Merkel, Staatspräsident Putin in Moskau im Januar: Scharfe Worte

Schuss ins eigene Knie

Diplomatie Im Fall des attackierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny verdichten sich
die Hinweise, dass der Kreml an dem Anschlag beteiligt war. Doch wie könnte man
Russland wirksam bestrafen, ohne den Deutschen oder anderen Europäern zu schaden?

A
ußenminister Heiko Maas ist für
gewöhnlich nicht leicht aus der
Ruhe zu bringen, am Mittwoch-
nachmittag aber sah das ganz an-
ders aus. Der Europaausschuss des Bun-
destags tagte, es ging um die Krise in Bela-
rus und die Frage, wie sich Deutschland
verhalten solle, auch gegenüber Russland,
der Schutzmacht des umstrittenen belarus-
sischen Staatschefs Alexander Lukaschen-
ko. Maas wurde von mehreren Seiten hef-
tig angegangen.
Erst musste sich der SPD-Politiker eine
Rede des Linkenabgeordneten Diether
Dehm anhören, der Russland auf ganzer
Linie verteidigte, danach wurde er von
den Grünen dafür angegriffen, dass er sich
in Belarus viel zu wenig engagiere. Der
Abgeordnete Manuel Sarrazin warf dem
Außenminister vor, so berichten es Teil-
nehmer, er habe »Weißrussland verkauft«
und lasse Russland freie Hand. Wütend
bezichtigte Maas die Grünen der »Selbst-
gefälligkeit«.
Der Außenminister wirkte unsicher,
entscheidende Fragen sind ungeklärt: Wie
will Deutschland gegenüber Belarus und
Russland auftreten? Wie könnten Sank-
tionen aussehen? Und wie geht es weiter
mit dem deutsch-russischen Gaspipeline-
projekt Nord Stream 2?
Einig ist man sich in der Regierung nur,
dass der Kurs gegenüber Moskau deutlich
verschärft werden muss. Nicht allein we-
gen Belarus: Die Indizien, dass der Kreml
in das Giftattentat auf den russischen
Oppositionspolitiker Alexej Nawalny in-
volviert ist, verdichten sich.
Die Wissenschaftler des Instituts für
Pharmakologie und Toxikologie der Bun-
deswehr haben diverse Proben von Nawal-
ny analysiert, per Feindiagnostik suchten
sie in seinem Blut und Urin nach jeder
Form von Gift. Auch Spuren an einer Fla-
sche, die Nawalny bei sich hatte, wurden
intensiv geprüft.
Demnach soll es sich bei dem ver-
abreichten Stoff um eine Weiterentwick-
lung von bislang bekannten Nowitschok-
Zusammensetzungen handeln. Das Gift
sei noch »härter« als bisherige Formen,

24 DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020

erklärte der Präsident des Bundesnachrich-
tendienstes, Bruno Kahl, in einer gehei-
men Runde.
Auch die Organisation für das Verbot
chemischer Waffen (OPCW) ist in die Un-
tersuchungen mit einbezogen, eine Dele-
gation der OPCW soll am Wochenende zu
Besuch in der Berliner Charité gewesen
sein, wo Nawalny behandelt wird.
Die Zusammensetzung des Stoffes ist
für die Bundesregierung der wichtigste
Hinweis darauf, dass Russlands Staatschef
Wladimir Putin in den Fall verwickelt sein
könnte. Je komplexer, neuer und seltener
die chemische Zusammensetzung des Gif-
tes, desto wahrscheinlicher sei es, dass
man nur mithilfe des russischen Staats-
apparats daran gelange.
Daher geht man in Berlin derzeit davon
aus, dass nur ein russischer Geheimdienst
Nawalny auf dem Weg zum oder am Flug-
hafen selbst vergiftet haben kann. Da der
Oppositionspolitiker nachweislich eng
durch den Inlandsgeheimdienst FSB über-
wacht worden ist, sieht man keine andere
Möglichkeit.
Das Kalkül der Täter sei gewesen, so
vermuten die deutschen Sicherheitsbehör-
den, dass Nawalny noch an Bord des Flug-
zeugs sterben sollte. Nur die beherzte
Notlandung des Piloten in Omsk und die
Behandlung mit einem Gegengift im dor-
tigen Krankenhaus hätten ihm das Leben
gerettet. Der Kreml hat mehrfach vehe-
ment bestritten, etwas mit dem Mordver-
such zu tun zu haben. Am Mittwoch wur-
de der deutsche Botschafter in Moskau,
Géza Andreas von Geyr, von der russi-
schen Regierung zu einem »Gespräch«
eingeladen.
Kanzlerin Angela Merkel hatte in der
vergangenen Woche scharfe Worte an
Moskau gerichtet. »Wir erwarten, dass die
russische Regierung sich zu diesem Vor-
gang erklärt«, sagte Merkel. Sie spielte da-
mit den Ball zunächst nach Moskau und
gewann Zeit. Doch was folgt, wenn die Er-
klärung Moskaus nicht zufriedenstellend
ausfällt? Müsste Berlin dann das Milliar-
denprojekt Nord Stream 2 beenden – kurz
vor seiner Fertigstellung? Die Möglichkeit
wollten zuletzt weder der Außenminister
noch die Kanzlerin ausschließen. Aller-
dings hätten sie für diesen Schritt in ihren
eigenen Parteien kaum Rückhalt.
Schon am Tag vor der hitzigen Debatte
im Europaausschuss erntete Heiko Maas
deutlichen Widerspruch für seine Äuße-
rung. Die Kritik kam ausgerechnet aus
der eigenen Bundestagsfraktion. Corona-
bedingt tagten die Abgeordneten im Ple-
narsaal.
Der Münchner Abgeordnete Florian
Post sprach sich gegen Sanktionen aus. Ihm
fehle der Nachweis, dass russische Stellen
mit Wissen Putins die Vergiftung Nawalnys
angeordnet hätten. »Wir schießen uns ins
eigene Knie«, sagte Post. »Ein Stopp von
Nord Stream 2 ist keine Option.«
Parteichef Norbert Walter-Borjans wen-
det sich zwar nicht gegen Sanktionen,
aber gegen einen Baustopp von Nord
Stream 2. »Wir dürfen nicht einfach zuse-
hen bei diesem eklatanten Verstoß gegen
Menschenrechte, sondern müssen eine
starke europäische Antwort geben«, sagt
der SPD-Chef dem SPIEGEL. Dazu gehör-
ten auch Sanktionen. »Nord Stream 2 ist
aber etwas anderes. Das ist wie bei einer
Brücke, bei der nur noch der Schlussstein
fehlt. Die lässt man doch nicht als Ruine
stehen, nur weil man jetzt Probleme mit-
einander hat.«
Der Erste Parlamentarische Geschäfts-
führer der SPD, Carsten Schneider, nennt
Mit Ausnahme der USA
setzte weltweit
niemand so häufig Sank-
tionen ein wie die EU.
Nord Stream 2 ebenfalls den »falschen
Punkt«. Deutschland beziehe seine Ener-
gie fast ausschließlich von »Ländern, die
alle nicht ganz koscher sind«.
In der Union fordert zwar der Außen-
politiker und Kandidat für den Parteivor-
sitz Norbert Röttgen öffentlich, ein Ende
von Nord Stream 2 (siehe Seite 32). Als
sich in dieser Woche der Unionsfraktions-
vorstand und die komplette Fraktion tra-
fen, meldete sich allerdings niemand, der
seinen Kurs unterstützte.
Im Gegenteil: Sachsens Ministerpräsi-
dent Michael Kretschmer hatte zuvor schon
vor einer Verknüpfung mit dem Pipeline-
projekt gewarnt, ähnlich klang das bei den
Abgeordneten der Schwesterpartei CSU.
CDU-Parteichefin Annegret Kramp-Kar-
renbauer ließ allenfalls Distanz zu dem Vor-
Abgestraft
Von der EU verhängte Libyen
Sanktionen, Auswahl
Waffenembargo
Tunesien
Einfuhr-, Ausfuhr-
beschränkungen
Finanzsanktionen*
Nicaragua
Venezuela
Mali,
Guinea-
* gegen Personen, Bissau,
Organisationen und Unternehmen; Guinea
Quelle: Bundesamt für Wirtschaft
und Ausfuhrkontrolle
haben erkennen, als sie sagte, es handle
sich nicht um ein »Herzensprojekt«.
Ein staatlich angeordneter Baustopp
wäre ohnehin nur schwer durchsetzbar.
94 Prozent der rund 2460 Kilometer lan-
gen Pipeline sind fertig, Genehmigungen
aller betroffenen Länder sind erteilt. Wür-
de man sie widerrufen wollen, ginge das
nach Ansicht von Experten nur mit einem
eigenen Gesetz, das der Bundestag be-
schließen müsste.
Eine Verzögerung der Inbetriebnahme
könnte höchstens die Bundesnetzagentur
erreichen. Sie muss der Gesellschaft, die
den Betrieb der Pipeline auf dem Hoheits-
gebiet Deutschlands und der Europäischen
Union übernehmen soll, eine Genehmi-
gung erteilen. Die könnte sie aufschieben,
allerdings ist die Behörde formell unab-
hängig.
Im Falle eines Baustopps drohen der Re-
gierung hohe Schadensersatzforderungen.
Bislang teilen sich Russen und Europäer
die Gesamtkosten von knapp zehn Milli-
arden Euro. Der russische Gasriese Gaz-
prom hat die eine Hälfte übernommen,
die fünf europäischen Unternehmen Win-
tershall, Uniper, OMV, Royal Dutch Shell
und Engie zahlen die andere Hälfte. Die
Firmen prüften nun, so heißt es im Umfeld
von Nord Stream 2, wann Schadensersatz
möglich wäre.
Die Forderungen könnten sogar noch
weiter gehen. Im Vertrauen auf die neuen
Gaslieferungen sind in Europa bereits
weitere Pipelines und Verdichterstationen
gebaut worden. Über sie soll das an
der Ostseeküste ankommende Gas nach
Ost- und Südeuropa transportiert werden.
Auch diese Betreiber könnten Ansprüche
erheben.
Statt eines Stopps des Milliardenpro-
jekts scheinen daher andere Sanktionen,
etwa gegen Einzelpersonen, Einrichtungen
oder bestimmte Wirtschaftszweige, wahr-
scheinlicher. Die Kanzlerin drängt darauf,
Belarus Russland
Ukraine,
Syrien Türkei Irak, Iran
Libanon
Nordkorea
Burundi Ägypten,
Jemen Myanmar
Sudan,
Südsudan,
Zentral-
afrikanische
Republik,
D. R. Kongo Simbabwe Somalia
25
 Die Deutschland
GESCHICHTE
der dass sie von der Europäischen Union aus-
gehen, die mit diesem Mittel reichlich Er-
»Sanktionen gehören zum notwendigen
Instrumentenkasten der internationalen
fahrung hat. Politik gegenüber Staaten, die grundlegen-

GEHEIM- Derzeit laufen EU-Sanktionsprogram-

me gegen rund 30 Staaten oder Einzelper-
sonen aus diesen Ländern. 36 Prozent al-
de Regeln schwer verletzen«, sagt dagegen
Altmaiers Parteifreund, der Unionsfrak-
tionsvize Johann Wadephul. Deutschland

DIENSTE
vom Mittelalter
ler Sanktionen weltweit gingen zwischen
1980 und 2014 auf die Europäer zurück.
Mit Ausnahme der USA setzte niemand
so häufig Sanktionen ein wie die EU.
Nach der völkerrechtswidrigen Beset-
bis heute zung der Krim hatte die EU bereits Sank-
tionen gegen Russland erlassen. Gegen 175
Auch als
Personen und 44 Einrichtungen wurden
E-BOOK
Reiseverbote verhängt, Vermögenswerte
ERHÄLTLICH
wurden eingefroren. In mehreren Wirt-
JETZT bequem schaftszweigen ist der Handel mit Russ-
von zuhause aus land eingeschränkt. Auch wurde der Zu-
kaufen gang für bestimmte russische Banken und
Unternehmen zu den Kapitalmärkten der
EU abgeriegelt, ein Aus- und Einfuhrver-
bot für Waffen beschlossen und Russland
von sensiblen Technologien ausgesperrt.
Einen Importstopp für russisches Gas
oder Öl allerdings gibt es bislang nicht.
Weil dadurch die Preise für die Verbrau-
cher in der EU steigen würden, fänden
diese Maßnahmen kaum Zustimmung in-
nerhalb der EU. »Ein Einfuhrstopp für rus-
sisches Gas würde außerdem die Ukraine
als Transitland finanziell hart treffen«,
heißt es aus dem Wirtschaftsministerium.
Nach dem Willen der meisten EU-Län-
der soll es demnächst immerhin Einreise-
und Kontosperren für insgesamt etwa 40
Angehörige des Regimes in Belarus geben,
auch für den Innenminister. Noch weiter
greifende Maßnahmen, etwa Sanktionen
gegen Lukaschenko selbst, so befürchten
Brüsseler Diplomaten, würden nur dafür
sorgen, dass sich die Reihen der Getreuen
um den Diktator noch fester schließen.
240 Seiten mit Abbildungen, gebunden · € 20,00 ( D ) Wie wirksam Sanktionen sind, darüber
ist man sich indes weder in Berlin noch in
Brüssel einig. Er kenne keinen Fall, wo
Geheimdienste haben ein schillerndes Sanktionen »gegen Staaten wie Russland«
Image: Es changiert zwischen dem etwas bewegt hätten, sagte Wirtschafts-
minister Peter Altmaier (CDU) in der Talk-
Glamour von James Bond, show »hart aber fair«.
der Verruchtheit von Mata Hari und
der Skrupellosigkeit des Mossad.
SPIEGEL-Autoren und
Geheimdienstexperten enthüllen
anhand von berühmten Agenten
die spektakuläre Geschichte
der Geheimdienste von den Höfen
Alexander Zemlianichenko / AP
und die EU nutzten sie »als klares Zeichen
äußerster politischer Gegnerschaft«.
Im Auswärtigen Amt sieht man Straf-
maßnahmen durchaus kritisch. Sanktionen
dürften weder zu einem Selbstzweck noch
inflationär angewendet werden, sagt ein
deutscher Spitzendiplomat. Dann bestehe
wie bei einem Antibiotikum die Gefahr,
dass die betroffenen Staaten »Resistenzen«
entwickeln. Russland zum Beispiel ver-
sucht, seine Handelsströme umzuleiten
und aus China etwa Hightechgüter zu be-
kommen, die es aus den USA und Europa
nicht mehr beziehen darf.
»Mit gemeinsamen Sanktionen gegen
Russland demonstriert die EU zumindest
Einigkeit«, sagt Sascha Lohmann, Polito-
loge der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Wenn Regierungen sanktionieren, schütz-
ten sie sich außerdem vor Mittäterschaft.
»In Belarus kann die Europäische Union
nicht einfach zuschauen«, sagt Lohmann.
Julia Grauvogel vom Leibniz-Institut
für Globale und Regionale Studien hält
Strafmaßnahmen gegen Autokratien für
weniger wirkungsvoll als gegen Demo-
kratien. Im schlimmsten Fall würden sie
das Regime sogar stabilisieren. »Die Sank-
tionen verstärken die nationalen Gefühle
der Bevölkerung, und diese solidarisiert
sich mit den Herrschenden«, sagt die Wis-
senschaftlerin. Diese Gefahr sieht sie auch
bei weiteren Sanktionen gegen Russland.
Eine Studie für den Unterausschuss für
Menschenrechte des Europaparlaments
aus dem Jahr 2018 unterstreicht die Skep-
sis: Sogar individualisierte Sanktionen
führten »nur in wenigen Fällen« zu dem
gewünschten Ergebnis, also einer ver-
änderten Verhaltensweise.
Während in Brüssel und Berlin Politiker
wie Diplomaten nach einer angemessenen
Antwort auf das russische Treiben suchen,
läuft auf der diplomatischen Ebene das
Alltagsgeschäft weiter: Für Freitag hatte
das Kanzleramt Vertreter Russlands und
der Ukraine zu Verhandlungen über das
Minsker Friedensabkommen im »Norman-
dieformat« eingeladen, Beginn: 13 Uhr, in-
klusive Abendsnack um 21.30 Uhr. Der
mögliche Waffenstillstand, heißt es aus
Diplomatenkreisen, dürfe durch den Fall

Nawalny keinesfalls gefährdet werden.

der Könige und Kaiser Maik Baumgärtner, Frank Dohmen,
Andreas Flammang, Florian Gathmann,
bis zum Cyberwar der Zukunft. Matthias Gebauer, Valerie Höhne,
Martin Knobbe, Timo Lehmann,
Ann-Katrin Müller, Peter Müller,
Lydia Rosenfelder, Christoph Schult,
Christian Teevs, Gerald Traufetter,
Deutscher Botschafter Geyr Sabrina Winter
Der Ball liegt in Moskau

26
www.dva.de
 kürzlich einen großen Schritt auf die mög-
Linkenpolitiker Gysi lichen Partner zugegangen. »Die Linke
wird die Nato nie auflösen«, erklärte er
und räumte zugleich ein weiteres Glau-
bensbekenntnis der Parteilinken ab: das
zum Stopp aller Bundeswehreinsätze.
Natürlich werde man in einer Regierung
nicht sofort »die Jungs zurückholen«,
sagte Bartsch. Ähnlich äußerte sich Gregor
Gysi. Parteichefin Katja Kipping signa-
lisierte ebenso Gesprächsbereitschaft.
Kurz darauf allerdings protestierten
Dutzende Linke gegen die »bedingungs-
lose Koalitionsbereitschaft«. In einem
Papier beharrten sie trotzig auf Nato-Aus-
tritt Rund Bundeswehrabzug. Mit solchen
Forderungen käme Rot-Rot-Grün gar nicht

C. Spicker / AdoraPress
erst zustande.
Sicherlich gibt es für all das auch takti-
sche Motive: Verständnis für Russland
kommt gerade in Ostdeutschland gut an,
friedenspolitische Standfestigkeit bei
großen Teilen der Basis. »Wir können
Parteien Pragmatische Linke arbeiten am Projekt Rot-Rot-Grün. nicht unsere außenpolitische Identität
über Bord werfen und damit auch noch
Doch Hardliner machen diese Option zunichte.
einen Teil unserer Basis vor den Kopf
stoßen«, sagt der Fraktionsvize und Partei-

Wildeste Ideen linke Andrej Hunko. Zwar sind nicht alle

im linken Lager beinharte Dogmatiker.
Manche halten es einfach für einen Fehler,
zu früh Zugeständnisse zu machen.

D ie Sommerpause ist kaum vorbei,

da muss sich Dietmar Bartsch wie-
der zu Merkwürdigkeiten erklären,
die seine Genossen so verzapfen. Als
Dabei war Gysi doch einmal so etwas
wie das letzte Aufgebot der Vernunft.
Zumindest Fraktionschef Bartsch sah ihn
so, als er den 72-Jährigen im Mai auf den
Doch gerade Reformer sorgen sich,
diese Haltung könnte im Wahlkampf das
rot-rot-grüne Klima vergiften. »Wir wer-
den vermutlich auch in Zukunft solche
der Linkenfraktionschef am Dienstag im Posten des außenpolitischen Sprechers Stimmen haben«, sagt Bartsch mit Blick
Reichstagsgebäude vor die wartenden hievte. Damit verhinderte er gerade noch, auf die Protestnote der Parteilinken. »Das
Journalisten tritt, spricht er das größte dass jemand aus dem Linksaußenflügel muss akzeptiert werden.« Er setzt darauf,
Problem gleich selbst an. Punkt eins: der nach dem wichtigen Amt griff. dass die schwierigen Genossen schon
Fall Alexej Nawalny. Linke Pragmatiker bemühen sich, Ver- einlenken werden, wenn man ihnen einen
»Wir brauchen keine Spekulationen«, trauen bei SPD und Grünen aufzubauen, Koalitionsvertrag mit sozialen Verbesse-
sagt Bartsch. Am Biertisch könne man ja den möglichen Partnern für eine Koalition rungen oder Abrüstung präsentiert. Ähn-
»verschwörungstheoretisch alles erörtern«. im Bund. Doch der Fall Nawalny schürt lich sieht es wohl auch die scheidende Par-
Politisch jedoch gehe es um Aufklärung. neue Zweifel an der Regierungsfähigkeit der teichefin Kipping. Letztlich, so Kipping,
Die Ansage ist auch an die eigenen Leute Linken. Schon in der Vergangenheit hatten müssten sich die Kritiker bei SPD und
gerichtet. Einige Linke haben zuletzt die einzelne Genossen immer wieder für Irrita- Grünen, aber auch die linken Regierungs-
wildesten Ideen zum Besten gegeben, wer tionen gesorgt. Sie ließen sich lächelnd skeptiker fragen: »Wie wichtig sind uns
oder was hinter dem Anschlag auf den mit Venezuelas Autokrat Nicolás Maduro sozial-ökologischer Aufbruch und Abrüs-
Kremlkritiker Nawalny stecken könnte. ablichten, forderten mehr Anerkennung tung? Wollen wir wirklich die Chance
Linksaußenpolitikerin Sevim Dağdelen für China und verteidigten den belarussi- auf soziale Sicherheit und konsequenten
erinnerte daran, dass auch der Bundes- schen Diktator Alexander Lukaschenko. Klimaschutz verspielen?«
nachrichtendienst einmal Proben des ver- Fraktionschef Bartsch kommentiert das Am Ende kommt es auch auf die neue
wendeten Nervengifts Nowitschok be- so: »Ich werbe dafür, dass wir mit diesen Parteispitze an. Die Pragmatikerin Susan-
schafft hatte. Ex-Parteichef Klaus Ernst Dingen klar und sehr sensibel umgehen.« ne Hennig-Wellsow, eine der beiden bis-
fragte vielsagend, wer denn ein Interesse Für ihn heißt das wohl: möglichst wenig herigen Bewerberinnen, hatte im SPIEGEL
daran habe, die wirtschaftlichen Bezie- skandalträchtige Äußerungen, vor allem die Bündnisfähigkeit der Linken betont –
hungen mit Russland zu stören. Und nicht zur Außenpolitik. Man solle sich auf und Bundeswehreinsätze im Rahmen von
Bartschs Vorgänger Gregor Gysi mutmaß- die innenpolitischen Themen fokussieren, kampflosen Uno-Missionen erwogen.
te, Gegner des deutsch-russischen Pipe- bei denen es die größten Schnittmengen Ganz anders klingt das bei Hennig-
lineprojekts Nord Stream 2 könnten für zwischen SPD, Grünen und Linken gebe. Wellsows Wunschpartnerin, der hessischen
den Angriff verantwortlich sein. Dass »Wir müssen die Linke als Sozialstaatspar- Fraktionschefin Janine Wissler. »Ich kann
Wladimir Putin dahinterstecke, halte er tei ganz nach vorn stellen«, sagt Bartsch. mir kein Szenario vorstellen, in dem ich
jedoch für unplausibel, so Gysi. Und Für Leute wie ihn sind die aktuellen einen Auslandseinsatz der Bundeswehr
das, obwohl der russische Präsident mit Querschüsse ärgerlich. Sie stören die unterstützen würde«, sagt Wissler. »Man
Oppositionellen bekanntlich nicht gerade Erzählung von der angeblich verlässlicher zieht doch nicht mit Kompromissen in den
zimperlich umgeht. gewordenen Linken. Bartsch war erst Wahlkampf.« Kevin Hagen

DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020 27

 Deutschland

»Ich setze auf die Genialität

unserer Ingenieure«
SPIEGEL-Gespräch Wirtschaftsminister Peter Altmaier, 62 (CDU), wird grün. Er will Deutschland bis
2050 klimaneutral machen. Und zwar mit den anderen Parteien zusammen. Wie soll das gehen?

Hermann Bredehorst / DER SPIEGEL

Christdemokrat Altmaier: »Der Klimawandel ist eine noch größere Herausforderung als die Pandemie«

28 DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020

SPIEGEL: Herr Altmaier, im vergangenen
Jahr haben Sie mit der Aktivistin Luisa
Neubauer in einem SPIEGEL-Gespräch
diskutiert. Zur Klimabilanz Ihrer Genera-
tion sagten Sie: »Man hätte vielleicht man-
ches besser und früher machen können.«
Was genau meinten Sie damit?
Altmaier: Das Bewusstsein, dass wir mit
dem Klimawandel einer globalen ökologi-
schen Katastrophe entgegengehen, ist seit
Langem da. Es hat zum Beispiel dazu ge-
führt, dass wir uns in den Neunzigerjahren
auf den Kyoto-Vertrag verständigt und in
Deutschland die Energiewende mit Mil-
liarden Euro vorangetrieben haben. Doch
der notwendige ökologische Wandel ist
immer wieder durch andere Themen über-
lagert worden. So haben wir das Vertrauen
der jungen Menschen verloren.
SPIEGEL: Haben die Leute von Fridays for
Future also recht, wenn sie sagen: Ihr zer-
stört unsere Zukunft?
Altmaier: Sie haben, so wie jede junge Ge-
neration, das Recht zu Kritik und Provo-
kation. Und sie haben gewichtige Argu-
mente auf ihrer Seite. Die Bewegung ist
die größte seit der Friedensbewegung in
den Achtzigerjahren. Anfangs haben Ver-
treter der Politik die jungen Leute nicht
ausreichend ernst genommen und dadurch
den Eindruck zugelassen, dass wir den
Klimaschutz selbst nicht ernst nehmen.
SPIEGEL: Verlieren wir in der Coronakrise
nicht gerade schon wieder das Klima aus
dem Blick?
Altmaier: Manchmal scheint es so. Doch
wir müssen jetzt die Chance nutzen, den
Transformationsprozess hin zu einer
klimaneutralen Gesellschaft bis spätestens
2050 unumkehrbar zu machen. Der
Klimawandel ist eine noch viel größere
Herausforderung als die Pandemie. Wir
brauchen deshalb eine Klimagarantie und
eine Wirtschaftsgarantie. Je mehr wir das
Erreichen der Klimaziele anpacken, desto
mehr müssen wir die Wirtschaft, vor allem
den Mittelstand, aber auch die anderen
Akteure bei der notwendigen Transforma-
tion unterstützen und ihnen Planungssi-
cherheit geben. Denn diese Aufgabe wird
auch die Wirtschaft umkrempeln und die
politische Landschaft auf Jahrzehnte ver-
ändern. Das haben viele hierzulande noch
gar nicht begriffen.
SPIEGEL: Fürchten Sie als Wirtschafts-
minister nicht, dass Sie viele Unternehmen
verlieren könnten?
Altmaier: Als Wirtschaftsminister arbeite
ich mit ganzer Kraft für eine starke und
zukunftsfähige Wirtschaft. Wir dürfen Kli-
maschutz und Wohlstand nicht gegen-
einander ausspielen. Milliarden Menschen
in anderen Ländern arbeiten hart, um
ihren Familien Wohlstand zu schaffen. Sie
werden unsere Klimapolitik nur dann
übernehmen, wenn Deutschland wirt-
schaftlich erfolgreich bleibt.
SPIEGEL: Wie wollen Sie diesen Spagat
schaffen?
Altmaier: Ich habe 20 konkrete Vorschlä-
ge vorgelegt. Wir dürfen bei unseren An-
strengungen nicht im Jahr 2030 halt-
machen, sondern müssen festlegen, in
welchen Schritten wir in jedem einzelnen
Lebensbereich Klimaneutralität bis 2050
oder sogar schon früher erreichen können.
SPIEGEL: Was ist daran neu?
Altmaier: Bislang haben wir uns für das
Jahr 2050 eine Reduzierung des Treib-
hausgasausstoßes um 80, vielleicht 95 Pro-
zent vorgenommen. Die EU hat in ihrem
Green Deal nun für diesen Zeitpunkt
100 Prozent vorgeschlagen. Das ist keine
quantitative Verschiebung, sondern eine
qualitative. Um das mal zu verdeutlichen:
Viel heiße Luft
Treibhausgasemissionen Deutschlands,
in Millionen Tonnen CO2-Äquivalente
942 942
907 894
900
800
Projektionen der
700 neu formulierten
Klimaziele für 2020
600
Quellen: Sachverständigenrat für Umweltfragen, UBA
2010 2013 2015 2017
Wir werden in weniger als 30 Jahren nicht
mehr mit Flugzeugen fliegen, die etwas
weniger Kerosin verbrauchen, sondern mit
solchen, die komplett auf fossilen Treib-
stoff verzichten.
SPIEGEL: Wie wollen Sie das erreichen?
Altmaier: Ich will einen historischen Kom-
promiss, eine Charta für die Rettung des
Klimas und den Erhalt unserer Wirtschafts-
kraft. Diese Übereinkunft soll von allen
Parteien der politischen Mitte im Bundes-
tag angenommen werden, also von CDU,
CSU, SPD, Grünen und FDP. Nur so ist
sichergestellt, dass die Strategie auch über
die Legislaturperioden und künftige Kri-
sen hinweg Bestand hat. Meine Hoffnung
ist, dass uns das noch vor der Bundestags-
wahl im kommenden Jahr gelingen wird.
SPIEGEL: Können Sie konkreter werden?
Altmaier: Ich möchte einen festen Pro-
zentsatz vom Bruttoinlandsprodukt ver-
abreden, den wir künftig jährlich für
Klimaschutz investieren, so wie wir das
beispielsweise auch bei den Verteidigungs-
oder Forschungsausgaben tun. Nur wenn
wir Klimaschutz als prioritäre Aufgabe be-
greifen, wird er gelingen.
SPIEGEL: Wie wollen Sie sicherstellen,
dass harte Einschnitte für den Klimaschutz
nicht noch einmal auf eine ferne Zukunft
verschoben werden?
Altmaier: Indem wir uns für jedes Jahr
ganz konkrete Einsparziele setzen. Nicht
nur bis 2030, so wie wir das im vergange-
nen Herbst in unserer Klimastrategie getan
haben, sondern für jedes einzelne Jahr,
bis wir die vollständige Klimaneutralität
erlangt haben. So bekommen wir einen
transparenten, unumkehrbaren Prozess,
der jederzeit überprüft werden kann.
SPIEGEL: Was passiert, wenn das Jahres-
ziel gerissen wird?
Altmaier: Für diesen Fall schlage ich vor,
dass wir zusätzlich Auktionen machen,
wie es das bei der Stilllegung von Stein-
kohlekraftwerken bereits gibt: Unterneh-
men und auch Privatleute können Gebote
abgeben über CO²-Einsparungen, die sie
kurzfristig realisieren – wer das günstigste
Angebot macht, bekommt den Zuschlag
und wird dafür bezahlt.
SPIEGEL: Gerade in Ihrer Partei gilt Kli-
maschutz als Synonym für Wohlstands-
verlust. Wie wollen Sie die Bedenken zer-
streuen?
Altmaier: Die Union weiß, dass Ökologie
805 und Ökonomie kein Gegensatz sind, son-
dern zusammengehören. Deshalb brau-
chen wir die zweite Garantie, mit der wir
uns verpflichten, unseren Wohlstand,
Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit
zu stärken. Jenen Unternehmen, die von
der Transformation besonders betroffen
sind, werden wir dabei helfen, sie zu be-
2019 wältigen. Nehmen Sie die Stahlindustrie,
mit der ich bereits ein Aktionsprogramm
vereinbart habe. In den Hochöfen können
wir Kokskohle ersetzen durch grünen Was-
serstoff, der aus erneuerbaren Energien
hergestellt worden ist. Damit der grüne
Stahl auf den Weltmärkten eine Chance
hat, beteiligt sich der Staat an den Investi-
tionskosten. Branchen wie die Zement-
oder Chemieindustrie, die in einer ähn-
lichen Situation stecken, schlage ich vor,
dass wir gemeinsam Transformationspläne
erstellen. Darin wird festgelegt, in welchen
Jahren welcher Fortschritt hin zur Klima-
neutralität erzielt werden soll und wie viel
das kostet.
SPIEGEL: Sollte dies nicht dem freien Spiel
der Marktkräfte überlassen werden?
Altmaier: Die konkreten Wege werden ja
gerade dem Spiel der Marktkräfte überlas-
sen. Mit dem EU-Emissionshandel und der
CO²-Bepreisung haben wir zwei hervor-
ragende marktwirtschaftliche Instrumente.
Aber die Ziele der CO²-Reduzierung müs-
sen fest sein, denn der Klimawandel wartet
nicht. Die Branchen sollen sich in einem
Dialog miteinander darüber verständigen,
welchen Weg sie gehen werden. Im Übri-
gen ist es ein Ausdruck von Marktwirt-
schaft, wenn wir jene mehr unterstützen,
29

die als Erste den Transformationsprozess
hin zur Klimaneutralität beschreiten.
SPIEGEL: Wie wollen Sie verhindern, dass
die Firmen ihr Stahlwerk in Deutschland
dichtmachen und in Asien aufbauen?
Altmaier: Bislang steht der Vorschlag der
EU im Raum, einen Grenzausgleichsme-
chanismus einzuführen. Er würde schmut-
zige Produkte aus dem Ausland teurer und
den grünen, aber teureren Stahl damit
wettbewerbsfähiger machen. Dieser Vor-
schlag birgt allerdings auch Probleme für
den Welthandel und könnte andere zu Pro-
tektionismus verleiten. Deshalb werden
wir in den nächsten zwölf Monaten eine
Lösung dieses Problems finden. Ich bin
mir sicher, dass die ökologischen Produkte
made in Germany international sehr be-
gehrt sein und andere Länder nachziehen
werden. So nähern sich die Produktions-
kosten immer weiter an, und Deutschland
bleibt technologisch an der Spitze.
SPIEGEL: Haben Sie nicht Sorge, dass Ihr
Klimapapier so zerrissen wird wie im ver-
gangenen Jahr Ihre Industriestrategie?
Altmaier: Immer mehr Wirtschaftslenker
haben verstanden, dass das Wichtigste die
Klarheit über den künftigen Weg ist. Sie
wollen nun Planungssicherheit und können
den Transformationsprozess nur bewälti-
gen, wenn genügend grüner Strom und
grüner Wasserstoff zur Verfügung stehen.
Gemeinsam können wir eine Innovations-
und Transformationsdynamik schaffen, die
Deutschland global noch stärker macht.
Wo immer es geht, werden wir marktwirt-
schaftliche Instrumente einsetzen.
SPIEGEL: Gibt es überhaupt die Technik,
um das Tempo des von Ihnen vorgeschla-
genen Wandels zu erreichen?
Altmaier: Ich setze auf die Genialität un-
serer Ingenieure. Und unserer Unterneh-
men. Als Kanzleramtschef traf ich 2014
den Tesla-Gründer Elon Musk. Er sagte
zu mir: »Wir werden nicht nur mit Strom
Auto fahren, wir werden sogar mit Strom
fliegen. Nur die Weltraumraketen werden
noch Kraftstoff brauchen.« Damals hielt
ich das für utopisch. Doch schauen Sie,
wie weit wir in sechs Jahren gekommen
sind! Es werden bereits erste Flugzeuge
konstruiert mit Brennstoffzelle und Elek-
troantrieb, und synthetischer, klimaneu-
traler Treibstoff für konventionelle Turbi-
nen wird jetzt schon eingesetzt.
SPIEGEL: Wenn Sie so groß denken, kann
man dann überhaupt noch über Kaufprä-
mien für Verbrennungsmotoren diskutie-
ren, die Sie befürworten?
Altmaier: Nicht der Verbrennungsmotor
an sich ist auf Dauer problematisch, son-
dern der fossile Treibstoff. Der hat auf
Dauer keine Zukunft, also Kohle, Öl und
langfristig auch Gas. Ob diese ersetzt wer-
den durch Strom über elektrische Antriebe
und Batterien, Wasserstoff oder synthe-
tische Kraftstoffe – das ist eine Frage, die
30
Deutschland
zeugungsarbeit leisten müssen. Ich bin
dennoch sicher, dass von einem Gesell-
schaftsvertrag für Klimaschutz und Wohl-
stand eine enorme, befreiende Wirkung
Hermann Bredehorst / DER SPIEGEL
ausgehen würde: Ein Konsens der Demo-
kraten wäre für viele Menschen die Bestä-
tigung dafür, dass die Maßnahmen notwen-
dig und machbar sind. So können wir Exis-
tenz- und Verlustängsten entgegentreten.
SPIEGEL: Befreiende Wirkung? Für die
Ordnungspolitiker in Ihren Reihen dürften
jährliche Klimaziele und Transformations-
Altmaier, SPIEGEL-Redakteure* pläne eher nach Planwirtschaft und Mehr-
»Es geht um unseren Planeten« kosten riechen, ausgerechnet jetzt in der
Corona-Rezession.
je nach Verwendung und Unternehmen Altmaier: Natürlich kosten solche Trans-
anders beantwortet werden kann. formationsprozesse Geld. Daher müssen
SPIEGEL: Ist der Kohleausstieg 2038 nicht wir die Wirtschaft an anderer Stelle entlas-
viel zu unambitioniert? ten und unterstützen, etwa durch ein Fit-
Altmaier: Wir haben gerade einen gesamt- nessprogramm mit Steuersenkung, mit Bü-
gesellschaftlichen Kompromiss zum Kohle- rokratieabbau und Flexibilisierung. Die ent-
ausstieg in Deutschland gefunden und um- scheidende Frage ist: Können wir beweisen,
gesetzt. Das ständig wieder infrage zu stel- dass eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik
len wäre falsch. Aber seit Monaten geht und eine erfolgreiche Klimapolitik kein Ge-
die Produktion von Kohlestrom aufgrund gensatz sind? Die gelebte Solidarität und
der höheren Emissionspreise und der nied- der große Zusammenhalt in der Corona-
rigen Gaspreise deutlich zurück. Also: krise machen mir da Hoffnung. Dass wir
Wenn es der Markt so regelt, dass Kohle- gemeinsam viel erreichen können, das halte
kraftwerke nicht mehr wirtschaftlich ich auch beim Klimaschutz für möglich.
arbeiten und deswegen früher vom Netz SPIEGEL: Die Zeit für diese Wende ist
gehen, dann werden wir uns sicher nicht ziemlich knapp. In einem Jahr ist Bundes-
dagegen wehren. tagswahl. Warum sollten Ihnen die Kon-
SPIEGEL: Wollen Sie kurz vor der Bundes- kurrenten, vor allem die Grünen, kurz vor
tagswahl den Grünen Wähler abjagen? der Wahl einen Durchbruch beim Klima-
schutz gönnen?
Altmaier: Wenn es ihnen um die Sache
geht, bin ich überzeugt, dass auch die Grü-
»Tesla-Gründer Elon nen und die FDP die Vorteile eines gemein-
Musk sagte mir: samen Vorgehens erkennen werden. Ich
werde eine Beratergruppe aus Unterneh-
›Wir werden sogar mit mern und Klimaschützern zusammenstel-
Strom fliegen.‹« len, um diesen historischen klimapoliti-
schen Transformationsprozess so zu ge-
stalten, dass er am Ende Gesellschaft und
Wirtschaft stärkt und dauerhaft zukunfts-
Altmaier: Mich hat es sehr gefreut, in Um- fest macht. Es ist wichtig, dass wir die Di-
fragen zu lesen, dass die Union mit 56 Pro- mension erkennen: Es geht um unseren
zent die Partei mit der größten Wirtschafts- Planeten, aber es geht auch um Fragen wie
kompetenz ist. Beim Thema Klimaschutz Partizipation und soziale Gerechtigkeit.
schneiden wir nur mit 14 Prozent ab. Wir SPIEGEL: Das ist nicht gerade der Marken-
können den Kampf gegen die Erderwär- kern der CDU. Aus welchem Motiv sollte
mung aber nur gewinnen, wenn es mehr ein konservativer Mensch die Umwelt
als eine Partei gibt, die sich das als Priorität schützen?
auf die Fahne schreibt. Altmaier: Auch Konservative wollen die
SPIEGEL: Die Menschen wählen aber lie- Schöpfung bewahren und die Lebens-
ber das Original. Und das ist in Sachen grundlagen künftiger Generationen erhal-
Klima nicht die Union. ten. Als Reichskanzler Otto von Bismarck
Altmaier: Das stimmt nicht. Wir haben in einmal die Vorstände der Eisenbahngesell-
den letzten 15 Jahren mehr für den Klima- schaften traf, um sich ihre Pläne für neue
schutz erreicht als zu Zeiten einer grünen Strecken durch Gebirge, Brücken und
Regierungsbeteiligung. Aber ich will keine Schluchten erklären zu lassen, da sagte er
gegenseitigen Schuldzuweisungen. Mir ist am Ende: »Ans Werk, meine Herren, aber
klar, dass der Prozess, den ich vorschlage, bitte konservativ.« Und meinte damit:
nicht einfach wird. Wir werden viel Über- ohne unnötige Eingriffe in die Natur.
SPIEGEL: Herr Altmaier, wir danken Ihnen
* Gerald Traufetter und Philipp Wittrock im Wirt- für das Gespräch.
schaftsministerium in Berlin.
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
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Die zweite Chance
Union Norbert Röttgen galt als aussichtsloser Bewerber für den CDU-Vorsitz. Aber plötzlich
dominiert sein Fachgebiet Außenpolitik, und er holt offenbar auf.
A
uf dem Besprechungstisch von
Norbert Röttgens Büro liegt ein
Buch. Recht mittig liegt es dort,
neben dem Feuilleton der »FAZ«
und einem iPad. Man kann es nicht über-
sehen.
Das Buch heißt »Die Gesellschaft der
Singularitäten«, geschrieben hat es An-
dreas Reckwitz, der so etwas wie der
Soziologe der Stunde ist, man kann daraus
einiges lernen über die komplizierte Ge-
genwart. Norbert Röttgen weiß nur nicht
genau, was. Er hat es noch nicht gelesen.
Vor drei Jahren ist das Buch erschienen.
Das bedeute aber nicht, sagt Röttgen,
dass es nur zur Dekoration da liege, zum
Angeben. Das Buch sei erst vor Kurzem
bei ihm eingetroffen, und gerade sei ein-
fach nicht die Zeit zum Bücherlesen, er
habe zu viel zu tun.
Zumindest das Letzte stimmt.
Es sind außenpolitisch be-
wegte Zeiten. In den USA wü-
tet Donald Trump dem Wahltag
entgegen, im Verhältnis zu
Russland steht nach dem Gift-
anschlag auf den Regimegegner
Alexej Nawalny womöglich
eine Zäsur an, in Moria ver-
brennt ein Flüchtlingslager und
damit die Illusion, es gäbe so
etwas wie eine europäische Mi-
grationspolitik. Röttgen ist Vor-
sitzender des Auswärtigen Aus-
schusses im Bundestag und
kann zu diesen Themen jeder-
zeit druckreife Sätze sagen.
Das ist, wenn man etwas wer-
den möchte, nicht die schlech-
teste Kombination in diesen
Tagen. Norbert Röttgen, 55,
möchte Vorsitzender der CDU
werden, er tritt gegen Friedrich
Merz und Armin Laschet an.
Röttgen ist gerade überall, so
wirkt es. Der »FAZ« gibt er ein
Interview, sitzt bei »Anne Will«,
zwischendurch im Bundestag,
hat Termine in der Partei. Es
Andreas Chudowski / DER SPIEGEL
gibt Abende, da tritt er sowohl
in den »Tagesthemen« als auch
im »heute journal« auf. Und
dann wieder bei RTL: »Guten
Morgen Deutschland«.
Bislang wurde Röttgen, wenn
es um den CDU-Vorsitz ging,
oft nicht einmal erwähnt. Er
32
Deutschland
galt als chancenlos, aber vielleicht könnte
ein versierter Außenpolitiker in diesen Zei-
ten doch eine Chance haben. In der ver-
gangenen Woche lag Röttgen im Deutsch-
landtrend der ARD vor dem nordrhein-
westfälischen Ministerpräsidenten Laschet,
als Unionsanhänger die Frage beantwor-
ten sollten, wer ein guter Kanzlerkandidat
wäre.
In Röttgens Büro im Bundestag fällt
nicht nur das ungelesene Buch von An-
dreas Reckwitz auf, es hängt dort an einer
Schranktür auch etwas, das vom Bespre-
chungstisch aus als Karnevalsorden zu er-
kennen ist.
Was das für ein Orden ist?
Ach, sagt Röttgen, den habe er irgend-
wo in St. Augustin bekommen, in seinem
Wahlkreis. So genau weiß er es offenbar
nicht mehr.
Politiker Röttgen: Die Freiheit des Oppositionellen
Das ist, einerseits, verständlich, man
muss als Abgeordneter im Rheinland sehr
viele Karnevalsvereine besuchen und be-
kommt viele Orden umgehängt. Anderer-
seits fällt schon auf, dass Röttgen mit mehr
Begeisterung über ein Buch redet, das er
noch gar nicht gelesen hat, als über einen
Karnevalsorden, der ihm verliehen wurde.
Es gibt im Rheinland viele Abgeordnete,
bei denen das umgekehrt wäre.
Norbert Röttgen hat mal einen Wahl-
kampf lang versucht, den Mann des Volkes
zu geben, 2012 war das, da war er noch
Bundesumweltminister und wollte Minis-
terpräsident von Nordrhein-Westfalen
werden. Er trat gegen Hannelore Kraft von
der SPD an. Deren außenpolitische Exper-
tise ging kaum über die schwierigen Be-
ziehungen zwischen Rheinländern und
Westfalen hinaus, aber dafür redete sie so,
wie die Leute in Bottrop oder
Herne eben reden. Es war so
schon schwer genug für Röttgen,
und dann klammerte er sich für
den Fall einer Niederlage auch
noch an ein Rückfahrticket
nach Berlin. Oppositionsführer
im Landtag, das wollte er nicht
sein.
Die Sache ging schief, die
CDU schnitt mit Röttgen so
schlecht ab wie noch nie in
NRW, die Kanzlerin schmiss ihn
aus ihrem Kabinett. Bis dahin
hatte Röttgen, Jurist, stellvertre-
tender CDU-Chef, mit 29 zum
ersten Mal im Bundestag, als
Angela Merkels möglicher
Nachfolger gegolten. Viele in
Berlin sahen das so, Röttgen
auch.
Er war dann aber weg aus der
ersten Reihe. Die Leute, denen
er sich überlegen gefühlt hatte,
zogen an ihm vorbei, der Aus-
schussvorsitz war das Maxi-
mum, das für ihn noch drin war.
Jetzt, gut acht Jahre nach dem
Rauswurf, bewirbt er sich um
Merkels Nachnachfolge an der
Parteispitze.
Am vergangenen Sonntag
war Röttgen zu Gast bei Anne
Will, es ging um Russland und
die Frage, wie der Westen mit
dem Anschlag auf Nawalny um-
gehen sollte. Wolfgang Ischin-
ger war auch da, der große alte Mann der
deutschen Sicherheitspolitik, aber hängen
Flexibel bleiben.
blieben vor allem Röttgens Botschaften:
Putin ist böse, wir sollten reagieren.
Lesen Sie den SPIEGEL,
»Wir müssen eine Sprache sprechen, die
Putin versteht«, forderte Röttgen. »Die
des Geldes, des Gases und der Macht.
solange Sie möchten.
Sonst nimmt er uns nicht ernst.« Was Rött- Frei Haus.
gen meinte: Nord Stream 2, die umstritte-
ne Gaspipeline, gehöre gestoppt.
Der SPIEGEL jede Woche direkt nach Hause
Es gibt Politiker, denen die eigene Intel- Rund 4% sparen.
ligenz im Weg steht, weil sie sich im Einer- Für nur € 5,30 pro Ausgabe statt € 5,50 im Einzelkauf
seits-Andererseits verzetteln, weil sie alle
Schattierungen eines Themas berücksich- Ohne Risiko.
tigen wollen und am Ende keine klare Bot- Jederzeit kündbar, Urlaubsservice möglich
schaft haben. Norbert Röttgen war noch
Vergünstigte Tickets.
nie so, schon als Umweltminister entschied
er sich für eine klare Linie, raus aus der Für ausgewählte SPIEGEL-Veranstaltungen
Atomkraft, und zwar vor dem Reaktor- auf www.spiegel-live.de
unglück von Fukushima, als seine Partei
noch an der Technologie festhalten wollte.
Röttgen ähnelt da dem SPD-Politiker Karl
Lauterbach. Der ist Professor, in seinen
Positionen aber häufig klarer als ein
Stammtischbruder.
Das ist der Vorteil an Röttgens Abstieg Einfach jetzt anfordern:
aus der ersten Reihe: Er kann sich solche
Positionen jetzt noch besser leisten, weil
er kein Amt hat wie Laschet, weil er nicht
abo.spiegel.de/flexibel
jeden seiner Sätze mit den Anforderungen oder telefonisch unter 040 3007-2700
der Realpolitik abgleichen muss. Im Wett-
(Bitte Aktionsnummer angeben: SP-FLEX)
streit um den CDU-Vorsitz nimmt er die
Rolle ein, die in der Bundespolitik derzeit
die Grünen haben: interessante Positionen, Keine
aber keine akute Gefahr, sie umsetzen zu Mindest-
müssen. Röttgen genießt die Freiheit des
Oppositionellen. laufzeit
Er hat sich einen gewissen Untergangs-
sound angewöhnt, der ganz gut in die Zeit
passt. Dieser Tage sieht er so ziemlich alles
gefährdet, was die westliche Welt aus-
macht, die Demokratie, den Anstand,
die Vernunft. Europa gerät im Spiel der
Supermächte unter die Räder, die Umwelt
geht vor die Hunde, und die CDU sieht er
sowieso auf dem absteigenden Ast.
Sie sei, behauptet er, kurz davor, den
Status als Volkspartei zu verlieren, man
dürfe sich von den Umfragewerten nicht
täuschen lassen. »Die SPD ist hier im
negativen Sinn schon viel weiter, als wir
es sind. Aber wir müssen aufpassen.«
Armin Laschets Programm lautet in
Kurzform, dass es ungefähr so weiterge-
hen könne wie bisher. Friedrich Merz fin-
det, dass es der Wirtschaft gut gehen muss,
aber klar, schon irgendwie umweltfreund-
licher. Norbert Röttgen will den Klimawan-
del zum Thema Nummer eins erklären
und die konservative, ländlich geprägte
CDU digitalaffiner und urbaner machen.
Es ist, mal wieder, ziemlich ambitioniert.
Mittwochmittag, ein Café in Berlin.
Wolfgang Bosbach, 68, sitzt schon im Gar-
ten, er ist überpünktlich. Eigentlich könnte
er es langsam angehen lassen, seit 2017 ist
er raus aus dem Bundestag, aber den lang-

DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020 33


jährigen Innenpolitiker zieht es noch im-
mer nach Berlin.
Bosbach kennt alle drei Kandidaten gut,
er hält Röttgen für einen der intelligentes-
ten Köpfe in der Union. Dass manche mit
ihm nicht so viel anfangen können, liege
womöglich an seiner Art. »Ich denke im-
mer: Mensch, Norbert! Mach dich doch
mal locker, mit einer Prise Humor und
Selbstironie!« Macht der Norbert aber
nicht. Oder jedenfalls nicht so gern.
Bosbach war einer der wenigen, die
Röttgen nach dessen Absturz 2012 öffent-
lich in Schutz nahmen. Ihm missfiel, wie
der Umweltminister fallen gelassen wurde,
er gab Interviews, in denen er sich eine
»zweite Chance« für Röttgen wünschte.
Der Vorsitz könnte sie sein, diese zweite
Chance. Doch als Parteichef wünscht Bos-
bach sich Friedrich Merz.
Wer wünscht sich eigentlich Röttgen?
Die Außen- und Sicherheitspolitiker in
der Union schätzen ihn, vermeiden es aber,
sich für ihn auszusprechen. Ein paar Weg-
gefährten aus der Landes-CDU halten ihm
die Treue, aber die meisten von ihnen
haben nicht mehr sehr viel zu sagen.
Röttgen hofft am ehesten auf eine
schweigende Mehrheit, auf all jene, denen
Merz zu gestrig und Laschet zu schwach
ist. Die sich fragen, wer eigentlich an der
Parteispitze stehen müsste, damit sie
nachts ruhig schlafen können: Merz, der
rhetorisch gern mal wie eine Mörsergra-
nate agiert, also mit hoher Durchschlags-
kraft, aber nicht immer 100 Prozent
zielgenau? Laschet, der schon mit dem
Corona-Ausbruch beim Fleischfabrikan-
ten Tönnies überfordert wirkte?
Röttgen hat nichts zu verlieren, er sieht
die Schwächen der anderen. Und er sucht
die große Bühne, die direkte Konfronta-
tion, schon vor dem Parteitag.
»Es wäre im Interesse der CDU, wenn
es zu einer TV-Diskussion der Kandidaten
käme«, sagt er. »Es wäre die Gelegenheit,
für uns als Partei vor breitem Publikum
unsere Ideen für die Zukunft zu präsentie-
ren.« Er sei ganz sicher, fügt Röttgen hinzu,
»dass alle drei Kandidaten respektvoll mit-
einander umgehen« würden.
Röttgen hofft außerdem auf die Frauen,
als erster Bewerber hat er sich zur Frauen-
quote bekannt. Merz lehnt die eher ab,
Laschet hat lange nichts dazu gesagt, nun
zeigt er sich offen dafür. Er schwenkt vor-
sichtig auf Röttgens Kurs ein. Offenbar
nimmt er ihn ernst.
Röttgen hofft auch noch auf jene Mit-
glieder, die sich Laschet oder Merz zwar
als Parteichef vorstellen können, aber Mar-
kus Söder als Kanzlerkandidaten wollen,
den CSU-Vorsitzenden. Für sie könnte
Röttgen ein eleganter Ausweg sein.
Er hat zwar jüngst im »Handelsblatt«
verkündet, Kanzler werden zu wollen und
das auch zu können – aber das dürfte vor
34
Deutschland
allem damit zu tun haben, dass ein
potenzieller CDU-Vorsitzender nicht von
vornherein erklären kann, Kanzlerkandi-
dat werde ohnehin der CSU-Chef. Eine
solche Selbstverzwergung der eigenen Par-
tei wollen nicht einmal jene CDU-Leute
erleben, die Söder favorisieren.
Röttgen hat im selben Interview aber
auch gesagt, der nächste CDU-Vorsitzende
müsse »demütig genug sein zu tun, was
für die Partei am besten ist«. Was nach ak-
tueller Umfragelage nur bedeuten könnte,
Söder die Kandidatur zu überlassen. So
weit ist Armin Laschet noch lange nicht.
Laschet und Röttgen haben eine ganz
eigene Geschichte. Sie galten mal als
Freunde, zumindest politisch, Mitte der
Neunzigerjahre saßen sie zusammen im
Bundestag und knüpften erste Bande zu
den Grünen. Später trat Röttgen gegen
Laschet an, als es um den CDU-Landes-
vorsitz in NRW ging. Röttgen gewann.
Die Naturgesetze in einer
Parteitagshalle haben
mit der Logik draußen
nur bedingt zu tun.
Es gibt viele solcher Geschichten aus
seiner Karriere, über Freundschaften, die
in dem Moment vorbei waren, in dem
Röttgen die Chance zum Weiterkommen
sah.
Mit Merkel war er zwar nie befreundet,
aber er gehörte zum Kreis ihrer Verbün-
deten, bis der Kanzlerin klar wurde, dass
Röttgens Ehrgeiz über das Amt eines Bun-
desministers hinausging. Diesmal lief es
anders herum. Bevor er Merkel erledigen
konnte, erledigte sie ihn. Röttgen kann eis-
kalt sein, Merkel kann noch ein paar Grad
kälter.
Kürzlich hat er sie in seinen Wahlkreis
eingeladen, schließlich sei sie bei Laschet
auch schon zu Besuch gewesen, außerdem
bei Markus Söder. Es war angesichts ihrer
gemeinsamen Geschichte eine nette kleine
Pointe. Gemeinheiten gegen sie setzt er
auf der Sachebene.
Kandidatenrennen
»Wäre … ein guter Kanzlerkandidat für die
CDU/CSU?«, Zustimmung von Unionsanhängern
in Prozent
Markus
Söder
Friedrich
43
Merz
Norbert
Röttgen 27
Armin
Laschet 25
Quelle: Infratest dimap für ARD-Deutschlandtrend
vom 31. August bis 2. September
Röttgen findet, dass Merkel mit autori-
tären Regimen zu nachlässig ist, vor allem
mit China, etwa in der Frage, ob man dem
Huawei-Konzern in Deutschland den Auf-
bau von 5G-Netzen überlassen darf. Mer-
kel meint: Ja. Röttgen führt in der Union
den Flügel der Gegner an, in der Bundes-
tagsfraktion sehen es viele so wie er.
Ähnlich läuft es gerade beim Thema
Nord Stream 2. Röttgen fordert schon län-
ger das Aus, in dieser Woche ließ Merkel
erstmals erkennen, dass auch sie nicht
bereit ist, um jeden Preis an dem Projekt
festzuhalten. Es dreht sich etwas.
Röttgen hat sich in der Partei wieder so
etwas wie Respekt erarbeitet. Er hat einen
Umgang mit seinem Absturz gefunden,
der selbst Gegnern imponiert. Er spricht
von einem »Fehler«, den er damals ge-
macht habe, er hat eingesehen, dass er sich
mit seiner Eitelkeit im Weg stand. Vor al-
lem aber hätte er mit der Politik aufhören
und viel Geld verdienen können. Hat er
nicht gemacht, anders als andere vor ihm.
Aber was heißt das nun für die Wahl
des Vorsitzenden, die nach jetzigem Stand
für Dezember geplant ist? Am Ende stim-
men dort 1001 Delegierte ab, von denen
sich die meisten nicht an der Frage orien-
tieren werden, ob Norbert Röttgen mehr
von Außenpolitik versteht als Friedrich
Merz oder Armin Laschet. Stattdessen
wird Parteitagslogik dominieren.
Laschet und sein Vizekandidat, Gesund-
heitsminister Jens Spahn, dürften eine sat-
te Mehrheit unter den nordrhein-westfä-
lischen Delegierten hinter sich haben und
damit schon mal eine Menge Stimmen.
Merz kann auf Baden-Württemberg und
die östlichen Landesverbände setzen.
Geht man streng nach dieser Logik vor,
bleibt am Ende nicht mehr allzu viel für
Röttgen übrig. Die Naturgesetze in einer
Parteitagshalle haben mit der Logik außer-
halb der Halle nur bedingt zu tun.
Röttgen ist das bewusst, er macht trotz-
dem weiter. Fragt man ihn, ob er am Ende
doch offen für eine Einigung wäre und sich
in einem Team unterordnen würde, weicht
er aus. Ein klares Nein kommt da nicht.
»Das liegt daran, dass ich grundsätzlich
immer gesprächsbereit bin«, sagt Röttgen.
»Ich halte es weiterhin für notwendig, für
meine Vorstellungen einzutreten, und da-
rum werde ich auf dem Parteitag kandi-
dieren.«
Eigentlich hat er schon jetzt das Maxi-
mum erreicht: Man spricht über ihn, und
zwar nicht mehr nur, wenn es um Außen-
75 politik geht. Könnten es sich Laschet,
Merz oder Söder leisten, so jemanden zu
übergehen, wenn es nach der Bundestags-
wahl etwas zu verteilen geben sollte?
Röttgen jedenfalls wirkt gerade ziemlich
zufrieden mit sich.
Christoph Hickmann, Veit Medick
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
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In Handfesseln aufs Revier
Kommunen Manche Bürger brechen die Corona-Regeln
absichtlich, die Behörden reagieren mit Bußgeldern bis zu 25 000 Euro.
Sicherheitspersonal in Regionalbahn im Dortmunder Hauptbahnhof: »Die Disziplin hat nachgelassen«
B ei seinen Einsätzen muss Heiko Rühs
oft erst erklären, dass er wirklich im
Dienst der Gesundheitsbehörde un-
terwegs ist. Er trägt keinen weißen Kittel,
sondern orangefarbene Bauhofmontur
und fährt im Pritschenwagen der örtlichen
Straßenverwaltung vor. »Das irritiert na-
türlich viele Leute, wenn ich bei ihnen vor
der Tür stehe«, sagt Rühs.
Bisher habe er stets erfolgreich darlegen
können, dass er nicht gekommen sei, um
Mülltonnen zu leeren. Sein Job ist es, die Ein-
haltung von Corona-Regeln zu überwachen.
Eigentlich ist Rühs Kolonnenführer im
Bauhof des Landkreises Herzogtum Lau-
enburg. Seit Ende August kommt er kaum
noch dazu, Fahrbahnen auszubessern und
Grünstreifen zu pflegen. Stattdessen tourt
er mit einem Kollegen im signalfarbenen
Dienstlaster durch die norddeutsche Land-
schaft und klappert täglich zwischen 12 und
15 Adressen ab, die ihm das Kreisgesund-
heitsamt nennt.
Auslöser war ein Hilferuf des Landrats.
»Leider zeigt sich, dass sich die wenigsten
36
Deutschland
Reiserückkehrer aus Risikogebieten tatsäch-
lich bei uns melden«, klagte Christoph Ma-
ger. Mehr als 200 Fälle seien bis Mitte Au-
gust gezählt worden, und es sei zu befürch-
ten, dass manche der säumigen Rückkehrer
auch die Quarantäne nicht einhielten.
Das kann in Schleswig-Holstein mit bis
zu 10 000 Euro Bußgeld geahndet werden.
Aber wer überprüft, ob Quarantänepflich-
tige wirklich 14 Tage lang zu Hause blei-
ben – und nicht herumspazieren und mög-
licherweise andere Menschen anstecken?
Das Gesundheitsamt sei in den vergange-
nen Wochen damit ausgelastet gewesen,
mehrere Corona-Ausbrüche in Schulen
und Kitas in den Griff zu bekommen, sagt
Kreissprecher Tobias Frohnert. So kamen
die Mitarbeiter des Bauhofs zu ihrer neu-
en Aufgabe.
Im nördlichsten Bundesland müssen
sich Rückkehrer aus Risikogebieten wie
dem Kosovo oder der spanischen Insel
Teneriffa beim Gesundheitsamt melden.
Das täten aber viele nicht, weil sie von der
Pflicht nichts wüssten, sagt Rühs. Die
Ina Fassbender / AFP
Rückkehrer hätten im Zug nach Hause
oder im Flugzeug eine »Aussteigekarte«
mit Namen und Adresse ausgefüllt und
dächten, damit habe sich die Sache er-
ledigt. Doch sie liegen falsch.
Bahnunternehmen und Fluggesellschaf-
ten sammeln diese Karten ein. Dann müs-
sen sie nach Adressen geordnet und an die
zuständigen Gesundheitsämter geschickt
werden. Dort prüfen Mitarbeiter, ob sich
Reiserückkehrer aus Risikogebieten wie
vorgeschrieben gemeldet haben.
In manchen Fällen treffen Rühs und sein
Kollege trotz Quarantänepflicht nieman-
den an. Oder die Angaben auf den Aus-
steigekarten stimmen nicht. »Kürzlich soll-
ten wir zu einer Straße fahren, die es im
Landkreis gar nicht gibt«, sagt Rühs. Ein
anderes Mal sei die Adresse eines Kran-
kenhauses mit angeschlossenem Pflege-
heim angegeben worden, doch den Namen
auf der Karte habe dort niemand gekannt.
Die Bauhofleute schreiben in solchen Fäl-
len einen Bericht und geben ihn an die
Bußgeldstelle des Landkreises.
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
 Wer gegen Corona-Regeln verstößt,
dem drohen Strafen, zumindest auf dem
Papier: Bis zu 500 Euro kann es in Berlin
kosten, ohne Mund-Nasen-Maske in einer
Bahn erwischt zu werden. Wer sich nicht
an die Quarantänepflicht hält, muss in
manchen Bundesländern mit bis zu 25 000
Euro Strafe rechnen.
Die Bußgeldstelle des Kreisverwal-
tungsreferats München hat schon mehr
als eine Million Euro an Corona-Bußgel-
dern verhängt. Im Einzelfall liegen die
Strafen laut Behörde »zumeist im unteren
dreistelligen Bereich«. Zahlen mussten bis-
her vor allem diejenigen, die gegen die an-
fangs strengen Ausgangsbeschränkungen
verstoßen hatten. Dieser Tatbestand exis-
tiert so nicht mehr. Inzwischen würden
zunehmend Verstöße gegen die Masken-
pflicht geahndet.
Ende August verständigten sich die Re-
gierungschefs der Länder – mit Ausnahme
Sachsen-Anhalts – darauf, ein Bußgeld
von mindestens 50 Euro bei fehlendem
oder falsch getragenem Mund-Nasen-
Schutz zu erheben. Die Behörden hatten
beobachtet, dass viele Bürger die Corona-
Regeln ignorierten. »Die Disziplin hat im
Vergleich zur Anfangszeit nachgelassen«,
sagt Britta Walthelm, Gesundheitsreferen-
tin der Stadt Nürnberg. Wer Infizierte
nachverfolge, stelle fest, »dass die Men-
schen wieder mehr Kontakte haben«.
In Nürnberg wurde das Gesundheitsamt
wie in vielen Städten seit Beginn der Co-
ronakrise personell und technisch aufge-
rüstet. Eine lückenlose Kontrolle, ob Re-
geln und Anordnungen eingehalten wer-
den, sei trotzdem nicht zu leisten. »Wir ru-
fen jeden Tag alle aktuell Infizierten an«,
berichtet Walthelm. »Jedoch haben wir
nicht die Kapazitäten, jemanden aufzusu-
chen, wenn er einmal nicht erreichbar ist.«
Was die Menschen in ihrer Wohnung
machten, ob sie andere zu sich einlüden,
sei nicht zu überprüfen. In einzelnen Fäl-
len habe das Gesundheitsamt Nürnberg
aber bereits die Polizei geschickt.
Die Kommunen haben mit Corona-
Kontrollen gut zu tun. Stadtpolizisten in
Frankfurt am Main haben bis Ende Au-
gust mehr als 51 000-mal Bürger kontrol-
liert und fast 2600 Bußgeldverfahren ein-
geleitet, so ein Sprecher des Ordnungs-
amts: »Wir machen quasi nichts anderes.«
Nach Angaben des Frankfurter Ordnungs-
dezernenten haben die Corona-Kontrol-
leure schon rund 3500 Überstunden an-
gehäuft.
Im benachbarten Wiesbaden zählte die
Verwaltung bisher annähernd 10 000 Co-
rona-Kontrollen und stellte dabei knapp
1400 Verstöße fest. Die Ordnungskräfte
seien »bis zum Anschlag der Leistungsfä-
higkeit« gefordert, stöhnt Oberbürgermeis-
ter Gert-Uwe Mende (SPD). Er hat in der
vergangenen Woche die Bahnunterneh-
men um Hilfe gebeten. Denn seinen Stadt-
polizisten wäre schon geholfen, wenn sie
nicht mehr in Bussen und Bahnen nach
Maskensündern fahnden müssten, sagte
Mende. Das könnten doch die Fahrkarten-
kontrolleure mit erledigen.
Der Vorstoß lief ins Leere. Für die kon-
fliktträchtige Arbeit seien Zugbegleiter
nicht ausgebildet, hörte Mende von Ver-
tretern der Bahn und des örtlichen Ver-
kehrsverbunds. Die Verkehrsminister der
Länder winken ebenfalls mehrheitlich ab:
»Schaffner sind keine Hilfspolizisten«, sagt
die Saarländerin Anke Rehlinger (SPD),
derzeit Vorsitzende der Verkehrsminister-
konferenz. Und die Bundespolizei, die an
Bahnhöfen und in Zügen für Ordnung sor-
gen soll, sieht keine »grundsätzliche Zu-
ständigkeit«. Die Durchsetzung der Coro-
na-Verordnungen sei Sache der kommuna-
len Ämter sowie der Polizeibehörden der
Länder, schreibt die Behörde.
Besonders schwierig für die Kommunen
ist die Kontrolle von Rückkehrern aus Ri-
sikogebieten. Reisende, die mit dem Auto
unterwegs sind, würden nirgendwo erfasst,
Aussteigekarten träfen oft erst drei bis fünf
Tage nach der Landung im Gesundheits-
amt ein, sagt Kaschlin Butt, die Leiterin
der Wiesbadener Behörde. Ihr Amt soll
Quarantänepflichtige, die sich nicht gemel-
det haben, anrufen. »Das schaffen wir im
Moment nur bei einer kleinen Stichprobe
im einstelligen Prozentbereich«, sagt Butt.
Das Amt hat eine eigene Bußgeldstelle
eingerichtet, mehrere Mitarbeiter küm-
mern sich um bislang 1100 Verstöße. Das
sei langwierig und arbeitsaufwendig, sagt
Butt. Werde schließlich ein Bußgeld ver-
hängt, zahlten viele nicht. Die Behörde
habe solche Fälle an die Staatsanwaltschaft
Johannes Arlt / DER SPIEGEL
Kolonnenführer Rühs
»Das irritiert natürlich viele Leute«
abgegeben, viermal habe das Wiesbadener
Gesundheitsamt harte Quarantäneverwei-
gerer mithilfe eines richterlichen Beschlus-
ses einsperren müssen. »Wer sich nicht an
die Quarantänebestimmung hält, gefähr-
det damit direkt und massiv andere Men-
schen«, sagt Butt. »Das ist eine Straftat.«
Es gebe allerdings kaum geeignete Ein-
richtungen, in denen diese Menschen si-
cher untergebracht und isoliert werden
könnten. Wiesbaden behalf sich mit einer
ehemaligen Flüchtlingsunterkunft, zu-
nächst bewacht von der Stadtpolizei. Das
Gesundheitsamt engagierte dann zwei Si-
cherheitsdienste, die zehn Tage lang rund
um die Uhr aufpassten. Das habe die Stadt
eine fünfstellige Summe gekostet, sagt
Butt. In München werden hartnäckige Ver-
weigerer in einem angemieteten ehemali-
gen Apartmenthotel untergebracht und
von der Polizei überwacht.
Ohne die Hilfe von Landespolizisten
wäre die Lage in Frankfurt am Main und
in anderen Städten kaum noch beherrsch-
bar. Vor allem an Wochenenden streifen
sie über Plätze und durch Parks, wo Ab-
standsregeln und Maskenpflicht gern mal
von Partygängern ignoriert werden.
»In Teilen der Gesellschaft nimmt die
Bereitschaft ab, sich selbst und andere zu
schützen«, sagt der Frankfurter Polizei-
präsident Gerhard Bereswill, vor allem bei
Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Auf manchen Partys kann die Stimmung
schnell kippen. Mehrmals wurden Polizis-
ten angegriffen, bespuckt und mit Flaschen
beworfen wie im Juli auf dem Frankfurter
Opernplatz. In München feierten am ver-
gangenen Wochenende junge Leute trotz
Verbots auf dem Gärtnerplatz, bis Polizis-
ten sie auseinandertrieben. Ein Beamter
setzte dabei seinen Schlagstock ein.
Offiziell sprechen Polizeibehörden von
einer Ermessensentscheidung, wann sie
eingreifen. Ein hessischer Beamter sagt, es
sei in der Regel besser, so lange wie mög-
lich deeskalierend zu wirken. »Solche Ein-
sätze verlangen Fingerspitzengefühl.«
Im niedersächsischen Wildeshausen war
damit allerdings nichts zu erreichen, als
im August ein Pärchen ohne Masken einen
Wochenmarkt besuchte. Trotz Ermahnun-
gen von Verkäufern und der Marktmeis-
terin weigerten sich die beiden, eine Mas-
ke zu tragen oder das Gelände zu verlas-
sen. Schließlich kam eine herbeigerufene
Polizeistreife – und brauchte noch weitere
Verstärkung.
Am Ende, so heißt es im Polizeibericht,
wurde das Paar »zu Boden gebracht« und
in Handfesseln ins Revier abgeführt. Dort
verkündeten die beiden, ein Coronavirus
gebe es nicht, deshalb würden sie auch
künftig gegen die Vorschriften verstoßen.
Matthias Bartsch, Jan Friedmann,
Hubert Gude
37
 Deutschland
»Explosive Mischung«
Verschwörungstheorien Die Mächtigen trinken Kinderblut, die
Mondlandung war ein Fake, Corona ist eine Erfindung. Wer so etwas glaubt,
sei unerreichbar für Argumente, sagt der Forscher Michael Butter.
Butter, 43, ist Professor für amerikanische
Literatur und Kulturgeschichte an der
Universität Tübingen und Experte für Ver-
schwörungstheorien.
SPIEGEL: Herr Butter, Sie halten einen
Großteil der Menschen, die gegen die Coro-
na-Maßnahmen der Regierung demons-
trieren, für Anhänger von Verschwörungs-
theorien. Warum?
Butter: Sie sind mit rationalen Argumen-
ten nicht zu erreichen und zeigen offensiv,
dass sie das Virus entweder für eine Erfin-
dung oder eine maßlos überzeichnete Ge-
fahr halten. Sie tragen keine Masken, igno-
rieren Abstandsregeln und glauben an eine
typische Erzählung.
SPIEGEL: Welche denn?
Butter: Dass die Eliten, also Politiker, Wis-
senschaftler und traditionelle Medien, ein
Bedrohungsszenario künstlich hochhalten,
um eigene Privilegien abzusichern und
den normalen Menschen ihre Rechte zu
nehmen. In Ländern, die in der Pandemie
mehr Tote beklagen müssen, herrschen an-
dere Narrative vor, dort spielen Biowaffen,
die das Virus freigesetzt haben sollen, eine
Hauptrolle. Als man anfangs bei uns mit
einer ähnlichen Zahl von Kranken wie in
Italien oder Frankreich rechnete, war diese
Variante auch hier stärker verbreitet.
SPIEGEL: Jede Verschwörungstheorie ist
also abhängig von den Umständen?
Butter: Es geht darum, ein Gefühl von
Stimmigkeit für das eigene Leben herzu-
stellen. Das ist, wenn auch meist unbe-
wusst, ein elementares menschliches Be-
dürfnis. Im Zeitalter des Internets lässt es
sich mithilfe der sogenannten alternativen
Medien besonders gut bedienen. So ent-
stehen Gegenöffentlichkeiten, in denen
Leute, deren Ansichten in der traditionel-
len Öffentlichkeit als Irrweg gelten, zu ge-
feierten Referenzen werden. Im Zusam-
menhang mit der Einstellung gegenüber
Flüchtlingen war viel von der meinungs-
bildenden Macht dieser Resonanzräume
die Rede. Nun zeigt sie sich erneut.
SPIEGEL: Allerdings protestierten bei den
Demonstrationen der vergangenen Tage
und Wochen nicht nur Corona-Leugner,
sondern auch Menschen, die immer schon
gegen das Impfen waren oder Strahlen von
Funkmasten für schädlich halten.
Butter: Auch sie sehen sich als Opfer eines
Komplotts und haben eines gemeinsam:
Sie haben dieselben Schuldigen ausge-
38
macht. Sie skandieren »Weg mit Merkel!«
und würden am liebsten die reprä-
sentative Demokratie abschaffen, in der
das Volk nicht auf direktem Weg mitent-
scheidet.
SPIEGEL: Bei der Demonstration in Ber-
lin vor zwei Wochen rief eine Heilprak-
tikerin dazu auf, die Treppen des Reichs-
tags zu erklimmen. Neben rechtsradikalen
Reichsbürgern standen Mütter mit Sym-
bolen der Friedensbewegung, es gab eine
Ansprache auf Hebräisch und eine Grup-
penmeditation. Wie passt das zusammen?
Butter: Da passt nichts zusammen. Diese
Menschen eint allein die Praxis des Pro-
tests und die Überzeugung, dass die eige-
ne Wahrheit die richtige ist. Sie verstehen
sich als Gegenöffentlichkeit. Verglichen
mit den Hygienedemos im Mai ist das eine
neue Qualität. Damals demonstrierten
auch viele aufgeklärte Bürger, die vor
einem sorglosen Umgang mit Freiheits-
rechten warnten, ohne dabei gleich an eine
Verschwörung zu glauben.
SPIEGEL: Aber wer eine Fahne der Frie-
densbewegung schwenkt, müsste doch wis-
sen, dass Rechtsradikale keine geeigneten
Protestpartner sind, selbst wenn er wie sie
an ein Komplott der Eliten glaubt.
Butter: Das Wissen über die ursprüngliche
Bedeutung solcher Symbole ist selten aus-
geprägt. Jene mit rechtem Gedankengut
nehme ich aus, sie inszenieren ihre Fahnen
bewusst so, dass sie wie selbstverständlich
zwischen Regenbogenflaggen und Frie-
denssymbolen flattern. Aber viele Teil-
nehmer haben ein allenfalls vages Gefühl
von Geschichte: ein geschichtsvergessenes
Geschichtsbewusstsein.
Martin Storz / GRAFFITI
Amerikanist Butter
»Da passt nichts zusammen«
SPIEGEL: Das müssen Sie erläutern.
Butter: Da erklärt einer, die Flagge des
Deutschen Kaiserreichs sei in Ordnung,
weil der Krieg erst mit den Nazis gekom-
men sei. Andere halten die Corona-Maß-
nahmen der Regierung für eine Macht-
ergreifung wie 1933 und fordern, das Ka-
binett abzusetzen, damit die Deutschen
nicht wie unter Hitler ihrer Freiheit be-
raubt würden.
SPIEGEL: Ein Viertel bis ein Drittel der
Deutschen ist Ihrer Meinung nach emp-
fänglich für Verschwörungstheorien. Wie
gefährlich ist diese Minderheit für die
Demokratie?
Butter: Das ist schwer einzuschätzen, denn
es zählen auch jene 17 Prozent der Deut-
schen dazu, die laut einer Umfrage meinen,
die Amerikaner seien nie auf dem Mond
gelandet. Allerdings muss man davon aus-
gehen, dass Menschen, die zu Verschwö-
rungstheorien neigen, auch für Irrationa-
litäten beim Thema Corona empfänglich
sind. Die aktuellen Demonstrationen ber-
gen daher ein enormes Aktivierungspoten-
zial. So gesehen ist es beruhigend, wenn
es wie vor zwei Wochen in Berlin nicht
mehr als 38 000 Teilnehmer waren. Und
ich denke auch eher nicht, dass rechte
Gruppierungen wie die Reichsbürger diese
Szene kapern werden.
SPIEGEL: Warum nicht?
Butter: Vor allem wegen der Geschichte
der sogenannten Montagsmahnwachen. Sie
begannen 2014, als Menschen unterschied-
licher politischer Lager vor einer Eskalation
des Ukrainekonflikts warnten. Reichsbür-
ger, Esoteriker und Verschwörungstheore-
tiker schlossen sich den Demonstranten an,
ein kleiner Teil radikalisierte sich, aber viele
fühlten sich von den Rechten verraten. Sol-
che Sollbruchstellen sehe ich nun auch.
Dass auf Plattformen der Corona-Skeptiker
kontrovers über den sogenannten Sturm
auf den Reichstag diskutiert wird, kann
man als eine erste Spaltung begreifen.
SPIEGEL: In einer TV-Dokumentation kam
kürzlich ein Mann zu Wort, der ernsthaft
meinte, die Elite trinke das Blut kleiner
Kinder. Was treibt Menschen im 21. Jahr-
hundert zu derartigen Fantasien?
Butter: Sie sind weniger verwunderlich,
als es auf den ersten Blick scheint. In einer
aufgeklärten Gesellschaft muss man Ambi-
valenzen aushalten und die Einsicht ertra-
gen, dass es für viele Fragen und Probleme
vielleicht nie eine Lösung geben wird.
Solche Unsicherheiten liegen nicht jedem.
Corona liefert sie im Übermaß: Die Er-
kenntnisse der Wissenschaftler ändern sich
ständig, und der Föderalismus mit seinen
uneinheitlichen Entscheidungen verstärkt
das Gefühl noch. Manche empfinden es
als Entlastung, die vermeintlich Verant-
wortlichen zu dämonisieren.
SPIEGEL: Verschwörungstheoretiker füh-
len sich besser?

World Trade Center am 11. September 2001*, Corona-Skeptiker bei Demonstration in Berlin: »Die Schuldigen ausgemacht«
Butter: Die Theorien bestätigen die eigene
Weltdeutung – und entlassen einen aus
der Verantwortung. Wer die Gefahr, die
von Corona ausgeht, für überzeichnet hält,
muss sich weder an die neuen Regeln hal-
ten noch um seine Gesundheit oder seine
Angehörigen fürchten. Und da er alle, die
sich sorgen, als Fußtruppen eines feind-
lichen Komplotts ansehen kann, muss er
sich nicht einmal grämen, wenn er ihr
Recht auf Unversehrtheit missachtet.
SPIEGEL: Verschwörungstheorien gehören
seit der Antike zum politischen Geschäft.
Welche Lehren lassen sich daraus ziehen?
Butter: Keine, die sich verallgemeinern lie-
ßen, dazu sind die jeweiligen Umstände zu
speziell. In der Weimarer Republik gehör-
ten sie zum allgemein akzeptierten Stan-
dardwissen. Da gab es die Nationalisten
mit der Dolchstoßlegende, die Kommunis-
ten mit der Idee vom Komplott des Kapi-
tals gegen die Arbeiterklasse sowie die Pro-
paganda von der jüdischen Weltverschwö-
rung. Erst in den Sechzigerjahren rückten
Verschwörungstheorien in Deutschland
eher an die Ränder der Gesellschaft und
änderten grundsätzlich ihre Stoßrichtung.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Butter: Bis zu dem Zeitpunkt waren sie
vor allem von Mächtigen gesponnen wor-
den, um vermeintliche Umstürzler – Juden,
Freimaurer, Sozialisten oder Katholiken –
zu stigmatisieren. Dann aber entwickelten
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
sie sich zum populistischen Instrument je-
ner, die sich eher als kleine Leute sehen,
ähnlich wie wir es aktuell beobachten. In
den Siebziger- und Achtzigerjahren musste
man als Anhänger einer Verschwörungs-
theorie allerdings weitaus mehr Zeit inves-
tieren. Man kopierte Bücher, man verteilte
Flugblätter. Heute gilt: googeln und posten.
Und je detailreicher die Information, desto
besser. Sosehr Verschwörungstheoretiker
die Prinzipien der Aufklärung missachten,
so sehr achten sie deren Duktus.
SPIEGEL: Sie sprechen von Zahlenkolon-
nen, Schaubildern und Tabellen?
Butter: Vertreter irrationaler Thesen war-
ten mit einer Fülle von Daten auf, um zu
zeigen, dass sie im Besitz der Wahrheit sind.
Wer mit Leuten diskutiert, die glauben,
dass die amerikanische Regierung die Zer-
störung der Twin Towers inszeniert hätte,
bekommt sofort zu hören, dass der in den
Türmen verbaute Stahl erst bei Tempera-
turen schmilzt, die niemals durch eine Ex-
plosion von Flugzeugkerosin erzielt werden
können. Solche Argumente lassen sich leicht
entkräften, aber da sich die Gesprächspart-
ner üblicherweise nicht mit Schmelztempe-
raturen auskennen, entsteht erst einmal der
Eindruck wissenschaftlicher Genauigkeit.
* Im Rauch glaubten manche das Gesicht Osama Bin
Ladens oder eine Teufelsfratze zu erkennen – auch
das irrationale Deutungen.
Thomas Meyer / OSTKREUZ
SPIEGEL: Was können Politiker tun, um
solche Menschen zurückzugewinnen?
Butter: Wenig. Wir wissen aus einer Reihe
von Studien, dass überzeugte Anhänger
irrationaler Ideen noch stärker daran glau-
ben, wenn man Gegenbeweise vorlegt. Al-
lenfalls können Familienmitglieder oder
Freunde ein Umdenken bewirken.
SPIEGEL: Was können die tun?
Butter: Sie sollten fragen, warum der ande-
re an all diese Dinge glaubt, dürfen dabei
aber nicht amüsiert, wütend oder irritiert
wirken. Im Idealfall setzt diese Offenheit
eine Selbstreflexion in Gang. Es ist ein lan-
ger, oft erfolgloser Prozess, aber es ist sinn-
voll, Initiativen zu unterstützen, in denen
Angehörige solche Strategien lernen kön-
nen. Mittelfristig kann von Corona-Leug-
nern ja tatsächlich eine Gefahr ausgehen.
SPIEGEL: Woran denken Sie?
Butter: Sollte sich aus dem Protest eine ty-
pische populistische Bewegung entwickeln,
in der sich Verschwörungstheoretiker mit
einer Masse unzufriedener, unglücklicher
Menschen verbünden, könnte es deutlich
brenzliger werden als jetzt. Die Mischung
aus Irrationalität und Frust ist explosiv,
weil dann die Stunde antidemokratischer
Parteien schlägt. Und schon heute zeigen
die Proteste, dass unsere Gesellschaft in
wichtigen Fragen auseinanderläuft.
Interview: Katja Thimm
39

Der Arzt, das Gericht
und die Wahrheit
Justiz Ein international renommierter Aids-Mediziner soll sich jahrzehntelang an jungen,
gut aussehenden Patienten vergangen haben. Das Berliner Landgericht hat
zwei Berichte darüber verboten – ein Urteil mit Folgen für die gesamte #MeToo-Debatte.
A
ugust 2020, ein Videotelefonat
über WhatsApp. Der Mann hat
viele Kilometer zwischen sich
und sein altes Leben gebracht, er
spricht aus dem Ausland. Er ist nicht nur
weit weg, es sind auch Jahre vergangen.
Zeit, die angeblich alle Wunden heilt.
Eine Wunde nicht.
Schon 2012 hat er Berlin verlassen.
Trotzdem sitzt er jetzt in seiner Wohnung,
in seinem neuen Leben, und erinnert sich
genau, was ihm an einem Tag vor 13 Jah-
ren in Berlin passiert ist – wenn man seiner
eidesstattlichen Versicherung glauben darf.
Oder anderen Männern, die ähnliche Ge-
schichten erzählen. Nicht der Gegenseite,
die das alles bestreitet, weshalb man bes-
ser »mutmaßlich passiert« schreibt. Am
besten noch in Großbuchstaben, damit es
keiner überliest. Aber dazu später.
Der Mann am Telefon war damals in
den Zwanzigern, er war homosexuell, er
war Patient in einer bekannten Arztpraxis
für Schwule in Berlin. Mitten im Schöne-
berger Regenbogenkiez, wo sich Männer
im »Romeo und Romeo« treffen und Fe-
tischläden »alles« verkaufen, »was dem
Spieltrieb dient«.
2007 nahm der Mann an einer medizi-
nischen Studie der Praxis teil, geführt
von zwei Brüdern, beide offen schwul.
Der ältere ist in der Szene bekannt als
»Aids-Papst« von Berlin – Mitautor zahl-
reicher Fachaufsätze, weltberühmt durch
den »Berlin-Patienten«, einen seltenen
Fall, in dem der Körper des Infizierten die
Viren ohne Medikamente erfolgreich be-
kämpfte.
Der Mann im Ausland erinnert sich,
dass es in seiner Studie um einen Impfstoff
gegen Feigwarzen ging. Kleine Hautwu-
cherungen, ausgelöst von Viren, die beim
Sex übertragen werden. Ihm war klar, dass
der Arzt die Genitalien jedes Mal akribisch
abtasten musste. Aber so, wie er es erlebt
haben will?
In seiner eidesstattlichen Versicherung
heißt es: »Während der Untersuchung tas-
tete« der Arzt »meinen Schwanz ausgiebig
ab und fasste ihn an, bis er hart wurde. Er
umschloss meinen Penis mit der Hand …
und machte zapfende, melkende Bewegun-
40
Deutschland
gen. Das … allein dauerte schätzungsweise
etwa sieben bis zehn Minuten«. Dabei sei
die Bemerkung gefallen: »Hast einen schö-
nen Schwanz. Ist ja auch sehr groß.«
Der Arzt habe auch noch versucht,
»mich auf den Mund zu küssen«, erzählt
der Mann jetzt am Telefon. Damals will
er sich bei einer Praxisassistentin beklagt
haben. In einer Mail vom 6. Juni 2007
schrieb er: »Vielen Dank, dass Du unser
Gespräch sehr ernst genommen hast und
vielleicht können wir dann bei dem nächs-
ten Besuch darauf achten, dass ich von ei-
nem anderen Arzt untersucht werde.«
Der Arzt sagt dagegen, was er auch in
anderen Fällen sagt. Erstens: Die Darstel-
lung ist falsch. Zweitens: Alles, was er getan
hat, hatte medizinische Gründe, nie sexu-
elle. Und die Staatsanwaltschaft? Die hat
kurz ermittelt und dann die Sache einge-
stellt. Wäre ja ohnehin schon lange verjährt.
Falls aber wahr ist, was der Mann am
Telefon sagt? Falls wahr ist, was in eides-
stattlichen Versicherungen von acht Patien-
ten steht? Falls wahr sein sollte, was auch
die Schwulenberatung Berlin versichert,
nämlich dass sich bei ihr geschätzt mehr
als hundert Männer beschwert haben?
Falls wahr sein sollte, was Patienten 2013
und 2014 in einem Verfahren der Berliner
Ärztekammer aussagten? Und falls wahr
sein sollte, was in einer Anklage der Staats-
anwaltschaft Berlin steht, die im kommen-
den April beim Schöffengericht Tiergarten
gegen den Arzt verhandelt werden soll –
falls das alles wahr wäre, dann handelte es
sich um einen der größten #MeToo-Skan-
dale der Republik. Um einen jahrzehnte-
langen Fall sexueller Übergriffe aus einer
überlegenen Position heraus.
Diesen Eindruck konnte, ja sollte man
auch wohl im vergangenen September ge-
winnen, als die Onlinemedien BuzzFeed
und Vice gleichzeitig darüber berichteten.
So viele mutmaßliche Opfer, so viele Or-
ganisationen, die den Arzt belasteten, so
viele Fallakten – und trotzdem: Kurz da-
nach, im Oktober, setzte der Arzt beim
Berliner Landgericht ein Verbot für die Ar-
tikel durch. Im Netz sind sie gesperrt.
BuzzFeed und Vice sehen sich seitdem
als kritische Medien, die mundtot gemacht
würden, mit Folgen, die weit über ihren
Fall hinausreichten. »Das Urteil hat mich
fundamental erschüttert«, sagt BuzzFeed-
Reporterin Juliane Löffler. »Absolut fa-
tal für die Pressefreiheit«, findet Vice-
Redakteur Thomas Vorreyer, heute beim
MDR. Der Anwalt des Arztes schreibt
dagegen von »Schmierfinken« und ihrem
»Hinrichtungsjournalismus«. Der Arzt
sei jetzt schon »beruflich und bürgerlich
vernichtet«.
Die Pressekammer entschied mit einer
Begründung, die auf den ersten Blick ab-
surd anmutet: Die beiden Journalisten hät-
ten so viele Indizien für eine Schuld des
Arztes geliefert, noch dazu so detailliert,
dass der Leser bei dieser Art von Bericht-
erstattung nicht mehr an eine mögliche
Unschuld glauben könne. So gehe das
nicht bei einem Artikel über einen Ver-
dacht.
Daran änderten auch Begriffe wie
»mutmaßlich« oder »offenbar« nichts.
22-mal hatte BuzzFeed allein im ersten
von zwei Texten das Wort »mutmaßlich«
benutzt, 4-mal »offenbar«, um deutlich
zu machen, dass nichts erwiesen sei, es
sich nur um einen Verdacht handle. Für
das Gericht war das »rein kosmetisch«, so
wie der Konjunktiv, der sich durch die
Absätze zieht. All das werde bei dieser
Art von Berichten doch »schlichtweg über-
lesen«.
Das Ende von #MeToo?
Damit greift das Urteil in eine der großen
Debatten der Gegenwart ein: #MeToo.
Ohne Enthüllungsartikel im »New Yorker«
und in der »New York Times« wäre der
Fall des inzwischen zu 23 Jahren Haft ver-
urteilten Filmproduzenten Harvey Wein-
stein wohl ebenso wenig aufgedeckt wor-
den wie der des Schauspielers Kevin Spa-
cey, der junge Männer belästigt haben soll.
Und nun also ein bekannter Arzt, heute
62, der sich über viele Jahre an Patienten
vergangen haben soll? An Männern, die
sich in seine Hände begeben, weil sie seine
Hilfe brauchen, sein Fachwissen, seine Er-
fahrung? Auch das wäre ein #MeToo-Fall.
Und auch hier fragen Investigativjourna-
listen: Warum sollten so viele Zeugen ähn-
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
 Russlan
Hermann Bredehorst / DER SPIEGEL
Olaf Wagner / imago images

Die Grenzen der Pressefreiheit Ein schwuler Arzt und seine Patienten – mit dieser Zeichnung (oben) erschien im
September 2019 der zweite Bericht über einen Mediziner, der sich an Patienten vergriffen haben soll. Der Anwalt
des Arztes, Johannes Eisenberg (l.), nennt die Reporter Juliane Löffler und Thomas Vorreyer »Schmierfinken«. Die kämpfen
um ihre Artikel und für #MeToo.

liche Vorwürfe erheben? Warum sollten
sie alle lügen?
Andererseits: Kaum etwas kann den
Ruf eines Menschen so gründlich zerstören
wie ein Vorwurf, der mit sexuellem Fehl-
verhalten zu tun hat. Bei solchen Geschich-
ten bleibt meist etwas kleben, selbst wenn
am Ende ein Freispruch vor Gericht steht.
So wie beim Wettermoderator Jörg Ka-
chelmann, den viele Menschen bis heute
für einen Vergewaltiger halten.
Es ist ein schmaler Grat, in jedem Fall,
das muss man auch der Berliner Presse-
kammer zugutehalten. In Köln etwa hatte
das Landgericht vielen Medien verboten,
über den Ex-Nationalspieler Christoph
Metzelder zu berichten, der Kinderporno-
fotos besessen haben soll. Es lief ein Er-
mittlungsverfahren gegen ihn, offiziell
bestätigt von der Generalstaatsanwalt-
schaft Hamburg; trotzdem durften Jour-
nalisten nicht schreiben. Inzwischen hat
die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft An-
klage erhoben, weil sie nach Abschluss
der Ermittlungen mit einer Verurteilung
rechnet. Seitdem berichten die Medien
wieder.
Das Besondere am Berliner Verfahren
ist nun allerdings, dass akzeptierte Regeln
für die sogenannte Verdachtsberichterstat-
tung nicht mehr gelten sollen. So meint
das Gericht, man dürfe, wenn es um sexu-
elle Vorwürfe geht, nicht zu konkret sagen,
was passiert sein soll. Dabei kommt es
gerade in diesem Fall auf die Details an,
ob eine erlaubte medizinische Behandlung
vorlag oder eine verbotene sexuelle Hand-
lung. Dauerte die Untersuchung am Geni-
tal zwei Minuten oder sieben bis zehn?
War es ein kurzes Drücken oder längeres
Vor und Zurück? Gab es Komplimente,
die nicht in ein Sprechzimmer gehören?
Und neu an dem Berliner Urteil ist auch,
dass ein Vokabular, das mit dem Segen der
Justiz über Jahrzehnte für die Verdachts-
berichterstattung herangereift ist, nichts
mehr wert sein soll. Begriffe wie »offen-
bar«, »anscheinend« und »mutmaßlich«.
Wenn das nicht mehr reichen soll, um et-
was als Verdacht zu markieren, wären Ar-
tikel, die Satz für Satz die Schuldfrage

41

offenhalten müssen, kaum noch möglich.
Jedenfalls kaum noch lesbar.
Der Fall
Der Arzt ist eine Größe in der Berliner
Szene: der größte Name unter den Aids-
Ärzten der Stadt, die vermutlich größte
Praxis – bis zu 50 000 Patienten in 25 Jah-
ren; viele schwul. Als er begann, bekam
die Gay-Community endlich das, was sie
in anderen Praxen nicht fand: einen Me-
diziner, der selbst offen homosexuell war.
Der keine Vorbehalte, keine Vorurteile hat-
te. Der half, mit den Risiken zu leben und
zu überleben.
Nähe gehört bis heute zum Praxiskon-
zept. Mit 98 Prozent seiner Patienten duze
er sich, sagte der Arzt kürzlich in einem
Interview, er frage aber vorher nach. Pa-
tienten erzählen auch noch vom Küsschen
rechts, Küsschen links. Viele lassen auf ihn
und seine Art nichts kommen, sie mögen
das vertraute Miteinander. Andere sind
verwundert, einige verstört. Grenzen zu
erkennen, zu beachten soll nicht gerade
zu den Stärken des Arztes zählen.
Was Geschlechtskrankheiten, ihre Dia-
gnose und Therapie angeht, gehört er aber
zu den Besten: Mitglied in zahlreichen Fach-
gruppen, Sprecher auf Kongressen in aller
Welt. Wenn er über sich redet, dann gern
als Pionier in Deutschland. Einen, der in
Amerika gelernt hat, wie wichtig eine aus-
führliche Untersuchung ist, nicht nur der
Genitalien, sondern des ganzen Körpers.
Eine ärztliche Fachkraft, die in seiner
Praxis gearbeitet hat, aber nicht erkannt
werden will, auch nicht am Geschlecht,
sagt dem SPIEGEL: »Ich habe von ihm ge-
lernt, was eine gründliche Sexualanamne-
se ist, darin ist er wirklich gut.« Zur Rou-
tineuntersuchung könne auch gehören,
dass der Patient sich vollständig entklei-
den müsse, um Hautveränderungen zu er-
kennen. Das Gleiche bei Analuntersu-
chungen: »Das anzubieten gehört zum
Standard der Vorsorgeuntersuchung bei
schwulen Männern.« Gut möglich, dass
Patienten, die so etwas von anderen Ärz-
ten nicht kannten, das missverstanden hät-
ten. Als Übergriff.
Dieselbe Fachkraft sagt heute aber auch,
dass ihr ein Verhalten aufgefallen sei, für
das sie beim besten Willen keine medizini-
sche Erklärung habe: Der Chef »ist regel-
mäßig in meine Sprechstunde hereinge-
platzt, mit der Frage, warum dieser oder je-
ner Patient aus dem Wartezimmer jetzt bei
mir sei und nicht bei ihm. Er hat das gern
verkauft als: ›Neupatienten müssen generell
zu mir.‹ Es ging ihm aber ganz offensichtlich
nicht darum, alle Neupatienten zu sehen,
schon gar nicht Alte oder Frauen«.
Vorgekommen sei dieses mutmaßliche
Herauspicken von Patienten nur bei jun-
gen, gut aussehenden Männern. »Die wa-
ren zum Teil wegen einer banalen Erkäl-
42
Deutschland
tung oder einer Krankschreibung da und
wollten möglichst schnell wieder raus aus
der Praxis.«
Der Arzt habe trotzdem insistiert: »Sie
sollten sich noch mal ins Wartezimmer set-
zen, er wolle sie selber sehen. Es gab sogar
Patienten, die explizit wünschten, nicht von
ihm behandelt zu werden. Er wollte sie
dennoch in seinem Sprechzimmer. So ein
Verhalten habe ich in anderen Praxen nie
erlebt.« Der Ex-Chef bestreitet dagegen,
Patienten zu sich geholt zu haben, weil sie
attraktiv waren. Wenn, dann habe das an-
dere Gründe gehabt, die immer im Interes-
se des Patienten gewesen seien.
Schon in den Neunzigerjahren gingen
bei Berliner Beratungsstellen erste Be-
schwerden ein. Ein Ex-Mitarbeiter der Ber-
liner Aids-Hilfe schreibt in einer eidesstatt-
lichen Versicherung aus dem Oktober
2019, von 1995 bis 1999 habe er jedes Jahr
von mehreren Fällen gehört.
Ralf Rötten, Geschäftsführer von Hilfe-
für-Jungs, will vor rund 15 Jahren zum ers-
ten Mal von mutmaßlichen Übergriffen
des Arztes erfahren haben. Sein Verein
Dem Gericht sind die
Berichte nicht neutral
genug. Und überhaupt:
viel zu viele Details.
kümmert sich besonders um Jugendliche
aus dem Ausland, die sich in Berlin prosti-
tuieren. »Etwa ein Dutzend junger Män-
ner«, schätzt Rötten, hätten sich bei ihm
über Genitalkontrollen des Arztes be-
schwert, die sie als sexuelle Handlungen
empfunden hätten. Und auch hier: Die
Männer, die sich beklagten, hätten immer
gut und gepflegt ausgesehen.
Die Schwulenberatung Berlin versi-
chert, seit den Neunzigerjahren seien dem
Beraterteam geschätzt »mindestens 100
Beschwerden aufgrund sexueller Grenz-
verletzungen gegen den Arzt bekannt« ge-
worden. Einer aus dem Team sagt dem
SPIEGEL, die mutmaßlichen Opfer seien
oft durch »Attraktivität und Vulnerabilität«
aufgefallen. Zum Beispiel Ausländer, die
sich im deutschen Gesundheitssystem
nicht auskannten. Sein Kollege ergänzt, er
habe wegen der Vorwürfe niemanden
mehr an diese Praxis vermittelt.
2013 meldeten sich dann auch Patienten
bei der Ärztekammer Berlin. Sie leitete
ein Untersuchungsverfahren ein. Die jun-
gen Männer behaupteten, der Arzt habe
sie am Glied stimuliert, in mehreren Fällen
bis zum Samenerguss. Einer behauptete,
der Arzt habe ihn geküsst, ein anderer, er
habe ihm ein Kompliment gemacht.
Noch bevor die Kammer zu einer Ent-
scheidung kommen konnte, verpflichtete
sich der Arzt schriftlich, keine Patienten
mehr allein zu untersuchen. Außerdem
begann er eine Psychotherapie. Aber er
blieb dabei: Es sei bei Untersuchungen nie
um etwas anderes gegangen als um medi-
zinische Befunde. Küsse, schmierige Kom-
plimente, sexuelle Stimulationen und
mehr, das alles habe es nie gegeben. Nur
Massagen der Prostata, um vorn am Penis
ein Sekret zu gewinnen, für eine Untersu-
chung auf Infektionen. Angeblich aber
stets nach ausführlicher Aufklärung.
Tatsächlich wird diese rektal durch-
geführte Prostata-Massage von der Deut-
schen Gesellschaft für Urologie in bestimm-
ten Fällen als fachgerecht beurteilt. Ein
Samenerguss sei dagegen nicht methodisch
begründbar, längeres Herumreiben am
Penis – von Zeugen behauptet, vom Arzt
bestritten – auch nicht. Und Komplimente,
Küsse sowieso nicht.
Dass bei möglichen #MeToo-Fällen Aus-
sage gegen Aussage steht, liegt in der Natur
der Sache. Es gibt fast nie Zeugen, wenn
ein mutmaßlicher Täter zugreift. Hier aber
geht es – wie nur selten bei #MeToo – außer-
dem um schwierige medizinische Abgren-
zungsfragen, auch für die Staatsanwalt-
schaft Berlin.
Sie nahm 2014 Ermittlungen auf; seit-
dem ruht das Verfahren der Ärztekammer.
Anfang 2016 lag eine Anklage in fünf Fäl-
len vor. Das Strafgesetzbuch hat dafür den
Paragrafen 174c: sexuelle Handlungen an
Personen unter Missbrauch des Behand-
lungsverhältnisses.
Das Strafverfahren
Mehr als vier Jahre sind seitdem vergan-
gen, und dass jetzt erst mal darüber ge-
stritten wird, was Journalisten schreiben
dürfen, liegt daran, dass bis heute kein Ge-
richt die Anklage verhandelt hat. Das wie-
derum hat viel mit Berlin zu tun, einer
Stadt, in der längst nicht alles sexy ist, was
arm ist; die überlastete Justiz jedenfalls
nicht. Möglicherweise hat es aber auch mit
dem Anwalt des Beschuldigten zu tun, Jo-
hannes Eisenberg. Wer Eisenberg vor Ge-
richt erlebt hat, kann sich an einen Bull-
dozer erinnert fühlen, der ein Kartenhaus
plattmacht – und sicherheitshalber rück-
wärts noch mal drüberfährt.
Eisenberg ist der Hausjurist der »Tages-
zeitung«, er stritt auch schon für Til
Schweiger, Julian Assange und Erich Miel-
ke. Er ist der Meister des Gebrülls im Ge-
richtssaal; Zeugen der Gegenseite nennt
er auch schon mal »Lügenbolde« oder
schlicht »irre«. Seinen Mandanten, den
Arzt, scheint das nicht zu stören.
Warum auch? Mit Anträgen und Anzei-
gen ist der Mediziner schnell dabei. 2016
zeigte er einen Mitarbeiter der Schwulen-
beratung wegen übler Nachrede an (das
Verfahren wurde eingestellt). Im Juli 2019
ging er gerichtlich gegen eine Berliner
 nie persönlich so angegriffen worden wie
von Eisenberg«.
Rechtzeitig zur Verhandlung hatten In-
formanten ihre im Artikel noch anonymen
Aussagen eidesstattlich untermauert. In
Schriftsätzen hatte Eisenberg dagegen
von einem »Lügengebilde« geschrieben.
Einen Zeugen diskreditierte er als »offen-
bar schwer gestört«. Und die Aussagen
der fünf Männer aus dem Strafverfahren

Matthew McDermott / POLARIS / laif

seien »orchestriert« und untereinander
abgesprochen. Das Motiv der angeblichen
Verleumdung? Die Stadt sei halt »voller
Neider«. Und die Beratungsstellen, die den
Arzt belasteten, operierten nur mit anony-
men Fällen, die ebenfalls nichts wert seien.
Im Namen des Volkes erging dann das
Urteil: Es blieb dabei, die Artikel sind ver-
boten. Dabei meinten sogar die Richter –
zwei Frauen, ein Mann –, dass wichtige
Bedingungen erfüllt waren, um schreiben

Damian Dovarganes / picture alliance / AP

zu dürfen. Denn auch wenn es dem Medi-
ziner nicht gefalle, es gebe nun mal ein
CJ Gunther / epa-EFE / Rex Features

starkes öffentliches Interesse bei einer so

bekannten Persönlichkeit und so harten
Vorwürfen. Die Redakteure hätten außer-
dem genug Belege geliefert, um den Ver-
dacht zu begründen. Und der Arzt habe
vorher genug Gelegenheit bekommen, sei-
ne Sicht zu schildern. Dass BuzzFeed und
Vice die Namen der mutmaßlichen Opfer
#MeToo-Bewegung in den USA Erst als Investigativjournalisten den Fällen nicht nannten, um sie zu schützen, änderte
des Filmmoguls Harvey Weinstein (oben) und des Schauspielers daran nichts.
Eine Bedingung aber war nach Ansicht
Kevin Spacey (l. Mitte) nachspürten, kam weltweit eine Protestwelle gegen
des Gerichts nicht erfüllt – und damit die
Männer ins Rollen, die ihre Machtposition für Sex ausnutzen. gesamte Berichterstattung unzulässig: kei-
ne Vorverurteilung. Der Artikel sei nicht
ausgewogen genug; der Verfassungsgrund-
satz »im Zweifel für den Angeklagten«
Dragqueen vor (sie musste sich verpflich- Anwalt Eisenberg klagt, die Justiz ver- werde mit dieser Art von Journalismus
ten, Belästigungsvorwürfe nicht zu wieder- schleppe das Verfahren »ungut«. Gerichts- ausgehebelt.
holen). Als im Dezember 2018 im Szene- sprecherin Lisa Jani sagt, so wie man die BuzzFeed-Anwalt Hegemann hält dage-
blatt »Siegessäule« eine Annonce erschien, Sache und die Personen einschätze, werde gen: Dass die Indizien gegen den Arzt »be-
in der Patienten gesucht wurden, die se- es bestimmt sehr strittig, deshalb elf Ver- sonders dicht«, ja geradezu »erdrückend«
xuelle Übergriffe in einer namentlich nicht handlungstage. Und bis man dafür eine seien, könne man nicht den Journalisten
genannten Berliner Praxis schildern könn- Lücke im Kalender finde, das dauere eben. vorwerfen. Und dass der Arzt vor der Ver-
ten, durchsuchte die Polizei auf Antrag öffentlichung kaum etwas gesagt habe, erst
von Eisenberg Büros bei der »Siegessäule« Der Presseprozess recht nicht. Es gehe nicht an, dass ein Ver-
(um herauszufinden, wer die Annonce auf- Damit hatte nun die Pressekammer das ers- dächtiger nur schweigen müsse, und schon
gegeben hatte). Wer kritisch über den Arzt te Wort in der Sache. In einer Verhandlung sei ein Gericht der Meinung, der Artikel
redet oder schreibt, sollte sich also auf etwas am 29. Oktober 2019 gingen BuzzFeed und sei nicht ausgewogen und gehöre verboten.
gefasst machen. Vice dagegen vor, dass sie ihre Artikel aus Das Gericht laviert denn auch herum,
Selbst die Staatsanwaltschaft trat gegen dem Netz nehmen mussten. wie die Journalisten hätten schreiben sol-
ihn auffällig defensiv an. Die Anklage von Die Reporter hatten noch unbekannte len. Jedenfalls nicht so detailliert. So etwas
2016, drei dürre Seiten, reichte sie erst gar Fälle beschrieben. Die aus der Anklage ka- sei »in den Massenmedien der deutschen
nicht beim Landgericht ein, sondern nur men nur am Rand vor. Ein paar Tage vor Presselandschaft unüblich«. »Wir leben
bei einem Einzelrichter am Amtsgericht. der Veröffentlichung hatte der Arzt mehr nicht mehr in den Fünfzigern, sondern im
Der ist normalerweise zuständig für Fälle, als 30 Fragen von BuzzFeed bekommen. Jahr 2020«, sagt dagegen Hanna Möllers,
in denen höchstens mit zwei Jahren Frei- Eisenberg antwortete, keine zwei Seiten. Justiziarin des Deutschen Journalisten-Ver-
heitsstrafe gerechnet wird. Dem Einzel- Daraus zitieren durfte BuzzFeed nicht. bands, »es kommt darauf an, ob sich ein
richter war die Sache aber zu umfangreich; In der Verhandlung, so steht es zumin- Verdacht mit konkreten Fakten belegen
er gab sie an die Kollegen eines Schöffen- dest im Gedächtnisprotokoll eines Zu- lässt. Nicht, wie appetitlich sie sind.«
gerichts ab. 2019 sollte dort verhandelt schauers, wütete Eisenberg gegen angeb- Nach Ansicht des Gerichts hätten Buzz-
werden, aber das Gericht hatte zu viele liche »Knallzeugen« – wertlose Zeugen Feed und Vice aber sogar noch Patienten
Haftsachen, die gingen vor. Neuer Termin: vom Hörensagen. Der Anwalt von Buzz- suchen müssen, die zufrieden mit dem
April 2020. Der wurde wegen Corona ab- Feed, Jan Hegemann, wird in dem Proto- Arzt sind, für ein neutraleres Bild. Auf die
gesagt. Nächster Termin: April 2021. koll mit den Worten zitiert, er sei »noch Spitze getrieben heißt das: Auch bei Mord

DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020 43

müssten Journalisten schreiben, dass der
mutmaßliche Täter nur einen Menschen
ermordet habe, andere dagegen nicht.
»Warum sollen wir nach Dingen suchen,
die legal und legitim sind?«, fragt Buzz-
Feed-Reporterin Löffler.
Das sieht der Dortmunder Medien-
rechtsprofessor Tobias Gostomzyk ähn-
lich: »Das Gericht überspannt den Bogen.
Wenn sehr viel Belastendes vorliegt, kann
kaum verlangt werden, dass der Journalist
einen großen Teil davon weglässt, nur da-
mit die Sache insgesamt ausgewogener er-
scheint. Es soll ja gerade berichtet werden,
was ist. Deswegen ist auch unverständlich,
dass zusätzlich positive Aspekte darge-

Georg Chlebarov / Brauer Photos

stellt werden sollen, die mit den Kernvor-
würfen nichts zu tun haben.«
Ohnehin ist das Ideal, jede Vorverurtei-
lung – oder was Berliner Richter dafür
halten – zu unterlassen, so gut wie uner-
reichbar. In der Regel schreiben Investiga-
tivjournalisten, die monatelang jeden Stein
umgedreht haben, nur dann etwas, wenn
sie bei der Recherche mehr Indizien gefun-
den haben, die für die Schuld sprechen als
dagegen. Wird also geschrieben, hat die Ent-
scheidung an sich schon den Charakter einer
Vorverurteilung, zumindest in diesem Sinn.
Nach einer ähnlichen Logik arbeitet die
Justiz selbst: Ein Staatsanwalt darf nur
anklagen, ein Richter die Anklage nur zu-
lassen, wenn sie eine Verurteilung für wahr-
scheinlich halten. So gesehen hat die Justiz
den Arzt auch vorverurteilt – ein anderer
Ausgang des Verfahrens bleibt aber möglich.
Die Pressekammer lässt auch durch-
blicken, dass es ihr eher darum geht, wo
solche Verdachtsfälle offenbar ihrer Mei-
nung nach hingehören: nämlich besser in
den Gerichtssaal als in die Medien. »Kei-
nesfalls kann eine journalistische Recher-
che ein … Strafverfahren ersetzen«, heißt
es im Urteil.
So wie Löffler und Vorreyer das sehen,
sind die Berichte aber gerade deshalb un-
verzichtbar, weil die Berliner Justiz seit
mehr als vier Jahren daran scheitert, die
Vorwürfe in einem Prozess zu klären. Bei-
de, BuzzFeed und Vice, sind deshalb in
Berufung gegangen.
Eines können sich Löffler und Vorreyer
immerhin zugutehalten. So schludrig wie
die Richter haben sie offenbar nicht ge-
arbeitet. Im Urteil steht, vom Arzt gehe
zumindest derzeit keine Gefahr aus, weil
er »unstreitig« seit 2014 Patienten nicht
mehr allein untersuche. Das Gericht berief
sich auf eidesstattliche Versicherungen von
Praxismitarbeitern. Aber »unstreitig«?
Sicherlich nicht. Wie es in der »Eidesstatt-
lichen« eines Patienten heißt, die dem Ge-
richt vorlag, war er noch 2019 bei einer
Rektaluntersuchung allein mit dem Arzt.
Stimmt nicht, sagt der Arzt.
Mutmaßlich also. Jürgen Dahlkamp
Patriarch Brauner mit Familie 2002*: 200 Millionen Euro Grundschulden
Ende Legende
Immobilien Die Nachfahren des 2019 verstorbenen Filmproduzenten
Artur Brauner wollen dessen Nachlass
versilbern. Dafür soll ein berühmtes Berliner Kino weichen.
D as Colosseum ist nicht irgendein
Berliner Kino. In der DDR war das
1924 gegründete Lichtspieltheater
am Prenzlauer Berg das Premierenkino
schlechthin. Nach dem Fall der Mauer ge-
hörte es zu den feinen Aufführungsorten
der Berlinale.
Artur Brauner, schillernder Filmprodu-
zent und Doyen des westdeutschen Nach-
kriegsfilms, nannte sein Haus einst das
»schönste Kino der Welt«. Im Colosseum
feierte Brauner seinen 80.Geburtstag mit
einem rauschenden Fest. Es floss Wodka
zum koscheren Büfett, 500 Gäste waren da-
bei, viel Prominenz aus Film und Fernsehen.
Brauner, auch »Atze« genannt, starb im
Juli vorigen Jahres im biblischen Alter von
100 Jahren. Seine Nachfahren haben nie
eine derart emotionale Bindung zum Licht-
spielhaus an der Schönhauser Allee ent-
wickelt, das Brauner 1992 erworben hatte.
Sie sehen in dem cineastischen Sehnsuchts-
ort ihres Vaters offenbar vor allem eine
Immobilie, die entwickelt werden kann
und ordentlich Rendite abwerfen soll.
Immobiliengeschäfte der vermögenden
Berliner Familie gehen sonst eher ohne öf-
fentliches Aufsehen über die Bühne, doch
* Alice, Fela, Heinrich, Sammy (hintere Reihe), Ehefrau
Maria.
das Colosseum ist ein Politikum geworden.
Kritiker werfen den Brauners vor, in Ka-
pitalistenmanier aus Gier Kultur und Ar-
beitsplätze zu opfern und dabei Corona
als Vorwand zu nutzen.
Firmenunterlagen und Gerichtsdoku-
mente legen den Verdacht nahe, dass die
Brauner-Erben bei der Schließung des Ki-
nos getrickst haben könnten. Seit mindes-
tens 2019, lange vor Corona, war das Aus
für das Colosseum offenbar besiegelt. Und
das Kino ist wohl nicht die einzige Immo-
bilie, die die Kinder von Artur Brauner
versilbern wollen.
Brauner hat Fela, Alice, Heinrich und
Sammy ein ansehnliches Vermögen hin-
terlassen. Allein in Berlin sind es Dutzende
Immobilien, eine Villa im Grunewald, ein
Hotel am Kurfürstendamm, Plattenbauten
in Hohenschönhausen, Gründerzeit-Miets-
häuser in Charlottenburg sowie das Kino
am Prenzlauer Berg.
Der Wert des braunerschen Besitzes in
der Hauptstadt dürfte sich auf einen drei-
stelligen Millionenbetrag summieren. Ge-
nau weiß das außerhalb der Familie eigent-
lich niemand. Andererseits lasten hohe
Schulden auf den Latifundien. Laut Grund-
buchakten hat sich allein die Finanzver-
waltung Berlins Hypotheken in Höhe von
knapp 20 Millionen Euro eintragen lassen,

44

wohl als Sicherheit für noch nicht gezahlte
Steuern. Dazu kommen Grundschulden
über mehr als 200 Millionen Euro zuguns-
ten diverser Banken.
Auch das Grundstück, auf dem das Co-
losseum steht, ist laut Grundbuchakten
hoch belastet. Drei Grundschulden sind
für die israelische Bank Leumi eingetragen,
insgesamt 27,7 Millionen Euro. Ob dem al-
lerdings noch reale Schulden zugrunde lie-
gen oder diese nur noch auf dem Papier
bestehen, lässt sich anhand der Dokumen-
te nicht rekonstruieren.
Im August 1992 hatte Brauner das Co-
losseum von der Treuhandanstalt gekauft,
die Einrichtung des Bundesfinanzministe-
riums verwertete damals das volkseigene
DDR-Erbe. Laut Kaufvertrag zahlte Brau-
ner gut elf Millionen D-Mark. Er musste
sich verpflichten, heißt es in dem Vertrag,
»für die Dauer von zehn Jahren einen Film-
theaterbetrieb« zu gewährleisten.
Ein Schnäppchen war das nicht, aber
auch kein Verlustgeschäft. Denn das 5674
Quadratmeter große Grundstück war groß-
teils unbebaut und hatte Raum für weitere
Kinosäle und Büros, Anfang der Neunzi-
gerjahre im Osten Berlins Mangelware.
Bald erhielt Artur Brauner die Bauge-
nehmigung für ein Multiplexkino mit da-
rüberliegenden Büros. Der Neubau erwei-
terte das alte Kinogebäude in Richtung
Gleimstraße um Investorenarchitektur von
der Stange: kein Hingucker, aber auch
nicht völlig hässlich.
Doch bald nachdem der braunersche
Multiplex fertig war, genehmigten die Ber-
liner Behörden gut einen Kilometer ent-
fernt ein weiteres Großkino. Brauner war
außer sich, er hatte geglaubt, sich mit dem
Kauf der Immobilie exklusiv den Kino-
markt des Stadtviertels gesichert zu haben.
Trotzdem fand das Colosseum sein Pu-
blikum, der alte Name hatte am Prenz-
lauer Berg immer noch einen guten Klang.
Brauner übergab 2006 das Kino (10 Säle
für 2600 Zuschauer) an seinen jüngsten
Sohn Sammy und machte ihn zum Ge-
schäftsführer der Colosseum Betriebs
GmbH. Artur Brauner selbst blieb gemein-
sam mit seiner Frau Eigentümer der Im-
mobilie. Die Betriebs GmbH musste die
Kinoräume bei Artur Brauner mieten. Der
Pachtvertrag von August 2008 war nicht
zum Schaden der Immobilienbesitzer.
Laut Firmenunterlagen lag im vorigen
Jahr die Pacht bei fast 78 000 Euro, im
Monat. Dazu kamen Sonderzahlungen,
die vom Umsatz des Kinos abhingen. Pro
Jahr addierte sich die Gesamtpacht schon
mal auf gut eine Million Euro. Rund
350 000 Besucher hatte das Colosseum im
Jahr 2018, die bescherten Einnahmen von
4,3 Millionen Euro, so steht es im Rechen-
werk der Betriebs GmbH.
Sammy Brauners Kinobetreibergesell-
schaft beschäftigte zwar 43 Mitarbeite-
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
Deutschland
rinnen und Mitarbeiter, die auch bezahlt
werden mussten, hatte das eigentliche
Kinogeschäft aber von Beginn an ausgela-
gert – an den US-amerikanischen Multi-
plexbetreiber UCI. Sammy Brauner mach-
te früh keinen Hehl daraus, dass er nicht
sonderlich am Kinogeschäft hängt.
Mit dem Tod des filmverrückten Fami-
lienoberhaupts verblasste offenbar auch
bei den anderen die Faszination für das
Colosseum. 2019 entwarf das Architektur-
büro Tchoban Voss im Auftrag der Familie
einen Umbau, der den historischen denk-
malgeschützten Kinosaal zwar einplante,
aber nicht mehr die Nutzung als Multiplex-
kino vorsah. Die in den Neunzigerjahren
gebauten neun anderen Kinosäle sollen
abgerissen werden.
Rechtlich wäre das kein Problem. Im
vorigen November bestätigte das zustän-
dige Amt des Bezirks Pankow in einem
Willy Saeger
Colosseum um 1966
»Schönstes Kino der Welt«
Bauvorbescheid, dass ein Umbau zum
»Workcampus« ohne Kinobetrieb jeder-
zeit möglich wäre. Die Pankower Kommu-
nalpolitiker hatten versäumt, die Nutzung
der Immobilie als Kino planungsrechtlich
festzuschreiben.
So mussten die Brauners offenbar nur
noch den Kinobetrieb loswerden. Da half
dann Corona: Wie alle Kinos musste das
Colosseum während des Lockdowns En-
de März den Betrieb einstellen. Doch als
andere Lichtspielhäuser sich auf die Wie-
dereröffnung mit Masken und Abstands-
wahrung vorbereiteten, leitete Sammy
Brauner den letzten Akt der Colosseum-
Beerdigung ein.
Am 20. Mai stellte er einen Insolvenz-
antrag für die Betreibergesellschaft. Die
Schließung wegen Corona habe dem Un-
ternehmen die Grundlage entzogen, es
könne Rechnungen und Löhne nicht mehr
bezahlen. Wenige Tage später hatte die
Erbengemeinschaft Brauner, zu der auch
Sammy Brauner gehört, dem Colosseum-
Geschäftsführer Brauner schriftlich erklärt
und »durch Boten« zugestellt, dass die
Erben »ausdrücklich und unwiderruflich
keine Fortführung« des Kinobetriebs wün-
schen. Insolvenzverwalter Sebastian Labo-
ga notierte nach einem Gespräch mit Brau-
ner: »Er wies mich explizit darauf hin, dass
diese keinen entsprechenden Pachtvertrag
mit einem Interessenten für den Erwerb
des schuldnerischen Geschäftsbetriebes ab-
schließen werden.« Am 24. August ließ die
Erbengemeinschaft per Rechtsanwalt den
Pachtvertrag fristlos kündigen.
Womit die Brauner-Erben offenbar
nicht gerechnet hatten, war die öffentliche
Reaktion. Eine Initiative in den Stadtvier-
teln Pankow und Prenzlauer Berg sammel-
te über das Internet binnen Wochen
10 000 Unterschriften gegen die Umbau-
pläne. Der Berliner SPD-Bundestagsab-
geordnete Klaus Mindrup forderte Sammy
Brauner auf, das Kino wieder zu öffnen.
Der Schauspieler Jürgen Vogel schickte
eine Video-Solidaritätsadresse und appel-
lierte: »Setzt alles in Bewegung, dass das
Colosseum überlebt.« Sein Kollege Milan
Peschel, langjähriger Schauspieler an der
Volksbühne und alter Prenzlauer-Berger,
sprach von einer »Schande«. Das Colos-
seum gehöre zum Viertel wie die Curry-
wurstbude »Konopke oder die Hochbahn
über die Schönhauser Allee«. Am 13. Au-
gust demonstrierten Mitarbeiter und meh-
rere Hundert Viertelbewohner vor dem
stillgelegten Colosseum gegen Sammy
Brauner: »Solidarität im Kiez – das Kino
muss bleiben«.
Auf SPIEGEL-Anfrage erteilt Sammy
Brauner den Kinofans eine Abfuhr: »Es
ist nun illusorisch, dass das Kino weiterhin
rentabel betrieben werden kann.« Ihm
und den anderen Erben sei seit einiger Zeit
klar gewesen, »dass das Grundstück ein
städtebauliches Potenzial hat«, aber auch,
»dass ein Multiplexkino an diesem Stand-
ort seit mehreren Jahren keine Zukunft
mehr hatte«. Er sei bereit, alle Betriebs-
mittel, die in der Firma steckten, knapp
230 000 Euro, den Mitarbeitern als Abfin-
dungen zu zahlen. Das habe der Betriebs-
rat aber »mehrfach abgelehnt«. Langjäh-
rige Kinomitarbeiter warfen Brauner öf-
fentlich vor, er würde sie wissentlich in
Hartz IV treiben.
Im Hintergrund versuchen Kultursena-
tor Klaus Lederer (Linke) und sein Genos-
se Sören Benn, Bezirksbürgermeister von
Pankow, zu vermitteln. Lange vergebens.
Am Mittwoch hatten die Brauners erst mal
Gesprächsbereitschaft signalisiert, aller-
dings nur über ihren Anwalt.
Andreas Wassermann
Mail: andreas.wassermann@spiegel.de
45
 Reporter
Familienalbum
Geschwister,
2011
Frank Ahlvers, 50:
Das Foto zeigt die erste Begegnung in
Haiti im Juli 2011, seit diesem Tag sind
die beiden Schwestern. Unsere Toch-
ter Rieke war damals zehn Jahre alt
und gut auf das Treffen vorbereitet –
sie hatte lange mit uns zusammen
darauf gewartet.
Ivania war noch keine zwei und erst
mal sehr schüchtern. Bevor wir sie
adoptierten, hatte sie das Erdbeben
von 2010 mit mehr als 200 000 Toten
überlebt, das Chaos danach und
ein Jahr im berüchtigten Slum »Cité
Soleil«. Hunger, Krankheit, Gewalt,
all diese Dinge waren Teil ihres All-
tags gewesen. Als nichts mehr ging,
hat ihre Mutter sie ins Kinderheim
»Maison des Anges« in Port-au-Prince
gebracht. Im Heim war Ivania sicher,
geschützt von hohen Mauern und Sta-
cheldraht, nachts passte ein Mann mit
Gewehr auf die 50 Kinder auf.
Madame Gladys, die Heimleiterin,
und einige andere Frauen kümmerten
sich, so gut es ging. Bis Ivania schließ-
lich zur Adoption freigegeben wurde.
Ihre Mutter bekundete ihr Einver-
Frank Ahlvers
ständnis mit einem Fingerabdruck.
46
In der Zwischenzeit kämpften wir am
anderen Ende der Welt mit der Adop-
tionsbürokratie. Auf dem Weg zum
ersten Kennenlerntreffen mit unserer
zukünftigen Tochter schafften wir es
nur bis nach Miami, aufgrund schwe-
rer Unruhen in Port-au-Prince. Wir
mussten umkehren. Wir schickten Iva-
nia ein Fotoalbum von unserer Familie
und ein Kuscheltier, einen Bären
namens Woods, den hat sie noch heu-
te. Als wir sie später endlich abholen
konnten, dauerte es keine Stunde, und
sie spielte mit ihrer neuen großen
Schwester. Rieke war selig.
Die beiden lieben sich seither heiß
und innig – und können sich streiten
wie die Kesselflicker. Heute ist Ivania
zehn. Und ein ganz normales deutsches
Mädchen. Sie spielt mit ihren Freundin-
nen, tanzt in einer Tanzgruppe, macht
Saltos auf ihrem Trampolin. Für ihr
Herkunftsland Haiti interessiert sie sich
im Moment nicht. Einmal, als sie wis-
sen wollte, ob sie noch ein Geschwister-
chen bekommen könnte, und wir ihr
erklärten, dass wir zu alt dafür seien,
sagte sie ganz pragmatisch: »Wir könn-
ten doch meine Mutter in Haiti fragen.«
Aufgezeichnet von Dialika Neufeld
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie
uns Ihre Geschichte erzählen möchten?
Schreiben Sie an:
familienalbum@spiegel.de
Kriminalität
Wie ehrlich sind
Arbeitnehmer, Frau Lentz?
SPIEGEL: Frau Lentz, während der Coro-
na-Pandemie wurden viele Mitarbeiter
ins Homeoffice geschickt. Haben sich
die Arbeitgeber darauf verlassen, dass
sie zu Hause auch arbeiten?
Lentz: Zu Beginn des Lockdowns haben
recht viele Unternehmen ihre Mitar-
beiter von uns im Homeoffice observie-
ren lassen.
SPIEGEL: Wie weisen Sie nach, dass
jemand nicht arbeitet?
Lentz: Wenn die Person zwei Tage lang
zu Hause sitzt, ist das tatsächlich schwie-
rig. Aber zu Beginn der Pandemie hatten
wir ja schönes Wetter. Die Spielplätze
waren zwar gesperrt, die Eltern sind aber
trotzdem mit ihren Kindern rausgegan-
gen, haben Spaziergänge gemacht, sind
mit dem Fahrrad gefahren. Da war dann
schnell klar, dass sie nicht ihrer Arbeit
nachgegangen sind.
SPIEGEL: Darf ein Arbeitnehmer nicht
kurz mit seinem Kind draußen spielen?
Lentz: In der Mittagspause ja. Aber nicht
während der Arbeitszeit.
SPIEGEL: Sitzen Sie dann auf einer
Parkbank, lesen unauffällig Zeitung und
warten?
Lentz: Es ist vielleicht nicht mehr so wie
bei »Emil und die Detektive«, aber
klar, man ist vor Ort, auf einer Bank, im
Auto, oder man läuft vorbei. Wenn die
Zielperson das Haus oder die Wohnung
verlässt, folgt man ihr.
SPIEGEL: Wohin haben Ihre Zielpersonen
Sie in Zeiten von Corona geführt?
Lentz: In den Getränkemarkt oder in
den Baumarkt. Wir haben eine Person
observiert, die im Homeoffice ihr
Telefon auf das Handy umgeleitet hat –
und dann in den Urlaub gefahren ist.
SPIEGEL: Wo die Person allerdings auch
hätte arbeiten können …
Lentz: Aber nicht, wenn sie mit ihrer
Familie die ganze Zeit am Strand war.
SPIEGEL: Wurden Mitarbeiter auch von
anderen gemeldet?
Lentz: Natürlich, das gibt es auch.
Die sagen dem Chef: »Ich hab den Kolle-
gen neulich auf dem Supermarktpark-
platz gesehen.« Und der Chef beauftragt
dann uns. MAH
Frances Lentz, 31, ist geprüfte Privat-
ermittlerin (IHK) bei der Detektei
Lentz & Co. GmbH in Frankfurt am Main.
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020

Eine Meldung und ihre Geschichte
Stolze Höhn
Was macht ein Fußballfan, wenn er wegen
Corona nicht ins Stadion darf?
W enn Sebastian Nellis, 36, über die vergangene Bundes-
ligasaison redet, kommt ihm ein Nachmittag im
Frühsommer in den Sinn. Er saß mit seiner damals
hochschwangeren Frau beim Italiener in Mönchengladbach, als
am Nebentisch plötzlich ein Handy wieherte. Er wusste sofort:
die Fohlen-App; wegen ihrer jungen, unbekümmerten Spieler,
mit denen der Verein in den Siebzigerjahren fünfmal deutscher
Meister wurde, werden die Gladbacher »Fohlen« genannt.
Was ihm ebenfalls klar wurde: Die Borussia spielte – seine
Borussia –, und sie hatte offenbar gerade ein Tor geschossen.
Aber in jenem Moment, sagt Nellis,
sei ihm das egal gewesen. Vollkom-
men egal. Er bestellte seine Pizza
und schaute nicht einmal auf seinem
Handy nach, wer der Torschütze
gewesen war. Noch nie in seinem
Leben hatte Sebastian Nellis ein
Tor seiner Borussia mit einer der-
artigen Gleichgültigkeit erlebt. Er
hatte nicht einmal gewusst, dass
Borussia überhaupt spielte.
Sebastian Nellis ist Fan: Er fährt
zu fast allen Spielen und ist Dauer-
kartenbesitzer im Block 16, wo nur
die Männer und Frauen stehen, die
dem Verein ewige Treue geschworen
haben. In einer gewöhnlichen Saison
schafft Nellis mindestens 30 der 34
Pflichtspiele, dazu noch ein paar
Pokal- und Europacupspiele, je nach-
dem, wie weit die Borussia im jewei-
ligen Wettbewerb kommt. Wenn Nel-
lis mal bei einem Spiel fehlt, dann
nur, weil er ernsthaft krank wurde
oder irgendwas mit der Familie ist.
Sonst war er immer da. Seit 20
Jahren. Gladbacher Nellis
Corona hat alles geändert. Seit Be-
ginn der Pandemie hat Nellis kein
Spiel der Borussia mehr gesehen, we-
der live auf Sky noch in der Zusam-
menfassung in der »Sportschau«. Von der Website Infranken.de
Geisterspiele sind für ihn keine
richtigen Fußballspiele.
»Ohne Fans ist der Fußball nichts wert«, sagt Nellis.
Ein Fan wie Sebastian Nellis schaut sich ein Fußballspiel
nicht einfach nur an – er macht aus einem Spiel ein Erlebnis.
Zwei bis drei Stunden vor dem Spiel steht er schon im Block
zusammen mit den anderen Fans, begrüßt Freunde, trinkt
ein Bier auf die Borussia. Schließlich, zum sogenannten
Fahnenintro, werden die Fahnen ausgerollt, und dann singen
alle zusammen die Hymnen der Borussia, »Die Elf vom Nie-
derrhein« und »Die Seele brennt«. Nichts, denkt Nellis dann
oft, könne schöner sein als dieser Moment.
Er stammt aus Krefeld. Nellis war zehn Jahre alt, als ihn
sein Cousin, der in Mönchengladbach lebte, mit auf den Bö-
kelberg nahm, wo Borussia Mönchengladbach damals seine
Heimspiele austrug. Gladbach spielte an diesem Tag gegen
Bayer 05 Uerdingen, aber Nellis faszinierte schon damals
nicht nur das Spiel, sondern vor allem die Stimmung, die
Fans, ihre Gesänge. Die Gemeinschaft.
So wurde er Fan. Er erlebte Siege gegen Bayern und Nie-
derlagen gegen Köln, Aufstiege und Abstiege, er durchschritt
»dunkle Täler« und erklomm »stolze Höhn«, so heißt es in
der Hymne, die sie vor jedem Spiel im Stadion singen.
Corona jedoch kennt keine Gemeinschaft und keine
stolzen Höhn. Ein einziges Mal seit Beginn der Pandemie
hat sich Nellis im Fernsehen ein Spiel angeschaut, das Cham-
pions-League-Finale des FC Bayern gegen Paris. Es hat
ihn nicht berührt. Selbst ein Sieg in der Champions League,
findet er, sei ohne Fans nichts wert.
90 Prozent seiner Freunde seien Borussia-Fans, sagt
Nellis. Er sieht sie vor dem Spiel, wenn sie den Spieltag
vorbereiten, er sieht sie im Bus auf dem Weg zum Spiel,
er sieht sie im Stadion und auf dem Weg nach Hause.
»Wenn es kein Fußballspiel gibt, zu dem wir zusammen
fahren, können wir mit so vielen Fans nicht einfach irgend-
was anderes machen«, sagt er.
Ohnehin beobachtet er im Fuß-
ballgeschäft manches, das ihm nicht
passt: die hohen Gehälter, die mons-
trösen Summen, die für Transfers
gezahlt werden, die wachsende
Schere zwischen armen und reichen
Vereinen, die zerrissenen Spieltage
mit ihren Freitags- und Montags-
spielen, die möglicherweise fern-
seh-, aber keinesfalls fangerecht
sind.
Er selbst hat einen festen Job; wie
für viele andere Fans auch ist es
für Nellis eine Herausforderung, ein
Auswärtsspiel an einem Montag-
abend zu besuchen und am Diens-
tagmorgen wieder pünktlich bei der
Arbeit zu sein. Er wünscht sich
Spieltage am Wochenende zurück,
an dem es nur einen festen Termin
gibt: Samstag, 15.30 Uhr.
Jetzt, sagt er, gehe es zunächst
darum, dass nicht alles noch schlim-
mer werde, die armen Vereine noch
ärmer, die reichen noch reicher, die
Gehälter und Transfers noch mons-
tröser. Vor allem aber geht es da-
rum, das Stadionerlebnis zurück-
zuholen – so wie es war. »Bei allem
Verständnis für notwendige Schutz-
maßnahmen möchte ich persönlich
zu keinem Fußballspiel gehen, in
dem man Maske tragen muss«, sagt
Sebastian Nellis.
Natürlich versteht er, wenn die Leute jetzt wieder so
schnell wie möglich ins Stadion wollen. Aber was wird dann
aus den richtigen Fans? »Wenn man im Stadion auf Abstand
sitzen muss, seine Mannschaft nicht lautstark unterstützen
kann, sein Stadionbier nicht mit Freunden trinken kann, dann
ist die Fankultur tot«, sagt Nellis.
Fußball werde für Leute wie sie gespielt, so sieht Nellis
das. Gerade die Geisterspiele hätten gezeigt, wie wichtig
Fans für ihre Vereine seien.
Im Juli, ein paar Wochen nach dem Essen beim Italiener,
wurde seine Tochter geboren. Noch am selben Tag meldete
er sie als Mitglied von Borussia Mönchengladbach an.
Marc Hujer
47

Die Anti-Greta
Karrieren Sie ist schlau, jung und umstritten: Ihre Anhänger verehren Naomi Seibt
als Kämpferin für die Wahrheit, Kritiker schmähen sie als Verschwörungstheoretikerin und
Postergirl der Neuen Rechten. Ein Hausbesuch. Von Uwe Buse
D
er Auftritt, der Naomi Seibt be-
kannt macht, dauert keine fünf
Minuten – seine Folgen haben
alle, die dabei waren, überrascht,
am meisten vielleicht Naomi Seibt selbst.
Alles beginnt am 22. November 2019 in
München. Am Morgen spazieren Männer,
einzeln und in kleinen Gruppen, über das
Pflaster des Konrad-Zuse-Platzes. Ihr Ziel:
die Wappenhalle, früher das Empfangs-
gebäude für den Flughafen München-
Riem, nun denkmalgeschützt und ein Ort,
an dem Konferenzen stattfinden.
An diesem Wochenende hat das Euro-
päische Institut für Klima und Energie
(Eike) zu seiner jährlichen Konferenz
eingeladen. Gut 200 Teilnehmer sind nach
München gereist, um zwei Tage lang
zuzuhören, wie Referenten ihre Zweifel
am menschengemachten Klimawandel vor-
tragen.
Demonstranten haben sich angekün-
digt. Das renommierte Umweltinstitut
München hat in einem offenen Brief vor
der Veranstaltung gewarnt, mit der Be-
gründung, Eike »stehe unseren demokra-
tischen Grundrechten entgegen«. Vor Be-
ginn der Konferenz kreisen die Gespräche
der Teilnehmer um das vermeintlich dro-
hende Ende der Meinungsfreiheit und die
Arroganz des angeblich so liberalen gesell-
schaftlichen Mainstreams.
Es sind vor allem ältere Männer, die vor
der Halle auf Einlass warten. Sie heben
den Hut zur Begrüßung, fragen nach dem
Wohlbefinden der werten Gattin, auf vie-
len Namensschildern sind akademische Ti-
tel zu lesen.
Die Referenten sind, bis auf eine Aus-
nahme, Männer, oft Ruheständler, Auto-
didakten, die sich einzelne Aspekte der
Klimadebatte angelesen haben und nun
der Meinung sind, den etablierten For-
schungsstand zum Klimawandel kompe-
tent in Zweifel ziehen zu können. Auch
einige Lobbyisten und Wissenschaftler,
eher Außenseiter ihres Fachs, sind bei der
Konferenz zu sehen.
Viele der Redner haben während ihres
Berufslebens als Ingenieur gearbeitet oder
als Naturwissenschaftler, sie trugen Ver-
antwortung, ihre Meinung hatte Gewicht;
mit ihrem Ruhestand änderte sich das.
Spricht man mit diesen Männern, dann be-
kommt man den Eindruck, dass sie den
48
Reporter
menschengemachten Klimawandel auch
ablehnen, weil diese Ablehnung sie wieder
an Größe gewinnen lässt. Die kritische Hal-
tung verwandelt sie in die Mitglieder einer
vermeintlichen Elite, die das Spiel von For-
schern und Politikern durchschaut.
Gesenkt wird der Altersschnitt der Ver-
anstaltung durch eine Frau, die am zweiten
Tag auf dem Podium steht. Im Programm
ist ihr Auftritt nicht angekündigt. Naomi
Seibt ist schmal und sehr jung, 19 Jahre
alt, ein Teenager noch. Sie trägt, als sie
ans Mikrofon tritt, eine schwarze Leder-
jacke. Die Besucher klatschen höflich, sie
scheinen irritiert zu sein. Naomi Seibts
erster Satz lautet: »Ja, erst einmal ganz
herzlichen Dank, dass ich so ganz uner-
wartet ein paar Worte sagen darf.«
Zu diesem Zeitpunkt ist Naomi Seibt
nicht mehr als eine YouTuberin mit ein
paar Tausend Followern. Sechs Monate
vor der Konferenz hat sie ihr erstes Video
veröffentlicht. Es zeigt den Text eines Ge-
dichts, das sie geschrieben hat, unterlegt
von sanfter Klaviermusik. Naomi Seibt
liest es selbst vor.
Es geht um angeblich unbequeme Wahr-
heiten und leere Staatsversprechen.
Mit dem Gedicht hatte sie einen Wett-
bewerb der AfD gewonnen, das Thema:
Carlo Allegri / REUTERS
Klimaaktivistin Thunberg
Bezweifeln, was
andere für Gewissheiten halten
Mut. Sie veröffentlichte danach weitere
Videos, in denen ihr Publikum sie erstmals
auch sehen konnte.
Naomi Seibt lebte damals noch zu Hau-
se, in einem schmalen Reihenhaus am
Stadtrand von Münster, zusammen mit ih-
rer Mutter und ihrer jüngeren Schwester.
Sie nahm die Videos in ihrem Kinder-
zimmer auf, das iPhone hatte sie auf einen
Stapel Bücher gestellt. Sie kritisierte den
Feminismus, Abtreibungen, die Migrations-
politik, die angebliche Weinerlichkeit von
Lesben und Schwulen und bestritt den
menschengemachten Klimawandel. Beim
Thema Klimawandel, behauptete Seibt,
gebe es ein »Diskussionstabu«. Es gelte,
»das Schweigen zu brechen« und »skep-
tisch« zu bleiben.
Sich mit prominenten Mitgliedern der
Neuen Rechten, der libertären Szene zu
treffen ist für Journalisten meist nicht
besonders schwierig. Die Aktivisten su-
chen die Aufmerksamkeit der Medien, um
sich nach der Veröffentlichung als Opfer
der Presse präsentieren zu können. Wer
sich dem vermeintlichen politischen Geg-
ner stellt, gewinnt in den eigenen Reihen
an Respekt.
Im Fall von Naomi Seibt war es etwas
komplizierter; zu einem Treffen mit dem
SPIEGEL hatte sie anfangs wenig Lust. Ihre
Erfahrungen mit der sogenannten linken
Systempresse, sagte sie am Telefon, seien
eher schlecht. »Ich habe den Eindruck, es
ging nur darum, vorgefertigte Meinungen
zu bestätigen. Ein echtes Gespräch ist nicht
geplant und nicht erwünscht.«
Sie war außerdem empört, dass bento,
ein Onlinemagazin des SPIEGEL-Verlags,
sie in einem Artikel in die Nähe von Beate
Zschäpe gerückt hatte, Mitglied des rechts-
terroristischen NSU. Die Überschrift des
Textes lautete: »Beates Schwestern«. Nao-
mi Seibt hält diesen Vergleich für unak-
zeptabel und unverschämt, sie befürworte
Gewalt in keiner Weise, sagt sie.
Am Ende lässt sie sich auf ein Gespräch
ein. Beim ersten Besuch im Frühjahr dieses
Jahres öffnet sie die Tür und bittet herein:
»Hallo, ich bin Naomi.«
Die Begegnung findet zunächst am Ess-
tisch der Familie statt, mit Blick auf das
schwarze Klavier, auf dem Naomi Seibt
Rachmaninow spielt, und auf eine fast de-
ckenhohe Harfe, deren Kauf Naomi Seibts
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
 Marcus Simaitis / DER SPIEGEL

YouTuberin Seibt »Ich habe keine Geheimnisse, ich bin ein offenes Buch«

49

Naomi Seibt beim »1000-Kreuze-Marsch« 2018 in Münster
»Ich habe ein positives Menschenbild, der Mensch ist prinzipiell gut«
jüngere Schwester in langen Diskussionen
bei ihrer Mutter durchgesetzt hat.
Naomi Seibts Zimmer liegt im ersten
Stock, die Treppe rauf, dann rechts: ein
kleiner Raum, so klein, dass manche ihrer
Zuschauer ihn für ein Badezimmer halten,
was vor allem an den Türen des weißen
Kleiderschranks liegt, die auf den ersten
Blick aussehen, als wären sie gefliest. Die
Wände sind kahl, kein Poster, kein Bild ist
zu sehen, das Zimmer wirkt unpersönlich.
Eigentlich, sagt Karoline Seibt, die Mutter,
wohne Naomi schon nicht mehr in diesem
Haus. Ihr Tagesablauf habe sich abgekop-
pelt vom Rest der Familie, sie nutze nur
noch die Infrastruktur: den gefüllten Kühl-
schrank, das Internet, den Drucker im Büro.
Über Naomi Seibts Schreibtisch hängt
ein Regal, auf das sie Bücher gestellt hat,
die ihr besonders am Herzen liegen. Ganz
vorn steht »Sofies Welt«, das philosophi-
sche Jugendbuch von Jostein Gaarder, sie
hat es im Alter von acht Jahren gelesen. Da-
neben »The Road to Serfdom«, ein Klassi-
ker der politischen Ökonomie, veröffent-
licht 1944. Es widmet sich dem Aufstieg des
Sozialismus. Sein Autor, der neoliberale
Friedrich August von Hayek, beschreibt da-
rin, unter welchen Umständen selbst gut
meinende Menschen eine Demokratie
durch ihren Interventionismus in einen so-
zialistischen, totalitären Staat verwandeln.
Neben Hayek steht ein Buch des deut-
schen Verschwörungsverbreiters Oliver
Janich mit dem Titel »Sicher ohne Staat«.
Naomi Seibt schätzt den Krawall-Autor
sehr, sie hat einen Teil dieses Buchs für
Spotify eingelesen, auf Englisch, unentgelt-
lich, sagt sie, als Freundschaftsdienst.
50
In Janichs Buch gibt es ein Kapitel mit
der Überschrift »Der Schutz von Kin-
dern«, darin heißt es: »Zunächst muss man
festhalten, dass der Missbrauch, die Ver-
gewaltigung und sogar das Töten von Kin-
dern von ganz oben geschützt wird. Dies
lässt sich schon anhand offiziell bekannter
Skandale eindeutig nachweisen.« Im Fall
des belgischen Kindermörders Marc Du-
troux beispielsweise waren Zeugen ver-
storben, die Todesursachen seien nie auf-
geklärt worden. »Hier gehen die Spuren
Wie kann es sein, dass
eine junge Frau
absurde Behauptungen
für Fakten hält?
also ganz offensichtlich ganz nach oben«,
schwadroniert Janich, »denn Brüssel ist
der Sitz des EU-Parlaments.«
Auf diesem Regal, auf rund 30 Zentime-
tern, ist Naomi Seibts wachsende Entfrem-
dung vom deutschen Staat zu besichtigen,
ihre Entfernung von der liberalen Demo-
kratie. Ein Weg vom Zentrum der Gesell-
schaft an ihren Rand, den Naomi Seibt nun
für das Zentrum hält.
Wie kann es sein, dass eine junge Frau,
klug und gebildet, absurde Behauptungen
für Fakten hält? Was ist passiert, dass
sie der Mitte der Gesellschaft abhanden-
gekommen ist?
Zwei Dinge, sagt Naomi Seibt, seien ihr
wichtig: Sie will bezweifeln dürfen, was
andere für Gewissheiten halten. Und sie
will sagen dürfen, was sie denkt, auch
wenn die Mehrheit anderer Meinung ist.
Prinzipiell, sagt sie, spreche sie mit je-
dem, so sei es auch zu erklären, warum
sie in einem Livestream, der mittlerweile
gesperrt wurde, zusammen mit Martin
Sellner zu sehen war, dem Chef der öster-
reichischen Identitären.
Auf dem Podium der Münchner Wap-
penhalle berichtete Naomi Seibt an jenem
Novembertag, dass sie früher selbst zu
den – wie es in der Szene heißt – »Klima-
alarmisten« gehört habe. So lange, bis sie
sich ins Thema eingearbeitet und Quellen
hinterfragt habe. Irgendwann habe sie die
Seiten gewechselt, hin zu den Skeptikern.
Ihr Auftritt war eher Grußwort als
Vortrag, aber er erfüllte seinen Zweck:
Er löste ein Problem, das die Organisato-
ren der Konferenz seit Langem beschäftig-
te. Sie wollten das Rentnerimage der
Zweiflerszene ändern, sie wollten jünger
und damit attraktiver wirken. Es störte
sie, dass sie auf YouTube nicht Millionen
Klicks erreichten, auch nicht Hundert-
tausende, sondern meist nur ein paar
Zehntausend.
Wenn man wissen will, wie Naomi Seibt
auf die Bühne in der Münchner Wappen-
halle kam, muss man Holger Thuß fragen,
den Präsidenten des Eike-Instituts. In den
Wochen vor der Konferenz, sagt Thuß,
habe er mehrere YouTuber kontaktiert.
Die meisten hätten abgelehnt, weil sie kei-
ne Ahnung vom Klimawandel haben.
Am Ende, sagt Thuß, sei Naomi Seibt
die einzige Kandidatin gewesen: jung und
weiblich, sie taugte damit hervorragend
als Gegenspielerin von Greta Thunberg,
der Ikone der Klimaaktivisten. Thuß, 31
Jahre älter als Seibt, war mal stellvertre-
tender Bundesvorsitzender des Rings
Christlich-Demokratischer Studenten, er
ist lange genug im Geschäft, um zu wissen,
dass Provokation Aufmerksamkeit sichert.
»Noch besser wäre es nur gewesen«, sagt
er, »wenn wir nicht nur eine junge, kluge
Frau hätten präsentieren können, sondern
eine junge, kluge Frau, die auch noch
Migrantin ist und behindert.«
Ihren Münchner Auftritt beendete Nao-
mi Seibt mit einem Satz, den sie bei Greta
Thunberg geklaut hatte. Sie richtete ihn
an die Demonstranten vor der Halle:
»How dare you?«
Die fünf Minuten von München waren
der Auftakt zu einer erstaunlichen Karrie-
re. Deutsche Medien berichteten über Nao-
mi Seibt, ausländische ebenfalls, etwa die
»Washington Post«. Die US-Zeitung por-
trätierte sie als »the anti-Greta«, auf dem
Aufmacherfoto blickt sie entschlossen.
Das amerikanische Heartland Institute,
ein Thinktank, der seit Jahrzehnten Zwei-
fel an den Gefahren des Rauchens sät und
auch gegen die Klimapolitik kämpft, er-
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020

kannte damals Seibts Potenzial und nahm
sie unter Vertrag. Im Dezember flog sie
nach Madrid, wo die Heartland-Leute eine
Gegenveranstaltung zur Weltklimakon-
ferenz organisiert hatten. In den USA
trat Naomi Seibt während des wichtigsten
Treffens von Konservativen auf; sie gab
zahlreiche Interviews für konservative
Medien, für Fernsehsender wie Fox News
oder Sky News Australia, sie sprach
nicht länger als jugendliche YouTuberin,
sondern wie eine Expertin in Fragen des
Klimawandels.
Ihre Videos beendete sie nun nicht mehr
mit dem Greta-Satz »How dare you?«,
sondern mit dem Aufruf: »I don’t want
you to panic, I want you to think.«
Die Texte spricht Naomi Seibt, aus dem
westfälischen Münster auf die internatio-
nale Bühne katapultiert, in nahezu akzent-
freiem Englisch. Sie ist wohl intelligenter
als die meisten Menschen, die ihr zuhören.
Mit fünf Jahren wurde Naomi Seibt ein-
geschult. Sie übersprang die erste Klasse
und machte mit 16 Jahren ihr Abitur. Ihr
Abi-Schnitt: 1,0. Naomi Seibt war immer
die Jüngste, die Kleinste, vielleicht die
Schlauste. Eine Zeit lang, sagt sie, sei sie
regelmäßig ins Fitnessstudio gegangen,
weil sie stärker werden wollte.
Geholfen hat es wenig; respektiert wur-
de sie nur für ihren Verstand. Im Unterricht
erkannte sie Zusammenhänge schneller als
ihre Mitschüler, die Lehrer lobten sie dafür.
Empfehlungsschreiben, etwa für die Junior-
akademien des Landes Nordrhein-Westfa-
len oder für die Universität Cambridge, at-
testieren ihr »besonders hohe Lern- und
Denkfähigkeiten, die sich nicht auf einen
bestimmten Fachbereich beschränken«.
Ihr Verstand ermögliche ihr »eine kritisch-
konstruktive Art des Denkens«.
Es ist ein Lob, das bestätigte, dass Nao-
mi Seibt anders war als ihre Mitschüler.
Mit Popmusik, sagt sie, könne sie auch
heute noch nichts anfangen, sie höre und
spiele lieber Rachmaninow. Statt Serien
auf Netflix zu schauen, lese sie lieber Bü-
cher. Manchmal gehe sie ins Kino, etwa
dann, wenn dort eine Liveübertragung des
Hamlet aus dem Globe-Theater in London
zu sehen ist. Shakespeare gehöre zu ihren
Helden.
Naomi Seibt erzählt im Haus ihrer Mut-
ter, sie sei in Münster noch nie zu einer
Party eingeladen worden, bis vor Kurzem
habe sie in der Stadt keine Freunde gehabt.
In ganz Deutschland fallen ihr nur drei
Menschen ein, die sie Freunde nennt, was
auch damit zu tun haben könnte, dass sie
hohe Ansprüche an Freundschaften hat –
Ansprüche, die sie nicht mindern will, nur
um zu gefallen: »Meine Freunde müssen
es schon ertragen können, wenn ich ihnen
die Wahrheit sage.«
Im Alter von 17 Jahren reichte Naomi
Seibt bei einem Wettbewerb der Hayek-
Reporter
Stiftung einen Essay ein, 70 Seiten stark,
auf Englisch geschrieben, weil sie das he-
rausfordernder fand. Der Titel: »A Decon-
struction of Postmodern Socialism and its
Motives«. Im Literaturverzeichnis, das
neun Seiten umfasst, finden sich neben
Hayek auch Werke von Jacques Derrida,
Herbert Marcuse, C. G. Jung, Michel
Foucault, Friedrich Nietzsche. Viele ihrer
Argumente finden sich hier bereits. Dem
Essay vorangestellt ist eine Widmung für
ihre Mutter.
Naomi Seibts Mutter ist Juristin, spezia-
lisiert auf medizinische Streitfälle, allein-
erziehend. Ihren Vater hat Naomi Seibt
nie kennengelernt, sie weiß nicht einmal,
ob er noch lebt, und sie hat auch nicht den
Wunsch, das herauszufinden. Die Mutter
war bei den Gesprächen nur selten anwe-
send, sie ist stolz auf die Selbstständigkeit
ihrer Tochter, stolz auch auf ihre politische
Haltung, die sie mitgeprägt hat.
In Münster ist Karoline Seibt als AfD-
Unterstützerin bekannt. Fragt man sie
nach ihren eigenen politischen Überzeu-
gungen, antwortet sie ausweichend und
verweist auf Videos einer nordamerikani-
schen YouTuberin, Amazing Polly, die zur
extrem gefährlichen QAnon-Bewegung
gezählt werden kann. Amazing Polly ist
unter anderem davon überzeugt, dass Re-
gierungen von Pädophilen unterwandert
wurden.
Naomi Seibt schätzt ihre Mutter: »Sie
hat mich nie in Watte gepackt, auch nicht,
als ich klein war.« Wenn Naomi Seibt,
noch im Vorschulalter, mit einem selbst ge-
malten Bild zu ihrer Mutter gekommen
sei, dann sei immer offen gewesen, wie
das Urteil lauten würde. War Karoline
Seibt beeindruckt, sagte sie: »Das ist dir
aber gut gelungen.« War sie es nicht, lau-
Quelle: YouTube
Quelle: YouTube
YouTube-Auftritte von Seibt
zum Klima und zum Kinderhandel
»I don’t want you to panic,
I want you to think«
tete die Antwort: »Das kannst du besser.«
Naomi Seibt sagt, sie schätze diese Art der
Offenheit. »Es mag manchmal verletzend
gewesen sein, aber ich wusste immer, dass
sie ehrlich zu mir ist.« So verhalte auch
sie sich in ihren wenigen Freundschaften.
Auffällig ist die Offenheit, mit der
Naomi Seibt auf ihrem Kanal oder im Ge-
spräch über ihr privates Leben spricht.
Fragt man sie nach dem Grund für ihre
Offenheit, antwortet sie: »Es ist meine
Art von Sarkasmus. Journalisten wollen
immer Geheimnisse aufdecken, aber ich
habe keine Geheimnisse, ich bin ein offe-
nes Buch.«
Im Gegensatz zu anderen Klimaleug-
nern steht Naomi Seibt mit ihrem Namen
und ihrer Adresse für das ein, woran sie
glaubt; sie hat erfahren, dass dies Konse-
quenzen hat. Unbekannte sorgten ihr
zufolge dafür, dass vor dem Haus ihrer
Mutter ein Bestattungsunternehmer mit
seinem Leichenwagen hielt. Er klingelte,
stellte sich vor und fragte nach der Toten,
die er abholen solle. Die Tochter wurde
wohl auch direkt bedroht, auf einem
Handy der Familie ist ein Anruf aufge-
zeichnet. Mehrere Männer sind zu hören,
sie kündigen an, sie zu finden und »totzu-
ficken«.
Naomi Seibt gehört zur ersten Genera-
tion, die mit dem Internet aufgewachsen
ist. Als Google 1997 online ging, war sie
noch nicht geboren. Facebook wurde ge-
gründet, als sie drei Jahre alt war. YouTube
erschien, als Naomi Seibt eingeschult wur-
de. Sie war zeit ihres Lebens umgeben von
digitalen Medien, in denen jede Behaup-
tung, auch der größte Unsinn, unendlich
oft wiederholt werden kann, in denen Mei-
nungen und Fakten, Wahrheit und Lüge
als gleichwertig erscheinen. Die amerika-
nische Wissenschaftshistorikerin Naomi
Oreskes warnte schon im Jahr 2010 vor
einem »Pluralismus, der Amok läuft«.
Seit wann sich Naomi Seibt für Politik
interessiert?
»Das erste Mal bin ich mit Politik in
Berührung gekommen, da war ich zwölf
Jahre alt. Meine Mutter hat mich gefragt,
ob ich mitkommen möchte zu einer Ver-
anstaltung der CDU hier in Münster. Ein
CDU-Bundestagsabgeordneter sprach, an
das Thema kann ich mich nicht erinnern,
aber ich weiß noch, dass er an einer Stelle
seines Vortrags etwas sagte über die AfD:
Alle hier seien sich einig, die AfD müsse
man eliminieren. Diese Wortwahl hat
mich echt schockiert. Das hat sich mir ein-
gebrannt.«
Dann kam 2015, die Flüchtlingskrise:
»Ich habe mich gefragt, wieso dürfen die
hier alle so einfach herein?«, sagt Seibt,
»wieso gelten die Gesetze auf einmal nicht
mehr? Darüber haben wir dann auch in der
Schule gesprochen, und hier wurde es dann
seltsam. Zuvor wurde uns immer gesagt,
51

Naomi Seibt mit ihrer Mutter Karoline
»Sie hat mich nie in Watte gepackt, auch nicht, als ich klein war«
man wolle uns zu mündigen Bürgern erzie-
hen, wir sollten uns eine eigene Meinung
bilden, aber plötzlich war meine Meinung,
waren meine Fragen nicht akzeptabel.«
Es wäre aufschlussreich gewesen, die
Sicht der Schule, der früheren Lehrer von
Naomi Seibt dazu zu hören, aber weder
die Schulleiterin des Gymnasiums St. Mau-
ritz, das vom Bistum Münster getragen
wird, noch die Lehrer waren zu einem
Treffen bereit.
Naomi Seibt wirkte enttäuscht, als sie
erfuhr, dass sich die Schule nicht zu ihr äu-
ßern wollte. Sie hatte drei Lehrer genannt,
zu denen sie in der Oberstufe ein gutes Ver-
hältnis hatte. Am Urteil dieser Männer war
ihr offenbar noch immer etwas gelegen.
Ihre politische Entwicklung beschreibt
Naomi Seibt als Prozess, der mit der
Flüchtlingskrise begann, mit dem angeb-
lichen Rechtsbruch der Regierung. Bald
darauf habe ihre Mutter ihr den Rat gege-
ben, die Bücher des Ökonomen Friedrich
August von Hayek zu lesen. Naomi Seibt
las sie nicht in ihrem historischen Kontext,
sondern als politische Prophezeiung, als
Schablone zur Deutung der aktuellen Poli-
tik, vor allem der Klimapolitik.
Der Pariser Vertrag, den die Regierun-
gen der Welt 2016 ratifizierten; die Berich-
te des Weltklimarats IPCC; der CO -Preis
²
in Deutschland; der Ausbau der regenera-
tiven Energien: für Naomi Seibt alles Be-
weise, dass Hayek recht hatte mit seiner
Analyse. Die Freiheit des Einzelnen werde
von den Regierenden immer weiter einge-
schränkt, immer neue Gesetze würden er-
lassen. Am Ende, davon redet Naomi
Seibt, werde eine sozialistische Ökodikta-
tur stehen, ein postmoderner Sozialismus,
in dem das Kollektiv alles ist und der Ein-
52
Marcus Simaitis / DER SPIEGEL
zelne nichts. Immer wieder ruft sie deshalb
ihre Follower dazu auf, keine Marionetten
des Systems zu sein.
Es ist eine Fundamentalopposition, die
sich allem Anschein nach nicht aus Hass
oder Wut speist, sondern vor allem aus ju-
gendlichem Idealismus. Sie sei eine Anar-
chokapitalistin, sagt Seibt, sie träume von
einem Deutschland, in dem es irgendwann
keinen Staat mehr gebe, der jemandem et-
was vorschreiben könne. Kein Staat, keine
Gesetze, das ist für sie eine Utopie, keine
Dystopie.
Sie verglich das Sperren
eines YouTube-Kanals
mit dem Verbrennen von
Büchern.
»Aber gilt dann nicht ausschließlich das
Recht des Stärkeren?«
»Das glaube ich nicht. Ich habe ein posi-
tives Menschenbild, der Mensch ist prin-
zipiell gut. Gibt es keine Steuern, keine
Vorschriften und Gesetze mehr, würden
sich die Starken aus eigenem Antrieb um
die Schwachen kümmern.«
Diese Form von Idealismus führte mög-
licherweise auch dazu, dass sie den Vertrag
mit dem Heartland Institute auslaufen ließ,
obwohl sie ihn hätte verlängern können.
Er garantierte ihr 3500 US-Dollar monat-
lich plus Mehrwertsteuer und die Erstat-
tung der Reisespesen. Naomi Seibts Auf-
gabe war es, Videos zu produzieren, Reden
zu halten zu den Themen, die ihr relevant
erscheinen. An Vorgaben sei sie nicht ge-
bunden, steht im Vertrag, allerdings habe
sie die Wünsche des Heartland Institute
zu bedenken. Am Ende jedes Monats
sollte sie eine Rechnung für ihre Videos,
Reden, Interviews einreichen. Spätestens
sieben Tage später sei dann das Honorar
auf ihrem Konto.
Naomi Seibt hätte das Geld gut gebrau-
chen können. Ihr Abitur hat sie vor drei
Jahren gemacht, ein Volkswirtschafts-
studium in Mannheim nach wenigen Mo-
naten abgebrochen. Im Moment plant
sie eine Karriere als professionelle You-
Tuberin, sie hoffe, sagt sie, ein politisches
Institut gründen zu können. Ihre Live-
streams macht sie auch, um an Spenden-
geld zu kommen. Vom Heartland Institute
habe sie sich getrennt, sagt sie, weil die
Arbeit für eine Lobbyorganisation der
Öl- und Gasindustrie ihre Glaubwürdig-
keit, ihr vehementes Plädoyer für maxi-
male Freiheit und unbeschränkten Indivi-
dualismus beschädige.
Tatsächlich werden ihre Plädoyers im-
mer vehementer. In einem ihrer jüngsten
Videos kämpfte sie mit den Tränen, weil
einem ihrer Idole, dem Kanadier Stefan
Molyneux, der YouTube-Kanal gesperrt
worden war, weil er ein Rassist ist. Moly-
neux ist ein Videoblogger mit zuletzt rund
900 000 Abonnenten. Als Naomi Seibt
davon erfuhr, stellte sie sich in ihrem Zim-
mer vor die Kamera ihres Handys und ver-
glich das Sperren seines Kanals mit dem
Verbrennen von Büchern.
Möglicherweise war ihre Reaktion so
heftig, weil sie es für möglich hält, dass
auch ihr YouTube-Kanal irgendwann ge-
sperrt wird. Zurzeit verlangt die Landes-
medienanstalt Nordrhein-Westfalen, dass
zwei ihrer Videos gelöscht werden, es geht
um Verstöße gegen Werberichtlinien. Nao-
mi Seibt hat Einspruch erhoben und be-
reitet sich auf den Prozess vor.
In einem Livestream Ende Juni sagte
sie, sie halte es für möglich, dass Planned
Parenthood, eine US-Organisation ver-
gleichbar mit Pro Familia, Handel treibe
mit den Körperteilen abgetriebener Föten.
Auch ist Naomi Seibt davon überzeugt,
dass das Onlinekaufhaus Wayfair auf sei-
ner Website nicht nur Möbel anbietet, son-
dern in Wahrheit Kinder. Und als einer ih-
rer Follower sie fragte, ob sie es für mög-
lich halte, dass das Universum nur ein
gigantisches Hologramm sei, antwortete
sie, das bezweifle sie zwar, werde es aber
überprüfen.
Inzwischen, sagt Naomi Seibt, denke
sie darüber nach, Deutschland zu verlas-
sen. Sie wurde vor 20 Jahren hier geboren,
aber bis heute scheint ihr das Land nicht
zu einer Heimat geworden zu sein.
Wohin sie gehen würde? Ein mögliches
Ziel, sagt sie, seien die USA. Vorausgesetzt,
Trump gewinne die Wahl.
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
 Reporter

Weißes
ein tschechischer Journalist, ein kommunistischer Propagandist,
der von dem NS-Richter Roland Freisler zum Tode verurteilt
und in Plötzensee hingerichtet worden war. Fučík wurde für

Rauschen
seine »Reportage unter dem Strang geschrieben« berühmt.
Das Ferienheim gibt es heute nicht mehr. Dafür hat jetzt Kai
Diekmann ein Haus auf Usedom, wie ich der Lokalpresse ent-
nahm. Der war auch mal Journalist, ein anderer allerdings.
Leitkultur Alexander Osang über Unser Ferienapartment befand sich an der Strandprome-
nade. Wir stellten die Koffer ab und gingen zum Meer. Es
Heimaturlaub war ein kalter Abend. Aber da wir schon mal da waren, spran-
gen wir gleich ins Wasser. Ich kopfüber. Die Ostsee war deut-
lich kühler als das Mittelmeer, in dem ich die vergangenen

E igentlich wäre ich jetzt in New York. September ist der

schönste New-York-Monat, finde ich. Die Luft ist um diese
Zeit oft, wie sie dort sagen, crisp. Knackig. Es ist die Zeit,
in der die US Open im Tennis stattfinden. Man kann sich mit
Jahre gebadet hatte. Wir schwammen ein bisschen, dann gin-
gen wir über die Strandpromenade zurück. Im Treppenhaus
zu unserer Wohnung verlor ich jedes Zeitgefühl. Alles war
weg. Nicht nur die Sommer in Israel oder der September in
einem Ticket, das eigentlich für einen anderen Platz ist, ins Ar- New York. Alles. Ich wollte meiner Frau, die mit mir die
thur Ashe Stadium schleichen, wo die Stars spielen. Vergangenes Treppe hinaufstieg, etwas sagen, aber ich wusste nicht, was.
Jahr hatte ich mit meiner Frau Tickets für ein Damendoppel, Es war totale Leere in meinem Kopf. Die drohende Hyper-
und als das vorbei war, gingen wir in die größte Arena, in der inflation, Olaf Scholz, Christian Drosten und Donald Trump,
Stan Wawrinka gegen Daniil Schwester Lauriana aus mei-
Medwedew spielte, und setzten nem katholischen Kindergar-
uns auf frei gebliebene Plätze. ten und Jennifer Grey aus
Es gibt auch in gesunden Zeiten »Dirty Dancing«: weg. Es dau-
fast immer freie Plätze hier. Der erte etwa eine Minute, viel-
New Yorker möchte fünf, sechs leicht zwei.
Sachen gleichzeitig machen, Irgendwann sagte meine
viele haben das Geld dafür. Frau: Wat issn?
Stan Wawrinka ist mein Ich versuchte, die Leere zu
Lieblingsspieler. Er sieht aus beschreiben. Das weiße Rau-
wie ein Bauernsohn und be- schen. Meine Frau sah mich
wegt sich wie ein Tänzer. Man besorgt an, aber ich fand für
nennt ihn zu Recht: Stan, the die Symptome im Internet
man. Er verlor, aber der Him- eine Erklärung, die beruhi-
mel war hoch und blau, wir gend klang. Das Phänomen
fuhren mit der Subway über heißt »amnesia by the sea-
Alexander Osang / DER SPIEGEL

den Dächern von Queens nach side«. Es passiert manchmal,

Hause. Damals, im vergange-
nen September, fassten wir
den Plan, jedes Jahr um diese
Zeit nach New York zu reisen.
Den Rest kennen Sie.
Ich muss nun selbst Tennis »Casablanca« in der Ostsee
spielen. Ein Wettkampf, bei
dem man von seinem Gegner
durch ein Netz getrennt ist, wie gemacht für Corona. Am Wo-
chenende spiele ich mit meiner Frau oft ein Doppel gegen ein
befreundetes Ehepaar im südlichen Brandenburg. Die beiden
besitzen ein Ferienapartment auf Usedom. Im späten Frühjahr,
als nicht klar war, ob man Mecklenburg-Vorpommern wieder
betreten darf, hatten sie plötzlich freie Kapazitäten, und wir
reservierten ihre Ferienwohnung für eine Woche. Im Sommer
fuhren wir dann in den Norden.
Ich war ewig nicht auf Usedom, dabei war es die erste
Insel meines Lebens. Die katholische Kirche betrieb ein
Kinderkurheim in Zinnowitz, da schickten mich meine Eltern
hin, als ich fünf Jahre alt war. Es gab einen Bettensaal, in
dem man morgens aufwachte wie im Himmel. Wir lagen auf
eisernen Bettgestellen, zwischen denen Nonnen patrouillier-
ten. Hinter den hohen Fenstern das frühe, kalte Licht des
Nordostens. Ich träume heute noch davon.
Jahre später verbrachte ich zwei Wochen im FDGB-Ferien-
heim des Berliner Verlages in Ahlbeck. Es war der letzte Som-
mer der DDR. Mein Schwager floh über Ungarn in den Westen,
meine Schwester stellte einen Ausreiseantrag, im Kino lief »Dir-
ty Dancing«. Wir sprangen noch einmal nackt in das einzige
Meer, das wir hatten. Das Ferienheim hieß Julius Fučík, wie
wenn man in kaltes Wasser
springt. Vergessen am Strand.
Einen schöneren Name für ei-
nen solchen Aussetzer gibt es
nicht. Klingt wie ein Urlaubs-
motto. Südsee? Ach was!
Kommen Sie nach Usedom,
und vergessen Sie alles.
Es dauerte wie gesagt nur ein, zwei Minuten. Später ging
alles wieder von vorn los. Trump holte auf, Spanien wurde
wieder zum Risikogebiet erklärt, Lionel Messi blieb in Bar-
celona, Maybrit Illner kam aus der Sommerpause zurück
und brachte einen der TV-Virologen mit sowie Ute Teichert
vom Gesundheitsdienst, die öfter im deutschen Fernsehen
zu sehen ist als Jan Hofer.
Wir saßen auf der Terrasse des Apartments und sahen in
den Strom der Ostseeurlauber auf der Strandpromenade.
Er war dicht und endlos. Viele fuhren Rad. Die Menschen
trugen praktische Wetterbekleidung, an der man deutsche
Urlauber gut erkennt. Meine Tochter stellte die Theorie auf,
dass die Menschen sich im Kreis um unser Haus bewegten.
Vorstellbar. Urlaub wie in der »Truman Show«: Wer zu weit
aufs Meer schwimmt, stößt auf eine Leinwand oder eine
Grenzstreife. Am zweiten Abend gingen wir ins Kino. Die
Leinwand stand im Meer. Es lief »Casablanca«. Man kann
den Film immer wieder neu sehen. Er spielt im Faschismus,
aber er stimmt auch heute. Rick sagt den besten Satz zum
Fernweh in der Coronakrise: »We’ll always have Paris.«
Uns bleibt immer Paris.
Vier Tage später zeigten sie dann »Dirty Dancing«. I

53
Wirtschaft
Guttenberg 2018

Rolf Vennenbernd / dpa

Guttenberg
lobbyierte in China
Wirecard-Skandal Ex-Verteidigungsminister
arrangierte Treffen von Managern in der Botschaft
 Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg setzte
sich als Lobbyist früher für den Finanzkonzern Wirecard ein als
bislang bekannt. Schon ein Jahr bevor sich Guttenberg an Bun-
deskanzlerin Angela Merkel wandte, kontaktierte ein hoher Ver-
treter seiner Firma Spitzberg Partners den deutschen Botschafter
in Peking, um ein Treffen mit Wirecard-Managern zu arrangie-
ren. Das geht aus E-Mails hervor, die die Bundesregierung auf
Antrag der Transparenzinitiative Abgeordnetenwatch freigeben
musste und die dem SPIEGEL vorliegen. Danach half die deut-
sche Botschaft dem inzwischen insolventen Finanzdienstleister,
um bei Behörden in Peking eine Genehmigung für die Übernah-
me des chinesischen Zahlungsabwicklers AllScore Payments zu
bekommen. Im Sommer 2018 schickte Guttenbergs Firma eine
E-Mail an den Botschafter. Am 29. Oktober 2018 trafen sich zwei
Wirecard-Manager mit Diplomaten der deutschen Vertretung
in Peking. Laut internen Unterlagen ging es darum, wie Wirecard
in China »seine Finanzdienstleistungen für deutsche Firmen«
besser aufstellen könne. Am 23. Januar 2019 kam es erneut zu
einem Treffen in der Botschaft. Die Diplomaten fuhren ihre Hilfe
aber im November 2019 zurück, weil immer mehr Berichte über
Bilanzmanipulationen bei Wirecard bekannt wurden. »Solange
die Vorwürfe nicht vorbehaltlos aufgeklärt worden sind, schlage
ich vor, den Genehmigungsprozess nur auf Arbeitsebene voran-
zutreiben«, schrieb ein Diplomat an den Botschafter. Das Aus-
wärtige Amt erklärte, man habe Wirecard über das »finanz- und
wirtschaftspolitische Umfeld im Gastland« beraten. »Der Kon-
takt der deutschen Botschaft mit den chinesischen Stellen ging
nicht über einen Informationsaustausch hinaus.« GT, MGB, SVE

Kraftstoffe
Abstand zwischen
Benzin und Diesel
wieder größer
 Die Preisdifferenz zwischen
Benzin und Diesel ist in fünf
Monaten um rund zehn Cent
gewachsen. Noch Mitte April
war Kraftstoff der Sorte Super
E10 im Schnitt nur acht Cent
teurer als Diesel. Inzwischen
hat sich die Spanne laut
Zahlen des Portals Clever-
tanken.de auf 18 Cent vergrö-
ßert. Einige Tankstellen bieten
den Liter Diesel in diesen
Tagen zu manchen Tageszei-
ten schon für weniger als einen
Euro an. Damit nähert sich der
Abstand dem üblichen Wert
von 18 Cent, der sich aus der
unterschiedlichen Besteuerung
ergibt; bei Benzin schlägt der
Staat 65 Cent Energiesteuer
pro Liter auf, bei Diesel sind es
nur 47 Cent. Die geringe Preis-
differenz Mitte April erklärt
der Mineralölwirtschafts-
verband damit, dass im Lock-
down der private und der
Pendlerverkehr deutlich stär-
ker zurückgingen als der
Warentransport. Dadurch
brach die Nachfrage nach Ben-
zin ein. Der Benzinpreis sank,
weit mehr als der Preis für
Diesel. Laster und Transporter,
etwa von Speditionen oder
Versandhändlern, fuhren auch
während der Pandemie. Sie
machen ungefähr die Hälfte
des Dieselbedarfs aus. AJU

54 DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020

Datenschutz
Aufseher uneins
über Microsoft
 Die deutschen Datenschüt-
zer streiten darüber, ob sich
das Programmpaket Microsoft
Office 365 regelkonform in
Verwaltung und öffentlichen
Einrichtungen einsetzen lässt.
Eine Arbeitsgruppe der
Datenschutzkonferenz (DSK),
in der die Behörden von Bund
und Ländern zusammenarbei-
ten, kam nach Sichtung von
Verträgen und Unterlagen zu
dem Schluss, dass »kein daten-
schutzgerechter Einsatz von
Freizeit
Deutsche
vermissen Freunde
und Familie
 Nach Monaten der Corona-
Einschränkungen sehnen sich
die Deutschen nach Freizeit
mit Freunden und Familie.
Das geht aus der repräsentati-
ven Studie »Freizeit-Monitor
2020« hervor, die die Stiftung
für Zukunftsfragen demnächst
veröffentlicht. 2000 Men-
schen wurden im August
befragt, welchen Aktivitäten
sie gern häufiger nachgehen
würden. 71 Prozent gaben an,
sich gern wieder öfter mit
Freunden treffen zu wollen,
sowohl zu Hause als auch im
Freien. Zwei Drittel wün-
schen sich, Familienmitglieder
häufiger zu sehen. Senioren
und Ruheständler leiden
besonders unter der Isolation,
Autokino in Dortmund
Kelber
MS Office 365 möglich« sei.
Vor allem die Bayerischen Lan- landzentrale von Microsoft
desdatenschützer stellten sich ist in München. Schon im vori-
jedoch quer und trugen den
Entwurf nicht mit. Die Formu- im Auftrag des Bundesinnen-
lierung sei »rechtlich frag-
würdig«, schrieben sie in einer 96 Prozent aller Bundesbehör-
sie wünschen sich, wieder
häufiger auswärts zu essen
oder eingeladen zu werden.
78 Prozent der jungen
Erwachsenen gaben an, mehr
für ihre Gesundheit tun zu
wollen. »Viele Bürger sehnen
sich zurück nach mehr Wahl-
möglichkeiten in der Freizeit«,
sagt Studienleiter Ulrich Rein-
hardt. In der Corona-Zeit
konnten sich die Deutschen
mindestens einmal im Monat
für Autokinos und -konzerte
(5 Prozent), Heimwerken
(39 Prozent) oder das Strea-
men von Serien und Filmen
(58 Prozent) begeistern. Ins-
gesamt scheinen die Interes-
sen der Deutschen breiter
gefächert als noch vor einigen
Jahren. Wurden 2015 von
der Mehrheit der Befragten
gerade mal zwölf unterschied-
liche Aktivitäten genannt,
die sie gern häufiger ausüben
würden, sind es aktuell 32. RAI
Rundmail im August, in der sie
ihre Ablehnung ankündigten.
Der Beschluss würde die
»naheliegende Frage nach kon-
kreten Maßnahmen zur Aus-
SZ photo / picture alliance
setzung von MS 365 aufwer-
fen«, heißt es da. Auch sei man
gegen eine Veröffentlichung
des Papiers. Sollte die Mehr-
heit dies anders sehen, wün-
sche Bayern »eine ausdrückli-
che Kennzeichnung seiner
Gegenstimme«. Die Deutsch-
gen Herbst hatte eine Studie
ministeriums ergeben, dass
Lufthansa
Schneller Ausstieg
aus der Kabine
 Langjährige Lufthansa-
Flugbegleiter sollen ihren
Arbeitsplatz freiwillig räu-
men, um Jobs jüngerer Kolle-
gen zu sichern. Das sieht ein
Angebot der Personalabtei-
lung des Konzerns an rund
2000 ältere Kabinenkräfte
vor, das noch bis Ende Okto-
ber läuft. Danach können
Mitarbeiter ab dem 55. Lebens-
jahr vorzeitig in die betrieb-
Rupert Oberhäuser / imago images
liche Altersversorgung wech-
seln. Bis zum frühestmögli-
chen Eintritt in den regulären
Ruhestand erhalten die Aus-
steiger rund die Hälfte ihrer
letzten Bezüge, in Einzel-
fällen auch mehr. Ein Kabi-
den das MS-Office-Paket ver-
wenden und »dringender
Handlungsbedarf« bestehe –
wegen der »starken Abhängig-
keiten« und »(datenschutz-)
rechtlicher Unsicherheiten«.
Der Bundesdatenschutzbeauf-
tragte Ulrich Kelber bestätigt
auf Anfrage, es gebe zu dem
Thema »weiteren Gesprächs-
bedarf«, sowohl intern als auch
mit dem Microsoft-Konzern,
mit dem die DSK »seit Länge-
rem im Dialog« sei. Ziel sei es,
möglichst bald eine abschlie-
ßende Bewertung abzugeben.
»Dabei ist mir wichtig, dass
wir als Aufsichtsbehörden ein-
heitlich agieren.« ROM
Ulrich Baumgarten / dpa
nenchef mit 6000 Euro
Bruttogehalt käme auf etwa
3000 Euro pro Monat, bevor
vom 63. Lebensjahr an auch
die gesetzliche Altersrente
mit Abschlägen greift. Außer-
dem zahlt das Unternehmen
die durch das vorzeitige
Ausscheiden entgangenen
Betriebsrentenzuschüsse voll-
ständig aus. Mit dem Pro-
gramm will der Konzern
einen Großteil des durch die
Coronakrise verursachten
Personalüberhangs in der
Kabine abbauen. Insgesamt
sollen knapp 3000 der ins-
gesamt 21 000 Flugbegleiter-
stellen abgebaut werden.
Den jüngeren unter ihnen
will die Konzernführung den
freiwilligen Ausstieg mit
Einmalzahlungen schmack-
haft machen. DD
55
 Krisztian Bocs / Bloomberg / Getty images
Plexiglasmodell mit ZF-Komponenten auf der IAA 2019

Airbags für Elon

Autoindustrie Die Pandemie setzt Deutschlands Zulieferern schwer zu. Vielen Firmen droht
das Aus, Tausende Jobs sind in Gefahr. Doch für einige, die sich früh auf das Ende
des Verbrenners eingelassen haben, ist die Krise auch eine Chance – für ZF Friedrichshafen etwa.

I
m Regal von Wolf-Henning Scheider
steht ein Buch, das mit einem Wort
beschreibt, worum es gerade geht,
für ihn, sein Unternehmen, ja für die
ganze deutsche Autoindustrie: »Titelver-
teidiger« heißt das Werk. »Wie die deut-
sche Industrie ihre Spitzenposition auch
im digitalen Zeitalter sichert«.
Alte Größe soll zu neuer werden, das
ist Scheiders Anspruch. Schließlich hat ZF
Friedrichshafen, Deutschlands drittgrößter
Autozulieferer nach Bosch und Continen-
tal, in seiner Geschichte schon einmal ge-
zeigt, wie man das macht: Innovation, Dis-
ruption, Neuanfang.
ZF steht für Zahnradfabrik. Das Unter-
nehmen am Bodensee, gegründet 1915 und
bis heute im Besitz einer städtischen Stif-
tung, lieferte anfangs vor allem Getriebe
für Zeppeline, die ja auch mal als Zukunfts-
technologie galten. Doch der Boom der
Luftschiffe währte nur kurz. ZF musste
sich quasi über Nacht einen neuen Schwer-
punkt suchen, sich auf einem anderen
Markt beweisen, der Autoindustrie. Mehr
als 80 Jahre ist das her.
Scheider, seit Anfang 2018 Chef von ZF
Friedrichshafen und Herr über 36 Milliar-
den Euro Umsatz, ist ein unaufgeregter
Mann. Eher kühler Analytiker als Heiß-
sporn. Mehr Technikfreak als Verkäufer.
Aber in der aktuellen Lage wählt auch er
drastische Worte. Die Krise sei »dramati-
scher als alles, was unsere Generation bis-
her erlebt hat«, sagt er.
Corona hat sein Unternehmen voll er-
wischt. Etwa 40 000 der 50 000 Mitarbei-
ter in Deutschland sind noch immer in
Kurzarbeit. Im ersten Halbjahr schrieb der
Zulieferer tiefrote Zahlen, der Umsatz
brach um mehr als ein Viertel ein. Bis zu
15 000 Stellen sollen nun weichen, unge-
fähr die Hälfte davon in Deutschland.
Scheider befürchtet, dass der Abschwung
noch jahrelang andauern könnte. Vor 2024
habe die Branche keine Chance, das Vor-
krisenniveau zu erreichen.
Die deutsche Autoindustrie, an der rund
zwei Millionen Arbeitsplätze hängen, ist
zum Sorgenkind der Politik geworden.
Schon im Herbst, so die Befürchtung,
droht vielen kleinen und mittelgroßen Zu-
lieferern das Aus, dann sind Tausende Jobs
in Gefahr. Anders als den Herstellern VW,
BMW und Daimler fehlt vielen Zulieferern
das Polster, um eine Dauerkrise durchzu-
stehen. Ihr Investitionsbedarf und ihre
Schulden explodieren, gleichzeitig sinkt
die Kreditwürdigkeit.
Selbst bei den größten der Branche rei-
ßen die Hiobsbotschaften nicht ab. Conti-
Chef Elmar Degenhart spricht von der
größten »Marktkrise seit 1930«. Für viele

56

gehe es »jetzt ums nackte Überleben«. De-
genhart hat sein Sparziel auf eine Milliarde
Euro pro Jahr verdoppelt, um den Ein-
bruch zu verkraften. 30 000 Conti-Jobs
stehen zur Disposition. Bei Schaeffler wer-
den bis Jahresende weitere 4400 Arbeits-
plätze gestrichen.
Alles in allem, prognostizieren die For-
scher des Instituts der deutschen Wirt-
schaft Köln (IW), könnte in der Autobran-
che eine sechsstellige Zahl an Jobs ver-
loren gehen. Daimler-Chef Ola Källenius
warnt, noch herrsche »Ruhe vor dem
Sturm«. Die Politik müsse prüfen, ob sie
Not leidende Zulieferer mit der nötigen
Liquidität versorgt.
Doch die Bundesregierung ist unschlüs-
sig, wie sie helfen kann und soll. Die ganze
Ratlosigkeit offenbarte sich beim Autogip-
fel im Kanzleramt in dieser Woche. Ver-
kehrsminister Andreas Scheuer (CSU) will
eine Prämie, mit der auch »moderne Ver-
brenner« gefördert werden sollen. Die
SPD mag nur noch Technologie unterstüt-
zen, die vom Verbrenner lässt. Die Forde-
rungen der IG Metall und des Verbandes
der Automobilindustrie (VDA) nach ei-
nem Transformations- oder Hilfsfonds
für die Not leidenden Zulieferer, entweder
mit oder ohne Staatsbeteiligung, wurde
von der Politik kaum ernsthaft diskutiert.
Ein Arbeitskreis soll nun bis November
neue Ideen aushecken. Und über alldem
schwebt die Hoffnung, dass sich Deutsch-
land – wenn es schon die Elektromobilität
verschlafen hat – wenigstens beim auto-
nomen und vernetzten Fahren an die
Spitze setzen kann.
Corona hat nur verschärft, was der
Branche seit Langem zusetzt: der Ab-
schied vom Verbrenner, mit dem die Deut-
schen über Jahrzehnte den Weltmarkt
dominierten. Eingeläutet hat ihn die Poli-
tik, die die E-Mobilität seit Jahren mit
Kaufprämien fördert. In der Pandemie
haben viele Kunden zudem gemerkt, dass
sie kein Auto mehr brauchen, weil sie
mehr von zu Hause arbeiten. Etliche kön-
nen sich aufgrund wirtschaftlicher Not
kein neues leisten. »Corona wird uns in
eine andere Welt katapultieren«, sagt
ZF-Chef Scheider, »in der ganz neue
Mobilitätsformen gefragt sind.«
Wie aber kann der Wandel gelingen,
wie lässt sich der Absturz verhindern?
Scheider hat seine Antwort gefunden: Die
Autobranche muss die Krise zum konse-
quenten Umbau nutzen, auch wenn das
schmerzhaft ist. ZF, so hofft er, hat dabei
nicht einmal schlechte Karten.
Bislang hat die Pandemie vor allem Zu-
lieferer in die Knie gezwungen, die wenig
beizutragen haben zum elektrifizierten,
voll vernetzten Fahrzeug der Zukunft. Be-
triebe wie der Anlagenbauer Eisenmann
oder der Spritzgusstechniker WK mussten
Insolvenz anmelden. Dutzende weitere,
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
Wirtschaft
die noch voll am Verbrenner hängen, dürf-
ten in den nächsten Monaten folgen. Wer
dagegen schon vor Corona auf elektrische
Antriebe und Digitalisierung gesetzt hat,
bekommt jetzt die Chance, von der Schwä-
che der Wettbewerber zu profitieren.
Auch ZF stünde heute weit schlechter
da, hätte das Unternehmen nicht 2014 eine
weitsichtige Entscheidung getroffen. Für
9,5 Milliarden Euro kauften die Friedrichs-
hafener damals den US-Zulieferer TRW,
einen Spezialisten für Sicherheitstechnik
und autonomes Fahren. Ein riskanter Mega-
deal, der aus der schwäbischen Getriebe-
schmiede über Nacht einen globalen Tech-
nologiekonzern formte.
Hinter der Akquisition stand Scheiders
Vorgänger Stefan Sommer, Ingenieur und
Experte für künstliche Intelligenz. Er hat-
te die Friedrichshafener zuvor mit einer
unbequemen Wahrheit konfrontiert: Wür-
de ZF einfach weitermachen wie die ein-
hundert Jahre zuvor, könnte das Kern-
geschäft in wenigen Jahren überflüssig
werden. In TRW sah Sommer die Firma,
die hatte, was den Deutschen fehlte: Zu-
Schrumpfkur
Angekündigter Stellenabbau bei den größten
Automobilzulieferern aus Deutschland
Continental
30000*
bis 2025,
davon rund 13 000
in Deutschland
* inklusive Verlagerung
und Veränderung
ZF Friedrichshafen
12000 bis 15 000
bis 2025,
etwa die Hälfte davon
in Deutschland
Schaeffler
4400
bis Ende 2022
Mahle
2500
in 2019 Bosch
1850
kunftstechnologien – etwa Bremstechnik,
Airbagsysteme und Sensoren für das
autonome Fahren.
Die schwäbisch-amerikanische Fusion
taugt – anders als einst Daimlers vergurk-
te Chrysler-Übernahme – zum Lehrbei-
spiel für Businessschulen. Das Erfolgs-
geheimnis bestand darin, dass Sommer
seinem Unternehmen keinen Kulturbruch
zumutete, sondern beide Seiten behutsam
annäherte.
Er ließ TRW-Manager aus den USA
einfliegen und sie in Deutschland mit
Traktoren über den Acker tuckern. Die
Pkw-orientierten Amerikaner sollten ler-
nen, wie wichtig Nutzfahrzeuge für das
Geschäft der Friedrichshafener sind. Die
deutschen Ingenieure wiederum erfuhren
von den US-Managern, wie man mithilfe
von TRW-Technik Trecker oder Mäh-
drescher autonom über die Felder fahren
lassen kann.
Die Übernahme rüttelte das Unter-
nehmen mächtig durch. Zulieferer, sagt
Scheider, müssten heute »wie Hightech-
firmen agieren«. Das hohe Tempo, die
ständige Marktveränderung erforderten
auch bei ZF einen »Kulturwandel im gan-
zen Management«. Beschlüsse für oder
gegen eine neue Technologie sollen nicht
mehr allein im Vorstand getroffen werden,
um Zeit zu sparen.
ZF ist heute schon da, wo große Teile
der deutschen Autoindustrie erst hinmüs-
sen. Zwar erzielt das Unternehmen nach
wie vor hohe Profite mit Produkten, die
im Zeitalter des E-Autos immer weniger
gebraucht werden. Kupplungen etwa oder
klassische Getriebe. Doch seine Abhängig-
keit vom Verbrennungsmotor hat der Kon-
zern stark reduziert. Zuletzt lag der Um-
satzanteil im Pkw-Bereich nur noch bei
20 Prozent.
Stattdessen boomen digital vernetzte
Airbag- und Bremssysteme, Kameras, Ra-
darsysteme und Hochleistungscomputer.
Verändert hat sich auch der Kunden-
stamm. BMW, Daimler und VW sind wei-
ter dabei, neu dazugekommen sind chine-
sische Hersteller wie Nio, die ihre Autos
als rollende Smartphones begreifen. Selbst
der Elektronikkonzern Sony setzte auf ZF-
Technik, als er auf der US-Technikmesse
CES zu Jahresbeginn mit einem eigenen
Elektroauto überraschte.
Die Ansprüche an die Zulieferer ändern
sich gerade radikal. Bloß Bestelllisten der
Autokonzerne abzuarbeiten reiche nicht
mehr, sagt Scheider. Stattdessen muss sein
Konzern selbst strategische Risiken einge-
hen und Milliarden auf Trends setzen, von
denen heute niemand definitiv sagen kann,
ob sie tatsächlich kommen. So wie das
autonome Fahren.
Scheider glaubt nicht daran, dass Pkw
in absehbarer Zeit vollautonom über
Deutschlands Straßen düsen. Die Roboter-
57

ZF-Chef Scheider: Bloß Bestelllisten der Autokonzerne abzuarbeiten reicht nicht mehr
technik sei schlicht zu teuer, kaum ein Pri-
vatnutzer sei bereit, dafür Tausende Euro
Aufpreis zu bezahlen.
Für wahrscheinlicher hält er, dass öffent-
liche Roboshuttles die Städte erobern. Die
Pandemie schrecke viele Großstädter ab,
überfüllte Busse und Bahnen zu benutzen,
so die These seiner Ingenieure. Stiegen alle
Fahrgäste aufs Auto um, würde der Ver-
kehr jedoch kollabieren. Roboshuttles, die
in kurzen Takten unterwegs sind, wären
eine Alternative.
ZF testet sie bereits am Brüsseler Flug-
hafen, derzeit noch auf eigenen Fahrspu-
ren. Ab nächstem Jahr, so der Plan, sollen
die Roboshuttles auch am gemischten Ver-
kehr in der EU-Hauptstadt teilnehmen.
»Wenn das Konzept wie erwartet funktio-
niert«, sagt Scheider, »dann werden wir
es sehr schnell weltweit ausrollen.«
Projekte wie das Roboshuttle verschlin-
gen viel Geld. Die Zulieferer stellt das vor
ein Dilemma. Denn die notwendigen Pro-
fite stammen aus jenem Altgeschäft, von
dem sie sich künftig lösen wollen.
ZF setzt deshalb auf eine Brückentechno-
logie, die noch ein Weile Gewinne und Jobs
sichern soll: den Hybridantrieb. Bei Kunden
wie VW wird der zwar als »elektrische
Schreibmaschine« verspottet, die spätestens
in ein paar Jahren vom E-Motor abgelöst
wird. Scheider hingegen hofft, dass er seine
Hybridantriebe noch zwei Jahrzehnte lang
verkaufen kann. Nicht in Europa, wo die
Abgasregeln immer strenger werden, aber
in Amerika und Asien. Etwa 2040, prognos-
tizieren seine Manager, werde die Ära des
Verbrenners dann endgültig auslaufen.
Selbst wenn der sanfte Übergang ge-
lingt, wird er viele Arbeitsplätze kosten.
Auch bei ZF. Traditionsreichen Werken
wie Friedrichshafen, Saarbrücken und
Schweinfurt steht ein harter Umbau bevor.
58
und Datenspeicher bereitstellen könnte,
gibt es nicht. »Wir sind auf Partner in den
USA oder China angewiesen, und diese
Abhängigkeit ist riskant«, warnt Scheider.
ZF nutzt die Großrechner von Microsoft
und Amazon. Doch was, wenn der Han-
delskonflikt zwischen den USA und China
eskaliert? Womöglich dürfte ZF dann für
Projekte in China nicht mehr mit US-Fir-
men kooperieren – und umgekehrt. »Um
uns dem drohenden Technologieprotek-
tionismus zu entziehen«, sagt Scheider,
»müssten wir Europäer dringend eine ei-
gene Infrastruktur aufbauen.«
Felix Kästle / picture alliance / dpa
Für ein solches Megaprojekt brauchte
es Hilfe der Politik – und ein von der Bun-
desregierung unterstütztes Konsortium
der deutschen Industrie. Erste Versuche
von Bosch, ZF und dem Softwarekonzern
SAP gibt es bereits, allerdings sind die Part-
ner noch weit davon entfernt, eine kon-
kurrenzfähige Cloud anzubieten.
Mehr Unabhängigkeit von ausländi-
schen IT-Riesen wäre allein deshalb sinn-
Den ZF-Chef treibt die Sorge, dass voll, weil auch die stärksten Konkurrenten
Deutschlands wichtigste Industrie schon um die Autos der Zukunft aus den USA
bald von Amerikanern und Chinesen ab- und China kommen. Es gibt sogar Hinwei-
gehängt werden könnte – und mit ihr se darauf, dass Apple sein iCar-Projekt
der gesamte Technologiestandort Europa. wieder aufleben lässt.
»Die deutsche Autoindustrie ist wettbe- Die Kalifornier haben in den vergange-
werbsfähig bei Software und autonomem nen zwei Jahren mehrere hochkarätige Au-
Fahren«, sagt Scheider. »Doch wenn es da- toexperten angeworben, darunter Tesla-
rum geht, große Mengen an Daten zu spei- Chefentwickler Doug Field sowie Michael
chern und zu verarbeiten, sind wir in Schwekutsch, einen Ingenieur aus Deutsch-
Europa aufgeschmissen.« land, der zuvor an Elektroantrieben für
Für die Fahrassistenzfunktion mit ihren Tesla forschte. »Apples Recruiter fischen
Datenmassen etwa wird das Cloud-Com- die Autobranche ab«, sagt der Topmana-
puting immer wichtiger. Einen europäi- ger eines US-Herstellers, noch sei aber
schen Anbieter, der große Rechenzentren nicht klar, was der Konzern vorhabe.
Es wäre nicht der erste Wirtschafts-
zweig, den Apple revolutioniert – und da-
Supplied in Germany bei etablierte Player wegfegt. VW-Chef
Die weltgrößten Automobilzulieferer Herbert Diess warnt immer wieder, der
nach Umsatz 2019 Autoindustrie könnte ein ähnliches Schick-
Platz sal blühen wie einst Nokia, dem unterge-
1 Bosch
47,0 Mrd. € gangenen Handy-Weltmarktführer.
Deutschland Bei den Zulieferern sieht man das
2 Continental 44,5 entspannter. Neueinsteigern wie Google
Deutschland oder Apple fehlt es oft an Know-how für
3 Denso den Autobau. Fahrwerke, Lenkungen
43,3
Japan oder Bremsen ordern sie deshalb bei
4 Magna Bosch, Conti oder ZF. Ob Apple bei
35,2 ihm schon angefragt hat, will ZF-Chef
Kanada
Scheider nicht verraten. Nur so viel: »Ich
5 ZF Friedrichshafen 33,6
Deutschland
kenne keinen Marktteilnehmer, weder ei-
nen etablierten noch einen zukünftigen,
23 Mahle der ohne die Technik deutscher Zulieferer
12,0 auskommt.«
Deutschland
25 Schaeffler Selbst bei Vorreitern wie Tesla ist
10,9 Hightech made in Germany gefragt. Elon
Deutschland
Musk, vergangene Woche zu Gast in
38 ThyssenKrupp* 7,0
Deutschland
Deutschland, gilt als großer Fan hiesiger
Ingenieurskunst. Seine neuen Tesla-Mo-
45 Hella 6,3 delle enthalten jedenfalls Airbagsysteme
Deutschland und digital vernetzte Sicherheitstechnik
Quelle: Automobil
47 Brose 6,2 Industrie 07/2020 von ZF. Simon Hage
Deutschland * Automotive

Rote 100
Haushalt Corona hinterlässt tiefe
Spuren im Bundesetat. 2021
muss Finanzminister Scholz einen
dreistelligen Milliardenbetrag
neuer Schulden aufnehmen.
A nfang dieser Woche durfte Finanz-
minister Olaf Scholz (SPD) seine
neue »Schatzkiste« in Augenschein
nehmen. Dabei handelt es sich allerdings
nicht um einen überraschenden Fund an
Goldmünzen im Keller des Ministeriums,
sondern um den hauseigenen
Kindergarten, den Scholz am
Montag zusammen mit Fami- Nach unten korrigiert
lienministerin Franziska Gif- Deutsche Steuereinnahmen, in Milliarden Euro
fey (SPD) eröffnete.
Bund
Drei Tage später holte den
Hausherrn an der Berliner Wil-
helmstraße 97 die Corona-be-
dingte Tristesse seines Amtes
wieder ein. Der Arbeitskreis
Steuerschätzungen, an dem 718 718
34 32
neben dem Finanzministerium
auch die Länder, Wirtschafts-
102 104
forschungsinstitute, die Bun-
desbank sowie das Statistische
Bundesamt beteiligt sind, sag-
te dem Finanzminister für die-
ses und kommendes Jahr wei-
tere Steuerausfälle voraus. 297 307
Verglichen mit der Progno-
se vom Mai bleiben die Steuer-
einnahmen des Staates dieses
Jahr zwar weitgehend kon-
stant. Im nächsten Jahr aller- 285 275
dings fallen die Einnahmen
2020
um 19,6 Milliarden Euro gerin- Quelle: Bundesministerium der Finanzen, Abweichungen rundungsbedingt
ger aus als zuletzt geschätzt,
davon allein 10,6 Milliarden
Euro beim Bund. Bis 2024, dem letzten
Jahr der Vorhersage, fehlen Bund, Ländern
und Gemeinden zusammengezählt knapp
30 Milliarden Euro im Vergleich zur Schät-
zung vom Mai (siehe Grafik).
Scholz, jahrelang verwöhnt von üppi-
gen Überschüssen, mutiert im Rekord-
tempo zum Verwalter klaffender Haus-
haltslücken. Zu Jahresbeginn hatte der Fi-
nanzminister für die Zukunft noch mit aus-
geglichenen Haushalten geplant. Doch die
Corona-Rezession hinterlässt tiefe Spuren
im Zahlenwerk des Bundes, weil Steuer-
einnahmen wegbrechen und teure Ret-
tungspakete bezahlt werden müssen. Al-
lein die verminderte Mehrwertsteuer, mit
der die Bundesregierung die Kauflaune
heben will, schlägt in diesem Jahr mit Aus-
fällen von 20 Milliarden Euro zu Buche.
Um die Einnahmelücke zu stopfen, hat-
te der Bundestag Scholz für 2020 bereits
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
Wirtschaft
218 Milliarden Euro an neuen Schulden
zugebilligt – ein Rekordwert. Auch wenn
der Finanzminister den Kreditrahmen
wohl nicht komplett ausschöpfen muss,
sieht die Haushaltsplanung für das nächs-
te Jahr ähnlich düster aus. Für den Bun-
desetat 2021 plant er nach SPIEGEL -
Informationen mit einer Neuverschuldung
von rund 100 Milliarden Euro, vielleicht
sogar etwas mehr. Das wäre das zweit-
höchste Minus seit Gründung der Repu-
blik. Die schwarze Null weicht einer roten
Hundert.
Genaue Zahlen stehen erst Ende Sep-
tember fest, wenn der Haushalt vom Ka-
binett beschlossen wird. Derzeit verhan-
delt Scholz noch mit den übrigen Ressorts,
wie viel Geld sie demnächst ausgeben
Länder Gemeinden
Schätzung Mai 2020
Schätzung September 2020
793
816 811
773 43 42
41
43
118 116
115
113
330 322 340 338
306 295 315 314
2021 2022
dürfen. Keine leichte Aufgabe, denn etli-
che Kabinettsmitglieder versuchen, die Co-
rona-bedingte Spendierfreude zu nutzen,
um Geld für ihre Lieblingsprojekte aufzu-
treiben – die oft nichts mit der Pandemie
zu tun haben. Sie lassen sich von dem Mot-
to leiten, dass staatliche Ausgaben in der
Krise immer helfen, gleichgültig ob für den
Straßenausbau, höhere Zuschüsse für not-
leidende Branchen oder schönere Kanti-
nen in den Ministerien.
Besonders Corona-bedürftig sind der-
zeit vor allem Gesundheitsminister Jens
Scholz mutiert im
Rekordtempo zum
Verwalter klaffender
Haushaltslücken.
Spahn (CDU) und Arbeitsminister Hu-
bertus Heil (SPD). Beide wachen über
Sozialkassen, deren Rücklagen in der
Rezession abschmelzen. So soll Spahn
voraussichtlich rund 15 Milliarden Euro
zusätzlich erhalten, um die Defizite der
gesetzlichen Krankenversicherung aus-
zugleichen. Arbeitsminister Heil wird
wohl etwa zehn Milliarden Euro bekom-
men, um Mehrkosten der Coronakrise
bei der Bundesagentur für Arbeit auf-
zufangen.
Auch Verteidigungsministerin Annegret
Kramp-Karrenbauer (CDU) wird bedacht,
obwohl ihr Ressort nicht direkt Corona-
betroffen ist. Sie bekommt einige Hundert
Millionen Euro zusätzlich, um die unter-
finanzierte Bundeswehr aufzurüsten.
Deutschlands Verteidigungs-
ausgaben werden allerdings
trotz der Aufstockung und
der merklich geschrumpften
Wirtschaftsleistung nicht die
EU
in der Nato vereinbarten und
von US-Präsident Donald
883 883 Trump vehement eingeforder-
851 847 47 44
43 43
ten zwei Prozent des Brutto-
inlandsprodukts erreichen.
127 128 2021 wird der Wert bei rund
123 121
1,6 Prozent liegen, haben Re-
gierungsexperten errechnet.
Um die gewaltigen Be-
lastungen für den Haushalt
zu stemmen, hatte sich
Scholz im Frühjahr vom Bun-
354 352 368 367 destag eine Ausnahme von
der Schuldenbremse geneh-
migen lassen. Ab 2022 will er
die Vorgaben dann wieder
einhalten. Die Planungen da-
für muss er im nächsten Früh-
332 331 341 344
jahr vorlegen, die Rückkehr
zur Normalität macht sich
2023 2024
gut im Wahljahr.
Einfach wird das nicht,
denn die grundgesetzlich ver-
ankerte Vorgabe erlaubt dem Finanz-
minister nur einen Bruchteil der Summen,
die Scholz im nächsten Jahr gegen die
Krise mobilisieren will. Seine Beamten
haben ausgerechnet, dass die zulässige
Neuverschuldung 2022 inklusive eines
Zuschlags für die schlappe Konjunktur
bei rund 23 Milliarden Euro läge. 2023
sinkt die Obergrenze dann auf 18 Mil-
liarden Euro, ein Jahr später auf 13 Mil-
liarden Euro, weil sich die Wirtschaftslage
bessert.
Scholz will die Spielräume, die ihm die
Schuldenbremse lässt, nutzen, das Ziel der
schwarzen Null gibt er damit auf. In der
mittelfristigen Finanzplanung bis 2024, die
er zeitgleich mit dem Etat fürs nächste Jahr
vorlegen muss, plant der Minister durch-
gehend mit neuen Schulden.
Christian Reiermann
59
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 Wirtschaft

SPIEGEL: Herr Harf, Sie haben turbulente

Monate hinter sich. Ihre einstige Ertrags-
perle Coty hat seit Anfang Februar mehr
als zwei Drittel ihres Marktwerts ver-
loren, weshalb Sie mit 74 selbst noch mal
den Chefposten übernahmen. Ende Mai
brachten Sie trotz Pandemie Ihr Kaffee-
geschäft an die Börse. Und vor wenigen
Wochen zog überraschend ihr poten-
zieller Nachfolger von dannen. Was wird
jetzt aus Ihrem Plan, sich mit 75 zurück-
zuziehen?
Harf: Erst mal nichts. Niemand hat das
bislang infrage gestellt, im Gegenteil, ich
wurde gebeten weiterzumachen. Sollten
die Gesellschafter wollen, dass ich gehe,
dann gehe ich morgen. Um das Finanzielle
brauche ich mir keine Sorgen zu machen.
Ich klebe nicht an meinem Stuhl, aber ich
mache den Job gern. Ich werde ja quasi
für mein Hobby bezahlt. Golfen wäre mir
zu langweilig.
SPIEGEL: Es scheint schwer zu sein, einen
geeigneten Nachfolger für Sie zu finden.
Harf: Mein Partnerkollege Olivier Goudet
kann vieles besser als ich. Er ist aus meiner
Sicht der weltweit beste Investor neben
Warren Buffett. Unter anderem war es

Andrea Mantovani / The New York Times / Redux / laif

seine Idee, groß ins Kaffeegeschäft einzu-
steigen. In seiner Schublade liegen auch
alle großen Deals, die wir für die nächsten
zehn Jahre planen. Und er ist 20 Jahre jün-
ger als ich.
SPIEGEL: Wie sieht Ihre Nachfolgeplanung
denn aus?
Harf: Sollte mir morgen ein Stein auf den
Kopf fallen, gibt es dafür klare Regelun-
Manager Harf gen – wir sind vorbereitet. Und auch mit-
telfristig gibt es einen klaren Nachfolge-
plan: Neben Olivier Goudet wird dem-
nächst ein weiterer Managing Partner an

»Ein schwarzer Fleck auf der JAB-Spitze dazustoßen. Darüber hi-

naus wollen wir noch einen dritten benen-
nen. Ich werde dann nur noch einfacher

meiner weißen Weste« Chairman sein. Das wird alles noch pas-
sieren, bevor Sie beide in Rente sind.
SPIEGEL: Dann haben Sie ja noch etwas
Zeit. Als Kandidat für Ihre Nachfolge galt
Konzerne Peter Harf, Boss der reimannschen Familienholding JAB, zuletzt David Kamenetzky, ehemaliger
erklärt, warum er auch mit 74 noch der richtige Chef für Strategiechef des Getränkekonzerns AB
Deutschlands reichsten Unternehmerclan ist – trotz eines Patzers. Inbev, der bereits wichtige Aufgaben im
Familienreich der Reimanns übernommen
hatte. Warum hat er JAB so überraschend
Harf galt lange als der Midas unter den ken wie Jacobs, Senseo und Tassimo. 2015 verlassen?
deutschen Managern und Investoren. Er fädelte Harf die Übernahme der Haarpflege- Harf: David Kamenetzky war hauptberuf-
machte die Familie Reimann zur reichsten firma Wella und weiterer Marken des US- lich Leiter der von der Familie gegründe-
deutschen Unternehmersippe und wurde Konsumgüterriesen Procter & Gamble für ten Alfred Landecker Stiftung. Dort hat
dabei selbst Milliardär. Unter Harfs Ägide 12,5 Milliarden Dollar ein, um sie mit Coty er einen super Job gemacht, wir waren
bauten die Reimanns ein stattliches Vermö- zu verschmelzen. Die Integration gestaltete sehr zufrieden. Er hat auch gut mit den
gen auf, mit dem dem Konsumgüterkon- sich schwierig, mittlerweile hat Harf die jüngeren Familiengesellschaftern zusam-
zern Reckitt Benckiser (Calgon, Sagrotan, Mehrheit an Wella an den Finanzinvestor mengearbeitet. Wir hatten ursprünglich
Clearasil) und dem Kosmetik-und-Parfüm- KKR weitergereicht. Eigentlich wollte Harf überlegt, ihm innerhalb der nächsten zehn
Hersteller Coty (Chloé, Calvin Klein, Davi- mit 65 aufhören, verlängerte als Chairman Jahre eine Führungsrolle in der Familien-
doff). Ab 2012 ging Harf im Kaffeegeschäft der Reimann-Familienholding JAB aber holding zukommen zu lassen. Dass er uns
auf Einkaufstour. Für mehr als 30 Milliar- immer wieder. Nach vielen Chefwechseln verlassen hat, war eine Kombination aus
den Euro schuf er binnen acht Jahren das übernahm er bei Coty zuletzt sogar selbst persönlichen Gründen und der Tatsache,
zweitgrößte Kaffeereich der Welt, mit Mar- die operative Führung. dass er eher aus der Denke eines Groß-

62 DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020

konzerns kommt, nicht aus der eines
unternehmerischen Investors.
SPIEGEL: Es heißt, dass Sie die Trennung
von Kamenetzky zuvor nicht mit der Fa-
milie abgesprochen hätten. Stimmt das?
Harf: Das ist kompletter Unfug. Ich rede
mit der Familie einmal im Monat einen
ganzen Tag lang. Die wissen wirklich alles.
Deshalb vertrauen sie mir auch.
SPIEGEL: Sind die Reimanns nicht einmal
nervös geworden, als Coty an der Börse
zuletzt so einbrach?
Harf: Nein, die Familie erkennt, dass es
mit Coty wieder bergauf geht. Innerhalb
von drei Monaten haben wir die Rückkehr
in die Gewinnzone geschafft, bereits ab
August hat Coty wieder schwarze Zahlen
geschrieben. Getroffen hat es vor allem
die Aktionäre des US-Konsumgüterkon-
zerns Procter & Gamble. Ihnen haben wir
vor fünf Jahren im Rahmen der Wella-
Übernahme Coty-Anteile für je 24,50 Dol-
lar verkauft, jetzt liegt der Kurs bei knapp
unter 4 Dollar. Einige Leute haben da viel
Geld verloren, übrigens auch die Familien-
holding JAB. Aber ich kann Ihnen verspre-
chen: Coty is back.
SPIEGEL: Wie hat sich das Vermögen der
Reimanns denn entwickelt?
Harf: Sehr positiv! Wir haben uns 2012
vorgenommen, das damalige JAB-Vermö-
gen von 9 Milliarden Dollar bis Ende 2021
zu vervierfachen, inklusive Dividenden
und Sonderzahlungen. Und da sind wir
trotz des Coty-Einbruchs auf sehr gutem
Kurs. Der Wert all unserer Beteiligungen
beträgt derzeit 120 Milliarden Dollar, da-
rin enthalten sind auch die Anteile exter-
ner Investoren. Diesen Wert wollen wir
in den kommenden zehn Jahren erneut
vervierfachen. Das sind 15 Prozent Ver-
zinsung pro Jahr, und das entspricht der
Rendite, die wir mit der Familie verein-
bart haben. Ich gebe aber zu: Coty hin-
terlässt einen schwarzen Fleck auf meiner
ansonsten strahlend weißen Investoren-
weste.
SPIEGEL: War der Kauf von Wella und an-
deren Pflege- und Kosmetikmarken von
Procter & Gamble 2015 ein Fehler?
Harf: Nein. Coty war damals zu klein, um
ganz vorn mitzuspielen. Wir waren zwar
stark im Parfümgeschäft, aber vergleichs-
weise schwach im Kosmetikbereich. Mitt-
lerweile haben wir ein viel stärkeres Port-
folio. Insofern war die Übernahme richtig,
aber die Integration war schlecht gemanagt.
Mit Sue Nabi haben wir den größten Rock-
star der Branche an der Spitze von Coty.
Zum ersten Mal wird Coty von jemandem
geführt, der aus der Beauty-Welt kommt.
Sie wird unsere starken Marken wieder
zum Glänzen bringen, und dann wird auch
der Aktienkurs steigen.
SPIEGEL: Sie begleiten die Reimanns seit
1981, haben das Vermögen der Familie von
weniger als hundert Millionen auf zuletzt
geschätzte 25 Milliarden Euro gesteigert. viele Anleger, weil sie wissen, dass die No-
Was macht Sie so sicher, dass Ihre Strategie tenbanken die Hausse mit niedrigen Zin-
noch funktioniert? sen weiter befeuern werden. Das Risiko
Harf: Unser Ansatz ist bis heute, ganze wird den Investoren quasi abgenommen,
Branchen aufzurollen. Das haben wir erst weil die Kurse steigen, unabhängig davon,
bei Haushaltsprodukten getan, dann bei ob die Performance der Unternehmen
Kosmetik und Parfüms, später bei Kaffee, stimmt. Das Problem ist, dass ein mögli-
Getränken, Imbissketten und jetzt auch cher Crash dann umso schlimmer ausfallen
mit Tierkliniken. Wir haben reihenweise wird, weil niemand die hohen Schulden
Marken aufgekauft und weiterentwickelt. mehr zurückzahlen kann, die Regierungen
SPIEGEL: Nun ist Ihnen erst mal Corona und Unternehmen gerade machen.
dazwischengekommen. SPIEGEL: Wie krisenfest ist Ihr weitver-
Harf: Warum? Die Zeit ist gut, um zuzu- zweigtes Firmenreich?
kaufen. Am Aktienmarkt tummeln sich Harf: Wir haben uns gewappnet, indem
wir unser Portfolio aufgeteilt haben in Kri-
sengewinner, Verlierer und neutrale Betei-
ligungen. 25 Prozent unserer Anlagen spü-
Von Waschmittel 25
ren die Krise, 10 Prozent entwickeln sich
zu Kaffee flach, und 65 Prozent sind Wachstums-
Geschätzter Portfoliowert felder. Zu den Gewinnern zählt unser
der JAB Holding (Vermögen
der Familie Reimann), Kaffeegeschäft. Kaffee wird in der Krise
in Mrd. € zu Hause mehr denn je getrunken.
20 SPIEGEL: An der Börse sieht man davon
JAB Beech
noch nicht viel. Seit dem Börsengang der
Restaurants Kaffeesparte Ende Mai ist der Aktienkurs
kaum vom Fleck gekommen.
Harf: Der Börsengang war ein Riesen-
Acorn (KDE, JDE-
Peets) Kaffee, 15 erfolg! Im Mai haben uns noch alle dafür
Softdrinks ausgelacht, dass wir mitten in der Pande-
mie an die Börse wollen. Und was ist pas-
Coty
Mode, Kosmetik; siert? Nach drei Tagen mussten wir den
u. a. Wella, virtuellen Börsengang unterbrechen, weil
Gucci, Dolce & die Papiere zehnfach überzeichnet waren.
Gabbana, Chloé, 10
Die Aktie steht auch nach dem Chefwech-
Hugo Boss,
Calvin Klein,
sel gut da. Casey Keller hat es aus persön-
Kylie Cosmetics lichen Gründen in der Coronakrise vor-
gezogen, bei seiner Familie in Chicago zu
bleiben, statt an den Firmenhauptsitz in
Reckitt 5 Amsterdam zu ziehen. Sein Nachfolger
Benckiser
Drogerieartikel;
Fabien Simon wird beweisen, was in JDE
u. a. Calgon, Peet’s steckt.
Durex, Sagrotan SPIEGEL: Bei Coty soll nun eine radikale
Verjüngung helfen. Sie haben sich in die
Sonstige Kosmetikfirmen der beiden amerikani-
Quelle: Moody’s 2015 2016 2017 2018 2019 schen Reality-TV-Stars Kim Kardashian
West und Kylie Jenner eingekauft. Sind
die nicht schon wieder out?
Harf: Richtig ist, dass wir strategische
Weichen stellen. Uns fehlen Marken für
die Gesichts- und Hautpflege, da werden
wir kräftig investieren. Kosmetikmarken
genießen die größte Kundentreue und
versprechen gute Umsätze. Kim und
Kylie sind starke Internetpersönlichkeiten
mit mehr als 300 Millionen Followern.
Wir haben uns an ihren Beauty-Unterneh-
men beteiligt, weil wir uns so auch den
direkten Kundenkontakt über ihre Platt-
formen sichern. Kylie Cosmetics bedient
die junge Generation bis 25 Jahre, Kim
Backgrid UK / Best Image
ergänzt das, ihre Anhänger sind etwas
älter. Hinzu kommt, dass wir mit ihren
Marken endlich Zugang zu Märkten in
Asien bekommen, wo Coty bislang noch
relativ schwach ist.
Promi-Schwestern Kardashian, Jenner SPIEGEL: Im Markt wird kolportiert, ein-
»Starke Internetpersönlichkeiten« zelne jüngere Mitglieder des Reimann-
63

Clans hätten aussteigen und ihre Anteile
verkaufen wollen. Stimmt das?
Harf: Das ist kompletter Blödsinn. Früher
gab es vier Familiengesellschafter, die je
25 Prozent hielten. Coty war damals noch
privat. Hätte jemand aussteigen wollen,
hätte ich gesagt: Das geht nicht so einfach,
dann müssen wir die Firma auflösen. Heu-
te sieht das anders aus. Neben den vier
Gesellschaftern der älteren haben wir wei-
tere zehn aus der jüngeren Generation.
Die haben die Möglichkeit, neben den jähr-
lichen Dividenden im Bedarfsfall kurz-
fristig Geld von der JAB auszuleihen. Au-
ßerdem haben sie das Recht, alle fünf Jah-
re Anteilsscheine zu verkaufen. Wer kom-
plett aussteigen will, wird innerhalb von
zehn Jahren ausbezahlt. Davon hat aber
bisher niemand Gebrauch gemacht. Nie-
mand will Anteile verkaufen.
SPIEGEL: Die ältere Generation galt als be-
scheiden und zurückhaltend. Sind die Jün-
geren ebenso genügsam?
Harf: Absolut! Wir haben die jüngere Ge-
neration schon 2016 schrittweise an ihre
Gesellschafterrolle herangeführt, damit
keine Sollbruchstellen entstehen. Wir ha-
ben einen Erbvertrag aufgesetzt, der die-
selben Regeln festlegt wie für die Genera-
»Unser Ansatz
ist bis heute,
ganze Branchen
aufzurollen.«
tionen davor. Ausgeschüttet wird immer
nur ein Bruchteil der Gewinne. Und die
Dividenden, über die der Gesellschafter-
ausschuss entscheidet, sind seit Jahren sta-
bil. Der Vertrag gilt so lange, bis das jüngs-
te Mitglied tot ist. Und der Jüngste ist ge-
rade mal 18 geworden. Kontinuität und
Stabilität des Unternehmens sind also
mehr als gewährleistet.
SPIEGEL: Sie haben immer das Vertrauen
der Familie genossen und dafür gesorgt,
dass es keinen Familienstreit gibt. Stehen
die Reimanns heute noch so fest zu Ihnen?
Harf: Selbstverständlich. Wir haben schließ-
lich viel miteinander durchgemacht. Ganz
am Anfang hatten wir neun Gesellschafter,
von denen die vier ältesten aussteigen
wollten. Daraufhin haben wir das Familien-
unternehmen in drei Teile zerlegt, wir
haben Erb- und Eheverträge ausgehandelt.
Das schweißt zusammen. Diese Kultur,
diesen Stallgeruch bekommt jetzt auch die
junge Generation mit. Die sehen, wie ihre
Eltern miteinander umgehen und wie sie
mit mir umgehen. So setzt sich das Ver-
trauen fort – zu mir und künftig sicher
auch zu meinem Nachfolger.
Interview: Simon Hage, Steffen Klusmann
64
Wirtschaft
Shops vom Staat
Immobilien Um die Verödung ihrer City zu verhindern, gehen viele
Städte selbst ins Risiko: Sie kaufen oder mieten verwaiste Läden und
Warenhäuser und verpachten sie billig weiter. Es gibt bessere Modelle.
U m kurz vor halb acht Uhr abends
steht Martin Bieberle stolz zwischen
Hundekissen und Lederhalsbän-
dern. Bieberle, hellgrauer Anzug und blau-
es T-Shirt, ist City-Manager der Stadt Ha-
nau. Die Eröffnung des »Von & Zu«, einer
Boutique für gehobenen Hundebedarf, ist
auch für ihn ein besonderer Termin.
In dem Ladenlokal, 1-a-Lage in der In-
nenstadt, residierte zuletzt Gerry Weber.
Weil die Fläche leer stand, griff die Stadt
Hanau zu: Sie zahlt nun jeden Monat
einige Tausend Euro Miete an die Eigen-
tümer – und vermietet den Laden für je-
weils drei Monate an Gründer unter. Pop-
up-Store heißt das auf Neudeutsch.
Es ist der Versuch, die Verödung der
Einkaufstraßen aufzuhalten. De facto
aber ist es staatlich subventionierter Ein-
zelhandel. Die Höhe der Miete bemisst
sich am Umsatz, im schlimmsten Fall
bleibt die Stadt auf den Kosten sitzen.
City-Manager Bieberle ist das erst einmal
egal, er sucht bereits neue, »richtig gute
Ideen«, um weitere solche Ladenkonzep-
te umzusetzen.
Nicht nur in Hanau, landauf, landab
wollen Städte und Gemeinden derzeit ihre
Corona-geschwächten Zentren neu bele-
ben. Und sind dafür bereit, finanziell ins
Risiko zu gehen. Schon vor Corona hatten
die Kommunen knapp 132 Milliarden Euro
Schulden angehäuft. Die Summe dürfte
durch die wegbrechende Gewerbesteuer
(siehe Grafik) noch einmal sprunghaft an-
gestiegen sein. Doch niedrige Zinsen, üp-
pige Rettungspakete, vor allem aber die
Angst vor dem Ausbluten der Innenstadt,
lassen manchen Rathauschef dieser Tage
von der selbst bewirtschafteten Fußgän-
gerzone träumen: inhabergeführte Bou-
tiquen und gehobene Gastronomie statt
Ein-Euro-Shops und Spielhallen.
Bieberles Vorhaben heißt »HanauAuf-
Laden«. Das Programm ist Teil des großen
Projekts »Wir kaufen unsere Stadt zu-
rück«, mit dem der Planungschef der In-
nenstadt neues Leben einhauchen will.
Zwei Objekte hat die Stadt bereits gekauft,
weitere fünf stehen auf der Liste. 10 bis
20 Millionen Euro sollen in den Erwerb
von Gewerbeimmobilien fließen, jährlich.
Viel Geld für eine klamme Kommune
wie Hanau. Doch Bieberle fürchtet, dass
nichts zu tun auf lange Sicht weit teurer
würde. Für ihn geht es um Hanaus Zu-
kunft: Schlafstadt oder lebendige Kommu-
ne. »Wir müssen die Idee der europäischen
Stadt retten«, sagt er. »Hanau zu drehen
ist ein richtig dicker Brocken.«
Der staatlich subventionierte Erhalt der
Innenstadt als Daseinsvorsorge für die Bür-
ger? Für viele Bürgermeister ist die Sache
klar: Wer, wenn nicht sie, soll verhindern,
dass Corona aus ihren Zentren Geister-
städte werden lässt? Die Pandemie wird
Zehntausende Händler und Gastronomen
die Existenz kosten. Ketten wie Esprit,
C&A oder Galeria Karstadt Kaufhof, in
vielen Fußgängerzone die letzten Magne-
ten, schließen dutzendfach Filialen. Zu-
rück bleiben Leerstand oder Spielhallen-
Tristesse.
Um das zu verhindern, erwarb Mön-
chengladbach trotz leerer Kassen in den
vergangenen sechs Jahren zwölf Gewerbe-
immobilien. Kosten: 30 Millionen Euro.
Nach Corona »wird da noch mehr kom-
men«, verspricht Oberbürgermeister Hans
Wilhelm Reiners.
In Lübeck übernahm die städtische Ent-
wicklungsgesellschaft vor einigen Jahren
eine Reihe historischer Hafenschuppen.
Die erfolgreiche Wiederbelebung hat das
Rathaus mutiger werden lassen: Im Januar
erklärte es das gesamte Stadtzentrum zum
Sanierungsgebiet und zog damit 75 Millio-
nen Euro Fördermittel an Land. »Recht-
zeitig vor Corona«, sagt Bürgermeister Jan
Lindenau, der seither ein Mitspracherecht
hat, etwa bei Verkäufen und Verpachtun-
gen von Immobilien. So könne er »verhin-
dern, dass ein Eigentümer etwas macht,
was uns nicht passt«.
Auch Karlsruhe hat seine östliche In-
nenstadt als Sanierungsgebiet ausgewie-
sen. Das damit verbundene Spekulations-
verbot und Vorkaufsrecht will Stadtvater
Frank Mentrup nun unbedingt nutzen, um
Immobilien selbst zu erwerben, bevor sie
leer stehen. Wäre etwa das örtliche Wa-
renhaus Galeria Karstadt Kaufhof ge-
schlossen worden, »hätte das durchaus
eine Schlüsselimmobilie sein können,
von der ich sage: Bevor da ein Fitnessklub
reingeht, sichere ich mir das lieber selbst
als Stadt«. Nachnutzungskonzept? Findet
sich schon.
Mentrup hätte gern »mehr Geld« von
Bund und Land, um notfalls auch mal »zu
erhöhten Marktpreisen« zuschlagen zu
können. Eine Forderung, der sich Städte-
tag und Gemeindebund angeschlossen ha-
ben. Sie werben im Bundesinnenministe-
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
 City-Manager Bieberle in
Hundeboutique »Von & Zu«
Verschuldung der Kommunen in Deutschland,
in Milliarden Euro, jeweils am Jahresende
140
120
Quellen: Statistisches
100 Bundesamt, IW
2000 2010
rium für einen neuen »Bodenfonds« oder
eine Ausweitung der Städtebauförderung
auf 1,5 Milliarden Euro, als »Baustein zur
Rettung der Innenstädte«, wie Norbert
Portz vom Gemeindebund sagt.
Erste Bundesländer machen bereits
Geld locker. Der Senat im notorisch finanz-
schwachen Bremen etwa hat soeben ein
13 Millionen Euro schweres »Aktionspro-
gramm« beschlossen, um die Pandemie-
folgen für das historische Zentrum abzu-
federn. Zentraler Baustein ist, ähnlich wie
in Hanau, die Anmietung von Concept-
und Pop-up-Stores, die zu reduzierter
Pacht oder ganz mietfrei an lokale Grün-
der gehen sollen.
Nordrhein-Westfalen hat im Sommer
ein »Sofortprogramm zur Stärkung unse-
rer Innenstädte« auf den Weg gebracht.
70 Millionen Euro stehen zur Verfügung,
um leer stehende Ladenlokale anzumieten
oder zu kaufen – und mit Abschlägen von
aufwendig umbauen zu Monheims »Neuer
Mitte«. Mehr als hundert Millionen Euro
lässt er sich das Projekt kosten. Langfris-
tig wird wohl nur ein Drittel über Miet-
einnahmen wieder reinzuholen sein. Der
Rest, sagt Zimmermann, sei »Zuschuss«
der Stadt.
Experten sehen die staatliche Alimen-
tierung des Einzelhandels zwiespältig.
Steuergelder einzusetzen, um Innenstädte
attraktiver zu gestalten, hält Reiner Holz-
nagel, Präsident des Bundes der Steuer-
zahler, für richtig. Aber: »Ich warne jede
Kommune davor, jetzt selbst einzugreifen
und Gewerbeimmobilien aufzukaufen.«
Werde eine Immobilie zu günstig vermie-
tet, könne das wettbewerbs- und beihilfe-
rechtlich problematisch werden. Vor allem
Tim Wegner / DER SPIEGEL
erforderten Ladenlokale gute Konzepte
und stetigen Unterhalt. »Wenn der Staat
Immobilien besitzt, löst das noch nicht die
Probleme der Innenstadt.«
Holznagel wünscht sich mehr Kreativi-
tät in den Rathäusern: Höhere Freibeträge
für die Anrechnung von Pachten und Mie-
Geschätzter Rückgang der Gewerbesteuer- ten auf die Gewerbesteuer, eine niedrigere
einnahmen 2020* gegenüber 2018, in Prozent
Grundsteuer, andere Parkraumbewirtschaf-
–31 Hessen tung. Dass Kommunen »Unternehmer spie-
len«, hält er für gefährlich, zumal wenn es
–31 Saarland
sich um Problemimmobilien handelt.
–30 Baden-Württemberg Dass es auch ohne staatliche Subventio-
–28 Rheinland-Pfalz nen geht, zeigt das Beispiel Holzminden.
–28 Thüringen Die 21 000-Einwohner-Kommune im We-
–26 Niedersachsen serbergland steht vor denselben Proble-
–25 Nordrhein-Westfalen men wie viele andere Kleinstädte: Zum
Shoppen gehen die Leute ins Internet oder
–24 Schleswig-Holstein fahren ins nahe gelegene Göttingen. Für
–24 Sachsen-Anhalt die reine Nahversorgung ist das Zentrum
–22 Bayern überdimensioniert. Die Folge: Leerstand.
–21 Sachsen Weil für einen groß angelegten Stadt-
–20 Brandenburg umbau das Geld fehlt, gründeten die Holz-
* ohne mindener im vergangenen Jahr eine Bür-
2019 Stadtstaaten –16 Meckl.-Vorpommern
gergenossenschaft, um leer stehende Han-
delshäuser in der City aufzukaufen, zu re-
novieren und dann wieder zu veräußern,
bis zu 80 Prozent weiterzureichen. Die etwa an junge Familien oder Senioren.
Differenz trägt der Steuerzahler. »Wir mer- Ein sich selbst tragendes System. 150 Ge-
ken, dass das Interesse an dem Programm nossen haben im ersten Schritt Anteile zu
groß ist«, sagt Ina Scharrenbach (CDU), je 100 Euro gezeichnet, die Stadt beteiligt
Bauministerin des Landes. sich mit 39 000 Euro Einlage. Gerade ha-
Historisch gesehen sind Europas Städte ben sie ihre erste Immobilie erworben, eine
geprägt von Rathaus, Kirche und Markt- Gründerzeitvilla für 20 000 Euro. Gut
platz. Wenn Letzterer stirbt, versagt oft 100 000 Euro fließen nun in den Umbau,
auch der Immobilienmarkt einer Stadt. danach entscheidet die Genossenschaft, ob
»Privatwirtschaftlich« seien diese Proble- sie vermietet oder verkauft. Alle zwei Jah-
me nicht mehr zu lösen, glaubt Daniel Zim- re soll so ein Stadthaus »gedreht« werden.
mermann, Bürgermeister im Städtchen Für Bürgermeister Jürgen Daul ein Pro-
Monheim am Rhein. »Deshalb müssen wir jekt mit Signalwirkung. Schließlich wüss-
als Kommune eingreifen.« ten viele bei den niedrigen Zinsen nicht,
In den vergangenen Jahren sorgte Mon- was sie mit ihrem Geld anfangen sollen.
heim in den umliegenden Gemeinden für Das Engagement der Genossenschaft, so
Unmut, weil die Stadt mit einem ultra- hofft er, könnte auch den einen oder an-
niedrigen Gewerbesteuersatz Unterneh- deren Immobilienbesitzer in der Stadt
men abwarb. Heute ist die 40 000-Einwoh- überzeugen, dass es sich wieder lohnt zu
ner-Kommune schuldenfrei und seit 2018 investieren. Weil Holzminden lebt.
im Besitz von gleich drei Einkaufszentren. Simon Book
Zwei von ihnen will Zimmermann nun
65

Biergarten in Augsburg: »Ehrlich und redlich sieht anders aus«
Ungleicher
Kampf
Gastronomie Viele Wirte fühlen
sich in der Coronakrise von ihrer
Versicherung im Stich gelassen.
Die Allianz spielt dabei eine
besonders unrühmliche Rolle.
F ür kaum eine Branche ist Corona ein
solcher Albtraum wie für Gastrono-
mie und Hotellerie. Der Ausbruch
der Pandemie im Frühling stürzte viele
in Existenznot, der Sommer brachte kurz
Erleichterung, nun blicken die meisten
schon wieder sorgenvoll gen Winter. Und
als wären Schließungen und Einnahme-
ausfälle nicht Ärger genug, müssen sich
viele Betriebe auch noch mit ihrer Ver-
sicherung herumplagen.
Rund 73 000 Gastronomen besitzen in
Deutschland eine Betriebsschließungs-
versicherung. Sie hatten daher gehofft,
einen Teil ihres finanziellen Schadens
ersetzt zu bekommen. Doch während sich
einige Anbieter zu Beginn der Krise noch
zahlungswillig zeigten, weisen die meisten
inzwischen alle Ansprüche zurück.
Tausende Wirte ziehen deshalb vor Ge-
richt. Am kommenden Donnerstag könnte
das Landgericht München I ein erstes Ur-
teil verkünden – das bayerische Berghotel
»Feuriger Tatzlwurm« hat den Versiche-
rungsriesen Allianz verklagt, der sich
weigert zu zahlen. Zwei Wochen später
könnte ein Urteil im Streit zwischen dem
Münchner Augustinerwirt Christian Vog-
ler und der Versicherungskammer Bayern
66
Wirtschaft
Nach SPIEGEL-Informationen hatte die
Allianz seit Mitte März bei der VKB dafür
geworben, sich ihrer Haltung anzuschlie-
ßen. VKB-Chef Frank Walthes soll in in-
ternen Sitzungen referiert haben, mit wel-
chen Argumenten der Marktführer Kun-
den abweise.
Die Allianz verweist darauf, die baye-
rische Lösung sei auf Initiative der Staats-
regierung und unter Mitwirkung der
Dehoga Bayern sowie von Versicherern
zustande gekommen. Man habe die recht-
liche Unbedenklichkeit zuvor geprüft und
Tom Weller / picture alliance / dpa
»keinen Einfluss auf andere Versicherer
genommen«, sich ihrer Sichtweise anzu-
schließen. Die VKB äußert sich zu dem
Sachverhalt nicht.
Dass große Versicherer ihre Kunden ge-
meinsam vor die Wahl stellten, entweder
auf einen Großteil ihrer Ansprüche zu
verzichten oder langwierig zu klagen, sei
womöglich auch »kartellrechtlich proble-
matisch«, sagt Mark Wilhelm, Fachanwalt
(VKB) folgen. Allein in München sind für Versicherungsrecht. Seine Kanzlei ver-
63 Verfahren anhängig. Die zuständige tritt fast 1000 klagebereite Betriebe. Von
Richterin Susanne Laufenberg hat bereits 47 Assekuranzfirmen, sagt Wilhelm, hät-
Ende Juli klargemacht, dass sie der Argu- ten nur drei die Corona-Schäden der Gas-
mentation der Versicherer in entscheiden- tronomen meist voll reguliert: HDI, Signal
den Punkten nicht folgt. Iduna und LVM. »Die Wirkung des kon-
Den Proteststurm hat der bayerische zertierten Vorgehens ist brutal.«
Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger mit Doch die bayerische Lösung könnte für
ausgelöst. Am 3. April verkündete er die die Versicherer noch zum Bumerang wer-
sogenannte bayerische Lösung: Versi- den. Mit dem Angebot, das sie bewusst
cherer, die sich dem Modell anschließen, nicht als Vergleich bezeichnen, signalisie-
erkennen die Ansprüche ihrer Kunden ren die Konzerne, dass sie selbst nicht ganz
aus Betriebsschließungspolicen nicht an, sicher sind, ob sie zur Corona-Deckung
zahlen aber »freiwillig« 15 Prozent der verpflichtet wären oder nicht.
Schäden. Rund 70 Prozent der Ausfälle Nach Paragraf 1a des Versicherungsver-
seien ja bereits durch staatliche Leis-
tungen wie Überbrückungshilfen und das
Kurzarbeitergeld ausgeglichen. Letzteres
indes fließt an Beschäftigte und nicht an
tragsgesetzes müssen Anbieter im Vertrieb
»stets ehrlich, redlich und professionell«
im »bestmöglichen Interesse« der Kunden
handeln und »insbesondere im Schadens-
die Firmen. fall« bei der Erfüllung von Versicherungs-
Die Blaupause für die »Lösung« lieferte verträgen mitwirken.
offenbar die Allianz. Wenige Stunden Der Inhalt der bayerischen Lösung sei
nach dem Deal mit Aiwanger bekamen damit kaum vereinbar, sagt Wilhelm, denn
die ersten ihrer Kunden die 15-Prozent- die sei keineswegs im Interesse der Kun-
Offerte zugeschickt. Viele andere Anbieter den. Die Versicherer hätten nicht mitge-
folgten, darunter die VKB und die Haft- teilt, dass der Versicherungsschutz umstrit-
pflichtkasse Darmstadt, die ihren Kunden ten und die Berechnung offenkundig nicht
zu Beginn der Pandemie noch zugesichert plausibel sei. »Ehrlich und redlich sieht an-
hatten, dass Corona-Schäden von ihren ders aus.« Nach Ansicht des Juristen läge
Policen voll abgedeckt seien. damit ein Beratungsverschulden vor – ein
möglicher Hebel für Schadensersatzforde-
rungen betroffener Gastronomen.
Den Konzernen scheint bewusst, dass
ihre Rechtsposition zumindest wackelig
ist. Die VKB bietet einzelnen Kunden mitt-
lerweile an, 30 Prozent der Schäden zu
decken. Selbst die Allianz räumt ein, sie
Christof Stache / AFP
habe »in einem einzigen, speziell gelager-
ten Fall ein höheres Vergleichsangebot un-
terbreitet«. Zugleich macht die Branche
strittige Verträge für die Zukunft wasser-
dicht. Kunden, die die bayerische Lösung
Allianz-Chef Oliver Bäte ablehnten, erhielten zum Teil Änderungs-
Blaupause für die bayerische »Lösung« kündigungen. Und wer sich auf den Kom-
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
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promiss einlässt, verzichtet auf alle weite-
ren Deckungsansprüche im Pandemie-Fall.
Ihre harte Haltung begründen die Kon-
zerne meist damit, die Versicherung greife
nur, wenn eine Behörde einen konkreten
Betrieb schließe. Allgemeine Verfügungen,
wie die deutschen Behörden sie auf dem
Höhepunkt der Pandemie ausgesprochen
hatten, reichten nicht. So konkret steht das
indes selten in den Vertragsbedingungen.
Der Gesamtverband der Deutschen Ver-
sicherungswirtschaft (GDV) formuliert der-
zeit neue Musterbedingungen, in denen
klargestellt wird, dass die Konzerne Schä-
den infolge von generalpräventiven Schlie-
ßungen nicht decken.
Das Geschäft mit Betriebsschließungs-
policen ist für Konzerne wie die Allianz
eigentlich ein Nebenschauplatz. Umso er-
staunlicher, dass sie ein solches Image-
Desaster in Kauf nehmen. »Hier entsteht
ein gewaltiger Flurschaden für die gesamte
Branche«, sagt Hans-Georg Jenssen, Ge-
schäftsführender Vorstand des Bundesver-
bandes Deutscher Versicherungsmakler.
Sie befeuere damit den Eindruck, dass die
Versicherung ohnehin nicht zahlt, wenn
man sie braucht.
In Großbritannien hat sich die Finanz-
aufsicht FCA mittlerweile auf die Seite der
Kunden geschlagen – und in deren Namen
»Hier entsteht ein
gewaltiger Flurschaden
für die gesamte Branche.«
eine Reihe von Anbietern vor dem Lon-
doner High Court verklagt. »Ein solches
Vorgehen hätte ich mir auch von der deut-
schen Finanzaufsicht Bafin gewünscht«,
sagt Jenssen.
Auf eine Kleine Anfrage der FDP im
Bundestag erklärte die Bundesregierung
jedoch, der Bafin seien »keine Fälle be-
kannt, in denen ein Versicherer eine Leis-
tung aus der Betriebsschließungsversi-
cherung entgegen eindeutig getroffener
vertraglicher Vereinbarungen verweigert
hätte« – und verwies auf die anhängigen
Gerichtsverfahren. Der FDP-Bundestags-
abgeordnete Frank Schäffler findet, die
Branche ziehe sich »mit fadenscheinigen
Argumenten aus der Verantwortung«, und
die Bafin bleibe »untätig, obwohl sie ei-
gentlich eingreifen könnte«.
Demnächst wird der Staat im Pandemie-
fall wohl ohnehin kräftig mitzahlen. Der
GDV arbeitet bereits an einem Konzept
für einen teilstaatlichen Pandemiefonds.
Zwei Modelle liegen vor. Eines sieht
Pflichtbeiträge aller Betriebe vor, das an-
dere kommt einer freiwilligen Versiche-
rungslösung näher. Bei beiden schießt der
Staat erhebliche Mittel zu. Martin Hesse
68
Wirtschaft
Krank sind immer
nur die anderen
Manager Führungskräfte leiden überdurchschnittlich oft an
psychischen Krankheiten, verschweigen sie aber
aus Angst vor Stigmatisierung. Eine Kurztherapie soll helfen.
D ie schlechte Nachricht vorweg: Ge-
gen die zahlreichen Psychopathen,
die in den Chefetagen von Unterneh-
men ihr Unwesen treiben, ist kein Kraut ge-
wachsen. In den Geschäftsleitungen finden
sich Studien zufolge etwa sechs Prozent die-
ser Spezies, während sie in der Gesamt-
bevölkerung bloß zwei Prozent ausmachen.
Offenbar passt ihr starker innerer Trieb,
Macht und Gewalt auszuüben, bestens in
die Ellenbogenwelt des Managements.
Psychopathen zeichnen sich durch über-
bordende Selbstgewissheit aus, gepaart
mit dem völligen Fehlen von Empathie.
Um Menschen zum eigenen Vorteil zu
lenken, können sie ohne Probleme lügen,
betrügen, verraten, sogar Mitgefühl vor-
gaukeln. Gern spielen sie den Kümmerer,
den Vertrauten, die Mutter Beimer. In
Wahrheit aber sind ihnen die Probleme
der Mitarbeiter ziemlich egal, denn Psy-
chopathen verfügen über keinerlei soziales
Verantwortungsgefühl.
Paart sich der Größenwahn mit Genia-
lität, wie etwa bei Apple-Gründer Steve
Jobs, kann es ein Manager mit psychopa-
thischen Zügen weit bringen. Fehlt das Ge-
nie, wird es hässlich für die Untergebenen
und gefährlich für die Firma.
Psychopathen sind ein Extremfall. Den-
noch prägen die wenigen unheilbar Ge-
störten leider das Bild von psychischen
Erkrankungen im Management. Auch des-
halb ist die seelische Gesundheit bis heute
ein Tabuthema in den Chefetagen.
Dabei steigt die Zahl der Erkrankten ex-
plosionsartig. Die Krankenkasse DAK Ge-
sundheit verzeichnet nach neuesten Zahlen
von 2000 bis 2019 einen Anstieg der Aus-
falltage aufgrund von Depressionen um
184 Prozent. Die Fehlzeiten wegen anderer
Angststörungen wuchsen um 205 Prozent,
wegen Reaktionen auf schwere Belastun-
gen und Anpassungsstörungen sogar um
332 Prozent. Die Zunahme der Arbeits-
unfähigkeit durch psychische Erkrankun-
gen sei »seit Jahren die bei Weitem auffäl-
ligste Entwicklung«, heißt es in dem noch
unveröffentlichten DAK-Bericht.
Von 1997 bis 2019 nahm die Zahl
der darauf zurückgehenden Fehltage um
239 Prozent zu. Im gleichen Zeitraum lasse
sich beim Krankenstand insgesamt kein
vergleichbarer Aufwärtstrend beobachten,
so die Kassenexperten.
Manager haben auch aufgrund der ho-
hen Arbeitsbelastung ein erhöhtes Risiko,
psychisch zu erkranken. Der Großteil der
Betroffenen jedoch schweigt. In einem oft
burschikos-breitbeinigen Arbeitsumfeld
wollen sie ungern als labil gelten und fürch-
ten, dass hufescharrende Konkurrenten
jedes Zeichen von Schwäche ausnutzen
könnten. Wenn es gar nicht mehr geht,
flüchten sie in die Diagnose Burn-out. Das
klingt wenigstens nach viel gearbeitet und
Akku aufladen.
Für Jürgen Kräutter, Chefarzt der Park-
klinik Heiligenfeld in Bad Kissingen, »reicht
es aber nicht, die Backen hängen zu lassen
und ein bisschen zu entspannen«. Meist ste-
cke der Patient »in einer echten Lebenskrise,
ist in seinen Verhaltens- und Erlebensmus-
tern gefangen wie in zu engen Kleidern«.
Doch was tun, wenn sich leidende Men-
schen aus Angst vor Stigmatisierung nicht
in die übliche sechs- bis achtwöchige sta-
tionäre Psychotherapie begeben wollen,
fragten sich Kräutter und sein Kollege
Sven Steffes-Holländer, Chefarzt der Hei-
ligenfeld Klinik in Berlin. Sie entwarfen
eine zweiwöchige Kurzzeittherapie, auch
um die Berührungsängste zu mindern.
Und siehe da: Der Großteil der Teilneh-
mer ist Führungspersonal.
Menschen wie Lars Fröbel*. Der 54-jäh-
rige Manager eines mittelständischen Un-
ternehmens in Thüringen fühlte sich nicht
wirklich krank. Sicher, er schlief sehr
schlecht und grübelte viel. Fröbel hat früh
geheiratet, macht seit 20 Jahren den glei-
chen Job. Die Kinder sind weg, das Haus
ist abbezahlt, der Marathon gelaufen. Kon-
sum interessiert ihn nicht. Blieb die Frage:
Was will ich noch? Er fühlte sich lustlos.
Als er von der Kurzzeittherapie hörte,
nahm er Urlaub und fuhr nach Berlin in
die Klinik. Die 5700 Euro für die Behand-
lung zahlte er aus eigener Tasche. »Das
war besser angelegtes Geld als ein Urlaub«,
sagt Fröbel. Die Gespräche mit den Psy-
chologen, die Gemeinschaft der Patienten,
die Gruppentherapie und das Achtsam-
keitstraining haben ihm neue Kraft ge-
* Name geändert.

»Die Tabuisierung ist ähnlich groß wie die von Homosexuellen im Fußball.«
geben. »Es fühlt sich jetzt wieder nach
Selbstbestimmung an, nach Freiheit«, sagt
er. Wie sein Leben weitergeht, weiß er
zwar immer noch nicht. Doch er könne
wieder darauf vertrauen, dass er richtige
Entscheidungen treffe.
Das Konzept der Achtsamkeit, das in
den Ohren vieler Manager nach Wohlfühl-
gedöns klingt, passt tatsächlich ziemlich
gut zur psychologischen Grundausstattung
vieler Führungskräfte. Denn die seien von
Berufs wegen hochachtsam, sagt Kräutter.
Auch deren Ungeduld mag er, denn solche
Leute wollten etwas erreichen. Nicht lang-
samer sollen sie werden, sondern klarer.
Um Spannung abzubauen, laufen viele
Manager allerdings lieber Marathon oder
trainieren für einen Triathlon. »Ein patho-
logisches Muster« sei das, sagt Kräutter,
die Übertragung des Leistungsprinzips
vom Job in die Freizeit. Mithilfe von Yoga,
Entspannungstechniken und Rhythmus-
therapie will er seinen Patienten helfen,
aus ihren Mustern auszubrechen.
Die totale Selbstentblößung braucht da-
bei keiner zu fürchten. In den Gesprächen
setzt Kräutter auf »Taxifahrerpsycholo-
gie«. Der Taxifahrer fragt: Wo wollen Sie
hin?, und hält sich nicht lange damit auf,
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
wo der Fahrgast schon überall gewesen
ist. »Man muss nicht in allen Fettnäpfen
der Kindheit baden, es reicht, wenn man
einmal den großen Zeh reinhängt«, sagt
Kräutter. Seinem Kollegen Steffes-Hollän-
der geht es darum, die Kopfgesteuerten
ins Fühlen zu bringen. »Die Patienten sol-
len Selbstfürsorge lernen, verstehen, dass
auch ihre Energien endlich sind.«
Die Hauptklientel in der Kurzzeitthera-
pie sind Manager aus dem hierarchischen
Mittelbau, sagt Steffes-Holländer. Oft kom-
men sie unvorbereitet in die Führungsrolle
und landen in einer unglücklichen Sand-
wichposition. Sie müssen gleichzeitig die
Bedürfnisse von Topmanagement und Mit-
arbeitern befriedigen, ohne wirklich durch-
regieren zu können. Die Erfolgserlebnisse
sind bescheiden, die Belastung ist riesig.
Wenn die persönlichen Bewältigungsme-
chanismen nicht mehr ausreichen, können
sie leicht erkranken.
Corona hat den Stresspegel noch ver-
stärkt. Die Trennung von Arbeit und Frei-
zeit löst sich auf, die sinnstiftenden Termi-
ne fallen weg. Bei fast allen Patienten, die
zuletzt in den Heiligenfeld-Kliniken Hilfe
suchten, hat die Verarbeitung der Pande-
mie die psychische Belastung zugespitzt.
Daniel Stolle / DER SPIEGEL
Dennoch schleichen sich die meisten pri-
vat dorthin, der Arbeitgeber soll nichts er-
fahren. Viele zeigen Stresssymptome wie
Bluthochdruck, Stimmungsschwankungen
oder Schlafstörungen. Aber psychisch
krank sind immer nur die anderen. »Die
Tabuisierung ist ähnlich groß wie die von
Homosexuellen im Profifußball«, sagt Stef-
fes-Holländer. Immer noch gilt in Mana-
gerkreisen: Im Puff darf man sich erwi-
schen lassen, nur nicht beim Therapeuten.
Wer sich outet, wird schon mal verspot-
tet. Als die Kommunikationswissenschaft-
lerin Miriam Meckel 2010 ein Buch über
ihren Burn-out veröffentlichte, schalt die
»Süddeutsche Zeitung« sie als »gierigen
Nimmersatt«, der auch nach der eigenen
Lebenskrise rastlos weiterschuftet.
Der Weg zur seelischen Gesundheit im
Arbeitsleben scheint lang – es gibt aber
Anlass zur Hoffnung. Etwa 15 bis 20 Pro-
zent der Patienten erkennen nach der
»Schnuppertherapie« die Notwendigkeit
für eine weitere mehrwöchige Behandlung.
Diese Kandidaten haben dann zumindest
eines geschafft: Sie glauben endlich nicht
mehr, unentbehrlich zu sein.
Michaela Schießl
69
Ausland

Eduardo Soteras / AFP

In der Region Tigray im Norden Äthiopiens hat die Stimmauszählung für das Regionalparlament begonnen. Auch
im Rest des Landes hätte gewählt werden sollen, doch die Regierung ließ die Abstimmungen wegen Corona
verschieben. Für Premierminister Abiy Ahmed stellt die Wahl eine Herausforderung dar, da seine Macht zu erodieren
droht. Der Konflikt zwischen der Zentralregierung und der strategisch wichtigen Region spitzt sich weiter zu.

Männer an Knöpfen
Analyse Mit zwei gegensätzlichen Strategien
wollte die US-Regierung Nordkorea
und Iran abrüsten – gescheitert sind beide.
G Bescheidenheit war nie die Stärke von Donald Trump. Für
sein diplomatisches Geschick verdiene er den Friedensnobel-
preis, sagt der US-Präsident gern. Dabei könnte seine Strategie
gegenüber Nordkorea und Iran nicht unterschiedlicher sein.
Gegen Iran geht die US-Regierung mit einer Politik des »maxi-
malen Drucks« vor, verhängt harsche Sanktionen und ließ im
Januar Irans strategisch wichtigsten Militär töten. Nordkoreas
Diktator Kim Jong Un dagegen wird von Trump als aufrichtiger
Mensch mit großartiger Persönlichkeit gerühmt, dem er sogar
von seinen Minzbonbons abgibt. Weniger als zwei Monate vor
der Präsidentschaftswahl in den USA muss man festhalten:
Beide außenpolitischen Strategien haben mangels echter
Verhandlungen wenig bewirkt. Sowohl Teheran als auch
Pjöngjang arbeiten weiter mit Hochdruck an ihren Nuklear-
programmen. Bis zu 40 nukleare Sprengköpfe besitzt das nord-
koreanische Regime, schätzen Experten. Wenn das stimmt,
hätte sich Kims Atomarsenal in nur einem Jahr verdoppelt.
Man wisse immer weniger darüber, was in dem Land wirklich
vor sich gehe, beklagen die Experten der Internationalen Atom-
energiebehörde (IAEA).
Iran hielt sich zwar zuvor an das Atomabkommen, das Trumps
Vorgänger Barack Obama mit ausgehandelt hatte – und aus
dem Trump austrat. Inzwischen jedoch ist Teheran laut IAEA
im Besitz von zehnmal so viel angereichertem Uran, wie das
Atomabkommen gestattet. An echter Diplomatie für einen neuen
Atomdeal scheint Trump derzeit nicht interessiert.
Über atomare Abrüstung zu verhandeln sei unvermeidlich,
warb der frühere US-Präsident Ronald Reagan einmal, damit
auch künftige Generationen nicht in der ständigen Gefahr leben,
dass »irgendein Verrückter irgendwo den Knopf drücken kann«.
Unter Trump ist diese Gefahr gestiegen. Katharina Graça Peters

70 DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020

Ägypten te Frauen erklärten sich im Philippinen Drogenkrieg getötet worden
Netz mit dem Opfer solida- Dutertes Eskalation sind. Duterte hatte 2016 sei-
Staat gegen risch. Schließlich wurden nen Wahlkampf mit dem Ver-
#MeToo auch die Behörden in diesem  Im Schatten des Corona- sprechen gewonnen, Dealer
und anderen Fällen aktiv: Lockdowns hat der philippini- töten zu lassen. Zudem nutzt
 Der Vorfall, der gerade Ende August erließ der Gene- sche Präsident Rodrigo Duter- der Präsident die Pandemie,
Ägyptens Generalstaatsan- ralstaatsanwalt Haftbefehle te seinen sogenannten Dro- um die philippinische Demo-
walt beschäftigt und das hal- gegen acht Verdächtige – ein genkrieg verschärft. Zwischen kratie noch weiter auszuhöh-
be Land in Aufruhr versetzt, ungeheurer Vorgang, der vie- April und Juli tötete die Poli- len. Im Juli unterzeichnete er
liegt schon etwas länger len Ägypterinnen Hoffnung zei 50 Prozent mehr ver- ein Antiterrorgesetz, das vor-
zurück: In einer Nacht im machte. Dann aber kam die meintliche Dealer und Abhän- sieht, Verdächtige ohne rich-
Februar 2014 traf sich eine Kehrtwende: Wenige Tage gige als im davorliegenden terliche Genehmigung bis
Gruppe junger Männer im darauf nahm Ägyptens Staats- Zeitraum – laut offizieller Sta- zu 14 Tage in Haft halten zu
Luxushotel Fairmont in Kairo sicherheit mitten in der Nacht tistik 155 Menschen. In dieser können. Im Juni wurde Maria
zu einer ausschweifenden drei Zeuginnen und einen tauchen allerdings keine Mor- Ressa, eine bekannte Jour-
Party. Auf der Feier sollen sie Zeugen fest, die in dem Fall de auf, die mutmaßlich von nalistin und Duterte-Kritike-
einer 18-jährigen Frau heim- ausgesagt hatten, sowie zwei Polizisten in Zivil oder Bür- rin, wegen »Verleumdung«
lich Beruhigungsmittel in den ihrer Freunde. Aktivisten, die gerwehren begangen werden, verurteilt. Dabei wäre die
Drink getan haben. Danach mit den Verhafteten in Kon- die sich mit den Behörden Lage auf den Philippinen
filmten sie sich dabei, wie takt stehen, berichten, dass koordinieren. Ihre Zahl liegt auch ohne Dutertes Attacken
sie die bewusstlose Teenage- sie angeblich demütigenden vermutlich weitaus höher. auf Demokratie und Men-
rin vergewaltigten. Jahrelang »Jungfräulichkeitstests« unter- Die Uno schätzte jüngst, dass schenrechte schon brenzlig
kursierte das Video über zogen worden seien. Nun mindestens 8663 Menschen, genug: Das Land befindet
WhatsApp und andere sozia- befinden sich die Zeugen auf möglicherweise jedoch auch sich seit Monaten teilweise im
le Medien, auch die Identität der Anklagebank. Ihnen wird dreimal so viele, bereits im Lockdown, die Krankenhäu-
der mutmaßlichen Täter wur- unter anderem vorgeworfen, ser sind über-
de öffentlich. Sie alle sind das Ansehen Ägyptens im füllt. Zu Beginn
aus reichen Familien, einer ist Ausland beschädigt zu haben. der Corona-
der Sohn eines berühmten Menschenrechtler vermuten, Maßnahmen
Ex-Fußballers, andere stam- dass sie eingeschüchtert wer- drohte Duterte
men aus Unternehmerkreisen. den sollen. »Wir befürchten, auch Regelbre-
Lange geschah nichts, dann dass noch mehr Aktivistinnen chern mit dem
aber formierte sich im Som- verhaftet werden«, sagt Amr Tod. Im April
mer in Ägypten eine #MeToo- Magdi von der Menschen- wurde ein 63-
imago images

Bewegung, die sexuelle Über- rechtsorganisation Human Jähriger von der

griffe gegen Frauen anpran- Rights Watch. »Andere Frau- Polizei erschos-
gert. Die mutmaßliche Verge- en der #MeToo-Kampagne sen, weil er kei-
waltigung von 2014 wurde haben ernst zu nehmende Polizisten einer Spezialeinheit ne Maske tragen
wieder zum Thema, Hunder- Drohungen erhalten.« RAS auf einem Markt in Manila wollte. RAS

Folter den. Und es beweist, dass es SPIEGEL: Sie haben einen der
»Jeder hat jetzt einen Platz sich lohnt zu kämpfen, wenn wichtigsten Qaida-Gefange-
man nur lange genug kämpft. nen, Abu Zubaydah, mit klas-
in der ersten Reihe« SPIEGEL: Was erfahren wir sischen Methoden vernom-
nun, was wir zuvor nicht lesen men. Obwohl er angefangen
In dem Buch erschien die Originalausgabe durften? hatte zu reden, mussten Sie
A. Olmos / ddp images

»The Black Ban-
ners« beschrieb
der ehemalige
FBI-Agent Ali
Soufan, 49, vor
neun Jahren
seine Erlebnisse in einem Ge-
heimgefängnis, in dem die
US-Regierung ab 2002 Qaida-
Gefangene vernehmen ließ.
Soufan war Zeuge der neuen
Foltermethoden geworden, die
Washington nach den 9/11-
Anschlägen als »verschärfte
Verhörmethoden« autorisiert
hatte. Seine Schilderungen
wurden damals von US-Behör-
den zensiert. In dieser Woche
erstmals in ganzer Länge.
SPIEGEL: Herr Soufan, Sie ha-
ben nach einem neunjährigen
Rechtsstreit erreicht, dass
Ihr Buch nun ungeschwärzt
erscheinen kann. Sind Sie
zufrieden?
Soufan: Das ist wirklich eine
historische Entscheidung.
Es ist meines Wissens das ers-
te Mal, dass Informationen,
die aus Gründen der nationa-
len Sicherheit zurückgehalten
wurden, nun ohne eine einzi-
ge Änderung veröffentlicht
werden dürfen, genauso wie
sie damals geschrieben wur-
Soufan: Die Wahrheit. Es
werden in der Regel ja keine
Lügen zensiert. Jeder kann
jetzt im Detail nachvollziehen,
dass die damals angewandten
Foltermethoden nicht zu den
gewünschten Ergebnissen
geführt haben. Sie haben nicht
eine einzige relevante Infor-
mation zutage gefördert. Das
Schöne ist, dass durch die
Aufhebung der Zensur jeder
Leser einen Platz in der ersten
Reihe bei den Vernehmungen
hat. Und jeder kann sehen,
wie der Fluss an Informationen
genau in dem Moment stopp-
te, als die Folter begann.
Ihre Befragungen plötzlich
einstellen. Was geschah dann?
Soufan: Wir hatten schon jede
Menge relevante Informatio-
nen bekommen. Er hatte den
führenden Kopf der Anschläge
von 9/11 identifiziert, Chalid
Scheich Mohammed. Dann
begannen sie ihn zu foltern,
und er hörte auf zu reden. Aus
Washington kamen Anfragen,
was denn plötzlich los sei. Und
doch ging die Folter weiter. BSA
Ali H. Soufan, Daniel Freedman:
»The Black Banners (Declassified):
How Torture Derailed the War
on Terror after 9/11«. W. W. Norton;
640 Seiten.

71
 Ausland

imago images
Präsident Trump, Reporter im Weißen Haus im Februar: »Das ist ein tödliches Zeug«

Kronzeuge gegen
sich selbst
USA Die Corona-Lügen Donald Trumps haben wohl Tausende Menschen das Leben gekostet –
das zeigt ein neues Enthüllungsbuch, an dem der Präsident persönlich mitgewirkt hat.

Z
u den großen Fragen der Ära Do-
nald Trump gehört, ob es die Ka-
tegorie des politischen Skandals
überhaupt noch gibt. Trumps
Amtszeit wurde von zahlreichen Büchern
begleitet, die in den schillerndsten Farben
die Inkompetenz und Führungsschwäche
des Präsidenten schildern.
Schon im Januar 2018, ein Jahr nach
Trumps Vereidigung, veröffentlichte der
Autor Michael Wolff einen Insiderreport,
der das Weiße Haus als einen Intrigan-
tenstadl beschreibt, der zu keiner ver-
nünftigen Entscheidung fähig sei. Kurz
darauf erschien das Buch »Furcht« des
Watergate-Enthüllers Bob Woodward,
in dem selbst enge Mitarbeiter den Präsi-
denten als »Idioten« und »Grundschüler«
bezeichnen. Die Memoiren von Trumps
ehemaligem Sicherheitsberater John Bol-
ton schließlich zeichnen das Bild eines
Präsidenten, der öffentlich den starken
Mann markiert, intern aber Diktatoren
wie den chinesischen Präsidenten Xi

72
Jinping um Hilfe bei der Wiederwahl
bittet.
In anderen Zeiten hätte jedes dieser
Bücher das Potenzial entwickelt, einen
Präsidenten zu stürzen. Aber Trump hat
die Maßstäbe für Anstand und Ehrlichkeit
in den vergangenen Jahren derart auf den
Kopf gestellt, dass ihm zumindest seine
Anhänger bisher alles verziehen; seine
Popularitätswerte sind niedrig, aber stabil.
Das neue Buch der Reporterlegende Bob
Woodward könnte allerdings tatsächlich
das Zeug haben, Trump den entscheiden-
den Hieb zu versetzen und seine Chancen
auf eine Wiederwahl am 3. November zu
torpedieren. Denn dieses Buch ist anders.
Die Recherchen Woodwards sind atem-
beraubend und so brisant, dass sich der
Reporter nun sogar dem Vorwurf ausge-
setzt sieht, er hätte sie viel früher öffent-
lich machen müssen. Der 77-jährige Jour-
nalist hat zwischen Dezember 2019 und
Juli 2020 insgesamt 18 Interviews mit
dem Präsidenten geführt. In den Gesprä-
chen macht Trump keinen Hehl daraus,
dass er schon früh über die Gefahr des
Coronavirus im Bilde war. »Das ist ein
tödliches Zeug«, sagte der Präsident am
7. Februar. »Du atmest die Luft, und so
wird es übertragen. Das ist sehr knifflig,
sehr heikel. Es ist auch tödlicher als die
Grippe.«
Woodward enthüllt zudem, dass der
Präsident von seinem Nationalen Sicher-
heitsberater Robert O’Brien am 28. Janu-
ar unmissverständlich darüber informiert
wurde, welch epochale Herausforderung
das Virus bedeutet: »Dies wird die größte
Bedrohung für die nationale Sicherheit
während Ihrer Präsidentschaft sein«, sag-
te O’Brien demnach zu Trump.
Trump aber dachte zunächst nicht da-
ran, die Öffentlichkeit über das Ausmaß
der heraufziehenden Katastrophe zu in-
formieren. Am 30. Januar sagte er auf
einer Veranstaltung in Michigan: »Wir ha-
ben alles unter Kontrolle.« Knapp zwei
Wochen später, am 10. Februar, behaupte-
te der Präsident: »Es sieht so aus, als wür-
de das Virus schon im April, wenn es etwas
wärmer wird, auf wundersame Weise ver-
schwinden.« Und am 24. März, als die In-
fektionszahlen in den USA anstiegen, kün-
digte er an, das Land schon drei Wochen
später, an Ostern, wieder öffnen zu wollen.
All diese Äußerungen hatten nichts mit
der Realität zu tun, und im Gespräch mit
Woodward räumte Trump das auch unum-
wunden ein. »Ich wollte das immer herun-
terspielen«, sagte der Präsident in einem
Interview am 19. März. »Ich spiele es im-
mer noch herunter, weil ich keine Panik
erzeugen will.«
Bis heute sind in den USA mehr als
191 000 Menschen an den Folgen der Co-
* Im Dezember 2019.
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
rona-Pandemie gestorben – mehr als in
sämtlichen Kriegen mit US-Beteiligung seit
1945 zusammengerechnet. Insgesamt ha-
ben sich über 6,3 Millionen mit dem Virus
infiziert; nirgendwo in der westlichen Welt
hat die Krankheit schlimmer gewütet, auch
weil Trump die Pandemie aus politischen
Gründen kleingeredet hat und immer wie-
der deutlich machte, dass er Schutzmasken
verabscheue. »Das Einzige, was ihn inte-
ressiert, ist seine Wiederwahl«, soll Antho-
ny Fauci, Amerikas oberster Seuchenbe-
kämpfer, Woodward zufolge geklagt haben.
Gibt es einen größeren politischen Skan-
dal? Richard Nixon musste zurücktreten,
weil er einen Einbruch in die Parteizentra-
le der Demokraten vertuschen wollte. Nie-
mand kam dabei ernsthaft zu Schaden, bei
der Affäre ging es allein um die Frage, ob
man dem Wort des Präsidenten trauen
kann. Trump dagegen hat mit seinen Lü-
Wie viele Narzissten lebt
Trump in der Annahme,
dass er jeden um den
Finger wickeln kann.
gen eine Jahrhundertpandemie ange-
facht – ganz offenbar, weil er von der
Furcht getrieben war, dass die Wahrheit
über die Seuche die amerikanische Kon-
junktur abwürgen könnte.
»Der Präsident hat wissentlich und wil-
lentlich seinen Amtseid verletzt«, sagt Law-
rence Gostin, Professor an der Georgetown
University in Washington. »Sein grob un-
ethisches Verhalten hat Zehntausende Ame-
rikaner das Leben gekostet.« Gostin glaubt
allerdings nicht, dass Trump deshalb eines
Tages strafrechtlich belangt werden kann.
»Erstens gibt es kein Gesetz, das man auf
einen solchen Fall anwenden könnte«, sagt
er. Zweitens genieße der Präsident weitge-
hende Immunität für seine Amtshandlun-
gen. »Trump muss politisch zur Verantwor-
tung gezogen werden«, sagt Gostin.
Interviewpartner Trump, Woodward*
»Krise des Regierens«
Wird das gelingen? Trump, so viel ist
gewiss, kann die Enthüllungen Wood-
wards nicht so einfach beiseiteschieben
wie frühere Bücher. Der Insiderreport
»Feuer und Zorn« des Journalisten Michael
Wolff wurde vom Trump-Lager als Erfin-
dung eines windigen Reporters abgetan,
der sich weitgehend auf anonyme Quellen
stütze. Die Memoiren von John Bolton
wiederum wurden von Trump als Rache-
akt eines enttäuschten Mitarbeiters klein-
geredet, der von der irrigen Idee besessen
gewesen sei, er könne den Präsidenten zu
seiner Marionette machen.
Woodward aber hat mit dem Präsiden-
ten selbst gesprochen, und er hat einige
der Interviews aufgezeichnet. Wenn man
so will, hat sich Trump zum Kronzeugen
gegen sich selbst gemacht. Deshalb ist das
Buch für ihn so gefährlich. Wie nervös das
Trump-Lager ist, ließ sich in dieser Woche
an den Abendshows auf Trumps Lieblings-
sender Fox News ablesen. Dort ging der
Starmoderator Tucker Carlson – ein uner-
schütterlicher Verteidiger Trumps – Sena-
tor Lindsey Graham frontal an, weil der
dem Präsidenten angeblich geraten hat,
sich mit Woodward zu treffen.
Tatsächlich erscheint es rätselhaft, wa-
rum sich Trump überhaupt zur Mitarbeit
an Woodwards Buch überreden ließ. Des-
sen erstes Werk »Furcht« über die Ära
Trump war für den Präsidenten alles an-
dere als schmeichelhaft. Ganz offenkundig
hat Trump geglaubt, dass er seine Amts-
zeit in ein besseres Licht rücken könne,
wenn er mit Woodward persönlich rede.
Wie so viele Narzissten lebt Trump in der
Annahme, dass er mit seinem Charisma
jeden um den Finger wickeln kann.
Woodward allerdings ist ein unbestech-
licher Chronist amerikanischer Präsiden-
ten. Seit er zusammen mit seinem Kolle-
gen Carl Bernstein Richard Nixon zu Fall
brachte, hat er über fast jeden US-Präsi-
denten geschrieben. Beinahe alle seine Bü-
cher sorgten für Aufregung, oft zum Scha-
den der Regierung. Jeder Präsident, der
sich mit Woodward eingelassen hat, habe
es am Ende bereut, sagt Karl Rove, einst
Berater von George W. Bush.
Was die Ära Trump aus Woodwards
Sicht einzigartig macht, ist das Machtva-
kuum im Oval Office. Es gebe nur selten
jene intensiven Stunden der Entscheidung,
in denen der Präsident mit einem Stab von
Beratern um Krieg und Frieden ringe, so
Woodward. Trumps Entscheidungen fie-
len durch Vermeidung. »Die Krise, in der
wir stecken, ist tatsächlich eine Krise des
Regierens«, sagte Woodward im Gespräch
mit dem SPIEGEL vergangenes Jahr.
Trump kann nur darauf hoffen, dass die
meisten Amerikaner eine gefestigte politi-
sche Meinung haben – und dabei bleiben.
Mehr als 90 Prozent der US-Bürger haben
sich laut Umfragen schon entschieden,
73
 Ausland

wen sie am 3. November wählen werden.

Trumps Basis lässt sich von Enthüllungen
nicht beeindrucken, schon gar nicht,
wenn sie von einem ehemaligen Reporter
der »Washington Post« kommen, die von
Das Biest und
Trump seit Jahren als Speerspitze der
»Fake News«-Presse beschimpft wird.
»Welches Buch?«, sagt Amanda, 28, die
in einem Detroiter Vorort vor einem loka-
die Schöne
len Büro des Trump-Wahlkampfteams steht Dynastien Donald Trump Jr stand lange im Schatten seiner
und sich Aufkleber für ihren Pick-up abholt.
Hier in Michigan waren die Demokraten Schwester Ivanka. Aber mit brachialen Auftritten empfiehlt er
über Jahrzehnte die dominierende Kraft. sich der Republikanerbasis als der wahre Erbe des Präsidenten.
Bis Trump 2016 den Bundesstaat gewann:
ein Erfolg, den er gern wiederholen würde.
Wird er selbst einmal fürs Weiße Haus kandidieren?
Und das scheint nicht ausgeschlossen.
»Man muss sich beeilen. Vor allem die
Werbeschilder für die Gärten sind immer
schnell vergriffen«, sagt Tim, 60, ein pen-
sionierter Feuerwehrmann. »Ich verstehe
gar nicht, wie die Umfragen zustande kom-
men, die Joe Biden immer vorne sehen«,
sagt er. »In meinem Freundeskreis ist das
Verhältnis von Trump-Fans zu Biden-Un-
terstützern bestimmt 100 zu eins.«
Tatsächlich ging die Wahl im Jahr 2016
äußerst knapp aus. In Staaten wie Wis-
consin oder Pennsylvania lag Trump am
Ende nur ein paar Zehntausend Stimmen
vorn. Für einen Sieg wird es nicht reichen,
wenn Trump lediglich den harten Kern
seiner Unterstützer mobilisiert. Er
braucht die Wechselwähler, Menschen
über 65 etwa, die früher mal für die De-
mokraten gestimmt haben. Trump zog
auch deshalb ins Weiße Haus ein, weil
sich im Jahr 2016 die amerikanischen Se-
nioren mit deutlicher Mehrheit für ihn
entschieden haben.
Die jedoch trifft die Pandemie beson-
ders hart. Schon vor der Veröffentlichung
des Woodward-Buchs hat die Zustimmung
für Trump bei Wählern über 60 deutlich
nachgelassen. Nun könnten die Zahlen
weiter in den Keller gehen.
Dazu kommt, dass die Scheinwerfer
nun wieder auf etwas gerichtet sind, das
die Republikaner eigentlich vermeiden
wollten: auf den Charakter des Präsiden-
ten. Trump konnte es als Erfolg verbuchen,
dass das Land in den vergangenen Wochen
vor allem über die Unruhen diskutierte,
die viele amerikanische Innenstädte er-
schütterten. Das gab ihm die Gelegenheit,
sich als Hüter von Recht und Ordnung zu
präsentieren. Ab jetzt redet die Nation
wieder über die Fähigkeiten des »comman-
der-in-chief«. Ein Thema, bei dem es für
Trump nichts zu gewinnen gibt.
Gabrielle Hauth, Roland Nelles,
Kevin Lamarque / REUTERS

Christoph Scheuermann, René Pfister

‣ Lesen Sie auch auf Seite 104

Porträt des Psychiaters Otto Kernberg,
der sorgenvoll auf den Narzissten
Trump schaut
Wahlkämpfer Trump Jr: »Was, wenn er ein Verlierer ist?«

74
Z
u den Konstanten der Familie
Trump gehört, dass sich viele Rän-
kespiele und Eifersüchteleien auf
offener Bühne abspielen. Mitte
Juni sitzt Donald Trump Jr im Weißen
Haus, anlässlich des Vatertags in den USA.
Der 42-Jährige wirkt wie der Reporter ei-
ner Schülerzeitung, der sein Glück nicht
fassen kann, den amerikanischen Präsiden-
ten interviewen zu dürfen. Der Blick des
Sohnes flattert, er lacht nervös. Auf seinem
Schoß liegen – sorgfältig eingeschlagen in
ein graues Etui – die vorbereiteten Fragen.
Er habe, sagt Don Jr, heute die einmali-
ge Chance, den mächtigsten Vater der
Welt zu interviewen. Deswegen werde er
gleich zu Beginn eine Frage stellen, die
nicht nur seine Zuschauer beschäftige, son-
dern ihn ganz persönlich. Er führt die rechte
Hand zur Brust und sagt: »Wie heißt dein
Lieblingskind, und warum ist es Ivanka?«
Donald Trump blickt vergnügt zu sei-
nen Beratern – »Gescheites Kerlchen«,
witzelt er. Dann sagt er zu seinem Sohn,
der ihn mit einer Mischung aus Heiterkeit
und banger Erwartung anblickt: »Ich mag
alle gleich. Zu 100 Prozent!«
»Zu 100 Prozent?«, fragt Don Jr.
»Hundertprozentig«, antwortet der Va-
ter. »Wegen dieses Interviews würde ich
vielleicht sagen: Du bist es. Aber ansons-
ten: alle gleich.«
»Die Zukunft«, erwidert der Sohn, »wird
zeigen, was da dran ist.«
Don Jr, ältester Sohn des US-Präsiden-
ten, hat allen Grund, den Schmeicheleien
seines Vaters zu misstrauen. Seine Mutter
Ivana brachte ihn am 31. Dezember 1977
zur Welt, die Hochzeit mit Donald Trump
lag knapp neun Monate zurück. Trump
war damals noch ein namenloser 31-jähri-
ger Immobilienunternehmer, der sein Geld
mit Sozialwohnungen in Queens verdien-
te, sich aber unbedingt den Weg in die
feine Gesellschaft Manhattans bahnen woll-
te. Wie Donald wollte auch Ivana nach
oben, sie war der Enge ihrer tschechoslo-
wakischen Heimat entflohen und hatte ihr
Glück in der Modebranche Nordamerikas
versucht, bevor sie Trump kennenlernte.
Als der junge Vater seinen Erstgebore-
nen in die Arme nimmt, sagt Ivana, sie
wolle das Kind »Donald Junior« nennen.
So schreibt sie es in ihren Memoiren.
»Das kannst du nicht machen«, erwidert
Trump.
»Warum nicht?«
»Was, wenn er ein Verlierer ist?«
Es ist eine Sorge, die Donald Trump of-
fenkundig sein ganzes Leben lang nicht
losgelassen hat. Er hat insgesamt fünf Kin-
der, aber nur zwei mischen im politischen
Geschäft mit, zuallererst Ivanka, die ältes-
te Tochter und das Sonnenkind der Fami-
lie. Mit ihr posierte Trump schon, als sie
noch ein Teenager war. Es gibt ein Foto
aus den Neunzigerjahren, wie Donald
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
Patriarch Trump, Ex-Frau Ivana, Sohn Eric, Tochter Ivanka 1998: »Ganz schwer zu schlagen«
die 15-jährige Ivanka auf dem Schoß hat.
Sie trägt einen Minirock und schaut den
Vater schmachtend an, während der voller
Stolz in die Kamera blickt. »Es ist gar kei-
ne Frage, dass Ivanka immer sein Lieb-
lingskind war«, sagt der republikanische
Stratege Sam Nunberg, der Trump bis
2015 beriet.
Don Jr dagegen musste um die Gunst
des Vaters buhlen. Im Gegensatz zu seiner
Schwester Ivanka zog es ihn nie in die fei-
nere New Yorker Gesellschaft. Als Student
begann er, in den Wäldern von Pennsylva-
Wie tief der Graben in
der Familie ist, ließ sich
auf dem Parteitag der
Republikaner beobachten.
nia zu jagen, was ihn im Ansehen seines
Vaters nicht steigen ließ. »Er ist nicht ge-
rade das schärfste Messer in der Schub-
lade«, soll der Vater einmal über seinen
Ältesten gesagt haben.
Lange sah es so aus, als würde Ivanka
ganz selbstverständlich die politische Er-
bin ihres Vaters werden. Als Trump im
Januar 2017 ins Weiße Haus einzog, holte
sich der Präsident die Tochter mitsamt
ihrem Gatten Jared Kushner als »Sonder-
berater« in den Westflügel. Noch im ver-
gangenen Jahr dachte Trump in einem In-
terview mit dem Magazin »The Atlantic«
laut darüber nach, Ivanka zur Chefin der
Weltbank zu machen oder als Uno-Bot-
schafterin nach New York zu schicken.
Sollte seine Tochter eines Tages Präsident-
schaftskandidatin werden, sagte Trump,
wäre sie »nur ganz schwer zu schlagen«.
Davidoff Studios / Getty Images
Nun aber, zwei Monate vor der Wahl,
sind die Dinge ins Rutschen geraten. Der
Skandal um Trumps Corona-Bekenntnis
im neuen Buch der Reporterlegende Bob
Woodward lässt noch mal zweifelhafter er-
scheinen, dass sich Trump im Weißen Haus
halten kann. Und die Umfragen sind schon
länger mies. Aber gerade deshalb ist in
der Familie ein Machtkampf über die Fra-
ge ausgebrochen, wer das politische Ver-
mächtnis des Vaters übernehmen soll. Und
wem es gelingen könnte, die Millionen An-
hänger des Trumpismus hinter sich zu scha-
ren, die wohl auch dann nicht verschwin-
den werden, wenn der Demokrat Joe
Biden am 3. November gewinnen sollte.
Wie schon seine Immobilienfirma führt
Trump auch seine politischen Geschäfte
im Stil eines Clans. Er und seine Leute
haben nie einen Zweifel daran gelassen,
dass der Wahlsieg des Jahres 2016 nur der
Grundstein für ein politisches Imperium
darstellen soll. »Die Trumps werden eine
Dynastie sein, die über Jahrzehnte andau-
ern und die Republikaner in eine neue
Partei verwandeln wird«, sagte Trumps
Wahlkampfmanager Brad Parscale im Sep-
tember 2019.
Don Jr will seiner jüngeren Schwester
nicht einfach das Feld überlassen, das
wird immer klarer. Wie tief der Graben in
der Familie inzwischen ist, ließ sich auf
dem Parteitag der Republikaner vor zwei
Wochen beobachten, der als große PR-
Show des Trump-Clans angelegt war. Wie
immer bekam Ivanka von ihrem Vater
einen bevorzugten Platz zugewiesen. Sie
durfte direkt vor dem Präsidenten spre-
chen und so lange wie kein anderes der
fünf Trump-Kinder.
Aber ihre Rede war blass und blieb
ohne Widerhall. Sie lobte ihren Vater als
75

hart arbeitenden Präsidenten, der nur auf
Twitter manchmal etwas über die Stränge
schlage. Es war eine Rede, die jene mode-
raten Wähler beruhigen sollte, die wie
Ivanka mit Trumps roher Sprache hadern.
Don Jr dagegen dachte gar nicht daran,
sich für den Vater zu entschuldigen. Er feu-
erte in seiner nur zehnminütigen Rede eine
Attacke nach der anderen auf die Demo-
kraten ab. Er nannte Joe Biden »das Mons-
ter des Sumpfes« in Washington und be-
hauptete, Demokraten wollten die USA
in eine Diktatur der politischen Korrekt-
heit verwandeln. Mit Joe Biden als Präsi-
dent »wird es keine schweigende Mehrheit
mehr geben – sondern eine Mehrheit, die
zum Schweigen gebracht wird«, sagte Don
Jr. Die Rede strotzte nur so vor Verdre-
hungen und Lügen, aber es war eben auch
jene Mischung, die Trump ins Weiße Haus
getragen hat und die seine Anhänger so
schätzen.
»Donald Trump Jr ist ein Kämpfer«,
sagt der ehemalige Trump-Berater Nun-
berg. »Niemand versteht es, so geschickt
die republikanische Basis anzusprechen.«
Tatsächlich hat es Don Jr in den vergange-
nen Jahren geschafft, sich als bodenstän-
diger und zugleich kämpferischer Gegen-
entwurf zu Ivanka und ihrem Mann Jared
zu positionieren. Die werden im Lager der
Trump-Puristen misstrauisch beäugt und
gelten als New Yorker Schnösel, die nur
mit Mühe ihre liberalen Ansichten verber-
gen können.
In diesem Ruch stand Don Jr nie. Er
wurde einem größeren Publikum erstmals
durch einen Skandal bekannt. Im Sommer
2017 enthüllte die »New York Times«,
dass sich Don Jr im Wahlkampf mit einer
russischen Anwältin getroffen hatte, die
Liebespaar Trump Jr, Kimberly Guilfoyle: Eine Attacke nach der anderen
76
Ausland
Schmutzgeschichten über Trumps Kon-
kurrentin Hillary Clinton anbot. An dem
Treffen im Trump Tower hatte auch Ivan-
kas Ehemann Jared teilgenommen. Aber
als die ersten Schlagzeilen erschienen,
schob er alle Schuld auf Don Jr. Der wähl-
te eine ganz andere Verteidigungsstrate-
gie. Ein paar Tage nach der Enthüllung
gab Don Jr dem Fox-News-Star Sean Han-
nity ein Interview und erklärte, die ganze
Sache sei nichts als eine Schmutzkam-
pagne der linken Mainstreampresse.
Im Frühjahr 2018 brachte ein gemein-
samer Freund Don Jr mit Andy Surabian
zusammen. Surabian war damals erst
Ivanka fühlte sich nie
wohl vor einer Masse,
die MAGA-Kappen trägt
und »CNN sucks« brüllt.
Ende zwanzig, aber schon ein Star in der
Szene der ultrakonservativen Politstrate-
gen. Seine Karriere hatte er bei dem rech-
ten Krawallportal Breitbart begonnen und
wurde im Wahlkampfjahr 2016 Teil des
»Trump War Room«. »Diese Jungs sind
verdammte Killer«, sagte Trumps Wahl-
kampfberater Steve Bannon damals. »Es
sind meine Psychos, die den ganzen Scheiß
machen und dabei keine Sekunde schla-
fen.« Für Surabian waren die Worte Ban-
nons wie ein Ritterschlag.
Don Jr fragte den jungen Strategen, ob
er für ihn arbeiten wolle, und der schlug
sofort ein. Surabian erkannte, wo die
Stärken seines neuen Chefs liegen. An der
New Yorker Upper East Side mag man die
Evan Vucci / AP
Nase rümpfen über einen Mann, der mit
einer großkalibrigen Büchse Elefanten in
Afrika erlegt und vor der Küste Floridas
Streifenbarsche mit einem Speer jagt.
Aber die USA sind ein Land, in dem es an
jeder größeren Autobahnkreuzung Angel-
läden gibt, so weitläufig wie Baumärkte
in Deutschland.
»Die Leute merken einfach, dass Don
kein Schwindler ist«, sagt Surabian. »Waf-
fenfans sind ein großer Teil der republika-
nischen Basis, und wenn er vor 200 Jägern
in Montana redet, dann glauben ihm die
Leute. Sie merken instinktiv, dass Don
einer von ihnen ist.« Anfang des Jahres
posierte Don Jr auf seinem Instagram-
Account mit einem Sturmgewehr, auf des-
sen Magazin ein Bild von Hillary Clinton
hinter Gitterstäben prangte. Die Aufre-
gung im Netz war riesig, aber genau das
wollte Don Jr wohl erreichen.
Surabian sagt, es sei vollkommener Un-
sinn, von einer Rivalität zwischen Ivanka
und Don Jr zu sprechen. Beide zielten ein-
fach auf unterschiedliche Wählergruppen.
Allerdings hat sich Ivanka inzwischen so
weit von der radikalen Basis ihres Vaters
entfernt, dass sie kaum noch als Trump-
Erbin infrage kommt. Ivanka fühlte sich
nie wohl vor einer Masse, die MAGA-Kap-
pen trägt und wie in Trance »USA! USA!«
oder »CNN sucks« brüllt.
Ivanka mag vielleicht immer noch der
Liebling des Präsidenten sein, aber poli-
tisch ist ihr Einfluss begrenzt. Trotz ange-
strengter Lobbyversuche zusammen mit
ihrem Mann Jared konnte sie nicht verhin-
dern, dass Trump 2017 ankündigte, aus
dem Pariser Klimaabkommen auszustei-
gen. Auch auf der internationalen Bühne
ließ man Ivanka Trump spüren, wie wenig
ernst man sie nimmt.
Im Juni vergangenen Jahres ging ein Vi-
deo um die Welt. Es zeigt, wie sich Ivanka
auf dem G-20-Gipfel in Osaka vergebens
darum bemüht, sich in ein Gespräch mit
der damaligen IWF-Chefin Christine La-
garde, dem französischen Präsidenten
Emmanuel Macron und der damaligen
britischen Premierministerin Theresa May
einzuklinken. Ivanka wirkte wie eine
Unbeteiligte, die auch mal was zur Welt-
politik loswerden will.
Don Jr bemüht sich erst gar nicht um
die Gunst des liberalen Amerika. »Ich glau-
be, ich habe es einfach einen Tick früher
als meine Schwester verstanden, dass die
Leute anders auf uns blicken, seitdem
mein Vater gewonnen hat«, sagte er vor
ein paar Monaten in einem Interview. Don
Jr reicht es völlig, wenn er in der Welt des
rechten Fernsehsenders Fox News ein
Held ist. Dessen Moderator Sean Hannity
nennt ihn einen »geborenen Anführer«.
Zu Juniors Freunden und Verbündeten
zählt Matt Gaetz, einer der treuesten
Trump-Jünger im US-Kongress, aber auch
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020

Richard Grenell, der ehemalige US-Bot-
schafter in Berlin. Grenell trat vor eini-
gen Wochen im Videopodcast von Don
Jr auf. Er trug einen Kapuzenpulli und
ein tief ausgeschnittenes T-Shirt und er-
klärte, warum er von den Deutschen so
schrecklich enttäuscht ist. »Sie betreiben
eine Wirtschaftspolitik nach dem Motto:
›Deutschland zuerst‹, wollen aber gleich-
zeitig außenpolitisch wie die Schweiz auf-
treten«, klagte Grenell. »Sie möchten ein-
fach mit jedem befreundet sein.«
Die Frage ist, welchen Schritt Don Jr
als Nächstes unternimmt. Als er vor der
Coronakrise noch bei Veranstaltungen
des Vaters einheizte, schrie die Menge
nicht selten: »46! 46!« Sein Vater ist der
45. US-Präsident, Dons Fans wollen, dass
er die Nachfolge übernimmt, wenn der
Patriarch abtritt.
Der ehemalige Wahlkampfberater Nun-
berg meint: »Don Jr sollte sich um ein Amt
bewerben. Er sollte seinen Hauptwohnsitz
nach Florida verlegen und sich dort als
Gouverneur bewerben. Das wäre der erste
Schritt zur Präsidentschaft.« Sein Berater
Surabian wiegelt ab und meint, sein Chef
habe derzeit keine Ambitionen auf ein
Amt. Ihm gehe es allein um die Wieder-
wahl des Präsidenten. Aber: »Ich kann
nicht sagen, was in 10 oder 15 Jahren ist.«
Das Schicksal von Don Jr, so viel ist
sicher, hängt vor allem an dem seines Va-
ters. Bleibt Donald Trump im Amt, hat
der Sohn vier weitere Jahre, um sich als
wahrer Erbe des Trumpismus zu empfeh-
len. Das wäre das günstigste Szenario.
Verliert der Präsident knapp gegen
Biden, wird es einen Kampf um die Füh-
rung der Republikaner geben. Nikki Ha-
ley, die ehemalige Gouverneurin von
South Carolina, will vermutlich im Jahr
2024 als Präsidentschaftskandidatin an-
treten. Sie hat dafür schon in aller Stille
Personal rekrutiert. Fährt Donald Trump
am 3. November dagegen eine krachende
Niederlage ein, dürfte dies auch das poli-
tische Schicksal seines Sohnes besiegeln.
Denn warum sollten die Republikaner
ihre Zukunft einem Mann anvertrauen,
der wie die überdrehte Variante eines in
Schimpf und Schande abgewählten Präsi-
denten wirkt?
In seinem Vatertagsinterview präsen-
tiert Don Jr noch einen Videoclip. »Es
ist ein Geschenk für dich«, sagte der
Sohn stolz und lässt einen kurzen Film
abspielen, in dem so getan wird, als würde
sich Osama bin Laden den Demokraten
Joe Biden als neuen US-Präsidenten
wünschen. Es ist – selbst für Trump-Ver-
hältnisse – ein bemerkenswert perfides
Machwerk. Als es zu Ende ist, nickt der
Präsident gnädig seinem Sohn zu und
sagt: »Ein sehr schönes Geschenk.«
René Pfister
77
Programm
SPIEGEL TV
Migrantenschlauchboote im Hafen
SPIEGEL TV SPIEGEL TV WISSEN
MONTAG, 14. 9., 23.25 – 0.00 UHR, RTL DIENSTAG, 15. 9., 21.45 – 22.45 UHR, SKY
und bei allen führenden Kabelnetzbetreibern
Mit dem Schlauchboot
nach Dover Super Heroes
An Englands Küste werden Flüchtlinge Sporttrainer und Physiotherapeut
von militanten Protestlern erwartet. Arnaud Tortel trifft in der Serie
Menschen mit außergewöhnlichen
Windräder und Fähigkeiten. Er begleitet den
Vogelkiller Extremtaucher und Apnoetauch-
Wer tötet die Rotmilane in weltmeister Umberto Pelizzari
Schleswig-Holstein? und trifft die Big-Wave-Surferin
Justine Dupont. Die Französin hat
Erst Hotspot und jetzt? die mit 23 Metern wahrscheinlich
Corona im bayerischen größte Welle bezwungen, die
Tirschenreuth jemals von einer Frau gesurft wurde.
SPIEGEL TV WISSEN SPIEGEL GESCHICHTE
DIENSTAG, 15. 9., 21.00 – 21.45 UHR, SKY MITTWOCH, 16. 9., 21.05 – 22.00 UHR, SKY
und bei allen führenden Kabelnetzbetreibern
Schamane, Guru & Co. –
Esoteriker in den USA
Ein neues »New Age« der Esoterik
und Spiritualität erfasst die USA. Fast
vier Millionen Amerikaner glauben
an selbst ernannte Heiler und Gurus.
Der Schamane Durek Verrett berech-
net seinen Anhängern 1000 Dollar
SPIEGEL TV
für eine private Sitzung. Einblicke in
bizarre Gedankenwelten.
Flugkapitänin Bub
Premiere im Airbus A320
18 Jahre lang hat Stefanie Bub auf
ihre Kapitänsstreifen hingearbeitet –
zuletzt als Senior First Officer auf
Schamane Durek Verrett
dem Airbus A380. Nach einem fünf-
monatigen Training ist es nun so
weit: Oslo, Frankfurt, Nizza und dann
zurück nach Frankfurt. SPIEGEL TV
hat die frischgebackene A320-Kapi-
tänin bei ihrer Premiere begleitet. Schamane Verrett, Klientin

»Wir öffnen die Pubs vor den
Schulen – das sagt doch alles«
SPIEGEL-Gespräch Der britische Topkolumnist John Kampfner hat ein Loblieb
auf Deutschland verfasst und erklärt, wieso sein Land im Vergleich kindisch ist und
was ein Clown wie Boris Johnson über das Königreich verrät.
Kampfner, 57, gehört zu den einflussreichs-
ten politischen Kommentatoren im Vereinig-
ten Königreich. Er arbeitete unter anderem
für die BBC, die »Financial Times« und den
»Daily Telegraph«. Für Letzteren war er zum
Zeitpunkt des Mauerfalls als Korrespondent
in Berlin tätig. In Großbritannien ist soeben
sein viel beachtetes Buch »Why the Germans
Do it Better« (Verlag Atlantic) erschienen.
SPIEGEL: Herr Kampfner, erinnern Sie sich
an die »Sun«-Schlagzeile, als Deutschland
und England 1996 bei der Fußballeuropa-
meisterschaft aufeinandertrafen?
Kampfner: Ja klar. »Let’s Blitz Fritz« –
lasst uns die Deutschen im Blitzkrieg be-
siegen. All diese Schlagzeilen, Songs und
Scherze sind seit meiner Kindheit in mein
Gedächtnis eingraviert.
SPIEGEL: Über den Krieg zu reden war
immer ein Volkssport in Großbritannien.
Kampfner: Das sollte oft witzig sein, drif-
tete aber immer ins Überhebliche und
signalisierte den »Krauts«, sie sollen bloß
nicht auf dumme Ideen kommen.
SPIEGEL: Seither ist viel passiert. Briti-
sche Museen ehrten zuletzt regelmäßig
Künstler wie Sigmar Polke oder Andreas
Gursky. Der Trainer Jürgen Klopp hat
mit Liverpool die erste Meisterschaft
seit 30 Jahren gefeiert. Londoner stehen
Schlange, um bei »Herman ze German«
Würstchen aus dem Schwarzwald zu ver-
tilgen. Was ist mit den guten alten Kli-
schees passiert?
Kampfner: Hinter den Klischees und dem
ganzen Gift verbarg sich immer schon
eine Wertschätzung für Deutschland. Und
da geht es um mehr als deutsche Effizienz
und Ingenieurskunst. Eine der vielen Tra-
gödien des Brexits ist, dass Deutschland
mit Großbritannien in den meisten welt-
bewegenden Fragen viel mehr an einem
Strang zieht als mit anderen europäischen
Nationen.
SPIEGEL: Wie haben Ihre Freunde darauf
reagiert, dass Sie ein Buch über die for-
midablen Deutschen schreiben?
Kampfner: In Großbritannien sagten vie-
le: »Wird auch Zeit.« Wenn ich Deutschen
von meinem Buchtitel erzählte, haben sie
78
Ausland
gelacht oder aufgeheult, und alle meinten:
»Das kann man doch nicht sagen.«
SPIEGEL: Wir sind es nicht gewohnt, be-
wundert zu werden.
Kampfner: Ich glaube, viele Deutsche ge-
stehen sich insgeheim zu, dass sie auf vie-
len Ebenen nicht nur eine kompetentere
Gesellschaft entwickelt haben – das weiß
eh jeder –, sondern auch eine, die mitfüh-
lender und sozial verantwortlicher ist als
andere. Was daraus folgt, ist bislang jedoch
unklar. Für die Deutschen stellt sich jetzt
die Frage, wie sie ihren Erfolg in einen grö-
ßeren Rahmen stellen können.
SPIEGEL: Ihr Buch erscheint in einer Zeit,
in der wohl mehr als 50 000 Briten an
Covid-19 gestorben sind, aber weniger als
10 000 Deutsche. Die britische Wirtschaft
ist in die schwerste Rezession seit mehr
als 300 Jahren gerutscht, die deutsche
kann auf eine schnelle Erholung hoffen.
Was genau machen die Briten falsch?
Kampfner: Wie viel Zeit haben Sie?
SPIEGEL: So viel wie nötig.
Kampfner: Eines unserer größten Proble-
me ist, dass wir im Prinzip seit dem Zwei-
ten Weltkrieg das traditionelle Handwerk
der Kompetenz geringgeschätzt haben.
Ossi Piispanen / DER SPIEGEL
Autor Kampfner
»Wie ein Loch im Herzen«
Wir verstecken uns hinter früheren Erfol-
gen, Anmaßung und englischem Exzep-
tionalismus. Wir wurschteln uns durch und
waren in der Vergangenheit ganz erfolg-
reich damit. Daher lassen sich bis heute
nicht nur unsere Politiker Sand in die Au-
gen streuen. Aber wenn der Brexit uns
irgendetwas lehrt, dann das: Vergangenem
Ruhm nachzulaufen ist nicht nur absurd,
sondern extrem ineffizient.
SPIEGEL: Das sieht offenbar nicht jeder so.
Die BBC wollte am Ende ihres Musikfesti-
vals »The Proms« das Lied »Rule, Britan-
nia!« diesmal ohne Textpassagen wie »Bri-
ten werden niemals Sklaven sein« spielen.
Sofort brach ein Sturm der Entrüstung los.
Kampfner: Und dieser Sturm erklärt alles,
was man über unsere Insel wissen muss.
Persönlich sind mir Menschen egal, die
Plastikfähnchen schwenken und dabei
alberne Lieder singen. Aber es deprimiert
mich, dass das offenbar für einen beträcht-
lichen Teil der Bürger von großer Bedeu-
tung ist. Scheint eine Art Nostalgiebalsam
für schwierige Zeiten zu sein.
SPIEGEL: War der Brexit der Auslöser für
Ihr Buch?
Kampfner: Der Brexit ist für mich wie ein
Loch im Herzen. Er beschädigt alle moder-
nen, aufgeschlossenen Briten. Es gab Zei-
ten, als ich wirklich stolz auf mein Land
war. Etwa in den ersten Jahren unter Tony
Blair. Das ging schon Mitte der Neunzi-
gerjahre los, als das Land das ewige billige
Fahnenschwenken leid war und anders
werden wollte. Damals haben wir Tugen-
den wie Unternehmergeist, Innovation,
Flexibilität entdeckt und haben sie mit
Europa und der Welt geteilt. Man kann
endlos über den späteren Blair streiten,
aber in seinen ersten vier, sechs Jahren
hat er diesen Traum genährt. Es ist traurig,
dass er die britische Gesellschaft nicht noch
stärker in diese Richtung geschubst hat.
SPIEGEL: Unter Blair war immer von »Cool
Britannia« die Rede. Wollen Sie uns jetzt
»Cool Germania« andrehen?
Kampfner: Na ja, also zunächst mal gibt
es viele Dinge, die an Deutschland wahn-
sinnig uncool sind. Das sind auch Kli-
schees, aber sie treffen zu: allzu neugierige

Brexit-Anhänger in London 2019: »Eine Art Nostalgiebalsam für schwierige Zeiten«
Nachbarn, die Bürokratie, der oft schreck-
liche Service, die Risikoscheu, die ständige
Bevormundung, die Rüdheit, vor allem in
Berlin. Das kann einen fertigmachen. Statt
»cool« würde ich eher umsichtig sagen.
SPIEGEL: Inwiefern?
Kampfner: Deutschland manövriert sich
gewissenhaft durch die Welt und lernt da-
bei aus eigenen und fremden Fehlern. Das
Land hat außergewöhnliches Potenzial,
um eine Führungsrolle in der Welt zu über-
nehmen. Sobald man das sagt, flippen Deut-
sche aus. Sie halten das für nationalistisch
und fürchten, die alten Geister kehrten zu-
rück. Aber ich kenne keine andere Gesell-
schaft, in der die zentralen Grundsätze der
liberalen Demokratie und Werte wie so-
zialer Zusammenhalt und Vertrauen so
gründlich überprüft und behütet werden
wie in Deutschland. Die deutsche Demo-
kratie ist weder hochmütig noch nachlässig,
das ist insbesondere in Zeiten des Um-
bruchs immer deutlich geworden.
SPIEGEL: Von welchen Zeiten reden Sie?
Kampfner: Nehmen Sie die Wiedervereini-
gung. Kein anderes Land hätte es geschafft,
ohne große Verwerfungen 16 Millionen
Menschen aufzunehmen, die nur Diktatu-
ren kannten, deren Wirtschaft in Trüm-
mern lag, deren Umwelt zerstört und deren
Infrastruktur aufgelöst war. Das ist unglaub-
lich. Dazu kann man nicht »Ja, aber« sagen,
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
man sollte es anerkennen und verinnerli-
chen. Oder schauen Sie auf die Flüchtlings-
krise 2015. Fast jedes Land Europas sagte
damals Nein zu dieser Karawane des Elends.
Was dagegen Angela Merkel tat und was
anschließend passierte, die Willkommens-
kultur, das war außergewöhnlich.
SPIEGEL: Ja, aber die Willkommenskultur
hielt nicht lange. Sie wurde abgelöst von
einem sich rasch ausbreitenden rechten
Populismus. Und am Ende zahlte die EU
auf Merkels Initiative hin der türkischen
Regierung drei Milliarden Euro, damit sie
die Flüchtlinge stoppt.
Kampfner: Das stimmt, der Deal mit Er-
doğan war ein anschauliches Beispiel für
Realpolitik. Aber rund eine Million Flücht-
linge, die im Land waren, sind geblieben.
Das ist eine bemerkenswerte Zahl. Und
schauen Sie sich im Vergleich das ekelhafte
Vorgehen der britischen Regierung an, die
demnächst womöglich die Marine entsen-
det, um ein paar Schlauchboote im Kanal
zu stoppen. Großbritannien hat fast nichts
für Flüchtlinge getan, seine Politiker be-
dienen sich unverfroren einer feindseligen
Rhetorik.
SPIEGEL: Sie bezeichnen Deutschland als
»erwachsenes Land«. Wie würden Sie
Großbritannien nennen?
Kampfner: Infantil.
SPIEGEL: Warum?
John Keeble / Getty Images
Kampfner: Ein Freund aus Berlin hat mir
erzählt, er habe sein Netflix-Abo gekün-
digt, weil er alles, was er an Unterhaltung
braucht, im britischen Parlament bekommt.
Das war zum Höhepunkt des Brexit-Dra-
mas. Unsere parlamentarische Kultur dreht
sich um Rhetorik und Show, nicht um
Gründlichkeit und forensische Analyse. Es
geht auch nie darum, Kompromisse zu fin-
den, sondern darum, Siege zu erringen.
SPIEGEL: Und um vergangene Siege, wie
es scheint. Helmut Kohl schrieb in seinen
Memoiren, Margaret Thatcher habe ge-
sagt: »Zweimal haben wir die Deutschen
geschlagen! Jetzt sind sie wieder da!«
Kampfner: Die Vergangenheit ist unser
Kuscheltuch. Wenn du dich in der Gegen-
wart schwertust, träumst du von verblass-
tem Ruhm. Am 8. Mai, mitten im Corona-
Lockdown, ist bei uns etwas Interessantes
passiert: Zur Feier des Kriegsendes gingen
in zahllosen Dörfern und Städten Men-
schen auf die Straße, und es war vollkom-
men normal, dabei auf soziale Distanz zu
den Nachbarn zu verzichten. Ich glaube
aber nicht, dass sich unsere Obsession mit
Siegen gegen die Deutschen oder jemand
anders richtet.
SPIEGEL: War es nicht Boris Johnson, der
den EU-»Superstaat« einst mit Hitlers Ver-
such verglich, Europa zu unterjochen? Ist
der Brexit eine antideutsche Übung?
79

Tory-Abgeordneter Jacob Rees-Mogg*: »Politik ist keine Unterhaltungssendung«
Kampfner: Man kann sicher sagen, dass
die EU zur Zielscheibe für Deutschen- und
Franzosenfeindlichkeit geworden ist. Aber
was unseren aktuellen Premierminister
betrifft, fällt mir noch ein zweites Adjektiv
für Großbritannien ein: clownesk. Boris
Johnson hat eine Karriere daraus gemacht,
sich und andere nicht ernst zu nehmen,
zu schummeln und zu mogeln, er hat
das Vereinigte Königreich in einen Clown-
Staat verwandelt. Und am schockierends-
ten daran ist, dass viele darin einen Vor-
zug sehen. In fast jedem anderen Land
würde jemand, der sich von Kalamität
zu Kalamität hangelt, als führungsunfähig
gelten. Wir haben ein Land, das seine Pubs
noch vor seinen Schulen öffnet, das sagt
doch alles.
SPIEGEL: Kann es sein, dass Sie Ihr Land
unterschätzen? Immerhin gibt es vieles,
das die Briten noch immer besser können
als Deutschland und andere Nationen.
Kampfner: Wirklich? Jetzt bin ich ge-
spannt.
SPIEGEL: Nehmen Sie die Kultur – Pop-
musik, Film, Fernsehen. Oder die Uni-
versitäten. Oder den ausgezeichneten Be-
amtenapparat. London ist die vielleicht
einzige wirklich internationale und multi-
ethnische Stadt Europas. Großbritannien
hat einen Sitz im Uno-Sicherheitsrat, eine
schlagkräftige Armee. Das wird mit dem
Brexit ja nicht verschwinden.
Kampfner: Okay, gut, was Sub- und Pop-
kultur betrifft, gebe ich Ihnen recht. Un-
sere Universitäten sind wirklich prima,
aber ihr Geschäftsmodell, das sich auf zah-
lungskräftige Studenten aus China und
anderswo stützt, kommt immer stärker un-
ter Druck. London bete ich an, obwohl es
bereits weniger dynamisch geworden ist.
* Bei Parlamentsdebatte im britischen Unterhaus 2019.
** Jörg Schindler in London.
80
Johnson, um mit der Doppelkrise Brexit
und Corona fertigzuwerden.
Kampfner: Netter Versuch. Aber nein. Ich
glaube, vor allem in Krisen zahlt sich der
deutsche Langsam-aber-sicher-Ansatz aus,
der sonst durchaus problematisch sein
kann. Merkel wird in einem Jahr weg sein,
sie hat schon jetzt ihren Platz in den Ge-
schichtsbüchern. Bei Johnson bin ich mir
nicht sicher. Vielleicht sind die Populisten
wegen der Coronakrise wirklich auf dem
Rückzug. Vielleicht wird Johnson seine
Herangehensweise ändern, falls sein größ-
ter Cheerleader, Donald Trump, im No-
vember verliert. Ich halte es jedoch für
unwahrscheinlich. Aber es geht auch nicht
nur um Personen.
SPIEGEL: Sondern?
Kampfner: Meine größte Sorge ist, dass
AFP
wir es in Großbritannien mit Strukturen
und einer politischen Kultur zu tun haben,
die nicht einfach nur ein paar Jahre veral-
tet ist, sondern Fortschritt seit Jahrzehnten
Es wird lange dauern, bis sich die Stadt lähmt. Es brauchte schon einen sehr muti-
nicht mehr international anfühlt, aber gen Anführer, um das anzugehen. Aber
sie ist auf dem Weg, sich immer mehr wenn wir es nicht tun, können wir den Pre-
abzuschotten. mierminister noch zehnmal austauschen
SPIEGEL: Wie hätte eine Premierministe- und werden dennoch nicht erwachsen. Da-
rin Merkel den Brexit gestemmt? bei wünsche ich mir nichts mehr als das,
Kampfner: In einem erwachsenen Land ich betrachte mich als großen Patrioten.
hätte man die möglichen Konsequenzen SPIEGEL: Gibt es etwas, worauf Sie als
eines Referendums akribisch studiert und Brite besonders stolz sind?
die Menschen darauf vorbereitet. Man hät- Kampfner: Da gibt’s vieles. Ich bin stolz
te unmittelbar danach die notwendigen auf unseren Individualismus und unsere
Schritte eingeleitet. Und möglicherweise Respektlosigkeit, wenn auch nicht bei un-
hätte man eine überparteiliche Kommis- seren Politikern. Es gibt bei uns zahlreiche
sion gegründet, die unterschiedliche Bre- – allerdings nicht gerade wohlgeordnete –
xit-Varianten untersucht und darüber re- Wege, um ans Ziel zu kommen, das finde
gelmäßig berichtet. ich großartig. Ich würde mir wünschen,
SPIEGEL: Klingt langweilig. dass wir 25 Jahre später eine Neuauflage
Kampfner: Ich liebe Entertainment, aber von »Cool Britannia« hinbekommen.
dafür gehe ich woanders hin. Politik ist SPIEGEL: Was nervt Sie am meisten an
keine Unterhaltungssendung. Es gibt auf Deutschland und den Deutschen?
der Welt gerade zwei Arten Politiker. Es Kampfner: Die kleinlichen Regeln. Du
gibt die peniblen wie Merkel – man kann darfst sonntags nicht deine Waschmaschi-
sie glanzlos nennen, ich nenne sie vernünf- ne laufen lassen, solche Sachen. Ich bin
tig. Und es gibt nationale Populisten wie mal mitten in der Nacht in Bonn bei Rot
Johnson, Trump und Bolsonaro, deren Ge- über eine verlassene Kreuzung gelaufen,
meinsamkeit ihre Inkompetenz ist. just in dem Moment kam ein Polizeiauto
SPIEGEL: Womöglich hat Johnson am vorbei. Ich erklärte dem Polizisten, dass
Ende doch Erfolg. Vielleicht braucht es ich die Regeln bescheuert finde, was mir
eine weniger zögerliche Figur wie Merkel nicht geholfen hat. Es wäre schön, die
und einen eher angstlosen Charakter wie Deutschen würden aufhören, anderen zu
sagen, was sie zu tun haben. Regeln sind
nicht dafür da, hirnlos befolgt zu werden.
SPIEGEL: Klingt fast nach Boris Johnson.
Kampfner: Hoffentlich nicht! Vielleicht
kann man nicht beides haben. Aber über-
legen Sie nur mal: Wenn man die Vorzüge
Ossi Piispanen / DER SPIEGEL
der deutschen kollektivistischen Mitmach-
Gesellschaft mit dem britischen Ansatz
koppeln würde, sein Leben flexibel und
individuell zu gestalten – das wäre doch
großartig, oder nicht?
SPIEGEL: Herr Kampfner, wir danken Ih-
Kampfner, SPIEGEL-Redakteur** nen für dieses Gespräch.
»Der deutsche Ansatz zahlt sich aus«
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
 Ausland
Als Tiger gesprungen
Analyse Boris Johnson hat die Brexit-Gespräche in einer wichtigen Phase torpediert. Dabei wäre
ein Deal mit der EU greifbar – wenn auf beiden Seiten gesunder Menschenverstand herrschte.
E
s war Mitte Juni, in einem Videogespräch mit EU-
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, als
Boris Johnson gewohnt jovial den weiteren Verlauf
der Brexit-Verhandlungen skizzierte. Entsetzlich weit
lägen beide Seiten ja nicht auseinander, so der britische Regie-
rungschef: Mit einem »Tiger im Tank« und ein bisschen
»Wumms« lasse sich der angestrebte Handelsvertrag sicher
wuppen. Vielleicht schon bis Juli. Es sei »sinnlos«, das
Brexit-Palaver bis in den Herbst auszudehnen.
Jetzt steht der Herbst vor der Tür. Und gewuppt ist nichts.
Im Gegenteil. Noch bevor diese Woche die achte Gesprächs-
runde begonnen hatte, malträtierte Johnson einmal mehr
mutwillig den Geduldsfaden seiner Verhandlungspartner.
Die ließ er wissen, dass er die von
ihm selbst unterschriebene und oft
gelobte Vereinbarung mit der EU
zum Sonderfall Nordirland durch
ein neues Gesetz aushebeln wolle.
Das sei zwar, zugegeben, ein inter-
nationaler Rechtsbruch, aber im
Sinne der reinen Brexit-Lehre lei-
der unvermeidlich. Und, ach ja:
Sollte bis Mitte Oktober kein Han-
delsvertrag mit Brüssel stehen, müs-
se es eben ohne gehen.
Die EU reagierte ihrerseits mit
einem ungewöhnlichen Gegen-
ultimatum: Sie drohte Johnson mit
juristischen Schritten, sollte er das
Gesetz nicht bis spätestens Ende
September zurückziehen. Und so
stand am Ende der Woche erneut
die Gefahr im Raum, dass das mehr
als dreijährige Ringen der EU mit den ab- und widerspensti-
gen Briten ein jähes Ende finden könnte. Und damit die Frage:
Meint Johnson das ernst? Oder blufft er schon wieder?
Bei einem Blick auf die beklagenswerte Lage des Landes
sollte die Antwort eigentlich klar sein. Die Pandemie – und
Johnsons irrlichternder Umgang damit – hat den Briten mehr
als allen anderen europäischen Nationen zugesetzt. Weit
mehr als 50 000 Bürger dürften an oder mit Covid-19 gestor-
ben sein, von April bis Juni ist die Wirtschaftsleistung um
20,4 Prozent geschrumpft – der größte Quartalsverlust aller
entwickelten Nationen. Allein im Juli haben rund 730 000
Briten ihren Job verloren, und das noch bevor das milliar-
denschwere Unterstützungsprogramm der Regierung von
Herbst an auslaufen wird.
Das Virus, das gerade wieder heftiger grassiert, hat das
Königreich mürbegemacht. Und im Winter droht nicht nur
eine zweite Welle, sondern zu Silvester eben auch das Ende
der Brexit-Übergangsfrist, innerhalb derer Großbritannien
praktisch noch wie ein EU-Mitglied behandelt wird.
Dass die neue Freiheit nicht zum Selbstkostenpreis zu
haben ist, räumen inzwischen sogar die glühendsten Brexit-
Optimisten ein. Seit Wochen bereitet die Regierung ihre
Bürger mit einer millionenschweren Infokampagne darauf
vor, dass bei Reisen in die EU künftig vieles teurer werden
wird – von Versicherungen bis zur Tollwutimpfung für Vier-
beiner. Die Steuerbehörde schätzt, dass britische Unterneh-
men, die Handel mit EU-Staaten treiben, künftig rund
13 Milliarden Pfund jährlich für Zollerklärungen ausgeben
müssen. Und das unabhängig von der Frage, ob London
und Brüssel bis Ende des Jahres noch einen Handelsvertrag
hinbekommen, von dem sich die Briten einen privilegierten
Zugang zum EU-Binnenmarkt erhoffen.
Gelingt das nicht und greift stattdessen ein No-Deal-Sze-
nario, sieht es mau aus. Dann erwartet Johnsons Regierung
selbst, dass es über Monate zu Engpässen bei der Lieferung
wichtiger Medikamente kommen wird – und das in einer
Pandemie. Vor den Kontrollschranken in Dover würden
sich Lastwagen bis weit ins Landes-
innere stauen. Zahllose Lebensmit-
tel würden durch satte Zölle auf
einen Schlag teurer. Will Johnson,
dessen Zustimmungswerte ohnehin
im freien Fall sind, seinen Landsleu-
ten das wirklich zumuten?
Zumal eine Einigung mit der EU,
allem Wortgeklingel zum Trotz,
in greifbarer Nähe ist. Zwei große
Hindernisse gibt es noch: den
Zugang zu Großbritanniens Fisch-
gründen und die Frage, wie künftig
ein fairer Wettbewerb garantiert
werden kann.
Vor allem Letzteres ist nicht tri-
Jack Hill / dpa
vial. Mit gutem Grund verweisen
die Briten darauf, dass der EU-Aus-
stieg sinnlos wäre, wenn sie künftig
nicht autark über Arbeitnehmer-
rechte, Umweltpolitik und Industriesubventionen entschei-
den dürften. Mit ebenso gutem Grund allerdings fürchtet die
EU einen Konkurrenten vor der Haustür, der ihr mit Dum-
pinglöhnen und Niedrigsteuern das Wasser abgräbt. Den
Zugang zum Binnenmarkt will Brüssel daher nur bei entspre-
chenden britischen Garantien gewähren.
Ein Ausweg böte sich an und wurde auch schon diskutiert:
London könnte das Recht erhalten, künftig von EU-Standards
abzuweichen – und Brüssel die Möglichkeit, gegebenenfalls
mit entsprechenden Strafzöllen darauf zu reagieren. Es wäre
ein für beide Seiten gesichtswahrender und für die EU sehr
typischer Kompromiss.
Mit einem Mindestmaß an Vernunft wäre demnach sogar
Boris Johnsons neue Deadline Mitte Oktober erreichbar. Nur:
Herrscht in Downing Street noch der gesunde Menschen-
verstand? Oder geht es den Brexiteers nur ums Rechthaben?
Ums Prinzip? Um den nostalgisch verklärten und quasireli-
giösen Glauben an die eigene Grandiosität?
Rhetorisch hat sich Boris Johnson festgelegt. Erst kürzlich
hat er mit Blick auf Nordirlands Zukunft hoch und heilig
geschworen, dass der mit der EU bestehende Vertrag »nur
über meine Leiche« umgesetzt werde. Ähnliches hat er aber
schon früher versprochen. Anschließend knickte er ein – und
lebte danach ungeniert weiter. Jörg Schindler
81
 Ausland

Monsieur Europa
Schwäche ist, kleinere europäische Partner
zu besuchen, und ihn zu Reisen nach Dä-
nemark, Finnland, Polen und Bulgarien
überredete, in die tendenziell EU-kritische
Peripherie. Macron sollte mit allen reden,
Frankreich Clément Beaune war der Vordenker des Präsidenten in anstatt sich wie viele seiner Vorgänger
Europafragen. Nun sitzt er im Außenministerium. wegzuducken und die Vorbehalte klei-
Von hier steuert er den Kampf für einen selbstbewussteren Kontinent. nerer Staaten als lästiges Aufbegehren
zu ignorieren.
Frankreich habe sich lange so verhalten,

V or einigen Tagen hat sich Clément

Beaune für sein neues Büro einige
Bilder ausgesucht, auch der wuchti-
ge Holzschreibtisch vorm Fenster soll weg.
Er hätte gern etwas Leichteres, einen Tisch
aus gelbem Leder hat er schon gefunden.
»Der würde gut zum blauen Teppichboden
passen«, sagt er an einem Septembernach-
mittag in seinem Büro mit Blick auf die
Seine und die üppigen Gärten des Pariser
Außenministeriums. Sein Arbeitszimmer
trüge dann die Farben der EU-Flagge.
Clément Beaune, 39 Jahre alt, Absol-
vent der Eliteschule Ena, ist erst vor eini-
gen Wochen hier eingezogen, kurz nach-
dem ihn Emmanuel Macron Ende Juli
zum neuen Staatssekretär für Europa er-
nannt hatte. Zuvor diente Beaune als eu-
ropapolitischer Berater des französischen
Präsidenten, zunächst in dessen Zeit als
Wirtschaftsminister, dann im Wahlkampf,
später im Élysée-Palast.
Beaune war an allen großen Europaauf-
tritten und -ansprachen des französischen
Präsidenten beteiligt und schrieb maßgeb-
lich Macrons berühmte Sorbonne-Rede,
gemeinsam mit dem damaligen Reden-
schreiber im Élysée. In der Rede, gehalten
vor ziemlich genau drei Jahren an der Pa-
riser Universität, verteidigte Macron die
europäische Idee emphatisch gegen ihre
Kritiker und forderte Deutschland auf, ge-
meinsam mit Frankreich ein Bündel gewal-
tiger Reformen anzuschieben. Die Sor-
bonne-Rede war der Urknall einer neuen,
ambitionierten Europapolitik Frankreichs,
eine Kampfansage an all die Skeptiker und
Wutpolitiker auf dem Kontinent.
Beaune war es auch, der Macron davon
überzeugte, dass es kein Zeichen von
als hätte die Europäische Union nur sechs
oder zwölf Mitgliedstaaten und nicht 27,
sagt Beaune heute. »Aber man ändert nun
mal die Realität nicht, indem man sie ne-
giert.« Der letzte Staatsbesuch eines fran-
zösischen Präsidenten in Dänemark vor
Macron war tatsächlich im Jahr 1982, das
stellten Diplomaten bei der Vorbereitung
der Reise überrascht fest, als sie nach alten
Besuchsprotokollen suchten.
Wenn Macron heute von vielen als der
einzige europäische Politiker mit außen-
politischem Ehrgeiz und Handlungswillen
gelobt wird, dann hat Clément Beaune
einen großen Anteil daran. Begriffe wie
den einer neuen »europäischen Souverä-
nität« hat er früh benutzt, er kommt schon
in der ersten großen Wahlkampfrede des
Kandidaten Macron vor, die Beaune ihm
für einen Auftritt 2016 in Lyon schrieb.

Julien Daniel / DER SPIEGEL

Beamter Beaune in seinem Büro in Paris: Urknall einer neuen Politik

82
 Man unterschätzt diesen Mann leicht,
weil er jünger aussieht, als er ist, und bis-
her immer im Hintergrund agierte, als Ar-
chitekt einer neuen Europapolitik. Beaune
besänftigte, wenn sein Chef mal wieder
mit großer Geste neue Forderungen ge-
stellt hatte. Er machte das ziemlich gut,
über die Jahre hat er sich ein dichtes Netz-
werk an Gesprächspartnern aufgebaut.
Als im Juli in Brüssel vier Tage lang
über den europäischen Wiederaufbau-
fonds verhandelt wurde, verbrachte er
zwei schlaflose Nächte hintereinander da-
mit, so erzählt er es, einzelne Länderdele-
gationen von dem deutsch-französischen
Vorschlag für das Milliardenrettungspaket
und einer gemeinschaftlichen Verschul-
dung zu überzeugen. Die meisten Ge-
sprächspartner kannte er seit Langem, das
hat geholfen. Aber irgendwann wollte er
raus aus der Rolle des Beraters, raus aus
dem Schatten, er wollte sichtbarer werden
und mitreden.
»Dieses Haus hier ist für mich kein klas-
sisches diplomatisches Ministerium«, sagt
Beaune. Er meint das Außenministerium,
in dem er arbeitet. »Es ist ein Ort, von
dem aus ein politischer Kampf geführt wer-
den muss. Das sieht der Präsident so, und
ich sehe es auch so. Es ist ein Ministerium
des Kampfes. Die Rechtspopulisten in die-
sem Land haben Europa schon seit Lan-
gem für sich entdeckt.« Aber Souveränität
und Identität seien keine Vokabeln, die
man Marine Le Pen überlassen sollte.
Wie ernst es ihm damit ist, konnte man
gleich in Beaunes erster Amtswoche er-
leben. Da fragte ein Abgeordneter des
Rassemblement National im Parlament,
wie die Regierung denn den europäischen
Wiederaufbauplan rechtfertige, »dieses
schlimmste Abkommen für Frankreich
in der Geschichte der Europäischen Uni-
on«, mit dem sich das Land hoch verschul-
den werde.
»In Wahrheit mögen Sie Europa nicht,
selbst wenn Europa erfolgreich ist, weil
Sie es nämlich auch nicht mögen, dass
Frankreich stark ist in diesem Europa«,
antwortete ihm Beaune und rechnete vor,
dass die Franzosen zu jenen Ländern ge-
hören, die mit einem Anteil von 40 Mil-
liarden Euro am meisten von diesem Ab-
kommen profitieren würden. Es war ein
leidenschaftliches Plädoyer für die EU.
Wie Macron ist Beaune getrieben von
der Angst, in diesem Jahr einen entschei-
denden Moment zu verpassen. Der Wie-
deraufbaufonds wäre ohne die Corona-
krise nie zustande gekommen, sagt er,
ebenso wenig, wenn die Briten noch mit
am Tisch gesessen hätten. Und auch nicht,
wenn es die deutsch-französische Annähe-
rung der vergangenen drei Jahre unter Ma-
cron und Merkel nicht gegeben hätte.
Die Krise sei eine Gelegenheit, die man
nutzen müsse. »Aber wenn die EU jetzt
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
chen der Außenpolitik und eine Verringe-
rung der Zahl der 27 EU-Kommissare.
»Weil sich alle von ihnen verpflichtet füh-
len, die Politik ihres jeweiligen Landes zu
vertreten und keine gemeinsamen, euro-
päischen Interessen.« Er könne sich gut
vorstellen, zu einem System der Rotation
Mikhail Klimentyev / tass / action press
überzugehen. Warum sollten nicht etwa
Frankreich und Deutschland bei den Kom-
missarsposten rotieren?
Am Montag war Beaune zu einem An-
trittsbesuch in Berlin, um sich mit seinem
Amtskollegen Michael Roth im Auswärti-
gen Amt zu besprechen. Es ging auch um
eine gemeinsame europäische Reaktion
Staatschef Macron auf die Vergiftung des russischen Opposi-
Sehnsucht nach Größe tionellen Alexej Nawalny. Mit Gesund-
heitsminister Jens Spahn stimmte er sich
nicht handelt und sich seinen Bürgern und über Maßnahmen im Kampf gegen die
auf internationaler Bühne nicht als verant- Pandemie ab, um ein erneutes Durch-
wortlicher Akteur zeigt, dann ist Europa einander zu vermeiden und Schlagbäume
nur eine leere Hülle.« Die Strategie, sich an deutsch-französischen Grenzen wie im
komfortabel zurückzulehen und den Din- Frühjahr zu verhindern. Ein gemeinsamer
gen auszuweichen, sei keine Option mehr. Vorschlag zu einer Harmonisierung der
Wenn man Beaune eine Weile lang zu- Einreisebestimmungen liegt nun bei der
hört, bekommt man leicht den Eindruck, EU-Kommission in Brüssel.
der ganze Kontinent schwebe in Lebens- Beaune höre zu und überdenke eigene
gefahr. Das Europa, für das er kämpft, ist Positionen, das schätze er an ihm, sagt Mi-
eines, das sich nicht nur um den gemein- chael Roth. In vielem seien sich beide Län-
samen Markt sorgt, sondern um die Welt- der ohnehin einig, das gelte für die Abkehr
lage, um Rechtsstaatlichkeit und soziale vom Einstimmigkeitsprinzip in der Sicher-
Fragen. Es soll nicht mehr in Nord und heits- und Außenpolitik wie für klare Wor-
Süd, in Ost und West, in kleine und größe- te gegenüber Großbritannien in der Brexit-
re Staaten gespalten sein. Europa sei nicht frage. »Unser Verhältnis zu Macht und
27-mal Frankreich, sagt er, sein Land habe Machtausübung ist historisch sicher unter-
lange gebraucht, um das zu verstehen. schiedlich geprägt. Aber für uns beide gilt:
Und trotzdem ist dieses Europa Europa muss seine Interessen in der Welt
von einem gaullistisch-mitterrandistischen selbstbewusster vertreten.«
Machtdenken geprägt, von der Sehnsucht Es sei schon außergewöhnlich, wie gut
nach Größe. Natürlich soll Frankreich in Beaune sich in der deutschen Politik aus-
diesem Europa eine entscheidende Rolle kenne, sagt Wolfgang Schmidt, Staats-
spielen, wenn nicht die wichtigste, gemein- sekretär im Bundesfinanzministerium.
sam mit Deutschland, versteht sich. Aber »Man muss ihm nichts mehr erklären, er
es strebt dabei mit weit weniger Skrupeln kennt alle Ministerpräsidenten inklusive
und mehr Leidenschaft der neuen Rolle ihrer Vornamen und ist sehr gut im gesam-
entgegen. ten politischen Spektrum vernetzt.«
Sein Sommerurlaub war nur kurz in die- Es sei etwas in Bewegung gekommen in
sem Jahr, aber Beaune ist kein Typ, der Europa, in Deutschland in diesem Jahr,
den Tag am Strand verbringt, deshalb hat sagt Beaune. Die nächste Etappe sei nun,
er in Italien einen 20-seitigen Essay über sich wie eine geopolitische Macht zu ver-
das Europa der Zukunft geschrieben, der halten und nicht wie ein schwacher Staat,
in dieser Woche in Frankreich veröffent- der mal zu China nett ist, mal zu Russland
licht wurde. »Europa jenseits von Covid- und mal zu den USA. So erreiche man
19« lautet der Titel des Textes, in dem es nichts. Zum Ende der deutschen Ratsprä-
um die Herausforderungen für den Konti- sidentschaft ist eine große Konferenz zur
nent nach der Pandemie und um eine sou- Zukunft Europas geplant, die bis zur Rats-
veräne europäische Außenpolitik geht. präsidentschaft der Franzosen im ersten
Der Essay endet mit zwei Vorschlägen: Halbjahr 2022 andauern soll und sich mit
Beaune fordert die Abschaffung des Ein- dem Wahlkampf Macrons für seine Wie-
stimmigkeitsprinzips in bestimmten Berei- derwahl im April überschneiden würde.
»Wir sind jetzt auf uns selbst zurück-
geworfen, auf unsere eigenen Kräfte ange-
»Wenn die EU jetzt nicht wiesen«, sagt Beaune. »Wir können uns
handelt und sich als nicht mehr hinter den anderen verstecken.
Das ist vorbei.« Es macht ihm keine Angst.
Akteur zeigt, dann ist sie Britta Sandberg
nur eine leere Hülle.«
83

Erdoğans
Handlanger
Diplomatie Geheime Botschafts-
depeschen legen nahe,
dass Bulgariens Premier dem
türkischen Regime bei der
Verfolgung Oppositioneller half.
A us seiner Abneigung gegenüber den
Europäern hat er nie einen Hehl
gemacht. Recep Tayyip Erdoğan
bezichtigte die Bundesregierung der Ter-
rorhilfe und beschimpfte Frankreich als
Provokateur. Seit Wochen droht er im
Ringen um Gasfelder mit einem Seekrieg
gegen Griechenland.
Ein EU-Staat ist von den Tiraden des
türkischen Staatschefs bislang jedoch
verschont geblieben: Bulgarien. Erdoğan
und der bulgarische Premier Bojko Boris-
sow unterhalten eine besondere Männer-
freundschaft.
Als die türkische Regierung im März
Flüchtlinge in Richtung Griechenland
schickte, blieb die Grenze zu Bulgarien
geschlossen. Zu Beginn der Coronakrise
lieferte die Türkei Masken und Testkits
nach Sofia.
Erdoğans Freundschaft hat aber offenbar
einen Preis. SPIEGEL-Recherchen legen
nahe, dass Bulgariens Regierung bei der
Verfolgung mehrerer türkischer Regime-
gegner behilflich war – und so gegen inter-
nationale Konventionen und juristische
Prinzipien verstoßen hat.
Partner Borissow, Erdoǧan: Besondere Männerfreundschaft
84
Ausland
Geheime Depeschen der türkischen
Botschaft in Sofia, die dem SPIEGEL vor-
liegen, lassen vermuten, dass Premier
Borissow, der ehemalige bulgarische Gene-
ralstaatsanwalt Sotir Tsatsarow und der
bulgarische Geheimdienst nach dem
Putschversuch in der Türkei im Juli 2016
aktiv an der Abschiebung eines türkischen
Oppositionellen mitgewirkt haben – und
das, obwohl sich bulgarische Gerichte
zuvor ausdrücklich gegen ein Ausliefe-
rungsgesuch verwahrt hatten.
Abdullah Büyük, ein Unternehmer, war
aus der Türkei nach Bulgarien geflohen.
Die türkischen Behörden werfen ihm vor,
verantwortlich für die Finanzen der Bewe-
gung des Islamisten-Predigers Fethullah
Gülen gewesen zu sein, den Ankara hinter
dem Putschversuch vermutet.
Erdoğan und Gülen waren einst Verbün-
dete, gemeinsam räumten sie säkulare
Oppositionelle aus dem Weg, bis sie sich
ab 2011 entzweiten. Seit dem versuchten
Staatsstreich 2016 lässt Erdoğan echte und
vermeintliche Gülen-Anhänger in aller
Welt verfolgen. In der Türkei wurden Tau-
sende Menschen als angebliche Putschis-
ten ins Gefängnis gesteckt, unter ihnen In-
tellektuelle wie Osman Kavala, die keiner-
lei Verbindung zur Gülen-Sekte haben.
In den meisten europäischen Ländern
halten Gerichte die Putschprozesse in der
Türkei für politisch motiviert. Sie blockie-
ren häufig die Auslieferung türkischer
Staatsbürger, da diese in ihrer Heimat nicht
mit fairen Verfahren rechnen könnten. Im
Fall des Unternehmers Büyük gelangten
zwei bulgarische Gerichte zunächst zu ei-
ner ähnlichen Einschätzung.
Unmittelbar nach dem Putschversuch
in der Türkei aber trafen sich Premier
Borissow und dessen Geheimdienstchef
Mehmet Ali Ozcan / dpa
mit dem türkischen Botschafter in Sofia.
In dem Gespräch ging es dem türkischen
Diplomatenbericht zufolge um den Fall
Büyük. »Herr Borissow versteht die
Schwere der Angelegenheit … Das Rich-
tige wäre jetzt, ein direktes Treffen auf
höchster staatlicher Ebene zwischen den
Justizorganen zu organisieren, sodass ein
neues Verfahren initiiert werden kann«,
heißt es in dem Geheimdokument. In einer
weiteren Botschaftsdepesche kündigten
die türkischen Diplomaten an, der Premier
werde sich um eine »schnelle Lösung des
Falls« bemühen.
Tatsächlich kam es kurz danach zu
einem Treffen zwischen dem türkischen
Botschafter und dem damaligen bulgari-
schen Generalstaatsanwalt Sotir Tsatsarow.
Der Topjurist gab, das legen die Depe-
schen nahe, sensible Informationen über
»Generalstaatsanwalt
Tsatsarow wird
sich persönlich um
den Fall kümmern.«
Büyük an die Türken weiter. Die türkische
Seite sah sich ermutigt, ein weiteres Aus-
lieferungsgesuch zu stellen. »Generalstaats-
anwalt Tsatsarow wird im August in seinen
jährlichen Sommerurlaub gehen. Aber er
wird sich zuvor noch persönlich um den Fall
kümmern«, teilt die türkische Botschaft in
Sofia in einem internen Schreiben mit.
Im Anschluss an die Geheimtreffen in
der türkischen Botschaft wurde Büyük fest-
genommen und an die Türken überstellt.
Der Geschäftsmann saß mehr als drei Jah-
re in der Türkei in Untersuchungshaft, ehe
er vergangenen Dezember in den Haus-
arrest verlegt wurde. Ähnlich wie ihm er-
ging es im Oktober 2016 offenbar noch
sieben weiteren türkischen Staatsbürgern,
die ebenfalls aus Bulgarien in die Türkei
abgeschoben wurden. Weder Borissow
noch Tsatsarow wollten sich auf Nachfrage
zu dem Vorgang äußern.
Tsatsarows Karriere hat die mutmaßlich
geheime Absprache mit dem türkischen
Regime nicht geschadet. Er ist inzwischen
Leiter der bulgarischen Antikorruptions-
behörde. Und sein Chef Borissow hat
offensichtlich von dem Deal mit Ankara
profitiert. Anders als der Nachbar Grie-
chenland wird Bulgarien in der Migra-
tionskrise nicht von der Türkei unter
Druck gesetzt.
Borissow hat ganz andere Sorgen: Seit
Wochen fordern mehrere Tausend De-
monstranten in Bulgarien seinen Rücktritt.
Sie werfen dem Regierungschef Korrup-
tion und Machtmissbrauch vor.
Dimitar Ganev, Maximilian Popp
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
Sport

Kyodo / picture alliance / dpa (2), D. Stanin / Pixsell / picture alliance / dpa
Novak
US Open völlig offen Djoković
Halbfinalteilnahmen bei einem Grand-Slam-Turnier

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Roger Federer 45 *

Novak Djoković 37

Rafael Nadal 33
2005 06 07 08 09 2010 11 12 13 14 2015 16 17 18 19
Halbfinal-
* und ein weiteres
French Open 2004: US Open 2020: teilnahmen
Halbfinale 2003 Keiner der drei Topspieler erreicht das Halbfinale. Erstmals seit 16 Jahren steht keiner der drei im Halbfinale. insgesamt

Das Ende einer Tennis-Ära? Seit 16 Jahren steht zumindest einer der großen drei – Roger Federer, 39, Rafael Nadal,
34, Novak Djoković, 33 – im Halbfinale der Grand-Slam-Turniere. Bei den US Open endete jetzt diese einzigartige
Serie. Federer ist verletzt, Nadal verzichtete wegen Corona, Djoković wurde wegen eines Ausrasters disqualifi-
ziert. Die Profis gewannen in diesen 16 Jahren 55 der 65 wichtigsten Titel in Melbourne, Paris, London, New York.

Gut zu wissen

Wie hoch ist die Infektionsgefahr beim Fußball?

 Nach einer monatelangen Pause wird
nun auch im Amateurfußball wieder
gespielt. Anders als die Profis werden die
Spieler dort aber nicht kontinuierlich auf
das Coronavirus getestet. Die Verunsiche-
rung ist weiterhin groß, einige Mannschaf-
ten stellten zwischenzeitlich deshalb den
Spiel- und Trainingsbetrieb ein. Doch wie
wahrscheinlich ist es, sich während eines
Fußballspiels mit Corona zu infizieren?
Ein Team der Hebräischen Universität
Jerusalem untersuchte zwei Oberflächen,
mit denen Fußballer oft in Berührung
kommen: Rasen und Ball. Die Mikrobiolo-
gen kontaminierten für ihren Versuch
Gras und Kunstleder mit einem Virus, das
105 Minuten – so lange dauert ein Spiel Aus virologischer Sicht sollten Spiele zur
inklusive Pause – und nahmen danach Mittagszeit angesetzt werden.
Abstriche. Während beim Nachmittags- Zu einem ähnlichen Schluss für Hobby-
spiel kein einziges Virus überlebt hatte, fußballer kommt ein sechsköpfiges For-
war nach dem Abendspiel immerhin scherteam aus Großbritannien und Schwe-
noch zehn Prozent der ursprünglichen den, das sich mit der Frage beschäftigt hat,
Virenlast messbar. ob Sportbälle als Virusüberträger infrage
Diese Ergebnisse, die bisher nur als kommen. Dazu tupften sie inaktivierte
vorläufige Fassung veröffentlicht sind, Sars-CoV-2-Viren auf verschiedene Bälle.
deuten darauf hin, dass UV-Strahlung und »Die Oberfläche von Sportbällen konnte
Hitze dem Virus schaden. Das Resümee: nicht mal 30 Sekunden lang ein inaktivier-
tes Virus tragen«, erklären die Forscher
in ihrem Aufsatz, der in »Public Health in
Practice« erschienen ist. Schon das
Rollen auf dem Rasen entfernte alle nach-
weisbaren Spuren.
Jürgen Fromme / firo Sportphoto

ähnlich aufgebaut ist wie Sars-CoV-2,
und testeten, ob es die Dauer eines Spiels
überlebt. Dazu wählten die Wissen-
schaftler zwei Zeitpunkte, zu denen häufig
Fußballspiele angepfiffen werden. Einmal
13 Uhr bei einer Außentemperatur
von 30 Grad Celsius und einmal 20 Uhr
bei 22 Grad. Anschließend warteten sie
Die Resultate weisen darauf hin, dass
das Spielgerät relativ sicher ist. Allenfalls
die Gegen- und Mitspieler sind ein Infek-
tionsrisiko. Noch ist der Forschungsstand
aber zu dürftig für abschließende Erkennt-
nisse. Die Infektionsgefahr auf dem Platz
ist aber wohl geringer als in den engen
Desinfektion eines Fußballs Kabinen oder im Teambus. JOK

85
 Sport

Der Lackmustest
Betrug Ein Erfurter Mediziner soll Spitzensportler über Jahre gedopt
haben. Nun beginnt der Prozess gegen ihn, ihm drohen
bis zu zehn Jahre Haft. Wird sich das neue Anti-Doping-Gesetz bewähren?

S. Fromm / Thüringer Allgemeine / Funke Foto Services

Arzt Schmidt bei seiner Festnahme in Erfurt Ende Februar 2019: Mehr als 18 Monate Untersuchungshaft

F
ür den Prozessauftakt ist einer der
größten Gerichtssäle Münchens re-
serviert. Die Räume des A 101 sind
geschichtsträchtig. Beate Zschäpe
wurde hier im NSU-Prozess des zehnfachen
Mordes schuldig gesprochen. Zuvor hatten
auf der Anklagebank der Kriegsverbrecher
John Demjanjuk und der ehemalige Formel-
1-Chef Bernie Ecclestone gesessen.
Am kommenden Mittwoch wird nun
Mark Schmidt, 42, hier Platz nehmen.
Dem Erfurter Arzt wird vorgeworfen, min-
destens 23 Sportler aus acht Ländern vor-
wiegend mit Eigenblut gedopt zu haben.
Mitangeklagt sind drei weitere Männer,
darunter Schmidts Vater, und eine Frau.
Es ist der wichtigste deutsche Dopingpro-
zess seit dem Berliner Verfahren vor 20 Jah-
ren. Damals ging es dagegen um Staatsdo-
ping: Der ehemalige DDR-Sportchef Man-
fred Ewald und der Mediziner Manfred
Höppner mussten sich als zentrale Figuren
des Pharmabetrugs unter sozialistischer
Flagge verantworten. 10000 Sportler waren
betroffen, darunter viele Kinder. Die Funk-
tionäre bekamen Bewährungsstrafen wegen
»Beihilfe zur vorsätzlichen Körperverlet-
zung«; Ewald 22 Monate, Höppner 18.
Im aktuellen Fall steht insbesondere für
den Hauptbeschuldigten weit mehr auf
dem Spiel – auch wenn er die Sportler in
gegenseitigem Einvernehmen dopte, an-
ders als die DDR-Führung.
Doping ist mittlerweile strafrechtlich rele-
vant – sowohl für Athleten wie auch für
deren Helfer. Seit 2015 gilt in Deutschland
das Anti-Doping-Gesetz, das den Handel
und Besitz von unerlaubten Mitteln oder
das Anwenden von Dopingmethoden ver-
bietet. Ziel ist es laut Gesetz, »zur Erhal-
tung der Integrität des Sports beizutragen«.
Die Ankläger werfen Schmidt insgesamt
140 Verstöße gegen das Anti-Doping-Ge-
setz vor, ihm drohen bis zu zehn Jahre
Haft. Zudem könnte der Arzt seine Appro-
bation verlieren.
Der Münchner Prozess dient den Straf-
ermittlern als Lackmustest für das neue
Gesetz, das unter Experten kontrovers dis-
kutiert wird. Das Bestreben, den Sport
von Doping zu befreien, sei richtig, sagen
Kritiker, doch nicht Aufgabe des Staates.
Das Strafrecht dürfe nur zum Schutz wich-
tiger Rechtsgüter eingesetzt werden.
Die Praxis hat gezeigt, dass das neue
Gesetz wenig zur Sauberkeit des Spitzen-
sports beigetragen hat. Bislang wurden vor
allem Breitensportler sanktioniert, etwa
für den Handel mit Anabolika in Fitness-
studios. Nun geht es um mutmaßlichen
gewerbs- und in Teilen bandenmäßigen
Betrug im Profisport.
26 Tage sind für den Prozess angesetzt.
Laut Schmidts Verteidiger Juri Goldstein
ist es möglich, dass sich sein Mandant zu
bestimmten Punkten noch einmal einlässt.
Schmidt hatte nach seiner Verhaftung zu-
nächst ausgesagt, seit Frühjahr vergange-
nen Jahres schweigt er jedoch.

86 DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020

 Der Dopingskandal war während der
Nordischen Ski-WM im Februar 2019 in
Seefeld durch eine Razzia bei Sportlern
und Teams bekannt geworden. Fast zeit-
gleich wurde Schmidt in seiner Praxis in
Erfurt festgenommen.
Der Mediziner ist kein Unbekannter.
2006 kam er als junger Arzt zum deut-
schen Profiradteam Gerolsteiner, das zwei
Jahre später in einen Dopingskandal ver-
wickelt war. Zwei überführte Fahrer be-
schuldigten Schmidt, an Doping beteiligt
gewesen zu sein, was dieser bis heute be-
streitet. Ein Verfahren der Dopingschwer-
punktstaatsanwaltschaft Freiburg gegen
Schmidt wurde 2015 ohne Ergebnis einge-
stellt. Derweil betrieb Schmidt längst sein
konspiratives Geschäft mit dem Blut. Laut
Anklage soll er ab Ende 2011 Spitzensport-
ler gedopt und ihnen Wachstumshormon
besorgt haben.
Was könnte den Mann getrieben ha-
ben? Schmidt soll mit Doping in rund fünf
Jahren mindestens 175 000 Euro erwirt-
schaftet haben. Das wäre nicht wenig Geld,
aber auch keine astronomische Summe
angesichts des Risikos, enttarnt zu werden,
und der Tatsache, dass er nach eigenen
Angaben mit seiner Praxis rund 13 000
Euro im Monat verdiente.
In einer Vernehmung sagte Schmidt,
dass er selbst nicht wisse, was ihn »gerit-
ten« habe. Es sei eher eine »Trotzreaktion«
gewesen nach den Verdächtigungen in der
Vergangenheit. Er habe aber immer darauf
geachtet, dass die Sportler »Werte im
gesundheitlichen Normbereich« hatten.
Ebenso rätselhaft ist, was das Motiv der
Mitangeklagten gewesen sein könnte.
Schmidts Vater ist pensionierter Rechts-
anwalt, arbeitete in einer großen Kanzlei
in Erfurt. Die weiteren Beschuldigten sind
eine Krankenschwester, ein Rettungssani-
täter und ein Inhaber einer Baufirma, den
Schmidt als Freund bezeichnet.
Der Prozess wird aber auch eine Bühne
sein für einen Oberstaatsanwalt, der die
Ermittlungen auf deutscher Seite geführt
hat. Kai Gräber steht seit vielen Jahren
der Schwerpunktstaatsanwaltschaft in
München vor. Er gilt als ambitioniert,
große Erfolge konnte er bislang jedoch
nicht vorweisen, Anabolika in Mucki-
buden waren sein Alltagsgeschäft.
Dementsprechend bedeutungsträchtig
hat er den Erfurter Dopingzirkel in der Öf-
fentlichkeit verkauft. Von Beginn an war
von einem »weltweiten Netzwerk« die
Rede, das die Ermittler zerschlagen hätten.
Ins Netz gegangen waren jedoch weit-
gehend unbekannte Sportler, keine Stars.
Laut Schmidts Verteidiger habe es von
Beginn der Ermittlungen an in erster Linie
ein Interesse an Namen von deutschen
Spitzensportlern gegeben. »Meinem Man-
* Bei den Olympischen Winterspielen von Sotschi 2014.
danten zufolge wurde verzweifelt nach
deutschen Athleten gefragt, insbesondere
nach Claudia Pechstein«, sagt Goldstein.
Pechstein ist eine der erfolgreichsten deut-
schen Athletinnen. Sie wurde 2009 wegen
vermeintlichen Dopings gesperrt, beteuert
bis heute ihre Unschuld.
Die Staatsanwaltschaft München betont,
sie sei ergebnisoffen vorgegangen.
Mit einem erfolgreichen Profisportler
jedoch hätte die Staatsanwaltschaft das
Anti-Doping-Gesetz erstmals an einem
prominenten Athleten durchexzerzieren
können und am Ende womöglich ein his-
torisches Exempel statuiert: die Verurtei-
lung eines Dopingsünders.
Dass sein Mandant wider Erwarten kei-
ne großen deutschen Namen liefern konn-
te, ist für Goldstein auch die Erklärung,
warum Schmidt immer noch in Untersu-
chungshaft sitzt. Seit mehr als 18 Monaten,
eine ungewöhnlich lange Zeit. »Obwohl
er von Beginn an mit den Ermittlern ko-
operiert hat, obwohl er bereit gewesen ist,
jede denkbare Auflage des Gerichts zu ak-
zeptieren.« Zwei Verfassungsbeschwerden
diesbezüglich sind gescheitert.
Fast ebenso lange in Untersuchungshaft
sitzt der Bauunternehmer, der sich bislang
nicht zu den Vorwürfen gegen ihn ge-
äußert hat. Auch hier wurde eine Ver-
fassungsbeschwerde abgeschmettert.
Die Hamburger Rechtsanwältin Gül Pi-
nar ist Mitglied des Strafrechtsausschusses
des Deutschen Anwaltsvereins. Sie sagt:
»Grundsätzlich ist die Sechsmonatsfrist bei
Untersuchungshaft heilig. In dieser Zeit
müsste nicht nur angeklagt, sondern auch
mit der Hauptverhandlung begonnen wer-
den. In Ausnahmefällen kann die Frist auf
Zollfahndungsamt München
Roland Schlager / dpa
Gekühlte Blutbeutel, Skilangläufer Dürr*
Konspiratives Geschäft
neun Monate verlängert werden. Doch
selbst bei aufwendigen Betäubungsmittel-
verfahren mit Lateinamerikabezug habe
ich das noch nicht erlebt.«
Regelrecht verärgert sind einige Vertei-
diger über die ihnen zur Verfügung stehen-
den Akten: »Hierzulande gilt: Ein Prozess
muss ein faires Verfahren sein, dafür gilt
der Grundsatz der Vollständigkeit der
Akten. Das sehe ich hier nicht als gegeben
an«, sagt einer der Anwälte.
Laut Staatsanwaltschaft München sei
dieser Vorwurf falsch, die Ermittlungs-
akten seien vollständig.
Auch die vom Gericht berufenen Sach-
verständigen passen den Verteidigern
nicht. Sie monieren, dass die beiden Ex-
perten nicht unbefangen und unabhängig
seien, da sie entweder mit der Welt-Anti-
Doping-Agentur Wada oder der deutschen
Nada geschäftliche Verbindungen hätten –
beides Institutionen, die an den »Ader-
lass«-Ermittlungen beteiligt waren. »Das
ist alles andere als ideal. Hinzu kommt,
dass Vorschläge für andere Gutachter vom
Gericht abgelehnt worden sind«, sagt die
Münchner Strafverteidigerin Eva Maria
Krötz. Sie vertritt die beschuldigte Kran-
kenschwester.
Während Schmidts Prozess erst beginnt,
sind viele seiner ehemaligen Kunden be-
reits bestraft worden. In Österreich, wo
Doping seit 2010 als schwerer Betrug ein-
gestuft wird, kamen Sportler und Betreuer
mit vergleichsweise milden Bewährungs-
und Geldstrafen davon.
Die früheren Skilangläufer Dominik
Baldauf und Max Hauke wurden etwa zu
5 Monaten verurteilt, ihr Kollege Johannes
Dürr zu 15 Monaten. Gerade bei Dürr, der
Anfang 2019 in der ARD als geläuterter
Ex-Doper auftrat, obwohl er weiterhin
von Mark Schmidt behandelt wurde, über-
rascht das Urteil. Denn: Bis heute ist
ungeklärt, welche Rolle Dürr in dem Netz-
werk einnahm. 2015 hatte er einen Spe-
zialkühlschrank zur Lagerung von Blut-
beuteln in Slowenien gekauft, der später
bei Schmidt in Erfurt landete.
Das milde Urteil erlaubte Dürr, mit sei-
nem Leben als Dopingbetrüger abzuschlie-
ßen. Mittlerweile absolviert er eine Aus-
bildung als Maschinenbauer, er möchte die
väterliche Schmiede in Niederösterreich
übernehmen. Sein einstiger Verbündeter
Schmidt hingegen könnte vermutlich eini-
ge weitere Jahre in Haft verbringen.
Das sorgt bei Sportlern für Unverständ-
nis. »Der Mark hat einen ganz sicher nicht
über den Tisch gezogen. Er hat mich we-
der unter Druck gesetzt noch finanziell
ausgenommen. Menschlich war er fair bis
ins Letzte«, sagt einer von Schmidts Kun-
den, »es war eine Abmachung, bei der
jeder wusste, worauf er sich einlässt.«
Thilo Neumann, Antje Windmann
87

»Auf Erfolg fixiert«
Freizeit Deutschlands Senioren werden immer fitter, der Leistungssport boomt.
Viele kämpfen noch mit über 80 um Medaillen und Titel.
Z
um Spaß ist Thomas Bartling nicht
nach Zella-Mehlis gefahren, das
sollen alle gleich mal spüren. Eine
Stunde vor Beginn des Wett-
kampfs steht er auf einem gesperrten
Rasenplatz und schleudert seinen Speer.
Einmal, zweimal, dann bemerkt ihn eine
Frau der Wettkampfleitung. »Das war
doch noch nie erlaubt«, schimpft sie, das
müsse er doch wissen.
Thomas Bartling schüttelt den Kopf,
trabt dann davon. Natürlich weiß er, dass
man sich auf einem gesperrten Terrain
nicht einwerfen darf. Bartling ist seit mehr
als 60 Jahren Leichtathlet, er kennt die
Regeln. Mindestens viermal wurde er
Deutscher Meister, er hält vier deutsche
Rekorde.
Seine Urkunden und Medaillen zähle
er nicht. »Daraus mache ich mir nichts«,
behauptet er. Trotzdem steht er nun da,
in der Leichtathletik-Anlage von Zella-
Mehlis, thüringische Provinz, und will
seinen nächsten Sieg. Die rund 450 Kilo-
meter zur Deutschen Mehrkampfmeister-
schaft der Senioren hat der Hamburger
mit dem Auto zurückgelegt. Um fünf Uhr
morgens ist er losgefahren.
Thomas Bartling ist 81 Jahre alt. Er will
den Titel als deutscher Meister seiner
Altersklasse im Fünfkampf verteidigen,
bei der ersten landesweiten Senioren-
meisterschaft seit Ausbruch der Corona-
Pandemie.
Bartling gehört zur deutschen Elite, ist
aber längst keine Ausnahme: Immer mehr
Senioren treiben Sport. Laut dem Deut-
schen Olympischen Sportbund (DOSB)
sind rund 4,5 Millionen Vereinsmitglieder
älter als 60 Jahre, die Zahlen steigen stän-
dig. Und auch die privaten Anbieter freuen
sich über die fitten Alten: In deutschen
Fitnessstudios sind rund 1,4 Millionen
Kunden älter als 60 Jahre – fast 30 Pro-
zent mehr als noch vor sechs Jahren.
Vom demografischen Wandel profitiert
nicht nur der Freizeitsport, auch die Teil-
nehmerzahlen bei Meisterschaften sind
beachtlich. Rund 30 000 aktive Senioren-
sportler zählt die Leichtathletik-Szene
in Deutschland, wenngleich der Begriff
»Senior« irreführend ist. Beim Deutschen
Leichtathletik Verband (DLV) gilt man
schon ab 30 als Senior. »Wir sprechen
von der Masters-Klasse«, sagt David Deis-
ter, beim DLV zuständig für das Senioren-
referat.
88
Sport
Auch in vielen anderen Sportarten gibt
es Meisterschaften für Gereifte. Besonders
beliebt sind Schwimmen und Radfahren.
Auch der Deutsche Skiverband veranstal-
tet Rennen für ältere Sportler.
In Zella-Mehlis sind am vorletzten
Augustwochenende 255 Teilnehmer am
Start. Mehr als im vergangenen Jahr und
mehr, als die Veranstalter erwartet hatten
während der Pandemie. Gleich am Eröff-
nungstag der dreitägigen Meisterschaft ist
Thomas Bartling an der Reihe. »Die alten
Säcke kommen«, sagt er über sich und
seine Konkurrenten.
Zwei Tage vor dem Wettkampf sieht
Bartling sein Projekt Titelverteidigung ge-
fährdet. »Ich war nie so schlecht vorbe-
reitet«, beklagt er beim Treffen in seinem
Büro in der Hamburger Innenstadt. Ge-
sundheitlich gehe es ihm gut, deshalb ar-
beitet er auch noch als Wirtschaftsprüfer
»Schnell kamen
die Ersten und
sagten, das Training
sei zu lasch.«
und Rechtsbeistand: »Warum nicht? Ich
bin ja fit.« Auch sein Trainingspensum
habe er beibehalten, zweimal die Woche
Training im Verein, dazu ein privater
Lauftreff und jeden Tag eine morgend-
liche Joggingrunde. Nur intensiv genug
habe er dieses Mal nicht trainiert. Wegen
Corona stand die Meisterschaft in Zella-
Mehlis lange auf der Kippe. Die meisten
Teilnehmer gehören altersbedingt zur
Risikogruppe.
Darüber kann Bartling nur lachen. Ein
untrainierter 40-Jähriger könne sicherlich
genauso schwer erkranken wie er, glaubt
er. Und außerdem: Er könne sich nicht
daran erinnern, wann er zum letzten Mal
krank gewesen sei. Ohne Corona wäre
Bartling dieses Jahr bei zahlreichen Meis-
terschaften gewesen, der Sport bestimmt
sein Leben schon lange. Den Marathon ist
er unter drei Stunden gelaufen. Wenn Bart-
ling aufsteht, drückt er demonstrativ den
Rücken durch. »Der Sport hält gesund.«
Eine Aussage, die Georg Neumann
belegen kann. Bereits ab dem 40. Lebens-
jahr setze der genetisch bedingte Muskel-
schwund ein, so der Sportmediziner, der
früher am Institut für Angewandte Trai-
ningswissenschaft in Leipzig gearbeitet hat.
»Mit 80 Jahren verfügt man nur noch über
die Hälfte der ursprünglichen Muskel-
masse.« Eine Leistungssteigerung mit zu-
nehmendem Alter sei deshalb schwierig.
»Gelegentliche sportliche Übungen stei-
gern zwar das Wohlbefinden, führen aber
zu keiner Leistungsverbesserung«, so Neu-
mann. Erst durch regelmäßiges, mehr-
monatiges Training mit vier bis fünf Ein-
heiten pro Woche sei es im Alter noch
möglich, sein Niveau zu halten oder sich
zu verbessern.
Positive Effekte hat der Sport für Se-
nioren aber in jedem Fall, sagt Neumann,
der seit Jahren zum Thema Leistungs-
fähigkeit von Alterssportlern forscht. Die
Intensität spiele dabei eine nachgeordne-
te Rolle, am besten seien Ausdauersport-
arten mit geringem Verletzungsrisiko. Zu-
dem, das belegten Studien, könne regel-
mäßige Bewegung die Lebenserwartung
steigern. In welchem Ausmaß, sei unklar,
dafür sei über den Prozess des Alterns
noch zu wenig bekannt, sagt Neumann.
Eine dänische Studie aus dem Jahr 2015
legt zumindest nahe, dass Joggen die
Lebenserwartung um rund sechs Jahre
erhöhen kann.
Silke Keller, Sportwissenschaftlerin der
Universität Hildesheim, befragte Senioren-
sportler nach ihren Motiven und fand
heraus, dass die Gesundheit für die meis-
ten zwar eine wesentliche Rolle spielt –
für nicht wenige habe aber der Wettkampf
die höchste Priorität bekommen. Sich mit
anderen zu messen und möglicherweise
Medaillen zu gewinnen sei für sie der zen-
trale Antrieb. »Jemand, der nicht auf den
Erfolg fixiert ist, geht gar nicht erst an den
Start«, sagt Keller.
Vor allem Männer lassen sich davon
motivieren, wenigstens im Alter zu sport-
lichem Ruhm zu kommen. Nur rund ein
Drittel der Teilnehmer bei Seniorensport-
wettkämpfen ist weiblich. Unter den Män-
nern gibt es Ausnahmeerscheinungen wie
den Vaterstettener Guido Müller, der 101
Europa- und 48 Weltmeistertitel gewann
und im vergangenen Jahr mit 81 seine Kar-
riere beendete.
Das Niveau steige weiter an, sagt Neu-
mann. In Thomas Bartlings Altersklasse
M80 wurden von 39 deutschen Rekorden
27 in den vergangenen zehn Jahren auf-
gestellt.
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
 Dem Deutschen Leichtathletik Verband
liegt viel an den Turborentnern. »Wir stel-
len uns oft die Frage, wie es uns gelingt,
alle Senioren noch besser mitzunehmen«,
sagt Deister, »diese Zielgruppe ist interes-
sant, auch wirtschaftlich.« Vereine und
Verbände verdienen gut an den Senioren.
Die ergrauten Sportler zahlen ihre Teil-
nahmegebühren selbst, ebenso die Anreise
und die Unterkunft. Und für Veranstalter
kleiner Meisterschaften lohnt es sich, Se-
niorenwettkämpfe anzubieten.
Viele Seniorensportler würden ihre Jah-
resplanung an den Wettkämpfen ausrich-
ten, sagt die Sportwissenschaftlerin Keller.
Die meisten von ihnen seien gebildet und
finanziell gut aufgestellt.
Ganz ungefährlich ist der Ehrgeiz der
alten Sportler indes nicht. »Es gibt in der
Szene sehr viele Leute, die sich selbst trai-
nieren«, sagt Keller, die 13 Jahre Leicht-
athletik betrieben hat und anschließend
begann, Seniorensportler zu trainieren,
»ich wollte sie nicht überfordern, doch
schnell kamen die ersten zu mir und sag-
ten, mein Training sei zu lahm.« Auch
wenn gut zwei Drittel der Senioren-
Leichtathleten schon in jüngeren Jahren
Erfahrung im Wettkampfsport gesammelt
haben, entdecken viele ihren Ehrgeiz erst
im Rentenalter.
Bei den Meisterschaften in Zella-Mehlis
steigt das Thermometer auf über 30 Grad,
eine Disziplin auszulassen kommt den
Sportlern aber nicht in den Sinn.
»Es war schön, wieder alle zu treffen«,
sagt Helgard Houben. Die 76-jährige
Leichtathletin vom Solinger LC bestreitet
ihren Wettkampf am Samstag und holt sich
den Titel im Fünfkampf. Etwas über-
raschend, wie sie sagt, »eigentlich mache
ich lieber Hürdenlauf und Dreisprung«.
Auch Helgard Houben ist seit ihrer
Jugend sportlich aktiv, war deutsche Ju-
niorenmeisterin. Die Begeisterung für die
Leichtathletik flaute nie ab, aber erst seit
2004 ist sie wieder regelmäßig im Wett-
kampf, wurde Welt- und Europameisterin.
Ihr Ehrgeiz ist groß. Noch wichtiger als
der Erfolg sei aber die Gemeinschaft unter
den Sportlern, sagt sie. Hin und wieder
würden Leute sie fragen, ob diese Sport-
obsession nicht verrückt sei, aber »hier in
Zella-Mehlis fragt das keiner.«
Thomas Bartling hat trotzdem keine
gute Laune. In keiner der fünf Disziplinen
erreicht er seine Vorjahresform. Am Ende
wird er Letzter, Titelverteidigung miss-
glückt.
Die Teilnahme sei schon ein Erfolg, trös-
tet er sich. Andere in seinem Alter hätten
ganz andere Probleme als einen verkorks-
ten Wettkampf.
Und außerdem: Im nächsten Jahr sei
ja auch wieder eine Meisterschaft. Dann
ist er 82. Jonas Kraus
Fünfkämpfer Bartling (Mitte, rechts mit Konkurrenten): »Die alten Säcke kommen«

Fotos: Matthias Hangst / Getty Images / DER SPIEGEL 89

Wissen

Philippe Weber / uwpix.ch

Wie eine Seifenblase schien das Objekt im Mittelmeer vor der italienischen Insel Giglio zu schweben. Erst nach dem
Auftauchen wurde dem Unterwasserfotografen Philippe Weber bewusst, was ihm da vor die Kamera geraten
war. Bei dem bizarren Ballon, erklärten ihm Meeresbiologen, habe es sich wohl um den gallertigen Eierball eines
Kalmars gehandelt, aus dem bald Tausende Babytintenfische schlüpfen könnten.

Wenn Energiekonzerne ihre schmutzigen Anlagen deshalb still-

Das Kohle-Paradox
Analyse In Hamburg-Moorburg soll das Kraftwerk
früher vom Netz – eine schlechte Nachricht fürs Klima.
 Im Hamburger Stadtteil Moorburg, einem verschlafenen
Süderelbdorf, bahnt sich eine Energiewende im Zeitraffer
an. Seit fünf Jahren produziert ein hochmodernes Kohlekraft-
werk dort Strom. Doch schon Mitte nächsten Jahres will der
Betreiber Vattenfall die nagelneue Anlage, die die Hansestadt
eigentlich jahrzehntelang mit Strom versorgen sollte, vom
Netz nehmen. Der Betrieb der zwei 800-Megawatt-Blöcke rech-
ne sich nicht mehr, so der Konzern.
Hamburgs grüner Umweltsenator Jens Kerstan sieht in der
Ankündigung einen »Riesenfortschritt für den Klimaschutz«.
Nur, ist das wirklich so? Der Fall Moorburg zeigt, dass wettbe-
werbsfähige erneuerbare Energien und gestiegene Preise für
Emissionszertifikate die Kohlekraft immer unattraktiver machen.
legen, ist das prinzipiell eine gute Nachricht. Das Problem dabei:
Stellt Moorburg wirklich den Betrieb ein, könnte das die Lebens-
dauer ausgerechnet von älteren, weniger effizienten und damit
klimaschädlicheren Kraftwerken verlängern. Denn Deutschland
organisiert das schrittweise Ende der Steinkohle über Auktionen:
Die Bundesregierung lobt Prämien für Betreiber aus, die Kohle-
kraftwerke vom Netz nehmen – doch nicht derjenige erhält
den Zuschlag, der den klimaschädlichsten Meiler stilllegen will,
sondern derjenige, der die geringste Entschädigung für die
Abschaltung verlangt. Erst nach 2026 werden die verbliebenen
Kraftwerke nach Alter gestaffelt zwangsabgeschaltet.
Noch liefern 51 Steinkohlekraftwerke Strom, darunter mehr
als ein Dutzend betagte Anlagen, die bereits in den Siebziger-
und Achtzigerjahren ans Netz gingen. Wenn sich nun die anderen
Stromkonzerne den Ruhestand ihrer Kohleblöcke mit höheren
Summen vergolden lassen wollen als Vattenfall, geht Moorburg
schon 2021 vom Netz, während Uraltmeiler bis mindestens
2026 die Atmosphäre belasten. Das wäre kein »Riesenfortschritt
für den Klimaschutz«, sondern das Gegenteil. Kurt Stukenberg

90 DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020

Tiermedizin
Freispruch für
»Dark Ronald«
 Brüchiges Bindegewebe,
instabile Gelenke, verkrümm-
te Gliedmaßen: Pferde-
züchter fürchten das fragile
Fohlensyndrom (WFFS).
Betroffene Tiere müssen
meist kurz nach der Geburt
eingeschläfert werden, wenn
sie diese überhaupt über-
leben. Zwar können Zucht-
tiere auf das 2011 genetisch
entschlüsselte Leiden getestet
werden, doch bislang war
unklar, auf welches Pferd die
Mutation zurückgeht. Einen
Hauptverdächtigen haben
Forscher aus Göttingen und
Halle an der Saale nun ausge-
schlossen: »Dark Ronald xx«
sei nicht wie angenommen
der Ursprung des Syndroms
Medizin
»Cholesterin ist
lebenswichtig«
Robert DuBroff,
69, von der
University of
New Mexico über
die zweifelhafte
Wirkung von
Medikamenten
bei der Vermeidung von Herz-
krankheiten
SPIEGEL: Herzkrankheiten
sind weltweit Todesursache
Nummer eins. Millionen Men-
schen versuchen, sich davor
zu schützen, indem sie das
Cholesterin in ihrem Blut sen-
ken. Tun sie das Richtige?
DuBroff: Uns wurde immer wie-
der gesagt, dass ein niedriger
Cholesterinwert einer der bes-
ten Wege ist, Herzkrankheiten
zu verhindern. Es gibt dafür
neben der körperlichen Aktivi-
tät zwei Möglichkeiten: über die
Ernährung und mit Medikamen-
ten, sogenannten Statinen. Wir
haben uns viele Untersuchun-
gen angeguckt: Die Beweislage,
dass Statine oder das Vermei-
den von gesättigtem Fett in der
Ernährung das Leben verlän-
gern, ist nicht gerade schlüssig.
Imago
Pferde mit Fohlen
in Deutschland, berichten sie
in »Animal Genetics«. »Dark
Ronald« war ein gefragter
Deckhengst in der deutschen
Pferdezucht. Weil die Über-
reste des 1928 verstorbenen
Rennpferds in der haustier-
kundlichen Sammlung der
Uni Halle-Wittenberg aufbe-
wahrt werden, konnten die
Veterinärgenetiker eine Erb-
gutanalyse an Resten seiner
Haut vornehmen. Ergebnis:
SPIEGEL: Was hat Sie bewo-
gen, am Nutzen der Statine zu
zweifeln?
DuBroff: Als die ersten Statine
vor rund 30 Jahren zugelassen
wurden, dachte man, Herz-
krankheiten eliminieren zu
können. In den USA hat sich
der Einsatz von Statinen
zwischen 2002 und 2013 fast
verdoppelt, die Cholesterin-
werte in der Bevölkerung sind
gesunken. Trotzdem gibt es
mehr Herztode.
SPIEGEL: Was bedeutet das?
DuBroff: Meiner Meinung
nach sind bei Herzkrankheiten
viele Faktoren am Werk. Und
die sind womöglich wichtiger
als das Cholesterin: ob man
Verstopfte Arterie (Simulation)
»Dark Ronald« ist nicht Trä-
ger der Mutation, die nach
aktuellen Schätzungen heut-
zutage bei bis zu 15 Prozent
der Warmblut- und 2 Prozent
der Vollblutpferde vorkommt.
In Wahrheit geht das Leiden
hierzulande wohl auf einen
Hannoveraner Hengst
(»Hengst A«) zurück, wie
eine weitere aktuelle Analyse
unter anderem von Wissen-
schaftlern der Tierärztlichen
Hochschule Hannover erge-
ben hat. Der Freispruch für
»Dark Ronald« ist wichtig,
weil viele Vollblüter in
Deutschland von dem Hengst
abstammen. »Die Herkunft
eines Gendefekts zu ermitteln
dient dem Tierwohl«, erklärt
Genetiker Bertram Brenig
von der Universität Göttin-
gen. Das Wissen helfe, gegen
die Verbreitung solcher
Krankheiten vorzugehen. JKO
raucht, was man isst, wie viel
man wiegt.
SPIEGEL: Übersehen wir
womöglich Warnsignale, weil
wir uns zu sehr aufs Choles-
terin konzentrieren?
DuBroff: Ich glaube, dass es
uns davon ablenkt, andere
Dinge zu erwägen, die eine
entscheidende Rolle spielen.
Der große Anstieg an Herz-
krankheiten dürfte mit der
globalen Epidemie der Fett-
leibigkeit und des Stoffwech-
selleidens Diabetes mellitus
Typ 2 zusammenhängen.
SPIEGEL: Sie wollen fest-
gestellt haben, dass es
sich sogar negativ auf die
Gesundheit auswirken
Getty Images
Fußnote
10
Prozent mehr Transferleistun-
gen innerhalb einer Gesell-
schaft könnten die Sterberate
ihrer Mitglieder um durch-
schnittlich 15 Prozent senken.
Das haben Wissenschaftler
vom Rostocker Max-Planck-
Institut für demografische For-
schung anhand einer Analyse
von 34 Ländern errechnet.
Wenn viel geteilt werde, sei
der soziale Zusammenhalt grö-
ßer, was das Wohlbefinden
aller steigere und zugleich
sicherstelle, dass Schwächere
Unterstützung erhielten. Ob
die Zuwendungen vom Staat
kommen oder Geld innerhalb
von Familien weitergegeben
wird, spielt dabei keine Rolle.
kann, wenn Menschen Statine
nehmen.
DuBroff: Studien zeigen, dass
sie sich schlechter ernähren,
weil sie das Gefühl haben, die
Statine werden sie beschützen.
Sie essen mehr Junkfood und
nehmen zu. Gleichzeitig
haben Statine Nebenwirkun-
gen. Sie können das Risiko
für Diabetes erhöhen und
stehen im Verdacht, kognitive
Einbußen zu verursachen.
SPIEGEL: Der Körper produ-
ziert selbst Cholesterin.
DuBroff: Ja, man vergisst
manchmal, dass Cholesterin
lebenswichtig ist.
SPIEGEL: Sollte jemand, der
Statine nimmt, damit aufhören?
DuBroff: Das ist eine Entschei-
dung, die ein Patient gemein-
sam mit dem Arzt treffen soll-
te. Wir raten davon ab, dass
jemand diese Mittel einfach
absetzt. Aber es ist wichtig,
gemeinsam Risiken und Nut-
zen durchzugehen.
SPIEGEL: Wenn ein Patient
die Statine absetzt – was kann
er sonst noch tun?
DuBroff: Die eigenen Lebens-
gewohnheiten überprüfen. Ein
gesundes Gewicht halten,
nicht rauchen, sich regelmäßig
bewegen und sich gesund
ernähren. UB
91
 Männlich.
Stark.
Unfruchtbar
Fortpflanzung Die Spermaqualität der
Männer nimmt rapide ab. Das hat Auswirkungen
aufs Kinderkriegen und auf die Psyche der Betroffenen. Woran liegt
es – sin

Von Maik Großekathöfer und

Barbara Hardinghaus

92

D
er Protagonist dieser Geschich-
te ist mit bloßem Auge nicht zu
erkennen, er misst nur 60 Mikro-
meter, das sind 0,006 Zenti-
meter, der Punkt am Ende die-
ses Satzes ist zehnmal so groß. Die Rede
ist von der männlichen Keimzelle des Men-
schen, dem Spermium. Es besteht aus
einem Kopf mit Zellkern, einem Mittelteil
und einem Schwanz, es ähnelt, in extremer
Vergrößerung, einer Kaulquappe.
Auf dem Weg zur Eizelle schwimmt ein
Spermium im Gebärmutterhals mit und
im Eileiter gegen die Strömung, in einer
Minute kommt es drei bis vier Millimeter
voran. Anfangs sind Millionen Samenzel-
len unterwegs, kurz vor dem Ziel sind viel-
leicht noch 200 übrig. Wenn alles gelingt,
dringt das schnellste Spermium in die
Eizelle ein und verschmilzt mit ihr. Das ist
der Moment der Befruchtung.
Das Problem ist: Dem Spermium geht
es nicht gut. Es steckt in einer Krise.
Fast jedes zehnte Paar in Deutschland
zwischen 25 und 59 Jahren, das sich ein
Kind wünscht, kann auf natürlichem Weg
keins zeugen. Die Ursachen liegen bei bei-
den Geschlechtern, aber die Wissenschaft
hat den Beitrag des Mannes an dieser Ent-
täuschung lange unterschätzt.
Inzwischen weiß man: Die Spermien-
konzentration des Mannes in Europa, Nord-
amerika, Australien und Neuseeland ist
niedriger geworden. 1973 befanden sich in
einem Milliliter Ejakulat 99 Millionen Sper-
mien, 2011 waren es nurmehr 47 Millionen.
Für die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) sind 15 Millionen Spermien je Milli-
liter noch in Ordnung. Theoretisch kann
c
nd es chemi ie Weichma her? Oder Launen der Natur?
sche Stoffe w
eine Schwangerschaft sogar gelingen,
wenn lediglich zwei Millionen Spermien
in einem Milliliter Ejakulat vorhanden
sind; dieser kritische Wert könnte 2034 er-
reicht werden, wenn die Entwicklung so
weitergeht.
14 Jahre, das ist nicht lange.
Hieß es nicht stets, Männer könnten
immer und bis in alle Ewigkeit? Die Frau
hat irgendwann keine Eizellen mehr, der
Mann produziert sein Leben lang Sperma?
Mick Jagger wurde mit 73 zum achten Mal
Vater. Er hatte wohl Glück.
Ob ein Mann fruchtbar ist oder nicht,
hängt nicht allein von der Anzahl der Sper-
mien ab, sondern auch von ihrer Qualität.
Nur Spermien, die vorwärtsschwimmen
können, erreichen die Eizelle. Und sie müs-
sen wohlgeformt sein. Auch da gibt die
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
Titel
WHO Normwerte vor. In der Lage, sich
nach vorn zu bewegen, müssen 32 Prozent
sein, gut aussehen 4 Prozent. Beide Werte
hat die WHO bereits nach unten korrigiert.
96 Prozent entstellte Spermien darf ein
Mann offiziell inzwischen haben – einen
Zuchtbullen mit so einem Wert kann kein
Bauer gebrauchen.
In der Schweiz zum Beispiel erfüllt das
Sperma bei sechs von zehn Männern zwi-
schen 18 und 22 Jahre einen der WHO-
Standards nicht.
Das Phänomen wirft Fragen auf, die
weiterreichen als die Entscheidung: Kind
ja oder nein. Was macht es mit Männern,
wenn sie erfahren, unfruchtbar zu sein?
Was bedeutet es für die Gesellschaft? Und
warum ist die Unfruchtbarkeit des Mannes
ein Tabu, bis heute?
I.
Die Ärztin. »Auf der Suche nach
den verlorenen Spermien.«
Andrea Salzbrunn sagt, früher hätten sich
die Männer mit Pudelmütze zu ihr ins War-
tezimmer gesetzt, damit sie keiner erkennt.
Inzwischen bildeten sie Fahrgemeinschaf-
ten. Doch noch immer sind es nur sechs
Prozent der Männer, die von einem Arzt
abklären lassen, ob es bei ihnen organische
Ursachen für die Kinderlosigkeit gibt. Das
geht aus einer Studie des Familienminis-
teriums hervor, die am Mittwoch erschie-
nen ist. Vor diesen Männern liegt oft eine
lange, kraftzehrende Reise. Für manche
endet sie glücklich, für andere im Elend.
Salzbrunn leitet die Andrologie am Uni-
versitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
(UKE), Haus W 38, erster Stock. Sie ist
groß, spricht mit klarer Stimme, ist Mutter
von vier Kindern. Zu ihr kommen Männer,
deren Fruchtbarkeit gestört ist. Salzbrunn
und ihre Kolleginnen sehen die Spermien
im Labor unter dem Mikroskop, darunter
viele verformte.
An diesem Tag, in diesem Moment, liegt
da zufällig das Ejakulat eines Mannes des
Jahrgangs 1990. Sein Sperma soll einge-
froren werden, ihm steht eine Chemothe-
rapie bevor. Salzbrunns Kollegin betrach-
tet es durch das Okular.
Ein schönes Spermium, wie sieht das
aus? Mittelgroßer Kopf, langer gerader
oder kurviger Schwanz. Sie sucht.
Findet aber nichts. »Kopf zu ballon-
artig«, sagt sie. »Schwanz nicht mittig. Der
Hals zu dick.« Oder: »Schwanz kringelig.«
Der Schwanz darf nicht kringelig sein,
weil der Bewegungsapparat im Schwanz
sitzt. Das Spermium bewegt sich sonst nur
um seine eigene Achse ohne Vorwärts-
bewegung.
Salzbrunns Kollegin sucht weiter, sie
sagt: »Der Schwanz sitzt schief, der Kopf
hat eine Delle, Kopfkappe zu spitz, hier
zu klein, hat Unebenheiten.«
»Es gibt zu wenig Schönes«, so fasst die
Chefin die Untersuchung zusammen.
Aber dieser Mann ist schwer krank.
»Trotzdem. Es ist traurig«, sagt sie. Bei
Leukämie manifestiert sich die Krankheit
gelegentlich auch im Genitalbereich, bei
anderen Krebsarten, wie bei der dieses
Mannes, ist das nicht so. Seine Spermien
würden auch ohne die Krankheit so
aussehen.
Das Ergebnis für dieses Ejakulat: Etwa
ein Prozent der Spermien sind in Ordnung.
Der Mann wird wohl Kinder haben können,
mithilfe künstlicher Befruchtung. Das Eja-
kulat wird in Röhrchen gefüllt, in flüssigem
Stickstoff bei minus 196 Grad eingefroren.
Bei Bedarf werden die guten Spermien he-
rausgenommen und beispielsweise im Rea-
genzglas zur Eizelle der Frau gesetzt.
Menge, Beweglichkeit, Aussehen, da-
rauf achte sie zuerst. Wichtig ist aber auch
das Erbgut. Das ließ sich lange nicht vorab
untersuchen, mittlerweile schon. Salz-
brunns neues Gerät arbeitet mit künst-
licher Intelligenz und kostet 150 000 Euro.
Es ist in der Lage, die Beschaffenheit der
DNA-Stränge zu erkennen. Sind sie voll-
ständig? Ist die Hülle unversehrt?
Salzbrunn zeigt ein Beispiel, auf dem
Monitor sind viele kleine Punkte zu sehen,
Spermaköpfe. Die blaugrünen haben eine
intakte Verpackung der DNA, die hell-
orangefarbenen nicht. Außerdem wird der
DNA-Strang selbst auf seine Integrität hin
untersucht, bei zerbrochener DNA leuch-
ten die Spermien.
Auffällig bei diesem Ejakulat: Es gibt
viele blaugrüne Köpfe, intakt verpackte.
Das Sperma stammt von einem Mann, der
regelmäßig an das Labor liefert, er hat
schon Kinder – seine Probe dient als Ar-
beitskontrolle, wenn Salzbrunns Mitarbei-
terinnen mal wieder das Gefühl haben, das
Gerät sei kaputt vor lauter Orange oder
Leuchten.
Im Schnitt, so lauten Salzbrunns erste
Erkenntnisse, sind beim Mann von heute
rund 10 bis 20 Prozent der Spermien
genetisch fehlerhaft. Die Diagnosen, die
93

Samenbank im dänischen Aarhus: Zu enge Jeans und Hoden gequetscht? Zu heiß gebadet?
sie stellt, heißen: »Nekrozoospermie« –
im Ejakulat befinden sich zu viele un-
bewegliche Spermien; »Teratozoosper-
mie« – zu viele Spermien sind deformiert;
»Oligozoospermie« – es sind zu wenige
Spermien.
Was also ist heute anders als früher?
Woran liegt es, dass Form, Anzahl und Be-
weglichkeit der Spermien Anlass zu Sorge
geben? Zu enge Jeans und Hoden ge-
quetscht? Zu heiß gebadet? Handy in der
Hosentasche? Laptop auf dem Schoß?
Es gibt jede Menge Vermutungen, The-
sen und erste Erfahrungen. Andrea Salz-
brunn sagt: »Eine gängige Hypothese ist,
dass es an Weichmachern liegt, die sich in
Plastikflaschen, Klebstoff und Deos befin-
den. Die Weichmacher wirken auf das Hor-
monsystem und imitieren fast alle das
weibliche Geschlechtshormon, indem sie
dessen Rezeptoren besetzen. Die sensible
Phase für die Entwicklung des Hodens bei
einem Embryo ist in der sechsten, siebten
Schwangerschaftswoche. Da weiß die Frau
meistens noch gar nicht, dass sie ein Baby
erwartet. Und wenn sie es weiß, wird das
Kinderzimmer gestrichen und eine neue
Hautcreme gekauft. Sie denkt sich nichts
dabei, sie meint: Mein Kind ist ja noch
ganz winzig. Aber genau dann kommen
die Fehler rein.«
Andrea Salzbrunn hat Männer erlebt,
die nach der Diagnose weinend zusam-
mengebrochen sind. Andere sind wutent-
brannt rausgerannt, haben die Tür zuge-
knallt. Es ist vorgekommen, dass sich die
Partnerin noch in der Klinik vom Mann
getrennt hat.
Im Haus gegenüber liegt die Suizid-
ambulanz, da hat sie schon Patienten hin-
geschickt.
94
H. BAGGER / AFP
II.
Patient eins. »Es kommt was raus,
aber da ist nichts drin.«
Es ist schwer, Männer zu finden, die über
ihre Unfruchtbarkeit reden wollen. Salz-
brunn hat ihre Patienten gefragt, erst will
niemand, dann meldet sich ein Journalist
aus Norderstedt.
Er ist gut gelaunt, er steht noch am An-
fang der Behandlung. Er sitzt in einem
Büro, rundes Gesicht, volles Haar, trinkt
Minztee. Seit elf Jahren ist er mit seiner
Freundin zusammen, die beiden wollen
bald heiraten. Er ist 34 und sagt, das Sex-
leben sei immer gut gewesen. »Wenn über-
haupt, habe ich mir mal Gedanken um
mein Stehvermögen gemacht.«
Ein befreundetes Paar hatte eine Fehl-
geburt zu verkraften, ausgelöst durch eine
Hormonstörung, deshalb sind er und seine
Freundin zum Arzt: Eigentlich haben sie
noch gar nicht ans Kinderkriegen gedacht,
aber sie wollten sich lieber mal durch-
checken lassen.
Bei seiner Freundin war alles in Ord-
nung.
Er gab beim Urologen eine Samenprobe
ab, »schnell zu Hause produziert und dann
mit dem Auto hingebracht«. Zwei Wochen
später rief der Arzt an: Wir haben nichts
gefunden.
Er fragte: Was soll das heißen – nichts?
Der Arzt sagte: Im Ejakulat ist kein ein-
ziges Spermium. Er solle in die Andrologie
des UKE gehen, für weitere Tests.
»Mir war nicht klar, dass es das gibt: Es
kommt was raus, aber da ist nichts drin.«
Bei einem Spaziergang vertraute er sich
seiner Mutter an. Der Freundin erzählte
er erst mal nichts.
Wenn sie zwischendurch fragte, ob es
Neuigkeiten vom Urologen gebe, antwor-
tete er: Nö. Nachts lag er schlaflos neben
ihr. »Natürlich war das ein Verrat. Sie
wünscht sich, dass ich der Vater ihrer Kin-
der bin, und ich überlegte: Wie reagiert
sie, wenn sie erfährt, was los ist?«
Einen Tag vor dem Termin bei Andrea
Salzbrunn gestand er alles. Seine Freundin
sagte: Jetzt warten wir mal ab.
Das Ergebnis der zweiten Samenprobe
kam per Post. Wieder nichts, gar nichts.
»Da war ich aufgeschmissen«, sagt er.
Als die beiden sich nachmittags Blumen
für die Hochzeit anguckten, fing die Freun-
din an zu weinen.
Er sagte: Ich würde es verstehen, wenn
du mich nicht mehr heiraten willst.
Nach der Hochzeit will er sich von Salz-
brunn operieren lassen. Sie entnimmt Ge-
webeproben aus dem Hoden, untersucht
den einen Teil histologisch, den anderen
auf das Vorhandensein von brauchbaren
Spermien, die sie konservieren kann.
Der Vorteil einer Hodenbiopsie ist, dass
man Spermien gewinnen kann, die noch
vor dem Samenleiter liegen, denn auch ein
Samenleiter kann verschlossen sein. Oder
es lassen sich Spermienvorstufen finden,
die möglicherweise geeignet sind.
Es ist die einzige Chance, die er hat. Die
Erfolgsquote liege in seinem Fall zwischen
25 und 50 Prozent. Einen Versuch will er
machen, mehr nicht.
Sagt er heute.
Er schluckt jetzt Folsäure, geht öfter jog-
gen. Das Intimleben leide nicht, sagt er.
»Aber ich habe beim Sex schon im Kopf,
dass ich nur mit Platzpatronen schieße.«
Woran es bei ihm liegt, ist unklar. Nur
bei knapp 30 Prozent der zeugungsunfä-
higen Männer können Ärzte eine eindeu-
tige Ursache nennen. Dazu gehören Ho-
denhochstand und Hodenentzündung.
III.
Der Reproduktionsarzt.
»Die Fruchtbarkeit nimmt eher zu
wenig ab.«
Nicht weit entfernt vom Hauptbahnhof
geht Wolfgang Schulze über die Flure des
Fertility Centers Hamburg. Auch Schulze
sucht die Ursache für die Kinderlosigkeit
da, wo sie viele immer noch zuletzt ver-
muten: beim Mann.
Schulze ist schon lange im Geschäft,
1947 geboren, Humanmedizin studiert,
Professur, er war vor Andrea Salzbrunn
der Leitende Direktor für Andrologie
am UKE. Seit sechs Jahren arbeitet er für
das Fertility Center. Er sagt, dass zu ihm
vor allem die schweren Fälle kommen. Die,
die meist alles andere schon durchhaben.
Sie erfahren von ihm auf Facebook oder
in Kinderwunschforen. Erst am Morgen
hat er wieder zwei schwere Fälle operiert.

An der Wand hinter Schulzes Schreib-
tisch hängt das Bild eines wohlgeformten
Spermiums, es zeigt Längs- und Quer-
schnitt, Schulzes Doktorvater hat es ge-
zeichnet. Es hängt da wie anderswo Dünen-
landschaften.
Schulze kann ins Schwärmen geraten,
wenn er über ein formschönes Spermium
spricht. Er durfte mal Spermien eines
Orang-Utans und eines Pavians untersu-
chen – und hat so viel intaktes Material ge-
sehen, wie es das beim Menschen nicht gibt.
»Wunderbar. Zauberhaft.«
Die Lage beim Mann heute nennt Schul-
ze eine »schiere Katastrophe«. 85 Prozent
der Spermien seien nicht in der Lage, eine
Eizelle zu befruchten.
Was hat sich verändert?
Die Frauen, die in seine Praxis kommen,
sind älter, aber die Männer eben auch.
Und die These, dass ältere Männer genau-
so fruchtbar seien wie jüngere, stimme
nicht. »Ab 40 geht es auch beim Mann
bergab«, sagt Schulze.
Er hat einen Verdacht. Nein, nicht
Weichmacher seien das Problem, das sei
eine »olle Kamelle« und »bislang nicht hin-
reichend belegt«, etwas, das Forscher ver-
breiten, weil es Forschungsgelder gibt,
wenn sie Umwelteinflüsse untersuchen.
Wolfgang Schulze glaubt an einen
Selbstregulierungsprozess der Natur.
Er sagt: »Es gibt den programmierten
Zelltod, die Zelle empfängt unter bestimm-
Neue Normalität
Fortpflanzungsbehandlungen
bei Paaren in Deutschland
Quelle: Deutsches IVF-Register
1982
742
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
Titel
ten Bedingungen das Signal: Geh zugrun-
de! Apoptose nennt man das. Ich vermute,
dass unser hoher Lebensstandard heute
dazu führt, dass wir vermehrt apoptoti-
sche Spermien produzieren. Die sind in
einem frühen Stadium kaum von intakten
Spermien zu unterscheiden, können aber
keine Eizelle befruchten. Die Spezies
Mensch hat in hoch entwickelten Ländern
keinen biologischen Druck, sich fortzu-
pflanzen. Es gibt genug Exemplare, dem
Menschen geht es gut, er lebt lange. Das
war in der Nachkriegszeit oder zu Pest-
zeiten ganz anders.«
Als Schulze geboren wurde, gab es
2,5 Milliarden Menschen. Inzwischen sind
es 7,8 Milliarden. Jedes Jahr kommen
80 Millionen dazu. Schulze sieht es so:
»Die Fruchtbarkeit nimmt im Moment
eher zu wenig ab.«
Und dennoch guckt er, natürlich, was
bei jedem einzelnen Mann noch zu holen
ist. Er sucht Oasen in der Wüste.
Zweimal die Woche operiert er vormit-
tags, für eine Hodenbiopsie zur Spermien-
gewinnung braucht er 30 Minuten. Der
erfolgreiche Fall an diesem Dienstag war
ein Mann, der im Ejakulat nur wenige
Spermien besitzt, mit erhöhter Brüchig-
keit, seine Frau hatte schon zwei Aborte.
Ihm konnte er gesunde Samenzellen ent-
nehmen.
Nichts gefunden hat er bei dem anderen
Patienten. Das Paar kam aus Offenburg
Seit 2003 wurde die
Kostenübernahme
durch die Kranken-
kassen eingeschränkt.
und fährt gerade 700 Kilometer im Auto
zurück.
IV.
Patient zwei. Die Leute im Dorf
sagen: »Du kriegst keinen hoch!«
Ein Haus in Norddeutschland, er ist An-
walt, Ende dreißig, sitzt am Tisch im Ess-
zimmer. Er war auch bei Schulze.
In der Küche räumt seine Frau, sie ist
Lehrerin, Geschirr ein. Sie leben in einem
Dorf, und in einem Dorf spricht sich vieles
schnell herum.
Er redet mit klarer Stimme, selbst-
bewusst, zielstrebig. Er hat es seiner Frau
schon beim zweiten Treffen erzählt. Er
habe ein Problem. Sagte: »Das ist ein
Familienproblem – stell dich darauf ein,
dass es nicht glattgehen wird.« Es war ihm
wichtig, »geraderaus« zu sein, ihretwegen,
aber auch seinetwegen. Es hing so viel
dran. Er brauchte eine Frau, die mitzieht,
weil er sich selbst die Kinder so sehr
wünschte.
Als das Paar dann so weit war, machte
er Spermiogramme, und die waren »deut-
lich auffällig«, sagt er. Sie schwankten in
den Resultaten zwischen Azoospermie
oder Kryptozoospermie, dem vollständi-
gen oder fast vollständigen Fehlen von
Spermien im Ejakulat. Ursache könnte
eine Krampfader am Hoden gewesen sein;
es führt zu viel Blut am Hoden entlang,
2018
105 421
95
 Spermienschwund
Durchschnittliche Spermienanzahl im Ejakulat*

1 Mio. Spermien

1973 2011

338 138
Mio. Mio.

Schätzungsweise 7% der Männer weltweit sind unfruchtbar.

* in westlichen Industrienationen; Quelle: Human Reproduction Update

was den Hoden erwärmt. Sein Bruder hat-

te das gleiche Problem.
Nach einer Hodenbiopsie, bei der Schul-
ze Gewebeproben entnahm, gratulierte er
dem Paar. Über dem Hodensack war die
Temperatur niedriger, da hatte der Medi-
ziner was gefunden.
Am selben Tag fuhren die beiden nach
Hause. Auf dem Familienfest am Wochen-
ende sagte er niemandem etwas. Er
krümmte sich noch ein wenig von der OP,
behauptete, er habe Rückenschmerzen. Er
hatte jetzt ein Ziel vor Augen, das hieß:
Familienplanung. Koste es, was es wolle.
Er hatte sich vorgenommen, einfach al-
les auszuhalten, anfangs das Schweigen
und später die Kommentare.
Nach der ersten Schwangerschaft und
Kind Nummer eins haben sie es den ersten
Freunden erzählt, in kleiner Runde. Die Re-
aktion? »Durchaus positiv«, sagt er. Er hatte
schon im Geburtsvorbereitungskurs gehört,
dass Männer mit Fruchtbarkeitsproblemen
nicht so selten sind. Sogar im selben Kurs
war noch jemand gewesen. Das hatte ihm
Mut gemacht, von nun an offener zu sein.
Eine Freundin sagte ihm, sie würde ihren
Partner gleich auch mal zum Arzt schicken.
Doch es gab auch andere Antworten.
»Der hat in die Petrischale gewichst«, hat
einer seiner Freunde vor allen anderen
Freunden erzählt. »Fand ich nicht witzig«,
sagt der Anwalt. Im Dorf ist er jetzt der
unfruchtbare Mann. »Künstliche Befruch-
tung«, sagen sie. Oder: »Ah, dann kriegst
du keinen hoch?« Er erklärt es, in einer
Sprache, die die Freunde im Dorf verste-
hen, hoffentlich. »Stell dir ein Gewehr vor,
aus dem nur Pulverdampf kommt, aber
keine Kugel.«
Es wundert ihn, wie wenig die Leute
wissen. Er will sich davon sein Ego nicht
kaputtmachen lassen.
Was wäre die Alternative? Keine Kinder
zu bekommen. Nachbarn von ihnen haben
ein Haus gebaut mit drei Kinderzimmern,
und die sind bis heute leer. Das war vor
15 Jahren.
Bei ihnen selbst steht eine Schaukel im
Garten. Kind Nummer vier ist in Planung.
»Meine Gelassenheit hat mir geholfen«,
sagt er. Und meint das dicke Fell. Seine
Tochter, bald zwei Jahre alt, klettert auf
seinen Schoß. Er schaut sie an, dann blickt
er hoch und lächelt, so als wolle er sagen:
Was gibt es Wichtigeres?
V.
Die Familientherapeutin. »Für einen
Mann kann es leichter sein, sich
als schwul zu outen, als zuzugeben,
dass er unfruchtbar ist.«
Dass ein Mann keine Kinder zeugen kann,
gilt als Tabu, weil in unserer Gesellschaft
Zeugungskraft mit Stärke gleichgesetzt
wird, Vaterschaft mit Männlichkeit. Da
möchte natürlich jeder lieber die Rolle des
Helden übernehmen als die des Versagers.
Jeder Idiot hat Sex, jeder Idiot kann Kin-
der machen, so lautet das Klischee.
Die Leute hören »unfruchtbar« und
denken »impotent«. Das zeigt, wie wenig
sie wissen. Obwohl Zeugungsunfähigkeit
nichts mit der Sexualität zu tun hat, emp-
finden Männer Unfruchtbarkeit oft als
Angriff auf ihre Identität. 41 Prozent der
ungewollt kinderlosen Männer sagen, sie
hätten einfach noch nicht die passende
Partnerin gefunden. Es gibt Frauen, die im
Freundeskreis behaupten, die Kinderlosig-
keit liege an ihnen, obwohl in Wahrheit
der Mann der Grund dafür ist.
»Für einen Mann kann es leichter sein,
sich als schwul zu outen, als zuzugeben,

96 DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020


dass er unfruchtbar ist«, sagt die Famili-
entherapeutin Petra Thorn, die seit 1993
psychosoziale Kinderwunschberatung an-
bietet und sich für die Entstigmatisierung
der Familienbildung mit Samenspende ein-
setzt. Sie hat ein Buch geschrieben über
»Männliche Unfruchtbarkeit und Kinder-
wunsch«. Es gibt hochrangige Politiker
und ehemalige Fußballprofis, die sich zu
ihrer Homosexualität bekannt haben.
Aber kaum einen prominenten Mann, der
öffentlich eingeräumt hat, infertil zu sein.
Einer der ganz wenigen ist der Film-
regisseur Wim Wenders. Er ist vermutlich
unfruchtbar, weil er als Kind an Mumps
erkrankt war. Petra Thorn wünscht sich
mehr Vorbilder wie Wenders, das würde
die Akzeptanz fördern, würde das Stigma
mindern.
Normalerweise komme es einem Mann
nicht in den Sinn, an seiner Samenqualität
zu zweifeln. Infertilität ist ein Makel, den
er ausschließt. Es passt nicht zu seiner Vor-
stellung, dass er alles erreichen kann,
wenn er nur will. Petra Thorn sagt, man-
che Männer verfolge die Unfruchtbarkeit
bis in ihre Träume.
Das muss nicht sein, meint der Soziologe
Hans Bertram. Er hat zum Gespräch in Ber-
lin ein Buch mitgebracht, »Die überforderte
Generation – Arbeit und Familie in der Wis-
sensgesellschaft«, darin stecken gelbe Zettel.
Wir hätten die allgemeine Vorstellung,
sagt er, dass ein Mann Vater zu sein habe,
»weil wir der Vergangenheit auf den Leim
gehen«. Der Mann als Vater eines Kindes
und Ernährer der Familie – dieses Rollen-
bild sei erst mit der Industriegesellschaft
entstanden.
Bertram bezweifelt, dass es beim Mann
einen angeborenen Kinderwunsch gibt.
»Dass wir Männlichkeit mit Vatersein as-
soziieren, ist angelernt. Wir nehmen Prin-
zipien, die sich Ende des 19., Anfang des
20. Jahrhunderts entwickelt haben, als ge-
setzt und akzeptieren sie als natürlich.«
Dem Mann sei eingeredet worden, dass
Kinder Teil des Lebenssinns seien.
Fakt ist: Deutsche Männer möchten
heute mehrheitlich Kinder, und sie haben
bestimmte Vorstellungen, wie sie die Va-
terrolle ausfüllen wollen – sie unterstützen
ihre Frau bei der Geburt, wickeln das Baby,
fahren es im Kinderwagen spazieren; sie
spielen mit dem Kind, wenn es klein ist,
und sorgen sich, wenn es in die Pubertät
kommt. Der Mann will Erfolg im Beruf ha-
ben, seine Partnerin unterstützen und am
Aufwachsen der Kinder beteiligt sein.
Hans Bertram findet, dass es mittlerwei-
le eigentlich einfach für einen Mann wäre,
auch ohne Kinder Anerkennung zu erhal-
ten. »Bei den Frauen akzeptieren wir lang-
sam, dass sie ein Leben ohne Kinder füh-
ren können, dass sie es zum Teil ganz be-
wusst wollen. Bei den Männern sind wir
noch nicht so weit.« Die jungen Leute wür-
Titel
den sich an ihren Eltern orientieren, wenn
sie ihren eigenen Lebensentwurf erstellen,
sagt er.
Der Unterschied ist, dass die Eltern-
generation fruchtbarer war.
VI.
Der Biochemiker. »Wir müssten
Menschenversuche machen.«
Der Wartebereich des Kinderwunschzen-
trums am Universitätsklinikum Münster
ist mit Paravents von der Eingangshalle
des Gebäudes D 11 abgetrennt. Darüber
hängen Lampen mit ballonartigen Schir-
men, damit niemand aus dem Treppen-
haus hineingucken kann.
In das Kinderwunschzentrum kommen
immer wieder Männer, die ein unauffäl-
liges Spermiogramm haben, Menge, Form
und Beweglichkeit der Spermien sind gut.
Trotzdem klappt es nicht.
Zwei Etagen höher liegt das Büro von
Timo Strünker, er ist Biochemiker und ar-
beitet mit den Reproduktionsmedizinern
zusammen. Strünker kann manchen Män-
nern Gewissheit verschaffen, deren Un-
fruchtbarkeit bis dahin als Mysterium galt.
Im Regal liegt ein Fußball, Strünker ist
Fan des 1. FC Köln, an der Wand ein Bild
des Rocksängers Axl Rose und ein gerahm-
tes Cover der Zeitschrift »Nature«. Die Ti-
telzeile lautet: »Making sperm count.« Die
Spermien wichtig nehmen.
Seit 15 Jahren beschäftigt sich Strünker
mit einer Frage: Wie finden die Spermien
eigentlich das Ei?
Das Ei schüttet Botenstoffe aus, Hormo-
ne, die für die Spermien wie Wegweiser
sind. Daran orientieren sie sich im Geni-
taltrakt der Frau. So wie Immunzellen im
Spermauntersuchung im Labor: »Es gibt zu wenig Schönes«
Blut Bakterien aufspüren, spüren die Sper-
mien das Ei auf. Dafür besitzen sie in der
Membran ihres Schwanzes einen Sensor,
ein Protein mit dem Namen CatSper.
Wenn dieses Protein kaputt ist, ist ein
Mann unfruchtbar.
Strünker hat einen Schnelltest entwi-
ckelt, der in Münster seit etwa einem Jahr
angewendet wird. Mit einer Pipette wird
Ejakulat in zwei Röhrchen getröpfelt.
Dann wartet man eine halbe Stunde.
Wenn die Spermien nicht mehr schwim-
men, sind sie gesund – sie hören auf, sich
zu bewegen, weil sie kein Signal von der
Eizelle aufnehmen. Spermien mit einem
defekten Rezeptor suchen immer weiter.
Bei rund 600 Patienten wurde der Test
bisher angewendet. Bei gut 250 von ihnen
gab es vor dem Test keine Erklärung für
die Infertilität. Bei 7 war CatSper defekt.
Für die Funktionsfähigkeit eines Sper-
miums sorgen Proteine, die es auch in je-
der Haut- oder Gehirnzelle gibt. Spermien
besitzen oft Varianten davon. Das bedeu-
tet: Wenn man einen Genfehler in einem
der speziellen Proteine hat, fällt das nicht
weiter auf – außer man möchte Kinder be-
kommen. Es klappt nicht.
Es gibt viele dieser Spezialproteine in
einem Spermium, eigentlich brauchte man
für jedes einzelne einen Test.
In Münster gibt es seit 2017 eine klini-
sche Forschergruppe, »Male Germ Cells«
nennt sie sich, männliche Keimzellen.
Unter den Wissenschaftlern sind Kinder-
ärzte, Genetiker, Andrologen. Strünker
wollte wissen, ob Chemikalien, denen der
Mensch ausgesetzt ist, die Verständigung
zwischen Eizelle und Spermien behindern.
Substanzen, die das Hormonsystem stö-
ren können, nennt man endokrine Disrup-
Niklas Grapatin / DER SPIEGEL
97

Wunschbild Familie: Konto leer, Libido hinüber
toren. Die hundert am weitesten verbrei-
teten hat Strünkers Team mit Spermien in
Kontakt gebracht. Das Pestizid DDT war
darunter, das Mastmittel alpha-Zearalenol,
das antimikrobielle Triclosan, das auch in
Zahnpasta vorkommt.
Strünker zieht zwei Bilder aus einem
Ordner. Sie zeigen, wie ein und dasselbe
Spermium mit dem Schwanz schlägt. Ein-
mal sieht man ein symmetrisches Muster,
einmal ein chaotisches. Das Spermium be-
wegte sich seltener und ohne Rhythmus,
nachdem die Wissenschaftler den UV-Blo-
cker 4-MBC beigefügt hatten. Der Stoff
steckt in Sonnencreme und Kosmetika.
Der Empfang von CatSper war gestört,
das Spermium sozusagen blind. Die Kon-
zentration der Chemikalien war in einigen
Fällen exakt so hoch, wie man sie üblicher-
weise im menschlichen Körper nachweisen
kann; eine minimale Dosis reichte aus, um
das Spermium von seinem Weg zur Eizelle
abzubringen.
Ist das der Beweis? Sind die endokrinen
Disruptoren schuld an der zunehmenden
Unfruchtbarkeit des Mannes?
Timo Strünker sagt: »Die Ergebnisse
sind im Labor entstanden. Es liegt nahe,
dass im Körper etwas Ähnliches passiert
wie in der Petrischale, aber wir wissen
es nicht. Dafür müssten wir Versuche am
Menschen machen. Es gibt zwei Lager:
Die einen sagen, es liegt an den Umwelt-
faktoren, die anderen sagen, es hat damit
nichts zu tun. Das Problem ist: Weder die
einen noch die anderen haben eindeutige
Beweise. So wie die Spermienqualität
gesunken ist, hat die Zahl von Erkrankun-
gen an Hodenkrebs zugenommen. Auch
die Rate von Jungen mit Hodenhochstand
steigt anscheinend in einigen Ländern.
98
Th. Barwick / Getty Images
Keiner weiß, wo das herkommt. Klar ist
nur: Man muss es herausfinden; insbe-
sondere ob es einen Zusammenhang gibt
oder nicht.«
In Münster wird krebskranken Jungen,
die noch nicht in der Pubertät sind, vor
einer Chemotherapie angeboten, Gewebe
aus dem Hoden einzufrieren. Eine Che-
motherapie kann zu völliger Unfruchtbar-
keit führen. Damit diese Patienten später
Kinder zeugen können, arbeitet die Wis-
senschaft an einer Methode, das Hoden-
gewebe reifen zu lassen, damit es Sper-
mien bildet. »In Vitro Spermatogenese«
heißt das Verfahren.
Sieht so, irgendwann, die Zukunft des
Kindermachens aus?
VII.
Der Psychologe. »Die waren
beide komplett fertig. Er noch
mehr als sie.«
Vor dem Büro von Tewes Wischmann ste-
hen zwei Stühle und ein niedriger Tisch.
Auf dem Tisch liegen Broschüren und Bü-
cher, sie heißen »Abschied vom Familien-
traum«, »Paarberatung und -therapie bei
unerfülltem Kinderwunsch«.
Wischmann ist Psychologe und Psycho-
therapeut am Universitätsklinikum Hei-
delberg, er hat Studien über die psycho-
sozialen Aspekte von Fertilitätsstörungen
erstellt. Seit mehr als 20 Jahren berät er
Paare, die keine Kinder bekommen kön-
nen. Er hilft ihnen bei der Trauerbewälti-
gung, ein Mann mit angenehmer Stimme,
Kinnbart, Brille. Drinnen sind die Gar-
dinen zugezogen, eine Doppeltür sorgt
dafür, dass auf dem Flur niemand mit-
hören kann.
Etwas, das Paare, die keine Kinder krie-
gen können, oft hören: Ihr arbeitet zu viel,
fahrt mal in den Urlaub, entspannt euch,
dann funktioniert es bestimmt. Dass es mit
dem Kinderwunsch nicht klappt, weil der
Stress im Beruf zu groß ist, meint jeder
fünfte betroffene Mann. Wischmann sagt:
»Ich erkläre in der Beratung ganz deutlich:
Die Psyche hat keine Auswirkungen auf
die Zeugungsfähigkeit.«
Im Schnitt führt er ein Gespräch am Tag,
es dauert 50 Minuten. Lange Zeit ist es so
gewesen, dass der Mann seine Frau in die
Sprechstunde begleitet hat, mittlerweile
ist es immer häufiger umgekehrt.
Er sagt: »Die Nachricht, kein Kind be-
kommen zu können, hat dieselbe Wucht
wie die Nachricht, dass ein naher Angehö-
riger gestorben oder man selbst schwerst-
krank ist.«
Männer gehen nicht anders durch so
einen Prozess als Frauen. Es gebe kein
männliches oder weibliches Leiden, sagt
er. Manche Paare reiße die Krise auseinan-
der, viele schweiße sie zusammen.
Neulich war ein Paar aus dem Schwarz-
wald bei ihm, verheiratet seit Mai 2018.
Sie hatten es ein Jahr lang vergebens pro-
biert, dann kam heraus, dass der Mann un-
fruchtbar ist. Der Mann, 36 Jahre alt, fiel
in ein Loch, so tief, bis er körperliche
Schmerzen spürte.
Tewes Wischmann hat das Paar erst
einmal erzählen lassen. Der Mann sagte,
dass er Schuldgefühle habe. Dass er ein
Versager sei; dass die Gewissheit, nie
Nachkommen zu haben, für ihn immer
unvorstellbar gewesen sei; dass sich Ste-
rilität anfühle wie ein Schlag in die Fres-
se; dass er sich seiner Frau gegenüber
blöd vorgekommen sei; dass er seinem
Bruder vorwerfe, ein kleines Kind zu ha-
ben; dass er ihm aus dem Weg gehe und
sich deswegen mies fühle; dass er einen
Hass auf alle glücklichen Paare mit Babys
entwickelt habe; dass er das nicht wolle,
aber nicht anders könne.
»Selten wurde in einem Gespräch so ge-
weint«, sagt Wischmann. »Die waren bei-
de komplett fertig. Er noch mehr als sie.«
Wischmann empfahl ihnen, in dieser
Phase nur an sich selbst zu denken und
negative Emotionen unbedingt zuzulassen.
»Es wäre nicht normal, wenn sie keine hät-
ten.« Am Ende gab er dem Paar eine Haus-
aufgabe mit. Bis zum nächsten Termin soll-
te es einen Plan B entwickeln. Wie könnte
es in ihrem Leben weitergehen? Zwei Mo-
nate später trafen sie sich wieder.
Plan B sah so aus: Das Paar hat sich ei-
nen Samenspender ausgesucht. Einen, der
dem Typ des Mannes entspricht, ähnliche
Größe, Statur, Vorlieben.
Tewes Wischmann sagt: »Vaterschaft ist
vor allem eine soziale Rolle. Man kann eine
Familie gründen, ohne eigene Kinder zu
zeugen. Diese Erkenntnis ist ganz wichtig.«
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020

Er hat dem Paar angeboten wiederzu-
kommen, falls es noch mal Redebedarf hat.
Bislang war es nicht wieder da.
VIII.
Das Bundesinstitut für Risiko-
bewertung. »Eine Halbwertszeit
von sechs Stunden.«
Der nächste Versuch, Antworten zu be-
kommen, beginnt in Berlin-Charlotten-
burg-Nord, am Bundesinstitut für Risi-
kobewertung. Das ist ein Institut für
den Verbraucher, er soll erfahren dürfen,
was ihn in seinem Alltag wie und warum
bedroht.
Am Tisch warten die Wissenschaftler
zweier Fachgruppen. Ralph Pirow ist
Leiter der Abteilung für die Sicherheit
von Verbraucherprodukten, die Spielzeug,
Kosmetika und Bekleidung auf gefährliche
Inhaltsstoffe prüft. Sebastian Zellmers
Gruppe macht das Gleiche mit Verpackun-
gen von Lebensmitteln.
Klar sei, dass der Mensch Chemikalien
aufnimmt, das sagen beide. Die Frage ist,
ob es so viel ist, dass es uns schadet. Auf
dem Tisch steht eine Wasserflasche aus
Plastik. Zellmer tippt drauf und sagt: »Das
ist ein sehr sicheres und gutes Material.
Auch wenn Mikroplastik drin ist.«
Pirow hat sich am Vormittag mit den
Beschichtungen von Outdoorjacken be-
schäftigt. Zellmer hat mit Kollegen die
Folien für Äpfel untersucht. Sie beant-
worten viele Bürgerfragen, oft geht es um
Weichmacher.
35
33
Titel
Ein Weichmacher ist ein sperriges
Molekül, das in den Kunststoff hinein-
gegeben wird, zwischen die Schichten
rutscht, beweglich bleibt und das Material
biegsam macht. Es gibt sehr viele Weich-
macher. Phthalate zum Beispiel, die in
PVC-Böden vorkommen, in Vliestapeten,
Kunstlederbezügen, Kunststoffsandalen.
»Einige Phthalate standen eine Weile
im Fokus, weil Tierversuche mit Ratten
zeigten, dass sie die Aktivität von Hor-
monen ändern und zu Unfruchtbarkeit
der männlichen Nachkommen führen kön-
nen«, sagt Zellmer.
»Mittlerweile sind die verboten«, sagt
Pirow.
Gerade in Pirows Bereich gibt es strikte
Verbote. In Zellmers Bereich bei den Le-
bensmitteln gibt es eher Begrenzungen,
bis zu welcher Dosis diese Substanzen ver-
wendet werden dürfen.
Es scheint recht gut geregelt zu sein,
unser tägliches Leben mit den Phthalaten.
Wir brauchen sie, die Behörden achten da-
rauf, dass sie uns nicht krank machen.
»Insgesamt gibt es in der Industrie im-
mer weniger Phthalate«, so Pirow. Seit
diesem Sommer darf die Industrie weite-
re sechs bestimmte Phthalate nicht mehr
verwenden. »Aber …«
Aber?
»Bleibt die Frage der Importware«, sagt
Pirow.
In Europa gibt es ein Schnellwarn-
system für Produkte, die auffallen, und
fast jede Woche tauchen darauf »viele Pup-
pen zum Anziehen aus China« auf, sagt
Warten aufs Glück
Männer
38
36
34
Frauen 2
Mittleres Alter bei 6
künstlichen Befruchtungen*
in Deutschland 4
6
*Methode: In-vitro-Fertilisation (IVF)
oder Intrazytoplasmatische 4
Spermieninjektion (ICSI)
Quelle: Deutsches IVF-Register 2
1997
Pirow. Der Zoll und die Marktüberwa-
chung schaffen es nicht, alles zu kontrol-
lieren, das zeigt diese Liste. Zumal sich die
Stoffe ständig verändern.
Pirow nimmt Zettel und Stift und malt
den Grundbaustein eines Phthalat-Mole-
küls auf: ein Sechseck mit zwei Abzwei-
gungen, »und dann kommt hier diese Kette,
die sehr variabel ist«. Die Kette kann kurz
sein oder lang oder noch eine Kette haben.
Es gibt viele Möglichkeiten, etwas umzu-
bauen. Und so gibt es Hunderte Phthalate,
und wenn eines verboten wird, baut die
Industrie sich ein neues, Grundbaustein
plus variierte Kette gleich anderer Name.
Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel. Zellmer
nennt es einen »dynamischen Prozess«.
Pirow und Zellmer schauen zurück
in ihre Kindheit, in die Sechzigerjahre:
kaum Plastik, Einkaufsnetze, Stoffwin-
deln, Tupperdosen waren gerade neu.
Die weltweite Plastikproduktion hat seit
1970 in einem noch größeren Maße zu-
genommen, als die Spermienzahl beim
Mann abgenommen hat.
Sind Phthalate in Plastik also doch
schuld?
»Phthalate bleiben nicht lange im Kör-
per, viele haben eine Halbwertszeit von
nur sechs Stunden und werden schnell aus-
geschieden«, sagt Pirow. Das spricht gegen
die Theorie.
Zellmer sagt: »Jeder Mensch trägt an-
dere Substanzen in sich. Der eine ist Rau-
cher. Der andere isst viel Dosennahrung.
Viele Sachen wirken letzten Endes zusam-
men, und das macht das Messen der Wir-
38
35
2018
99
 Titel
Prinzip Hoffnung
Nur
24 %
betrug 2017 die Wahrscheinlichkeit,
nach einem Embryotransfer*
ein Kind zu bekommen.
* in Deutschland, nach IVF oder ICSI
Quelle: Deutsches IVF-Register
kung von Chemikalien im Körper sehr
schwierig. Wir können beim Menschen im-
mer nur von Hinweisen sprechen.«
Dann sitzen beide da und schweigen.
Das Spermium, das Biest. Es verrät uns
nicht, warum es in keiner guten Verfassung
ist. Nur eines lässt sich mit Klarheit sagen.
Die Theorien, die vorliegen, haben eine
Schnittmenge. Sie deuten alle auf unsere un-
mittelbare Umgebung hin, auf den Überfluss,
in dem wir leben, und es sieht aus, als gäbe
es auf unbestimmte Zeit kein Entkommen.
IX.
Patient drei. »Ich kann nicht mehr.«
Ein Paar aus Süddeutschland, er ist 37,
sie 36. Beide sitzen im Wohnzimmer am
Tisch, zu ihren Füßen schläft ein Hund,
ein Retriever. Den Hund haben sie gekauft,
weil es mit dem Kinderkriegen nicht
klappt. Sie versuchen es seit vier Jahren.
Der Mann sagt: »Unser Konto ist leer
und meine Libido hinüber.«
Seine Frau nickt.
Bevor der Mann seine Frau kennenlern-
te, hatte er eine zehnjährige Beziehung.
Seine damalige Freundin setzte die Pille
ab, weil sie eine Familie gründen wollten,
aber es funktionierte nicht. Irgendwann
ging die Freundin fremd, aus dem Seiten-
sprung entstand ein Kind. Die beiden
trennten sich, und er dachte zum ersten
Mal: Vielleicht stimmt bei mir etwas nicht.
Ein Spermiogramm ließ er machen, als
die beste Freundin seiner Frau für eine
künstliche Befruchtung in die Klinik ging,
das Sperma des Mannes war schuld.
100
Seine Diagnose hieß: Asthenozoosper-
mie. Im Ejakulat befinden sich kaum Sper-
mien, die sich richtig bewegen.
Er ist 1,94 Meter groß, wiegt 90 Kilo-
gramm, fährt Motorrad. Sagt: »Ich habe
mich total unmännlich gefühlt. Ich dachte:
Du kriegst die einfachste Sache der Welt
nicht hin.«
Das Paar hat zuerst eine Insemination
gemacht. Bei dieser Methode wird der Sa-
men mit einem Katheter in die Gebärmut-
ter eingebracht. Kein Erfolg.
Die Frau rechnete aus, wann ihr Ei-
sprung war, dann hatten sie Sex auf Ter-
min. Es kam vor, dass er zu ihr auf die Ar-
beit fuhr, wo sie in einem leer stehenden
Büro miteinander schliefen. Er konnte das
bald nicht mehr – Lust haben auf Knopf-
druck. Er kaufte Potenzmittel.
»Das hat noch mehr an mir gefressen.
Dieses: Du kannst keine Kinder machen,
und jetzt kriegst du noch nicht mal eine
Erektion.«
Sie sagt: »Ich konnte mich nicht mehr
an dich rankuscheln. Da kam sofort: Ist es
wieder so weit?«
Sie probierten es mit einer Intrazyto-
plasmatischen Spermieninjektion, kurz
ICSI: Im Labor wird eine einzige, gute Sa-
menzelle mit einer Nadel in die Eizelle ge-
spritzt. Falls sich ein Embryo entwickelt,
wird er der Frau nach zwei bis fünf Tagen
eingesetzt.
Drei Versuche, jeder kostete 2500 Euro,
dreimal nichts.
Zu Hause brüllten sie sich an. Weinten.
Als die Frau vom dritten Fehlversuch er-
fuhr, rief sie ihren Mann bei der Arbeit an
und schrie zwei Minuten lang ins Telefon.
Danach ging sie zur Psychologin.
Sie ließen in Spanien die Gebärmut-
terschleimhaut molekulargenetisch un-
tersuchen: 1100 Euro. Ließen Chromo-
somen testen, möglicherweise war auch
das Erbmaterial der Frau nicht in Ord-
nung: 5000 Euro, unauffälliges Ergebnis.
Der Mann schickte eine Spermaprobe
nach Kopenhagen, dort kontrollierten
Mediziner, ob die Zellkerne der Spermien
zerbröselt sind: 400 Euro, unauffälliges
Ergebnis.
Sein bester Freund sagte: Kriegst du es
nicht hin, deine Frau rund zu machen? Ich
kann das übernehmen, wenn du willst.
Wir sind doch Kumpels.
Der Vater des Mannes hat drei Ge-
schwister, seine Schwester hat zwei Kinder.
Der Mann sitzt im Wohnzimmer und fragt:
»Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Hast du nicht, Schatz.«
Manchmal baut er jetzt in der Garage
Vogelhäuser oder hackt Feuerholz für den
Kamin. Trinkt vier Liter Wasser am Tag,
nie aus Plastikflaschen. Raucht nicht, kein
Alkohol, arbeitet möglichst im Stehen,
geht nicht mehr in die Sauna. Soll keiner
sagen, er habe nicht alles versucht.
20 000 Euro hat die Kinderwunschbe-
handlung bisher gekostet, die Reserve fürs
Haus ist weg. Eine letzte ICSI wollen sie
noch machen. Wieder 2500 Euro, plus
5000 Euro für den Chromosomen-Test.
Sie sagt: »Danach ist Ende.«
Er sagt: »Ich habe Schmerzen, wo ich
nie Schmerzen hatte. Ich kann nicht mehr.«
Wenn er mit seiner Frau schläft, ist das
nach wie vor Krampf für ihn. Er hat Sex-
spielzeug gekauft, aber das hilft nur kurz.
Sein letzter Trumpf sind Tabletten, die
normalerweise für Frauen gedacht sind,
die nach der Menopause an Brustkrebs
erkranken. »Anastrozol Denk« heißt das
Medikament, es hemmt die Bildung von
Östrogen. Wolfgang Schulze vom Ferti-
lity Center in Hamburg hatte die Idee.
Das Präparat soll beim Mann die
Spermienkonzentration verbessern und
dafür sorgen, dass die Spermien bewegli-
cher sind. Jeden Morgen um sechs schluckt
er eine Pille. Zu den Nebenwirkungen
zählen Erbrechen, Haarausfall, Leberent-
zündung.
Ein Brustkrebsmittel, damit wenigstens
ein gesundes Spermium im Ejakulat ist,
60 Mikrometer klein, 0,006 Zentimeter.
Das mit der Eizelle verschmilzt – der Mo-
ment der Befruchtung.
Wann ist ein Mann ein Mann?
»Tja, wann?«
Pause.
Er überlegt. Sagt: »Erst mal: wenn er
Kinder zeugen kann. Aber auch, wenn
er dazu stehen und sagen kann: Ich bin
unfruchtbar.«
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
Grün funktioniert
Nächste Woche im SPIEGEL: Die Finanzbeilage SPIEGEL GELD verrät, worauf
man bei nachhaltigen Versicherungen und Investments achten muss.
Sauber angelegt: Wer heute sein Erspartes mit gutem Gewissen verwalten und mehren will, hat viele Optionen
C
orona macht die Menschen nachdenklich, auch mit
Blick auf ihr Geld. Was richtet es an in der Welt?
Profitieren sie über ihre Investmentfonds womöglich
von Waffengeschäften und Kinderarbeit, ohne es zu
wissen? Nutzt die Bank das Geld ihrer Kunden, um Umwelt-
sündern und Tabakunternehmen Kredit zu geben? Eine neue
Umfrage zeigt, dass viele Sparer das nicht mehr wollen und
deshalb planen, ihre Finanzen künftig nachhaltiger zu gestal-
ten. In der Praxis aber kaufen selbst viele überzeugte Bio-
laden-Kunden noch Finanzprodukte, von denen sie nicht ge-
nau wissen, was drinsteckt.
Das mag daran liegen, dass das Thema Geldanlage ohne-
hin kompliziert genug ist. Außerdem fürchten Anleger um
ihre Rendite. Dabei ist es ein Mythos, dass grüne Investitio-
nen zwangsläufig weniger Gewinne bringen, das zeigt schon
eine Metastudie aus dem Jahr 2015. Wissenschaftler hatten
dafür mehr als 2000 empirische Untersuchungen zu dem
Thema ausgewertet: 90 Prozent haben keinen negativen Zu-
sammenhang zwischen Nachhaltigkeit und Performance fest-
stellen können. Viele zeigten sogar positive Auswirkungen.
Auch das Angebot an nachhaltigen Geldanlagen ist inzwi-
schen groß, und das in fast allen Finanzbereichen. Das Start-
up Tomorrow verspricht »Mobile Banking für ein besseres
Morgen«, ein Expertenehepaar aus Weilheim vermittelt ne-
ben etlichen anderen Beratern grüne Versicherungen, sodass
die Hausratsversicherung im Schadensfall auch nachhaltigen
Ersatz bezahlt, selbst wenn der teurer ist. Vermeintlich –
oder tatsächlich – nachhaltige Investmentfonds gibt es mitt-
lerweile so ziemlich bei jeder Hausbank.
SPIEGEL GELD zeigt im Auftakt einer zweiteiligen Serie,
wie grün solche Angebote wirklich sind, und hilft Ihnen
bei der Auswahl der richtigen Produkte. Wir haben für Sie
recherchiert, wie Sie eine Hausbank finden, die zu Ihren
Vorstellungen von einer besseren Welt passt, und worauf Sie
bei nachhaltigen Versicherungen achten müssen.
Weitere Themen im Heft
 Aus dem Häuschen: Wie der Haus-
verkauf in der Krise gelingt
 Tierisch teuer: Was Ihr Haustier
kostet und wo Sie sparen können
 Von Kopf bis Fuß: Was taugen
Krankenzusatzversicherungen?
SPIEGEL GELD liegt der SPIEGEL-Ausgabe der kommenden
Woche bei. Das Finanzmagazin informiert viermal im Jahr
über verbraucherfreundliche Strategien, mit denen Sie Geld
anlegen und sparen können. Mit fundierten Tipps zu Aktien-
investments, Immobilien, Steuern und Versicherungen.
101

Gefährliche Eile
Corona Ein Impfstoff gilt als größte Hoffnung im Kampf gegen die Pandemie. Nun aber mussten
Tests des Pharmakonzerns AstraZeneca gestoppt werden, weil eine Teilnehmerin
schwer erkrankte. Weitere Rückschläge dürften folgen – aber die könnten sogar hilfreich sein.
D
ie mehr als 10 000 Probanden in
Großbritannien, die sich im Som-
mer bereit erklärten, einen Impf-
stoff gegen Covid-19 zu testen,
wurden umfassend über die Risiken infor-
miert. Der Aufklärungsbogen hatte 16 Sei-
ten, den Freiwilligen blieb kein noch so
kleines Detail erspart, von der Größe der
ihnen maximal zu entnehmenden Blutpro-
be (»60 Milliliter, ungefähr 4 Esslöffel«)
bis zur Dauer der Speicherung ihrer Bank-
daten (»7 Tage«).
Erst auf Seite zehn fand sich die viel-
leicht bedeutsamste Information, unter
dem Punkt »Risiken der Teilnahme«. Re-
aktionen des Nervensystems seien zwar
»extrem selten«, hieß es da. Dennoch, bei
den vorangegangenen Testreihen habe ein
Freiwilliger »Symptome einer transversen
Myelitis« entwickelt: einer Entzündung
des Rückenmarks, die zu Lähmungs-
erscheinungen und Empfindungsstörun-
gen führen kann – und schlimmstenfalls
sogar zu einer dauerhaften Querschnitt-
lähmung. Der Fall werde untersucht.
So steht es auf der Version 8.0 des Auf-
klärungsbogens über den sogenannten Ox-
ford-Impfstoff von AstraZeneca. Dreiein-
halb Wochen später dann, auf der Version
10.0, kam die Entwarnung: Die Studie sei
Blutentnahme bei Oxford-Impfstudie: Welches Risiko werden die Menschen in Kauf nehmen?
102
Wissen
kurzzeitig gestoppt worden, eine Sicher-
heitsüberprüfung habe stattgefunden –
mit dem Befund, dass die bei dem Proban-
den diagnostizierte »neurologische Erkran-
kung« nicht im Zusammenhang mit der
Impfung stehe.
Nun hat dieser bislang nur Eingeweih-
ten bekannte Fall neue Bedeutung erlangt.
Erneut fiel eine Probandin mit neurologi-
schen Symptomen auf. Laut der Europäi-
schen Arzneimittel-Agentur entwickelte
sie eine »Schwäche in den Armen und Bei-
nen«. Wieder sei die vorläufige Diagnose
transverse Myelitis, und erneut wurde die
Studie unterbrochen – nur hat es diesmal
die ganze Welt mitbekommen.
Dass Impfstudien immer mal wieder
vorübergehend gestoppt werden müssen,
ist zwar normal. Wenn einer der oft meh-
reren Tausend Teilnehmer ernsthaft er-
krankt, muss genau untersucht werden, ob
die Beschwerden von der Impfung verur-
sacht wurden oder nicht. In der Regel inte-
ressiert das außer der Fachwelt niemanden.
Doch der jetzige Studienstopp kommt
zu einer Zeit, in der die Hoffnung auf ei-
nen Covid-19-Impfstoff kaum größer sein
könnte: Die Welt hat, bis auf Masken und
Hygieneregeln, nur wenig in der Hand ge-
gen die Seuche. Das Sars-CoV-2-Virus ver-
John Cairns / ap
breitet sich weiter, und es tötet weiter Tag
für Tag Tausende Menschen.
Es sind fiebrige Zeiten. Einigermaßen
im Griff wird man die Pandemie wohl erst
haben, wenn ein Impfstoff gefunden ist.
Überall bedroht das Virus Menschenleben
und Existenzen. Die Normalität wird erst
zurückkehren, wenn Sicherheit herrscht –
durch einen Impfstoff.
Speziell die Vakzine aus Oxford sorgte
für Zuversicht, unter neun weltweit, die sich
bereits in der dritten Phase der klinischen
Erprobung befinden, nach der es eine Zu-
lassung geben kann. Die Massenproduktion
hat längst begonnen. Die Europäische Impf-
allianz hat für Europa bereits 400 Millionen
Dosen gesichert, und die USA schlossen im
Mai ebenfalls eine Vereinbarung ab: Für 1,2
Milliarden Dollar sollte eine Impfstoffstudie
mit 30 000 Teilnehmern in den USA statt-
finden und die Produktionskapazität für
300 Millionen Dosen aufgebaut werden.
Impfstoffe – gegen Masern, Tetanus, Rö-
teln, hundertmillionenfach angewandt
weltweit – gehören zu den sichersten Arz-
neimitteln, die es gibt. Trotzdem kann
jeder Impfstoff auch Nebenwirkungen
haben, und es ist immer eine Abwägung
zwischen Nutzen und Risiken, die über
die Anwendung entscheidet.
Ein wie großes Risiko werden die Men-
schen für einen Covid-19-Impfstoff in Kauf
zu nehmen bereit sein? Monatelang spielte
diese Frage kaum eine Rolle, die Impfstoff-
entwickler stürmten vorwärts – getrieben
nicht nur von der Pandemie, sondern auch
von US-Präsident Donald Trump, der das
Virus erst bewusst verharmloste (wie der
Journalist Bob Woodward diese Woche
enthüllte), nun aber mit dem Impfstoff die
Wahl gewinnen will.
Erst am Montag erhöhte Trump den
Druck auf die Pharmaforscher: »Wir wer-
den sehr bald eine Impfung haben, viel-
leicht sogar vor einem ganz besonderen
Datum. Sie wissen, über welches Datum
ich spreche« – er meinte offenbar das der
Wahlen am 3. November.
Doch nach dem Rückschlag bei den
Impfstofftests von AstraZeneca macht
sich Nachdenklichkeit breit. »Dass die
Studie gestoppt wurde, ist ein Weck-
ruf«, sagt Wolfgang Becker-Brüser, der als
Herausgeber der Fachzeitschrift »arznei-
telegramm« regelmäßig Impfstoffe kritisch
Impfen um jeden Preis?
Sars-CoV-2-Impfstoffe in Entwicklung

145 davon
36 35 davon
7 2
Präklinik Vektorimpfstoffe Klinische Studien Vektorimpfstoffe Eingeschränkt zugelassene
Labor- und Tierversuche Erprobung mit Freiwilligen Impfstoffe auf Vektorvirus-Basis
zur begrenzten Verwendung*

Quellen: WHO, NYT, AstraZeneca; Stand: 9. September. * Das chinesische Militär genehmigte am 25. Juni den Impfstoff des Pharmakonzerns CanSino Biologics für Soldaten als »speziell benötigtes Medikament«.
Am 11. August gab Präsident Wladimir Putin bekannt, dass eine russische Behörde den Impfstoff »Sputnik V« genehmigt habe. Für beide Vakzine sind die klinischen Forschungen nicht abgeschlossen.

Bauprinzip eines Vektorimpfstoffs

1
Bei einem Vektorimpfstoff wird ein
ungefährlicheres Virus als Fähre ver- Coronavirus
wendet, um den genetischen Bauplan
für das Oberflächenprotein des Corona- Oberflächenprotein
virus in den Körper einzuschleusen. Oberflächenprotein-Gen 3 4
Dieses veränderte Adenovirus Es bilden sich spezifische
2 kann sich in menschlichen Antikörper und spezielle
Beim Impfstoff von AstraZeneca und der Adenovirus mit Zellen nicht vermehren. Die Immunzellen. Das Immun-
University of Oxford wurde die genetische eingefügtem Gen infizierten Zellen des Geimpften system wird darauf vor-
Information für das Oberflächen- Oberflächenprotein-Gen bilden das Oberflächenprotein bereitet, das Coronavirus
protein in ein Adenovirus eingebaut. des Coronavirus. zu bekämpfen.

Körper Impfung Oberflächen-

protein
gegen das Virus gerichtete,
3 spezifiische Antikörper
Immunzelle 4

spezielle Immunzellen
löst Immun-
reaktion aus

1,2 3 Mrd. Am 8.
Mrd. $ Impfdosen September
gewährten die USA für die Coronavirus- beträgt laut AstraZeneca die globale pausierte AstraZeneca seine Impf-
Impfstoff-Entwicklung des Pharma- Lieferkapazität für den Impfstoff AZD1222. stoffversuche, um eine mögliche
konzerns AstraZeneca und der Die EU hat einen Vertrag über die Lieferung von schwere Nebenwirkung des Impf-
University of Oxford im Mai. bis zu 400 Millionen Impfdosen abgeschlossen. stoffs zu untersuchen.

unter die Lupe nimmt. Regierungen, Me- unruhigend. Eine transverse Myelitis gilt Wie die Krankheit normalerweise ent-
diziner und Bevölkerung klammerten sich als sehr seltene, aber durchaus typische steht, ist noch nicht restlos geklärt. »Viele
an die Hoffnung, bis Ende des Jahres einen Impfnebenwirkung. Einzelne Fälle sind Patienten erzählen, dass sie kurz zuvor
Impfstoff zur Verfügung zu haben. »Aber auch schon nach Influenza- und Masern-, einen bakteriellen oder viralen Infekt
diese Hektik halte ich für gefährlich.« Gelbfieber- und HPV-Impfungen beschrie- gehabt hätten«, sagt Thomas Kamradt,
Auch Anthony Fauci, oberster Seuchen- ben worden. Es ist plausibel, dass der Präsident der Deutschen Gesellschaft für
berater des Weißen Hauses, begrüßt es als Corona-Impfstoff für die neurologischen Immunologie und Leiter des Instituts für
»ein gutes Zeichen, dass die Studie so rasch Symptome bei der Studienteilnehmerin Immunologie am Uniklinikum Jena. Ur-
auf Eis gelegt wurde«. Dies zeige, dass die verantwortlich sein könnte. sache für die Entzündung ist aber norma-
Sicherheitsüberwachung funktioniere, sag- Ein weiteres Indiz für eine mögliche lerweise nicht der Erreger selbst, sondern
te Fauci dem SPIEGEL. In Zukunft könne Impfstoffnebenwirkung: Eine transverse eine Fehlreaktion des Immunsystems.
man noch »strenger auf die Möglichkeit Myelitis tritt normalerweise sehr selten auf. Die körpereigene Abwehr springt auf ein
des Auftretens ähnlicher oder verwandter Laut Schätzungen erkrankt pro Jahr etwa bestimmtes Eiweiß eines Virus an, das für
Ereignisse achten«. einer von 250 000 bis einer von einer Mil- den Erreger typisch ist – das sogenannte
Bis klar ist, ob die transverse Myelitis lion Menschen daran. Dass ein oder viel- Antigen. »In einigen Fällen verwechselt das
mit der Impfung zusammenhängt oder leicht sogar zwei von bislang schätzungs- Immunsystem jedoch offenbar körper-
nicht, wird es noch etwas dauern. Doch weise 17 000 Geimpften daran zufällig eigene Zellen, die ein ähnliches Antigen ha-
schon beim jetzigen Wissensstand sind die erkrankten, ist zwar nicht ausgeschlossen, ben, mit dem Erreger und greift diese an«,
Erkrankungen der beiden Teilnehmer be- aber auch nicht sehr wahrscheinlich. sagt Immunologe Kamradt. Der Körper ver-

DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020 103

suche den vermeintlichen Schädling mit
Entzündungen loszuwerden und zerstöre
dabei fälschlicherweise eigenes Gewebe.
Auch im Zusammenhang mit Covid-19
sind schon Fälle von transverser Myelitis
beobachtet worden. »Grundsätzlich kann
eine Immunisierung in sehr seltenen Fällen
vergleichbare Komplikationen auslösen
wie die eigentliche Erkrankung«, sagt
Kamradt. Eine Immunreaktion auf den
Corona-Impfstoff sei deshalb eine plau-
sible Erklärung für eine transverse Myeli-
tis, wenn auch nicht die einzige.
Eine andere Hypothese: Der Astra-
Zeneca-Impfstoff, der von Forschern des
Jenner Institute der Oxford University ent-
wickelt wurde, ist ein sogenannter Vektor-
impfstoff. Die Erbinformation für ein be-
stimmtes Sars-CoV-2-Protein wird – ver-
packt in einem abgeschwächten Schimpan-
sen-Erkältungsvirus, einem sogenannten
Adenovirus – in den Körper gespritzt.
Gegen Ebola ist eine Vakzine dieser Art
zugelassen. Doch im Vergleich zum Ma-
sern- oder Tetanusimpfstoff gibt es noch
nicht viel Erfahrung mit dieser Art von
Huckepack-Vakzine.
Wegen des Vektorprinzips könnten auch
die Adenoviren in dem Impfstoff die Ursa-
che der Rückenmarksentzündung sein. Sie
gelten eigentlich als ungefährlich und sollen
nur einen Teil des Coronavirus-Bauplans
in den Körper transportieren. »Adenoviren
sind wie VW-Käfer«, sagt Clemens Wendt-
ner, Infektiologe an der München Klinik
Schwabing, der seine Habilitation über
Adenoviren geschrieben hat. »Sie sind
robust, einfach aufgebaut und leicht her-
zustellen.« Doch auch sie können in selte-
nen Fällen eine Fehlfunktion des Immun-
systems auslösen.
»Falls tatsächlich die Impfung die Ursa-
che der Rückenmarksentzündung gewesen
ist, halte ich es sogar für plausibler, dass
die Adenoviren die Reaktion ausgelöst ha-
ben könnten«, sagt Wendtner. »Das wäre
auch für andere Impfstoffe auf Basis von
Adenovirus-Vektoren ein herber Rück-
schlag, sie müssten sehr wahrscheinlich
alle auf den Prüfstand.«
Laut Weltgesundheitsorganisation WHO
werden derzeit drei weitere Vektorimpf-
stoffe in Phase-3-Studien getestet, die Ade-
noviren verwenden: der »Sputnik V«-Impf-
stoff aus Russland, der ebenfalls bereits
vorläufig zugelassene Impfstoff des Unter-
nehmens CanSino Biologics aus China und
der Coronavirus-Impfstoff des Pharma-
unternehmens Janssen, der seit Kurzem
auch in Deutschland erprobt wird. Janssen
teilte auf Anfrage mit, dass die ersten Da-
ten der ersten Studien im September er-
wartet würden.
Schließlich steht der Gesellschaft eine
schwierige Abwägung bevor. Welche Risi-
ken wären noch akzeptabel bei einem
Impfstoff, der uns wieder ein einigerma-
104
ßen normales Leben ermöglichen oder zu-
mindest die Alten und Kranken schützen
könnte? Dürfte man dafür einige Fälle von
transverser Myelitis oder einer anderen
schweren Nebenwirkung in Kauf nehmen?
Selbst wenn bei AstraZeneca diesmal
alles gut ausgehen sollte, wird diese Frage
in den nächsten Monaten erneut auftau-
chen. »In Bezug auf Covid-19 kann man
nicht genau sagen, wie viele Menschen
man durch eine Impfung gefährden darf,
um andere zu schützen«, sagt Becker-
Brüser. »Aber es wäre inakzeptabel, einen
Impfstoff auf den Markt zu bringen, der
so schwerwiegende Reaktionen wie eine
transverse Myelitis hervorrufen kann.«
Am Ende werden die Menschen, die
sich impfen lassen sollen, mit den Füßen
abstimmen. Gut möglich, dass ein Covid-
19-Impfstoff sogar erst wenn er Hundert-
tausenden gespritzt wurde, einige extrem
seltene, aber möglicherweise hochgefähr-
liche Nebenwirkungen offenbart.
Umso wichtiger sei es, sagen Forscher,
keine unrealistischen Erwartungen zu
wecken. Vertrauen ist bei Impfstoffen ein
noch wichtigeres Gut als bei Medikamen-
ten. Denn das persönliche Risiko ist höher:
Ein Medikament nimmt ein Kranker, der
»Die Menschen wollen
keine einseitige
Propaganda, sie durch-
schauen das.«
hofft, dadurch gesund zu werden oder
weniger zu leiden. Einen Impfstoff aber
bekommt ein Gesunder, der hofft, das Ri-
siko zu verringern, irgendwann krank zu
werden. Sich impfen zu lassen ist also stets
eine Wette auf die Zukunft.
Vertrauen, sagt Naor Bar-Zeev von der
Johns Hopkins Bloomberg School of
Public Health, lasse sich »nicht durch fal-
sche Versprechen von Perfektion errei-
chen, sondern nur durch Klarheit, Trans-
parenz und Sorgfalt«. Nutzen und Risiko
müssten klar erkennbar sein. »Die Men-
schen wollen keine einseitige Propaganda,
sie durchschauen das.«
Daher warnt Bar-Zeev die Pharma-
firmen und die Zulassungsbehörden vor ge-
fährlicher Eile, wie Donald Trump sie for-
ciert. »Das ist wie in Äsops Fabel von der
Schildkröte und dem Hasen«, meint der
Epidemiologe. »Wenn wir in unserer Hast,
einen Impfstoff herzustellen, der Bevölke-
rung nicht klarmachen, wie sicher er ist,
und die Leute nicht bereit sind, sich impfen
zu lassen – was ist dann gewonnen?«
Rafaela von Bredow, Veronika
Hackenbroch, Julia Köppe,
Kerstin Kullmann, Katherine Rydlink
Der
Unermüdliche
Psychologie Jahrzehntelang
erforschte er den Narzissmus:
Nun, mit 92, blickt der Psychiater
Otto Kernberg sorgenvoll
auf Donald Trump und Amerika.
E s gibt in diesen Tagen viel mit ihm
zu besprechen. Woher kommt sei-
ne Lust, auch im hohen Alter noch
zu therapieren? Weshalb plötzlich all
die Gewalt in seinem Heimatland, den
USA? Und natürlich die Frage, ob Donald
Trump nicht eher eine psychiatrische
Diagnose gestellt bekommen sollte, statt
Präsident zu sein.
Seit mehr als 60 Jahren beschäftigt
sich Otto Kernberg mit den Untiefen der
menschlichen Psyche. Der Arzt und Psy-
choanalytiker entwickelte Diagnosen und
Therapien von Störungen, die zuvor als
unbehandelbar galten. Etwa wenn es
um den sogenannten bösartigen Narziss-
mus geht.
Zunächst muss man aber froh sein, den
Gelehrten überhaupt an die Leitung zu be-
kommen. Noch gestern Nacht saß er stun-
denlang in seinem Auto fest. Irgendwo im
ländlichen Teil des Staates New York war
ihm ein Reifen geplatzt, erst gegen vier
Uhr früh kam Kernberg heim in sein
Apartment in Manhattan. Kein kleines
Abenteuer in seinem Alter. In dieser Wo-
che feierte er seinen 92. Geburtstag.
Aber schließlich meldet er sich doch –
per Video aus seiner Wohnung. Seit Beginn
des Lockdowns in New York arbeitet Kern-
berg von zu Hause aus. Hinter ihm stehen
Bücherregale, Topfpflanzen, er trägt An-
zug. Kernberg sagt: »Entschuldigung, so
eine Aufregung. Aber jetzt bin ich da.«
Noch immer forscht er und behandelt
seelisch kranke Menschen. Seine Arbeits-
zeit: montags bis freitags, von acht bis acht
Uhr. Unermüdlich. Vor einigen Monaten
sprach er lange mit dem deutschen Psy-
chiater Manfred Lütz, der daraus ein In-
terviewbuch über Kernbergs Leben ge-
macht hat.*
Darin schildert Kernberg, wie er als
Sohn jüdischer Eltern noch mit neun Jah-
ren beim Besuch Hitlers in Wien vor lauter
Aufregung selber »Heil Hitler!« rief. Und
dann 1939, kein Jahr später, mit seiner
Familie auf einem der letzten Schiffe in
Richtung Südamerika knapp mit dem
* Manfred Lütz: »Was hilft Psychotherapie, Herr Kern-
berg?« Herder; 192 Seiten; 20 Euro.

Leben davonkam. Wie er schließlich in
Chile Medizin studierte und in der Psy-
chiatrie reüssierte.
Eines Tages aber bat ihn ein Kollege,
eine seiner zwei Professuren abzugeben.
Die Begründung: Mit Blick auf seine jüdi-
sche Herkunft stünde es ihm besser an,
sich zurückzunehmen. Daraufhin besorgte
Kernberg sich ein Stipendium für die USA
und emigrierte bald ein zweites Mal. Seit
den frühen Sechzigern arbeitet er in den
Vereinigten Staaten, im Moment unter
anderem als Professor am Weill Cornell
Medical College in New York.
Kernberg gilt als Wegbereiter der Erfor-
schung und Behandlung von schweren
Persönlichkeitsstörungen, wie dem
Narzissmus und dem Borderline-
syndrom. Er entwickelte Techniken
der klassischen Psychoanalyse so
weiter, dass selbst schwer kranke
Patienten Aussicht auf Besserung
bekommen.
Mit Sorge schaut der Arzt derzeit
auf die düstere Stimmung in seinem
Land. Bei Protesten gegen Rassis-
mus und Polizeigewalt herrscht eine
Auge-um-Auge-Stimmung, Men-
schen sterben – angestachelt von
einem Präsidenten, der eine Spal-
tung in der Gesellschaft anheizt, um
seine Wiederwahl zu sichern.
Für viele von Kernbergs Berufs-
kollegen beweist Trump mit dem
Größenwahn, den er zeigt, den vie-
len Lügen und seiner Rachsucht ein-
deutige Anzeichen eines bösartigen
Narzissten. Und manche sagen das
auch öffentlich.
So kritisierte die Psychiaterin
Bandy Lee von der Yale University
die sogenannte Goldwater Rule,
nach der Psychiater in den USA sich
verpflichten, keine Ferndiagnosen
zu stellen. Für Lee steht die soziale
Verantwortung dieses Berufsstan-
des höher. Sie fordert, Trump zu ei-
ner psychiatrischen Untersuchung
zu verpflichten. Ihn im Ernstfall so-
zusagen für nicht regierungsfähig
zu erklären.
Kaum einer kennt sich mit krankhaftem
Narzissmus so gut aus wie Kernberg. Den
Ansatz seiner Kollegen, Trump aus der
Ferne zu diagnostizieren, sieht er kritisch,
zumal er dabei immer wieder mit seiner
Arbeit zitiert wird. Immerhin hat auch
Kernberg über Trump gesagt: »Ich halte
ihn für einen gefährlichen Politiker.« Ihn
öffentlich für krank erklären will er aber
nicht. Weshalb nicht?
»Weil wir als Psychiater keine Diagnose
von einer Person stellen können, die wir
nicht in unserer Praxis gesehen haben«,
sagt Kernberg kategorisch. Es sei ein Miss-
brauch seines Berufs, auf diese Weise kön-
ne man Politiker, die man nicht ausstehen
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
Wissen
kann, mit unfairen Mitteln angreifen. Im
Übrigen lasse sich nie sicher sagen, inwie-
weit öffentlich zur Schau gestellte Eigen-
schaften nur vorgespielt werden, um einen
politischen Effekt zu erreichen.
Eine gesunde Portion Narzissmus ist im
Grunde für jeden Menschen normal. Sich
selbst ein wenig toller zu finden, sich mehr
zuzutrauen, als man vielleicht kann, zeugt
nicht automatisch von einer gestörten Per-
sönlichkeit.
Der krankhafte Narzisst hingegen ver-
suche, sein brüchiges Selbstwertgefühl zu
kompensieren, indem er ein Bild von sich
erschaffe, das stets großartig, genial, ande-
ren überlegen scheine. Dabei verliere er
Analytiker Kernberg
»Ich bin geduldig«
schnell den Bezug zur Realität, verstehe
Kritik nur als persönliche Kränkung und
verachte seine vermeintlichen Feinde.
Ein pathologischer Narzisst zeige kaum
Empathie für seine Mitmenschen, sondern
manipuliere sie – bisweilen durchaus
charmant, um sich ihren Zuspruch zu
sichern.
Ehrliche, tiefe Freundschaften und Be-
ziehungen sind so kaum möglich. Groß-
artig nach außen, in Wahrheit aber bestän-
dig gekränkt und einsam: Viele Narzissten
verfallen darüber in Depression, manche
verletzen sich auch selbst. Einsicht in die
eigene Verantwortung gibt es erst einmal
nicht. Die anderen sind schuld.
Kernberg erzählt, dass er narzisstische
Patienten meist erst dann sieht, wenn
sie mit Depressionen, Angstzuständen
oder wegen sexueller Probleme zu ihm
kommen.
Als Steigerung dieser Störung gilt der
»maligne«, der bösartige Narzissmus. Die
Betroffenen halten sich in hohem Maße
für großartig, sind unehrlich, aggressiv,
misstrauisch, paranoid, rachsüchtig. Und
dann lässt sich Kernberg doch ein Urteil
entlocken: »Diese Züge können Sie öffent-
lich bei Trump beobachten. Kein Zweifel.«
Und auch wenn er Trump nicht persön-
lich diagnostiziert, sieht der erfahrene Psy-
chiater, welchen Schaden der derzeitige
US-Präsident anrichtet: »Führung
und Vorbild mit den Charakteristi-
ka, die man an ihm beobachten
kann, sind gefährlich für die Gesell-
schaft.«
Als Analytiker kennt er die Pro-
zesse, die entstehen, wenn sich
Menschen in großen Gruppen einer
solchen Führung verschreiben.
»Schon Freud beschrieb, wie unsere
individuelle Intelligenz und unser
Verstehen zurückgehen, wenn wir
Teil einer Großgruppe sind«, sagt
Kernberg.
Für sich selbst zu entscheiden,
rational zu denken – diese Fähigkei-
ten werden geringer, wenn ein
Mensch sich als Teil einer Masse
sieht. Kernberg bezeichnet den Zu-
stand als »soziale Regression«. In
der Psychoanalyse beschreibt die
Regression den Rückfall auf eine
frühere Entwicklungsstufe – ein Ab-
Sara Naomi Lewkowicz / DER SPIEGEL
wehrmechanismus, der helfen soll,
mit der Welt klarzukommen.
Was motiviert Kernberg, sich
auch nach so vielen Jahrzehnten
noch begeistert an die nächste The-
rapie zu wagen?
Kernberg erzählt, wie es ihn
schon als Studenten fasziniert hat,
Menschen helfen zu können, ihr
Leben zu ändern. Jeder Therapeut,
der schwere Persönlichkeitsstörun-
gen behandle, müsse unendlich viel
provokatives, aggressives Verhalten aus-
halten. »Ohne wütend zu werden, sich zu
deprimieren oder den Patienten innerlich
zu verlassen.«
Kernberg erklärt sein Prinzip, das ihm
über all die Jahre hilfreich erschien: »Ich
versuche, in jeder Therapiestunde etwas
Wichtiges, Hilfreiches, etwas von maxima-
ler Intensität zu erleben. Ein wirkliches
Erfahren.«
Selbst wenn sich Probleme dann endlos
wiederholten, nichts vorangehe, mache
ihm das nichts aus: »Ich bin geduldig«, sagt
Kernberg. »Außerdem interessieren mich
Menschen wirklich.« Kerstin Kullmann
105
 Wissen

Die Mär vom wilden Riesen

Archäologie Waren die Germanen wirklich kulturlose Barbaren aus einem Land der Urwälder?
Inzwischen wissen Forscher, dass über kaum ein Volk so viele Legenden verbreitet wurden.

H
ermann hat die Haare schön. Sei-
ne langen Korkenzieherlocken
scheinen frisch gewickelt, sein
Bart sauber getrimmt und die
Augenbrauen ordentlich gezupft zu sein.
Der frisierte Schönling, der am Rande Det-
molds als Statue über die Baumwipfel des
Teutoburger Waldes schaut, soll an den
Cheruskerfürsten Arminius erinnern. Der
Krieger und seine germanischen Truppen
waren es, die dem römischen Imperium in
der sogenannten Varusschlacht im Jahre
9 nach Christus die wohl peinlichste Nie-
derlage seiner Geschichte zufügten.
Über das wahre Aussehen Arminius’,
der ab dem 16. Jahrhundert auch »Her-
mann« genannt wurde, ist nichts überlie-
fert. Fest steht, dass das Kolossaldenkmal
auffallend vom Zerrbild des rauen und
eher faulen Germanen abweicht, der meist
nur Fell trägt, Met säuft und gern seine
Keule schwingt.
Bildhauer Ernst von Bandel erschuf im
19. Jahrhundert eine Art antiken Ritter.
Doch der ist von der historischen Wahrheit
vermutlich ähnlich weit entfernt wie das
im römischen Großreich erdachte Barbaren-
image. Er hebt sein Schwert nicht drohend
gen Rom, sondern Richtung Westen. Das
ist natürlich kein Zufall, denn dort liegt
Frankreich, der »Erbfeind«.
Die Hermannsstatue, die 1875 einge-
weiht wurde, zeigt eindrücklich, wie seit
fast 2000 Jahren Propaganda mit den Ger-
manen und ihrem Erbe betrieben wird. Im-
merzu wurde herumgesponnen, dazuge-
dichtet und politisch instrumentalisiert.
Mit der Folge, dass die deutschen Ahnen
in einem historischen Nebel verschwan-
den – und einen Ruf bekamen, der ihnen
nicht gerecht wird.
Eine Ausstellung in der James-Simon-
Galerie auf der Berliner Museumsinsel ver-
sucht nun ab dem 18. September, den
Nebel zu lichten. Sie setzt dabei nicht auf
historische Texte, sondern auf das, was im
Boden steckte. »In den vergangenen Jah-
ren haben wir sehr viele neue Funde ge-
macht, die uns eine kritische Revision der
Schriftquellen ermöglichen«, sagt Berlins
Landesarchäologe und Museumsleiter
Matthias Wemhoff, der die Schau gemein-
sam mit dem Bonner Archäologen Mi-
chael Schmauder konzipierte.
AKG

* Reproduktion einer Illustration aus dem 19. Jahr-

Cheruskerfürst Arminius*: Antiker Ritter? hundert.

106
 Weil es mit Ausnahme einiger germani-
scher Runen keine schriftlichen Original-
quellen gibt, geht das Germanenbild noch
immer maßgeblich auf die Texte römischer
Autoren zurück. Der bekannteste von ih-
nen ist Tacitus, der mit großer Wahrschein-
lichkeit niemals in Germanien war. Das
hielt ihn aber nicht davon ab, über das In-
nenleben germanischer Häuser zu schrei-
ben. Dort wüchsen »die Kinder nackt und
schmutzig zu dieser von uns bestaunten
Größe heran«, fabulierte er. In Wahrheit
lässt sich nach der Analyse Hunderter spät-
antiker Skelettfunde mittlerweile belegen,

Jochen Stuhrman / Franziska Lorenz / GEO Epoche / ddp

dass Germanen und Römer annähernd
gleich groß waren.
Die Mär von den wilden Riesen ist nur
eines von vielen Gerüchten, die auf die rö-
mischen Geschichtsschreiber zurückgehen.
Eine dieser Legenden wird direkt zu Be-
ginn der Berliner Ausstellung abgeräumt.
Durch eine riesige Illustration wähnt sich
das Publikum nämlich mitten in einer of-
fenen Agrarlandschaft mit Getreideanbau
und etlichen Gehöften, auf denen fleißige
Menschen ihrer Arbeit nachgehen.
Dieses neue Bild steht im Gegensatz zu
den römischen Quellen, in denen immer
wieder behauptet wurde, dass das Land im
Norden fast komplett aus dichten Urwäl-
dern und Sümpfen bestehe. Germanien
mache »einen schaurigen« und »wider-
wärtigen Eindruck«, behauptet Tacitus.
Für einen Menschen aus der antiken
Mittelmeerregion, in der es wegen des gro-
ßen Holzverbrauchs so gut wie gar keine
Wälder mehr gab, mag die Heimat des
Arminius tatsächlich finster gewesen sein,
zumal der Anteil mächtiger Laubbäume
damals vergleichsweise groß war. In Wahr-
heit deuten archäobotanische Erkenntnis-
se aber darauf hin, dass Germanien nicht
stärker bewaldet war als das heutige
Deutschland.
Durch neue Forschungen gerät auch ein
bekanntes Narrativ der Varusschlacht ins
Wanken. Die ortsunkundigen Römer hät-
ten sich im dichten Urwald nicht zurecht-
gefunden, wurde immer wieder kolpor-
tiert. Zumindest für das Areal bei Kalk-
riese, wo die Schlacht stattgefunden haben
soll (SPIEGEL 12/2020), kann das wohl
nicht ganz stimmen. Denn die Truppen,
die dort aufgerieben wurden, waren über
eine alte Heerstraße marschiert, schreibt
der Archäologe Heiko Steuer im fulminan-
ten Ausstellungskatalog. In der Nähe des
Schlachtfeldes wurden zudem Spuren
mehrerer Siedlungen entdeckt, die eben-
falls eine offene Landschaft bestätigten.
In den vergangenen 30 Jahren konnten
so viele germanische Dörfer nachgewie-
sen werden wie niemals zuvor. Mittler-
weile sind mehr als 400 Siedlungen aus-
gegraben worden, die zum Teil durch an-
gelegte Wege miteinander verbunden
waren.
Germanisches Dorf mit Langhäusern (Illustration): Prunkvolle Waffen
Mit der römischen Infrastruktur konnte
die germanische zwar nicht mithalten.
Trotzdem gab es bereits ein geordnetes
Straßensystem. Es wurden sogar kilome-
terlange Bohlenwege durchs Moor nach-
gewiesen, die auf eine Kooperation vieler
Gemeinschaften hindeuten. Einzelne Bau-
ernfamilien waren unmöglich dazu in der
Lage, viele Tausend Baumstämme heran-
zuschaffen und die Wege zu unterhalten.
Bei der Forschungsarbeit kristallisierte
sich heraus, dass Tacitus und andere
In Nazideutschland
galten die Germanen
als unvermischte
Übermenschenrasse.
Schreiber auch mit Blick auf die germani-
schen Häuser ihrer Fantasie offenbar frei-
en Lauf ließen. Die »Barbaren« bewohn-
ten wohl keine primitiven Rundhütten,
wie von den römischen Chronisten be-
hauptet wurde, sondern bauten in der Re-
gel bis zu 30 Meter lange Häuser, die einen
mächtigen Dachboden hatten.
In römischen Schriften werden die mili-
tärischen Niederlagen, die das Großreich
gegen die Mannen des Arminius und an-
dere Truppen erlitten, immer wieder da-
durch schöngeredet, dass sich eine Erobe-
rung Germaniens sowieso nicht lohne. Die
Gebiete östlich des Rheins und nördlich
der Donau seien unterentwickelt, rohstoff-
arm und insgesamt ärmlich.
Mittlerweile weiß die Forschung, dass
in manchen Regionen so viel Eisen produ-
ziert wurde, dass es sogar exportiert wer-
den konnte. Außerdem fertigten die ger-
manischen Handwerker nicht nur schlichte
Gebrauchsgüter, sondern auch feinen Zier-
rat und prunkvolle Waffen, von denen eini-
ge in der Berliner Schau das erste Mal zu
sehen sein werden.
Besonders sticht ein sogenannter Schild-
buckel heraus, der aus dem Grab eines ger-
manischen Fürsten in Gommern (Sachsen-
Anhalt) stammt. Die wertvollen Beigaben,
die in der Ruhestätte entdeckt wurden,
sprechen für die Existenz einer germani-
schen Elite, die wie Arminius auch die
Macht hatte, eine Armee zusammenzustel-
len, womöglich aus Söldnern. »Vieles von
dem, was in den römischen Quellen steht,
bricht in sich zusammen«, sagt Ausstel-
lungsmacher Wemhoff.
Das bedeutet aber nicht, dass deutsche
Historiker stets dichter an der Wahrheit
gewesen wären. Während der Kaiserzeit
wurden die Germanen als mutige und
kraftvolle Freiheitskämpfer verehrt. Armi-
nius und seine Mannen hätten sich todes-
mutig sogar einem scheinbar übermächti-
gen Gegner entgegengeworfen. Unter-
schlagen wird dabei, dass es dem Feld-
herrn auch um seine eigene Macht ging.
Gefährlich wird dieser Heldenmythos
aber vor allem dann, wenn wie in Nazi-
deutschland die Mär hinzukommt, die
Germanen seien eine Art »unvermischte«
Übermenschenrasse gewesen, die in direk-
ter Linie zu den Deutschen führe. Nach
dieser Logik hätten »Hermann« und seine

DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020 107

 Wissen

Mannen also die Reinheit des deutschen

Blutes gerettet, als sie gegen die Legionäre
des Varus triumphierten.
In Wahrheit war es komplexer: Die Ger-
Unter die Haut
manen fühlten sich zwar durch die römi-
sche Bedrohung verbunden, gehörten aber Forensik Ein deutscher Rechtsmediziner identifiziert Tote anhand
eigenständigen Stämmen mit unterschied- ihrer Tätowierungen. In Mexiko nutzte er seine
lichen Vorfahren an. Es gab die Cherusker Methode bei der Untersuchung von Opfern des Drogenkriegs.
und die Ostrogothen, die Chauken und die
Chatten, die Sueben und etliche andere
Gruppen, die immer wieder Krieg gegen-
einander führten. »Die politisch motivier-
te, geradezu beschworene Einheit im Sin-
ne eines Volkes« lasse sich weder durch
I n der Sommerhitze, wenn die Leute auf
jede überflüssige Bekleidung verzichten,
fällt Christoph Birngrubers Blick auto-
matisch auf unverhüllte Arme und Beine.
reichische Gesellschaftskritiker Adolf Loos
(1870 bis 1933) unwidersprochen lästern
konnte: »Der moderne Mensch, der sich
tätowiert, ist ein Verbrecher oder ein
historische noch durch archäologische Unwillkürlich hält der Rechtsmediziner der Degenerierter.« Einst Erkennungszeichen
Quellen belegen, schreibt Schmauder. Universität Frankfurt dann nach Tätowie- von Seeleuten und Kleinganoven, ist die
Der Reiz, den Germanen auf Rechts- rungen Ausschau. Er erkennt Daten, Namen Körperbemalung zum Massenphänomen
populisten ausüben, ist für den Historiker und Schriftzüge, Blumengebilde und Tiere, geworden. Dem Onlineportal Statista zu-
Lars Deile auch der Hauptgrund dafür, wa- pralle Madonnen und finstere Dämonen. folge hatte sich 2017 ein Viertel der Deut-
rum die deutschen Ahnen nur noch in we- Seine Expertise auf diesem Gebiet ist schen eine Tätowierung stechen lassen –
nigen Bundesländern auf dem Lehrplan des inzwischen so ausgereift, dass Birngruber und die Zahl nimmt weiter zu.
Geschichtsunterrichts stünden. »Offenbar
gibt es die Angst, dass die Schüler von einer
Art Germanenvirus infiziert werden kön-
nen«, vermutet der Professor für Didaktik
und Theorie der Geschichte an der Univer-
sität Bielefeld. Es sei aber »total falsch«,
rechten Gruppierungen die Deutungsho-
heit über eine so wichtige Ära zu überlassen.
Die Berliner Ausstellung leistet einen
Beitrag, sich der Wahrheit zu nähern. Sie
problematisiert nicht nur die römischen
Quellen, sondern beschäftigt sich auch mit
der deutschen Germanenrezeption. Paral-
lel zur Schau wird im Vaterländischen Saal
des Neuen Museums eine Ausstellung un-
ter dem Titel »200 Jahre Mythos, Ideolo-
gie und Wissenschaft« eröffnet. Darin wird

Tim Wegner / DER SPIEGEL

auch aus jener Zeit berichtet, in der das
Hermannsdenkmal eröffnet wurde.
Die Statue, die noch immer jedes Jahr
von etwa 500 000 Menschen besucht wird,
steht mit großer Wahrscheinlichkeit am fal-
schen Ort, weil die Varusschlacht vermut-
lich in der Gegend von Kalkriese stattfand –
und sie bietet ein wuchtiges Detail, das es
so wohl nicht gegeben hat: den Flügelhelm.
Es gibt keinerlei archäologische Belege für
das Ding, genauso wenig wie für Kopfbe-
deckungen, aus denen Hörner ragen. Trotz-
dem haben sich die Helme zu Markenzei-
chen der alten Germanen entwickelt.
Wer ein realistischeres Bild davon be-
kommen möchte, wie ein germanischer
Krieger wirklich ausgesehen haben könnte,
sollte sich einen erst vor wenigen Jahren
entdeckten Bronzekessel anschauen, der
im Katalog beschrieben wird. Das Beson-
dere an ihm sind die Henkel, die germani-
sche Charakterköpfe mit »Suebenknoten«
darstellen. Dabei handelt es sich um eine
Art Männerdutt, wie er heutzutage von
Hipstern getragen wird. Die Germanen wi-
ckelten sich das Ding demnach allerdings
nicht hinten am Kopf zurecht, sondern an
der Seite. Guido Kleinhubbert
Mediziner Birngruber: Daten von Tätowierern
schon nach kurzem Hinsehen zwischen
»sehr kunstvoll« und »Katalogware« un-
terscheiden kann. Und stets, so erzählt er,
rege sich bei ihm der Gedanke: Was, wenn
einer dieser vorbeihuschenden Menschen
als unbekannter Toter auf seinem Obduk-
tionstisch läge? Könnte die Tätowierung
seine Identität verraten?
Die Identifizierung von Toten gehört zu
den Schwerpunkten des Forensikers. Da-
bei die Tätowierungen zu nutzen ist sein
Spezialgebiet.
Schon 1852 versuchte der Berliner Ge-
richtsmediziner Johann Ludwig Casper,
den rätselhaften Mordfall um einen geköpf-
ten Fremden anhand einer Tätowierung
aufzuklären. Doch erst jetzt, anderthalb
Jahrhunderte später, gewinnen die mit
Tinte in die Haut gestochenen Darstellun-
gen für die Forensik plötzlich an Bedeu-
tung. Vorbei sind die Zeiten, als der öster-
Der Trend bestätigte sich, als Birngru-
ber Protokolle von Leichenöffnungen aus
den Jahren 2010 bis 2014 mit jenen ver-
glich, die zwischen 1990 und 1994 am In-
stitut für Rechtsmedizin Gießen vorge-
nommen worden waren. Die gestiegene
gesellschaftliche Akzeptanz von Tätowie-
rungen, so sein Fazit, »geht einher mit
einem signifikant höheren Anteil tätowier-
ter Verstorbener im Obduktionsgut«.
Im vorigen Jahr erfuhr Birngruber dann
auf drastische Weise, wie wirkungsvoll die
Methode sein kann. Nach Vermittlung der
Deutschen Gesellschaft für Internationale
Zusammenarbeit war er in den mexikani-
schen Bundesstaat Jalisco gerufen wor-
den – ein Hauptschauplatz des brutalen
Krieges zwischen Drogenkartellen.
Über 61 000 Menschen wurden seit
2006 in Mexiko vermisst gemeldet; bis
heute konnten mehr als 37 000 Tote nicht

108
identifiziert werden, allein in Jalisco sind
es 4000. So allgegenwärtig finden sich
in der Gegend Leichenteile, dass sie
mitunter im Instituto Jaliscience de Cien-
cias Forenses in Plastiktüten abgegeben
werden. Tote müssen dort in Regalen
bis unter die Decke gestapelt werden.
Weil der Platz nicht ausreichte, wurden
Opfer der Bandenkriege sogar in Contai-
nern ohne ausreichende Kühlung außer-
halb des Gebäudes gelagert. Anwohner
beschwerten sich regelmäßig über den
Leichengestank.
»Die Rechtsmedizin in dem Land stößt
an ihre Leistungsgrenzen«, sagt Birn-
gruber. In Jalisco traf er auf Kollegen, die
zwischen Frustration und Resignation
schwankten. Die Rechtsmediziner beklag-
ten, dass der Staat die Last der Identifi-
zierung von Ermordeten im Drogenkrieg
allein auf ihren Schultern ablade.
Beweismittel tätowierte Haut: Ähnlich bedeutend wie Fingerabdrücke
»Wenn in Jalisco eine Mutter ihren ver-
schwundenen Sohn sucht, dann wird sie
wahrscheinlich nicht zur Polizei gehen,
denn vielen Menschen fehlt das Vertrauen
in deren Arbeit«, sagt Birngruber. Stattdes-
sen kommen die Angehörigen von Vermiss-
ten direkt in die forensischen Institute – oft
schwer traumatisiert. Persönliche Verwick-
lungen erschweren die Situation: »Jeder
kennt jemanden, der betroffen ist«, sagt
Birngruber.
Ein halbes Jahr lang half der Deutsche
daher seinen mexikanischen Kollegen bei
der Identifizierung von Toten. Im Fach-
journal »Rechtsmedizin« berichtet er erst-
mals über die Ergebnisse. Vor Ort herrscht
das besonders brutal agierende Cartel
Jalisco Nueva Generación, eine Organisa-
tion, die viel Mühe darauf verwendet, die
von ihr Hingerichteten unkenntlich zu ma-
chen. Die Körper der Ermordeten werden
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
zerstückelt, die Leichenteile anschließend
in Massengräbern miteinander vermischt,
um die Identifikation zu erschweren.
In all diesen Fällen können Tätowierun-
gen zum Schlüsselmerkmal werden. Auch
in der mexikanischen Bevölkerung sind
sie weit verbreitet. Unter den Verstorbe-
nen haben die Rechtsmediziner in der
Gruppe der 20- bis 29-Jährigen bei 68 Pro-
zent der Männer und 61 Prozent der
Frauen mindestens ein Motiv auf der Haut
entdeckt. Auch in der Altersgruppe der
30- bis 49-Jährigen trägt etwa die Hälfte
der in der Forensik untersuchten Mexika-
ner eine Tätowierung.
Birngruber räumt ein, dass unter den
mexikanischen Kollegen anfänglich eine
gewisse Reserviertheit gegenüber dem Hel-
fer aus Europa zu spüren gewesen sei. Das
legte sich jedoch, nachdem er seine Fähig-
keiten unter Beweis gestellt hatte. Birngru-
Tonatiuh Figueroa
ber weiß, wie man verblichene und schwer
kenntliche Tätowierungen mit einer ver-
dünnten Wasserstoffperoxidlösung wieder
zum Vorschein bringt. Auf der verhärteten
Haut mumifizierter Leichen macht er die
Bilder der Tätowierer mit einer Infrarot-
kamera wieder sichtbar.
Solche forensischen Tricks allein rei-
chen jedoch nicht aus: Ohne Systematik
sind auch die markantesten Körperbema-
lungen für Rechtsmediziner wertlos. Des-
halb verbesserte Birngruber gemeinsam
mit den Fachleuten vor Ort eine Daten-
bank, in der Hinweise der Angehörigen
auf Motive, Beschaffenheit und Ort aller
Tattoos möglichst präzise aufgelistet sind.
Zudem erarbeitete Birngruber eine
nach Geschlechtern getrennte Statistik, die
exakt erfasst, mit welcher Häufigkeit und
an welchen Körperstellen Tätowierungen
auftauchen. Demnach lassen Frauen in
Mexiko die Nadel deutlich öfter am Kopf
ansetzen als Männer.
Auch über die Vorlieben in der Motiv-
wahl gibt die Datenbank des rechtsmedi-
zinischen Instituts in Jalisco nun Auskunft.
Schriftzüge und Zahlen finden sich bei
Männern und Frauen gleichermaßen, doch
sind bei den Männern religiöse Symbole
deutlich beliebter.
In vielen Fällen, berichtet Birngruber,
hätten am Ende die Tattoos tatsächlich die
Identität der Opfer offenbart. Sind sie für
die Identifikation eines Unbekannten künf-
tig ähnlich bedeutend wie Fingerabdrücke?
Auch in Deutschland hat er inzwischen
schon häufiger dazu beigetragen, unbe-
kannte Tote zu identifizieren. Unerlässlich
für seine Methode sind Vergleichsdaten;
akribisch sammelt Birngruber bei einem
Todesfall Beschreibungen von den Ange-
hörigen oder Fotografien von Freunden.
Wie eine Identifikation idealerweise funk-
tionieren kann, demonstrierte der Rechts-
mediziner bei einem tödlichen Unglück in
Nordhessen.
Ein 55-Jähriger war beim Eisangeln auf
einem großen See eingebrochen. Monate
später entdeckten Spaziergänger am Ufer
des Sees eine Leiche. Aufgrund von Fäul-
nis und Verwesung war der Körper jedoch
bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Zwar lag
der Polizei das Familienfoto des als ver-
misst gemeldeten Eisanglers vor – doch
angesichts des Zustands der Leiche schien
ein Abgleich mit dem Bild aussichtslos.
Bei der Obduktion bemerkte Birngru-
ber am Leichnam eine Tätowierung an der
Streckseite des linken Unterarms. Auch
der auf dem Foto gezeigte Mann trug dort
augenscheinlich eine Tätowierung. Der
Rechtsmediziner ließ den Leichnam in der
exakt gleichen Position fotografieren. An-
schließend legte er die Fotos am Computer
übereinander. Ergebnis: Der Tote und der
Vermisste auf dem Foto waren zweifelsfrei
identisch.
Häufig aber gibt es kein nutzbares Foto.
Birngruber hat deshalb für Vergleichs-
daten eine neue Quelle angezapft: die Ar-
chive und das Gedächtnis der Tätowierer.
In einer von ihm initiierten Online-
umfrage, an der sich 143 Betreiber von
Tattoostudios beteiligten, ermittelte der
Rechtsmediziner ermutigende Ergebnisse:
Über 86 Prozent der Befragten gaben an,
die eigenen Werke fotografisch zu doku-
mentieren. Auch behaupteten fast alle Teil-
nehmer, sie würden die von ihnen gesto-
chenen Tätowierungen auf einem Foto
sofort wiedererkennen; in den meisten
Fällen könnten sie sich sogar noch an den
Namen des jeweiligen Kunden erinnern.
Rund zwei von drei Tätowierern trauen
sich sogar zu, den Stil von Kollegen auf
einem Foto wiederzuerkennen.
Frank Thadeusz
109
Kultur

PROKINO Filmverleih
Stewart in »Jean Seberg«

Kino vate Affäre mit dem Black-Panther-Aktivisten Hakim Jamal

Seberg – unerlöst
 Die in den Himmel emporgereckte Black-Power-Faust ist
heute eine auch von Weißen gebrauchte Geste der Solidarität ge-
gen Rassismus. Wer sich allerdings in den Sechzigerjahren des
20. Jahrhunderts als Unterstützerin der Schwarzen in den USA
outete, musste damit rechnen, ins Visier der Beschattungs- und
Diffamierungskampagne Cointelpro von FBI-Chef J. Edgar
Hoover zu geraten. So erging es der US-Schauspielerin Jean
Seberg – dank ihres Auftritts in Jean-Luc Godards »Außer Atem«
ein Star der französischen Nouvelle Vague –, als sie 1968 in
ihre Heimat zurückkehrte und sich auf eine politische und pri-
einließ. Der Kinofilm »Jean Seberg« erzählt nun im Stil eines
klassischen Paranoiathrillers, wie Seberg an behördlichem Stal-
king und medial forcierter Rufschädigung zerbricht – und auch
an ihrem Anspruch scheitert, zu jener Zeit mehr sein zu wollen
als nur ein schönes Hollywoodgesicht. »Twilight«-Star Kristen
Stewart, die ihre größten Erfolge eher in Frankreich als in den
USA feierte, spielt die Titelrolle mit feinnerviger Intensität. Lei-
der widmen ihr Regie (Benedict Andrews) und Drehbuch nicht
die Aufmerksamkeit, die Stewart und Sebergs Schicksal gleicher-
maßen verdienen, sondern verschenken viel Zeit an einen fik-
tiven FBI-Beschatter (Jack O’Connell) und dessen Gewissens-
bisse. So bleibt die 1979 durch Suizid verstorbene Jean Seberg
auch in dieser späten Würdigung eine tragische Figur. BOR

Literatur
Quartett für drei
 Das Flüchtige, das Atmo-
sphärische und seine soliden
Folgen sind das Thema dieses
Romans: Wie verlieben wir
uns, wie treffen wir Entschei-
dungen, welche Geschichten
erzählen wir uns, damit sich
das Leben sinnvoll und richtig
anfühlt? Die beiden Paare
mittleren Alters, von denen
die britische Autorin Tessa
Hadley berichtet, sind seit
Jahrzehnten verbunden. Der
Tod reißt jählings eine Lücke in
das Quartett, und da nun eine
Stimme fehlt, müssen sich die
Hinterbliebenen neu arrangie-
ren. Dabei sind sie – Londoner
Künstler und Bildungsbürger,
Freunde des Weißweins und
der guten Lebensart – für Tra-
gik nicht im Geringsten trai-
niert. Mit Ironie und freundli-
cher Genauigkeit porträtiert
Hadley, 64, Menschen in einer
emotionalen Krise. Die eben
bedeuten kann, dass man nicht
nur verunsichert in die Zukunft
blickt, sondern auch in die Ver-
gangenheit. In der eleganten
Übersetzung von Gertraude
Krueger gelingt so ein leichtes,
ernstes Buch über die Trauer
in komfortablen Umständen.
Und darüber, was sie nicht nur
im Herzen, sondern auch im
Kopf anrichtet. ES
Tessa Hadley: »Zwei und zwei«. Aus
dem Englischen von Gertraude Krueger.
Kampa; 320 Seiten; 22 Euro.

110 DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020

Kunst
Säulen der Erde
 Die Australierin Fiona Hall
zeigt einen dicken Baum-
stamm mit Zahlen überall
dort, wo ein Ast abgesägt
wurde. Der Österreicher
Erwin Wurm ließ eine über-
dimensionale Gurke basteln.
Der Deutschnorweger Björn
Melhus präsentiert ein riesi-
ges Streichholz. Mehr als
hundert großteils berühmte
Künstlerinnen und Künstler
aus aller Welt waren für
das Gesamtkunstprojekt
»Stoa169« aufgefordert, je
eine 3,90 Meter hohe Säule
nach eigenem Gutdünken
und Witz so zu gestalten, dass
die Säulenschöpfungen ein
gemeinsames Dach tragen
können. Entstehen sollte eine
mit einem Betonflachdach
bedeckte Wandelhalle zum
Staunen und Herumspazie-
ren, eine Art Hall of Fame
der internationalen Kunst.
Am Sonntag ist die Eröffnung
des babylonischen Kunst-
wunderbaus auf einer Wiese
am Ufer der Ammer nahe
dem oberbayerischen Ort Pol-
ling angesetzt. Ausgedacht
hat sich das Projekt der Maler
Bernd Zimmer, 71, selbst ein
vielfach ausgezeichneter
Erfolgsmensch der Kunstwelt.
Er will mit der »Stoa169«-
Halle einen »Raum für öffent-
lichen Diskurs« einrichten –
Sachbücher
Böhmi-Starschnitt
 Auf Twitter ist Jan Böhmer-
mann eine mächtige Stimme.
Aktuell hat er rund 2,2 Mil-
lionen Follower. Dazu etliche
Millionen, die seine 280-Zei-
chen-Gedanken liken, retwee-
ten oder zitieren. Kein Politi-
ker oder Chefredakteur in
Deutschland kann da mithal-
ten. Wie ist es dazu gekom-
men? Und was kann Böhmer-
mann in der echten Welt be-
wegen? Sein neues Buch »Ge-
folgt von niemandem, dem
du folgst« fühlt ihm da ganz
gut den Puls. Der Satiriker
hat darin eine Auswahl seiner
ersten 25 800 Tweets abge-
Serien
Robo-Mutti
regelt das
 Wäre es nicht schön, wenn
man seine Kinder in diesen
irrationalen Zeiten von
freundlichen Robotern groß-
ziehen lassen könnte, Krea-
turen, die nur den Gesetzen
der Logik und Vernunft
Felix Pitscheneder
folgen, frei von Geschlechter-
und Gesellschaftskonflikten?
»Raised by Wolves«, eine
neue Serie des US-Senders
Säulen in »Stoa169«-Projekt HBO Max (ab Mittwoch bei
TNT Serie), nimmt diese Idee
in Anknüpfung an die Philo- als Ausgangspunkt für ein
sophenschule der antiken futuristisches Schlachtenge-
Stoa, die nach einer Säulen- mälde. Zwei Androiden, Mut-
halle auf dem Marktplatz von ter und Vater genannt, landen
Athen benannt war. Künstler in ferner Zukunft, nach der
Zimmer hat für die zunächst irdischen Apokalypse, auf
nur mit 81 von insgesamt einem kargen Planeten, um
121 vorgesehenen Säulen prä- dort mit künstlicher Befruch-
sentierte Parade von Arbeiten tung die menschliche Zivilisa-
zahlreicher Kunstmarktwelt-
stars 3,5 Millionen Euro auf- Collin (M.) in »Raised by Wolves«
getrieben. Über die Säulen-
Arbeitsaufträge an Berühmt-
heiten wie Rebecca Horn,
Takesada Matsutani und Law-
rence Weiner hat eine Fach-
jury entschieden. Initiator
Zimmer begreift den Freiluft-
kunsttempel als Aufruf zur
Gelassenheit: Die Halle solle
die Menschen lehren, so sagt
er, »die Welt ein bisschen
mehr vom All aus zu betrach-
ten«. HÖB
druckt – inklusive Fußnoten Nach gut einem Drittel
für Personen und zeitliche ändert sich die Auswahl der
Zusammenhänge. Es ist die Tweets schlagartig: Flüchtlings- Schreiber an seiner Kunst zu
Welt zwischen Januar 2009 krise, Silvesternacht in Köln,
und Februar 2020, beobachtet Anschlag am Breitscheidplatz,
von Jan Böhmermann. Trump. Und es sind die Hass-
kommentare, die Böhmer-
mann wie scharfe Pointen un-
ter seinen Tweets stehen lässt. was zu verlieren gehabt. Statt-
Das alles funktioniert auch
deshalb gut, weil er so starke
Reaktionen auslöst: Sein Publi- sich letztlich seinen eigenen
kum hat mittlerweile paraso-
ziale Beziehungen zum Twit-
ter-Böhmi aufgebaut.
Die größere Herausforde-
rung wäre es jedoch gewesen,
Matthias Jung
wenn Böhmermann wirklich
ein Buch geschrieben hätte.
Keine Performance-Literatur,
Böhmermann bei der die Idee über dem In-
tion neu zu starten. Doch die-
ser streng atheistische Garten
Eden ist kein Paradies. Die
Kinder werden krank, viele
sterben, und die sanftmütige
Robo-Mama (Amanda Collin)
wird zum Terminator-Todes-
engel, als eine Arche voller
Kreuzritter im Orbit auf-
taucht. Co-produziert wurde
die Serie von Science-Fiction-
Koryphäe Ridley Scott, der
Motive aus seinen Klassikern
»Alien« und »Blade Runner«
variiert. Der göttliche Funke
der bildstarken und intellek-
tuell stimulierenden ersten
Episoden, die Scott selbst
inszenierte, erschöpft sich
jedoch schnell in einer zuneh-
mend konventionellen Action-
dramaturgie. So viel scheint
klar: Die Kids müssen im blu-
tigen Kulturkampf zwischen
Technofurie und Funda-
mentalistenfuror wohl eigene
kreative Wege finden. BOR
Warner Media
halt steht. Gerade er, der oft
betont, hinter den Kulissen als
arbeiten. Die Medienmarke
Böhmermann auf Twitter in
seiner Wechselbeziehung zur
Welt, das wäre ein interessan-
ter Blick. Hier hätte er aber et-
dessen schreibt Böhmermann
über Böhmermann und bastelt
»Bravo«-Starschnitt. So ist es
weniger ein Blick auf die Ge-
sellschaft geworden, sondern
mehr ein Fanbuch, kuratiert
vom Künstler persönlich. JON
Jan Böhmermann: »Gefolgt von
niemandem, dem du folgst. Twitter-
Tagebuch 2009 – 2020«. Kiepen-
heuer & Witsch; 464 Seiten; 22 Euro.
111
 Kultur

Das Virus der Verachtung

Rassismus In den USA geht neben Corona noch eine andere Pandemie um.
Der erste Infizierte war ein Weißer, der vor 400 Jahren auf ein Sklavenschiff blickte.

Von Zadie Smith

I
rgendwann fängt man an, Verachtung als Virus zu betrach-
ten. Erst befällt es Einzelpersonen, dann verbreitet es sich
rasant in Familien, Gemeinschaften, Völkern, Machtgefü-
gen, Nationen. Weniger spektakulär als Hass. Tödlicher.
Wenn Verachtung tötet, dann geschieht das nicht unbedingt
im Rahmen eines Rachefeldzugs, ja nicht einmal ganz bewusst.
Es kann auch eine flüchtige Laune sein. Verachtung ist weitver-
breitet und dadurch lebensgefährlich. »Das Virus interessiert
sich nicht für uns.« So ist es auch mit der Verachtung: Aus ihrer
Sicht steigt man nicht einmal richtig zum Hassobjekt auf – das
würde ja eine komplette Anerkennung der eigenen Existenz er-
fordern. Vor der Verachtung gilt man einfach nicht so viel wie
andere, man zählt nicht als ganze Person, ist kein vollständiges
Mitglied der Gesellschaft. Man ist eine statistische Größe. Man
ist als Verlust schon einkalkuliert. Man kann auf nichts zurück-
greifen. Man verkörpert kein Kapital, und damit verkörpert man
auch keine Macht. Man ist zu vernachlässigen.
Kein gut gekleideter, teurer Anwalt wird, die elegante Akten-
tasche in der Hand, zur Verteidigung herbeieilen und rufen: »Das
ist mein Mandant!« Man wird umstandslos eingebuchtet und
umstandslos vergessen. Es steht nichts auf dem Spiel. Und daraus
folgt: Verachtung.
Der Polizist trug eine sadistische Version dieser Verachtung
zur Schau. Was nervt ihr mich mit diesem Schwachsinn? In die-
sem Fall war der Schwachsinn ein Mann, der ihm erklärte, er
kriege wegen des Knies des Polizisten auf seinem Hals keine
Luft mehr. Der Mann hieß George Floyd. Er wollte dem Polizis-
ten begreiflich machen, dass er sterben würde.
kommt ganz selbstverständlich Diabetes und hat alle möglichen
anderen gesundheitlichen Probleme, die auf rätselhafte Weise
Teil seiner Kultur zu sein scheinen. Er verbringt ganze Jahre in
Gefängniszellen. Und selbst wenn er sich doch einmal beschwert:
Worauf sollte er schon zurückgreifen, ohne Geld, ohne den gut
gekleideten Anwalt, der ihm zu Hilfe eilt?
Bei diesem speziellen Virus stand der weiße Patient null vor
400 Jahren an Bord eines Sklavenschiffs, blickte hinunter auf
die schwitzende, blutende, stöhnende Masse unter Deck und
rekonstruierte eine Empfindung – Verachtung – aus einer Situa-
tion, die er, der Patient, selbst geschaffen hatte.
Er betrachtete die Menschen, die er aneinandergekettet hatte,
und stellte fest, dass sie genau der Typ Mensch waren, der Ketten
trägt. So ganz anders als andere Menschen. Erschreckend an-
ders! Später dann, auf seinen Baumwollfeldern, ließ er sie aus-
peitschen, danach schickte er sie wieder an die Arbeit und dachte
sich: Sie können unmöglich so empfinden wie wir. Man kann
sie auspeitschen, und sie gehen einfach wieder an die Arbeit.
Und nachdem er sie damit in eine ganz ähnliche Kategorie ein-
geordnet hatte wie die, in die wir Tiere einsortieren, empfand
er auch die gleiche Angst und Verachtung, mit der wir Tieren
begegnen. Denn Tiere sind dem Menschen untertan, stellen aber
gleichzeitig eine Bedrohung für ihn dar.
Sie haben kein Kapital, nicht einmal ihre Arbeitskraft. Man
kann alles mit ihnen machen. Sie können auf nichts zurück-
greifen.

D
Man muss einen Menschen schon sehr hassen, wenn man ihm as sind die drei DNA-Stränge des Virus. In der Theorie
das Knie auf den Hals drückt, bis er stirbt, vor den Augen einer wurden diese Grundprinzipien der Sklaverei schon vor
Menschenmenge und einer Kamera, im vollen Wissen um die langer Zeit aus der Gesetzgebung des Landes, und na-
Konsequenzen, die das höchstwahrscheinlich für das eigene türlich auch aus den Herzen und Köpfen der Menschen,
Leben haben wird. Aber hier war etwas Dunkleres am Werk – getilgt. In der Theorie. In der Praxis geben sie das Virus immer
etwas Tödlicheres. Es war das Virus in seiner lebensgefährlichsten weiter, über Kirchen und Schulen, Werbespots und Filme, Bü-
Ausprägung. cher und politische Parteien, Gerichtssäle, die Gefängnisindus-
Die unmittelbare Infektion erfolgt, sobald ein Ladeninhaber trie und selbstverständlich die Polizeireviere.
die Polizei ruft und die Stimme am anderen Ende der Leitung Als Viren treiben sie verborgen ihr Unwesen im Körper, bis
sich nach der ethnischen Zugehörigkeit des Kriminellen erkun- man an ihnen erkrankt. Viele Menschen ahnen gar nicht, dass
digt, der gerade versucht hat, mit einem falschen 20-Dollar- sie das Virus überhaupt in sich tragen, bis sie sich plötzlich in
Schein zu zahlen. Lautet die Antwort »weiß«, muss man noch der Situation wiederfinden, die Polizei anrufen und Auskunft
ein weiteres Attribut hinzufügen, beispielsweise »obdachlos« über die ethnische Zugehörigkeit des Mannes geben, den sie so
oder »auf Drogen«, um das Virus zu fangen. verdächtig fanden, als er durch sein eigenes Wohnviertel ging,
Die Antwort »schwarz« hingegen ist von vornherein schwer oder der ihnen im Central Park widersprochen hat oder was für
belastet, und plötzlich wird eine ganze Reihe potenziell gewalt- ein Mist sonst gerade vorgefallen ist.
tätiger – und andernfalls höchst unwahrscheinlicher – Maßnah- Zu den Eigentümlichkeiten des Virus – darauf hat schon der
men psychologisch denkbar. Einem solchen Körper hält man Schriftsteller James Baldwin hingewiesen – gehört es, dass die
keinen Vortrag, man verwarnt ihn nicht, an ihm Erkrankten das Symptom für die
nimmt ihn nicht mit aufs Revier. Und man Ursache halten. Warum sonst sollten die-
muss auch nicht ernst nehmen, wenn er Ein verseuchtes jenigen, die es in sich tragen, sich so dafür
über Schmerzen klagt, denn dieser ganz einsetzen – selbst jetzt noch, selbst in den
spezielle amerikanische Körpertyp ist bes- Volk: vor allen demokratischsten Staaten der USA –, dass
tens dafür bekannt, die unfassbarsten Tor- Dingen von Armut ihre Kinder bloß nicht mit den Kindern
turen auszuhalten. Er überlebt in beengten der Menschen zur Schule gehen müssen,
Räumen, trinkt bleihaltiges Wasser, be- verseucht. deren Leben angeblich so viel zählt? Wa-

112 DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020

 Sasha Aruntyunova

Zadie Smith, 44, gehört zu den wichtigsten Stimmen der Weltliteratur. Bereits ihr erster Roman »Zähne zeigen«, erschienen 2000,
wurde zum internationalen Bestseller. Seitdem hat die Britin zahlreiche Essays und Erzählungen veröffentlicht.

113

»Black Lives Matter«-Demonstranten in Louisville, Kentucky
Macht der Gemeinschaft
rum sonst sollten sie immer noch – selbst jetzt noch, selbst in
den demokratischsten Staaten der USA – ein Wohnviertel nur
dann als ihrer würdig betrachten, wenn sein schwarzer Anwoh-
neranteil so niedrig ist, dass sie sich mit ziemlicher Sicherheit
nicht mit dem Virus infizieren?
Eine solche Mentalität schaut über den eigenen Gartenzaun
und sieht ein verseuchtes Volk: vor allen Dingen von Armut ver-
seucht. Wenn dieses von Armut geprägte Kind mit meinem von
Privilegien geprägten Kind in eine Klasse geht, wird mein Kind
darunter leiden – mein Kind wird sich das Virus einfangen. Diese
nicht sonderlich unterdrückte Angst ist genauso tief in demokra-
tischen wie in republikanischen Herzen verwurzelt; sie spielt bei
Ausbreitung und Ansteckung eine zentrale Rolle. Es ist vernünftig,
eine Ansteckung mit Armut zu fürchten. Aber weiterhin für eine
Politik zu stimmen, die das Vorhandensein einer Unterschicht
dauerhaft sichert, das fällt unter »struktureller Rassismus«.
Und nur die naivsten Amerikanerinnen und Amerikaner glau-
ben heute noch, dass Integration – sollte sie jemals wirklich statt-
finden – nicht mit anfänglichen Verlusten auf beiden Seiten ein-
hergeht. Die Macht lang gehegter Privilegien ist groß. Und es
kann schmerzen, eine Isolation zu verlassen, selbst wenn sie
einem aufgezwungen wurde.
Aber ich spreche ohnehin rein hypothetisch: In Wahrheit hat
es unter denen, die das Virus in sich tragen, noch nie die Bereit-
schaft gegeben, den möglichen Verlust
auch nur bestimmter Aspekte ihres gesell-
schaftlichen Kapitals zu riskieren und he- Ist die Sehnsucht
rauszufinden, welches Amerika es jenseits
der Rassentrennung zu entdecken gäbe. nach einem anderen
Sie lesen Bücher von schwarzen Autorin- Amerika innerhalb
nen und Autoren und »bilden« sich zu
schwarzen Themen weiter – solange diese Amerikas groß genug?
114
Weiterbildung nicht in Gestalt konkreter schwarzer Kinder in
ihren konkreten Schulen erfolgt.
Sollten das Virus und die von ihm geschaffenen Ungleichhei-
ten uns je wieder verlassen, würde das die amerikanischen Nöte
lindern. Verschwinden würden sie nicht, aber vieles würde nicht
mehr als normal gelten. Es würde nicht mehr diejenigen geben,
die Latein lernen, und diejenigen, die nicht einmal Lesen lernen.
Es würde nicht mehr zu viele Menschen geben, die ihr Vermö-
gen in zig Millionen beziffern, und auch nicht mehr zu viele,
die von der Hand in den Mund leben. Weiße College-Studie-
rende würden nicht mehr in ihren Wohnheimen kiffen, während
gleichaltrige Schwarze sich das Mindeststrafmaß einhandeln,
weil sie ihnen das dazu benötigte Gras verkauft haben. Die
USA wären nicht mehr spannender Schauplatz unfassbarer Wi-
derstände und spektakulärer Gewaltausbrüche, die Länder mit
größerer Gleichberechtigung so zahm und ereignislos wirken
lassen.
Aber die Frage lautet inzwischen: Ist das Virus der Verachtung
schon ganz im Stoffwechsel der USA aufgegangen? Leben die
Amerikaner schon so lange mit dem Virus, dass sie es nicht mehr
fürchten? Ist die Sehnsucht nach einem anderen Amerika inner-
halb Amerikas groß genug?
Echte Veränderung würde unter anderem ein breiteres Ver-
ständnis dafür erfordern, dass der fatalistische, wesenhafte Ras-
sismusdiskurs, den wir häufig als oberflächliches Heilmittel gegen
ZUMA Wire / imago images
die Symptome des Virus einsetzen, in der Praxis vor allem einen
Umstand verschleiert: dass nämlich die DNA des Virus auf der
Wirtschaft fußt und sich daher am effizientesten bekämpfen
ließe, wenn alle Menschen, die wirtschaftlich ausgenutzt werden,
unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit solidarisch und
gemeinsam agierten. Sie würde die (schmerzhafte) Wahrneh-
mung erfordern, dass dieses Virus nicht nur Einzelpersonen be-
fällt, sondern ganze Machtgefüge, wie alle schwarzen Bürgerin-
nen und Bürger, die jemals von schwarzen Polizisten zu Boden
gedrückt wurden, bezeugen können.
W
enn unsere gewählten Regierungsvertreter nur Ver-
achtung für uns übrighaben, wenn die sogenannten
Rechts- und Ordnungshüter uns gleichermaßen
verachten, dann tun sie das, weil sie glauben, wir
hätten nichts, worauf wir zurückgreifen können, und keine
Macht, nur diese eine, die sie schon seit Langem als zu zersplit-
tert, zu gespalten und zu sehr in Vergessenheit geraten wahr-
nehmen, um noch irgendwie von Nutzen zu sein: die Macht der
Gemeinschaft. Die Zeiten, in denen es nur den Einsatz einer
Gruppe erfordert hätte, um das zu heilen, woran wir leiden, sind
längst vorbei. Früher glaubte ich immer, es würde eines Tages
einen Impfstoff geben: nämlich dann, wenn nur genügend
Schwarze das Virus beim Namen nennen, es erklären, aufzeigen,
wie es vorgeht, seine Auswirkungen mitfilmen, friedlich dagegen
demonstrieren.
Wenn sie allen offenbaren, wie verbreitet es tatsächlich ist,
wie die Symptome entstehen, wie viele Amerikanerinnen und
Amerikaner es verantwortungslos weitergeben, von einer Ge-
neration zur nächsten, und damit den Einzelnen ebenso wie
dem Gemeinwesen unerträglichen und dauerhaften körperlichen
Schaden zufügen – wenn dieses Wissen sich nur so weit verbrei-
ten würde wie irgend möglich oder vorstellbar, glaubte ich, dann
könnten wir schließlich doch noch eine
Art Herdenimmunität erreichen.
Aber das glaube ich nicht mehr.
Der Text ist eine gekürzte Version von Smith’ Essay
»Nachtrag: Verachtung als Virus«. Aus: Zadie Smith:
»Betrachtungen. Corona-Essays«. Aus dem Englischen
von Tanja Handels. © 2020. Kiepenheuer & Witsch;
80 Seiten; 7,99 Euro. Erscheint am 8. Oktober als E-Book.
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
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 Kultur
Mitten in dieser Zeit
Karrieren Sie war lange Deutschlands liebste TV-Spaßmacherin. In einer
Netflix-Serie kommt Anke Engelke zurück als Trauerrednerin.
A nke Engelke steht in einem Münch-
ner Hotelzimmer, kramt in ihrer Rei-
sekühltasche, klirrt mit Gläsern und
bietet selbst gemachten Linsen- und Qui-
noasalat an. Sie ist Veganerin und umwelt-
bewegt, deshalb reist sie gern mit eigenem
Proviant in abspülbarer Verpackung. Er-
zählt man dann in einem ungelenken Eis-
brechversuch, dass man sich gerade selbst
eine Kühltasche in ähnlich handlicher Grö-
ße gekauft habe, aus dem Merchandise-Sor-
timent des aktuell total angesagten Deutsch-
rappers Apache 207 nämlich, horcht sie auf
und will wissen, ob sie aus Plastik ist.
Es wirkt freundlich, aber auch streng.
Sofort schämt man sich für die eigene
Nachlässigkeit in Sachen Umweltschutz.
Obwohl Engelke ihr Privatleben weit-
gehend unter Verschluss hält – sie hat Kin-
der, lebt in Köln –, ist sie eine der wenigen
Prominenten, die man nicht nur kennt,
sondern die einem persönlich bekannt vor-
kommen, mehr noch: von denen man ger-
ne gemocht werden möchte, selbst bei die-
sem Interviewtermin, bei dem es eigent-
lich nur um ihre neue Rolle als tragikomi-
sche Trauerrednerin in einer neuen Net-
flix-Serie gehen soll.
Denn bei Engelke glaubt man, eine sym-
pathische Person hinter jeder ihrer Rollen
zu erahnen. Seit ihrem großen Durchbruch
als Comedian in der »Wochenshow« 1996 –
vorher arbeitete sie als Radiomoderato-
rin –, hat sie fast alle Berufsdisziplinen der
Unterhaltungsbranche durch. Heute kennt
wohl jeder Fernsehzuschauer in Deutsch-
land ihr Gesicht.
Engelke, mittlerweile 54 Jahre alt, gilt als
extrem witzig wegen ihrer früheren »Lady-
kracher«-Sketche und ihrer Synchronjobs
in »Findet Nemo« oder den »Simpsons«,
wo sie die Mutter Marge spricht, zudem
wirkt sie klug und sensibel, weil sie einfühl-
same Reportagen gedreht hat. Über Angst
in der deutschen Gesellschaft etwa oder
zum Thema Glück, wofür sie berührend ehr-
liche Gespräche auf einer Kinderkrebssta-
tion führte.
Ein Tiefpunkt ihrer Karriere war dann
die Zeit, in der sie nur sich selbst darstellen
sollte: Die Show »Anke Late Night« star-
tete 2004 und floppte, als Zuschauerin
merkte man der Gastgeberin Engelke das
Unbehagen an, weil sie sich im Stand-up-
Teil permanent als spontan-lustige Version
ihrer selbst inszenieren musste.
Damals, sagt sie jetzt beim Interview in
München, habe sie sich schlecht gefühlt.
116
Es kam ihr wie eine Lüge vor, weil sie in
ihrer Rolle als Late-Night-Host, anders als
bei ihren Sketchfiguren, keine andere Per-
son spielte: »Das kam aber nicht von mir,
sondern von Autoren – das habe ich nicht
gut verpackt bekommen für mich. Denn
ich stand da nicht als Schauspielerin. Ich
stand da als Anke. Hab ich zu spät kapiert.«
Wo steht sie heute?
In der neuen Netflix-Produktion »Das
letzte Wort« spielt Engelke sechs Folgen
lang Karla, die von jetzt auf gleich ihren
Mann verliert und über diese Erschüt-
terung Trauerrednerin wird. Sie sei ge-
spannt, sagt Engelke, ob die Zuschauer
ihr diese Rolle abnehmen werden oder
doch sagen: Ach so, ist ja eh die Anke.
Weil sie sich in diesem Charakter äußer-
lich ähnlicher sieht als in den verklei-
dungsmächtigen Impro- oder Comedy-
Rollen, in die sie vor allem früher häufig
schlüpfte.
»Die Menschen möchten
ja, dass Serien ihnen
das, was in der Realität
scheiße ist, hübsch
verpackt servieren.«
Tatsächlich erscheint einem ihre Karla
zunächst kein bisschen Anke-mäßig, viel-
leicht auch deshalb, weil man mit dieser
Frau, anders als mit anderen Engelke-
Figuren, zunächst fremdelt. Sie ist kratzig,
in manchen Momenten fast offensiv un-
fähig, öfters ungerecht zu sich und anderen,
zwar auch mal hochamüsant, aber eben
auch wütend. Dass man sich schließlich
doch mit ihr identifizieren kann, liegt am
Ton von »Das letzte Wort«. Obwohl echte
Bestatter Engelke schon Komplimente ge-
macht haben, wie realistisch die Arbeit an
der Leiche umgesetzt worden sei, ist der
Tod in dieser Serie, die zwischen witzigen
und tieftraurigen Momenten balanciert,
nur vordergründig das zentrale Thema.
Blendet man all die Särge und Beerdi-
gungen aus, handelt die Serie vor allem
von erschöpften Menschen, von Über-
forderungsblessuren, die in allen Figuren
und Beziehungen durchscheinen. Da
ist etwa Karlas Tochter, die ihre Mutter
nicht verstehen kann, sie ständig fragen
muss, was denn jetzt schon wieder los ist.
Oder Karlas Mutter, die selbst nicht zu
wissen scheint, ob ihre Freitodgedanken
zynische Koketterie oder echte Lebens-
müdigkeit sind.
Und da sind natürlich all die Trauern-
den, die bei Karla auflaufen und schmerz-
haft bemerken, dass ihr Bild vom Verstor-
benen kein wirklich naturgetreues Porträt
ist, sondern auch viel Verdrängungsmale-
rei. Es geht deshalb nicht nur um natur-
gemäß überfordernde Dinge wie das Ster-
ben, sondern um das Leben generell.
Engelke sagt, »Das letzte Wort« passe
gefühlsmäßig mitten in diese Zeit, weil alle
Figuren hier permanent gezwungen wür-
den, den eigenen Status quo zu checken.
»Wo bin ich jetzt gerade – emotional und
in meinen Beziehungen, politisch, gesell-
schaftlich? So geht es doch gerade sehr vie-
len Menschen, dass sie das Gefühl haben,
sich ständig selbst auf diese Punkte abklop-
fen zu müssen, weil sie sich ihrer selbst
nicht mehr ganz sicher sind.«
Dass die Miniserie nur augenscheinlich
vom Tod handelt, habe sie auch daran ge-
merkt, dass sie die Arbeit selbst nach Dreh-
schluss beschäftigte, dass mehr im Leben
hängen blieb als bei anderen Projekten.
»Ich hatte wirklich diese Erkenntnis, dass
ich nur etwas an meinem Leben ändern
kann. Brauche ich diese Reise? Brauche
ich dieses Essen, diese Hose, diesen Men-
schen? Was kann alles weg?«
Das solle jetzt nicht künstlich aufgebla-
sen wie eine Erleuchtung klingen, sagt sie,
auch nicht banal wie eine Zeile aus einem
Helene-Fischer-Song – aber vor allem sei
ihr ein Gedanke geblieben: »Dass es zwar
erst mal vor allem um den Tod geht, wenn
ein Mensch stirbt und plötzlich weg ist.
Die anderen Menschen aber ja dableiben.
Müssen wir uns nicht vor allem um die
kümmern? Am Tod können wir nichts än-
dern, nur am Leben.«
Im Interview erreicht Engelke eine SMS
von ihrer Schwester. »Auf Facebook hat
dein Trailer 1,2 Millionen Aufrufe!«,
schreibt sie ihr. Engelke freut sich, sie
selbst hat aber kein Profil bei Facebook,
nicht bei Instagram, schon gar nicht auf
Twitter. »Ich habe neulich das erste Mal
gesehen, wie WhatsApp funktioniert, und
das fühlte sich seltsam an für jemanden,
der gegen die Volkszählung demonstriert
hat. Mir macht das manchmal Angst, dass
ich durchsichtig und berechenbar bin als
Verbraucherin.«
Informiert über die Debatten, die heute
vor allem in den sozialen Medien geführt
werden, ist sie trotzdem. Man merkt das,
weil sie Selbstinventur betreibt, abwägt,
welche ihrer Charaktere aus heutiger Sicht
noch akzeptabel sind, wenn man sie mit
inzwischen sensibleren Instrumenten un-
tersucht, mir feinerem Gespür für Ras-
sismen, Sexismen, Verletzungsgefahren.
»Vorgeschaltet muss, glaube ich, immer die
Frage stehen: Wann entstand das und in
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
 welchem historischen Kontext? Genauso
viel Gewicht muss dann aber die rein
subjektive, emotionale Einschätzung der
Menschen haben, die von diesem bestimm-
ten Wort oder von diesem Witz betroffen
sind. Aber wir müssen erst mal dahin kom-
men, dass wir unseren Gefühlen trauen
können. Wenn wir alle überfordert sind,
dann darf man uns gerade keine Verant-
wortung geben.«
Ricky mit dem Popsofa, das leicht nöli-
ge »Wochenshow«-Mädchen, das ihr den
Durchbruch brachte, würde sie heute
nicht mehr so spielen. »Ich würde mich
nicht mehr dunkel schminken lassen. Und
ich würde viele ›Ladykracher‹-Figuren
nicht mehr spielen, zum Beispiel keine
Asiatinnen mehr. Ich bin heute nicht em-
pört über mich, aber traurig, dass ich da-
mals nicht gesehen habe, dass das nicht
in Ordnung ist.«
Die blondiert ondulierte und schmerz-
haft naive Ulla, die im Arztwartezimmer
einen Einbeinigen fragt, ob er Flamingos
möge, und einen schwarzen Patienten bass
erstaunt mit »Voll dunkel!« kommentiert,
würde sie hingegen genau so wieder geben:
»Weil es die genau so gibt. Ich porträtiere
sie, aber ich führe sie nicht vor. Ich würde
ihre Haltung zur Diskussion freigeben und
sie dabei nicht werten.«
Und wie bewertet sie ihre eigene Kar-
riere heute? Engelkes Humor galt als stil-
prägend für eine bestimmte Art weiblichen
Witzigseins. Zugleich wurden aber viele
ihrer Nummern von Männern geschrieben,
und nach dem Weggang von Karen Frie-
Jens Umbach / laif

sicke war sie vier Jahre lang die einzige

Frau im »Wochenshow«-Ensemble. Natür-
lich sei das nicht in Ordnung, sagt Engelke,
heute schaue sie anders darauf.
Auch »Das letzte Wort« wurde von
zwei Männern geschrieben. Engelke sagt:
»Ich habe mir erst mal die Situation ange-
guckt und dann im Fall von den beiden
Autoren Aron Lehmann und Carlos Irm-
scher gemerkt: Die sind so dermaßen vor-
sichtig und so dermaßen wach, immer be-
dacht, sich niemals auf die eigene männli-
che Sicht zu reduzieren.«
Trotzdem noch mal nachgehakt: Bedau-
ert sie es manchmal, nicht für sich selbst
zu schreiben? »Nee«, sagt Engelke. Zwei
Sketche habe sie mal selbst geschrieben.
»Eine Katastrophe.« Sie sei sich aber zu-
mindest sicher, welche Themen in der Se-
rienlandschaft als nächste dran seien: »Die
Menschen möchten ja gern, dass Serien ih-
nen das, was in der Realität scheiße ist,
hübsch verpackt servieren. Also werden
Frederic Batier / Netflix

die nächsten großen Serien von den The-

men Müll und Ernährung handeln.« Dass
sie dem deutschen TV-Publikum bald den
Sinn von Glasverpackungen und Quinoa
erklärt, kann man sich gut vorstellen.
Schauspielerin Engelke, Szene aus »Das letzte Wort« Anja Rützel
Zwischen witzigen und tieftraurigen Momenten

117
 Kultur

»Deutschland
ist heiliger Boden«
SPIEGEL-Gespräch Lang Lang ist einer der berühmtesten Pianisten der Welt, jetzt hat
er die »Goldberg-Variationen« von Bach eingespielt. Hier redet er über
das Comeback nach einer Krankheit, seine Ehe und seine Vorliebe für Sauerkraut.

Olaf Heine / Deutsche Grammophon

Klassikstar Lang: »Meine Hände brauchten eine Auszeit«

118
L
ang Lang steckt sich vor dem Inter-
view noch schnell etwas in den
Mund. Er ist aus Shanghai per
Video zugeschaltet, sitzt mit dicker
Artdirector-Brille und T-Shirt vor weißen
Vorhängen.
Lang Lang, 38, ist einer der großen Pia-
nisten unserer Zeit. Er wurde im chinesi-
schen Shenyang geboren, sein Name be-
deutet übersetzt »brillanter Geist«.
Langs Vater zwang seinen Sohn ans Kla-
vier, als er zweieinhalb Jahre alt war. Er
nötigte ihn jeden Tag zum Üben. Mit fünf
spielte Lang das erste Mal vor Publikum.
Als er neun Jahre alt war und ein Lehrer
unzufrieden mit ihm war, weil Lang nicht
gut genug schien, schlug der Vater dem
Sohn vor, vom Balkon zu springen. Lang
übte weiter, wurde Schüler am Zentralkon-
servatorium in Peking und als 15-Jähriger
Student am Curtis Institute of Music in
Philadelphia, USA.
Als Lang 17 Jahre alt war, fiel beim Chi-
cago Symphony Orchestra der Pianist aus.
Lang sprang ein. Er spielte Tschaikowskys
1. Klavierkonzert. Später sagte er, er habe
sich Michael Jordan beim Slam Dunk vor-
gestellt, als er die ersten Töne spielte. Lang
Lang wurde mit diesem Auftritt über
Nacht zum Star.
Viele Jahre spielte er fast ohne Unter-
brechung, bis zu 130 Konzerte im Jahr:
Er spielte in der Carnegie Hall in New York,
im Opernhaus von Sydney, mit den Ber-
liner Symphonikern. Er spielte bei der
Nobelpreisverleihung für Barack Obama,
bei der Grammy-Verleihung mit Metallica,
bei der Eröffnung der Olympischen Spiele
in Peking. Er spielte zu einem Thronjubi-
läum der Queen.
Lang ist bekannt dafür, beim Spielen
nach oben zu blicken, als schaute er Gott
beim Lauschen zu. Er ist außerdem bekannt
für absurde Kleidung und zu viel Styling-
produkt im Haar. Er hat sein eigenes Parfüm,
das Amazing Lang Lang heißt und nach Erd-
beere und Patschuli riecht. Ein Flügelfabri-
kant produzierte einen Flügel unter seinem
Namen. Zudem brachte ein Sportartikelher-
steller einen Lang-Lang- Turnschuh heraus.
Jetzt hat Lang die »Goldberg-Variationen«
von Johann Sebastian Bach eingespielt.
Das ist der Anlass für dieses Gespräch.
SPIEGEL: Herr Lang, was essen Sie da?
Lang: Minzbonbons.
SPIEGEL: Verschiedene Quellen berichten:
Sie lieben Essen.
Lang: Ich liebe Essen.
SPIEGEL: Erzählen Sie uns von dem Ge-
heimnis um die Dim Sum Ihrer Mutter?
Lang: Wenn meine Freunde zu mir nach
Hause kommen, interessiert es sie nicht,
ob ich Klavier spiele. Es interessiert sie,
ob meine Mutter Teigtaschen gemacht hat.
Das Gespräch führte der Redakteur Takis Würger.
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
Lang Lang via Sina Weibo
Eheleute Lang, Redlinger
»Im Studio dann ohne Ring«
SPIEGEL: Was sind das für Teigtaschen?
Lang: Ich kann sie gerade riechen. Meine
Mutter steht in diesem Moment in der
Küche nebenan und bereitet ein paar
davon zu. Sie ist die beste Teigtaschen-
köchin der Welt. Sie hat ein Spezialrezept
mit Fleisch, Frühlingszwiebeln und
Shrimps. Die Teigtaschen sind frittiert
und innen sehr saftig.
SPIEGEL: Sie sind oft in Berlin, um mit
dem Dirigenten Daniel Barenboim zu ar-
beiten. Wo essen Sie dann?
Lang: In einem chinesischen Restaurant
mit dem Namen Peking Ente. Ich esse aber
auch ganz gern Sauerkraut oder diese klei-
nen Nürnberger Würstchen.
SPIEGEL: Ich habe gelesen, dass Sie Angst
haben, sich in die Finger zu schneiden,
wenn Sie Möhrchen hacken.
Lang: Ja, das stand irgendwo, aber ich
koche gar nicht. Da muss ich diese Angst
nicht haben, weil ich nichts schneide.
SPIEGEL: Haben Sie generell Angst um
Ihre Hände?
Lang: Wenn mir jemand zur Begrüßung
die Hand schüttelt, sage ich oft: Bitte nicht
quetschen. Manche Menschen haben so
einen irre festen Händedruck.
SPIEGEL: Mein Chef sagte mir vor unse-
rem Gespräch, Ihr Handschlag fühle sich
an, als griffe man einen toten Fisch.
Lang: Ich hoffe, ich habe einen einiger-
maßen anständigen Handschlag.
»Ich bin mir nicht sicher,
ob es wahr ist, dass
Frauen als Erstes auf die
Hände schauen.«
SPIEGEL: Wie schützen Sie Ihre Hände?
Lang: Ich nehme warme Salzwasserbäder
für meine Hände, um sie zu entspannen.
Und ich benutze viel Handcreme.
SPIEGEL: Auf was müssen Sie verzichten
wegen Ihrer kostbaren Hände?
Lang: Ich spiele kein Basketball und ma-
che grundsätzlich keinen Sport, bei dem
ich mir die Finger verstauchen könnte.
Und ich hebe keine schweren Gewichte.
Ich gehe joggen oder spiele Tischtennis,
aber nicht zu überschwänglich.
SPIEGEL: Ich habe mir ein paar Videos von
Ihnen angeschaut, und mir ist aufgefallen,
dass Ihre Hände zart und flach auf den
Tasten liegen. Warum machen Sie das?
Lang: Das mache ich nur manchmal.
Wenn ich Beethoven spiele, bringe
ich zum Beispiel mehr Form in die Hän-
de, weil ich dann mehr Kraft brauche.
Aber wenn ich sehr schnell spiele, spiele
ich lieber flach. Es kommt auf das Reper-
toire an.
SPIEGEL: In jüngster Zeit haben Sie viel
Bach gespielt, wie war das da?
Lang: Kommt drauf an, welchen Teil eines
Stücks ich spiele. Die langsamen Teile spiele
ich mit geformten Fingern, weil ich so die
Höhepunkte der Noten besser setzen kann.
Die »Goldberg-Variationen« wurden ur-
sprünglich fürs Cembalo geschrieben, und
an den Stellen, an denen ich möchte, dass
das Klavier ein wenig wie ein Cembalo
klingt, spiele ich eher mit flachen Fingern.
SPIEGEL: Manche Frauen sagen, sie schau-
ten bei Männern als Erstes auf die Hände.
Sie haben große, feine Hände. Bekommen
Sie viele Komplimente dafür?
Lang: Ja. Aber ich bin mir nicht so sicher,
ob es wahr ist, dass Frauen bei Männern
als Erstes auf die Hände schauen.
SPIEGEL: Sie haben Ihre Hände versichern
lassen.
Lang: Natürlich.
SPIEGEL: Für wie viel?
Lang: Für einen anständigen Betrag.
SPIEGEL: Sie haben mal gesagt, das Wich-
tigste für einen Pianisten sei, dass die Hän-
de eine Persönlichkeit entwickelten. Kön-
nen Sie das einem Laien erklären?
Lang: Es geht nicht nur um Schnelligkeit.
Es geht auch darum, was jeder Finger
für sich genommen zur Interpretation
beisteuern kann. Jeder Finger hat eine
andere Fähigkeit. Der Daumen zum Bei-
spiel ist ziemlich schwer, er kann stamp-
fen. Der Zeigefinger hat die größte
Flexibilität. Der Mittelfinger ist der
längste, kommt überallhin. Der Ringfin-
ger ist der schwächste Finger, wenn ich
etwas Sanftes spielen will, ist er dafür
fantastisch, weil er so zurückhaltend
ist. Die kleinen Finger bilden die äuße-
ren Extreme, weil der eine an der rech-
ten Hand die höchste Note spielt und an
der anderen, an der linken Hand, die
tiefste Note. Zusammen sind die Finger
119
 Kultur
Musiker Lang: »Bevor ich auf die Bühne gehe, esse ich einen Keks«
wie ein Fußballteam. Du musst sicher-
stellen, dass die Finger als Einheit funk-
tionieren.
Im März 2017 ließen seine Hände Lang
Lang im Stich. Er hatte so lange und be-
sessen Maurice Ravels Konzert für die lin-
ke Hand geübt, dass er sich eine Sehnen-
scheidenentzündung holte. Unter Schmer-
zen spielte er noch ein paar Konzerte.
Dann musste er 15 Monate lang pausieren.
Zwei deutsche Spezialisten behandelten
Lang und verordneten ihm Dehnübungen
und Wanderungen. Er durfte mit der lin-
ken Hand über Monate keine Klaviertaste
berühren. Sogar wenn er sprach, sollte er
sich zurückhalten, um temperamentvolle
Armbewegungen zu vermeiden.
SPIEGEL: Wie war das, als Sie die Diagno-
se bekamen?
Lang: Das hat einfach bedeutet, dass mein
Team sich erholen musste. Meine Hände
brauchten eine Auszeit, es war ziemlich
offensichtlich. Ich wusste, wenn sie bereit
sind, kommen sie zurück. Ich habe ver-
sucht, nicht nervös zu werden, mir Zeit zu
nehmen und nicht zu hasten. Ich mochte
die Zeit.
SPIEGEL: Herr Lang, Sie sind Pianist, seit
Sie zwei Jahre alt sind, und durften von
heute auf morgen keiner mehr sein. Sie
wollen ernsthaft so tun, als hätte die Ent-
zündung Sie nicht nervös gemacht?
Lang: Am Anfang schon ein wenig. Später
wusste ich, ich muss nur geduldig sein.
SPIEGEL: Was haben Sie mit der geschenk-
ten Zeit gemacht?
Lang: Ich war viel in Deutschland. Habe
Partituren gelesen. Spaziergänge am Starn-
120
schwer zu spielen. Wer kein Klassikexper-
te ist, kennt die »Goldberg-Variationen«
vielleicht aus dem Thriller »Das Schweigen
der Lämmer«. Der Serienmörder und Psy-
chopath  Hannibal Lecter  ist ein großer
Liebhaber Bachs. Die »Goldberg-Varia-
tionen« laufen, bevor er seine Wärter zer-
schneidet.
SPIEGEL: Wie sind Sie die »Goldberg-
Variationen« angegangen?
Lang: Ich musste erst einmal mehr über
Barockmusik lernen. Ich hatte das Privileg,
mit einem Experten für barocke Klavier-
und Cembalomusik Zeit zu verbringen,
Andreas Staier. Ich bin oft zu ihm in sein
Haus nach Köln gefahren. Dort haben wir
Olaf Heine / Deutsche Grammophon
detailliert über die stilistischen Aspekte
der Barockmusik gesprochen. Wie die Pe-
dale zu benutzen sind. Wie der Kanon auf
dem Cembalo klingen soll. Wie diese Mu-
sik artikuliert wird. Und vor allem über
die Frage, wie wir diese Musik für das mo-
derne Klavier adaptieren.
SPIEGEL: Klingt so, als hätten Sie einen
Schlachtplan für die Aufnahme gemacht.
Lang: Wir haben viel über die Strategie
berger See gemacht und im Frankfurter gesprochen, nach der man dieses Stück
Stadtwald. Endlich mal früh zu Abend spielt. Ich hatte vorher nie ein Stück ge-
gegessen. Ich bin ja auch frisch verheira- spielt, das länger als eine Stunde dauert.
tet. Ich konnte es genießen, eine Zeit lang Die »Goldberg-Variationen« sind das
das Leben eines normalen Menschen zu Längste, was ich je gespielt habe. Sie dau-
führen. ern anderthalb Stunden. Unsere Strategie
SPIEGEL: Sie sagten mal, die Musik von war, die besten Karten nicht in den ersten
Brahms habe Ihnen bei der Genesung Minuten auszuspielen, sondern sie zurück-
geholfen. Wie muss man sich das vor- zuhalten. Der Höhepunkt des Stücks ist
stellen? die 25. Variation. Dieser Plan hat viel
Lang: Brahms hat Heilkräfte. Die Musik Denkarbeit erfordert.
geht tief ins Herz und tröstet mich. Wenn SPIEGEL: Ihre Recherchen führten Sie
man traurig ist, hilft ihre Schönheit dabei, auch nach Arnstadt in Thüringen, wo Jo-
einen aus den bösen Gedanken zu reißen. hann Sebastian Bach seine erste Anstel-
lung als Organist hatte.
Brahms funktionierte. Lang Langs Hände Lang: Der wunderbare Organist dort hat
heilten. Er spielt wieder Konzerte, nicht mir gezeigt, wie man eine barocke Orgel
mehr so viele wie früher, aber vor der Pan- spielt.
demie waren es immer noch sehr viele. Er SPIEGEL: In der Thomaskirche in Leipzig
hat im vergangenen Jahr auch eine Platte haben Sie die »Goldberg-Variationen« vor
aufgenommen, »Piano Book«. Es sollte Bachs Grab gespielt.
ein Lehrbuch für den Nachwuchs sein. Lang: Das hat mich eine Verbindung zu
Manche Musikkritiker sahen es eher als Bach spüren lassen, die ich vorher kaum
eine Sammlung von Klassikschlagern: kannte. Es war magisch.
von  Schumanns »Wildem Reiter« bis zu SPIEGEL: Jetzt veröffentlichen Sie zwei
Debussys »Clair de lune«. Aufnahmen: eine aus dem Studio und eine,
Es gibt Kritiker, die schrieben, Lang die Sie live in der Thomaskirche einge-
habe durch seine Auszeit seine Virtuosi- spielt haben. Warum?
tät verloren. Die würde man gern mal Lang: Im Studio findest du für jede Stelle
beim Zuhören sehen, wenn sie jetzt seine in der Musik den richtigen Klang. Manch-
Einspielung der »Goldberg-Variationen« mal möchte man einen trockenen Klang,
hören. Das Werk gilt als ausgesprochen manchmal einen dunklen Klang, das ist
im Studio kein Problem. Was man dort
nicht hinbekommt, ist eine spontane
Interpretation. Wenn du live spielst,
»Unsere Strategie hast du keine Zeit, dir groß Gedanken zu
war, die besten Karten machen. Du bist einfach da und spielst.
Es ist wundervoll. Die Pausen sind sehr
nicht in den ersten natürlich bei einer Liveaufnahme. Live
Minuten auszuspielen.« sind die Entscheidungen nicht so abgewo-
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
gen, aber das erschafft eine ganz eigene
Qualität.
SPIEGEL: Im vergangenen Jahr haben Sie Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
die deutsche Pianistin Gina Alice Redlin- nähere Informationen finden Sie online unter: spiegel.de/bestseller
ger geheiratet. Haben Sie in der Thomas-
kirche mit Ehering gespielt? Belletristik Sachbuch
Lang: Ja, im Konzert. Für die Aufnahme
im Studio dann ohne Ring. 1 (1) Robert Seethaler 1 (1) Mary L. Trump
SPIEGEL: Würden Sie sagen, Sie spielen Der letzte Satz Hanser Berlin; 19 Euro Zu viel und nie genug Heyne; 22 Euro
als verheirateter Mann anders?
Lang: Ich glaube, ich habe jetzt mehr Bo- 2 (4) Bernhard Schlink 2 (–) Thilo Sarrazin Der Staat
denhaftung. Gina ist wunderbar. Sie hat Abschiedsfarben Diogenes; 24 Euro an seinen Grenzen LMV; 26 Euro

ein warmes Herz. Ich bin sehr dankbar, 3 (2) Richard David Precht
3 (20) Elena Ferrante Das lügenhafte Leben
mit ihr zusammen sein zu dürfen. Dass ich Künstliche Intelligenz und der Sinn
sie in Deutschland kennengelernt habe, ist
der Erwachsenen Suhrkamp; 24 Euro
des Lebens Goldmann; 20 Euro
kein Zufall. Für klassische Musiker ist 4 (3) Delia Owens Der Gesang
Deutschland heiliger Boden. Viele der gro- 4 (3) Ferdinand von Schirach /
der Flusskrebse Hanserblau; 22 Euro
Alexander Kluge
ßen Komponisten kommen aus Deutsch-
Trotzdem Luchterhand; 8 Euro
land. Ich habe mich der Kultur in Deutsch- 5 (2) Stephenie Meyer Biss zur
land immer nah gefühlt. Mitternachtssonne Carlsen; 28 Euro 5 (–) Gabor Steingart
SPIEGEL: Sie haben in Versailles geheiratet. Die unbequeme Wahrheit Penguin; 16 Euro
Wessen Idee war das? 6 (–) Jo Nesbø
Ihr Königreich Ullstein; 24,99 Euro 6 (4) Philippa Perry Das Buch,
Lang: Ich habe mal in Versailles eine Auf- von dem du dir wünschst, deine Eltern
nahme gemacht. Ich dachte, das wäre ein 7 (–) Jan Weiler hätten es gelesen Ullstein; 19,99 Euro
schöner Ort für das Hochzeitsdinner. Die Ältern
SPIEGEL: Was gab es zu essen? Piper; 15 Euro 7 (5) Maja Göpel Unsere Welt
Lang: Wir hatten sensationelles Essen. neu denken Ullstein; 17,99 Euro
Die Pubertiere sind alle
Französisch. Gina und meine Mutter ha- ausgezogen. Wen sollen wir 8 (7) Bas Kast Der Ernährungskompass
ben es ausgesucht. jetzt zurechtweisen? Von C. Bertelsmann; 20 Euro
SPIEGEL: Können Sie eigentlich vor einem wem sollen wir genervt
sein? Eltern – schrecklich 9 (6) Michelle Obama
Konzert etwas essen? allein zu Haus.
Lang: Nur mittags, irgendwas Kleines, ein Becoming Goldmann; 26 Euro

Sandwich oder ein wenig gebratenen Reis. 8 (12) Susanne Matthiessen 10 (–) Nora Imlau
Kurz bevor ich auf die Bühne gehe, esse Ozelot und Friesennerz Ullstein; 20 Euro Mein Familienkompass Ullstein; 22,99 Euro
ich einen Keks.
SPIEGEL: Und nach dem Schlussapplaus? 9 (–) John Grisham 11 (8) Manfred Lütz Neue Irre.
Lang: Brauche ich ein großes Festmahl. Das Manuskript Heyne; 22 Euro Wir behandeln die Falschen Kösel; 20 Euro

Sonst fühlt sich das Leben so bitter an. 12 (17) Kester Schlenz
SPIEGEL: Darf ich Ihnen noch drei alberne
10 (6) Ursula Poznanski
Cryptos Loewe; 19,95 Euro
Ich bin bekloppt … und ich bin nicht
Fragen stellen? der Einzige Mosaik; 18 Euro
Lang: Ich bitte darum. 11 (8) David Grossman 13 (–) Wolfgang Büscher
SPIEGEL: Was hören Sie im Auto für Was Nina wusste Hanser; 25 Euro
Heimkehr
Musik? Rowohlt Berlin; 22 Euro
Lang: Im Moment Alicia Keys und John 12 (–) Christina Henry
Legend. Immer irgendwas Geschmeidiges. Die Chroniken von Alice. Einfach mal in den
Die Schwarze Königin Penhaligon; 18 Euro Wald der Kindheit zurück,
SPIEGEL: Würden Sie sagen, Ihr Nachbar einfach mal raus
in New York mag Sie? aus allem. Ein Jahr lang.
13 (7) Renate Bergmann Dann bleiben Wen man dort trifft?
Lang: Der neue Nachbar ist aus Südame- wir eben zu Hause! Ullstein; 8 Euro Sich selbst.
rika und liebt klassische Musik. Der vor-
herige hat immer den Doorman gerufen, 14 (5) Marco Balzano 14 (9) John Bolton Der Raum, in dem alles
damit ich aufhöre zu üben. Ich bleibe hier Diogenes; 22 Euro geschah Das Neue Berlin; 28 Euro
SPIEGEL: Angeblich gehen Sie nach man-
chen Konzerten einsam durch die Gassen 15 (18) Lisa Eckhart 15 (10) Hans-Werner Sinn
von Paris oder London. Was suchen Sie Omama Zsolnay; 24 Euro Der Corona-Schock Herder; 18 Euro

in solchen Nächten? 16 (9) Stephen King 16 (11) Jürgen Kaube

Lang: Ich esse eben immer recht viel nach Blutige Nachrichten Heyne; 24 Euro Hegels Welt Rowohlt Berlin; 28 Euro
Konzerten, dann kann ich nicht schlafen.
Ich spaziere durch die Gegend, um ein 17 (19) Paul Maar 17 (–) Heinrich August Winkler
wenig zu verdauen. Ich gucke mir schöne Wie alles kam S. Fischer; 22 Euro
Wie wir wurden, was wir sind
C. H. Beck; 22 Euro
Gebäude an, weil da nachts niemand ist.
Und ich suche vor allem frische Luft. Das 18 (11) Sally Rooney 18 (12) Kübra Gümüşay
größte Problem in Konzerthallen ist die Normale Menschen Luchterhand; 20 Euro
Sprache und Sein Hanser Berlin; 18 Euro
Luft, weil immer alles in geschlossenen 19 (–) Tobias Schlegl
Räumen stattfindet. Ich will einfach atmen. 19 (13) Lily Brett Alt sind nur die anderen
Schockraum Piper; 22 Euro Suhrkamp; 15 Euro
SPIEGEL: Herr Lang, wir danken Ihnen für
dieses Gespräch. 20 (10) Wladimir Kaminer Rotkäppchen raucht 20 (14) Peter Hahne Seid ihr noch
auf dem Balkon Wunderraum; 20 Euro ganz bei Trost! Quadriga; 12 Euro

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Angela Merkel trägt beim EU-Gipfel im Juli 2020 in Brüssel einen Mund-Nase-Schutz.

Foto: Francisco Seco/AP Pool/dpa

Maximale Freiheit
oder minimales Risiko?
Mut entscheidet.

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dem Coronavirus finden Sie unter
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 Kultur
Im Kern
amoralisch
Krimikritik Der neue Roman von James Ellroy
ist eine geniale Zumutung.
J ahrzehntelang galt der US-Kriminalroman als berechen-
bar und formelhaft. Autoren bedienten sich immer wie-
der jener Schablonen, die in den Dreißigerjahren die
Genrepioniere Dashiell Hammett und Raymond Chandler
geprägt hatten: Aufrechte, aber auch hartgesottene Privat-
detektive, oft mit einem Hang zu Alkohol und Affären, er-
mittelten auf den schäbigen Straßen US-amerikanischer
Großstädte.
Dann aber tauchte James Ellroy auf. Er erneuerte das Gen-
re grundlegend – die pessimistische Noir-Grundstimmung
machte er in seinen Geschichten noch dunkler, lud sie mit
Sex und explizit geschilderter Gewalt auf. Während
die Detektive seiner Vorgänger häufig Außenseiter
waren, die sich nur an die eigenen moralischen
Regeln hielten und allein durch ihre Existenz einer
korrupten Gesellschaft den Spiegel vorhielten, wa-
ren seine Ermittler genauso verkommen wie die
Verbrecher, die sie jagten.
Weil Ellroy außerdem das Erzähltempo bis zum
Stakkato beschleunigte, mit Lautmalereien und
Kurzsätzen arbeitete, entstanden Krimis wie Speed-
räusche. Sein Roman »Die schwarze Dahlie« über
einen realen Mord an einem Model wurde zum
Bestseller, sein Buch »L.A. Confidential« zur Vor-
lage für den gleichnamigen oscargekrönten Gangs-
terfilm mit Russell Crowe und Kevin Spacey.
Jetzt erscheint sein neues Buch. »Jener Sturm«
ist Ellroys bislang ambitioniertestes Werk, der zwei-
te Band eines geplanten Quartetts über das Los
Angeles in den Jahren bis 1946. Zugleich sieht Ell-
roy den Roman auch als Teil einer Reihe über Ge-
walt in den USA, die er auf insgesamt elf Bände
angelegt hat. Ellroy ist inzwischen 72 Jahre alt,
wenn er diese Aufgabe bewältigt, wird ein Projekt
an sein Ende gelangen, das in seinen Ausmaßen gewaltig ist.
In der Geschichte der US-amerikanischen Literatur gibt es
kaum Vergleichbares: Allein das Personenverzeichnis von
»Jener Sturm« listet mehr als 90 handelnde Figuren auf –
Tolstoi-Dimensionen. Kriminelle Cops, korrupte Politiker,
Klatschjournalisten und Links- sowie Rechtsextremisten. Die
Handlung ist hochkomplex, aber im Grunde jagen alle nach
Reichtum, Macht und Sex und verlieren dabei die letzten
Skrupel, die sie noch gehabt haben mögen.
Finsteres Zentralgestirn ist, wie schon in einigen von Ell-
roys früheren Romanen, der Cop, Casanova und Möchte-
gernmeisterverbrecher Dudley Smith, der im Jahr 1942 in
Los Angeles sein Unwesen treibt – und ja, es gibt auch einen
Mordfall, aber der gerät schnell in den Hintergrund angesichts
Smith’ größenwahnsinniger Pläne. Unter anderem will er
eine Ladung Gold suchen, die nach einem Raub zehn Jahre
zuvor verschwunden war, und in Mexiko internierte Japaner
in die USA schmuggeln, um sie dort als billige Feldarbeiter
James Ellroy: »Jener Sturm«. Aus dem Amerikanischen von Stephen Tree.
Ullstein; 976 Seiten; 35 Euro. Erscheint am 14. September.
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
zu vermieten. Und, falls das noch nicht irre genug klingt: Als
Beiladung soll tonnenweise Heroin in den Norden gebracht
werden. Dafür schließt Smith auf beiden Seiten der Grenze
so fragwürdige wie fragile Allianzen, unter anderem mit
mexikanischen Faschisten und einem schwarzen Prediger,
der als Slumlord reich geworden ist.
Einen positiven Gegenentwurf zu dieser Freakshow ka-
putter Charaktere bietet Ellroy seinen Lesern nicht. Selbst
die Erlösung durch Liebe verweigert er. Seine Frauen sind
keine Krankenschwestern für männliche Seelenkrüppel, er
schreibt ihnen ihre eigenen Ambitionen und Deformationen
zu. Weil er zudem kompromisslos aus der Sicht seiner Figuren
erzählt – ihre Brutalität, ihren Rassismus, ihre Gier und Geil-
heit an den Leser gefiltert weitergibt –, wird die Lektüre zur
Herausforderung. Ellroy zwingt einen ständig, sich zu posi-
tionieren, um sich gegen seinen Sog zu wehren, während er
selbst gleichzeitig all seine Erzählkunst darauf verwendet,
einen tiefer hineinzuziehen in den kriminellen Sumpf.
Vielleicht entwickeln die Romane von Ellroy diese beson-
dere Wucht, weil er in ihnen stets auch seine eigenen Trau-
mata und Obsessionen verarbeitet: Ellroys Mutter wurde
1958 vergewaltigt und erwürgt, Ellroy war damals zehn Jahre
alt. Bevor er Ende der Siebziger mit dem Schreiben begann,
Joel Saget / AFP
Autor Ellroy: Höllischer Spaß
lebte er zeitweise auf der Straße, war im Gefängnis und dro-
genabhängig. Heute scheint er sein Kindheitstrauma anders
zu verarbeiten. Rothaarige Frauen – wie seine Mutter – spie-
len in vielen seiner Bücher eine entscheidende Rolle. Auch
in »Jener Sturm« taucht eine Rothaarige als Hauptfigur auf,
sie verantwortet einen Ellroy-typisch sehr blutigen Autounfall.
Vielleicht muss man aber auch nicht zu viel küchenpsy-
chologisieren. Ellroy zeigt wieder und wieder, wie Verdor-
benheit ins Verderben führt. Ist das seine Moral? Wohl eher
nicht. Ellroys Haltung ist im Kern amoralisch, in seinen Bü-
chern tun böse Menschen böse Dinge, und Ellroy hat hölli-
schen Spaß daran – einen Spaß, dem er alles unterordnet,
auch historische Tatsachen. Im aktuellen Buch taucht unter
anderem Orson Welles auf. Der Regisseur von »Citizen Kane«
dient Ellroy wortwörtlich als Prügelknabe, er wird zusam-
mengeschlagen und zu Spitzeldiensten gezwungen. Ellroy
dichtet ihm zudem an, Nazipornos gedreht zu haben.
976 Seiten dick ist »Jener Sturm«. Ellroy vergleicht sich
gern mit Großkomponisten wie Beethoven. Aber wären seine
Romane Musik, es wären Symphonien des Grauens.
Marcus Müntefering
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Cieschinger, Johannes Eltzschig, Klaus Falkenberg,
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 Nachrufe
Birol Ünel, 59 Hotels, Kliniken, Letztere
Der aus der Türkei stam- betrieb er auch. Seine Liebe
mende Schauspieler wurde zur Kunst entflammte
stets mit einem Film in Ver- angeblich in einer Galerie
bindung gebracht: »Gegen auf Sylt, unter anderem die
die Wand« (2004). Regis- Werke des gleichaltrigen
seur Fatih Akin erzählt Joseph Beuys und von
darin die Geschichte eines Andy Warhol hatten es ihm
Mannes und einer Frau, die angetan. Als Marx’ Bestand
zueinanderfinden, weil sie zu groß wurde, um ihn in
ihr Leben beenden wollen – den eigenen Wänden auf-
und sich dann in aller Ra- zubewahren, wurde er Leih-
dikalität aneinanderklam- geber. In Berlin baute die
öffentliche Hand für seine
Kunst den einstigen Ham-
burger Bahnhof zum Muse-
um um. Immer wieder gab

All Mauritius Images

es auch Konflikte, Marx

Pascal Le Segretain / Getty Images

drohte mehr als einmal, die
Werke abzuziehen. Ihm
wiederum wurde vorge-
worfen, das Museum als
Diana Rigg, 82 Verkaufsraum zu nutzen,
Eine solche Frau hatten viele noch nie gesehen, im Film von dort aus Objekte zu
nicht und schon gar nicht im wirklichen Leben. Als die veräußern. Ihm täten sol-
britische Schauspielerin 1965 in der Fernsehserie »Mit che Verkäufe selbst weh,
Schirm, Charme und Melone« die Agentin Emma Peel mern. Für Akin und die sagte er in einem Interview:
spielte, wurde sie im Nu zum Pop-Phänomen. Eine Karate- Hauptdarstellerin Sibel »Die Liebe zu den Bildern
kämpferin, die im schwarzen Catsuit daherkam und den Kekilli war es der Beginn bleibt doch.« Erich Marx
Männern zeigte, dass alles, was sie tat, Hand- und Fußkan- einer großen Karriere, für starb am 9. September in
te hatte. Gewitzt, schlagfertig, charmant – Rigg machte aus Ünel, den Darsteller des dem kleinen Schweizer Ort
Emma Peel eine einzigartige Heldin, die von weiblichen Cahit, blieb es ein einsamer Grindelwald. UK
wie männlichen Zuschauern gleichermaßen verehrt wurde. Höhepunkt. Auch wenn er
Schon bald war ihr der Bildschirm zu klein, sie sprengte noch viele weitere Filme Ronald Bell, 68
ihn mit ihren explosiven Auftritten und war 1969 auf der drehte, überstrahlte seine Der amerikanische Sänger
Leinwand zu sehen – ausgerechnet im Bond-Film »Im Performance in »Gegen die und Komponist war Grün-
Geheimdienst Ihrer Majestät« an der Seite des Superagen- Wand« alles. Er war kein dungsmitglied der Funk-
ten und Frauenhelden. Doch 007, gespielt von George Method Actor, der sich in Band Kool & the Gang und
Lazenby, verliebte sich so sehr in die von ihr gespielte Grä- eine Rolle versenkt, son- schrieb an Hits wie »Ladies’
fin, dass er sie heiraten und seine Lizenz zum Töten dern einer, der die Chance Night« mit. Mehr als 20
zurückgeben wollte. Man konnte ihn gut verstehen: Die bekam, sich nackt und un- Alben veröffentlichte er mit
schwermütige Anmut und die Geistesschärfe, mit der geschützt vor eine Kamera der Gruppe und verkaufte
sie Bond in den Dialogen Paroli bot, waren betörend. Rigg zu stellen und seine Narben davon mehr als 70 Millio-
hätte ein Kinostar werden können, doch sie zeigte ihr zu zeigen, seinen Schmerz nen Exemplare. In den
Talent später vor allem auf den Bühnen Englands und über- und seine Wut. Dass hier Achtzigern brachte Bell,
nahm in Filmen und Serien Nebenrollen, so etwa in »Game einer mit seinen eigenen der auch unter seinem mus-
of Thrones«. Diana Rigg starb am 10. September. LOB inneren Dämonen rang, gab limischen Namen Khaylis
seinem Auftritt eine Wucht, Bayyan bekannt ist, Songs
die man nie mehr verges- wie »Celebration« heraus,
Uli Stein, 73 sen konnte. Birol Ünel, der die heute noch gern auf
Obwohl Deutschland nicht für seinen Humor bekannt ist, Alkoholiker war und zeit- Tanzflächen gespielt wer-
kann man hier ganz gut vom Witz leben, wenn man fleißig weise obdachlos, starb den. Ronald Bell starb am
ist. Wie Uli Stein, der eigentlich Ulrich Steinfurth hieß am 3. September in Berlin 9. September auf den Vir-
und seit den Siebzigerjahren mit scheinbar unerschöpfli- an Krebs. KA gin Islands. LOB
cher Regelmäßigkeit Knollennasen-Cartoons veröffentlich-
te. Steins Humor war nicht gerade feinsinnig, kam aber Erich Marx, 99
extrem gut an. Die Gesamtauflage seiner Bücher betrug Der Unternehmer und
mehr als 11 Millionen, dazu kommen 200 Millionen ver- Sammler war ein Selfmade-
kaufte Postkarten und viele Merchandiseartikel, von der man. Im April 1921 kam er
Krawatte bis zum Computerspiel. Auslandsausgaben seiner in einem badischen Dorf
John Lamparski / Getty Images

Cartoons hatten weniger Erfolg, vermutlich auch weil ihr zur Welt, in bescheidenen
Witz tief verwurzelt war in deutscher Reihenhausspießig- Verhältnissen. Nach einem
keit. Zuletzt machte er durch Abmahnungen unlizenzierter Jurastudium und Anstellun-
Verwendung seiner Cartoons im Internet von sich reden. gen in Verlagen hatte er in
Uli Stein, der an Parkinson litt, starb am 29. August in der der Baubranche Erfolg.
Wedemark. RED Er errichtete Wohnungen,

DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020 125

 Personalien

Stilikone in
Secondhand
G Die Schauspielerin und Autorin
Michaela Coel, 32, wurde von der britischen
Ausgabe der Zeitschrift »Vogue« gerade in
ihre Liste der 25 einflussreichsten Frauen
des Jahres gesetzt. Einer der Gründe dafür
ist der Erfolg ihrer Fernsehserie »I May
Destroy You«, die im Juni Premiere hatte
und ab Oktober auf Sky gezeigt wird. Die in
London geborene Tochter ghanaischer
Eltern spielt darin nach eigenem Drehbuch
eine junge, erfolgreiche Autorin, die eines
Morgens mit einer Kopfwunde aufwacht
und sich kaum erinnern kann, was am
Abend zuvor passiert ist. Als ihr klar wird,
dass sie betäubt und sexuell missbraucht
wurde, macht sie sich auf die Suche nach
dem Täter, um sich an ihm zu rächen. Die
Kritiker zeigen sich begeistert von Coel,
preisen ihr »vulkanisches Talent«, ihre »fes-
selnde« Präsenz und ihren düsteren Witz.
Mit dem Rummel um die eigene Person geht
sie lässig um und scheint wenig Wert darauf
zu legen, besonders glamourös zu wirken.

Vittorio Zunino Celotto / Getty Images

Bei einem Fotoshooting für den »Guardian«
trug sie bewusst ausschließlich Secondhand-
kleidung. »Wir sollten alle mal über unsere
Kaufgewohnheiten nachdenken«, so Coel.
Sie wolle niemanden belehren, sei aber da-
gegen, sich ihren Stil von den großen Mode-
labels »mit deren vielem Geld und deren
Marketing-Power« diktieren zu lassen. LOB

Ruhe an der Rute kers, die im britischen Maga-

G Zu Büchern hat der eher
grimmige und bekannt laute
Musiker Adrian Smith, 63,
einer der Gitarristen der briti-
schen Heavy-Metal-Band
Francesco Castaldo / ZUMA Press / imago images
zin »Kerrang« nachzulesen
sind, ist ein Buch, das er
selbst geschrieben hat – über
seine Angelleidenschaft und
seine Erfahrungen im Show-
geschäft. Das Werk »Mons-
zum Angeln an einen tristen
Kanal in East London mitge-
nommen worden, so Smith.
Seit Jahren sitze er nun in der
Regel dreimal pro Woche an
der Themse, wenn er nicht
gerade in Kanada oder Neu-

Iron Maiden, ein eher kompli-
ziertes Verhältnis. Mit bestem
Vorsatz zum Lesen nehme er
öfter ein Buch zum Angeln
mit, so Smith, »aber ich schla-
ge es dann doch niemals auf.
Weil ich viel lieber das Was-
ser betrachte, dort ist immer
etwas los«. Anlass solcher
Bekenntnisse des Rockmusi-
ters of River & Rock: My Life
as Iron Maiden’s Compulsive
Angler«, erschienen bei
Virgin Books, besteht aus
Anekdoten von Rockerexzes-
sen und schwärmerischen
Bekenntnissen zum Angel-
sport. Schon während seiner
Jugend in bescheidenen Ver-
hältnissen sei er vom Vater
seeland die Angel auswerfe.
Smith, der auf der Bühne
meist finster und martialisch
auftritt, behauptet, er werfe
jeden Fisch, den er fange,
zurück ins Wasser. Es gehe
ihm darum, zur Ruhe zu kom-
men. »Beim Angeln kannst
du am Flussufer sitzen und
dein Leben ordnen.« HÖB

126 DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020

Frauen mit Schmackes,
Männer mit Macken
G Hollywoodstar Jane Fonda,
82, glaubt nicht, dass man
mit dem Alter zwangsläufig
weniger Freunde findet.
Man suche sie sich nur
genauer aus, vor allem die
Freundinnen. Das sagte
sie Anfang des Monats in
ihrer Internettalkshow »Fire
Drill Fridays«, als sie mit
ihren Schauspielkolleginnen
Mary Steenburgen und
Candice Bergen über
Umweltprobleme diskutier-
te. Das Format geht auf
Aktionen des vergangenen
Jahres zurück, als Fonda vor
dem Weißen Haus gegen
Donald Trumps Klimapolitik
protestierte. Die Schauspie-
lerin wurde insgesamt fünf-
mal verhaftet und immer
wieder publicityträchtig in
Handschellen abgeführt.
In ihrem neuen Buch »What
Can I Do: My Path from
Climate Despair to Action«,
das soeben in den USA
erschienen ist, beschreibt sie,
wie sich ihr eigenes Umwelt-
bewusstsein entwickelt hat.
Wie sie politisiert wurde und
ihr Vater, der Schauspieler
Henry Fonda, ihr angedroht
Rebellische Tochter
G Die Autorin Fatima Daas,
25, wird in Frankreich als Ent-
deckung des Literaturherbstes
gefeiert. »La petite dernière«
(etwa: »Nesthäkchen«) heißt
ihr hochgelobtes Erstlingswerk
über eine lesbische Maghrebi-
nerin aus dem Pariser Vorort
Clichy-sous-Bois, die religiös
und feministisch sein will und
dabei an Grenzen stößt. Es sei
keine Autobiografie, sagt die
Schriftstellerin über ihr Buch,
das im nächsten Frühjahr auf
Deutsch im Claassen Verlag
erscheinen wird. Fatima Daas
ist ihr Pseudonym und der
Name ihrer Protagonistin. »Ich
heiße Fatima …« beginnt jedes
Kapitel ihres Buches, in das sie
teils arabische Sprachelemente
einfügt. »Fatima ist die jüngste
habe, sie bei der Polizei
abzuliefern, sollte sie sich als
Kommunistin erweisen. Ihr
jüngster Protest in Washing-
ton wurde von Greta Thun-
Joel C Ryan / Invision / AP
berg und Naomi Klein inspi-
riert, ziviler Ungehorsam,
so Fonda, sei in ihren Augen
»die neue Norm«. Donald
Trump solle man aber den-
noch nicht hassen. Sie sehe
in ihm ein »verängstigtes
Kind«. Er erinnere sie an
Luft holen am Lido ren Ereignisse am Reichstag«
im Zusammenhang mit den
ihren früheren Mann, den G Die deutsche Schauspiele- Demonstrationen gegen die
Medienmogul Ted Turner. rin Mala Emde, 24, erlebt in Corona-Maßnahmen am
Der sei auch »traumatisiert« Venedig den bislang größten 29. August. Man dürfe von
gewesen. LOB Triumph ihrer Laufbahn. Sie dem Film keine Antworten
spielt die Hauptrolle in dem erwarten, warum sich junge
Film »Und morgen die ganze Menschen radikalisierten,
Welt«, der gerade im Wett- er stelle aber hoffentlich die
bewerb der Festspiele von richtigen Fragen. Auf dem
Venedig Premiere hatte. Festival über Filme und Poli-
In dem Politdrama der Regis- tik zu reden fühle sich für sie
seurin Julia von Heinz (siehe an, »als hätte ich die Luft
auch SPIEGEL 36/2020) ver- lange angehalten und könnte
körpert die in Frankfurt am nun endlich wieder atmen«.
Main geborene Emde eine Die Schauspielerin sagt, sie
politische Aktivistin, die im sei dankbar, dass das Festival
Rachel Luna / Getty Images
Kampf gegen Rechtsextreme trotz der Corona-Pandemie
zur Gewalt greift. Die inter- stattfinde und die Indepen-
nationale Resonanz auf dent-Filme feiere. »Die
den Film sei groß, berichtet Schönheit und Wichtigkeit
die Schauspielerin, wohl des Kinos« strahle auch
auch wegen »der furchtba- »durch die Masken«. LOB
Tochter des Propheten«,
schreibt sie an anderer Stelle,
»ein Name, den man nicht
beschmutzen darf.« Dieser
Anspruch, den Erwartungen
der Glaubensgemeinschaft, der
Familie und der Gesellschaft zu
entsprechen, ist schwer zu
erfüllen – ein universelles The-
ma, das viele Menschen
anspreche, so Daas. Sie hat viel
mit ihrer Protagonistin gemein:
Sie ist die jüngste Tochter einer
Familie, die aus Algerien einge-
wandert ist, ist gläubige Mus-
limin, lesbisch und Feministin.
Philippe Matsas / Opale / Leemage / laif
Sie wolle sich aber weder auf
ihre Religion, ihre Sexualität
noch auf ihre Herkunft reduzie-
ren lassen. »Ich schreibe nicht
für lesbische muslimische
Frauen und bin auch den Leu-
ten in Clichy nichts schuldig.
Ich schreibe für jedermann.« PE
127
 »Welch ein erfrischendes und doch die Probleme aufzeigendes
Titelbild. Nach all den Trumps …«
Lis Jäger, Mauer (Baden-Württemberg)
Gerechtigkeit wiederhergestellt
Nr. 37/2020 Frust und Freiheit –
Job, Familie, Wohnen: Wie das Homeoffice
unsere Welt verändert
Homeoffice wird sich als Testfeld, viel-
leicht auch als Zerreißprobe für viele Part-
nerschaften und Familien herausstellen –
lange bevor es in den Vorruhestand oder
in die Rentenzeit geht.
Klaus Hohm, Vögelsen (Nieders.)
Großes Kompliment für den Titel. Gut,
aus der Ferne betrachtet erscheint das
Titelbild, als wäre es aus der Zeugen-
Jehovas-Bibel entflohen, aber bei näherer
Betrachtung sind lohnende Details zu fin-
den. Kind mit Pistole, Gartentisch aus dem
Discounter, Mutter mit leerem Blick und,
ganz großes Kino, die Katze, die aus der
Tasse trinkt. Da nickt der Kenner wissend.
Mehr davon. Unbedingt. Das ist wirklich
Frust und Freiheit. So versuchen wir 2020
zu überleben.
Cornelia Schray, Dischingen (Bad.-Württ.)
Spätestens wenn die Kinder auf (gute) wei-
terführende Schulen gehen sollen, ist es
mit der Landlustseligkeit vorbei. Dann
setzt der Frust ein: lange Wege, mangelnde
Verkehrsanbindung, schlechte Versorgung,
miese Infrastruktur. Willkommen in der
Realität des Homeoffice auf dem Land.
Dr. Christian Harms, Freiburg
Ich arbeite seit vier Jahren zu 100 Prozent
von zu Hause aus als Projektmanagerin
für Pharmafirmen. Ich kann mir nichts an-
deres mehr vorstellen. Dies wurde nicht
durch Covid-19 verursacht, sondern durch
eine komplett verfehlte Verkehrspolitik,
in meinem Fall in der Metropolregion
Rhein-Main-Neckar. Anstatt vorausschau-
end und weitsichtig Straßen und den öf-
fentlichen Nahverkehr auszubauen, rea-
giert die Politik verspätet, sodass die we-
nigen Rheinbrücken zusammenbrechen
und stundenlange Staus die Regel sind.
Daher rührt mein Entschluss, nur noch
von zu Hause aus zu arbeiten, weil ich
nicht Jahre meines Lebens sinnfrei im
Stau stehen möchte. Somit kann ich aus
eigener Erfahrung vielen Schlussfolgerun-
gen Ihres Artikels zustimmen. Allerdings
liegen Sie in einem Punkt falsch: Es gibt
keine neue Gerechtigkeitsdebatte. Der er-
wähnte Busfahrer, der nicht im Homeoffice
128
arbeiten kann, pendelt vielleicht jeden
Tag vom Hunsrück nach Frankfurt, weil
er sich dort keine Wohnung leisten kann.
Wenn die gutverdienenden Yuppies auf
das Land ziehen, wird dies im Gegenzug
in den Städten Entlastung auf dem über-
teuerten Immobilienmarkt bringen. Somit
wird eher Gerechtigkeit wiederhergestellt.
Ganz zu schweigen von der Entspannung
auf den überlasteten Straßen, von der alle
profitieren.
Dr. Christine Stridde, Bechtheim (Rhld.-Pf.)
Michael Kappeler / dpa
Berliner Berufsverkehr 2016
Die Veränderung unserer Arbeitswelt
durch Corona könnte sich auch weiterent-
wickeln zu einer Postwachstumsgesell-
schaft mit mehr Teilen, Tauschen, Reparie-
ren, Selbermachen, regionaler und lokaler
Vernetzung. Damit ginge ein schrittweiser
Rückzug aus einer profit- und geldgetrie-
benen Erwerbswirtschaft einher.
Prof. Dr. Volker Stahlmann, Ottensoos (Bayern)
Überangebot an Erdgas
Nr. 36/2020 Die deutsch-russische Pipeline
Nord Stream 2 ist von US-Sanktionen
bedroht – scheitert sie im letzten Moment?
Um nicht nur Deutschland, sondern auch
die EU zu knechten, wird mit Boykott ei-
nes zuverlässigen Lieferanten gedroht. Da
sollten doch Deutschland und Europa die
USA machtvoll auf deren Unverschämt-
heiten hinweisen. Leider sieht es zurzeit
so aus, als wäre auf Russland mehr Verlass
als auf den großen Bruder im Westen.
Hagen Lüttge, Fuchstal (Bayern)
Anders als in vielen anderen Fällen wird
bei Nord Stream 2 das Geschäft von den
politischen und menschenrechtlichen Ge-
gebenheiten im Herkunftsland abhängig
gemacht. Die Sorge Polens, der Ukraine
und der baltischen Länder, vom Gas abge-
schnitten zu werden, ist nicht begründet.
Sie können doch problemlos über Deutsch-
land versorgt werden. Die Angst, von
Russland abhängig zu werden, ist ebenfalls
unbegründet. Es gibt ein Überangebot an
Erdgas, auf eine Drosselung der Lieferung
würden andere Anbieter nur warten. Auf
die Drohungen aus den USA sollten wir
nicht eingehen. Es ist keine Lösung, wenn
jedes deutsche Unternehmen vor Ab-
schluss eines Geschäfts die Genehmigung
von Trump oder Biden einholen muss. Auf
solche Freunde kann man verzichten.
Udo Kykillus, München
Keine coolen Jungs
Nr. 36/2020 Der Philosoph Richard David
Precht und der Investor Frank Thelen im
SPIEGEL-Streitgespräch über die German
Angst vor der digitalen Zukunft
Die Debatte, ob die Technik und neue Er-
findungen eher ein Segen oder ein Fluch
für die Menschheit sind, ist so alt wie die
Technik selbst. Dabei ist es ganz einfach:
alles anwenden, was sich für die Bedürf-
nisse der Menschen bewährt hat, und alles
ächten, was nur Elend und Zerstörung
bringt, zum Beispiel Waffen und Bomben.
Technik oder künstliche Intelligenz sind
nicht das Problem. Das Problem ist, wie
der Mensch sie anwendet.
Dieter Rometsch, Neubulach (Bad.-Württ.)
Herr Thelen scheint der Prototyp seiner
Generation zu sein, der es darum geht,
Spitzengewinne zu maximieren und Kos-
ten zu sozialisieren, ohne Rücksicht auf
gesellschaftliche und naturgegebene Zu-
sammenhänge.
Dr. Udo Küppers, Bremen
Diese Diskussion über gesellschaftspoliti-
sche Entwicklungen halte ich für sehr för-
derlich. Vermisst habe ich den Blick auf
das Ziel. Was müssen künstliche Intelli-
genz und Digitalisierung leisten, um für
die Bürger die Lebenssituation zu verbes-
sern? Was sind technologische Sackgassen,
und wo hängen wir wieder einmal den pro-
gressiven Ideen hinterher? Es kann nicht
darum gehen, den Falschparker zu erwi-
schen, was ist mit dem Politiker, der zu
wenig gegen die Milliardenpleiten bei
WestLB, Hypo Real Estate oder Wirecard
getan hat? Wie können uns Technologien
helfen, den Schaden für die Bevölkerung
zu minimieren?
Friedhelm Tonk, Köln
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
 Briefe
In einem Punkt muss ich Herrn Thelen wi- Soweit ich weiß, ist Richard David Precht
dersprechen: Techies sind nicht coole weltanschaulicher Materialist. Da er als
Jungs, sie machen nur etwas Cooles: Sie solcher den Menschen für eine Maschine
nutzen die Erkenntnisse der Naturwissen- aus Biomasse hält, hat sein Vorwurf an
schaft und machen daraus Anwendungen – Elon Musk, er beschreibe den Menschen
zähmen also die Natur für den Menschen. als defizitäre Maschine, keine Grundlage.
Was daran uncool ist: dass die Techies vor Wäre Precht das Gegenteil, also Anhänger
lauter Begeisterung über das, was sie da des weltanschaulichen Idealismus, hätte
geschaffen haben, stets vergessen zu fra- er zum Beispiel Goethe auf seiner Seite.
gen, was das bewirkt. Die Argumentation Der lässt seinen »Zauberlehrling« sich
von Herrn Precht dann als Bedenkenträ- vom Göttlichen abwenden und sein Heil
gerei abzutun halte ich angesichts der rea- in immer mehr Technik suchen, er droht
len Auswirkungen von Technik auf unser hier jämmerlich zu scheitern, bis er ver-
Leben und unsere Gesellschaft für zu ober- zweifelt nach dem Meister beziehungswei-
flächlich und vor allem für wenig zukunfts- se Gott ruft. Es sieht so aus, als wäre ein
orientiert. Das Hopping vom Diesel zum gelingender Umgang mit der Technik eine
E-Auto und demnächst zum Wasserstoff- Frage des Menschenbildes, also letztlich
auto und möglicherweise sogar wieder zu- der Weltanschauung.
rück zu den Verbrennern mit E-Fuels zeigt, Ernst Schlingmann, Aurich (Nieders.)
dass das neu Realisierte nicht immer gleich
das Beste sein muss. Persönliches Fazit, da Ziel wird nicht erreicht
ich bis heute selbst als Techie durch die
Nr. 36/2020 Deutschlands Rückstand
Welt laufe: Es ist immer wieder sehr müh-
beim Breitbandausbau ist das Ergebnis
sam zu verstehen, dass nicht alles, was fataler Marktgläubigkeit
»technically sweet«, auch fortschrittlich ist.
Die Balance zwischen Fortschrittsdenken Seit nunmehr acht Jahren wartet unsere
und Folgenabschätzung zu finden und sich Straße, 20 Kilometer von der NRW-Lan-
dann dieser Diskussion stellen zu können – deshauptstadt Düsseldorf entfernt, auf den
das ist etwas, was dem Techie oftmals fehlt. Glasfaserausbau. Verschleppt wurde dies
Wahrhaft coole Techies sollten das leisten von unserer kommunalen Behörde und
können, leider werden sie darauf kaum dem Bürgermeister. Gerade in diesen Zei-
vorbereitet. ten sollte nun jeder begriffen haben, dass
Ralph Dreher, Siegen (NRW) der digitale Ausbau schnellstens durchge-
führt werden muss.
Ich bin alt und Oma, aber weder von Walter Bäumer, Ratingen (NRW)
Herrn Precht noch von Herrn Thelen. Was
haben diese Männer für ein Bild von alten In der Analyse fehlt, dass sich der Bund
Frauen? Bezeichnenderweise ist sehr sel- um seine Verantwortung drückt. Denn ei-
ten vom armen Opa die Rede. Sicher ist gentlich muss der Bund für den Glasfaser-
es so, dass vorwiegend ältere Rentnerin- ausbau sorgen. Stattdessen überträgt er
nen von Altersarmut betroffen sind. Dann diese Aufgabe den Kommunen, indem er
sollte man sie aber auch so benennen, ich Zuschüsse gewährt. Folge: Jede Kommune
rede ja auch nicht von »Mama« oder macht, was sie will, Beraterfirmen verdie-
»Papa«, wenn ich von 30- oder 40-jährigen nen sich wegen des komplizierten Förder-
Menschen spreche. Ich finde die Wortwahl verfahrens eine goldene Nase, und der
respektlos und herablassend. Wenn Herr Bund spart sich 10 bis 20 Prozent der In-
Thelen glaubt, der Satz »Weniger ist mehr« vestitionskosten, da dies als Eigenanteil
bezöge sich auf die gesamte Weltbevölke- bei den Kommunen verbleibt. Sehr ge-
rung und nicht auf die vorwiegend westli- schickt eingefädelt, nur das Ziel wird halt
che Wegwerfgesellschaft, ist mit ihm darü- nicht erreicht.
ber nicht ernsthaft zu sprechen. Außerdem Thilo Gawlista, Ensdorf (Bayern)
finde ich es interessant, dass der Philosoph
und der Investor sich doch oft einig sind, Der terrestrische Ausbau der Bandbreiten
zum Beispiel über das bedingungslose ist tatsächlich eine Blamage für ganz
Grundeinkommen. Deutschland. Aber warum kein Hinweis
Barbara Palka-Gester, Aachen auf das, was sich über unseren Köpfen ab-
spielt? Dort werden, mal wieder von den
bekannten amerikanischen Unternehmen,
Costfoto / Barcroft Media / Getty Images
Milliarden in ein Internet-Satelliten-Sys-
tem investiert. Hunderte Satelliten sind
schon in der Umlaufbahn. Es ist nicht
mehr lang hin, dass es in Betrieb gehen
wird. Wird es in ein paar Jahren noch eine
deutsche Telekommunikationsindustrie ge-
ben? Darüber vermisse ich massiv eine zu-
kunftsorientierte Berichterstattung.
Besucherin bei Digitalmesse Dr. Detlef R. Hartmann, München
Satire darf alles
Nr. 36/2020 Zwischen Shitstorm und
Moralbeflissenheit – der Witz in Deutschland
steckt in ernsthaften Schwierigkeiten
Die sogenannte Political Correctness hat
die Gegenwartssatire ihrer Ecken, Kanten
und Bosheiten beraubt mit der Folge, dass
aktuelle »Satiriker« so gut wie nichts mehr
riskieren. Das war zu Zeiten der Mensch-
werdung der Satire in Kurt Tucholsky ganz
anders. Sein Artikel von 1919 »Was darf
die Satire?« sollte immer noch oder besser
endlich wieder gelten: »Satire ist eine
durchaus positive Sache … Der Satiriker
ist ein gekränkter Idealist: Er will die Welt
gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt
er gegen das Schlechte an … Die Satire
muss übertreiben und ist ihrem tiefsten
Wesen nach ungerecht … Sie bläst die
Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird …
Was darf die Satire? Alles!«
Burkhard Vesper, Hamburg
Marcus Simaitis / laif
Komiker Nuhr
Das elfte Gebot ist vom Herrn schon vor
langer Zeit Robert Gernhardt übergeben
worden, es lautet: »Du sollst nicht lärmen.«
Folglich kann es sich bei Herrn Königs Ge-
bot höchstens um das zwölfte Gebot han-
deln – oder der Herr hat sich verzählt.
Volker Aurich, Schwäbisch Hall (Bad.-Württ.)
Warum tun sich viele heutzutage so
schwer mit Satire? Vielleicht ist es ja so:
Während wir sonst auch bereit sind, über
uns selbst zu lachen, ist das zu Zeiten von
Fake News, Hate-Speech und Shitstorms
anders. Dann lässt Satire das Fass überlau-
fen, und das Lachen vergeht. Eine unschö-
ne und bedauerliche Entwicklung.
Patrick Zeier, Groß-Gerau (Hessen)
»Eine plurale Gesellschaft ist keine Spaß-
gesellschaft.« Diesen Satz auf Seite 104
musste ich mehrmals lesen. Welch ein Ur-
teil für eine multikulturelle Gesellschaft!
Sollte der SPIEGEL auf seine alten Tage
wirklich die rosarote Brille abgenommen
haben und der Realität ins Auge sehen?
Rainer Trendelberend, Düsseldorf
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
(leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
sowie digital zu veröffentlichen und unter
www.spiegel.de zu archivieren.
129
 Hohlspiegel
Von Bild.de
Von der Tagesschau-App:
»Allerdings wird bei Gutverdienern der
Kinderbreibetrag verrechnet.«
Aus dem »Trierischen Volksfreund«
Aus dem Programm der Volkshoch-
schule Bad Kissingen und Hammelburg:
»Seniorenuniversität:
Fossilien erzählen Geschichte(n)«
Aus der »Lippischen Landeszeitung«
Aus einer Bekanntmachung in den
»Lindener Nachrichten«: »Aufgrund der
neuen Verordnung des Corona-Virus
(03.07.2020), können ab sofort wieder
Vermietungen für alle städtischen
Grillplätze und Grillgebäude bis auf
weiteres stattfinden.«
Aus der »Mainzer Allgemeinen«
Auf der Kinderseite des »Mindener
Tagblatts« über weiße Kittel:
»Darum hat sich weiß mit der Zeit gegen
andere Farben durchgesetzt. In vielen
Berufen ist das der Fall. Der Schornstein-
feger trägt beispielsweise schwarz und
der Koch ebenfalls weiß.«
Aus der »Meinerzhagener Zeitung«
130
Rückspiegel
Zitate
Die »Berliner Zeitung« über die Weiter-
verwendung von SPIEGEL-Zitaten
(»Ich bin nicht die Sprachpolizei, und ich
will auch keine haben«, Nr. 45/2019):
Was macht eigentlich Mathias Döpfner?
Der meinungsfreudige Vorstandschef des
Medienhauses Axel Springer (»Bild«,
»Welt«) hat sich in allerjüngster Vergan-
genheit mit relevanten Wortmeldungen
ein wenig zurückgehalten. Dennoch moch-
te der Publizist Gabor Steingart in der ak-
tuellen Dienstagsausgabe seines Newslet-
ters »Morning Briefing« nicht auf Weishei-
ten des Verlagsmanagers verzichten. Er zi-
tierte in großen Lettern einfach aus einem
Interview, das Döpfner dem SPIEGEL be-
reits im vergangenen Jahr gegeben hatte.
In dem Gespräch konstatierte der Sprin-
ger-Chef damals, dass sich die Räume des
Sagbaren verengt hätten. Auch dank des
Döpfner-Interviews wurde dieses ur-
sprünglich im rechtspopulistischen Milieu
Rätsel- angesiedelte Narrativ in bürgerlichen Krei-
sen heimisch … Bei der netten Referenz
an Döpfner hat Steingart vergessen, auf
haftes dessen Rolle als Geldgeber hinzuweisen.
Aber bestimmt war das nur ein Versehen.
Imperium Der »Tagesspiegel« zu einer SPIEGEL-
Geschichte über Olaf Scholz
(»Augenmaß und Bazooka«, Nr. 24/2020):
Olaf Scholz hat sich im Frühjahr mit dem
Die Rolle Russlands Reclam-Büchlein »Politik als Beruf« von
Max Weber ablichten lassen. Für eine
erscheint vielen SPIEGEL-Geschichte hat er es noch mal
gelesen und inszenierte sich als Politiker
undurchsichtig. mit guter Gesinnung, Verantwortung und
Augenmaß, wenngleich ihm Charisma et-
Ein Blick in die was fehlt. Der Bundesfinanzminister und
Geschichte macht SPD-Kanzlerkandidat versucht sich ja ge-
rade quasi als Fortsetzung der seriösen,
sie verständlich. mitunter langweiligen Politik Angela Mer-
kels zu empfehlen … Doch Scholz’ Anse-
hen und seine Glaubwürdigkeit haben nun
einige Schrammen bekommen.
Das Monatsmagazin »Musikexpress«
erinnert an den SPIEGEL-
Titel »Disco-Fieber« (Nr. 42/1978):
Im Text über den »Narziß
im Laser-Licht« wimmelt es
Jetzt im vor Formulierungen, die
den Eindruck erwecken, der
Handel Autor stünde vor der Disco-
Tür wie die Gaffer vorm Au-
tounfall: schlimm das alles,
aber weggucken kann man
auch nicht … Interessant ist der Subtext der
Titelgeschichte: Man dürfe eigentlich froh
sein, dass dieses Disco-Ding für »angepasst
adrette« Menschen im Begriff sei, die Zu-
mutung namens Rock abzulösen.
DER SPIEGEL Nr. 38 / 12. 9. 2020
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