Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Angela Sommer-Bodenburg
Rowohlt
Originalausgabe
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg, April 1980
Copyright © 1980 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg
Printed in Germany
Angela Sommer-Bodenburg
Antons Eltern
glauben nicht an Vampire.
Antons Mutter ist Lehrerin,
sein Vater arbeitet im
Büro.
in der Gruft
Schlotter-
stein ge-
sehen.
10
11
Gruftverbot
Während Anton die Tür hinter sich schloß, konnte er in dem
Licht, das vom Kellergang hereinfiel, gerade noch die
Fahrräder erkennen, die an der Wand lehnten, sowie eine große
Kiste, auf der sich zwei Gestalten schattenhaft abzeichneten.
Dann war alles dunkel, und es dauerte ein paar Minuten, bis
sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, das
durch zwei kleine Kellerfenster kam. Jetzt sah er, daß die
Gestalten Umhänge trugen und totenbleiche Gesichter hatten.
Vampire also! Der kleinere, schmächtigere war sicherlich
Rüdiger – aber wer mochte der zweite, größere und kräftigere
Vampir sein?
„Rüdiger?“ fragte Anton unsicher.
„Ja!“ kam die Antwort. „Warum setzt du dich nicht?“
12
„S-setzen? Wo denn?“
„Hier! Zu uns auf den Sarg!“
„Sarg?“ Dann war die große Kiste ein Sarg! Ein furchtbarer
Gedanke durchfuhr Anton: Wenn nun der Sarg für ihn war...
13
14
15
Falsches Spiel
Ohne Licht zu machen, rannte Anton durch den Kellergang,
die Kellertreppen hoch bis zum Fahrstuhl.
Was sollte er bloß seinen Eltern sagen, warum er noch mal in
den Keller müßte? Oder sollte er sich heimlich in die Wohnung
schleichen, um den Kellerschlüssel zu holen?
Aber er war schon viel zu lange weg gewesen, und wenn er
jetzt nicht gleich zurückkam, gingen sie bestimmt nach unten,
um nachzusehen! Vielleicht sollte er sich eine Ausrede
zurechtlegen? Ja, das war die richtige Idee! Erleichtert betrat er
den Fahrstuhl und fuhr nach oben.
„Anton?“ fragte seine Mutter, als er die Wohnungstür
aufschloß.
„Ja?“ sagte er mit seiner freundlichsten Stimme.
„Komm doch mal her! – Wo warst du so lange?“
„Ich? – Im Keller. Ich hab noch einen aus der Schule
getroffen.“
„So so“, sagte sein Vater spöttisch. „Im Keller, ja?“
„Natürlich nicht! Im Treppenhaus.“
„Und wen?“ fragte die Mutter.
„Andreas.“
16
17
Sargträger
„Endlich!“ empfing der große Vampir Anton im
Fahrradkeller. „Das hat ja eine Ewigkeit gedauert!“
„Ich – mußte meinen Eltern erst noch erzählen, wohin ich
gehe.“
„Und?“ rief Rüdiger. „Was hast du gesagt?“
„Daß ich zu einem Freund gehe.“
„Pah – Freund!“ zischte der große Vampir. „Hilf lieber beim
Tragen!“
„Und das Spiel?“ fragte Anton hilflos.
„Welches Spiel?“ Der Vampir musterte den Karton unter
Antons Arm. „Gib her!“ Damit packte er den Karton und ließ
ihn unter seinen Umhang verschwinden.
„He!“ protestierte Anton und sah Rüdiger hilfesuchend an.
Doch der zuckte nur mit den Schultern.
„Na los!“ brüllte der große Vampir. „Faß an! Du vorne,
Rüdiger hinten!“
„Und du?“ fragte Anton, während er den Sarg anhob.
„Ich halte die Tür auf!“
Der Sarg war schwerer, als er gedacht hatte – und Rüdiger
auch nicht gerade der Kräftigste! Ächzend erreichten sie
Antons Kellertür.
„Na?“ sagte der große Vampir und beobachtete grinsend, wie
sich Anton und Rüdiger die schmerzenden Finger rieben.
„W-wie habt ihr den Sarg bloß bis hierher bekommen?“
fragte Anton.
„Lumpi hat ihn getragen“, antwortete Rüdiger.
„Und zwar allein!“ rief Lumpi.
„Ach so“, murmelte Anton. Es war also tatsächlich Lumpi
der Starke. Ehrfürchtig sah er ihn von der Seite an. Sich mit
Lumpi anzulegen konnte lebensgefährlich werden!
„Willst du nicht endlich aufschließen?“ knurrte Lumpi.
18
19
20
Trübe Aussichten
Antons Eltern saßen noch immer vor dem Fernseher.
„Na, wie war’s?“ rief der Vater.
„Gut“, sagte Anton und wollte an der Wohnzimmertür vorbei
in sein Zimmer gehen. Er war hundemüde.
„Und wie war das Monopoly-Spielen?“
Anton blieb stehen. „Auch gut“, sagte er und gähnte.
„Hast du’s wieder mitgebracht?“
„Ja.“
„Komisch“, sagte der Vater, „ich hätte schwören können, daß
du eben ohne Monopoly-Spiel an der Tür vorbeigegangen
bist.“
„Hab’s schon in mein Zimmer gebracht.“
„So so. Und wie erklärst du dir, daß es hier auf dem
Fernseher liegt?“
„Auf dem Fernseher?“ sagte Anton erschrocken.
„Allerdings!“ rief der Vater. „Was sagst du nun?“
21
22
Morgenmuffel
Der nächste Tag war trüb und regnerisch. Gegen sechs Uhr
begann es schon zu dämmern. Antons Vater kam nie vor halb
sieben nach Hause, und Antons Mutter saß in ihrem Zimmer
und sah Aufsätze nach, wobei sie „keinesfalls gestört“ werden
wollte, wie sie erklärt hatte.
Die Gelegenheit, unbemerkt zu Rüdiger in den Keller zu
kommen, war also günstig! Leise ging Anton durch den Flur,
nahm den Kellerschlüssel und zog die Wohnungstür
geräuschlos ins Schloß.
Dann fuhr er mit dem Fahrstuhl nach unten. Niemand
begegnete ihm, und auch der Kellergang lag wie ausgestorben
da. Ein muffiger Geruch stieg ihm in die Nase, den er hier
unten noch nie bemerkt hatte – ob der von Rüdiger kam?
23
24
25
Faule Ausreden
Samstag war der Tag, an dem Anton gern lange schlief.
Wenn er gegen zehn oder halb elf aufwachte, hatten die
Eltern meistens schon gefrühstückt und waren zum Einkaufen
gegangen. Nur Antons Teller stand dann noch auf dem
Küchentisch, mit Brötchen und einem gekochten Ei unterm
Eierwärmer.
Doch an diesem Samstag erwachte Anton ganz früh. Er
machte Licht und sah sich in seinem Zimmer um – war er nicht
eben noch mit seinem Vater im Keller gewesen? Und hatte der
Vater nicht gerade den Sargdeckel öffnen wollen...? Aber nein!
Er mußte alles geträumt haben, denn er lag ja noch im Bett und
trug seinen Nachtanzug!
26
Er sah auf den Wecker: Viertel nach sieben! Sogar die Eltern
schliefen noch! Seufzend zog sich Anton die Decke bis zum
Kinn. Einschlafen würde er bestimmt nicht wieder, dafür war
er viel zu aufgeregt! Ob sein Plan klappen würde? Und wenn
nicht?
Er nahm sein neues Buch, „Gelächter aus der Gruft“, und
versuchte zu lesen. Aber was dort von den Schrecken der Gruft
berichtet wurde, kam ihm, verglichen mit dem, was ihn heute
morgen erwartete, geradezu lächerlich vor, und so legte er das
Buch beiseite.
Vielleicht sollte er Frühstück machen? Er stand auf und ging
ins Bad. Im Spiegel betrachtete er sein Gesicht. Richtig käsig
sah er aus – so wie die Eltern manchmal am Sonntag, wenn sie
zu lange gefeiert hatten! Er nahm den Seifenlappen und rieb
die Haut, bis sie rot wurde. Dann zog er sich an und ging in die
Küche. Er füllte die Kaffeemaschine, setzte den Milchtopf auf
den Herd und stellte den Eierkocher an.
Nachdem er das Frühstücksgeschirr aufgedeckt hatte,
überlegte er, ob noch etwas fehlte. Ach ja, die Brötchen! Er
wartete, bis die Eier fertig waren, dann lief er zum Bäcker und
holte sechs Brötchen. Na, wenn das keinen Eindruck bei den
Eltern machte! Er ging zur Schlafzimmertür und klopfte.
„Ja?“ fragte die Mutter verschlafen.
„Frühstücken!“ rief Anton. Ein paar Minuten vergingen.
Dann erschien die Mutter auf der Schwelle.
„Hast du wirklich Frühstück gemacht?“ fragte sie.
„Klar“, sagte Anton, als sei das nichts Besonderes, „und jetzt
kommt! Die Eier werden kalt!“
„Ja – gleich“, sagte die Mutter, „ich muß Vati wecken. Er
soll ruhig schon aufstehen, schließlich will er heute die Küche
machen!“
Ein Schauer durchfuhr Anton. Als ob er das vergessen hätte!
27
28
„Dann suchst du ihn eben jetzt!“ rief der Vater wütend. „Wie
kann man nur so lahm sein!“
„Bin ja schon unterwegs“, antwortete Anton.
„Laß ihn zumindest in Ruhe frühstücken“, sagte die Mutter
verärgert, „so wichtig ist der Kellerschlüssel auch nicht!“
„Ich hab’ sowieso keinen Hunger mehr“, murmelte Anton.
An der Tür blieb er stehen. „Fä-fängst du trotzdem schon
an?“ fragte er vorsichtig.
„Wie denn – ohne Werkzeug?“ knurrte der Vater.
„Nein, ich warte auf dich!“
Im Fahrstuhl sang Anton, so laut er konnte. Ein Siegesgefühl
erfüllte ihn: Sein Plan hatte geklappt! Niemand hatte erraten,
daß der Kellerschlüssel in seiner Hosentasche steckte!
Und wenn er am Nachmittag mit dem Schlüssel zurückkam,
würde es sich für den Vater nicht mehr lohnen, in den Keller zu
gehen. Außerdem wollten die Eltern heute abend ins Kino. Und
morgen, am Sonntag, kamen die Großeltern zu Besuch – da
konnte der Vater auch nicht in den Keller gehen!
Noch immer singend, schlug Anton den Weg zu seinem
Freund Ole ein, bei dem er bis zum Nachmittag Monopoly
spielen würde – natürlich mit Oles Spiel!
Später Besuch
Es war halb neun. Anton lag auf seinem Bett und hörte
Musik. Kurz vorher waren seine Eltern aufgebrochen, wie
immer in Eile. Auf Antons gewohnte Frage: „Und wann
kommt ihr wieder?“ hatte der Vater: „So um Mitternacht“
geantwortet.
Anton konnte es nur recht sein! Wahrscheinlich dachten
seine Eltern, er bliebe nicht gern allein – was ja auch im
allgemeinen stimmte, nur dann natürlich nicht, wenn ein guter
Film im Fernsehen lief! Zum Beispiel so ein toller Krimi wie
29
heute abend – er drehte sich zur Seite und griff nach der
Programmzeitung vor seinem Bett –, und noch dazu mit seinen
Lieblingsschauspielern!
Es klopfte am Fenster. Erschrocken hob Anton den Kopf. Die
Vorhänge waren noch nicht geschlossen, und er konnte eine
Gestalt vor seinem Fenster erkennen. War es Rüdiger? Oder
seine kleine Schwester Anna? Er merkte, wie sein Herz
schneller schlug.
Wieder klopfte es, und dann hörte er Rüdigers Stimme:
„Mach schnell!“
Er lief zum Fenster und öffnete es.
Mit einem Satz sprang der kleine Vampir ins Zimmer.
„Puh!“ schnaubte er. „Fast hätte sie mich erwischt!“
„Wer?“ fragte Anton.
„Tante Dorothee. Die spioniert draußen herum.“
„Was?“ schrie Anton. „Tante Dorothee? Weiß die etwa, daß
ich hier wohne?“
„Klar“, sagte der Vampir, und kichernd fügte er hinzu: „Aber
daß ich hier wohne, davon hat sie keine Ahnung!“
Anton war kreidebleich geworden. „Wo-woher weiß sie
denn, wo ich wohne?“
„Woher?“ sagte der Vampir und lachte. „Sie ist mir doch
immer nachgeflogen, bevor ich Gruftverbot bekam.“
Entsetzt starrte Anton ihn an. Hatte der kleine Vampir nicht
mal gesagt, Tante Dorothee sei die Schlimmste von allen...?
Wenn sie nun nachts an sein Fenster käme und klopfte und
wenn er dann ahnungslos öffnete...
„Und w-was wollte sie?“ stotterte er.
„Herausbekommen, wo mein Sarg ist!“
Der Vampir spähte hinaus in die Dunkelheit, rieb seine
knochigen Finger und lachte: „Diesmal bin ich schlauer als
sie!“
Anton zitterte noch immer. Der Gedanke, Tante Dorothee
könnte es auf ihn abgesehen haben, war zu schrecklich!
30
„Und m-morgen?“
31
Aber der Vampir lachte nur. „Doch nicht so, wie du denkst!
Anmalen mußt du dich!“
„Anmalen?“ fragte Anton verständnislos.
„Na klar! Habt ihr keine Babycreme? Keinen Lippenstift?“
„D-doch“, sagte Anton, „im Badezimmer...“
„Dann komm!“
32
33
34
35
„Und nun fliegen wir!“ erklärte der Vampir und ging zum
Fenster.
„Ich – trau’ mich nicht“, sagte Anton.
„Nicht?“ lachte der Vampir und knuffte ihn freundschaftlich
in die Seite. „Dann geht’s dir wie mir. Weißt du, wie ich mir
helfe? Ich schließe die Augen und fliege los!“
„Du hast auch Angst?“ rief Anton verwundert.
„Jetzt nicht mehr“, antwortete der Vampir, und dabei
schwang er sich vom Fensterbrett in die Nacht hinaus.
„I-ich auch nicht“, sagte Anton, schloß die Augen und – flog.
36
37
38
39
40
Mißtrauischer Empfang
Noch fiel Mondlicht auf die brüchigen Stufen und zeigte
Anton, wohin er seine Füße setzen konnte. Aber nach der
ersten Biegung wurde es stockfinster. Mit den Fußspitzen
tastend, suchte er sich seinen Weg, und mehr als einmal mußte
er sich an die kalte Turmwand klammern, um nicht zu stürzen.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis endlich auf einem
Absatz der Treppe ein matter Lichtschimmer auftauchte.
Dort stand der kleine Vampir. Beklommen sah Anton sich
um. Alles wirkte schaurig und düster: die schon halb
eingestürzte Treppe, die noch weiter in die Tiefe führte, die
feuchtglänzenden Mauern des Turmes mit ihren Spalten und
Öffnungen, in denen sicherlich Hunderte von Fledermäusen
hausten, und der dunkle Gang ins Innere der Ruine.
„Komm!“ sagte der Vampir und faßte ihn leicht am Arm.
„Wir wollen gehen.“
„Und wohin?“ fragte Anton zögernd.
„In den Festsaal“, antwortete der Vampir. „Hörst du die
Musik? Sabine die Schreckliche spielt auf der Orgel!“
Er betrat den Gang und zog Anton mit sich. Jetzt vernahm
auch Anton die fernen Orgelklänge, feierlich wie in einer
Kirche. „Und das spielt Sabine die Schreckliche?“ wunderte er
sich.
„Aber ja“, sagte der Vampir, und schwärmerisch fügte er
hinzu: „Wir Vampire lieben Musik!“
Sie kamen in eine große leere Halle, durch deren zerbrochene
Scheiben das Mondlicht hereinfiel. Scherben und Steine
bedeckten den Boden.
„Wir sind gleich da“, sagte der Vampir flüsternd. Sein
bleiches Gesicht hatte einen gespannten Ausdruck bekommen,
und seine Zähne schlugen mit ihrem scheußlichen Klicken
aufeinander. Eine noch größere Halle öffnete sich vor ihnen.
41
42
Er musterte Anton noch einmal von Kopf bis Fuß, jetzt aber
viel wohlwollender.
„Geht in Ordnung“, brummte er, „ihr könnt hineingehen!“
Anton und Rüdiger wechselten einen erleichterten Blick.
Gerade wollten sie eintreten, als der hagere Vampir Anton
bei der Schulter packte.
„Moment mal!“
Anton drehte sich zitternd um. „Ja?“
„Wie ist denn das Klima bei euch?“
„Das Klima?“ sagte Anton erschrocken. „Gu-Gut“, stotterte
er dann.
„Vielleicht komme ich euch mal besuchen“, erklärte der
Vampir und ließ seine Hand sinken. „Hier werde ich mein
Rheuma nämlich nie los!“
Damit stellte er sich wieder neben die Tür und sah
gleichmütig über Anton und Rüdiger hinweg in den Festsaal.
Tanzvergnügen
Auf der Schwelle blieb Anton stehen und hielt die Luft an.
Der Modergeruch war so stark, daß er einen Augenblick lang
glaubte, er müßte davonrennen. Dazu roch es nach Zwiebeln
und faulen Eiern. Der kleine Vampir sog die Luft in vollen
Zügen ein.
„Ah“, seufzte er, „wie das duftet!“
43
44
„Was?“ fauchte Rüdiger. „Lüften? Du bist wohl von allen
guten Vampiren verlassen!“ Und nachdem er sich ängstlich
umgesehen hatte, zischte er: „Laß das bloß keinen hören!
Damit verrätst du gleich, daß du kein Vampir bist! –
Außerdem wird nachher der große Duft-Preis verliehen“, fügte
er hinzu.
„Duft-Preis?“ fragte Anton verständnislos.
„Ja. Dem Vampir, der am kräftigsten riecht!“
In diesem Augenblick setzte die Orgelmusik wieder ein, und
sogleich erhoben sich die Vampire an den Tischen und gingen
paarweise in die Mitte der Halle.
„Komm“, sagte der kleine Vampir, „tanzen wir auch!“
„Wi-wir?“ stotterte Anton.
„Komm schon!“ Er hakte sich bei Anton ein und führte ihn.
Dabei fletschte er sein raubtierartiges Gebiß und nickte
freundlich nach allen Seiten.
„Du bist das Mädchen“, flüsterte er. „Du legst mir die Hände
auf die Schultern, beugst den Kopf zurück, und guckst mich
verliebt an!“
„Ich?“ stammelte Anton empört. „Als Mädchen?“
„Na klar! Das ist am unauffälligsten. Vampirkinder sehen
ohnehin alle gleich aus.“
Anton schluckte, aber angesichts der vielen Vampire, die
schon neugierig zu ihnen herübersahen, schien es ihm doch das
Beste zu sein, Rüdigers Anweisungen zu folgen. Also legte er
den Kopf in den Nacken und blickte träumerisch zur Decke,
während Rüdiger ihn im Kreis herumwirbelte, bis sich ihm
alles vor den Augen drehte.
„Mir ist schlecht“, ächzte er. Aber Rüdiger faßte ihn nur
noch fester.
„Du tanzt traumhaft!“ hauchte er.
„Ja?“ sagte Anton verwirrt. Er und – tanzen!
„Wirklich“, sagte der Vampir und kicherte. „Dagegen
müßtest du mal Lumpi sehen!“
45
„So?“ rief da eine heisere Stimme. „Was ist mit mir?“ Ein
großer Vampir löste sich aus der Menge und kam mit
langsamen, wiegenden Schritten auf sie zu. Es war Lumpi!
Anton erbleichte. Wenn er ihn nun verriete...
„Nichts ist mit dir“, sagte Rüdiger schnell.
„Aber ihr habt doch über mich gesprochen!“ rief Lumpi mit
sich überschlagender Stimme.
„Ich habe nur gesagt: da ist Lumpi“, erklärte Rüdiger, dem in
der Eile nichts Vernünftiges einzufallen schien.
„Und warum?“ knurrte Lumpi.
„Weil...“ sagte Rüdiger und sah Anton hilfesuchend an,
„mein Freund aus Italien wollte ein Autogramm von dir.“
„Ein Autogramm?“ Lumpi sah Anton aus den Augenwinkeln
heraus prüfend an. „Und wieso von mir?“
Rüdiger hob überschwenglich die Arme. „Das fragst du
noch?“ rief er. „Dein Ruf hat sich schon bis Italien
herumgesprochen!“
„Ehrlich?“ sagte Lumpi geschmeichelt, und plötzlich wurde
sein Gesicht dunkelrot. Schnell kehrte er um und verschwand
zwischen den Tänzern.
„Jetzt wissen sie’s“, murmelte Rüdiger.
„Wer?“ fragte Anton.
„Meine Familie. Lumpi wird ihnen berichten, daß ich hier
bin.“
„Ist das schlimm?“
„Mal sehen. Schließlich hab’ ich ja Gruftverbot. – Aber
Gruftverbot ist nicht Tanzverbot“, sagte er dann faßte Anton
um die Taille und schob wieder mit ihm los.
46
„Anna?“
Sie schlug verschämt die Augen nieder. „Lumpi hat mir
erzählt, daß ihr hier seid. Wollen wir tanzen?“
„Äh – ich“, murmelte Anton und sah ratlos von Anna auf
ihren Bruder, „ich bin schon vergeben.“
Anna kicherte. „An den da?“
Rüdiger machte einen Schritt zur Seite. „Bitte, ich überlasse
ihn dir!“
Anna knickste. „Danke“, sagte sie. „Übrigens“, meinte sie
dann zu Rüdiger, „wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich
lieber gehen.“
„Und warum?“
„Wenn Tante Dorothee dich sieht...“
Der kleine Vampir zuckte gleichmütig mit den Schultern.
„Hier ist nicht die Gruft“, knurrte er und drehte sich um.
„Wo-wohin gehst du?“ rief Anton, aber der kleine Vampir
war bereits ihren Blicken entschwunden.
„Jetzt läßt er mich einfach allein“, murmelte er.
„Aber du hast doch mich“, lächelte Anna Damit schlang sie
ihre Arme um Antons Hals und drängte sich an ihn. Anton
spürte, wie ihm ganz flau im Magen wurde – und das lag
bestimmt nicht an der schlechten Luft!
Während sie tanzten, betrachtete er sie verstohlen: sie hatte
die Augen geschlossen und summte leise mit. Ihr kleiner
kirschroter Mund lächelte, und ihre Wangen hatten sich rosig
verfärbt, als lebte sie wirklich. Nur ihr zerschlissener Umhang
erinnerte daran, daß sie ein Vampir war. Aber war sie das
überhaupt, solange sie noch keine Vampirzähne hatte?
Jetzt schlug sie die Augen auf. „Schön, nicht?“ flüsterte sie.
„J-ja“, stotterte Anton.
„Und wie findest du mich?“
„Dich?“ sagte er und schluckte. „Süß.“
47
48
49
„Wo bleibst du?“ rief die Stimme, und jetzt gab es keinen
Zweifel mehr: Das konnte unmöglich Anna sein! Aber wer
50
dann? Ihm fielen die Geschichten über Werwölfe ein, die
Rüdiger erzählt hatte...
Etwas leuchtete zwischen den Sträuchern. Er fühlte plötzlich
eine unerklärliche Sehnsucht, dort zu sein, und ohne sich
dagegen wehren zu können, machte er ein paar zögernde
Schritte –
Da wurde er von hinten am Umhang gepackt. „Anton!“ hörte
er es beschwörend rufen. Es war Anna!
„Schnell! Ins Haus! Da drüben, Tante Dorothee...“
Anton sah einen Schatten zwischen den Sträuchern
hervorkommen, der sich ihnen mit großer Schnelligkeit
näherte, aber da hatten sie die Tür erreicht und schlugen sie
hinter sich zu.
Am ganzen Körper zitternd, lehnte sich Anna gegen die
geschlossene Tür.
„Fast hätte sie dich gehabt“, flüsterte sie. „Und es wäre
meine Schuld gewesen.“
„Ich dachte, sie sei auf dem Fest“, sagte Anton.
„Das dachte ich auch“, sagte Anna leise. Ihre Lippen bebten,
und ihr Gesicht war kreideweiß geworden. „Anton, du darfst
nie wieder allein da draußen im Mondlicht bleiben!“
„N-nein“, sagte Anton verblüfft, „das wollte ich auch
nicht...“
„Ich weiß“, sagte sie beschämt. „Wollen wir jetzt zum Fest
zurückgehen?“
„Und Tante Dorothee?“ fragte Anton.
„Die kann dir dort drinnen nichts tun“, erklärte Anna.
„Deshalb wollte sie sich ja vorher stärken.“
„Stärken nennst du das?“ sagte Anton empört und faßte sich
an den Hals.
Sie lachte. „Komm! Vielleicht wird schon der Duft-Preis
verliehen.“
51
52
53
54
Heimflug
„Und wenn mich nun Tante Dorothee erwischt?“ fragte
Anton, als sie auf die Plattform des Burgturms hinaustraten.
„Ach“, sagte Anna und machte eine abwinkende
Handbewegung, „die wird noch im Garten lauern.“
Sie schwang sich in die Luft, und auch Anton breitete die
Arme aus und flog.
„Frische Luft!“ seufzte er und atmete tief ein.
„Und mein Mufti eleganti?“ fragte Anna beleidigt. „Riechst
du mein Parfüm gar nicht?“
55
56
57
58
59
60
61
62
„Und warum?“
„Warum?“ Eine passende Ausrede hatte er sich noch gar
nicht überlegt. „Der Trainer muß zum Zahnarzt“, sagte er.
„Ausgerechnet dann, wenn ihr Training haben sollt?“ Die
Mutter schüttelte ungläubig den Kopf. „Dann kommst du ja im
Dunkeln nach Hause.“
„Na ja“, sagte Anton und kicherte in sich hinein, „ist doch
nicht so schlimm. Außerdem ist Ole auch dabei.“
„Ach so. Na gut.“ Die Mutter wandte sich wieder den
Mathematikarbeiten zu, die sie nachsehen wollte.
Anton ging in sein Zimmer und las bis kurz vor sechs. Dann
nahm er seinen Sportkoffer vom Schrank, suchte den
Kissenbezug mit Rüdigers Sachen hervor und stopfte den
Umhang und die Strumpfhose zu seinem Turnzeug.
Natürlich ging er heute nicht zum Training, das wie immer
von fünf bis sechs stattfand. Er würde von sechs bis Viertel vor
sieben bei Ole sein, dem er schon Bescheid gesagt hatte, und
anschließend, sobald es dämmerte, den kleinen Vampir im
Keller besuchen.
„Wann kommst du wieder?“ fragte die Mutter, als er sich
verabschiedete.
„Kurz nach sieben.“
63
64
65
66
67
Aufregung im Kellergang
Sein Lieblingslied „War einst ein kleines Segelschiffchen“
vor sich hin summend, kam Anton am Dienstag nach Hause.
Sie hatten die Diktate zurückbekommen, und Anton, der sonst
nur Dreien oder Vieren schrieb, hatte eine 2+!
Dafür würde er sich ein Buch wünschen dürfen, und er wußte
auch schon, welches: „Vampirgeschichten für
Fortgeschrittene“.
Mit Schwung stieß er die schwere Haustür auf und ging zum
Fahrstuhl hinüber. Dort blieb er plötzlich erschrocken stehen:
Aus dem Keller drang erregtes Stimmengewirr herauf, und
mehrmals kläffte ein Hund. Sollte das etwas mit Rüdiger zu tun
haben?
Er stellte sich auf die oberste Kellertreppe und horchte.
„Hier muß es sein!“ keifte eine Frauenstimme. „Genau hier,
wo sich meiner Susi das Fell sträubt!“
Eine Männerstimme antwortete: „Das ist der Keller von
Bohnsack!“
„Von Bohnsack?“ rief die Frauenstimme. „Gestern abend
hab’ ich den Bengel noch getroffen, wie er mit einem großen
Koffer in den Keller schlich! Klammheimlich, sag’ ich Ihnen,
und als ich ihn fragte, wohin er wollte, wurde er puterrot!“
„Alles gelogen!“ zischte Anton.
„Wann war das?“ fragte die Männerstimme.
„Um sieben. Ich hab’ gleich Verdacht geschöpft.“
„Und seitdem haben Sie diesen – ähem – Geruch stellt?“
„Nein. Den hab ich schon früher bemerkt.“
„Und wann?“
„Vor einer Woche ungefähr.“
Ein wildes Kläffen folgte, und die Frauenstimme rief: „Sehen
Sie? Ganz verrückt wird meine Susi vor der Kellertür!“
In diesem Augenblick wurde die Haustür geöffnet, und
Antons Mutter trat ein.
68
„Du?“ rief sie überrascht, als sie Anton auf der Kellertreppe
stehen sah. „Wieso bist du nicht oben?“
„Sind Sie es, Frau Bohnsack?“ fragte die Frauenstimme aus
dem Keller.
„Ja! Was ist?“ antwortete die Mutter.
„Kommen Sie doch mal herunter!“ rief die Männerstimme.
„Weißt du, worum es geht?“ wandte sich die Mutter flüsternd
an Anton.
„Keine Ahnung“, brummte er. Besonders wohl war ihm nicht
in seiner Haut. Hoffentlich hatte die Mutter den Kellerschlüssel
nicht dabei!
Sie stiegen die Kellertreppen hinunter. Ein Dackel mit
Hängebauch kam mit wütendem Gebell auf sie zugewackelt:
Es war der überfütterte Schoßhund von Frau Puvogel.
„Gut, daß Sie den Bengel gleich mitbringen!“ begrüßte sie
Frau Puvogel. In der Aufregung hatte sich ihr Nylontuch
gelöst, und die Lockenwickler hingen nun wirr um ihren Kopf
herum.
„Was sagten Sie? Bengel?“ fragte die Mutter befremdet.
„Ist das etwa kein Bengel, der abends um sieben mit einem
Koffer durch den Kellergang schleicht?“ zeterte Frau Puvogel.
Die Mutter warf Anton einen Blick zu, der „wir sprechen uns
noch“ verriet, dann sagte sie: „Deshalb haben Sie noch lange
nicht das Recht, meinen Sohn Bengel zu nennen. Ich nenne Sie
ja auch nicht – Klatschmaul.“
„Wie bitte?“ kreischte Frau Puvogel. „Klatschmaul haben Sie
zu mir gesagt? Sie, Sie...“ Sie suchte nach Worten, um ihrer
Empörung Luft zu machen.
„Sie haben mich mißverstanden“, sagte die Mutter kühl.
„Ich sagte: Ich nenne Sie nicht Klatschmaul!“
Frau Puvogel war sprachlos.
Dafür mischte sich jetzt der Hausmeister, der bisher stumm
neben Frau Puvogel gestanden hatte, ins Gespräch: „Frau
69
Puvogel hat sich bei mir über den schlechten Geruch im Keller
beschwert.“
„Und was habe ich damit zu tun?“ sagte die Mutter.
„Frau Puvogel meint, der Geruch käme aus Ihrem Keller!“
„Aus meinem Keller?“ rief die Mutter. „Das ist das
Unglaublichste, was ich je gehört habe! Aus meinem Keller,
der alle zwei Wochen aufgeräumt wird! Ich bin ja einiges an
üblem Tratsch von Ihnen gewöhnt, Frau Puvogel“, sagte sie
dann. „Aber das ist nun wirklich zuviel!“
Frau Puvogel war ganz blaß geworden. „Und meine Susi?“
fragte sie kleinlaut. „Warum bellt sie ausgerechnet immer vor
Ihrer Kellertür?“
„Was weiß ich?“ sagte die Mutter und maß den Hund mit
einem verächtlichen Blick. „Gewisse Hunde finden immer was
zum Bellen.“
Anton fiel ein Stein vom Herzen! Daß sich die Mutter so für
ihn einsetzte! Natürlich würde sie wissen wollen, was er
gestern abend um sieben im Keller gemacht hätte. Aber dafür
würde ihm schon eine glaubhafte Erklärung einfallen!
Frau Puvogel jedenfalls war erst mal der Wind aus den
Segeln genommen, und auch dem Hausmeister schien die
Sache sehr peinlich zu sein.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte er zu Antons Mutter, „aber
ich muß natürlich jeder Beschwerde nachgehen.“
Ohne ein Wort zu sagen, nahm Frau Puvogel ihren Dackel
auf den Arm und rauschte davon.
„Komm, Anton“, sagte die Mutter, „du hast doch bestimmt
noch nichts gegessen!“
70
71
72
Leerer Magen
„Ich geh’ noch ein bißchen runter“, sagte er kurz vor fünf.
„Meinetwegen“, antwortete die Mutter. „Aber vergiß nicht:
um halb sieben gibt’s Abendbrot!“
Unten stieg Anton auf sein Fahrrad. Zwei Stunden waren
eine ganz schön lange Zeit, aber er würde sie schon
herumkriegen! Außerdem hatte er „Gelächter aus der Gruft“
dabei, in dem er, solange es noch hell war, lesen konnte.
Um sieben war er zurück. Leise öffnete er die Haustür.
Niemand war zu sehen, und so holte er schnell sein Rad und
trug es die Treppen hinunter. Der Kellergang war leer, und bis
auf den muffigen Geruch, der noch stärker geworden war,
schien alles unverändert.
Er stellte sein Rad ab, dann schloß er die Tür zu seinem
eigenen Kellerraum auf.
Der kleine Vampir war bereits aufgewacht. Beim Schein der
Kerze saß er im Sarg und sah Anton mit großen, hungrigen
Augen entgegen. Doch kaum hatte er ihn erkannt, als sein
Gesicht einen enttäuschten Ausdruck annahm.
„Ach, du“, sagte er verstimmt.
Seine Haare standen wüst vom Kopf ab, und seine Zähne
klickten so heftig aufeinander, als habe er Schüttelfrost.
„Rüdiger!“ rief Anton erschrocken. „Bist du krank?“
„Krank?“ sagte der Vampir und versuchte zu lachen. „Fast
verhungert bin ich!“
„Hast du denn nichts – gefangen?“ erkundigte sich Anton.
Der Vampir stöhnte, daß sich Antons Haare sträubten. „Nicht
mal eine Maus!“ ächzte er und preßte seine Hände auf den
Leib. „Wenn du wüßtest, wie leer mein Magen ist!“
Dabei sah er Anton mit funkelnden Augen an und fuhr sich
mit der Zunge langsam über die Lippen. Anton erschrak: Ihm
kam es plötzlich vor, als starrte der Vampir unentwegt auf
seinen Hals!
73
74
Künstlerpech
Mißmutig folgte Anton ihm. Wenn es um seine, Antons,
Belange ging, stellte der Vampir sich am liebsten taub!
Jetzt kauerte er auf dem Rasen und sah sich suchend um.
„Eben waren sie noch da“, flüsterte er.
„Gehen wir lieber!“ sagte Anton und warf einen ängstlichen
Blick auf die erleuchteten Wohnzimmerfenster über ihnen.
„Sonst sehen meine Eltern uns noch!“
„Und wohin?“ sagte der Vampir gereizt.
„Da d-drüben“, stotterte Anton und zeigte auf den Spielplatz,
den hohe Büsche vor neugierigen Blicken schützten.
„Gibt es denn da Kaninchen?“ fragte der Vampir
mißtrauisch.
„Na klar!“ sagte Anton, obwohl er sich dessen gar nicht so
sicher war.
Vorsichtig schlichen sie über den Rasen. Als sie die Büsche
erreicht hatten, atmete Anton erleichtert auf.
„Und wo sind nun die Kaninchen?“ fragte der Vampir und
betrachtete unlustig die Klettergerüste.
Anton schob ein paar Äste zur Seite. „Hier“, sagte er, „das ist
ihr Lieblingsplatz.“
„Wirklich?“ sagte der Vampir. Seine Stimme klang plötzlich
ganz rauh, und seine Augen begannen zu leuchten. Mit einem
Satz verschwand er zwischen den Büschen. Doch gleich darauf
kam er zurück. Sein Gesicht war zerkratzt, und sein Umhang
hatte mehrere große Risse bekommen.
„Das nennst du Kaninchen?“ rief er und hielt Anton zwei
fette Spinnen entgegen.
„Iieh!“ entfuhr es Anton. Spinnen konnte er überhaupt nicht
leiden. Rasch wandte er sich ab, denn auf keinen Fall wollte er
mitansehen, wie der Vampir Spinnen verzehrte!
Da packte ihn der Vampir am Ärmel. „Denkst du, ich esse
Spinnen?“ rief er, und mit angewiderter Miene ließ er sie zu
75
76
Jagdfieber
Die Kirchturmuhr schlug halb neun. Fröstelnd kam der kleine
Vampir zwischen den Baumstämmen hervor, hinter denen er
sich seit einer halben Stunde versteckt gehalten hatte.
Es waren zwar ein paar Leute vorbeigekommen, aber leider
nie die richtigen: Entweder waren sie zu zweit, was einen
77
78
79
weißen Hals sehen konnte. Er stöhnte auf, und wie von einer
magnetischen Kraft angezogen, krümmte er die Finger und trat
hinter der Säule hervor.
In diesem Moment rief die Frau: „Rudolf!“ und klatschte in
die Hände. Ein großer Schäferhund kam um die Ecke gerannt,
und der Vampir konnte sich gerade noch mit einem Sprung in
die Hecke retten. Da blieb er sitzen, während der Schäferhund
an den Sträuchern schnüffelte und schließlich, als hätte der
Vampir nicht schon genug gelitten, sein Bein hob.
„Komm, Rudolf!“ sagte die Frau. „Jetzt gehen wir nach
Hause.“
Grimmig verfolgte der Vampir, wie sie sich entfernten. „So
ein Mist!“ schimpfte er und zog sich die Dornen aus den
Fingern. Obwohl sein Magen jämmerlich knurrte, rührte er sich
nicht – zum Heulen war das Vampirleben, und da brauchte er
sich gar nicht zu schämen, wenn ihm ein paar Tränen über das
Gesicht rannen!
„Guck mal, da weint einer!“ hörte er plötzlich eine helle
Stimme sagen.
„Der sieht aber komisch aus“, antwortete eine zweite
Stimme.
„Ja, wie ein Vampir“, sagte die erste Stimme und kicherte.
Vor ihm standen zwei Kinder, jedes Kind mit einem langen
Stock in der Hand, an dessen Ende eine bunte Laterne
leuchtete. Erschrocken fuhr sich der Vampir über sein nasses
Gesicht.
„Was wollt ihr?“ fragte er und bewegte seine steif
gewordenen Beine.
Die Kinder begannen zu lachen. „Bist du echt?“ fragte das
größere der beiden Kinder.
„Klar“, knurrte der Vampir.
Die Kinder waren höchstens acht Jahre alt – keine sehr
lohnende Beute! Aber dennoch, besser als gar nichts...
80
81
„Hab ich dich endlich!“ rief er, und dabei nahm er einen
Holzpfahl aus der Tasche und hob den Hammer, den er in der
Hand hielt.
„Warte, Bürschchen“, sagte er, „jetzt bist du dran!“
Immer näher kam er...
Schwere Last
Nach dem Mittagessen am nächsten Tag sagte die Mutter:
„Du träumst in letzter Zeit so schreckliche Dinge! Ich bin
schon ein paarmal aufgewacht, weil du im Schlaf geschrien
hast. Und dann rufst du ganz merkwürdige Namen – Tante
Dorothee und Lumpi der Starke und Elke die
Niederträchtige...“
Anton biß die Lippen zusammen, um nicht zu lachen.
„Wirklich?“ tat er ahnungslos.
„Ja.“ Und während sie ihn aufmerksam ansah, sagte sie: „Ich
mache mir Sorgen, Anton.“
Ich auch, hätte Anton am liebsten geantwortet – aber das
durfte er natürlich nicht zugeben. Deshalb sagte er betont
unbekümmert: „Das ist doch ganz normal, Mutti.“
82
83
84
85
86
87
Die Welt ist eigentlich voller Vampire, dachte Anton, und die
echten Vampire sind keineswegs die schlimmsten!
Zum Glück blieb Frau Puvogel die einzige Bekannte, die ihm
begegnete, und so kam er unbehelligt auf dem Friedhof. Still
und verlassen lag der Friedhof da. Niemand war zu sehen, und
beruhigt ging Anton den Hauptweg hinunter. Hier waren die
Hecken geschnitten und die Gräber gepflegt – ganz anders als
auf dem hinteren Teil des Friedhofs, in dem sich die Gruft der
Vampire befand. Auf einem frischen Grab am Wegrand
häuften sich Blumen und Kränze, und er las die Aufschrift:
„Alfred – du bleibst unter uns!“ Anton grinste. Sollte es sich
bei Alfred auch um einen Vampir handeln?
Jäh verging ihm das Lachen, als sein Blick auf die Kapelle
am Ende des Weges fiel: Ihre große, eisenbeschlagene Tür
stand offen!
Starr vor Schreck blieb Anton stehen. Er merkte, wie sein
Herz schneller schlug, und unwillkürlich faßte er nach dem
Kreuz an der Halskette. Wer oder was mochte sich in der
Kapelle zu schaffen machen? Während er noch überlegte, ob er
umkehren oder weitergehen sollte, kam ein Mann heraus,
schlug die Tür zu und versperrte sie mit einem großen
Vorhängeschloß.
Geiermeier, der Friedhofswärter! durchfuhr es Anton. Das
lange Gesicht, die große Nase und der Arbeitskittel mit den
tiefen Taschen, aus denen tatsächlich spitze Holzpflöcke und
ein Hammer ragten, konnten nur zu Geiermeier gehören. Der
wußte ja genau, daß Vampire nur ein Holzpfahl töten kann, der
ihnen mitten durchs Herz gestoßen wird.
Jetzt hatte Geiermeier Anton erspäht. Sein Gesicht nahm
einen unheilvollen Ausdruck an, und mit langsamen Schritten
kam er auf ihn zu. Es war wie in seinem Traum, und Anton
spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat.
Gleich würde Geiermeier den Hammer heben...
88
89
90
91
bis zur Tanne zu hören sein, aus deren Schatten jetzt eine
dunkle Gestalt hervortrat.
Es war ein kleiner, untersetzter Vampir, der sich lange und
eingehend umblickte, bevor er die Arme unter dem Umhang
ausbreitete und abflog. Anton seufzte erleichtert, denn ein
paarmal hatte der Vampir in seine Richtung gesehen!
Da erschien eine zweite Gestalt: ein großer kräftiger Vampir,
der sich sogleich in die Luft erhob. Lumpi der Starke?
Jetzt klapperte der Stein über dem Einstiegsloch. Anton hielt
den Atem an. Ein kleiner, schmächtiger Vampir kam, auf einen
Stock gestützt, mühevoll aus dem Dunkel der Tanne
gehumpelt. Anton hörte ihn leise stöhnen. Nun steckte der
Vampir den Stock unter den Umhang und flog los. Wer mochte
das gewesen sein? Elisabeth die Naschhafte? Sabine die
Schreckliche?
Wieder bewegten sich die Zweige der Tanne, und eine
Gestalt trat hervor. Sie blieb stehen und sog prüfend die Luft
ein. Anton merkte, wie sein Herz einen Sprung machte und
dann wie rasend schlug: Die Gestalt sah zu ihm herüber!
Ja, es gab keinen Zweifel mehr, daß sie ihn erspäht hatte,
denn nun kam sie mit langsamen Schritten näher – es war
Tante Dorothee! Anton war vor Schreck wie gelähmt. Am
ganzen Körper zitternd, sah er ihr entgegen, ohne auch nur
einen Finger rühren zu können. Schon war sie so nah, daß er
ihren großen Mund sehen konnte.
„Nein!“ schrie er voller Entsetzen.
„Warum nicht?“ hörte er Tante Dorothees Stimme. „Es tut
nur am Anfang weh. Danach ist es schön!“ Sie streckte die
Hände nach ihm aus, und Anton roch ihren kalten Grabesatem.
„Nein!“ rief er noch einmal.
„Aber nicht doch!“ sagte Tante Dorothee. „Sonst beiße ich
daneben, und du behältst häßliche Narben.“
92
93
94
„Vielleicht...“
In Antons Klasse
Aber Anna schien sich im Augenblick für ganz andere Dinge
zu interessieren.
„Und welches ist nun deine Klasse?“ fragte sie aufgeregt.
„Die linke oder die rechte?“
„Die linke“, brummte Anton.
Schon öffnete sie die Klassentür. „Komm, Anton!“ rief sie.
„Du, Anna“, begann er, „ich muß mit dir reden...“
95
„Ja, ja“, sagte sie leichthin, „nachher. Jetzt bin ich viel zu
neugierig.“ Im Schein des Mondlichts lief sie durch den Raum
und zählte die Stühle.
„Fünfunddreißig!“ rief sie. „Wie gesellig!“
„Gesellig?“ staunte Anton. „Findest du das gut, wenn jeder
pro Stunde nur einmal drankommen kann?“
„Klar!“ sagte Anna. „Dann kannst du den Rest der Stunde
schlafen, ohne daß es jemand merkt.“
„Und bei den Arbeiten schreibst du ’ne Sechs“, erwiderte
Anton.
Anna war vor dem Lehrerpult stehengeblieben.
„Wem gehört eigentlich dieser Riesentisch?“ fragte sie.
„Meiner Lehrerin“, antwortete Anton, dem die Besichtigung
schon viel zu lange dauerte.
„Ach so“, sagte Anna nachdenklich, „damit sich die Kinder
mehr vor ihr fürchten, nicht wahr?“ Sie bückte sich und guckte
in die Schubladen.
„Aber hier sind ja gar keine Rohrstöcke!“ rief sie enttäuscht.
„Rohrstöcke sind nicht mehr erlaubt“, erklärte Anton.
„Nicht?“ rief Anna überrascht. „Aber Lumpi erzählt
immer...“
„Heute gibt es viel bessere Methoden“, sagte Anton.
Anna überlegte, dann rief sie: „Gummiknüppel?“
„Zensuren“, antwortete Anton.
„Zensuren?“ Anna machte ein ratloses Gesicht. „Wie geht
das denn?“
„Ganz einfach“, sagte Anton. „In der Schule bekommst du
für alles Zensuren. Wenn du gute Zensuren hast, darfst du, wie
meine Eltern immer sagen, eine ‹weiterführende› Schule
besuchen und kannst später einen guten Beruf lernen und viel
Geld verdienen. Wenn du allerdings schlechte Zensuren hast...“
„Aber das ist ja ungerecht!“ rief Anna. „Wenn einer nicht so
lernen kann...“
„Eben“, sagte Anton.
96
97
„Weil ich gern neben dir sitzen möchte“, lächelte sie. „Jetzt
ist es so, als wären wir Klassenkameraden“, sagte sie
schwärmerisch, als sie neben Anton Platz nahm. „Dann würde
ich dich jeden Morgen in der Schule sehen, wir könnten
zusammen über den Schulhof gehen und nachmittags
Hausaufgaben machen...“ Bei den letzten Worten hatte ihre
Stimme plötzlich ganz traurig geklungen, und jetzt fuhr sie sich
mit der Hand über die Augen.
„Ach, Anton!“ seufzte sie und sah ihn mit großen
schimmernden Augen an. Anton wandte schnell den Kopf ab.
„Können wir jetzt über Rüdiger sprechen?“ sagte er verlegen.
„Über Rüdiger?“ rief sie. „Ich bin dir wohl ganz
gleichgültig!“
„Nein“, sagte er rasch. Er durfte sie jetzt auf keinen Fall
kränken! Aber wie sollte er die richtigen Worte finden, wenn
98
99
100
Peinlichkeiten
Auf dem Rückweg fragte Anton: „Und das Gruftverbot ist
tatsächlich aufgehoben worden?“ Es kam ihm noch immer wie
ein Wunder vor.
„Zuerst sollte es für vier Wochen verlängert werden“,
erklärte Anna. „Vor allem meine Großmutter, Sabine die
Schreckliche, bestand darauf – als Warnung für uns andere
Vampirkinder, meinte sie. Aber nachdem ich ihnen erzählt
hatte, daß Rüdiger seit Tagen nichts Richtiges mehr gegessen
hätte und schwermütig durch die Gegend liefe, fürchteten sie,
daß er sich aus Verzweiflung in die Sonne legen und verglühen
könnte, und erlaubten ihm, in die Gruft zurückzukehren.“
„Meinst du, das hätte er getan?“ fragte Anton bestürzt. Er
dachte daran, wie schwach und kränklich der kleine Vampir bei
den Kellerbesuchen ausgesehen hatte... Ob er seine
Schwierigkeiten nicht ernst genug genommen hatte?
Aber Anna lachte nur. „Keine Sorge!“ sagte sie. „Ich mußte
etwas übertreiben.“
Mit heimlicher Bewunderung sah Anton sie von der Seite an.
Wenn er Anna nicht hätte...! Doch war sie nicht genauso
gefährdet wie Rüdiger?
„Und wenn sie dich – ich meine, du hast doch auch Kontakt
zu Menschen“, sagte er.
„Ach“, meinte Anna sorglos, „mich erwischen sie nicht.“
Und während sie sich bei Anton einhakte, lächelte sie.
„Aber es ist lieb von dir, daß du dir Gedanken um mich
machst.“
Anton hustete verlegen. Daß Anna immer so unverblümt ihre
Gefühle äußern mußte! Vorsichtig zog er seinen Arm zurück
und sagte: „G-gleich sind wir da.“
„Sind deine Eltern zu Hause?“ erkundigte sich Anna.
„Nein“, sagte Anton. „Und vor zehn kommen sie bestimmt
nicht wieder. – Aber um acht wollten sie anrufen“, fiel ihm ein,
101
102
103
„Du, Anna?“ sagte er, als sie mit dem Fahrstuhl nach unten
fuhren.
„Ja?“
„Stimmt es, daß Vampire kein Spiegelbild haben?“
Sie senkte beschämt den Kopf. „Hab’ ich mich so schlecht
frisiert?“
„Nein, nein“, versicherte Anton schnell, „es hat mich nur
interessiert.“
„Wir Vampire sind überall benachteiligt“, sagte sie
anklagend. „Nicht nur, daß wir in wurmstichigen Särgen
schlafen und muffige Umhänge tragen müssen! Obendrein
können wir nicht mal in den Spiegel gucken, wenn wir uns
verschönern wollen!“
In Gedanken stimmte ihr Anton zu, denn wenn er sich
vorstellte, wie sie in Jeans und Pulli, mit gekämmten Haaren
und einer gesunden Gesichtsfarbe aussehen würde... Er merkte,
wie sein Herz schneller klopfte, und war froh, als der Fahrstuhl
hielt und sie aussteigen konnten.
„Aber du magst mich doch auch so?“ fragte sie schüchtern.
„K-klar“, sagte Anton. Gut, daß die Beleuchtung über der
Kellertreppe so dunkel war! Sonst hätte sie gesehen, wie er rot
wurde.
Anton öffnete die Tür zum Kellergang und drückte auf den
Lichtschalter. Der Modergeruch war noch stärker geworden,
und er mußte grinsen, als er an Frau Puvogel mit ihrer
empfindlichen Nase dachte. Bald würde sie aufatmen können!
„Das ist unser Keller“, sagte er, und obwohl niemand zu
sehen war, flüsterte er.
„Man riecht’s“, kicherte Anna.
104
Anton schloß auf, und sie traten ein. Alles war unverändert:
die Latten an der Wand, Rüdigers Sarg mit dem zur Seite
geschobenen Deckel dahinter.
„Nicht sehr gemütlich“, meinte Anna.
„Nicht?“ sagte Anton.
„Und so einsam. Der arme Rüdiger!“
„Wie bitte?“ rief Anton empört. Er nahm einen Haufen
Scherereien in Kauf, damit der kleine Vampir einen
Zufluchtsort hatte, und das einzige, was Anna zu bemerken
hatte, war: der arme Rüdiger!
„Ich hätte wohl einen roten Teppich ausbreiten sollen, wie?“
sagte er verärgert.
Anna lachte. „Nein. Aber weißt du, für einen Vampir wie
Rüdiger, der immer in Gemeinschaft geruht – äh, gelebt –
hat...“
„Vielleicht hätte ich mich dazulegen sollen“, sagte Anton
giftig. Er hatte eine Ecke von einem Karton abgerissen und
schrieb mit Bleistift eine Notiz für Rüdiger darauf:
105
106
„Also los!“ sagte er und faßte wieder an. Sie wählten den
dunkleren Weg über den Spielplatz und kamen, ohne jemanden
getroffen zu haben, auf die Straße. Fast alle Autos standen
schon auf den Parkplätzen, und kein Mensch war in der Nähe.
„Die sitzen vor dem Fernseher“, erklärte Anton.
„Weiß ich“, antwortete Anna. „Solange das Abendprogramm
läuft, ist es für Vampire zwecklos, draußen auf Jagd zu gehen.“
„Und was machen sie in der Zeit?“ erkundigte sich Anton.
Anna kicherte. „Sie fliegen um die Häuser und suchen einen
Einstieg!“
„Brr!“ sagte Anton und faßte sich an den Hals. Wie oft stand
bei ihm zu Hause das Fenster offen! Und wenn er an Tante
Dorothee dachte...
„Gehen wir?“ fragte Anna.
Sie hoben den Sarg wieder an und trugen ihn den Fußweg
entlang, als plötzlich auf der gegenüberliegenden Seite eine
Gestalt auftauchte. Es war ein Mann mit einem merkwürdig
schwankenden Gang. Neugierig sah er zu ihnen herüber.
„Kennst du den?“ fragte Anna.
Anton schüttelte den Kopf. „Der ist betrunken“, sagte er.
Langsam, mit wiegenden Schritten, überquerte der Mann die
Straße und kam auf sie zu. Anton merkte, wie seine Knie
zitterten. Sollten sie weglaufen und den Sarg stehenlassen?
Aber was würde dann mit dem Sarg geschehen? Anna schien
dasselbe gedacht zu haben, denn sie flüsterte: „Wir setzen uns
einfach drauf! Dann sieht er ihn nicht!“
Sie sprang auf den Sarg und breitete ihren Umhang aus,
während sich Anton neben sie setzte.
Der Mann war jetzt so nah, daß Anton den Bierdunst riechen
konnte, den er ausströmte. Anna drehte den Kopf zur Seite und
nieste.
„Na, Kinder, ruht ihr euch aus?“ sagte er. „Macht dem Onkel
mal Platz!“
Anna und Anton wechselten einen erschrockenen Blick.
107
„Oder ist das etwa keine Bank?“ Er beugte sich vor, um den
Sarg zu betrachten, verlor aber das Gleichgewicht und fiel
gegen das Holz.
„Wenn ich nicht so viel getrunken hätte, würde ich sagen,
das ist ein Sarg“, murmelte er und sah Anna und Anton aus rot
unterlaufenen Augen an. „Ist das nun eine Bank oder nicht?“
lallte er.
„Eine B-Bank“, sagte Anton.
„Na also!“ Schwerfällig setzte er sich und zog eine
Bierflasche aus der Tasche.
„Prost!“ sagte er und trank. Dann wischte er mit dem
Daumen über die Flaschenöffnung und hielt sie Anna hm. „Da!
Trink!“
„Nein, danke!“ sagte Anna.
„Und du?“ fuhr er Anton an. „Du bist hoffentlich nicht so
zimperlich.“
„D-doch“, stotterte Anton. „Ich – mag kein Bier.“
„Was? Du magst kein Bier?“ staunte der Mann. Er setzte die
Flasche wieder an den Mund und trank. „Na so was. Als ich in
deinem Alter war...“
„Aber du rauchst doch?“ sagte er und bot Anton Zigaretten
an.
Anton hob abwehrend die Hände.
„Auch nicht?“ Der Mann machte ein verständnisloses
Gesicht. „Wie willst du’s dann lernen, wenn du nicht bald
anfängst?“
„Ich will’s ja gar nicht lernen“, sagte Anton.
Der Mann hatte seine Bierflasche ausgetrunken und ins
Gebüsch geworfen. Nun steckte er sich mit zitternden Fingern
eine Zigarette an. Als sie brannte, lehnte er sich behaglich
zurück – und fiel mit einem lauten Poltern hintenüber. Das sah
so komisch aus, daß Anna auflachte.
„Psst!“ zischte Anton. „Betrunkene darf man nicht reizen!
Am besten, wir verschwinden, bevor er hochkommt!“
108
Gemischte Gefühle
„Trinkst du auch Bier, wenn du erwachsen bist?“ fragte
Anna.
„So viel bestimmt nicht!“ antwortete Anton.
„Und warum trinkt der Mann so viel?“
„Warum?“ Wie sollte er das erklären? „Vielleicht hat er
Probleme und will sie vergessen...“
„Ach so!“ meinte Anna.
109
Schon kletterte sie über die Mauer, die hier so hoch war, daß
Anton mit ausgestreckten Armen gerade ihren Rand berühren
konnte.
„Warum nehmen wir nicht die hintere Mauer?“ fragte er
leise. „Die ist viel niedriger.“
„Das ist zu gefährlich“, erklärte Anna. „Denk mal an
Geiermeier.“ Ratlos sah Anton zwischen dem Sarg und der
Mauer hin und her. Das würde er nie schaffen!
„Schiebst du?“ fragte Anna.
Er faßte unter den Sarg und versuchte ihn hochzuheben. „Es
geht nicht“, sagte er kläglich.
„Erst den Deckel!“ flüsterte Anna.
Anton nahm den Deckel und stemmte ihn mit aller Kraft
nach oben.
„Hast du ihn?“ rief er.
„Nein“, sagte Anna, aber da war es schon zu spät: Der
Deckel entglitt seinen Händen und fiel mit einem lauten
Krachen auf die andere Seite. Ein erstickter Aufschrei erklang.
„B-bist du verletzt?“ stotterte Anton.
„Ja“, kam die Antwort.
„S-soll ich dir helfen?“
„Nein!“
Während er noch überlegte, was er machen sollte, kam Anna
mühselig über die Mauer geklettert. Ihr Gesicht war
tränenverschmiert, und den einen Fuß hielt sie weit von sich
gestreckt.
„Ist er – gebrochen?“ fragte Anton erschrocken.
„Nein“, knurrte sie, und zornig packte sie das Unterteil des
Sargs und stellte es auf die Mauer. Fassungslos sah Anton zu.
„Halt mal!“ fuhr sie ihn an, während sie über die Mauer
stieg.
„Soll ich schieben?“ fragte er zögernd.
„Bloß nicht!“ rief sie, und rasch zog sie das schwere Teil zu
sich hinüber. Anton hörte, wie sie den Deckel daraufsetzte.
110
„Ja“, sagte sie, und mit heiserer Stimme fügte sie hinzu:
„Tolpatsch!“
111
112
Alles umsonst
„Anton!“ Von weit her kam die Stimme der Mutter. „Anton,
aufstehen!“
„Ja“, brummte er.
„Anton, es ist schon Viertel nach sieben!“
Er rieb sich die Augen und blinzelte. Das Licht, das die
Mutter eingeschaltet hatte, blendete ihn, und als er sich jetzt
auf die Seite drehte, taten ihm alle Glieder weh.
„Au!“ ächzte er.
„Bist du krank?“ fragte die Mutter besorgt.
„Krank?“ Das war eine gute Idee! Außerdem fühlte er sich
tatsächlich nicht besonders wohl. Er machte eine leidende
Miene.
„Ich glaub’, ich hab Grippe.“
„Grippe?“ sagte die Mutter und faßte an seine Stirn. „Aber
du bist gar nicht heiß.“
„Mir tut alles weh“, jammerte er.
„Dann müssen wir Fieber messen!“ erklärte sie, ging ins
Badezimmer und kam mit dem Fieberthermometer zurück.
„Hier! Und ohne Tricks!“
„Was denn für Tricks?“ fragte Anton beleidigt. Aber sie
blieb ohnehin am Bettrand sitzen und sah auf die Uhr.
„Sag mal, du hast ja gar kein Nachtzeug an!“ rief sie
plötzlich.
„N-nicht?“ tat Anton überrascht und zog die Bettdecke bis
ans Kinn.
„Nein“, sagte sie und zeigte auf seinen Schreibtischstuhl.
„Du hast nur die Hose und den Pulli ausgezogen. – Übrigens,
wie riechen deine Sachen wieder?“ Mißtrauisch hielt sie
Antons Pulli an die Nase.
„K-kleines Lagerfeuer“, sagte Anton schnell.
„Lagerfeuer?“
„Ja. Gestern abend.“
113
Überzeugt schien sie nicht zu sein, doch jetzt waren die fünf
Minuten herum, und prüfend betrachtete sie das Thermometer.
„37,1. Kein Fieber. Nur erhöhte Temperatur.“
„Aber ich fühle mich so schlecht...“
„Und wer soll sich um dich kümmern, wenn du zu Hause
bleibst?“
„Vati ist doch da. Und Opa.“
„Vati?“ sagte sie und lachte. „Der ist längst ins Büro
gefahren.“
„Aber er wollte doch heute...“ sagte Anton und hielt verwirrt
inne. „W-wollte er nicht mit Opa die Küche verkleiden?“
„Schon. Aber es ist ihm etwas dazwischengekommen.“
Anton merkte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen,
und er mußte sich auf die Zunge beißen, um nicht loszuheulen.
Er brachte sich fast um, damit der Sarg aus dem Keller
verschwand – und dann, wenn er es endlich geschafft hatte,
kam dem Vater etwas dazwischen, einfach so! Eine
Gemeinheit war das, immer wurde alles auf seinem Rücken
ausgetragen!
„So schlimm wird’s doch nicht sein“, sagte die Mutter und
strich ihm über den Kopf. „Wir sind doch alle mal krank.“
Wenn es nur das wäre! dachte er, und aufschluchzend drehte
er sich zur Wand.
„Ich mach’ dir einen Tee“, sagte die Mutter. „Aber danach
muß ich los.“
Als sie gegangen war, blieb Anton im Bett liegen und starrte
an die Decke. Er war ein richtiger Pechvogel! Andererseits –
wenigstens war der Sarg jetzt nicht mehr da, und wenn seine
Eltern mal wieder etwas aus dem Keller brauchten, konnten sie
es ruhig selbst holen!
Er seufzte noch einmal tief, dann kroch er unter die
Bettdecke. Kurz darauf schlief er schon wieder.
114
115
Nächtliches Dankeschön
„Aber morgen gehst du wieder zur Schule!“ sagte die Mutter
am Abend.
116
„Hm“, machte Anton und hoffte, daß sich seine Stimme recht
kläglich anhörte. Natürlich fiel die Mutter nicht darauf herein.
„Wenn du wirklich noch krank wärst, würdest du längst
schlafen“, meinte sie.
„So?“ sagte Anton und sah auf die Uhr: fast acht! „Bin ja
auch müde“, murmelte er und gähnte. In Wirklichkeit war er
hellwach – schließlich hatte er bis Mittag geschlafen! Aber es
war sicher am besten, wenn er in sein Zimmer ging und dort so
lange las, bis er müde wurde.
„Gute Nacht!“ sagte er.
„Gute Nacht!“ antwortete der Vater aus dem Badezimmer,
wo er Hemden auf die Leine hängte.
„Schlaf gut!“ sagte die Mutter.
In seinem Zimmer schloß Anton die Vorhänge, zog seinen
Nachtanzug an und stieg in sein Bett. Wehmütig dachte er an
das Buch über die Werwölfe, von dem er seiner Mutter erzählt
hatte. Das wäre jetzt genau die richtige Lektüre gewesen – aber
leider stand es in der Abteilung mit den Erwachsenenbüchern,
die Anton noch nicht ausleihen durfte.
Und „Gelächter aus der Gruft“ hatte er Anna geschenkt.
Folglich blieb ihm nichts anderes übrig, als eins seiner
Bücher noch einmal zu lesen! Gerade hatte er „Vampire – die
zwölf schrecklichsten Geschichten“ aus dem Regal genommen,
als es leise ans Fenster klopfte. Ein heftiger Schreck durchfuhr
ihn: Sollte das – Tante Dorothee sein? Schließlich wußte sie,
wo er wohnte...
Auf Zehenspitzen ging er zum Fenster und spähte durch den
Spalt zwischen den Vorhängen.
Auf dem Fenstersims saß der kleine Vampir und lächelte
freundlich.
„Du?“ sagte Anton überrascht. Mit allen möglichen
Vampiren hatte er gerechnet, mit Tante Dorothee, mit Lumpi,
mit Anna... aber nicht mit Rüdiger! Immerhin hatte Rüdiger
gerade erst ein Gruftverbot hinter sich!
117
118
119