Sie sind auf Seite 1von 20

Thomas Bonk (Hrsg.

Lexikon der Erkenntnistheorie


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http: / / dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.


Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,
Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung in
und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© 2013 by WBG (Wissenschaft liche Buchgesellschaft), Darmstadt


Die Herausgabe des Werkes wurde durch
die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Satz: Janß GmbH, Pfungstadt
Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-20413-7

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:


eBook (PDF): 978-3-534-70374-6
eBook (epub): 978-3-534-70375-3
Vorwort

Dieses kleine Lexikon will eine Hilfestellung geben, sich im wandelnden und in den letzten
Jahrzehnten stark wachsenden Gebiet der Erkenntnistheorie zurechtzufinden. Auch in der
Philosophie ist ein Trend zur professionellen Spezialisierung zu bemerken, dem dieses Lexi-
kon Rechnung trägt. Es ist kein Fachlexikon im Sinne eines vollständigen Katalogs von Defini-
tionen und Explikationen von Fachtermini. Vielmehr verfolgen die Artikel einzelne zentrale
Themen und Begriffe in systematischer oder historischer Perspektive. Es möchte damit einen
Zugang zu den zeitgenössischen Diskussionen in der Erkenntnistheorie ermöglichen und
erleichtern. Nicht jedes relevante Stichwort konnte in einer für jeden Leser befriedigenden
Weise als eigenständige Einheit behandelt werden; mancher Begriff wird im größeren Zu-
sammenhang eines anderen Eintrags behandelt. Es wurde bewusst, auch aus Gründen des
Umfangs, auf die Aufnahme biographischer Einträge verzichtet, gibt es doch keinen Denker,
der nicht über erkenntnistheoretische Fragen geschrieben hätte. Zentrale Begriffe und Thesen
einzelner Philosophen, wie Descartes oder Kant, findet der Leser unter verschiedenen Stich-
worten und aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufgegriffen. Der Wunsch, den Blick zu
weiten und Beiträge zur Erkenntnistheorie aus nichtwestlichen Kulturen einzubeziehen, stellt
ein besonderes Problem dar: Einerseits sprengt eine jeweils detaillierte Darstellung den
Rahmen des Buchs, andererseits wäre eine allgemeine Übersicht zu wenig aussagekräftig. Sie
ganz fortzulassen, wäre unverantwortlich. Das Lexikon enthält nun schwerpunktmäßig
Überblicksbeiträge zur Erkenntnistheorie in der indischen und in der chinesischen Philo-
sophie.
Die Autoren der einzelnen Beiträge teilen nicht immer denselben erkenntnistheoretischen
Standpunkt oder Zugang, was bei der Breite des Fachgebiets und der Vielzahl der Autoren nicht
verwunderlich ist. Das tut dem Streben nach einer objektiven Darstellung einzelner Punkte
keinen Abbruch. Begriffe, die sich als besonders komplex erwiesen, sind auf zwei Artikel ver-
teilt. Allgemein wurde Wert gelegt auf eine klare Ausdrucksweise jenseits des Fachjargons und
auf die Darstellung nicht nur von Thesen, sondern von Argumentationen, wo das möglich und
sinnvoll erscheint.
Die Literaturangaben zu einzelnen Artikeln sind gebotenermaßen selektiv, teils kommentiert
und mit Blick darauf ausgewählt, dem Leser einen Zugang zu Originalarbeiten sowie zu neueren,
wegweisenden Darstellungen zu geben. Ein großer Teil der neueren Debatte fand und findet im
englischsprachigen Raum statt, was sich nicht nur in der Bibliographie zu den einzelnen Artikeln,
sondern auch in der Terminologie niederschlägt.
Querverweise auf andere Artikel im Text stehen in Klammern und sind mit  vor dem Stich-
wort markiert. Verweiswörter zwischen den Artikeln sollen das Finden und Navigieren erleich-
tern. Die Verfasser der Beiträge sind im Anhang zusammen mit den verwendeten Namenskürzeln
aufgelistet. 5
Vorwort

Mein besonderer Dank gilt Herrn J. Breimeier, Frau Dr. Jung sowie den Lektoren der Wissen-
schaft lichen Buchgesellschaft, die einander während dieses langwährenden Projektes den Staffel-
stab weitergaben: Herrn Dr. Villhauer, Frau von Liebenstein, Frau Köhne und Herrn Landgrebe.

Thomas Bonk
München, März 2012

6
Einleitung: Vor und nach dem „Ende“ der Erkenntnistheorie
Jeder Mensch strebt von Natur aus nach Wissen, schreibt Aristoteles im einleitenden Satz seiner
Metaphysik. Die für unser Selbstverständnis so folgenreiche und zwingende Frage, was Wissen ist,
ob wir Wissen haben können und wenn ja, von welchen Gegenständen, untersuchen gegenwärtig
so viele Forscher wie nie zuvor. Das Interesse an Erkenntnistheorie  – als Bezeichnung für ein
Fachgebiet oder eine Disziplin in der Philosophie verstanden – drückt sich in der schieren Zahl
von Publikationen, Konferenzen und workshops ebenso aus wie im Spektrum der Ansätze: Sie rei-
chen von der feministischen Erkenntnistheorie, der evolutionären Erkenntnistheorie, der virtue
epistemology, der social epistemology, der contextual epistemology, der formal epistemology bis zur
„anarchistischen Erkenntnistheorie“.
Diese Entwicklung muss jeden verblüffen, der sich erinnert, dass R. Rorty in einer detaillierten
und einflussreichen Studie zur Erkenntnistheorie der Neuzeit, Philosophy and the Mirror of Nature
(1979), unter allgemeinem Beifall das Ende der Erkenntnistheorie diagnostiziert hatte. Sie sei durch
Hermeneutik und Kulturanthropologie abzulösen. Rorty steht in einer langen Reihe pessimisti-
scher Diagnostiker der Erkenntnistheorie, für die der Bankrott „traditioneller“ erkenntnistheo-
retischer Ziele und Methoden auf der Hand lag. Beispielhaft ist Heideggers Erwiderung in Sein
und Zeit (1927) auf Kants Bemerkung über den ausstehenden Beweis für die ,Existenz der Außen-
welt‘ in der Erkenntnistheorie: „Der ,Skandal der Philosophie‘ besteht nicht darin, daß dieser
Beweis bislang noch aussteht, sondern darin, daß solche Beweise immer wieder erwartet und
versucht werden.“ An die Stelle der Auseinandersetzung mit dem radikalen Skeptiker auf der
Ebene von Theorie und Argument sollte ein ganz anders geartetes Programm treten: Zu „bewei-
sen ist nicht, daß und wie eine ,Außenwelt‘ vorhanden ist, sondern aufzuweisen ist, warum das
Dasein als In-der-Welt-sein die Tendenz hat, die ,Außenwelt‘ zunächst ,erkenntnistheoretisch‘ in
Nichtigkeit zu begraben, um sie dann erst zu beweisen“. In der analytischen Philosophie sprach
J. L. Austin für viele, als er den Erkenntnistheoretikern – vertreten hier durch die Verfechter von
Sinnesdatentheorien der Wahrnehmung  – vorwarf, Schlüsselbegriffe wie „materieller Gegen-
stand“, „Sehen“, „Wahrheit“ oder „Wissen“ in einer Weise zu gebrauchen, die Scheinprobleme pro-
duziert oder konserviert. Sichtbar werde dieser philosophische Missbrauch der Begriffe durch den
Vergleich mit ihrer soliden, herkömmlichen Verwendung in der Umgangssprache. Dem kritischen
Philosophen bliebe daher nur eins zu tun, schrieb Austin im letzten Satz von Sense and Sensibilia
(1962): „(to) dismantle the whole doctrine before it gets off the ground.“

Der logische Empirismus, in seinen vielfältigen Formen, teilte den Pessimismus hinsichtlich der
Möglichkeit traditioneller philosophischer Projekte, insbesondere der Metaphysik. Er wies das
transzendentale a priori ab und verwarf das skeptische Problem der Außenwelt, die Möglichkeit
einer systematischen Täuschung eines Subjekts, das nur auf seine Wahrnehmungen für Wissen
über seine Umwelt angewiesen ist, als echtes, geradezu die Erkenntnistheorie definierendes „theo-
retisches“ Problem. Wenn Aussagen einen empirischen Gehalt haben müssen (in der einen oder 7
Einleitung

anderen Form), um als sinnvoll gelten zu können, dann konnte es sich dabei nur um ein Schein-
problem handeln.
Und doch war der logische Empirismus erkenntnistheoretischen Fragen gegenüber besonders
aufgeschlossen. Mehr noch, er beanspruchte, auf die legitimen Fragen darunter schlüssige und
definitive Antworten geben zu können. Sicheres Wissen, die „Fundamente“ oder Grundlagen, aus
denen indirekt Wissen über die uns umgebende physikalische Welt – wenn überhaupt – deduktiv
oder induktiv zu gewinnen ist, ist möglich: entweder aufgrund von Sinnesdaten des wahrneh-
menden Subjekts oder auf dem Wege direkter Verifikation bestimmter common-sense-Sätze des
Alltags. Materielle Gegenstände und ihre Beziehungen sind im Prinzip, so versprach Carnap im
Logischen Aufbau der Welt (wie B. Russell vor ihm), darstellbar als „logische Konstruktionen“ aus
Klassen von Sinnesdaten. Sicheres Wissen a priori ist möglich, wenn auch nur in Bezug auf analy-
tisch wahre Aussagen, d. h. solche, die keinen faktischen Gehalt haben. Damit konnte die schwie-
rige epistemologische Frage nach der Möglichkeit und Erklärung von mathematischem Wissen
(Geometrie und Arithmetik), also von notwendigen Wahrheiten, im Zuge der Fortschritte der
Logik nach Frege leicht beantwortet werden. An die Stelle transzendentaler Konstruktionen
(Kant) oder intellektueller Intuition (Descartes) als Erklärungen mathematischen Wissens traten
nun formale Axiomatik und definitorische Reduktionen. Für andere Formen epistemischer Skep-
sis als der hinsichtlich unseres Wissens von der Außenwelt, z. B. hinsichtlich des Wissens um das
„Fremdpsychische“, erschienen die Theorie der „Kriterien“, konventionalistische oder behavioris-
tische Ansätze vielversprechend. Der logische Empirismus mochte sich also nicht ohne Berechti-
gung als Fortsetzung klassischer erkenntnistheoretischer Projekte begreifen. Freilich mit anderen
Mitteln: Die Analyse von Sprachformen in ihre syntaktischen, formalen, semantischen und
pragmatischen Aspekte hatte die Erkenntnistheorie als grundlegende kritische Methode philo-
sophischer Untersuchung abgelöst.
In späteren, „liberalen“ Formen des Empirismus (vor allem vertreten im Werk R. Carnaps) ver-
lor die Idee des sicheren Wissens als Basis der Rekonstruktion der Welt ihre zentrale Stellung zu-
gunsten der Vorstellung, dass die „Basis“ im Hinblick auf den Zweck sprachlicher Rekonstruktion
und kritischer Klärung beliebig wählbar ist. Die Rekonstruktion der Wissenschaften verlangt
eine relative Unterscheidung von Theorie- und Beobachtungssprache, nicht die Auszeichnung
eines „fundamentalen“ sensorischen Vokabulars. Sie verlangt die Artikulation eines Kanons
rationaler Methoden, Hypothesen durch Beobachtungen objektiv zu „stützen“ oder zu verwerfen,
nicht Verifikation. Erkenntnistheorie in dieser Rolle untersucht nun vornehmlich die Bedingun-
gen der Rationalität von Schlüssen und Methoden, nicht den Wissensbegriff. Probabilistische
Konzepte sind dann das Mittel der Wahl, und so findet man diese Auffassung von Erkenntnis-
theorie im Zusammenhang mit Entscheidungstheorien und dem populären Bayesianismus wieder.
Der Wissensbegriff selbst aber fällt beiseite, scheint er doch weder in der Praxis der Wissenschaf-
ten noch im modernen fallibilistischen Selbstverständnis der Wissenschaften eine Rolle zu spielen.
Entsprechend grenzt auch K. Popper (Vorwort 1959 zur englischen Ausgabe der Logik der For-
schung) das zentrale Problem der „Erkenntnislehre“ eng ein und formuliert es rein prozedural: als
Aufgabe, das Wachstum und den Kenntniszuwachs der empirischen Wissenschaften methodo-
logisch zu rekonstruieren.
Aber nicht jeder dem Empirismus nahestehende Denker folgte diesem Vorschlag. A. J. Ayers
(und G. Ryles) Kritik an der Vorstellung, dass (propositionales) Wissen mit einem besonderen
Bewusstseinszustand verbunden sei, der die Wahrheit des Geglaubten garantiere, erwies sich als
ein Meilenstein auf einem anderen Weg als dem von Carnap eingeschlagenen. Der Zusammen-
hang zwischen einer Überzeugung und der Wahrheit ihres Gegenstandes ist – folgt man darin
8 Ayer – vielmehr eine Sache sprachlicher Vereinbarung dahingehend, wie der Begriff Wissen ver-
Vor und nach dem „Ende“ der Erkenntnistheorie

wendet wird: Von etwas Falschem kann man kein Wissen haben. Ayer artikuliert in der Folge
einen Wissensbegriff als wahre Überzeugung, für die der Einzelne mit Recht Gewissheit bean-
spruchen könnte. Wissen ist demnach möglich, auch in den Wissenschaften und im Alltag. Ayers
explizite Entkopplung von Wissen und einem Akt der Verifikation oder der Wahrheitsfindung
von Seiten des Erkenntnissubjekts ist eine für die weitere Entwicklung des Gebietes folgenreiche
Unterscheidung.
Der logische Empirismus, in dem das traditionelle erkenntnistheoretische Projekt fortlebte, war
bei all seinem Einfluss auf die analytische Philosophie eine vergleichsweise kurzlebige intellektuelle
Erscheinung. Zwei Entwicklungen trugen bekanntlich dazu bei. Die Arbeiten Th. S. Kuhns und
P. Feyerabends in den 60er Jahren „schnitten“ den Empirismus (wie auch den „Falsifikationismus“)
von der Wissenschaftspraxis ab. Der tatsächliche Verlauf der Wissenschaften schien sich unter his-
torischer Feinauflösung keineswegs in ein rationales Methodenkonzept, weder ein induktives noch
ein falsifikationistisches, fügen zu wollen. Damit wurde auch der Rückzug der Erkenntnistheorie
auf rein analytische Untersuchungen der Bedingungen der Rationalität gegenstandslos. Kuhn,
Feyerabend, N. R. Hanson und andere waren wenig geneigt, Erkenntnistheorie anders als in Form
von Wissenschaftsgeschichte und Soziologie fortzuführen (Feyerabends „anarchistische Erkennt-
nistheorie“ greift dieses Thema in ironischer, sich ad absurdum führender Weise auf).
Auf philosophischer Seite säten W. V. O. Quine und M. White Zweifel an der fundamentalen,
für eine informative kritische Rekonstruktion der Wissenschaften wichtigen Unterscheidung
zwischen analytisch und synthetisch wahren Sätzen, einem der „Dogmen des Empirismus“. Ent-
scheidend war jedoch, dass Quine gleichzeitig ein „holistisches“ und pragmatistisches Bild der
Wissenschaften und einen umfassenden, radikalen philosophischen Naturalismus entwarf, der
(wenn auch nicht mehr in der ursprünglichen Formulierung) sehr einflussreich wurde. Quines
Naturalismus setzt die Idee um, dass es keine erkenntniskritische Autorität jenseits der Wissen-
schaften gibt, dass nichts ihnen begrifflich vorgelagert und empirischer Untersuchung entzogen
wäre. Es gibt keine sicheren Erkenntnisfundamente, keine a priori wahren Aussagen und daher
auch keine „first philosophy“ (eine Erkenntnistheorie mit fundamentalem Anspruch): Jeder Satz –
auch ein mathematisches und logisches Axiom  – ist im Prinzip in gleicher Weise revidierbar,
wenn dadurch das Gesamtsystem unserer Überzeugungen an Prognosevermögen oder Einfach-
heit zugewinnt. Der „Zirkel der Begründungen“, der aus klassischer erkenntnistheoretischer
Perspektive den naturalistischen Ansatz sofort untergräbt, wird pragmatisch aufgehoben: Die
wissenschaft liche, systematische Untersuchung eines Gegenstandsgebietes beginnt provisorisch
mit plausiblen Überzeugungen und Hypothesen (nicht mit erwiesen sicherem Wissen) und schrei-
tet von dort fort. Erkenntnistheorie erscheint hier als interdisziplinäres Projekt von empirischer
Psychologie, Biologie, Linguistik und anderen Wissenschaften, das die kognitiven Funktionen der
Menschen, das Sehen, die Entstehung von Sprache und Weltbild untersucht. Handelt es sich dabei
um eine konsequent weitergetriebene, aufgeklärte Fortsetzung des traditionellen epistemologischen
Projekts (wie Quine oft zu sagen scheint) oder um einen radikalen Bruch und den skandalösen
Versuch ihrer Substituierung durch „Psychologie“ (wie Kritiker meinen)? Die Frage darf hier
offenbleiben.

In diesem für erkenntnistheoretische Anliegen wenig günstigen intellektuellen Umfeld kam der
Anstoß für das erneuerte Interesse an genuin erkenntnistheoretischen Fragen aus unerwarteter
Richtung. In einem kurzen Aufsatz beschrieb der sonst wenig bekannte E. L. Gettier (1963) drei
konstruierte Situationen, in denen Urteilende kein Wissen haben, obwohl sie alle plausiblen Be- 9
Einleitung

dingungen an Wissen erfüllen: Sie wissen in diesen Situationen nicht, obwohl ihr Urteil über
einen bestimmten Sachverhalt tatsächlich wahr ist und auch begründet scheint. Dieses kleine Rät-
sel für das Fachpublikum erwies sich nach und nach als lösungsresistent: Keine der zahlreichen
vorgeschlagenen raffinierten Ergänzungen oder Alternativen zur „Standardanalyse“ des Wissens
war und ist gegen neue Gegenbeispiele oder andere Einwände gefeit.
Dem singulären Aufsatz Gettiers allein die Wiederbelebung der Erkenntnistheorie zuzuschrei-
ben wäre vordergründig. Tatsächlich hätten Gettiers Beispiele niemanden überraschen sollen,
denn sie und die nachfolgende Diskussion brachten nur ans Tageslicht, dass für die schwache Les-
art der Wahrheitsbedingung im Wissensbegriff („richtige“ Begründung eines Urteils anstelle von
Verifikation) ein Preis zu zahlen ist.
Der philosophische Naturalismus (zunächst Quine’scher Prägung) erwies sich nun ironischer-
weise als wirksamer Resonanzboden für die Diskussion über die richtige Explikation des Begriffs
„Wissen“. Einer der ersten Vorschläge forderte, als Bedingung an Wissen, eine kausale Beziehung
zwischen Überzeugung und dem Sachverhalt, der der Gegenstand der Überzeugung ist. Diese
zusätzliche Bedingung sollte deklaratives Wissen von anderen doxastischen Zuständen unter-
scheiden. Bestand diese kausale Beziehung, wenn etwa ein Gegenstand oder ein Sachverhalt
wahrgenommen wird, dann sollte das Subjekt Wissen haben, gleichgültig ob es seine so gewon-
nene Überzeugung rechtfertigen konnte oder nicht, ob es wusste, dass diese kausale Abhängigkeit
tatsächlich bestand oder nicht. Die Theorie ist ein Beispiel einer „externalistischen“ Auffassung
von Wissen, der andere Ansätze folgten, z. B. die Zuverlässigkeitstheorien des Wissens (reliabil-
ism). Externalistische Theorien des Wissens eröffnen radikale Möglichkeiten, z. B. die, dass ein
Subjekt Wissen haben kann, ohne in der Lage zu sein, sein (wahres) Urteil zu rechtfertigen. Der
Normativität von Wissensansprüchen kann so anscheinend nicht Rechnung getragen werden.
Der Wissensexternalismus markiert einen dramatischen mehrfachen Bruch mit traditionelleren
Auffassungen von Wissen.
Die Diskussion über die plausibelste Analyse propositionalen Wissens dauert an. Bis heute gibt
es keinen Konsens über hinreichende und notwendige Bedingungen dafür, dass eine Person Wis-
sen von einer Aussage hat (statt nur eine wahre Überzeugung). Inzwischen wird von einigen die
Auffassung vertreten, dass der Wissensbegriff gar nicht in eine Anzahl erschöpfender Bedingun-
gen explizierbar, sondern eine irreduzible Größe ist (T. Williamson u. a.).
P. Ungers Ignorance: A Case for Scepticism (1975) und B. Strouds The Significance of Philosophi-
cal Scepticism (1984) gelang es schließlich, die als überholt und erledigt geltende skeptische Frage
wieder in ihr Recht zu setzen. Sie belebten eine alte, der Erkenntnistheorie eigene Debatte wieder.
Stroud zeigte in detaillierten Studien zu Carnap, Wittgenstein und Quine, dass diese raffi nierten
Versuche, skeptische Fragestellungen auf verschiedenste Art als „sinnlos“ oder verfehlt zu erwei-
sen, fragwürdig sind. Unger argumentierte in zwei Schritten dafür, dass niemand Wissen haben
kann; einerseits könne nur, wer sich einer Sache gewiss ist, auch Wissen von ihr haben. Gewissheit
ist demnach eine notwendige Bedingung für Wissen. Andererseits könne sich niemand irgend-
einer Sache tatsächlich gewiss sein. Beide Prämissen begründet er anhand von Betrachtungen
über die Verwendung von Begriffen wie „gewiss sein“. Neuere Theorien des Wissens (die „contex-
tual epistemology“) reagieren darauf und stellen sich nicht nur die Aufgabe, den Wissensbegriff
zu explizieren, sondern auch die Hartnäckigkeit der skeptischen Problematik in positiver Weise
zu erklären. Beides scheint möglich, wenn man annimmt, dass die sprachliche Bedeutung von
„Wissen“ bzw. Zuschreibungen von Wissen zu Personen mit dem Kontext variiert und nicht inva-
riant ist. H. Putnam aktualisierte in Reason, Truth, History (1982) in einem ontologischen Kontext
die älteste und faszinierendste aller skeptischen Möglichkeiten, das cartesische Szenario eines den
10 Einzelnen in seinen Urteilen massiv täuschenden Dämons, durch sein sprichwörtlich gewordenes
Vor und nach dem „Ende“ der Erkenntnistheorie

Gedankenexperiment eines denkenden und fühlenden „Gehirns im Tank“. Die Fachdiskussion


über die Bedeutung und den Erfolg seiner „semantischen“ Widerlegung dieser Form der Skepsis
dauert an.

Die „neue Epistemologie“, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Form annahm, ist
in ihren Methoden und Ansätzen extrem heterogen. Das wiedererwachte Interesse am Problem
des Wissens ließ keinen Aspekt der Fragestellung unangetastet. Gibt es doch Fundamente der Er-
kenntnis, unerschütterliche und zweifelsfreie Wahrheiten, von denen Wissen möglich ist? Der
„erkenntnistheoretische Fundamentalismus“ findet inzwischen in einer „moderaten“ Form wie-
der Vertreter (R. Audi). Gibt es synthetisches Apriori-Wissen über die Welt bzw. ihre Strukturen?
Nachdem diese Möglichkeit unter gewichtigen Einwänden im logischen Empirismus und im phi-
losophischen Naturalismus ein für alle Mal begraben schien, wird ihr seit den Arbeiten von
S. Kripke wieder Bedeutung beigemessen (L. BonJour). Sind „Wissen-dass-etwas-der-Fall-ist“ und
„Wissen-wie“ zwei scharf getrennte Formen von Wissen, wie seit G. Ryle allgemein angenommen
wird? Vielleicht ist die Unterscheidung hinfällig (T. Williamson, S. Hetherington).
Ein neues Merkmal zieht sich in der einen oder anderen Form durch viele Theorien: die Ver-
wendung von „modalen“ Charakterisierungen von Wissen. R. Nozick, der neben anderen diese
(externalistischen) Bedingungen einführte (1981), sah darin eine Möglichkeit, auszudrücken, dass
sachhaltige Urteile eines Subjekts in angemessener („gesetzesartiger“) Weise mit den Umständen
variieren müssen, damit von Wissen des Subjekts die Rede sein kann. Nozick konnte zeigen, dass
eine Analyse von Wissen, die eine Forderung wie „wenn die Aussage p nicht wahr wäre, dann
würde das Erkenntnissubjekt auch nicht die Überzeugung haben, dass p wahr ist“ enthielt, half,
verschiedenste kritische Beispiele von Wissen und Scheinwissen (auch die Gettiers) unseren Intu-
itionen gemäß einzuordnen. Die Voraussetzungen für eine formal einwandfreie Semantik dieser
irrealen Bedingungssätze hatten erst kurz zuvor D. Lewis und S. Kripke geschaffen. Mittlerweile
sind zahlreiche andere modale Bedingungen zur Charakterisierung von Wissen vorgeschlagen
worden.
Methodischer Ausgangspunkt vieler neuerer Untersuchungen ist die Annahme, dass wir tat-
sächlich zumindest in einzelnen Fällen Wissen im Alltag haben oder in Anspruch nehmen könn-
ten. Einige Erkenntnistheoretiker betrachten dies nicht als Annahme, sondern als ein Datum
und sehen ihre Aufgabe darin, zu erklären, wie wir in diesen Fällen zu Wissen kommen und wie
sich Wissen in solchen Umständen von Situationen unterscheidet, in denen wir kein Wissen –
sondern nur wahre Überzeugungen – haben. Häufig werden Argumente mit Hilfe von Beispielen
und Szenarien geführt, die mittlerweile so verbreitet sind, dass sie in der einschlägigen Literatur
unter Spitznamen wie „Tom Grabit“ (vgl. „Wissenstheorien nach Gettier“, für Details hier und an
anderen Stellen siehe die Beiträge des Lexikons) kursieren. Je konstruierter diese Beispiele, die
häufig Gegenbeispiele gegen die eine oder andere Explikation von Wissen sein sollen, umso
schwieriger wird es zu entscheiden, ob sie die ihnen zugedachte Rolle auch erfüllen. Hier wird an
die linguistische oder rationale „Intuition“ des Philosophen appelliert, die ihm zeigen soll, dass
unter bestimmten Umständen Wissen vorliegt oder nicht, Begründungen fundiert sind oder
nicht. Diese explizite Berufung auf Intuitionen  – nicht als Beweis für eine Behauptung, aber
durchaus als eine Art Beleg dafür – ist ein verbreitetes Vorgehen in epistemologischen Diskus-
sionen. Aber auch empirische Methoden haben in der Erkenntnistheorie Einzug gehalten, nach-
dem bei vielen Epistemologen Berührungsängste vor der Psychologie, der Kognitionswissen-
schaft, der Biologie usw. geschwunden sind. Die methodische Vorgabe, Erkenntnistheorie sei 11
Einleitung

eine Domäne apriorischer Reflexionen über die Verknüpfung und Inhalte bestimmter Begriffe,
wird obsolet.
Der sprachanalytische Ansatz Ayers, Carnaps, Ryles u. a. ist in der Erkenntnistheorie weiterhin
methodologisch lebendig: z. B. in der vielfachen Berufung auf sogenannte Moore’sche Sätze oder
in der Idee, dass die Semantik des Wissensbegriffs von den Intentionen, Motiven und anderen
Umständen der Sprecher und Zuschreiber von Wissen abhängt („contextual epistemology“).

Es ist Teil unseres Selbstverständnisses, Wissen in Anspruch nehmen zu können und Überzeu-
gungen zu haben, die rational sind, und das nicht nur aus praktischen Erfordernissen heraus. Es
ist ein natürliches und spontanes Streben, im Alltag und in den Wissenschaften, wie Aristoteles
richtig gesehen hat. Wissen-Haben bedeutet, in einer privilegierten Stellung zur Welt oder zur
Wahrheit zu stehen. Erkenntnistheorie ist der Versuch oder das Programm, in allgemeiner Weise
zu erklären, ob und wie Wissen oder Rationalität für uns möglich ist. Die vergangenen Jahrzehnte
haben in dieser Richtung enorme Fortschritte gesehen. Jeder der gegenwärtig diskutierten An-
sätze und Vorschläge zu den diversen Teilfragen der Erkenntnistheorie ringt mit Schwierigkeiten:
Sie sind ein beständiges Motiv weiterer Forschung. Kein stabiler Konsens ist erkennbar, aber un-
ser Verständnis der Frage ist vielfältiger und raffinierter geworden. Wenn es ein zentrales Prob-
lem des Gebietes gibt, dann ist es vielleicht dies: unsere Intuitionen über Wissen und rationales
Schließen mit einem naturwissenschaft lich geprägten Bild des Menschen in der Welt in Einklang
zu bringen. In vielerlei Hinsicht steht die „neue“ Erkenntnistheorie der antiken Auseinanderset-
zung mit dem Erkenntnisproblem wieder näher als den Theorien Lockes, Kants oder Descartes’,
die Rortys Angriffspunkt in Philosophy and the Mirror of Nature waren. Rortys Diagnose eines
„Endes der Erkenntnistheorie“ war falsch, nicht weil sein historisierender Blick zu eng oder die
vorgeschlagene Alternative („Hermeneutik“) zu wenig leistet, sondern weil das erkenntnistheore-
tische Interesse sich immer aufs Neue aus dem Alltag und den Wissenschaften speist. Erkenntnis-
theorie als autonome begriffliche Basis der empirischen Wissenschaften oder anderer philoso-
phischer Disziplinen: Das scheint ein hoffnungsloses Projekt, darin haben die „Pessimisten“ der
ersten und zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl recht. Aber die Untersuchung des Erkennt-
nisproblems ist – wie die vielfältigen zeitgenössischen Ansätze zeigen – ein Projekt, das seit der
Antike an Faszination nichts eingebüßt hat.

Lit.: Gettier, E.: „Is Justified True Belief Knowledge?“, in: Analysis 23, 1963. S. 121–123. – Heidegger, Mar-
tin: Sein und Zeit (1927), Tübingen: Niemeyer, 14. Aufl. 1977. – Nozick, Robert: Philosophical Explanations,
Oxford: Clarendon Press, 1981. – Popper, Karl R.: The Logic of Scientific Discovery, New York: Basic Books
Inc., 1959. – Putnam, Hilary: Reason, Truth and History, Cambridge: Cambridge University Press, 1981. –
Rorty, Richard: Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton: Princeton University Press, 1979. – Stroud,
Barry: The Significance of Philosophical Scepticism, Oxford: Oxford University Press, 1984. – Unger, Peter
K.: Ignorance. A Case for Scepticism. Oxford: Clarendon Press, 1975. T. B.

12
A priori

A posteriori Bedeutung: Eine Erkenntnis galt als a priori,


wenn sie auf einem Schluss von der Ursache auf
 A priori ihre Wirkung beruhte, und als a posteriori,
wenn von den Wirkungen auf die Ursache zu-
rückgeschlossen wurde.
Wenn gesagt wird, dass apriorisches Wissen
A priori erfahrungsunabhängige Quellen hat, dann be-
deutet das nicht, dass wir dieses Wissen haben
In vielen Fällen erwerben wir unser Wissen könnten, ohne je Erfahrungen gemacht zu ha-
durch Sinneserfahrung. Dass mein Exemplar ben. Um nämlich die Wahrheit einer der oben
von Kants Kritik der reinen Vernunft einen grü- angeführten Aussagen erkennen zu können,
nen Einband hat, weiß ich, weil ich es sehe. müssen wir diese Aussagen zunächst verstehen
Dass Säuren Lackmuspapier rot färben, weiß und die entsprechenden Gedanken denken
ich, weil ich es gelesen habe und Wissenschaft- können. Dazu ist das empirische Erlernen einer
ler es überprüft haben. Es gibt jedoch Dinge, natürlichen Sprache oder der Erwerb empi-
die wir unabhängig von Sinneserfahrung wis- rischer Begriffe (wie Wissen, Junggeselle oder
sen oder wenigstens gerechtfertigt glauben. Um rot) erforderlich. Diese empirische Vorausset-
herauszubekommen, dass 5 + 7 = 12, muss ich zung unseres Wissens soll jedoch dessen aprio-
nicht sinnlich wahrnehmbare Dinge durch- rischen Status nicht in Frage stellen. Wenn man
zählen, ich weiß es in der Regel durch reines also sagt, dass jemand etwas a priori weiß,
Nachdenken. Ähnliches gilt für die folgenden dann will man damit sagen, dass, wenn er die
Aussagen: entsprechende Aussage versteht oder den ent-
(1) Keine Aussage ist zugleich wahr und falsch. sprechenden Gedanken denkt, keine Sinneser-
(Satz vom Widerspruch) fahrung mehr nötig ist, damit daraus Wissen
(2) Junggesellen sind unverheiratet. oder eine gerechtfertigte Meinung wird.
(3) Nichts kann zugleich ganz rot und ganz
grün sein.
(4) Wissen ist nichtzufällig wahre Meinung. Abgrenzungen und Beziehungen zu anderen
Jede dieser Aussagen kann ich wissen, ohne Begriffen im Umfeld. Im Umfeld des Begriffs-
ihre Gegenstände zuvor empirisch zu untersu- paares a priori / a posteriori gibt es einige an-
chen. Ich weiß sie unabhängig von der Erfah- dere Begriffspaare, die davon deutlich unter-
rung, rein a priori. Mathematiker, Logiker, schieden werden müssen. Während a priori / a
Semantiker und ganz besonders Philosophen posteriori die Art und Weise charakterisiert,
interessieren sich für dieses Wissen, das zu- wie wir eine bestimmte Tatsache wissen, also
mindest auf den ersten Blick keine empirischen eine rein erkenntnistheoretische Kategorie ist,
(aposteriorischen) Quellen hat. ( Erkenntnis- beschreibt das Begriffspaar notwendig / kontin-
quellen) Kant war der Erste, der den Begriff gent den metaphysischen Status einer Tatsache.
a  priori zur Charakterisierung einer erfah- Notwendige Tatsachen hätten nicht anders sein
rungsunabhängigen Quelle des Wissens oder können, als sie es aktual sind. Dass Wasser H2O
der Rechtfertigung und den Begriff a posteriori ist, ist (zumindest nach Kripke 1993) eine not-
zur Charakterisierung einer erfahrungsbasier- wendige Tatsache. Es hätte nicht der Fall sein
ten Quelle des Wissens oder der Rechtfertigung können, dass Wasser nicht H2O gewesen wäre.
verwendet hat (KrV B 2). Zwar gab es bereits seit Andernfalls wäre es kein Wasser gewesen. Aber
der Antike Rationalisten, die rationale, nicht- dass ich existiere, ist eine kontingente Tatsache.
empirische Erkenntnisquellen annahmen (z. B. Ich hätte auch nicht existieren können, wenn
Platon, Plotin, Descartes und Leibniz), aber der meine Eltern mich nicht gezeugt hätten. Ein
Begriff a priori hatte vor Kant eine ganz andere weiteres wichtiges Begriffspaar im Umfeld ist 13
A priori

die semantische Unterscheidung zwischen ana- von diesen Konventionen erforderlich, um die
lytischen und synthetischen Sätzen (oder Ge- Wahrheit der analytischen Aussage zu erfassen.
danken). Ein analytischer Satz ist wahr allein Es sind also mit Sicherheit nicht alle analyti-
aufgrund seiner Bedeutung (so wäre der Satz schen Sätze a priori erkennbar, vielleicht jedoch
„Junggesellen sind unverheiratet“ auch dann alle analytischen Gedanken. Denn um die Be-
wahr, wenn die Welt ganz anders beschaffen deutung der eigenen Gedanken zu erkennen,
wäre, als sie ist), ein synthetischer Satz ist da- braucht man sicher kein empirisches Wissen.
gegen wahr aufgrund der Bedeutung und der Was ist mit der These (K3)? Offenbar gibt es
Welt (so wäre der Satz „Meine Ausgabe der unter den oben aufgeführten Beispielen für
Kritik der reinen Vernunft hat einen grünen apriorisches Wissen Aussagen, die nicht ein-
Einband“ nicht wahr, wenn diese Ausgabe einen deutig analytisch sind. Ein solches Beispiel ist
anderen Einband hätte). (3). Wenn ich erfasse, dass nichts zugleich ganz
Kant hat angenommen, dass es ganz bestimmte rot und ganz grün ist, dann nicht deshalb, weil
Beziehungen zwischen den genannten Begriffs- die Begriffe rot und grün einander ausschlie-
paaren gibt: ßen. Bei diesen Begriffen handelt es sich offen-
(K1) Apriorisches Wissen liegt dann und nur bar um phänomenale Begriffe, die basal und
dann vor, wenn Wissen von einer notwendigen deshalb nicht mehr weiter definierbar sind.
Tatsache vorliegt. Dennoch scheinen wir durch reines Nachden-
(K2) Alle analytischen Aussagen sind a priori ken allein dazu fähig, die Wahrheit von (3) ein-
erkennbar. zusehen. Doch wenn wir das annehmen, lauern
(K3) Es gibt neben synthetischen Aussagen a zumindest zwei Probleme, auf die vor allem die
posteriori auch synthetische Aussagen, die a logischen Empiristen hingewiesen haben. Ers-
priori erkannt werden können. tens: Wir können verstehen, wie wir analy-
Kants Thesen sind im 20. Jahrhundert allesamt tische Wahrheiten erkennen können, nämlich
heftig attackiert worden. So hat S. Kripke dar- durch das Verstehen der Bedeutung. Aber
auf hingewiesen, dass es sehr wohl empirisches welche rätselhafte Erkenntnisquelle liegt syn-
Wissen von notwendigen Tatsachen geben thetischen Erkenntnissen a priori zugrunde?
kann. Wir wissen beispielsweise durch die em- Muss man hier so etwas wie eine ursprüngliche
pirischen Wissenschaften, dass Wasser H2O ist, rationale Einsicht annehmen? Zweitens: Wir
obwohl es sich dabei um eine notwendige Tat- können sehr gut verstehen, wie wir durch
sache handelt. Und umgekehrt gibt es nach Sinneswahrnehmung Wissen über die Welt ge-
Kripke auch apriorisches Wissen von kontin- winnen können. Wahrnehmung ist nämlich
genten Tatsachen. So wissen wir z. B. a priori, das Produkt einer kausalen Einwirkung der
dass Wasser flüssig ist, weil diese Eigenschaft Welt auf uns. Aber rationale Einsichten sind
die Referenz des Begriffes Wasser festlegt, aber nicht das Produkt einer kausalen Einwirkung
selbstverständlich könnte Wasser auch fest der Welt auf unser Denken, deshalb bleibt rät-
sein, wenn die Temperaturen wesentlich nied- selhaft, wie wir über solche Einsichten einen
riger wären. Kripke hat also gezeigt, dass (K1) erkenntnistheoretischen Zugang zur Welt be-
falsch ist. Auch (K2) ist problematisch. Das kommen sollen.
zeigt eine sehr einfache Überlegung. Nehmen
wir einmal an, dass analytische Aussagen wahr
aufgrund ihrer Bedeutung sind ( Analytisch), Definitionsversuche. Kants Vorschlag zum
dann könnten wir ihre Wahrheit erkennen, in- Verständnis apriorischen Wissens ist rein nega-
dem wir ihre Bedeutung erkennen. Doch wenn tiv, er sagt nur, um was für eine Wissensquelle
Bedeutungen einer natürlichen Sprache von es sich dabei nicht handelt (nämlich die Erfah-
Konventionen in einer Sprachgemeinschaft ab- rung). Er sagt aber positiv nichts darüber aus,
14 hängen, dann ist offenbar empirisches Wissen wie diese Quelle genauer zu verstehen ist. Diese
A priori

negative Definition scheint zu weit zu sein, um entscheidende Rolle und ist mit der Erfahrungs-
all das auszuschließen, was wir üblicherweise unabhängigkeit apriorischen Wissens nicht in
nicht als Wissen a priori bezeichnen. So wird Einklang zu bringen. Vertreter der evolutionä-
z. B. von vielen Konzeptionen des Selbstwissens ren Erkenntnistheorie sagen deshalb auch, dass
aus der Perspektive der ersten Person ange- das individualgeschichtliche Apriori ein stam-
nommen, dass Selbstwissen nicht auf irgend- mesgeschichtliches Aposteriori ist.
welchen Gründen beruht, sondern unmittelbar b) unfehlbare Gründe: Vielfach wurden in der
oder direkt ist. Doch wenn ich Wissen von mei- Tradition apriorische Gründe mit unfehlbaren
nen gegenwärtigen Erlebnissen oder Gedanken Gründen gleichgesetzt. Descartes ist etwa der
nicht auf irgendwelche Gründe stütze, dann Auffassung, dass alles, „was ich klar und deut-
beruht es gewiss auch nicht auf Erfahrung. lich (a priori, T. G.) einsehe (…) wahr ist“ (Des-
Dennoch ist es intuitiv unplausibel, Selbstwis- cartes 1992, S. 63). Und für Kant ist aprio-
sen als a priori zu bezeichnen. Ein ähnliches rische Erkenntnis „das Beispiel der apodikti-
Problem taucht im Zusammenhang mit der schen (…) Gewissheit“ (Kant 1998, A  XV).
Erinnerung auf. Erinnerung ist nicht immer Unfehlbarkeit ist aber weder notwendig noch
episodisch, sondern besteht manchmal einfach hinreichend für apriorische Gründe. Sie ist
darin, dass Informationen in einem kognitiven nicht notwendig, weil eine Meinung auf
System über die Zeit hinweg erhalten und wei- nichtempirische Gründe gestützt sein kann,
tergeleitet werden. In diesem Fall gibt es keine auch wenn sie tatsächlich falsch ist. Das pas-
Erinnerungsgründe. Dennoch würden wir siert etwa, wenn uns ein Rechenfehler unter-
diese Art von Erinnerung nicht als apriorische läuft. Auch G. Freges „Begriffsschrift“ (ein for-
Wissensquelle auffassen. Deshalb erscheint es mallogisches System) war sicher durch reines
sinnvoll, nach einer positiven Defi nition aprio- Nachdenken gerechtfertigt, selbst wenn sich
rischen Wissens zu suchen. Sehen wir uns eine später durch Russells Paradoxie herausstellte,
Reihe von Vorschlägen genauer an: dass sie einen Widerspruch enthielt und des-
a) angeborenes Wissen: Bereits in Platons halb nicht wahr sein konnte. Unfehlbarkeit ist
Anamnesis-Lehre, aber besonders auch in der aber auch nicht hinreichend für apriorische
frühen Neuzeit (bei Descartes und Leibniz) fin- Gründe. Sicher kann man zur Annahme der
det sich die Idee, dass nichtempirisches Wissen eigenen Existenz durch Körpergefühl (also auf
angeboren ist. Allerdings scheint das für aprio- empirischem Wege) kommen. Diese Annahme
risches Wissen nicht notwendig zu sein, weil kann nicht falsch sein, weil man sich über die
wir es in vielen Fällen erst durch die Anwen- eigene Existenz nicht täuschen kann. Dennoch
dung spezifischer Methoden erwerben. So wird ist die Annahme nicht a priori gerechtfertigt,
man nicht sagen wollen, dass uns alles mathe- wenn man zu ihr auf empirischem Wege ge-
matische Wissen angeboren ist, denn offenbar langt ist.
können wir unbeschränkt viel neues mathema- c) durch Erfahrung nicht anfechtbare Gründe:
tisches Wissen erwerben. Dass Wissen angebo- In neuerer Zeit wurde der Vorschlag gemacht,
ren ist, scheint jedoch auch nicht hinreichend die Erfahrungsunabhängigkeit apriorischer
zu sein, damit dieses Wissen nichtempirisch Rechtfertigung so zu verstehen, dass sie nicht
ist. Die evolutionäre Erkenntnistheorie nimmt durch Erfahrung angefochten werden kann
an, dass es Wissen gibt, das durch Vererbung (Kitcher 2000). Doch eine solche empirische
an Nachkommen weitergegeben wird. Aus ihrer Unanfechtbarkeit ist nicht notwendig für die
Sicht wird Wissen vererbt, wenn es durch apriorische Rechtfertigung, weil Meinungen
Mutation zufällig erworben wird und sich im auch dann durch eine bestimmte Quelle ge-
Wettbewerb um die besseren Fortpflanzungs- rechtfertigt sein können, wenn die Rechtferti-
möglichkeiten empirisch bewährt. Der empiri- gung im Prinzip durch eine andere Quelle
sche Prozess der Selektion spielt hier also eine widerlegt werden kann. Erinnerungsmeinun- 15
A priori

gen sind klarerweise durch Wahrnehmungs- (P2) Ohne apriorisches Wissen hätten wir kein
meinungen widerlegbar, aber deshalb hören sie Wissen von X.
nicht auf, durch Erinnerung gerechtfertigt zu (C1) Also haben wir apriorisches Wissen.
sein, solange sie nicht tatsächlich widerlegt Rationalisten verweisen typischerweise auf
werden. Es ist jedoch auch nicht hinreichend drei Bereiche, von denen man eigentlich nicht
für eine apriorische Rechtfertigung, wenn eine verstehen kann, wie empirisches Wissen von
Meinung empirisch nicht widerlegbar ist. Wenn ihnen möglich sein soll. Da ist zunächst unser
man notwendige Strukturmerkmale jeder Er- Wissen von logischen und mathematischen
fahrung psychologisch herausfindet, dann ist Wahrheiten. Ferner haben wir offenbar nicht
die entsprechende Meinung durch Erfahrung nur Wissen von metaphysisch notwendigen
nicht widerlegbar. Dennoch ist eine psycholo- Tatsachen, sondern wir können auch ihren
gisch begründete Meinung sicher nicht a priori modalen Status erkennen, also dass sie not-
gerechtfertigt. wendig sind. Auch hier sieht man nicht un-
d) intellektuelles Erscheinen der Notwendig- mittelbar, wie man diesen Status anders er-
keit: Die neuen Rationalisten (wie Bealer und kennen könnte als dadurch, dass sich das
BonJour) sind der Auffassung, dass apriorische jeweilige Gegenteil nicht denken lässt; und das
Gründe uns eine fragliche Aussage immer als wäre eine rein apriorische Methode. Schließ-
notwendig wahr scheinen lassen. Aber diese lich lässt sich auch philosophisches Wissen
Bedingung dürfte zu stark sein. Wenn wir nicht ohne Weiteres empirisch verstehen.
mathematisches Wissen in der Regel a priori Wenn wir etwa klären wollen, was Wissen,
erwerben, dann erfassen wir z. B., dass 2 + 2 = 4, Freiheit oder Wahrheit ist, dann untersuchen
aber nicht, dass diese Tatsache notwendig ist. wir diese Phänomene nicht mit empirischen
e) Selbstevidenz: Häufig wird die Auffassung Methoden, sondern wir bewerten hypotheti-
vertreten, dass a priori gerechtfertigte Mei- sche Fälle in sogenannten Gedankenexperi-
nungen selbstevidente Meinungen sind (Bon- menten darauf hin, ob sie unter den entspre-
Jour 1998, S. 102). Selbstevidenz bedeutet da- chenden Begriff fallen. Auch das geschieht aus
bei, dass einem die Wahrheit eines Gedankens dem Lehnstuhl des Philosophen heraus durch
unmittelbar und allein aufgrund des Ver- reines Nachdenken und erfordert keine empi-
stehens dieses Gedankens einleuchtet. Das rische Forschung. Radikale Empiristen kön-
würde sehr gut erklären, warum diese Recht- nen gegen solche Defizienzargumente zwei
fertigung nichtempirisch ist, sagt aber mehr unterschiedliche Strategien einschlagen. Zum
aus als Kants rein negative Definition. Das einen können sie einfach leugnen, dass wir
Phänomen der Selbstevidenz wird häufig auch Wissen von X haben. Das ist die skeptische
als rationale Einsicht oder rationale Intuition Strategie. Oder sie behaupten, dass es am Ende
umschrieben. Dies scheint die bestmögliche doch eine empirische Erklärung unseres Wis-
Charakterisierung apriorischer Rechtfertigung sens von den fraglichen Gegenstandsbereichen
zu sein. gibt.
Ein anderes indirektes Argument für apriori-
sches Wissen ist das Selbstaufhebungsargument.
Argumente für apriorische Erkenntnis. Dass Es hat die folgende Struktur:
es apriorische Erkenntnis (Wissen oder Recht- (P3) Um apriorisches Wissen widerlegen zu
fertigung) gibt, wird im Allgemeinen durch können, müssen wir X wissen können.
indirekte Argumente zweierlei Art begründet. (P4) X können wir nur a priori erkennen.
Das Defizienzargument (wir hätten bestimmtes (C2) Also können wir apriorisches Wissen nur
Wissen ohne apriorisches Wissen nicht) hat die dann widerlegen, wenn wir es als existent vor-
folgende Form: aussetzen. (Selbstwiderspruch)
16 (P1) Wir haben Wissen von X. Unter den gegenwärtigen Rationalisten gibt es

Das könnte Ihnen auch gefallen