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Prof. Dr.

Christine Hanke
Skript zur
V Geschichte und Ästhetik audiovisueller und digitaler Medien I
WS 2020/21

02 Philosophien des Bildes


Rekapitulation der letzten Vorlesung
In der ersten Vorlesung hatten wir uns – ausgehend vom Titel der Vorlesung – mit der
Mehrdeutigkeit des Ästhetik-Begriffs beschäftigt. Mit Bezug auf die altgriechischen
Begriffe aisthesis und techné hatten wir insbesondere den Aspekt der Wahr-Nehmung im
Sinne einer passio sowie den Aspekt der Gestaltung im Sinne von Formgebung und Arbeit
anvisiert. Ästhetik in diesem doppelten Sinne bezieht sich also sowohl auf Wahrnehmung
als auch auf Gestaltung, sie hat gleichermaßen mit – um es in anderen Begriffen zu sagen –
mit Rezeption und mit Produktion zu tun. Wir hatten zudem gesagt, dass mit Bezug auf
beide Aspekte der Ästhetik mediale Differenzen zu berücksichtigen sind, denn jedes
'Medium' agiert auf je unterschiedliche Weise und ermöglicht je spezifische Weisen der
Wahrnehmung sowie der Gestaltung.
Um diese Ästhetiken des Medialen zu untersuchen, sind zwei methodische Zugänge
gleichermaßen erforderlich (1. methodologische Bemerkung): Ästhetiken sind
systematisch im Hinblick auf ihre medialen Differenzen in Wahrnehmung wie Gestaltung
und historisch im Hinblick auf Verschiebungen, Transformationen in Gestaltungs- wie
Wahrnehmungsweisen zu untersuchen. Unser Zugang wird daher sowohl um
Systematisierung wie um Historisierung bemüht sein.
Unter Bezugnahme auf den Begriff der Medialität – der insbesondere auf Vermittlungen
und Transformationen durch Medien verweist – hatten ich Ihnen dann als Analyse-
Instrument eine Unterscheidung von diskursiven und aisthetischen Medien vorgestellt:
Aisthetische Medien operieren sinnlich, richten sich daher an die Wahrnehmung und
umfassen die 'Basismedien' Bild und Sound. Diskursive Medien adressieren den Geist
bzw. Logos und operieren im Modus von Struktur, Ordnung, Unterscheidung – die
'Basismedien' Zahl und Wort gelten als solche. Die je unterschiedlichen Funktionsweisen
dieser vier medialen Logiken verdeutlichten die gegenseitige Irreduzibilität und
Unübersetzbarkeit verschiedener Medien – jedes Medium operiert sowohl in Bezug auf
seine Wahrnehmung als auch die von ihm gegebenen Gestaltungsmöglichkeiten auf
grundlegend unterschiedliche Weise, sie sind nicht eins zu eins ineinander überführbar.
Das führte mich zu einer 2. methodologischen Überlegung: Denn gehen wir von einer
Unübersetzbarkeit zwischen aisthetischen und diskursiven Medien aus, haben wir ein
methodologisches Problem mit dem was wir als Medienwissenschaftler/innen tun: Wie
lässt sich im Medium der Sprache in angemessener Weise über andere Medien sprechen?
Ich hatte darauf hingewiesen, dass sich eine solche Rede etwa über das Bildmedium – so
wie ich es in dieser Veranstaltung vorhabe – sich im Klaren darüber sein muss, dass sich
das Bild nicht ohne einen eklatanten medialen Bruch in Sprache übersetzen lässt. Dieser
Bruch lässt sich vor dem Hintergrund dieses Medienverständnisses nicht kitten, daher soll
er im Folgenden nicht verdeckt, negiert oder zugeschüttet werden, sondern diese Spaltung
wird reflexiv immer wieder vergegenwärtigt.
Wenn wir uns aber nun dem Medium Bild zuwenden, müssen wir uns zunächst der Theorie
und Bildphilosophie zuwenden. D.h. nicht, dass wir nun definieren, was ein Bild ist,
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sondern wir beschäftigen uns mit dem Bildbegriff und fragen: Wie über Bilder nachdenken,
wie über sie sprechen? Bevor wir in die Analyse von Material und in die Frage der
Ästhetik von Bildern einsteigen, betrachten wir in dieser zweiten Vorlesung also, welche
Bildverständnisse es gibt. Wir werden uns also verschiedenen Theorien des Bildes und
bildphilosophischen Perspektiven beschäftigen, denn es gibt unterschiedliche
Möglichkeiten über das Besondere des Mediums Bild zu sprechen.
Die Funktion von Theorie ist also nicht die Definition, sondern Theorien bieten
unterschiedliche Weisen an über Bildlichkeit nachzudenken, als spezifische
Perspektivierung des Untersuchten, welches das Untersuchte jeweils auf besondere Weise
erscheinen lässt. Die folgende Skizze und Diskussion verschiedener Bildtheorien verfolgt
dabei insbesondere das Ziel zu zeigen, dass es systematisch ganz verschiedene Weisen
gibt, über das Bild und Bildliche nachzudenken. Wenn wir Theorie verstehen als Weise
des Nachdenkens, dann ist nicht mehr von Interesse, ob eine Theorie 'Recht' hat – ohnehin
wäre ja ein Standpunkt schwer zu bestimmen, von wo aus beurteilt werden könnte, ob
Theorie Recht oder Unrecht habe. Es geht mir hier vielmehr um eine Systematisierung
verschiedener Perspektiven auf das Bild. Sie werden hier also auch keiner Definition
begegnen, stattdessen skizziere ich unterschiedliche Versionen wie Bildlichkeit gefasst
wird. Jeder Zugang macht dabei Spezifisches erkennbar, während andere Aspekt außen vor
gelassen, ignoriert oder verstellt werden.

Platonische Tradition
Ich möchte beginnen mit der platonischen Bildvorstellung, einer Perspektive der
griechischen Antike, welche in unserem heutigen Verständnis vom Bild und der Weise,
wie wir über es nachdenken, bis heute nachhaltig weiter wirkt – wie überhaupt die
abendländische Kultur der griechischen Antike und ihrer 'Wiederentdeckung' und
'Wiederbelebung' im Zuge der Renaissance im 14./15, Jahrhundert viel verdankt.
Ein Bezugspunkt ist hier das Höhlengleichnis aus Platons POLITEIA (um 370 v. Chr.), auf
das bis heute vor allem in medientheoretischen Ansätzen zu Leinwand und Kino Bezug
genommen wird. In Platons POLITEIA finden sich drei wichtige Gleichnisse: Das
Sonnengleichnis, welches die Figur der Sonne in den Kontext von Licht, Erkennen,
Wahrheit und Erkennen des Seins verorten; dem Liniengleichnis, das eine Ordnung des
Sichtbaren und Denkbaren vornimmt; beide Gleichnisse zusammen bieten die Grundlage
für ein Verständnis des Höhlengleichnisses, das uns im Folgenden genauer interessiert.
Das Höhlengleichnis führt formal die Situation philosophischer Ausbildung vor: Der
Lehrer (hier die Figur des Sokrates, bei dem Platon gelernt hat) im Dialog mit dem Schüler
bzw. den Schülern (in dieser Passage Glaukon). Der Schüler ist eingeladen das vom Lehrer
erzählte Gleichnis nachzuvollziehen und auf diese Weise zu verstehen. Das hier berichtete
Gleichnis erzählt vom Ausbildungsweg des Philosophen aus den 'dunklen Höhlen' des
gewöhnlichen Lebens in die höchsten Sphären, das 'Licht', die Erkenntnis des Seins. Das
Höhlengleichnis selbst operiert dabei bemerkenswerterweise in einem Modus der
Bildbeschreibung – ohne dass es selsbt jedoch Bildtheorie wäre.
Das Gleichnis in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher lautet wie folgt – im
Dialog befinden sich, wie gesagt, Sokrates (der Lehrer Platons) und Glaukon:

"Nächstdem, sprach ich, vergleiche dir unsere Natur in Bezug auf Bildung und Unbildung
folgendem Zustande. Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen
Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser
seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck
bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen
nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne
her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs
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diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern
sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen. – Ich sehe, sagte er. – Sieh nun
längs dieser Mauer Menschen allerlei Geräte tragen, die über die Mauer herüberragen, und
Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit; einige, wie
natürlich, reden dabei, andere schweigen. – Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar
und wunderliche Gefangene. – Uns ganz ähnliche, entgegnete ich. Denn zuerst, meinst du wohl,
daß dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander je etwas anderes gesehen haben als
die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft? – Wie
sollten sie, sprach er [Glaukon], wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf unbeweglich zu
halten! – Und von dem Vorübergetragenen nicht eben dieses? – Was sonst? – Wenn sie nun
miteinander reden könnten, glaubst du nicht, daß sie auch pflegen würden, dieses Vorhandene
zu benennen, was sie sähen? – Notwendig. – Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall
hätte von drüben her, meinst du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden
denken, etwas anderes rede als der eben vorübergehende Schatten? – Nein, beim Zeus, sagte er.
– Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten
jener Kunstwerke? – Ganz unmöglich. –
Nun betrachte auch, sprach ich, die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem
Unverstande, wie es damit natürlich stehen würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Wenn
einer entfesselt wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu
gehen und gegen das Licht zu sehn, und, indem er das täte, immer Schmerzen hätte und wegen
des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die
Schatten sah: was, meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er
lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden näher und zu dem mehr Seienden gewendet,
sähe er richtiger, und, ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge,
was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen,
sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde? – Bei weitem, antwortete er. –
Und wenn man ihn gar in das Licht selbst zu sehen nötigte, würden ihm wohl die Augen
schmerzen, und er würde fliehen und zu jenem zurückkehren, was er anzusehen imstande ist,
fest überzeugt, dies sei in der Tat deutlicher als das zuletzt Gezeigte? – Allerdings. – Und,
sprach ich, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang
schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel
Schmerzen haben und sich gar ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das Licht kommt
und die Augen voll Strahlen hat, wird er nicht das Geringste sehen können von dem, was ihm
nun für das Wahre gegeben wird. – Freilich nicht, sagte er, wenigstens nicht sogleich. –
Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst würde er
Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der andern Dinge im
Wasser, und dann erst sie selbst. Und hierauf würde er was am Himmel ist und den Himmel
selbst leichter bei Nacht betrachten und in das Mond- und Sternenlicht sehen als bei Tage in die
Sonne und in ihr Licht. – Wie sollte er nicht! – Zuletzt aber, denke ich, wird er auch die Sonne
selbst, nicht Bilder von ihr im Wasser oder anderwärts, sondern sie als sie selbst an ihrer
eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten imstande sein. – Notwendig, sagte er. – Und dann
wird er schon herausbringen von ihr, daß sie es ist, die alle Zeiten und Jahre schafft und alles
ordnet in dem sichtbaren Raume und auch von dem, was sie dort sahen, gewissermaßen die
Ursache ist. – Offenbar, sagte er, würde er nach jenem auch hierzu kommen. – Und wie, wenn
er nun seiner ersten Wohnung gedenkt und der dortigen Weisheit und der damaligen
Mitgefangenen, meinst du nicht, er werde sich selbst glücklich preisen über die Veränderung,
jene aber beklagen? – Ganz gewiß. – Und wenn sie dort unter sich Ehre, Lob und Belohnungen
für den bestimmt hatten, der das Vorüberziehende am schärfsten sah und am besten behielt, was
zuerst zu kommen pflegte und was zuletzt und was zugleich, und daher also am besten
vorhersagen konnte, was nun erscheinen werde: glaubst du, es werde ihn danach noch groß
verlangen und er werde die bei jenen Geehrten und Machthabenden beneiden? Oder wird ihm
das Homerische begegnen und er viel lieber wollen ‹das Feld als Tagelöhner bestellen einem
dürftigen Mann› und lieber alles über sich ergehen lassen, als wieder solche Vorstellungen zu
haben wie dort und so zu leben? – So, sagte er, denke ich, wird er sich alles eher gefallen lassen,
als so zu leben. –
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Auch das bedenke noch, sprach ich. Wenn ein solcher nun wieder hinunterstiege und sich auf
denselben Schemel setzte: würden ihm die Augen nicht ganz voll Dunkelheit sein, da er so
plötzlich von der Sonne herkommt? – Ganz gewiß. – Und wenn er wieder in der Begutachtung
jener Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm
noch vor den Augen flimmert, ehe er sie wieder dazu einrichtet, und das möchte keine kleine
Zeit seines Aufenthalts dauern, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit
verdorbenen Augen von oben zurückgekommen und es lohne nicht, daß man auch nur versuche
hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, wenn man
seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen? – So sprächen
sie ganz gewiß, sagte er. –1

In der Erzählung vom erzwungenen2 Aufstieg des Höhlenbewohners zum Sehenden


veranschaulicht das Höhlengleichnis im platonisch-sokratischen Kontext den
philosophischen Bildungsweg, der – mit dem Sonnen- und dem Liniengleichnis zusammen
genommen – als Befreiungsprozess und Erkenntnisprozess formuliert wird. Das Ziel ist der
Aufstieg aus der sinnlich wahrnehmbaren Welt der vergänglichen Dinge in die rein
geistige Welt des unwandelbaren Seins, die Welt der Ideen, das Gute. Die befreite Figur
aus dem Gleichnis kann dabei verstanden werden als der Philosoph (der in der antiken
Polis eine zentrale Rolle einnimmt) auf seinem schrittweisen Weg zur Gerechtigkeit: In
das Licht der Sonne schauen zu können, und die Sonne am Ende als die eigentliche
Ursache und Idee von Allem zu erkennen - das ist die Erkenntnis der Wahrheit des Lebens
und des Universums. Mit Blick auf die Schattenbilder formuliert das Gleichnis eine
stufenweise Staffelung und Verstellung der Welt der Ideen: von der Sonne zu den Dingen
der Welt, zu deren Schatten und Spiegelbildern, über das Feuer in der Höhle zu den
Puppen und Gegenständen, zu deren Schatten auf der Höhlenwand, auf die allein die
Zuschauer blicken (können). Wir haben es also mit Abbildern von Abbildern von
Abbildern usw. zu tun, die alle auf ein Urbild bzw. eine Idee (eidos) zurückgehen.

Schema zur Deutung des Gleichnisses1


Überlagerung der Deutungsangebote aus den
drei Gleichnissen (Sonnen-, Linien- und
Höhlengleichnis)

1
Platon: Politeia (Übersetzer: Friedrich Schleiermacher), Siebentes Buch, zitiert nach:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/4885/1
2
Im Internet finden sich Nacherzählungen/Zusammenfassungen des Höhelngleichnissen, die behauoten, der
Gefangene habe sich selbst befreit und ins Licht der Erkenntnis begeben. Hierbei handelt es sich um eine
fehlverstandene Rückprojektion des Kant'schen Diktums vom Ausgang des Menschen aus seiner selbst
verschuldeten Unmündigkeit. Eine solche Option ist bei Platon nicht im Horizont des Möglichen gewesen.
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Auch wenn es in diesem Gleichnis nicht primär um das Bild geht, findet sich in ihm doch
ein spezifisches Bildverständnis formuliert, das den Anfang einer bis heute verbreiteten
Tradition von unserem Verständnis vom Bild bildet, dass Bilder Realität vorgaukelnde
täuschende Schattenbilder sind – das ist ein sehr spezifisches und langlebiges, daher
problematisches Urteil über das Medium Bild. Die zentralen Punkte dieses
Bildverständnisses können wie folgt skizziert werden:

- Platon nimmt das Bild überhaupt erst in die Theorie des Seins mit auf – wir haben es also
mit einer Anerkennung des Bildes zu tun. Platon erkennt das Bild als Faktizität an und
steht gegen die Position etwa des Parmenides ("Was ist, ist. Was nicht ist, ist nicht"), in der
das Bild der philosophischen Beachtung nicht würdig ist, da das auf ihm zu Sehende
schlicht als nicht existent gedacht wird.
- Allerdings steht diese Anerkennung unmittelbar unter dem Diktum der Abwertung, das
Bild wird disqualifiziert, denn es wird als Täuschung begriffen: Das Bild erscheint als
real, es wird sogar mit der Realität verwechselt, d.h. es wird als eine Illusion von Realität
beschrieben, es täuscht – damit einhergehend wird von einer Unterscheidung von Schein
und Sein (das 'wahre Sein' liegt in der Welt der Ideen) ausgegangen.
- Impliziert ist zudem die Abbildqualität des Bildlichen: die Anordnung in der Höhle
generiert eine durch das Feuer induzierte quasi indexikalische Verbindung zwischen dem
Abgebildeten und dem Bild – im Grunde geht es hier ausschließlich um gegenständliche
Bilder.
- Allerdings handelt es sich bei den Bildern bereits um Abbildern von Abbildern, denn es
handelt es sich (nur) um Schatten von Bildsäulen, von steinernen und hölzernen Bildern –
puppenartigen Skulpturen also, die selbst bereits Nachbildungen sind. Die Abbildqualität
ergibt sich in diesem Verständnis aus einer Verursachungsbeziehung und einer
Ähnlichkeitsbeziehung (in der semiotischen Perspektive nach Peirce würden wir heute
sagen: das Bild wird verstanden als indexikalisch und als ikonisch)3.
- Das Bildliche erscheint hier als etwas Abgeleitetes, Sekundäres: Es ist nur ein Derivat
der wahren Existenz, ein Supplement, ein unwichtiges, nicht für wahr zu Nehmendes, das
Bild ist nur das täuschende letzte Glied einer langen Kette von Ersetzungen des Guten und
des Göttlichen.

Die bedrohliche Macht des Bildes und Ikonoklasmus

Diese Weise über das Bildliche nachzudenken leitet eine abendländische Tradition ein, die
vom christlichen Ikonoklasmus über den Protestantismus hin zur heutigen Behauptungen
manipulativer TV-Bilder führt. Dem Bildlichen wird dabei bemerkenswerterweise schon
bei Platon eine eigentümliche Macht zugesprochen - eine Illusionskraft, welche ermöglicht
eine glaubhafte Realität vorzugaukeln und das Abgebildete als das Wahre ausgeben. Diese
Zuschreibung von Macht an das Bild wiederum findet sich sowohl in den ikonoklastischen
als auch den ikonophilen Gesten durch die gesamte Kulturgeschichte, bei den
Bilderstürmern ebenso wie bei den Bilderverehrern.
Dem Bild wird also Macht zugesprochen – diese Annahme einer besondere Kraft bzw.
Macht des Bildlichen führt in der Kulturgeschichte zu einer ganzen Reihe von
Auseinandersetzungen um die Rolle von Bildern insbesondere im religiösen Kontext sowie
eine lange Geschichte von Bildzerstörungen

3
Vgl. meine Ausführungen zu Peirce in der Skizzierung des zeichentheoretischen Bildzugangs.
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Platons Abwertung des Bildes findet sich dann v.a. im Christentum wieder. Aus dem Alten
Testament der Bibel kennen Sie das 1. und – je nach Zählung – das 2. Gebot:4 "Ich bin der
Herr, dein Gott […]. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst Dir kein
Bildnis machen noch irgendein Gleichnis [d.h. hier Abbild] machen, weder von dem, was
oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser
unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht."5 Dieses Gebot gilt für das
Juden- wie für das Christentum, und auch wenn im Koran kein dezidiertes Verbot von
Bildnissen formuliert wird, so findet sich auch im Islam ein tradiertes Gebot, keine
Abbilder Gottes, des Propheten oder der Schöpfung anzufertigen.
Symptomatisch für das Gebot des Alten Testaments ist die Geschichte vom Tanz ums
Goldene Kalb. Schon hier geht es um einen Konflikt zwischen Bildverehrern und
Ikonoklasten: Während das Volk Mose auf seiner Flucht aus Ägypten auf die Rückkehr
Mose wartet, der auf dem Berg Sinai von Jahwe die Gesetzestafeln empfängt, wird es
mutlos und schmilzt alles Gold ein und gießt es in die Figur eines Kalbes, das sie als ihren
anvisierten Retter anbeten und umtanzen.6 Gott erzürnt, Mose zerstört das Goldene Kalb
umgehend, und setzt auf diese Weise Gottes Bilderverbot um.
Dem religiösen Bildverbot liegt die Annahme der alleineigen Schöpferrolle Gottes
zugrunde, die es dem Menschen nicht erlaubt Bilder zu erschaffen. Im Verbot Bilder zu
verehren, steckt einerseits eine Vorstellung der Unabbildbarkeit Gottes und seiner
Schöpfung (den Menschen oder auch Jesus als sein Abbild zu schaffen, steht alleine Gott
zu). Zugleich aber formuliert sich hier eine eigentümliche Angst, die Bilder könnten die
Macht übernehmen, die doch alleine Gott zusteht. Hier offenbart sich gleichermaßen eine
Paradoxie jedes Ikonoklasmus, eine Spannung, welche das Bild einerseits nur als
Supplement, als Anhängsel begreift und ihm darin doch gleichzeitig eine ungeheure Macht
zuspricht: Gilt das Bild, das als Mittler zum Göttlichen in einem rituellen Kontext
verwendet wird, als von Menschenhand gemacht und stellt daher eine Gitteslästeurng dar –
wie kann es dann überhaupt solche Macht haben, dass es dem 'wahren Gott' gefährlich
wird, woher dann überhaupt die Sorge?7

Schon seit Beginn des Christentums ist die Rolle des Bildes umstritten. Gegen
ikonoklastische Bestrebungen betonen ikonophile Argumente die kommunikative Aufgabe
der Bilder, den Verweischarakter des Bildes (die Verehrung gelte nicht dem Abbild,
sondern Christus selbst) und die Menschwerdung Gottes in Christus: sein menschlicher
Charakter erlaube auch die Abbildung Christi.

4
Eine andere Zählung ergibt sich dort, wo das Bilderverbot - "Du sollst dir kein Bildnis machen" - als
zweites Gebot aufgeführt wird, so in der anglikanischen, reformierten und orthodoxen Tradition. Dort
werden dann "neuntes" und "zehntes" Gebot als ein Gebot verstanden, vgl. Evangelische Kirche in
Deutschland (EKD): Die Zehn Gebote, http://www.ekd.de/glauben/zehn_gebote.html, zuletzt gesehen am
13.6.2012.
5
2. Mose 10, 1-5 (nach der Übersetzung Martin Luthers)
6
"Als aber das Volk sah, daß Mose ausblieb und nicht wieder von dem Berge zurückkam, sammelte es sich
gegen Aaron und sprach zu ihm: Auf, mach uns einen Gott, der vor uns hergehe! Denn wir wissen nicht, was
diesem Mann Mose widerfahren ist, der uns aus Ägyptenland geführt hat. Aaron sprach zu ihnen: Reißet ab
die goldenen Ohrringe an den Ohren eurer Frauen, eurer Söhne und eurer Töchter und bringt sie zu mir. Da
riß alles Volk sich die goldenen Ohrringe von den Ohren und brachte sie zu Aaron. Und er nahm sie von
ihren Händen und bildete das Gold in einer Form und machte ein gegossenes Kalb. Und sie sprachen: Das ist
dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat!" (AT, 2. Mose 32,1–4)
7
Vgl. a. Bruno Latour: Iconoclash oder Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges? Berlin 2002.
V Geschichte und Ästhetik digitaler und audiovisueller Medien I (WS2020/21) – 02 Philosophien des Bildes
7

Kurze kulturhistorische Skizze:8 Blickt man in die Kulturgeschichte, wird deutlich, dass
v.a. im religiösen Kontext immer wieder neue Debatten um das Pro und Contra von
Bildern geführt wurden. Die Urchristen hatten noch keine Bilder. Als sich dann langsam
Bilder durchsetzten, lässt das Konzil von Nicäa (325 n.Chr.) Bilder zu, u.a. weil Christus
als Menschwerdung Gottes als abbildbar gilt. Im byzantischen Reich spielten Ikonen als
transportable Kultbilder eine zentrale Rolle, bis Streitigkeiten in den theologischen
Oberschichten Byzanz' in die ikonoklastische Initiative Kaiser Leo III. mündet, die
Entfernung des Christusbildes am Palast zu befehlen. Es folgt ein Bildersturm, der weiter
angetrieben wird über ein Dekret zur Vernichtung aller Bilder (730) und das Konzil v. 754
beschließt, die Verehrung von Bildern sei Ketzerei. Diese Beschlüsse werden im 2. Konzil
von Nicäa (787) wieder aufgehoben. Auch 815 ruft wieder ein Konzil ein Bildverbot aus,
das dann 843 wieder beigelegt wird. Dieses fortwährende Hin und Her macht deutlich, das
der Konflikt um den Status des Bildes unentschieden und unlösbar bleibt, die vom Bild
ausgelöste Beunruhigung scheint nicht aufhebbar.
Im Zusammenhang mit der Reformation bricht der Bilderstreit ein weiteres Mal aus:
Luther selbst spricht sich zwar nicht gegen die Verwendung von Bildern aus, doch gab es
in der Reformation gewichtige Stimmen - insbesondere die Calvinisten – gegen Bilder. Bei
der Übernahme von Kirchen in reformierte Hände stand insbesondere zur Debatte, ob die
dortigen Heiligenbilder erhalten bleiben sollten oder nicht. Die deutlich schlichtere
bildliche Ausstattung von protestantischen Kirchen im Vergleich zu katholischen Kirchen
ist bis heute als Spur dieses Ikonoklasmus zu erkennen.
Auch im Islam gibt es unterschiedliche Positionen. Im Koran gibt es dazu keine expliziten
Stellen, erst über die Hadith-Sammlungen kommen Mohammed zugeschriebene
bilderfeindliche Positionen in Umlauf. Wir werden auf das islamische Abbildverbot in
einer der kommenden Sitzungen noch zu sprechen kommen.
Deutlich wird an diesen Beispielen, wie stark umstritten die Rolle des Bildlichen im
religiösen Kontext ist. Mit dem Bild ist hier eine spezifische Sorge verbunden – dem die
drei Weltreligionen vereinenden Verbot ein Gottesbild zu erstellen liegt im Grunde die
Sorge zugrunde, es könne Gott ersetzen bzw. zu viel Macht erlangen. Implizit ist in dieser
Sorge um das Bild die Annahme einer ungeheuren Macht des Bildlichen – so groß, dass es
gar die Rolle Gottes übernehmen könne?
Ähnliche Gesten finden Sie aber auch in der Zerstörung der Lenin- und Stalin-Denkmäler
nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in den frühen 1990er Jahren, beim
Sturz der Saddam Hussein-Statue 2003 in Baghdad oder auch bei der Zerstörung der
Buddha-Statuen von Bamiyan in Afghanistan 2001 durch die Taliban. Eine ironischen
Kommentar auf die ikonoklastischen Bestrebungen zur Tilgung des historischen
Gedächtnisses aus dem öffentlichen Straßenraum der postsowjetischen Ukraine
unternimmt der Künstler Alexander Milov, wenn er eine Lenin-Statue in Odessa in eine
Statue von Darth Vader (die 'dunkle Seite der Macht') umwandelt, die mit ihrem WLAN
Hotspot nunmehr Publikum anzieht statt es abzustoßen.9

8
Um sich einen kleinen ersten Eindruck zu verschaffen, vgl. ausnahsmweise folgende Einträge bei
Wikipedia, die jedoch nicht als wissenschaftliche Fachliteratur zitierbar wäre: Ikonoklasmus
(https://de.wikipedia.org/wiki/Ikonoklasmus), Byzantinischer Bilderstreit
(https://de.wikipedia.org/wiki/Byzantinischer_Bilderstreit), Reformatorischer Bildersturm
(https://de.wikipedia.org/wiki/Reformatorischer_Bildersturm), Bilderverbot im Islam
(https://de.wikipedia.org/wiki/Bilderverbot_im_Islam), Politischer Ikonoklasmus
(https://de.wikipedia.org/wiki/Politischer_Ikonoklasmus).
9
Lanre Bakare: The force awakens (in Ukraine): Darth Vader statue replaces Lenin Monument. In: The
Guardian Online 23.10.2015, https://www.theguardian.com/film/2015/oct/23/darth-vader-statue-erected-
ukraine (zuletzt gesehen 30.12.2016).
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Gleichzeitig zu diesen Ikonoklasmen begegnen wir durch die Kulturgeschichte hindurch


aber auch starken ikonophilen Strömungen, beide Seiten scheinen - wie schon im Gleichnis
um das Goldene Kalb - liegen immer wieder im Streit, ja sie scheinen immer gleichzeitig
als Spannungsfeld zwischen Ikonoklasmus und Ikonophilie aufzutreten. Wenn wir Spuren
von Ikonophilie heute finden wollen, müssen wir nur an die Rede von Ubiquität der Bilder
denken, an die Ausrufung von visual/pictorial/iconic turns und der damit einhergehenden
Zuwendung hin zur Macht der Bilder, an die Dominanz visueller Kultur (Bildgebungen der
Naturwissenschaft, die Rolle von Fotos für soziale Netzwerke wie Facebook, die überaus
erfolgreiche Videoplattform YouTube, Computergames, usw.usf). Und denken Sie an die
Gegenbewegung der vielen kritischen Stimmen zur Rolle und Macht von Bildern im
Zusammenhang mit neuen Medien, deren platonische Züge unverkennbar sind.
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Systematik bildtheoretischer Konzepte


Nach Jahrhunderten eher bildkritischer Perspektiven in der abendländischen Philosophie
werden seit Mitte der 1990er Jahre von mehreren Seiten Turns bzw. Paradigmenwechsel
ausgerufen, welche die Rolle des Bildes in den Mittelpunkt stellen: Pictorial Turn (W.J.T.
Mitchell 1992), Iconic Turn (Gottfried Boehm 1994), Visual Culture (Nicholas Mirzoeff
1998). Mit diesen drei Begriffen beginnt eine umfassende kultur- und
geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit Bildern und visuellen Formen. Diese
Hinwendung zum Bild wirft die Frage nach den involvierten Bildbegriffen auf, die ich im
Folgenden charakterisieren möchte. Systematisch wären Bildtheorien nach drei
verschiedene Perspektiven zu unterscheiden: anthropologischer, zeichentheoretischer
(semiotischer) und wahrnehmungstheoretischer (phänomenologischer) Ansatz.10 Diese von
Lambert Wiesing sog. "Hauptströmungen der gegenwärtigen Philosophie des Bildes"11
überlappen und überkreuzen sich vielerlei Hinsichten. Ich bündele im Folgenden einige
theoretische Positionen unter den je spezifischen Perspektiven.

Philosophische Anthropologie
Anthropologie – das ist die Lehre vom Menschen, sie ist ausdifferenziert nach
verschiedenen Disziplinen, uns interessiert im Folgenden die Philosophische
Anthropologie als ein Nachdenken über den Menschen und das Sein des Menschen.
Im Zentrum der anthropologischen Perspektive steht der Mensch, die Philosophische
Anthropologie fragt nach den Möglichkeitsbedingungen des Menschsein und dem Wesen
des Menschlichen.12 Und in diesem Sinne könnte man zugespitzt formulieren: Die Bild-
Anthropologie interessiert sich für das Bild vorrangig mit dem Fokus, Aussagen über den
Menschen, an sich bzw. das Humane Aussagen zu treffen.

Möglichkeitsbedingungen Mensch – Bild


Mit Bezugnahme auf paläoanthropologische und evolutionsgeschichtliche Forschungen
wird die Anwesenheit von Bildern von Beginn der Menschheitsgeschichte an
(Höhlenmalereien, Lascaux ca. 20.000 v.Chr. u.a.) konstatiert und führt zu Positionen wi
etwa: "Der Evolutionsweg des Menschen jedenfalls ist gekennzeichnet durch die
zunehmende Kreation und Verwendung von Bildern."13
In systematischer Hinsicht dient das Bild – und ihm vorausgehend die Bildfähigkeit – als
Kriterium des Menschseins, und damit vor allem als Kriterium zur Abgrenzung von
Mensch und Tier. Die Kulturfähigkeit des Menschen im Unterschied zum Tier wird
ausgemacht anhand von drei Medien: der Verwendung von Werkzeugen, der Verwendung
von Sprache, und der Fähigkeit zur Herstellung von Bildern.14 In Hans Jonas

10
Ich folge hierbei einer Systematik von bildtheoretischen/-philosophischen Positionen, wie u.a. von
Lambert Wiesing vorgeschlagen. Vgl. Lambert Wiesing: Die Hauptströmungen der gegenwärtigen
Philosophie des Bildes. In: Ders.: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt a.M.
2005: 17-36.
11
Wiesing 2005.
12
Die aktuellen Debatten um den 'Posthumanismus' befragen die abendländische Konzeptionen 'des
Menschen' auf kritische Weise (vgl. etwa Rosi Braidotti).
13
Franz M Wuketits: Bild und Evolution. Bilder: des Menschen andere Sprache. In Klaus Sach-Hombach
(Hg.): Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn. Frankfurt a.M. 2009:
17-30, hier 19
14
Der Trennschärfe dieser Charakteristika zur Unterscheidung von Mensch und Tier wird immer wieder aus
verschiedenen Disziplinen debattiert. So wird durch verhaltensbiologische Studien und Tests immer wieder
entgegnet, welche auch dem Tier Intelligenz, Sprache, Werkzeuggebrauch und sogar bildnerische Leistungen
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philosophischer Schrift "Homo Pictor und die differentia des Menschen" (1961)15 wird das
Bildmachen als das zentrale Merkmal ausgemacht, das den Menschen vom Tier
unterscheidet. Mensch und Bild stehen in anthropologischer Perspektive daher in einem
systematischen Wechselverhältnis gegenseitiger Möglichkeitsbedingungen: Insofern
allein dem Menschen die Fähigkeit Bilder herzustellen zugesprochen wird, ist der Mensch
Möglichkeitsbedingung für das Bild. Und umgekehrt ist das Bild Möglichkeitsbedingung
für den Menschen – seine Menschwerdung/Humanität ist ganz eng mit dem Vermögen zur
Bildlichkeit verknüpft: Wo ein Bild ist, ist zwangsläufig ein Mensch.16 Der konservative
Vertreter philosophischer Anthropologie Arnold Gehlen etwa sagt: "Allein die Verbreitung
künstlerischer Gebilde über alle Zeiten und Völker hinweg rät bereits zu der Vermutung,
dass wir es mit einem echten menschlichen Wesensmerkmal zu tun haben, etwa der
Sprache vergleichbar."17
Streng genommen muss man für den anthropologischen Ansatz konstatieren: "Die
Bedingungen der Möglichkeit von Bildproduktion sind identisch mit den Bedingungen der
Möglichkeit des bewussten, menschlichen Daseins."18
Die Kurzformel für diese Konzeption könnte lauten: "Wo ein Bild, ist auch ein Mensch.
Und wo ein Mensch, dort gibt es auch Bilder."

Distanznahme
Die Vorstellung, dass das Bildvermögen konstitutiv zum Menschsein gehört, ist verbunden
mit einer Überlegung von Distanznahme19: Um ein Bild malen zu können, muss der, der
malt, aus der "Andringlichkeit der Welt"20 zurücktreten – eine Fähigkeit, die bereits dem
Sehen zugesprochen wird (Sie erinnern sich: Auge ist Distanzsinn, während dem Ohr diese
Distanz nicht möglich ist). Was hier als Notwendigkeit bestimmt wird, um ein Bild malen
zu können, hängt eng zusammen mit der das Menschsein (in der anthropologischen
Perspektive, dem Humanen allgemein) ausmachenden Fähigkeit der Reflexion, des
Bewusstseins, des distanzierten Überblicks – als ein Zurücktreten und Herauslösen aus
dem Status als Wesen, das 'blind' [sic!] über Instinkte in Natur und Welt gebettet ist.
Villém Flusser, der ebenfalls in der Fähigkeit der Bildproduktion eine spezifisch
menschliche Tätigkeit sieht, beschreibt die "Geste des Bildermachens" am Bsp. eines
gemalten Ponys in der prähistorischen Höhle Merle wie folgt: Der Maler "ist von einem
Pony zurückgetreten, hat es sich angeschaut, hat dann das derart flüchtig Ersehene an der

nachweisen. Auf diese Weise werden Tiere gewissermaßen dem Menschen angenähert (bzw. machen
umgekehrt den Menschen tierähnlicher). Die unabgeschlossene Debatte um diese Kategorisierung des
Menschen – etwa die Versuche dem Tier Bilderschaffen zuzusprechen – verweist ein weiteres Mal auf die
zentrale Funktion des Bildes für die Konzeption des Menschen.
15
Hans Jonas: Homo Pictor und die differentia des Menschen. In: Zeitschrift für philosophische Forschung .
Bd. 15. H.2.(Apr.-Jun.1961): 161-176 (http://www.jstor.org/stable/20481187)
16
Dass es hierzu auch konkurrierende Forschungen gibt, die etwa nachzuweisen suchen, dass auch Tiere
Werkzeuge benutzen, Bilder malen und über Sprachen verfügen (etwa in der Verhaltensbiologie), zeigt, wie
umstritten diese Bestimmungen des Menschseins sind. Doch halten auch diese Forschungen die Grenze
zwischen Mensch und Tier sorgfältig aufrecht.
17
Arnold Gehlen: Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen.
(1961) In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd 4, Philosophische Anthropologie und Handlungslehre. Frankfurt a.M.
1983: 195.
18
Wiesing zu Jonas, Wiesing 2005: 19.
19
Aus dieser Einsicht gewinnt die Phänomenologie die Kennzeichnung des Sehsinns als Distanzsinn.
20
Jonas 172.
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Felswand festgehalten, und zwar so, dass es andere wiedererkennen können"21. Versuchen
Sie sich vorzustellen, wie Sie ein Ding ansehen, dass Sie malen wollen - Sie treten von
dem Ding weg und betrachten es zumal auf sehr spezifische Weise: mit einem gerichteten
Blick – Sie treten zurück von dem Ding und von der Welt, sie verschaffen sich einen
Überblick über das zu Malende.22 Der Medienphilosoph Flusser fragt nun nach dem Ort

"wohin man vom Pony zurücktritt. Man könnte meinen, es genüge, einige Schritte zurück
vom Pony zu machen und in einen etwas davon entfernteren Ort (zum Beispiel auf einen
Hügel) zu treten. Wir wissen jedoch aus Erfahrung, dass diese Schilderung nicht völlig
zutrifft. Um sich ein Bild vom Pony zu machen, muss man sich zugleich auch irgendwie in
sich selbst zurückziehen. […] Dieser seltsame Un-Ort, in den man dabei tritt und aus dem
heraus man sich Bilder macht, ist in dieser Tradition mit Namen wie 'Subjektivität' oder
'Existenz' bezeichnet worden. Etwa so: 'Einbildungskraft' ist die eigenartige Fähigkeit, von
der gegenständlichen Welt in die eigene Subjektivität zurückzutreten, Subjekt einer
objektiven Welt zu werden. Oder etwa so: Sie ist die eigenartige Fähigkeit zu ek-sistieren,
anstatt zu in-sistieren. Jedenfalls: diese Geste beginnt mit einer Bewegung der Abstraktion,
des Sich-Herausziehens, des Rückzugs."23

Auch bei Jean-Paul Sartre – der an der Schnittstelle von anthropologischer und
phänomenologischer Ausrichtung positioniert werden könnte – findet sich eine solche
Distanzierungsbeschreibung: "Damit ein Bewusstsein vorstellen kann, muss es sich der
Welt durch sein Wesen selbst entziehen, von sich aus einen Abstand zur Welt einnehmen
können."24 Das Bild dient also auch hier als Exemple für die bestimmung dieser
besonderen menschlichen Fähigkeit. Die Fähigkeit der Bildproduktion ist daher insofern
eine Bedingung für menschliches Dasein, als sie Bewusstsein von etwas ermöglicht, das
nicht anwesend ist – das ist die zentrale Bedingung für Bewusstsein überhaupt, aber auch
von Abstraktheit sowie von Reflexion – allem, was wir seit der Aufklärung mit
Bewusstsein verbinden.25

Innere und äußere Bilder


Wie Sie aus diesem Fokus auf Einbildungskraft vielleicht schon erahnen können, ist der
Bildbegriff der anthropologischen Perspektive ein doppelter: er bezieht sich nämlich auf
äußere und innere Bilder, also auch auf Bilder der Vorstellungskraft. Mensch und Bild sind
daher auf zweifache Weise miteinander verbunden: Äußere Bilder sind vom Menschen
gemachte Bilder, innere Bilder sind Bilder der menschlichen Einbildungskraft - Ort der
Bilder ist also immer der Mensch. Äußere wie innere Bilder werden in der
anthropologischen Perspektive als aufeinander bezogen konzipiert, mentale und physische
Bilder wirken wechselseitig aufeinander. Diese Konzeption findet sich beim
Kunsthistoriker Hans Belting wie folgt ausformuliert:

21
Vilém Flusser: Eine neue Einbildungskraft. In: Volker Bohn (Hg.): Bildlichkeit. Internationale Beiträge
zur Poetik. Frankfurt a.M. 1990: 115-126, hier 115f.
22
Sie sehen, wie diese anthropologischen Überlegungen wiederum eine Ähnlichkeitsbeziehung, einen
Abbildcharakter des Bildes implizieren.
23
Flusser, 1990, S. 116.
24
Jean-Paul Sartre: Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft. Reinbek bei
Hamburg 1980: 286.
25
Die Gegenbewegung der Romantik drückt sich darin aus, gerade dieses Zurücktreten scheitern zu lassen -
denken Sie an die unglückselige Involvierung des Helden in E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann", in der alle
optischen Geräte statt zu Aufklärung in die Irre, in die Ununterscheidbarkeit von Wirklichkeit und
Täuschung und letztlich in den Wahnsinn führen.
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"[D]er Bildbegriff [kann], wenn man ihn ernst nimmt, letztlich nur ein anthropologischer
sein. Wir leben mit Bildern und verstehen die Welt in Bildern. Dieser lebende Bildbezug
setzt sich gleichsam mit der physischen Bildproduktion fort, die wir im sozialen Raum
veranstalten. Sie verhält sich zu den mentalen Bildern wie Frage und Antwort, um eine
vorläufige Formulierung anzuwenden."26

Im Unterschied – und bei Belting auch in dezidierter Abgrenzung – zu semiotischen


Ansätzen auf das Bild, auf die wir gleich noch zu sprechen kommen, findet mit der
Konzeption innerer Bilder in der anthropologischen Perspektive eine Einbeziehung des
menschlichen Körpers statt: "Erst eine anthropologische Sicht gibt dem Menschen, der sich
medial erfährt und ebenso medial handelt, seinen Ort [und so müsste man ergänzen: seinen
Körper] zurück."27
Die Fassung innerer und äußerer Bilder unter einem Bildbegriff ist dabei jedoch nicht
unproblematisch. Innere Bilder weisen schließlich eine Flüchtigkeit und Immaterialität auf,
die empirisch nicht zugänglich ist und werfen damit ein methodologisch schwerwiegendes
Problem auf, nämlich wie sie überhaupt wissenschaftliche untersuchbar wären – darauf
weist Belting selbst hin.28 Der Bildbegriff wird auf diese Weise v.a. in einem übertragenen,
eher metaphorischen Sinne verwendet und wird tendenziell beliebig. Vgl. Wiesings
harsche Kritik am undifferenzierten Bildbegriff, dass er nämlich "vor lauter Analogien die
Differenzen übergeht".29 Eine dieser übersehenen Differenzen wäre dabei die Frage der
Sichtbarkeit und der Bezug auf das Sinnesorgan Auge.

Bild und Medium


Verbunden ist mit diesem Ineinander von inneren und äußeren Bildern eine eigentümliche
Loslösung des Bildes von seiner Materialität: "[D]as Bild muss von seinem physischen
Träger unterschieden werden"30, so heißt es bei Jonas. Im Anschluss daran geht etwa bei
Belting eine konzeptuelle Trennung von Bild und Medium als "zwei Seiten einer Münze"31
einher: Wir nehmen Bilder demnach durch Medien überhaupt erst wahr – das Medium ist
dann gewissermaßen das 'Trägermedium' des Bildes, es macht die 'Physik des Bildes'
aus.32 Bei den inneren Bildern wird der Körper gewissermaßen zu einem 'lebenden
Trägermedium' der Bilder:

"Der Medienbegriff wiederum gewinnt erst seine wahre Bedeutung, sobald er im Kontext
von Bild und Körper zur Sprache kommt. Hier liefert er gleichsam das missing link, denn
erst das Medium setzt uns dazu imstande, Bilder so wahrzunehmen, dass wir sie weder mit
echten Körpern noch mit bloßen Dingen verwechseln. […] Die Bilder der Erinnerung und
der Phantasie entstehen im eigenen Körper wie in einem lebenden Trägermedium."33

26
Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001: 11f. Im Diktum
der anthropologischen Zuständigkeit finden Sie zudem einen Gestus disziplinärer Vereinnahmung, wie er
viele Ansätze des bildwissenschaftlichen Feldes begleiten.
27
Belting ebd. 14. Körper, aber nicht Leib - der Leib spielt erst in der phänomenologischen Perspektive eine
Rolle spielen.
28
Vgl. ebd. 75
29
Wiesing 24
30
Jonas 169
31
Belting 13
32
ebd. 12
33
ebd. 15
V Geschichte und Ästhetik digitaler und audiovisueller Medien I (WS2020/21) – 02 Philosophien des Bildes
13

Diese Unterscheidung zwischen Medium und Bild ist aus medienwissenschaftlicher


Perspektive höchst eigentümlich. Wir werden zudem noch sehen, wie der
wahrnehmungstheoretische Ansatz das Bild im Hinblick auf das Zusammenspiel seiner
verschiedenen Aspekte des Bildträgers, Bildobjekts und Bildsujets fasst. Allerdings sollte
wir auch nicht übersehen, dass in vielen alltäglichen aber auch wissenschaftlichen
Praktiken die Bilder tatsächlich von ihren Trägermedien getrennt erscheinen – so etwa
auch wenn ich hier etwa über die Höhlenmalerei von Lascaux spreche und Ihnen dabei
aber die Beamer-Projektion eines in eine Photoshop-Datei eingefügten digitalen Scans
einer druckgraphischen Reproduktion einer Fotografie der Zeichnung an der Höhlenwand
zeige.

Zusammenfassung Anthropologische Perspektive auf das Bild


Zusammenfassend wären in Bezug auf den bildanthropologischen Ansatz also
festzuhalten:
- Es geht um das Verhältnis Mensch–Bild im Sinne gegenseitiger
Möglichkeitsbedingungen
- Bildschaffen und Menschwerden sind beide nur durch Distanznahme möglich und
gründen damit Reflexion, Imagination und Einbildungskraft
- Als Bilder gelten innere und äußere Bilder, die beide berücksichtigt werden.
- Zwischen Bild und Medium wird eine Differenz eingeschoben: das Bild scheint ohne
Trägermedium existent zu sein, obwohl es erst durch ein Trägermedium (der auch ein
Mensch sein kann) erscheint.

…Fortsetzung folgt
- zeichentheoretischer/semiotischer Ansatz
- phänomenologischer Ansatz.

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