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KARL STUMPP: DIE RUSSLANDDEUTSCI-IEN

Die Rußlandcleutschen
KARL STUMPP

Zweihundert Jahre unterwegs

Verlag Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland


© Verlag Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland, 7000 Stuttgart 1, Schloßstraße 92.
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Druck: Gulde-Druck, Tübingen
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Obwohl wir, die in der Freiheit Lebenden, den zahlenmäßig geringeren Teil der
Rußlanddeutschen bilden, sind wir allein in der Lage, von unserer Tradition, den
völkischen Eigenheiten und der christlichen Lebenshaltung sowie von unseren
kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen zu zeugen. Dies ist um so wichtiger,
weil im Lande der verlorenen Heimat Kräfte am Werk sind, die alle Spuren
dieser Vergangenheit auslöschen und die Geschichte unserer Volksgruppe ver­
fälschen wollen. Unser Heimat- und Volkstumsforscher Dr. Karl Stumpp hat
dieser Aufgabe seit Jahrzehnten, insbesondere aber nach der Vertreibung, seine
Schaffenskrafl gewidmet und neben der Schrif’cleitungder Heimatzeitung und der
Bearbeitung des Heimatbuches unermüdlich Bildmaterial gesammelt. Diese
Sammelarbeit war deshalb so vordringlich, weil das wenige Bildmaterial, das
unsere Landsleute bei der Umsiedlung und Flucht gerettet hatten, erfaßt werden
mußte, um die in deutschen Archiven vorhandene Auswahl zu ergänzen. Fotos
aus den neuen Wohngebieten unserer Landsleute sind nur selten zu erlangen. Zu
diesen Erschwernissen kommt der Umstand hinzu, daß die Deutschen in Rußland
vorwiegend Bauern oder berufstätige Gruppen in größeren russischen Städten
waren, deren Lebensäußerungen und deren Schaffen nicht in augenfälligen Werken
der darstellenden Künste sid1tbar werden. Wenn es dem Gestalter dieses Bandes
gelungen ist, dem Beschauer eine eindrucksvolle Vorstellung von den wichtigsten
Lebensbereichen der deutschen Volksgruppe in Rußland zu vermitteln, so war
dies nur durch eine sorgfältige und sachkundige Auslese der 185 Fotos möglid1.
Die geschid1tlicheEinleitung, die sachkundigen Bilderläuterungen sowie die Karten
und Skizzen erhöhen den Wert dieses Bildbandes und machen ihn zu einem ein­
drucksvollen und bisher in dieser Art einmaligen Werk über die Geschid1te, das
Schicksal und die Gegenwartslage des Rußlanddeutschtums. Der Band ist nicht
nur ein wertvolles Erinnerungsbuch für'unsere ältere Generation, die darin be­
kannte und vertraute Bilder findet, er‘verhilfl auch unserer Jugend zu einer
lebendigen Vorstellung von der verlorenen Heimat ihrer Eltern und Vorfahren.
Darüber hinaus wird der Bildband — eher als das geschriebeneWort allein — den
Eingang in weitere Kreise unseres Volkes erleichtern und auch noch zu jenen zahl­
reichen ehemaligen Rußlanddeutschen sprechen, die auf ihrer Weiterwanderung
die deutsche Sprache verlernt haben, aber immer noch Interesse an der Heimat
ihrer Väter bekunden. Viele unserer Landsleute werden vergeblich nach einem Bild
aus ihrer engeren Heimat oder gar aus ihrem Heimatort suchen. Sie mögen be­
denken, daß nur eine beschränkte Auslese in diesem Band Platz finden konnte.
Sie werden aber bei einer genaueren Betrachtung der Fotos duarakteristische Merk­
male auch ihres Dorfes, der heimatlichen Landschaft und der Mensduen entdecken,
die das Verlorene lebendig werden lassen und es ihnen ermöglichen, in einem Haus,
in einem Hof, in einer Dorfstraße, in der Steppenlandschafl: ihre Heimat zu sehen.
Heinrich Roemmicb
Die Rußlanddeutschen in Vergangenheit
und Gegenwart
Wenn man sich ein richtiges Bild über das Deutsd1tum in Rußland machen will,
über seine Gesd1ichte, sein Wirken und seine Bedeutung, die es im wirtschaftlichen,
politischen und kulturellen Leben hatte, muß man zwei Gruppen klar voneinan­
der unterscheiden:

1. Das auf frühere Jahrhunderte (1550—1750) zurüdcgehende, meist höheren


Ständen angehörende städtische Deutschtum (Handwerker, Kaufleute, Ingenieure,
Offiziere), das vielfach seine deutsche Staatsbürgerschafl beibehalten hatte und off
nur vorübergehend in Rußland blieb oder aber auch — und das gilt besonders für
das höhere Beamtentum — z. T. im Russentum aufging oder doch seine Mutter­
sprache aufgab.

2. Die zahlenmäßig viel größere Gruppe geht auf das Werben und die plan­
mäßige Siedlungspolitik russisd1er Kaiser zwischen 1763 und 1824 zurück. Hier—
bei handelte es sid-1vorwiegend um eine ländliche, ackerbautreibende Bevölkerung,
aber auch um Handwerker in den Städten und auf dem Lande.

Das städtische Rußlanddeutschtum

Rußland litt jahrhundertelang unter den Einfällen der Tataren und Mongolen.
Nad1dem diese Fremdvölker besiegt und vertrieben worden waren, galt es, ein
richtiges Staatswesen, ein Heer, eine moderne Verwaltung aufzubauen und Städte
zu gründen. Dazu benötigte man ausländische Fachleute, darunter auch viele
Deutsche.

Schon unter dem Zaren Iwan dem Sd1recklid1en (1533—1584) wurden deutsche
Offiziere, Ted1niker, Handwerker, Kaufleute und Gelehrte vor allem nach Mos­
kau gerufen, um die Hauptstadt auszubauen. Dabei wurden die Deutschen alle
außerhalb der Stadtmauer angesiedelt. Nod1 bis zum ersten Weltkrieg konnte
man in Moskau ein Straßenschild „Njemezkaja Uliza“, d. h. „Deutsche Straße“,
sehen. Die Straße führte nach Süden auf das Flüßchen _]ausa, wo sich die „Nje­
mezkaja Sloboda“, die „Deutsche Vorstadt“, befand. 1576 wurde hier die erste
evangelische Kirche Rußlands erbaut, die St.-Michaels-Kird1e auf dem Gorocho—
woje Polje. Die Zahl der Deutschen nahm in Moskau bald so stark zu, daß schon
1626 eine zweite Kirche, die St.-Petri-Pauli'Kirche, zuerst die „Neue Kirche“
genannt, erbaut werden mußte. Während die Michaelskirche meist von Kauf­
leuten besucht wurde, waren die Besucher in der St.-Petri-Pauli-Kirche vorzüglich
Offiziere, die im russischen Militärdienst standen; daher trug sie auch den Namen
„Teutsche Evangelische Offizierskirche“. Die InschriPt des Kirchensiegels lautete:
„Sigillum ecclesiae militantis in Moscovia“. Wie der spätere Name dieser Kirche
schon verrät, wurde sie zu Ehren Peters des Großen, der ein Förderer dieser
Kirche war, so umbenannt. Hier wurde übrigens der Grundstock für die spätere,
dem Westen wohlgesinnte Politik Peters gelegt. Schon als Knabe war er oft in der
„Deutschen Vorstadt“ und begeisterte sich für die deutsche Technik, die Sauber­
keit und Kultur. Auch Iwan der Schreckliche lud — zum Ärger der ausland—
feindlichen Bojaren — immer wieder deutsd1e Gelehrte, Techniker und Militärs
zu sich ein, um von ihnen über den Westen zu hören und von ihnen zu lernen.
Erwähnt sei noch, daß zu der St.-Petri-Pauli-Kirche eine Knabenschule mit den
Rechten eines Gymnasiums und eine höhere Mädchenschule gehörten. Die beiden
Schulen hatten OPt bis 1200 Schüler. In späteren Jahren kamen ein deutsches
Krankenhaus, ein Jünglings- und Jungfrauenverein und ein Männer- und Frauen-.
verein hinzu. Zur Pflege kultureller Werte diente die„Moskauer DeutscheZeitung“.
Zu welchen Opfern für kulturelle Belange die Deutschen in Moskau bereit waren,
erhellt daraus, daß die Firmen Knoop und Wogau allein zum Bau der Petri­
Pauli-Kirche je 100 000 Rubel stif’teten;das waren damals 216 000 Goldmark.

Die Deutschenhetze im ersten Weltkrieg bekamen auch die Moskau-Deutschen zu


spüren. Der Pogrom am 28. (15.) Mai 1915 gegen die Deutschen verlangte
Menschenopfer, vernid1tete Millionenwerte und ließ deutsche Wohnhäuser und
Fabriken in Flammen aufgeben. Ausgelöschtsind die Namen „Njemezkij Rynok“,
„Deutsd1er Markt“, im östlichen Teil Moskaus, und „Deutscher Friedhof“ jen­
seits des Jausa-Flusses; in der St.-Mid1aels-Kirdue befindet sich heute ein Er­
ziehungsinstitut der Sowjets.

Zahlenmäßig noch viel bedeutender war das Deutschtum in Petersburg. Dort


lebten bis zu 50000 Deutsche gegenüber 20000 in Moskau. Als im Jahre 1703
die ersten Häuserreihen in der neuen Festung St. Petersburg angelegt wurden,
errichtete man gleichzeitig die erste evangelische Kirche aus Holz; aus ihr ent­
wickelte sich in den folgenden Jahren die große St.-Annen-Kirche (1719). Später
erbauten die Deutschen die Petri-Pauli-Kirche am Newski Prospekt, die St.-Katha­
rinen- (1728) und die St.-Michaels-Kirche sowie die evangelisch-reformierte Kirche.
Zu jeder dieser Kirduen gehörte je eine höhere Sd1ule. Diese Sd1ulen genossen einen
so guten RUf, daß sie nid1t nur von deutschen, sondern auch von Kindern an­
gesehener russischer Eltern besucht wurden. Als 1910 die Petri-Schule ihr 200—
Jahr-Jubiläum feierte, befanden sid1 unter den Gratulanten russische Minister,
Generale, Wissenschaf’cler,Kaufleute, und Zar Nikolaus II. sandte ein huldvolles
Telegramm. Welch guten Ruf diese deutschen Schulen hatten, ist auch daraus zu
ersehen, daß man in deutschen und russischen Zeitungen folgende Anzeigen finden
konnte: „Lehrling für großes Unternehmen oder Fabrik gesucht, bevorzugt wird
Abiturient der St.—Annen-Schule.“Als unter Alexander III. die deutschen Schulen
in Rußland russifiziert wurden, durften die deutschen Schulen in Petersburg die
deutsche Unterrichtssprache beibehalten. Zahlreich waren die Wohltätigkeits-,
Hilfs- und Betreuungseinrichtungen für alt und jung. Es gab in Petersburg zahl­
reiche deutsdne Handelshäuser und sieben deutsche Buchhandlungen. Die 1727
gegründete „St. Petersburger Zeitung“ War in ganz Rußland bekannt; außerdem
erschien hier der „St. Petersburger Herold“ (1875), das „St. Petersburger Evan­
gelische Sonntagsblatt“ (1858) und die „St. Petersburger Medizinische Wochen­
schriPc“(1876). Das deutsche Hoftheater bestand von 1799 bis 1890.

Petersburg beherbergte immer die größte Zahl von Deutschen unter allen Städten
Rußlands, und zwar 1710 17600; 1848 38900; 1869 45512; 1897 50 780; 1900
48 485 (davon 45 116 evangelisch und 2454 katholisch); 1905 42 000; 1926 16 916.
Während die deutschen Kolonisten in Petersburg und Moskau vor der Besiedlung
zusammenhängender weiter Gebiete durch Bauern entstanden und daher auch
keine engere Verbindung zu dem bäuerlichen Rußlanddeutschtum hatten, war das
in den Städten, die inmitten dieser Siedlungsgebiete lagen, anders.

So war die Stadt Saratow an der Wolga bei der Ankunft der Wolgadeutschen erst
ein größeres Dorf; in dem Maße, wie die deutsche Bevölkerung an der Wolga
zunahm, entwid<elte sich Saratow zur Hauptstadt des Wolgagebietes. Die Haupt­
straße hieß Njemezkaja Uliza (Deutsche Straße). Bald stand in Saratow eine
stattliche evangelische Kird1e und eine Zentralschule wurde gegründet. Das
katholisdue Priesterseminar der Tiraspoler Diözese wirkte sich segensreich für den
katholischen Teil des Rußlanddeutsdutums in ganz Rußland aus. Auf privater
Grundlage wurden in Saratow deutsd1e Fortbildungs- und Hochschulkurse errich­
tet, die bis in die Bolschewistenzeit fortbestanden. In Saratow erschienen für das
Wolgadeutsd1tum die „Saratower Deutsche Zeitung“ und einige religiöse Blätter.
Eine ähnliche Bedeutung hatte für die Sd1warzmeerdeutschen die Hafenstadt
Odessa. Zur Zeit der Einwanderung der Deutschen in das Schwarzmeergebiet war
Odessa ein kleiner Fischerort mit 4000 Einwohnern. 1803 wurde hier eine
deutsd1e Handwerkerkolonie gegründet (die Straße Remeslennaja, d. h. Hand—
werkerstraße, besteht nod1 heute), die beim Aufstieg Odessas zu einer Handels­
stadt von Weltruf maßgeblich beteiligt war. Das Deutschtum in Odessa (10000
bis 12000) besaß in einem besonderen Stadtteil, dem „Lutherischen Hof“, einen
geistigen Mittelpunkt. Neben der evangelischen Kird1e mit 1200 Sitzplätzen
standen auf diesem Hof zwei Pfarrhäuser, höhere Sd1ulen (St.-Pauli-Realsdmle),
ein Waisenhaus, Wohltätigkeitsanstalten und das Pfründhaus (Altersheim). Das
evangelisdue Krankenhaus mit seinen deutschen Armen — erwähnt sei vor allem
der in der ganzen Ukraine bekannte Chirurg Dr. Angst — genoß hohes Ansehen
nicht nur bei der deutschen, sondern auch bei der russischen Bevölkerung. Außer
der evangelisch—lutherischen Kirche gab es in Odessa auch eine katholische, eine
evangelisch-reformierte und eine Baptistenkirche. In Odessa gab es über 200
deutsche Geschäfte und Unternehmungen und die größte Pflugfabrik der Ukraine
(]. Höhn). Von großem Segen für das gesamte Schwarzmeerdeutschtum waren die
in Odessa erscheinende „Odessaer Zeitung“ (1863—1914) und der „Neue Haus­
wirtschaflskalender“ oder „Odessaer Kalender“ (1863—1915).
Während also die Geschichte des Deutschtums in den Städten Moskau und Peters­
burg in die Zeit vor der Gründung des bäuerlichen Deutschtums in Rußland (1763
bis 1862) fällt, d. h. diese Deutschen direkt aus Deutschland oder dem Baltikum
kamen, hat das Rußlanddeutschtum in allen anderen Städten enge Beziehungen
zu diesem bäuerlichen Deutschtum, denn ein großer Teil kam aus den deutschen
Bauerndörfern.
Außer den oben erwähnten vier Städten mit einer Bevölkerungszahl zwischen
10000 und 50000 gab es in Rußland weitere 50 Städte mit einer deutschen Be­
völkerungszahl zwischen 500 bis 5000. In vielen dieser Städte standen evangeli­
sche und katholische Kirchen, so in Charkow, Nikolajew, Dnjepropetrowsk,
Shitomir, Baku, Tiflis, Nishni-Nowgorod, Omsk, Irkutsk, Tomsk und in anderen
Orten. Auch hier gab es überall deutsche Geschäfte, Unternehmungen und
Handwerker.

Das ländlich-bäuerliche Rußlanddeutschtum

Zwei Gründe waren es, die die russischen Regierungen bewogen, ausländische
Bauern, besonders auch deutsche, in ihr Land zu rufen: Einmal galt es, weite, un—
bebaute Gebiete zu kultivieren und der Landwirtschaft zuzuführen; andererseits
sollten die deutschen Bauern einen Schutzwall gegen asiatische Völker bilden (dies
war vor allem im Wolgagebiet beabsichtigt) und den russischen Bauern „als Bei—
spiel dienen“ (das wurde besonders bei der Besiedlung des Schwarzmeergebietes
angestrebt). Als Grundlage für die von den russischen Regierungen gewollte und
gelenkte planmäßige Ansiedlung von Ausländern, insbesondere Deutschen, diente
das Manifest der Kaiserin Katharina II. vom 22. Juli 1763, das Sidi übrigens
stark an das Potsdamer Edikt des Großen Kurfürsten vom 27. Oktober 1685
anlehnte. Da das erste Manifest der Kaiserin vom 4. Dezember 1762 ohne Erfolg
blieb, sind in diesem grundlegenden Manifest, auf das sich in den folgenden
Jahren noch weitere Sondererlasse stützten, die Ansiedlungsbedingungen genaue­
stens festgelegt. Die für das spätere Leben der Kolonisten und die heutige Rechts­
lage wichtigsten Punkte dieses Manifestes lauten:
1. „Gestatten Wir allen in Unser Reich ankommenden Ausländern unverbindert
(
die freye Religionsuebung nach ihren Kirchen-Satzungen und Gebräuchen . . .‘
2. „Solche zur Ansiedlung nach Rußland gekommene Ansiedler sollen an unsere
Kasse keine Abgaben zahlen und keine gewöhnlichen oder außerordentlichen
Dienste leisten.“
3. „Die in Rußland angesiedelten Ansiedler können während der ganzen Zeit
ihres Aufenthalts gegen ihren Willen weder zum Militär noch zum Zivil­
dienst bestimmt werden.“
In bezug auf den Landbesitz und die Landordnung heißt es:
4. „Alle zur Ansiedlung den Kolonisten angewiesenen Ländereien sind ihnen
zum unantastbaren und erblidaen Besitz auf ewige Zeiten gegeben, jedoch
nicht als persönliches Eigentum irgend ]emandes, sondern als Gemeingut einer
jeder Kolonie.“
5. „Den Kolonisten ist es gestattet, zur Ausbreitung und Verbesserung ihrer Wirt­
schaften Grundstücke von Privatpersonen zu kaufen und überhaupt als Eigen­
tum zu erwerben.“
6. „Die von der Krone angewiesenen Landanteile erbt im allgemeinen der jüng­
ste Sohn.“
Und schließlich noch eine wichtige Bestimmung:
7. „Endlich und zuletzt, wer von denen sich niedergelassenen und Unserer Both—
mäßigkeit sich unterworfenen Ausländern Sinnes wurde sich aus Unserm
Reid1e zu begeben, dem geben Wir zwar jederzeit dazu die Freiheit, jedoch
mit dieser Erläuterung, daß selbige verpflichtet seyn sollen, von ihrem ganzen
in Unserm Reiche wohlerworbenen Vermögen ein Theil an Unsere Casse zu
entrid1ten . . .; nachhero ist jedem erlaubt, ungehindert zu reisen, wohin es
ihm gefällt.“
Wie einstmals auf den Ruf Peters des Großen Wissenschafller, Militärs, Techniker
und Kaufleute kamen, so kamen aufgrund dieses Manifestes viele Bauern und
Handwerker, die sich in den Jahren 1763 bis 1768 an der Wolga und ein kleinerer
Teil bei Petersburg (Leningrad) niederließen; einige deutsche Dörfer wurden 1766
bei Tschernigow (Belowesher Kolonien) und je eines bei Woronesh (Riebensdorf)
und Sarepta bei Zarizyn (Stalinograd, heute Wolgograd) angelegt. In die Regie­
rungszeit Katharinas fiel aufgrund einer besonderen Abmachung noch die Ein­
wanderung von Mennoniten (1789), die bei Saporoshje (Alexandrowsk) eine
Reihe von Dörfern gründeten. Nach einer Unterbrechung von dreizehn Jahren
(1790—1803) setzte unter Alexander I. eine neue Einwanderungswelle aus
Deutschland ein. Unter Katharina II. und Alexander I. (1801—1825) wurden
den Türken große Gebiete am Sd1warzen Meer entrissen. Sie lagen jahrelang
brad1 und verwilderten. Die ehemaligen türkischen Besitzer verließen nach dem
unglücklichen Ausgang des Krieges das Land. Die hohen russischen Staatsbeamten,
1<
die als Lohn große Ländereien geschenkt bekamen, waren an der Kultivierung
„ihres“ Landes wenig interessiert. Daher entschloß sich Alexander I., auch für das
Schwarzmeergebiet Ausländer zu rufen. Er konnte sich dabei einerseits auf das
Manifest der Kaiserin Katharina II. berufen, andererseits aus den bisher ge­
machten Erfahrungen Lehren ziehen. Deshalb enthielten der Erlaß Alexanders I.
vom 20. Februar 1804 und die dazu erlassenen Richtlinien wesentliche Ergänzun­
gen und Abweichungen, von denen die wichtigsten aufgeführt werden: „. . . da die
Vermehrung der Bevölkerung in den inneren Gouvernements und die entstehende
Enge eine Auseinandersiedlung der eigenen Unterthanen erfordern kann, und an
zur Ansiedlung brauchbaren Ländereien im Süden kein solcher Überfluß sein wird
(Anm. d. Verf.: wie im Wolgagebiet), so muß man jet2t weniger nach einer Be—
siedlung derselben durch Ausländer streben, als vielmehr nach der Ansiedlung
einer beschränkten Zahl solcher Einwanderer, welche in ländlichen Beschäfligun­
gen und Handwerken als Beispiel dienen können . . ., so ist es nötig, dieselben auf
das Allernotwendigste und ausschließlich auf gute wohlhabende Wirte zu be­
schränken . . ., gute Landwirte, Leute, die im Weinbau, in der Anpflanzung von
Maulbeerbäumen und anderen nützlichen Gewächsen hinreichend geübt oder die
in der Viehzucht, besonders aber in der Behandlung und Zucht der besten Schaf­
rassen erfahren sind, die überhaupt alle nötigen Kenntnisse zu einer rationellen
Landwirtschaf’t haben . . .“

Den Ministern an auswärtigen Höfen ist vorzuschreiben:


1. „daß sie keinerlei Vorschüsse machen, ausgenommen die Zahlung für die
Schiffe und Fuhrwerke,
2. daß diejenigen, welche sich bei ihnen melden, Zeugnisse darüber ausweisen
oder Bürgen dafür stellen müssen, daß sie ein Vermögen in baarem Gelde oder
in Waaren von nicht weniger als 300 Gulden besitzen . . .
3. Es versteht sich von selbst, daß die Auswanderer Leute mit Familien sein
müssen.
4. Wenn jemand, wann es auch sei, das Reich zu verlassen wünscht, so steht ihm
das frei, jedoch unter der Bedingung, daß er außer der ganzen auf ihm haften­
den Schuld eine dreimalige _]ahresgabeder Krone entrichte.“
Bei dieser Ansiedlung kam es dem Gesetzgeber also weniger auf die Quantität als
Qualität der Einwanderer an, nicht auf eine große Zahl, sondern auf tüchtige
Ansiedler.

Die Auswanderung
Mit diesen gesetzlichen Vollmachten ausgestattet, begaben sich die Werber
(„Agenten“) ins Ausland, auch und vor allem nach dem damals so zerrissenen
11 Deutschland. In vielen Städten (Frankfurt, Stuttgart, Lübeck, Regensburg) wur­
den Werbebüros eingerichtet und Werbeblätter verteilt. Warum hatte diese
Aktion gerade in den deutschen Staaten solch einen großen Erfolg? Es waren
politische, wirtschaftliche und religiöse Gründe, die so viele Deutsche bewogen,
ihre Heimat zu verlassen und sich in den weiten Räumen Rußlands eine neue
Heimat zu suchen. Eine Gegenüberstellung möge das verdeutlichen:
In Deutschland 1n Rußland
1. Politische Unterdrückung durch Freie Lebens—und Entfaltungsmög­
fremde Mächte, aber auch durch lichkeiten.
die eigenen Regierungen und Für­
sten.
2. Heeres- und Frondienste im eige— Befreiung vom Militärdienst „auf
nen Lande und für Fremdmächte ewige Zeiten“.
(Frankreich).
3. Wirtschaftliche Not, Mißernten, Angeb0t von Land, fast unbegrenzte
Hungerjahre (Württemberg 1816), Landankaufmöglichkeiten, Steuerfrei­
Landmangel, Steuerlasten. heit.
4. Strenge und OR ungerechte Ver- Selbstverwaltung.
waltung.
5. Einführung von Neuerungen auf Volle Freiheit auf religiösem Gebiet.
schulischem und kirchlichem Ge­
biet (Württemberg).
Die nach dem Siebenjährigen Krieg aus Hessen und den Rheinlanden einsetzende
Auswanderungsbewegung ins Wolgagebiet (1763—1768) nahm beängstigénde Aus­
maße an. Die Bewohnerdes hessischen Dorfes Herrnhag, Kreis Büdingen, wan­
derten geschlossen aus. In Württemberg wanderten bis zu 72 Familien aus einer
einzigen Gemeinde (1804) aus. Von der Auswanderung am stärksten betroffen
wurde der südwestdeutsche Raum: Württemberg, Nordbaden, das Elsaß, die
Südostpfalz, Hessen, die Rheinlande. Aus Danzig/We3tpreußen wanderten vor
allem ab 1789 Mennoniten, dann ab 1824 auch Evangelisdue und Katholiken
aus, allerdings in weit geringerer Zahl.
Der Wanderweg ins Wolgagebiet führte über Lübeck oder Dänemark nach
Oranienbaum bei Petersburg. Hier ließ sich ein kleiner Teil nieder und gründete
einige Bauerndörfer. Der weitaus größere Teil aber zog den Landweg über
Moskau oder den Wasserweg wolgaabwärts bis Saratow. Hier entstand ein
ziemlich geschlossenes deutsches Siedlungsgebiet zu beiden Seiten des Stromes.
Die Mennoniten schlugen den Landweg über Riga (Sitz einer Auswandererbehörde)
ins Schwarzmeergebiet ein, wo sie 1789 südlich von Dnjepropetrowsk (]ekaterino­
slaw) das Chortitzer und ab 1804 weiter östlich an dem Flüßchen M010tschna das
Halbstädter Gebiet besiedelten; bald darauf entstand hier das evangelisch-katholi­ 12
sche Prischiber Gebiet. 1804 und dann 1816/17 kam es zur wohl größten Aus­
wanderungsbewegung aus Württemberg. In diesen jahren wurden die schwäbi­
schen Dörfer bei Odessa (ehemals Gouvernement Cherson), der Krim und die
rein schwäbischen Siedlungen im Südkaukasus (1817) und bei Berdjansk angelegt.
1808/10 kamen die Auswanderer aus der Pfalz, aus dem Elsaß und aus Nord­
baden und gründeten die katholischen Dörfer bei Odessa. 1814—1824 wurde der
größte Teil der deutschen Siedlungen in Bessarabien gegründet. Die nachfolgenden
Karten und die Zeittafel zeigen: 1. die Wanderwege; 2. die Hauptsiedlungs­
gebiete der Mutterkolonien (Primärsiedlungen); 3. eine Übersichtstabelle über
die deutschen Siedlungsgebiete in Rußland, die Herkunflsländer und die Aus­
wanderungszeit.
Siedlungsgebiete H erkunflsländer Ansiedlungszeit
Wolgagebiet Hessen, Rheinland, Pfalz 1764/67
Gouv. Petersburg
1. um Petersburg Hessen, Preußen, Württemberg, 1765/67
Baden
2. bei ]amburg Bayerische Pfalz 1767
Schwarzmeergebiet
1. Belowesher Kolonien Hessen, Rheinland 1765/66
bei Tschernigow
Riebensdorf bei Württemberg 1765
Woronjesh
Alt-Schwedendorf Schweden, Insel Dagö 1782
bei Berislaw
2. Alt—Danzig Preußen, Württemberg 1786/89
Fisd1erdorf, Josefstal
3. Chortitza-Gebiet Danzig-Westpreußen 1789/90
_ Mennoniten
4. Taur1en:
a) Klosterdorf, Baden, Rheinpfalz 1804
Mühlhausendorf, Württemberg, Baden, Elsaß 1804
Schlangendorf Württemberg 1804
bei Berisläv
b) Prischiber Gebiet Baden, Hessen, Württemberg 1804/27
c) Halbstädter Gebiet Westpreußen, Mennoniten 1804/07
5. Odessa-Gebiet Württemberg, Pfalz, Baden, Elsaß 1804/24
6. Krim Württemberg, Schweiz 1804/ 10
7. Bessarabien Württemberg, Schweiz, Baden 1814/42
Bayern, Polen
8. Südkaukasus Württemberg 1817/18
9. Kolonien bei Berdjansk Württemberg 1822/31
10. Mariupoler (Planer) Preußen, Hessen 1823/42
Kolonien
11. Samaraer-Kolonien Westpreußen, Mennoniten 1854/59
Wolhynien Westpreußen, Rheinland-Pfalz, 1816—31—61
13 Württemberg
So entstanden an der Wolga 104 Mutterkolonien, davon 44 auf der Berg- und
60 auf der Wiesenseite, bei Petersburg 13, im Schwarzmeergebiet einschließlich
Bessarabien und Südkaukasus 181, insgesamt rund 300 Mutterkolonien.

\\
Wolhyniendeutsche
Die deutschen Siedlungen in diesem Gebiet sind nicht durch staatliche Anordnun­
gen und Unterstützungen entstanden, sondern auf private Initiative zurück—
zuführen. Drei Einwanderungsperioden kann man unterscheiden: 1816 kamen
Deutsche aus der Danziger Gegend und aus der Rheinpfalz, 1831 und 1861 folg­
ten aus Städten und Dörfern in Polen und aus Deutschland weitere Einwanderer.
Zuletzt lebten diese Kolonisten in Wolhynien als Pächter bei den polnischen Guts­
besitzern. Starker Zuzug setzte in den Jahren 1831 während des ersten polnischen
Aufstandes gegen die russisd1e Herrschafl ein. Den Höhepunkt erreichte aber die
Einwanderung nach Wolhynien nad1 dem zweiten polnisd1en Aufstand, der zur
gleid1en Zeit wie die Befreiung der russischen Bauern von der Leibeigenschaf’t
stattfand (1861/62). Die Gutsbesitzer verloren ihre billigen Arbeitskräfie und

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warben daher in Polen und Deutschland Pächter und Käufer an. Einen Hektar
Land konnte man damals für zehn bis sechzehn Rubel kaufen. OPt handelte es
sich aber um Wald- und Sumpfland, das man mühevoll roden bzw. trockenlegen
mußte. Das gepachtete Land wurde im Laufe der Jahre Eigentum des Pächters.

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inwanderung der Wolhyniendeutschen:


rste Welle 1816 aus Danzig°und der Rheinpfalz
___. Wanderwege
Grenzlinie zwisd1en polnisch
aus deutschen Kolonien u. Städten _________ u. ukrainiscn wotnymen
weite Welle nach
ritte \X’elle nach 1861
1831—} Polens und auch aus Deutschland ° deutsche Siedlungsgebiete

190 tso 2qo 2_50km


Stammesmäßige Zusammensetzung der einzelnen
Siedlungsgebiete und Siedlungen

Bei der Ansiedlung stand die religiöse Zusammengehörigkeit im Vordergrund. Es


gab in ganz Rußland keine konfessionell gemischten deutschen Dörfer, sondern nur
. katholische, evangelische und mennonitische. Hingegen waren die meisten Dörfer
srammesmäßig gemischt. Nur dort, wo sich die Religions- mit der Stammes­
zugehörigkeit deckte, waren die Dörfe-r vielfach auch stammesmäßig einheitlich.
Das traf vor allem für die Mennonitendörfer zu. Die Mennoniten kamen aus dem
Raum Danzig/Westpreußen, sprachen durchweg plattdeutsch und gründeten süd­
lich von Dnjepropetrowsk zuerst im Chortitzaer Gebiet 14 Mennonitendörfer
und an der Molotschna eine noch größere Zahl. Viel später erst entstanden die
Mennonitendörfer im Wolgagebiet. Weiter nordöstlich vom Prischib-Halbstädt-zr
Gebiet enstanden die katholischen und evangelischen Gemeinden des Mariupoler
Gebiets (Planer Kolonien) mit ebenfalls plattdeutsch sprechenden Deutschen aus
der Danziger Gegend.
Außer den geschlossenen niederdeutschen Kolonien gab es nur noch geschlossene
rein schwäbische Dörfer, so vor allem im Südkaukasus, bei Berdjansk, bei Odessa
(Hoffnungstal) und in Bessarabien; oder Dörfer mit schwäbischer Mehrheit auf
der Krim, im Prisehiber Gebiet, bei Odessa (Großliebentaler und Glüdistaler
Gebiet) und in Bessarabien. Rein hessische Dörfer gab es im Wolgagebiet, eines im
Prischiber und fünf im Grunauer Gebiet. Eine gewisse stammesmäßige Einheit­
lichkeit wiesen nur noch die katholischen Dörfer im Odessaer Gebiet (Kutschur­
ganer und Beresaner Kolonien) auf, deren Einwohner durchweg aus der Pfalz,
dem Elsaß und Nordbaden stammten. Bei den aus den Mutterkolonien hervor­
gegangenen zahlreichen Tochterkolonien hat sich, mit Ausnahme der Mennoniten,
der stammesmäßige Charakter vielfach verwischt.
Am besten sind wir über die Urheimat der einzelnen Familien im Schwarzmeer­
gebiet unterrichtet, besonders durch die Heranziehung der Gemeinde- und Kir­
chenbücher, andererseits infolge der planmäßigen Erforschung der Auswanderung
aus den einzelnen Ländern. Über das Wolgagebiet liegen solcheArbeiten nicht vor,
mit Ausnahme des Landes Hessen; hier hilft oft die Mundartforschung weiter. So
kann man folgende zusammenfassende Feststellung machen:
Die Wolgadeutscben stammen vorwiegend aus Hessen, und zwar aus dem hessi­
schen Bergland, aus dem Rheinfränkischen, aus der Rheinpfalz und nur zum
geringeren Teil aus Süd- und Norddeutschland (Mennoniten).
Die Schwarzmeerdeutscben kommen aus Süd- und Südwestdeutsdnland: Württem­
berg, Baden, Pfalz, Elsaß, Rheinhessen, Hessen und aus dem Raum Danzig/West­
preußen (Mennoniten, auch Katholiken und Evangelische im Grunauer Gebiet).
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Eine weit geringere Zahl stammt aus Schlesien, Mecklenburg, Pommern, Köthen/
Anhalt, Sachsen, aus der Schweiz und aus Schweden. Eine verhältnismäßig große
Zahl wanderte von Polen nach Bessarabien ein; ihre Urheimat in Deutschland
konnte bisher nicht festgestellt werden; sicher ist aber, daß viele Württemberger
darunter waren; das gleiche gilt für die aus Ungarn Eingewanderten. Oft geben
die Namen der Dörfer Hinweise auf die Herkunft der Einwohner. Dies gilt be­
sonders für die Mennonitensiedlungen, wo die Dorfnamen fast durchweg die glei­
chen waren, wie in der Urheimat Westpreußen: Orlofi, Halbstadt, Tiege, Tiegen—
hagen, Lid1tenau . .. Bei Odessa fanden wir Baden, Straßburg, Elsaß, Worms,
Landau, Kandel, München, dann weiter östlid1 Stuttgart, Heidelberg, Darm­
stadt . . .

Nad1 Aufhebung der Privilegien und Eingliederung der deutsduen Dörfer in die
russische Verwaltung wurden auch bald die deutschen Dorfnamen russifiziert. So
hatte nunmehr jedes Dorf zwei Namen: einen amtlichen russisduen und in der
Umgangssprache den alten deutschen.

Konfessionelle Zusammensetzung
Offizielle Zahlen über die konfessionelle Zusammensetzung der Rußlanddeutsdnen
besitzen wir nur für das Jahr 1897. Darnach betrug die Gesamtzahl des Rußland­
deutschtums, einschließlich Baltikum, 1 790489. Die Zahlen für die einzelnen
Konfessionen lauteten damals:

Lutheraner 1 360 943 = 76,0 °/o


Römisch-Katholische 242 209 = 13,5 °/o
Mennoniten 65 917 = 3,7 0/0
Reformierte (vor allem im Wolgagebiet) 63 981 = 3,6 °/o
Baptisten 19 913 = 1,1 0/o
Griechisch-Orthodoxe 13 360 = 0,7 0/0
Andere Christen 1 411 = 0,1 0/o
Israeliten und andere Nid1tchristen 22 855 = 1,3 0/0
1790589 = 100 0/0

Die Balten-, Wolhynien-, Krim- und Kaukasusdeutschen waren fast ausnahms­


los evangelisch. Die Wolgadeutschen waren in der Mehrzahl evangelisch (65 evan­
gelische Mutterkolonien und 38 katholische). Die Mennoniten lebten fast aus­
schließlich im Schwarzmeergebiet, in Sibirien und Mittelasien; nur eine verhält­
nismäßig kleine Gruppe im Wolgagebiet. Ganz anders war es im Schwarzmeer—
gebiet, wie die folgende Tabelle für das Jahr 1911 zeigt: 2C
Gowuernement Evangelisch"' Katboliscb Mennoniten Zusammen
Bessarabien 57 931 4 914 — 62 845
Cherson 66 663 99 072 3 578 169 313
Taurien 56 581 27 050 50 293 133 924
_]ekaterinoslaw 26 811 48 109 48 240 123 160
Dongebiet 13 927 13 879 540 28 346
Charkow 2367 2617 1719 6703
Südkaukasus 22 000 — — 22 000
Insgesamt 246 280 195 641 104 370 546 291
(45,0 °/o) (35,8 °/o) (19,2 °/o) (100 °/0)
"‘ Den Evangelisduen sind die Reformierten, Separierten und Baptisten zugezählt.

Die Wolhyniendeutsduen waren fast durd1weg evangelisdu; allerdings gab es hier


verhältnismäßig viele Baptisten.

Dofianlagen und Hausformen


Die Anlagen der Kolonien — so wurden die deutschen Siedlungen nid1t nur von
den Deutschen selbst, sondern aud1 von den russischen Behörden genannt —
waren je nad1 den einzelnen Gebieten verschieden und rid1teten sid1 nach dem
Gelände und dem vorhandenen Baumaterial. Die Dörfer im Wolgagebiet zeigten
das Schachbrettmuster mit einer Hauptstraße und mehreren Parallel- und Quer­
straßen. Die Häuser waren meist einstöd<igund of]:aus Holz gebaut; letzteres galt
aud1 für die Kirchen. Die Dörfer waren hier sehr groß (bis zu 10000 und mehr
Einwohner).
Im Schwarzmeergebiet herrsd1te der Typ des Straßendorfes vor. Die Häuser
zeigten mit dem Giebel nach der 30 bis 100 rn breiten geraden Dorfstraße und
vereinten Stallungen, Sd1eunen und das Wohnhaus unter einem Dad1; besonders
bei den Mennoniten schlossen die Wirtsd1af’tsgebäudeden Hof hufeisenförmig ab.
Die einstöckigen Häuser waren hier immer aus Sand- oder aus Kalksteinen oder
aus gebrannten Ziegeln gebaut und stets verputzt und geweißt. An den Straßen
standen immer Bäume, meist Akazien. So boten die deutschen Dörfer, im Gegen­
satz zu den russischen und tatarischen (Krim), immer einen freundlichen Anblick.
Im Süd/eauleasus mit seiner gebirgigen Landschafl stand nicht so viel Raum zur
Verfügung, deshalb baute man hier zweistöckige Häuser. Im zweiten Stod<werk
lief eine offene Veranda um das halbe Haus. Soweit es die Landsd1af’czuließ,
waren aud1 hier die Straßen geradlinig.
Im waldreichen Wolbynien baute man die Häuser ausschließlidu aus Holz, auch
den Zaun, soweit überhaupt einer da war. Neben den Alleen in allen deut­
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Stand vom 1.1.1944 Entwurf Joh. Bauer


schen Siedlungsgebieten fehlte nirgends das Blumengärtchen vor dem Haus. Im
Mittelpunkt des Dorfes stand immer die Kirche oder, wo eine solche fehlte, die
Schule, die dann zugleich als Bethaus diente. Damit fand auch der kulturelle
Mittelpunkt des bäuerlichen Lebens in der Dorfanlage seinen sichtbaren Ausdruck.

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Die Höfe waren 40 m breit und 120 m lang und gliederten sich in den Vorderbof mit den
Wohnungen und Stallungen und den Hinterhof mit dem Dreschplatz und den Strobbauf‘en.

Schwere Anfänge - wirtschaftliche Blüte

Trotz aller Hilfeversprechungen von seiten der russischen Regierung waren die
Anfangsjahre mit großen Schwierigkeiten verbunden. Schon die Reise stellte
unter den damaligen Verhältnissen unmenschliche Anforderungen an die ersten
Einwanderer. Zum Teil mußten sie ja weit über 3000 km zurücklegen. Bei der
Ansiedlung selbst fehlte es an Wohnhäusern, an landwirtschaf’tlichen Geräten und
an Zugvieh. Die erste Generation hatte es wahrlich nicht leicht. Nur langsam ge­
wöhnte man sich an das Klima, an die neue, vollkommen andere Arbeitsweise in
der weiten, baumlosen Steppe. Bald aber verschwanden die wilden Steppengräser,
und unübersehbare Getreidefelder wogten über das weite, ebene Land. Die deut­
sche Verwaltungsbehörde gab Ratschläge, aber auch strenge Anweisungen, wie das
Land zu bearbeiten sei. Bald bewährte sich das von den deutschen Kolonisten neu
eingeführte Drei- bzw. Vierfeldersystem. Einen Teil des Landes ließ man brach—
liegen oder bebaute ihn mit Hackfrüchten oder Mais. Dieser Boden wurde be­
sonders sorgfältig gepflegt, mehrmals umgepflügt und so vom Unkraut befreit.
Um so größer waren dann die Ernteerträge. An der Spitze stand der Weizenbau.
Es folgten Gerste, Hafer, Roggen („Korn“) und Mais. Die Anbaumethoden ver—
besserten sich ständig; jedes jahr gab es neue landwirtschaf’clid1eMaschinen. Dank
dem guten, schnellgehenden deutschen Pferd konnte man die Ernte immer rasch
einbringen, das Getreide sd1nell dreschen und vor allem dann den Weizen früh
zum Verkauf anbieten, wenn nod1 gute Preise zu erzielen waren. Dabei mußte der
Weizen OPC25 bis 100 km weit zur Eisenbahnstation oder zur Hafenstadt ge­
bracht werden. Dann sah man unterwegs Hunderte von deutschen Bauernwagen,
mit Weizensäd<en beladen, über die weite ebene Landsd1aft fahren. Für den Erlös
baute man bessere Häuser, kaufte landwirtschaflliche Geräte oder Land.
Dabei herrsd1ten im Wolga- und Schwarzmeergebiet zwei ganz verschiedene Sy­
steme: im Wolgagebiet das sogenannte „Mirsystem“, im Sd1warzmeergebiet das
Erbhofgesetz. Im Wolgagebiet wurde — ähnlich wie bei den Russen — das Land
periodisdu mit Zunahme der Einwohnerzahl immer neu auf die männlichen
Seelen (Seelenanteil) aufgeteilt. Die Folge war, daß der Seelenanteil immer
kleiner wurde und sd11ießlichunter das Existenzminimum sank. Bei der Ansied­
lung kamen auf jeden männlichen Einwohner im Wolgagebiet 15,5 ha Land; 1914
nur noch 1,9 ha. Aus diesem Grunde sah sich die Regierung gezwungen, den
Wolgadeutsduen dreimal Land zuzuteilen.
Im Sd1warzmeergebiet durfte die Familie das ihr zugeteilte Land („die Wirt­
sd1aft“) in den ersten Jahrzehnten nie teilen, sondern mußte es auf einen Sohn un­
geteilt vererben. Infolgedessen war der Vater gezwungen, für seine anderen Söh­
ne — und deren waren es oft vier bis acht — Land zu kaufen. Der Landankauf
nahm besonders bei den Schwarzmeerdeutschen große Ausmaße an. Während die

Landbesitz der Deutsd1en in Rußland 1914

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Bevölkerungs- und Besitzanteil der Deutschen in Neu-Rußland (Süd-Ukraine)

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E] = 50 000 Desjatinen (ca. Hektar) Kulturland 5 = de utscher Besitz


Ü = 50000 Einwohner , = Deutsche nach A. Vaatz

Der deutscheLandbesitz war prozentual zum vorhandenen Ackerland viel höher als der An­
teil der Deutschen an der Gesamtbevölkerung. In den Gouvernements Bessarabien,Cherson,
] eleaterinoslaw und Taurien machte die deutscheBevölkerung durchschnittlich6 Prozent der
Gesamtbevölkerung aus, der deutscheLandbesitz aber 23,5 Prozent der Gesamt-Ackerfläche.

Wolgadeutschen zu dem von der Regierung dreimal zugeteilten Land knapp eine
Million Hektar hinzukauften, kamen bei den Sd1warzmeerdeutsduen zu den zu­
geteilten 700 000 ha noch 4,2 Millionen ha. Allein diese beiden Gruppen hatten
einen Landbesitz, der größer war als die Getreideanbaufläche der Bundesrepublik.
Nimmt man noch den Landbesitz der Wolhynien-, Petersburger- und Sibirien­
deutschen (also ohne Baltikum) hinzu, so ergibt das für das Jahr 1914 einen
Landbesitz von rund 9,5 Millionen ha; das sind 1,6 Millionen ha mehr, als die
Bundesrepublik Adserland hat, und nur 1,9 Millionen ha weniger, als Deutschland
1937 an Getreideanbaufläd1e hatte. Dabei mad1te der Anteil des Landbesitzes der
Rußlanddeutsduen das Vielfache von dem Anteil der deutschen Bevölkerung aus.
So betrug der deutsche Landanteil in Bessarabien 11,11 0/0 der Ackerfläche, da­
gegen die Zahl der Deutschen nur 3 0/0 der Gesamtbevölkerung. In dem Gouver­
nement Cherson lauteten die entsprechenden Zahlen: 19,4% und _6,8%; in Tau­
rien: 38,3 0/0 und 8,8 0/0; in Jekaterinoslaw: 25,0 0/0 und 5,4 0/0. ‘
Hervorzuheben wäre noch, daß neben dem Getreidebau der Weinbau besonders
im Südkaukasus, auf der—Halbinsel Krim, bei Odessa und in Bessarabien eine
große Rolle spielte. Die Deutsd1en erzielten nicht nur die höchsten Hektar­
erträge, sondern sie lieferten auch Spitzenweine für ganz Rußland.
Gründung von Tochterkolonien

Der große Kinderreichtum und der damit auftretende Landmangel für die heran­
wachsende Generation führte zur Gründung von zahlreichen Tochterkolonien.
Die rußlanddeutsche Volksgruppe war die einzige in Europa, bei der die Gebur—
tenziffer in den Jahren 1932 bis 1937 über der des Staatsvolkes lag, nämlich 43,8
gegenüber 39,8 auf 1000 Einwohner, in der Ukraine sogar 47,3 gegenüber 40,3. In
Deutschland lag die Geburtenziffer zur gleichen Zeit bei 15,1. So war z.B. der
Geburtenüberschuß bei den Deutschen in Bessarabien (16,5) höher als die Ge­
burtenziffer in Deutschland. Die durduschnittliche Kinderzahl lag bei den Ruß—
landdeutschen vor 1918 bei etwa acht Kindern. So wuchs die Zahl der Deutschen­
in Rußland (ohne das Baltikum, Kongreßpolen und Polnisch-Wolhynien) von
rund 100 000 Einwanderern auf 1,7 Millionen Einwohner im Jahre 1914, d. h. in
140 Jahren hat sich das Deutschtum versiebzehnfacht.

Die bei der Ansiedlung gegründeten Dörfer waren bald übervölkert. Wollte man
nicht in die Städte abwandern und andere Berufe ergreifen — und das wollte
man nicht —, dann blieb nur der Ausweg, Land zu kaufen und neue Dörfer zu
gründen. Dies geschah, indem entweder die Mutterkolonien geschlossen größere
Ländereien aufkauften und für die Landlosen bzw. Landarmen neue Siedlungs­
gebiete (Tochterkolonien) gründeten, oder aber einzelne unternehmungslustige
Bauern aus verschiedenen Dörfern schlossen sich zusammen, kauften sich Land
und gründeten ein neues Dorf. Daher finden wir eine ganze Reihe von Dörfern,
die den Namen der Mutterkolonien mit der Vorsilbe „Neu“ tragen: Neu-Lieben­
tal, Neu-Prisehib, Neu—Kandel usw. Das Land kaufte man meist von russischen
Gutsbesitzern oder Generalen, die es an Deutsche besonders gerne weitergaben, da
diese kaufkräflig und pünktliche Zahler waren. Nachdem das Land in der
näheren Umgebung immer knapper und teurer geworden war, sandte man Kund­
schafler in weiter östlich gelegene Gebiete. So entstanden die vielen Tochterkolo­
nien im Dongebiet und im Nordkaukasus. Als auch hier der Landkauf immer
schwieriger wurde und die Preise anstiegen, ging der Strom der Landsucher seit
1880 nach Sibirien und nach Übersee, wo nicht nur große Ländereien brachlagen,
sondern die Landpreise wesentlich niedriger lagen oder wo die Regierung sogar
Land frei zuteilte. Während der Landpreis pro Deßjatine (1,09 ha) im europä­
ischen Rußland von nur 42 Rubel im Jahre 1870 auf 400 Rubel im Jahre 1910
anstieg, zahlte man zu dieser Zeit in Sibirien nur 59 bis 80 Rubel. So wurden
immer neue Ländereien angekauft und neue Tochterkolonien noch bis in die
Bolschewistenzeit hinein gegründet. Zu den rund 300 Mutterkolonien kamen etwa
3000 Tochterkolonien, so daß es im Jahre 1940 in der Sowjetunion rund 3300
deutsche Dörfer gab.
Deutsche Bevölkerung in Rußland
1765—1862 nach Rußland eingewanderte Deutsche
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Deutsche in Rußland 1914 (ohne Baltikum, Kongreßpolen polnisch Wolhynien und Bessarabien
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Deutsche Siedlungen in Rußland

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Mutterkolonien (Primärsiedlungen)

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Mutterkolonien(Primärsiedlungen) und Tochtersiedlungen (Sekundärsiedlungen) 1941
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(ohne Baltikum, Kongreßpolen, Dolnisch Wolhynien und Bessarabien
(' = 10000 Personen &“ —100 Siedlungen

Kirche und Schule

Volkstum, Kirche und Schule waren bei den Deutschen in Rußland eng mit—
einander verbunden. Schon 1832 erschien das „Gesetz für die evangelisch-lutheri­
sche Kirche in Rußland“. Die höchste kirchliche Behörde war das Generalkonsisto—
rium mit dem Sitz in Petersburg. Ihm unter5tanden acht Konsistorialbezirke, die
ihrerseits in Propstbezirke eingeteilt waren, denen die einzelnen Gemeinden
unterstanden. Es gab nur wenig Pfarrer, so daß einer oPt bis zu 15 und mehr Ge­
meinden versorgen mußte. War der Pfarrer abwesend, so vertrat ihn der Küster
(—lehrer),der die Lesegottesdienste hielt, bei Taufen und Beerdigungen sprach und
Konfirmations— und Religionsunterricht erteilte. Die Kirche war immer gut be­
sucht, der Sonntag ein wirklicher Ruhetag. Kirchliche Festtage und Lieder sowie
die christliche Sittenlehre gaben bei allen Konfessionen dem kirchlichen und kultu­
rellen Leben das Gepr'alge. Die Kirche benützte ihren ganzen Einfluß, um das
Leben, die Sitten und Gebr'aluche in den Gemeinden deutsch zu erhalten. Kein
Kind wurde zum Konfirmationsunterricht zugelassen, das nicht deutsch lesen und
schreiben konnte. Die schulentlassene jugend ging nach der Konfirmation noch
zwei Jahre in die „Kinderlehre“, d. h. sie übte sich jeden Sonntag unter Aufsicht
der Kirchenältesten im Lesen und Schreiben. So hatten die Pfarrer und ihre Ver­
treter nicht nur die Aufsicht über den Religions-, sondern auch über den Deutsch­
unterricht. Bis zur Aufhebung der Selbstverwaltung (1871) waren die Schulen in
den deutschen Gemeinden praktisch Kirchenschulen. Die Träger dieser Schulen
waren die Kirchengemeinden, die auch die Mittel für den Schulbau und den
Unterhalt der Schulen aufbringen mußten. In methodisduer Hinsicht blieb die
„Kolonistensdmle“ freilich im Rüd{stand gegenüber dem Mutterland, da —- je
länger desto mehr — die Verbindung zu Deutschland sich lod<erte und schließlich
vor dem ersten Weltkrieg fast ganz verlorenging. Im Vergleich zum Staatsvolk
aber stand das Schulwesen in den deutschen Dörfern bedeutend höher. Während es
nach der Volkszählung von 1897 im russischen Volk noch rund 78 °/o Analpha­
beten gab, konnte in den deutschen Dörfern jeder lesen und schreiben. In jeder
deutschen Siedlung, audi der entlegensten in Sibirien, gab es eine Schule, wenn sie
auch of]:ein besd1eidenes Aussehen hatte. In den größeren Dörfern standen über­
all stattliche, aus Stein gebaute Schulen, in denen die deutsd1en Bauernkinder vom
siebenten bis zum vierzehnten Lebensjahr die achtklassigen Volksschulen be­
suchten. Bald entstanden dann in einzelnen Mittelpunkten der deutschen Sied­
lungsgebiete die sogenannten „Zentralschulen“, in denen vor allem die zukünfti—
gen Lehrer und Dorfschreiber ihre Ausbildung erhielten. Dazu kamen bald
höhere Knaben- und Mädd1enschulen sowie Ackerbauschulen. Einen guten Ruf
bei Deutschen und Russen hatten die deutsd1en Sd1ulen in Moskau und vor allem
in Petersburg. Auf der einzigen fast deutschen Universität in Dorpat erhielten vor
allem die Pastoren, aber auch Ärzte und andere akademische Berufe aus den
Reihen der Kolonistensöhne ihre Ausbildung, um'dann wieder in die deutschen
Dörfer zurüd<zukehren. Allerdings brachten dann die Russifizierungsmaßnahmen
seit 1880 eine grundlegende Änderung im gesamten deutschen Schulwesen. In
allen deutschen Sd1ulen wurde Russisdu die Unterrichtssprache, mit Ausnahme des
Religions- und des Deutschunterrichts. Es war nur ein Segen, daß die Umgangs—
sprache in den rußlanddeutsd1en Gemeinden, auf der Straße, auf dem Spielplatz,
auf dem Schulhof, in der Kirche, in den Jugendvereinen und in den Familien
auch weiter die deutsche blieb. Über 240 Priester erhielten ihre Ausbildung im
Kath. Seminar in Saratow; desgleichen viele Lehrer und Dorfschreiber.

Etappen des Niedergangs


Bis 1871 war bei den Rußlanddeutschen auf allen Lebensgebieten eine Aufwärts—
bewegung zu verzeichnen: Es stieg der Wohlstand, der seinen Ausdruck im großen
Landbesitz fand; es stieg auch das kulturelle Niveau (gut entwid&eltesSchulwesen,
Kulturvereine). Gerade dieser Aufstieg war aber den panslawistischen Kreisen ein
Dorn im Auge. Es setzte eine Bewegung gegen die weitere Ausbreitung der
Deutschen in Rußland ein. Man empfand die deutsche Volksgruppe als einen
fremdvölkischen Mad1tfaktor kultureller und wirtschaftlicher Art im eigenen
Volkskörper, den man bekämpfen müsse. Diese Kreise setzten es durch, daß am
4. Juni 1871 das bei der Ansiedlung erlassene und große Rechte zusichernde 28
Kolonistengesetz aufgehoben wurde. Damit endete aud1 die Selbstverwaltung;
die Kolonisten unterstanden jet2t dem russischen Innenministerium. Aud’1in der
Gemeindeverwaltung mußte man die Gemeindebücher nunmehr in russischer
Sprache führen. Unter Alexander III., der eine dänische Prinzessin zur Frau
hatte, begann eine antideutsche Politik, die sich auch auf die Rußlanddeutschen
nad1teilig auswirkte. Besonders hat die Aufhebung der Befreiung von der Militär­
dienstpflidut die heranwachsende rußlanddeutsche Jugend schwer betroffen. Das
galt vor allem für die Mennoniten, die aus Glaubensgründen den Wehrdienst
ablehnen und vor allem aud1 deshalb seinerzeit nach Rußland gezogen waren,
weil man ihnen die Befreiung vom Militärdienst „auf ewige Zeiten“ versprochen
hatte. Diese veränderten Verhältnisse lösten zwei Ereignisse im Kolonistenleben
aus:

Die Abwanderung nach dem fernen Sibirien, wo man noch billiges Land ankaufen
konnte und wo die neuen Gesetze nicht so streng angewendet wurden, da die
russische Regierung an der Besiedlung Sibiriens interessiert war.

Die Abwanderung nad1 Kanada, den USA und nad1 Südamerika. Wie einst die
russisd1e Regierung an der Einwanderung von Deutschen interessiert war und
diesen Sonderrechte einräumte und Land zur Verfügung stellte, so jet2t die ameri­
kanischen Regierungen. Nad1 dem Gesetz von 1872 konnte sich jeder Einwanderer
nad-1Kanada gegen Bezahlung von nur 10 Dollar eine „Heimstätte“ (= 64 ha)
zuweisen lassen, die schon nad1 drei Jahren in sein Eigentum überging. Die Eisen­
bahngesellschafien in den USA benötigten Arbeitskräfte und Bauern für das
Hinterland, das ersdflossen werden sollte. Aud1 hier konnte man Heimstätten er­
werben. Ähnlich günstige Ansiedlungsbedingungen gab es in Brasilien, Argen—
tinien und Paraguay. Die große Auswanderungsbewegung von Rußlanddeutschen
begann 1873 und dauerte bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs. Allein 10000
Mennoniten wanderten in den Jahren 1874 bis 1883 nach den USA aus. In Süd­
Dakota gibt es Kreise (Counties), in denen 99 0/0 des Bodens im Besitz von Ruß­
landdeutsduen aus dem Gebiet Odessa sind. Wo einst auf der Grassteppe die
Büffelherden weideten, standen bald die sd1önsten Weizenfelder. Die Wolga­
deutschen führten in Colorado den Zud<errübenbau ein. Die Schwarzmeer­
deutschen gründeten die Städte Eureka, Straßburg, Karlsruhe, Selz.
In den Jahren 1874—1879 wanderten allein 18000 Mennoniten nach Kanada ein
und gründeten südlich von Winnipeg ein geschlossenesSiedlungsgebiet: West- und
Ostreserve; 1923 bis 1932 kamen 21000 Mennoniten und 10000 Lutheraner aus
Rußland vorzugsweise nad1 Westkanada; 1926/27 fand eine umfangreiche Ein­
wanderung aus Bessarabien nad1 Kanada statt. Zuletzt kamen 1947 viele Ruß­
landdeutsdue nad1 Kanada. In den Jahren 1873 bis 1910 gingen viele Rußland­
29 deutsche nad1 Südamerika: Brasilien, Argentinien, Uruguay oder Paraguay; den
Deutsche Auswanderung aus Bessarabien 1857-1927
Nach Jahren
1857 l

1860 II

1870 III

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1920

1925 Illlllllllllllllllll
Illllllllllllllllllllllllllllll--lllllllll
...llllllllll
1927_-Illllllllllllllllllllllll
I = 10 Auswanderer

Die Zahlen der Darstellungen beruhen auf Erhebungen aus 82 Gemeinden


Die fehlenden sind kleine u. neue Ansiedlungen ohne nennenswerte Auswanderung 30
Deutsche Auswanderung aus Bessarabien 1857-1927
Nach Zielländern

Nordamerika
""fllüfliflflüflflhiüflflüüüiü"Mülifllflfllülüifllflüflül
Rußland lflfliüfllflüül
Kaukasus "WM"
Südamerika"MM
Rumänien "i"

Dt.Reich "'

unbekannt "‘

Türkei "

' = 100 Auswanderer

Höhepunkt bildete die Einwanderung von Wolgadeutschen nach Brasilien und


Argentinien in den Jahren 1877 bis 1879. Erwähnen müssen wir noch die Er­
schließung des Chaco in Paraguay in den Jahren 1928 bis 1932 durch rußland­
deutsche Mennoniten. Insgesamt wird die Zahl der Rußlanddeutschen in Übersee
für das Jahr 1940 wie folgt geschätzt:
Nord- und Mittelamerika Südamerika
USA 350 000 bis 400 000 Brasilien 250 000
Kanada 200 000 Argentinien 150 000
Mexiko 30 000 Paraguay 4 500
W000 Uruguay 2500
407 000
Zusammen also in Übersee etwa 1 037 000 Rußlanddeutsche.

Schwere Jahre (1914 bis 1941)

Die meisten der in Rußland verbliebenen Deutschen erreichte ein Schicksalsschlag


nach dem andern. Je näher der erste Weltkrieg rückte, desto mehr steigerte sich
die Hetze gegen das Deutschtum, gegen den „inneren Feind“. Während die Kolo­
nistensöhne an der Front im Kampf gegen die Westmächte standen, verbot man
zu Hause den Angehörigen die deutsche Sprache in der Öffentlichkeit, Schule,
Presse; im Schwarzmeergebiet gab es in den Kirchen keine freie Predigt in deut­
scher Sprache mehr, sondern nur Bibellesung. Es folgten am 2. Febr. und 13. Dez.
31 1915 die Liquidationsgesetze, die die Entrechtung und Vernichtung der Deutschen in
Rußland bedeutet hätten. Nach diesen Gesetzen war allen Staatsbürgern deutscher
und österreichischer Abstammungverboten, Grund und Boden zu erwerben. Die­
jenigen aber, die in der Grenzzone von 150 km lebten, sollten enteignet und aus­
gesiedelt werden. Ein Erlaß vom 13. Dezember 1916 dehnte die Geltung dieses
Gesetzes auch auf die'Wolgadeutschen aus. Es wirkte sich im Sommer 1915 nur bei
den Wolhyniendeutsduen aus, die am nächsten zur Westfront lagen. Man brachte
sie unter den schwierigsten Verhältnissen nach den östlicher gelegenen Gebieten
des europäischen Rußland und bis nach Sibirien. Fast die Hälfte kam ums
Leben; der Rest kehrte nad1 dem Krieg in die vom Krieg zerstörten Dörfer zu­
rüd<. Nur durch den Ausbruch der Revolution 1917 blieben die anderen Rußland­
deutschen von den Verbannungen zunächst verschont, aber unter den Bolschewi­
ken begann für sie eine neue Zeit, die alle bisherigen Lebensformen und wirtschaft­
lichen Verhältnisse zerstörte. Nur kurze Zeit dauerten die Versuche, nad1 Be­
endigung des Krieges aufgrund der Gleichberechtigung ein eigenes kulturelles
Leben zu entfalten und wirtschafllidue und kirchliche Organisationen aufzubauen.
Es folgten die Jahre des Bürgerkrieges (1918—1920), die gewaltsame Enteignung
des Bodens, die Vernid1tung der einstmals wohlhabenden Bauern. Die Zerrüttung
des Wirtsduaflslebens blieb nid1t aus. Die beiden Mißernten von 1921/22 und
1932/33 führten zu einer Hungersnot, die aud1 unter der deutschen Bevölkerung,
besonders des Wolga-, aber auch des Sd1warzmeergebietes viele Menschenopfer
forderte. In den vergangenen 150 Jahren gab es auch Mißernten. In keinem Jahr
ist aber ein Deutsduer verhungert. In den ertragreiduen Jahren legte man in jedem
deutschen Dorf in den Gemeindemagazinen Getreidevorräte an, die in N0tjahren
an die Bevölkerung verteilt wurden. Unter dem Eindruck dieser Katastrophe
(1922) sah sich die Regierung gezwungen, eine neue ökonomische Politik (NEP)
einzuführen und den einzelnen Bauern wieder Eigentum zuzugestehen. Die Folge
war, daß gerade bei den Deutschen in kurzer Zeit wieder ein wirtschaftlicher
Aufstieg stattfand. In diese Zeit (1924) fiel auch die Gründung der „Autonomen
Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutsduen“ mit eigener Verwaltung und
deutscher Amtssprache. Aber schon 1928/29 kam unter Stalin die rücksichtslose
Kollektivierung. Die Bauern verloren Land und Vieh. Sie mußten das Land ge­
meinsam bearbeiten und Vieh und Pferde in Kolchosställen unterbringen. Tau­
sende von ehemals wohlhabenden Bauern, von denen man einen Widerstand
gegen die Kollektivierung erwartete, wurden allein oder mit ihren Familien aus
ihren Heimatgemeinden entfernt und in den Norden verbannt oder in hundert
und mehr Kilometer entfernte, oft russische Gemeinden verbracht. Viele tauchten
in Städten unter, um dieser Verbannung zu entgehen. 1932/33 wurden rig0rose
Mittel angewandt, um die letzten Bauern in die Koldmse zu zwingen. Man nahm
ihnen das Getreide bis auf das letzte Korn zwangsweise ab. Die Folge war eine 32
neue große Hungersnot, diesmal trotz einer vorhergegangenen guten Ernte. Den
beiden Hungersnöten fielen Millionen Menschen zum Opfer, darunter zirka
350000 Deutsche. Inzwischen nahmen die Verhaftungen und Verbannungen von
unschuldigen Menschen ihren Fortgang und erreichten ihren höchsten Stand in
den Jahren 1936—1938; in dieser Zeit wurde fast die gesamte deutsche Intelligenz
vernichtet: Pfarrer, Lehrer, Ärzte, Beamte. Da viele Männer verbannt wurden,
fiel die Hauptlast der Arbeit auf die Frauen. Eine Erhebung ergab, daß 1940 fast
ein Drittel der Familien in den deutschenGemeinden ohne Familienoberhaupt war.
Zu diesen Verlusten an Menschen und Wirtschaflsgütern gesellten sich die seeli­
schen Nöte: schwer lastete auf dem Rußlanddeutschtum die völlige Abgeschlos­
senheit von der alten Heimat. In den Hungerjahren mußten die Notleidenden oPc
die Annahme von Liebespaketen aus Deutschland verweigern. Der festeste
Grundpfeiler des Rußlanddeutschtums waren immer Kirche und Schule gewesen.
Aber fast alle Geistlichen waren umgekommen, und die Kirchen führte man pro­
fanen Zwecken zu und verwendete sie als Kinos, Tanzlokale oder Magazine.

Altersaufbau der Bevölkerung in den 26 deutschen


Siedlungen des Gebietes Kronau-Orloff 1942
anwesend 11155, ermordet 170„ verhuhgert 665
verbannt 852, verschleppt 846 Personen
männlich Jahre weiblich

"11001000900 800 700 600 500 500 200 100 Per . 100 200 500 400 500 600 700 800 90010001100
anwesend ermordet verhungert _verbannt && verschleppt
Der zweite Weltkrieg und seine Folgen für das Rußlanddeutschtum

Während noch im Jahre 1937 in der Sowjetenzyklopädie die Rede war vom
„Fortschritt der Wolgadeutschen bei Überwindung des Kapitalismus“ und von
der „grenzenlosen Ergebenheit der deutschen Bevölkerung für die Sache des
Kommunismus“, wurde im selben Jahr in der ganzen Sowjetunion mit Aus­
nahme der Wolgarepublik der Unterricht in deutscher Sprache in allen Schul­
gattungen verboten und die Staatssprache als Unterrichtssprache auch in den deut­
schen Gemeinden eingeführt. Wenn in den Jahren 1928—1939 die Verbannungen
der Deutschen in erster Linie aus politischen und sozialen Gründen erfolgten —
auch die anderen Sowjetvölker waren von den Verbannungen betroffen wor­
den —, so richteten sich in zunehmendem Maße und insbesondere bei Ausbruch
des Krieges mit der Sowjetunion (1941) die Vernichtungsmaßnahmen gegen die
nationalen Minderheiten, insbesondere aber gegen die Deutschen, denn die
Sowjetunion befand sich im Krieg mit Deutsduland. Als erste wurden am
20. AugUSt 1941 alle Deutschen auf der Krim (60000) zunächst nach dern Nord—
kaukasus (Ordsd10nikidse) und von da nach Kasachstan in die „Hungersteppe“
umgesiedelt. Als Begründung gaben die Behörden an: „Wir bringen euch ins
Hinterland, damit ihr nicht unter den Kriegshandlungen zu leiden habt.“ Dann
kam die Verbannung der 379 000 Wolgadeutschen aufgrund eines Dekrets vom
28. August 1941, in dem es u. a. hieß: „Entsprechend glaubwürdigen Nachrichten
der Militärbehörden befinden sich in den Wolgagebieten unter der dortigen deut­
schenBevölkerung Tausende und Zehntausende von Diversanten und Spionen, die
auf ein von Deutschland zu gebendes Signal Sabotageakte in den von den
Wolgadeutschen besiedelten Gebieten auszuführen haben . . . Um aber un­
erwünschte Ereignisse dieser Art zu vermeiden und Blutvergießen zu verhindern,
hat das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR es für notwendig befunden,
die gesamte deutsche Bevölkerung der Wolgagebiete in andere Gebiete um­
zusiedeln.“ Genannt wurden die Gebiete von Nowosibirsk und Omsk, das Altai—'
gebiet, Kasachstan und andere Gegenden. Das sind gerade die Gebiete, in denen
die Sowjetunion später unter Chruschtschow Neuland erschließen und dieses in
Weizen—und Baumwollfelder verwandeln wollte. Im Oktober 1941 wurden auch
die Deutschen aus dem Südkaukasus (25000) geschlossen ausgesiedelt und zum
größten Teil nach der Wüste südlich vom Balchaschsee am Fluß Illi oder in die
Gegend westlich von Alma—Ata verbracht, wo sie unter größten Opfern an
Menschenleben Wein- und Obstgärten angelegt haben. Verschont von diesen
Deportationen blieben meist die Deutsd1en in den Dörfern westlich des Ural
(Orenburg, Ufa und Aktjubinsk) und z. T. hinter dem Ural, wo es schon vor
1918 über 500 deutsche Bauerndörfer bei Omsk, im Altaigebiet und in der Ku­
lundasteppe gab; nicht ausgesiedelt wurden auch die Deutschen in den Dörfern 34
zwischen Dnjepr und Dnjestr, soweit sie nicht schon vor Kriegsausbrudu (1929
bis 1939) — und dies gilt besonders für die Männer — verbannt worden waren.
Beim Rückzug der deutschen Armeen wurden der Rest der östlid1 des Dnjepr
Verbliebenen und die Deutschen aus dem Raum zwisd1en Dnjepr und Dnjestr
(Transnistrien) zuerst nad1 dem Warthegau umgesiedelt und hier eingebürgert,
beim Zusammenbruch der deutschen Front dann nach Deutschland weitertranspor—
tiert. Insgesamt kamen 350000 Rußlanddeutsd1e nad1 Deutschland. Beim Ein­
marsch der Sowjettruppen verschleppte man rund _250000 von ihnen in Zwang—s­
lager in das nördliche Rußland (SSR Komi) und nach Mittelasien und brachte sie
nicht, wie man ihnen versprochen hatte, in ihre Heimatdörfer ins Wolga- und
Schwarzmeergebiet. Von den in Deutsduland verbliebenen 100000 Rußlanddeut­
Sehen wanderten 25 000 bis 30000 nad1 Übersee aus; 70000 bis 75000 leben in
der Bundesrepublik.

Jahre quälender Ungewißheit


Die Männer, die vor allem in den Jahren 1936—1938 verbannt wurden, durften
nie mehr an ihre Familien schreiben. So‘wissen bis heute nod1 viele Frauen nichts
von ihnen. 1941 wurden — wie oben schon ausgeführt — die Wolga-, Krim- und
Kaukasusdeutschen aus ihren Heimatdörfern ausgesiedelt. Inzwisd1en ist der Ge­
heimbefehl bekannt geworden, demzufolge bei der Verbannung der Wolgadeut­
sd1en (1941) die Männer von ihren Familien getrennt und in andere Gegenden
verbannt wurden. Viele Männer der Familien, die nad1 dem Zusammenbrudu
nach der Sowjetunion abtransportiert worden sind, waren in der deutschen Wehr­
macht und kamen in Gefangensduafl: bei den westlichen Alliierten. Nach ihrer
Heimkehr in die Bundesrepublik mußten sie feststellen, daß ihre Frauen und
Kinder nicht mehr da waren. Aber wo waren sie? Die meisten rußlanddeutsduen
Familien in der Bundesrepublik leben heute noch in Ungewißheit über das Schick­
sal und den Verbleib ihrer Angehörigen. Heute wissen wir, daß die Verbannten,
in der Mehrzahl Frauen, in den nördlichen Waldgebieten des europäischen
Rußland, in Kohlengruben und beim Eisenbahnbau, in den Sandwüsten Mittel­
asiens schWere Arbeit unter den ungünstigsten Lebensbedingungen verrichten
müssen. „Die Deutschen waren in völlig unerschlossenes Urwaldgebiet gekommen.
Maulwürfen gleich hausten sie in schnell aufgeworfenen Erdhöhlen. Rasch mußte
der Urwald so weit gerodet werden, um Platz für die ersten Hütten zu gewinnen.
Bei einer Kälte von minus fünfzig Grad mußten sie arbeiten. Ihre Kinder aber
blieben ohne Ernährer zurück. 1947 herrschte hier wieder eine furchtbare Hun­
gersnot.“ Das Schlimmste aber war die Hoffnungslosigkeit, die Abgeschlossenheit,
die Ungewißheit über das Schicksal ihrer Angehörigen, von denen kein Lebens­
Un zeichen kam.
Wende im Leben der Rußlanddeutschen

Nach all diesen Jahren der Drangsalierung wirkte die am 13. Dezember 1955 ver—
kündete, allerdings mit Einschränkungen verbundene „Amnestie sowjetischer
Staatsbürger, die während des großen vaterländischen Krieges 1941 bis 1945 mit
der Besatzungsmacht zusammengearbeitet haben“, wie eine Erlösung. Wenn sich
diese Amnestie auch in erster Linie auf jene Rußlanddeutschen bezog, die 1943/44
nach Deutschland umgesiedelt und hier eingebürgert worden waren, so haben sich
die Auswirkungen dod1 auch auf die übrigen Rußlanddeutschen erstreckt. Getrübt
wurde diese Amnestie durch zwei Bestimmungen, die die Rußlanddeutschen bei
Aushändigung eines Passes zur Kenntnis nehmen und unterschreiben mußten. In
Punkt 2 der Amnestie heißt es: „Es wird festgestellt, daß die Aufhebung der
durch die Sondersiedlung bedingten Beschränkungen für die Deutschen nicht die
Rüdigabe des Vermögens zur Folge hat, das bei der Verschickung konfisziert
worden war, ferner, daß sie nicht das Recht haben, in die Gegenden zurück—
zukehren, aus denen sie verschickt worden sind.“ Dennoch bedeutete es, gemessen
an den unmittelbar vorhergehenden Jahren, eine Erleichterung und ein Aufatmen.
Jetzt begann eine wahre Völkerwanderung, ein Briefeschreiben, ein gegenseitiges
Suchen; jetzt kamen auch Tausende von Briefen nach Deutschland. Ein Großteil
der getrennten Familien konnte wenigstens in briefliche Verbindung treten.

Heutige Wohngebiete und Zahl der Deutschen in der Sowjetunion

Diese Briefe und der neue sowjetische Atlas versetzen uns in die Lage, Angaben
über die heutigen Wohngebiete der Rußlanddeutschen zu machen. Die beigege­
bene Karte gibt uns eine eindrucksvolle, aber_traurige Übersicht. Die in Rot/
Schwarz gedrud<ten Stellen geben an, wo es einst 3300 geschlossene deutsche Sied­
lungen („Kolonien“) gab. Sie haben aufgehört zu bestehen und sind heute von
anderen Völkerschaften bewohnt, soweit sie überhaupt noch existieren. Nur bei
Ufa, Orenburg und Aktjubinsk im europäischen Teil und bei Omsk und in der
Kulundasteppe bei Slawgorod im asiatischen Teil der Sowjetunion bestehen die
ehemaligen deutschen Dörfer noch zum größten Teil; es mögen etwa 500 sein.
Allerdings sind sie vielfach unterwandert und in ihrem völkischen, kulturellen und
wirtschaf’clidmenLeben nicht mit früher zu vergleichen. Aufgrund der offiziellen
Volkszählung von 1959 kennen wir die genaue Zahl der Deutschen in der Sowjet­
union: 1 619 000. Von ihnen mögen 120 000 bis 150 000 noch in deutschen Dörfern
leben. Die große Masse aber lebt zerstreut in weiten Räumen unter fremden
Völkerschaften: Im nördlichen Teil des europäischen Rußland, in der ASSR Komi
mit der Hauptstadt Syktywkar, wo ein rauhes, kaltes Klima herrscht. Hier sind 36
Entwicklung der deutschen Bevölkerung in Rußland
bezw. in der Sowjetunion von 1914-1959

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1 920 . Eääzäzäé:::p_ . . . . .

1926

1930

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1950

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sches Deutschtu m ;':;:;:4 ländliches Deutschtumäi;

' = 20 000 Personen 1914 einschließlich


1959 mit Baltikum,der
Kongreßpol en, polnisch
in den Jemen 1945—45 Wolhynien und -Bessarabie'n=
Zwangsverschleppten, Gefangenen und
Flüchtlinge aus den Ostgebieten und der zurückgebliebenen Kriegsgefangenen

die Deutschen vor allem im Waldbau beschäfligt sowie in Erz- und Kohlengruben.
Eine große Zahl lebt in den Steppen und Industriegebieten des Urals. Am größten
ist wohl die Zahl der Deutschen im südwestlichen Teil Sibiriens im Raum Omsk
und Nowosibirsk, weit zerstreut bis Irkutsk, Jakutsk und Kamtschatka. In die­
sen Regionen, d. h. in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepubl‘ik
(RSFSR) leben 820 000 Deutsche.
‚Der Rest von etwa 800 000 Deutschen wohnt in den neu erschlossenen Gebieten
der Republiken Kasachstan (zirka 650000), Tadshikistan (33 000) und Kirgisien
(39 900). Hier gibt es viele Deutsche in den Städten. So sollen nach glaubwürdigen
Angaben in Karaganda 100000 und in Alma—Ata10000 Rußlanddeutsche leben.
Gegenüber früher, wo 95 % der Rußlanddeutsduen auf dem Lande lebten und
vorwiegend Bauern waren, haben sich die Verhältnisse heute grundlegend
geändert. Seit 1926 hat schon in den früheren Siedlungsgebieten eine starke Ab­
wanderung in die Städte stattgefunden. Heute leben etwa 40 0/o der Rußland—
deutschen in den Städten, arbeiten aber in anderen Berufen (Industrie, Bau­
gewerbe, Bergbau usw.). Am größten ist der bäuerliche Anteil noch in den Wei­
zen—,Baumwoll- und Viehzuchtgebieten Sibiriens und Mittelasiens. Nach der Zäh—
lung von 1969 leben in der Sowjetunion 1 846 000 Deutsche. Davon gaben schon
33 0/0oder 1/3 russisch als ihre Muttersprachean.

Die heutige wirtschaflliche und kulturelle Lage

Nad1 den Jahren der Zerrissenheit und Trostlosigkeit (1941—1955), der Ab­
geschlossenheit von der Außenwelt, der absoluten Unterdrückung der Mutter­
sprache, der Schwerarbeit in Lagern unter menschenunwürdigen Verhältnissen,
verbunden mit Hunger und Massensterben, begann sich 1956 das Leben für die
Rußlanddeutschen langsam zu normalisieren. Man fand sich mit den Gegebenhei­
ten ab und versuchte, aus ihnen das Beste herauszuholen. Man mußte sich in den
neuen Berufen und Beschäftigungen zurechtfinden. Mit Zähigkeit, mit Fleiß, Spar­
samkeit und Gewissenhaftigkeit geht man ans Werk. Der Deutsche ist wieder als
fleißiger und zuverlässiger Arbeiter gesucht und geschätzt. Das berichten immer
wieder die Heimkehrer, das steht aber auch in der in Moskau erscheinenden
deutschspraduigen Zeitung „Neues Leben“. Fast in jeder Nummer dieser Zeitung
erscheinen Berichte mit Fotos, in denen große Leistungen (mit Namensnennung)
von Deutschen hervorgehoben werden
Auch Chruschtschow hat sich bei seiner Inspektionsreise durch Kasachstan lobend
über einen deutschen Kolchos geäußert. Diese überdurchschnittlichen Leistungen
machen sich auch im äußeren Bild und im Lebensstandard bemerkbar. Man sieht
es an der Kleidung, an den Wohnungen und im Hausbau. „Wir haben uns ein
Haus oder ein Häuschen gebaut“, liest man immer wieder in Briefen. So sind die
Deutschen in der Sowjetunion im Begriffe, sich aus tiefster Not und Armut in den
vergangenen unseligen Jahren zu erheben und wieder in zäher Arbeit sich ein
lohnendes Leben zu gestalten. Die Verhältnisse und Voraussetzungen sind aller­
dings ganz anders als in früheren Zeiten, als sie noch in geschlossenen deutschen
Siedlungen lebten.
Wirtschafllich wird man die Situation meistern, viel schwieriger und bedrückender
sieht es im kulturellen Bereich aus. Kirche und Kirchenorganisationen, wie sie
einst in den geschlossenen deutschen Siedlungen bestanden, gibt es nicht mehr.
Nur ein evangelischer Geistlicher amtiert noch in Zelinograd. Zu den katholischen '
Glaubensgenossen kommen oPc polnische oder litauische Geistliche. Am besten 38
organisiert sind die Baptistengemeinden, die OP: national gemischt sind. Sonst
werden die kirchlichen Handlungen — Gottesdienste, Beerdigungen, Taufen und
Trauungen — von Laien, meist Frauen, vollzogen. Man versammelt sich in Privat­
häusern oder im Freien, um Gottes Wort zu hören und religiöse Lieder zu singen.
Freilich fehlt es an Literatur (Bibeln und Gesangbüchern). In den letzten Jahren
erreichen Bibelsendungen aus Deutschland _ihr Ziel überhaupt nicht mehr. Die
Jugend erhält keinen Religionsunterricht. Die Kirche und die kirchliche Organisa­
tion sind zerschlagen, die Sehnsucht nach Religion und nach religiöser Betreuung
brennt aber in den Herzen der mittleren und älteren Generation weiter.

Für die Erhaltung des Volkstums ist die Unterrichtssprache in den Schulen von
entscheidender Bedeutung. In den Jahren der vollkommenen Entrechtung (1941
bis 1956) konnte überhaupt keine Rede mehr von einem Deutschunterricht sein.
Erst nach dem Dekret von 1955 gibt es wieder gewisse Freiheiten. Es erscheinen in
den neuen Siedlungsgebieten deutschsprachige Zeitungen („Rote Fahne“, „Neues
Leben“); in Alma-Ata gibt es dreimal wöchentlich von 20.20 bis 20.50 Uhr Sen—
dungen in deutscher Sprache. Laut einer Verordnung des Ministeriums für Volks­
bildung der RSFSR vom August 1957 über „Die Einführung des Unterrichts in
der Muttersprache oder des Deutschunterrichtes nach erweitertem Programm für
sowjetdeutsche Kinder“ soll in Schulen. die nur von deutschen Kindern besucht
werden, auf Wunsch der Eltern der Unterricht in der Muttersprache stattfinden.
In gemischten Schulen sollen die deutschen Kinder von der zweiten Klasse an in
Gruppen zusammengefaßt werden und zwei Stunden in der Woche Deutschunter­
richt erhalten. In der Praxis aber türmen sich die Schwierigkeiten für die Durch­
führung dieser Verordnungen. Da ist es der Widerstand der örtlichen Behörden,
dort ist es der Mangel an Lehrkräf’cen, da fehlen die entsprechenden Schulbücher,
hier sind vielleicht auch die Elterngleichgültig oder noch aus früheren Jahren ein­
geschüchtert und mißtrauisch. Jedenfalls hören die Klagen in der deutschsprachi­
gen Zeitung „Neues Leben“ über Unzulänglichkeiten nicht auf. Andererseits
kann man feststellen, daß das Interesse für die deutsche Sprache nicht nur bei den
Deutschen, sondern auch bei den Russen und anderen Völkern zunimmt. Deutsch
ist neben Englisch wieder zur führenden Fremdsprache geworden. Entscheidend
aber für die Erhaltung der Muttersprache ist die Umgangssprache. Hier aber sieht
es nicht überall erfreulich aus. Da die Deutschen in der Zerstreuung unter Fremden
leben, zwingt sie das praktische Leben dazu, die offizielle Amtssprache und die
Umgangssprache zu sprechen. Ob das der Kindergarten, die Jugendorganisation,
der Spielplatz oder die Arbeitsstelle ist — in den meisten Fällen ist die Um­
gangssprache eben russisch. Nur dort, wo es noch mehr oder weniger geschlossene
deutsche.5iedlungen gibt oder wo viele Deutsche in besonderen Straßen in den
Städten leben, ist zu hoffen, daß sich die deutsche Sprache als Umgangssprache
erhalten wird. Daß bei der Volkszählung 1959 25 0/o der Rußlanddeutschen
Russisch als Muttersprache angegeben haben und daß die jugendlichen zunehmend
ihre Briefe in russischer Sprache schreiben, gibt zu Besorgnissen urn die Erhaltung
der deutschen Muttersprache bei der großen Masse der zerstreuten Rußland­
deutschen Anlaß.

In den noch etwa 450 Siedlungen mit einer deutschen Bevölkerung oder wo die
Deutschen die Mehrheit bilden, wird im Elternhaus noch deutsch gesprochen. Hier
sprechen auch die Kinder auf der Straße, auf dem Spielplatz und in den Kinder­
gärten deutsch, wenn auch ofl in der Mundart; das gilt besonders für die platt—
deutsch sprechenden Mennoniten. Klaus Mehnert berichtet, wie er in solch einem
Mennonitendorf in der Kulundasteppe war und auf die Frage an die Kinder:
„Sprecht ihr noch deutsch?“ die Antwort bekam: „Nein, wir sprechen mennoni­
tisch.“ In der Zeitung „Neues Leben“ beklagen sich die Lehrer immer wieder
darüber, daß die deutschen Kinder in einer oft schwer verständlichen Mundart
sprechen und deshalb in der Schule große Schwierigkeiten bestehen, sich mit ihnen
in der hochdeutschen Sprache zu verständigen.

Rückblick und Ausblick

Es gibt im europäischen Teil der Sowjetunion — mit Ausnahme der Gegend von
Ufa, Orenburg und Aktjubinsk — keine geschlossenendeutschen Siedlungen mehr.
Nur in Sibirien, im Raum Omsk — Barnaul — Slawgorod (Kulundasteppe) be-­
stehen noch die Ehemaligen deutschen Dörfer, wenn auch vielfach unterwandert
und stark verändert.
Es gibt in der Zerstreuung keine deutschen Schulen mehr. Die deutschen Kinder
gehen meist in fremdsprachige Schulen; erst in neuerer Zeit soll nach dem Gesetz
die deutsche Muttersprache dort eingeführt werden, wo genügend deutsche
Kinder sind.
Es gibt keine geschlossenen deutschen Kirchengemeinden mehr, keine Kirchen,
keine Pfarrer, keine religiösen Bücher. Nur Laienprediger verkünden vielfach in
Privathäusern oder im Freien Gottes Wort.
Aus dem fast ganz bäuerlichen Deutschtum ist zu einem großen Teil (etwa 40 0/0)
ein städtisches Deutschtum mit nicht landwirtschafllicher Beschäftigung geworden.
Aus den in geschlossenen deutschen Gemeinden lebenden Deutschen ist ein auf un­
ermeßliche Räume verteiltes Streudeutschtum geworden, das meist unter fremden
Völkern lebt. Die bange und sorgenvolle Frage ist daher berechtigt: Wird dieses
Deutschtum sich in ferner Zukunft als deutsche Volksgruppe erhalten und behaup­
ten können? 40
Rehabilitierung der Wolgadeutschen

Zwei Wochen nach Erscheinen der ersten Auflage dieses Bildbandes wurde die
deutsche Öffentlichkeit durch eine fast sensationelle Nachricht überrascht: Die
Sowjetregierung hat sich in einem Erlaß vom 29. August.l964 gewissermaßen
vor den Wolgadeutschen dafür entschuldigt, daß sie im Jahre 1941 durch ein
Dekret vom 28. August diese schuldlos aus ihren Heimatdörfern nach Sibirien
und Mittelasien evakuierte.

Fast auf den Tag nach 23 Jahren wurde am 29. August 1964 ein neuer. Erlaß
beschlossen, der allerdings erst am 5. Januar 1965 veröffentlicht worden ist. In
diesem Erlaß heißt es u. a.: „Das Leben hat gezeigt, daß diese pauschalen Be—
schuldigungen (nämlich, daß sich unter den Wolgadeutschen „Tausende und
Zehntausende von Diversanten und Spionen“ befänden) unbegründet und ein
Ausdruck der Willkür unter den Bedingungen des Personenkults Stalins waren.“
Die Nachfolger Stalins stellen fest, daß „in Wirklichkeit die überwältigende
Mehrheit der deutschen Bevölkerung in den Jahren des Großen Vaterländischen
Krieges zusammen mit dem ganzen Sowjetvolk durch ihre Arbeit zum Sieg der
Sowjetunion über das faschistische Deutschland beigetragen und sich in den
Nachkriegsjahren aktiv am kommunistischen Aufbau beteiligt hat . .. Die ‘So­
wjetbürger deutscher Nationalität arbeiten gewissenhaf’cin den Betrieben, Sow—
chosen, Kolchosen und Ämtern, beteiligen sich am gesellschafllichen und politischen
Leben. Viele von ihnen sind Abgeordnete des Obersten Sowjets und der örtlichen
Sowjets der RSFSR, der Ukrainischen, der Kasakischen, der Usbekischen, der
Kirgisischen und anderen Unionsrepubliken, befinden sich auf leitenden Posten
der Industrie und Landwirtschaft, im Staats- und Parteiapparat. Tausende Sow­
jetbürger deutscher Nationalität sind für Erfolge in der Arbeit mit Orden und
Medaillen der UdSSR und Ehrentiteln der Unionsrepublik ausgezeichnet wor—
den . . .“ Soweit die offizielle Feststellung der Sowjetregierung, die in der Publi­
zistik immer wieder bestätigt wird.

Nun aber die Folgerung aus diesen Leistungen. „In Anbetracht, daß die deutsche
Bevölkerung in ihren neuen Wohnorten festen Fuß gefaßt hat und die Rayone
ihrer früheren Wohnsitze (an der Wolga und im Schwarzmeergebiet) besiedelt
sind . . . werden die Ministerräte der Unionsrepubliken beauftragt, der im
Bereich ihrer'Republiken lebenden deutschen Bevölkerung auch künftig Hilfe
und Beistand beim wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau unter Berücksich—
tigung ihrer nationalen Besonderheiten und Interessen zu leisten.“ Dies wäre
allerdings nur möglich, wenn die Rußlanddeutschen sich wieder in geschlossenen
deutschen Dörfern ihrer einstmaligen oder in den neuen Siedlungsgebieten nieder­
41 lassen dürften. Gerade dies aber wird ihnen von der Sowjetregierung nicht gestattet.
Weites Land und viele Dörfer
Der Siedlungsraum der Rußlanddeutschen (ohne Baltikum) dehnt sich von Nor­
den (bei Leningrad) nach Süden im Kaukasus über rund 2500 Kilometer und von
Westen (Wolhynien) nach Osten über das Wolgagebiet nach Sibirien über rund
4000 Kilometer aus, das sind zirka 2,5 bis 3,0 Millionen Quadratkilometer. Da
die Rußlanddeutschen zu 95 Prozent Bauern waren, siedelten sie vorwiegend im
ebenen Steppenland mit Schwarzerde („Tschernosjem“), wo sie fast ausnahmslos
Ackerbau treiben konnten. Nur in Wolhynien war Wald- und im Südkaukasus
Gebirgsland. Die wolgadeutschen Siedlungen bildeten einen mehr oder weniger
geschlossenen Siedlungsraum von zirka 27 000 Quadratkilometern; die schwarz­
meerdeutschen Dörfer waren in die fast’ganz waldlose pontische Tiefebene von
Bessarabien bis in den Südkaukasus (1700 Kilometer) inselartig teils in geschlos­
senen, kleineren Gebieten oder auch vereinzelt eingestreut. Der beherrschende
Fluß im Wolgagebiet ist die für das russischeVolk zum Symbol gewordene Wolga
(„Matuschka Wolga“, Mutter Wolga). Sie teilte das deutsche Siedlungsgebiet in
zwei Teile: die niedere, terrassenförmige Wiesenseite östlich der Wolga, eine
ebene Landschaft mit schwarzen sandigen Böden; und die westlich gelegene,
wesentlich höhere und von Hunderten von Schluchten durchzogene Bergseite.
Die Heimat der Schwarzmeerdeutschen war eine durchwegs ebene, baumlose
Steppe, die neben den größeren Flüssen Djnestr, Dnjepr und Don von vielen
kleineren Flüßchen, die im Sommer ‚wenig Wasser führen oder auch ganz ein­
trocknen, von Norden nach Süden durchflossen wird. Die Wolhyniendeutschen
lebten vielfach in sumpfigen Waldgebieten. In ganz Rußland gab es 3300 ge­
schlossene deutsche Bauerndörfer streng konfessionell getrennt: evangelische,
katholische, mennonitische. Die Mutterkolonien (Primärsiedlungen) wurden
immer in geschlossenen Räumen auf von der Regierung zugeteiltem Land ange­
siedelt. Diese Dörfer lagen nah beieinander und gingen vielfach ineinander über.
So bildeten die wolgadeutschen Mutterkolonien entlang der Wolga eine Perlen—
kette; an der Molotschna-gab es ein geschlossenesdeutsches Gebiet mit siebzig Dör­
fern. Aus Gründen der Wasserversorgung für Mensch und Vieh siedelten sich die
ersten Einwanderer meist in Flußtälern an. Wie Inseln lagen diese deutschen
Siedlungsgruppen von zehn bis siebzig Dörfern in fremder Umgebung. Schon
die Bezeichnung der Siedlungsgruppen bezog sich vielfach auf die Flüsse: Wolga-,
Molotschnaer, Kutschurganer, Beresaner Kolonien; Don- und Kubangebiet. Selbst
in Sibirien lagen entlang der Sibirischen Eisenbahn Petropawlowsk—Omsk—
Iwanowka deutsche Dörfer, und die Kulundasteppe um Slawgorod wurde 1905
von Deutschen erschlossen. Wie Gasen hoben sich die deutschen Dörfer mit ihren
Häusern hervor. Überall überragten die Kirchtürme die einstöckigenBauernhäuser. 42

DARMSTADT BEI MELITOPOL


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€HZUHSGEsz

„I
UNENDLICI-IES
ACKERLAND

Beängstigend und bedrückend wirkten auf die ersten Ansiedler die unüber­
sehbaren weiten, baumlosen und mit Gräsern bedeckten Steppen, in denen
noch Wölfe hausten. Die ersten Ansiedler kamen aus Gegenden, wo Dorf an
Dorf lag. „Vater, was sollen wir mit dem vielen Land?“ jammerte eine
Bäuerin, die zu Hause vielleicht 4 ha bearbeitete, und jetzt sollten es 60 ha
sein! Schwer waren die Anfangsjahre ohne das nötige Ackergerät und Zug­
vieh. Dann aber packten sie zu. An Stelle des H012pfluges trat der Eisen­
pflug. Vier oder sechs gut gefütterte Pferde zogen den Pflug durch die
Steppe. Das Steppengras verschwand, und bald überzogen Weizenfelder die
Landschaft. Das_Ackerland lag oft bis zu 15 km vom Dorf. Das Wasser
mußte in Fässern für Mensch und Pferd vom Dorf auf den Acker gefahren
werden, oPt querfeldein über die ebene Landschafl. Ungehindert wehte der
Wind, der häufig in einen Sturm ausartete. Er konnte ausgenüt2t werden,
um Windmühlen Tag für Tag in Gang zu halten. Dann brach die Steppe jäh
ab ins Schwarze Meer. Hier konnte man beobachten, wie auf einer gelben
Lehmlößschicht die 40 bis 80 cm hohe fruchtbare Schwarzerdeschicht liegt.

5'1'EPPE AUF
DER KRIM
HALBSTADT
(TAURIEN)

NEUSATZ
(KRIM)

CHORTITZA

48
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JAMBURG
(UKRAINE)

In den gebirgigen Gegenden der südlichen Krim, ebenso im Südkaukasus, mußten


sich die Dorfanlagen den Landschaftsformen anpassen und konnten daher nicht
immer die sonst so charakteristischen geradlinigen Straßen bilden. In den größeren
Dörfern fielen neben den üblichen Bauernhäusern ofi: statt der immer einstöckigen
auch zweistöd<ige Gebäude und hohe Schornsteine auf. Vereinzelte Gutshöfe mit
ihrem üppigen Baumwuchs bildeten eine Oase in der sonst baumlosen Steppe.

GUTSHOF PRINZ
IM DONGEBIET

49
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(WOLGAGEBIET)

SAREPTA
SADKI
.‘LI-IYNIEN)

Im waldreichen Wolhynien baute man die Häuser meist aus Holz; hier fehlten die Hof­
mauern, die oft durch Holzzäune erset2t wurden. Die Breite der Straße erreichte im
Schwarzmeergebiet auch 200 Meter, so daß man in der Mitte einen Obst- und Gemüse­
garten anlegen konnte. Die Dörfer im Wolgagebiet waren meist viel größer — es gab
Dörfer mit zehn- bis zwölftausend Einwohnern —, und deshalb waren die Straßen nicht
so gerade und die Hofmauern fehlten oft; vielfach gab es dafür Holzzäune, die in
manchen Gemeinden schön verziert waren; auch die Häuser wurden meist aus Holz gebaut.

.5YRJAMKA
f-.SARABIEN)
KATHARINE
STADT
(WOLGA)
MARXSTAD'.

MITTE: NEC
ALEXAN­
DROWKA BE
PETERSBURC

UNTEN: NE.
SARATOWKA
BEI
PETERSBURC—

Es gab in Rußland keine deutschen Städte.


Aber — und das gilt besonders für das
Wolgagebiet — in vielen Städten war das
Rußlanddeutschtum stark vertreten. Schon
in der Ansiedlungszeit kamen deutsche
Handwerker und Kaufleute in die Städte;
später wanderten infolge Landmangel viele
Bauernsöhne in die Städte ab. So nach Sa­
ratow, Katharinenstadt und Pokrowsk, dem
späteren Engels. Pokrowsk war später die
Hauptstadt der Wolgadeutschen Republik
und hatte 1930 bei 35 000 Einwohnern
rund 4000 Deutsche, die den Charakter
mancher Stadtviertel prägten. Die deut­
schen Dörfer um Petersburg, wie z. B. Neu­
alexandrowka und Neusaratowka, entstan­
den in den Jahren 1765 und 1809. Diese
Dörfer machten mit ihren Holzhäusern und
Holzzäunen einen bescheidenen, aber sau­
beren Eindruck. Bis zum ersten Weltkrieg
hatte sich das Deutschtum hier gut erhal­
ten; nachher verarmten die Gemeinden, und
durch die Berührung mit der städtischen
Bevölkerung nahm Russisch als Umgangs­
sprache immer mehr zu. Die Tochterkolonien
imDongebiet und Nordkaukasus waren viel­
fach sehr wohlhabend. Große Bauernhöfe
und reicher Baumwuchs in diesen Dörfern
legen Zeugnis davon ab. Während der Bol­
schewistenzeit (1920—1942) veränderte sich
das äußere Bild der deutschen Dörfer oPt
zu ihrem Nachteil. Die Arbeit im Kolchos
ließ den Bauern keine Zeit mehr für die
Instandhaltung ihrer Häuser und Höfe. 52
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Die in den Jahren 1892 bis 1912 in Sibirien MANNHEIM
angelegten deutschen Dörfer entstanden un­ BEI ODESSA
ter völlig anderen Voraussetzungen. Die
Siedlungsgebiete waren entweder Wald- oder
ebene Steppengebiete mit Salzseen und Lehm­
böden. Die Verkehrsverhältnisse waren küm­
merlidn; es gab keine Wege und keine Eisen­
bahn. Die Absatzmöglichkeiten für landwirt­
schaftlicheProdukte waren äußerst sd1wierig.
Die primitiven Anfänge erforderten die ganze
Mensduenkraf’c. Das Klima war rauh und
kalt. Die Winterstürme richteten große Ver­
heerungen an. So bradute man es hier selten
zu größeren, aus Steinen gebauten Häusern.
Es herrschte durchweg das Holz- oder nie­
dere Lehm'naus vor. Nur die wohlhabenden
Bauern und Gutsbesitzer konnten sich auch
hier stattliche und aus Steinen gebaute Häu—
ser lei3ten. Selten trafen wir hier Kirchen an,
wie in den deutschen Dörfern im europäischen
Teil Rußlands. Gebäude aus Lehm dienten als
Schule und Bethaus zugleich. Davor stand
der Glocken5tuhl. Der Untersduied gegen­
über den Dörfern im Schwarzmeergebiet fällt
auf, wenn wir einen Blick auf das katholische
Dorf Mannheim im Gebiet Odessa werfen.
Haus und Hof
In den ersten Jahren bewohnten die Kolonisten meistenteils primitive Erdhütten

(„Semljanki“), dann folgten die „Krons-‘ oder „Kontorhäuschen“ — die erste
Bezeidmung deutet auf das der Krone gehörende Land hin, die zweite auf die
russische Behörde, das Ansiedlungskontor. Die Häuser waren im Wolgagebiet
Blockbauten einfachster Art: „Glattgehauene, runde Fichten- oder Tannen­
stämme im Quadrat oder Rechtedr, 8 bis 10 Meter lang, 6,5 Meter breit, wurden
übereinandergeschidmtet, die Fugen mit Lehm abgedichtet — und der ,Strub‘ war
fertig.“ Im Laufe des 19. Jahrhunderts baute man mit zunehmendem Wohlstand
sd10n bessere Häuser. Zwar waren es meist nod1 Holzhäuser, aber die waren
größer, und das äußere Aussehen verriet deutlid1 einen beachtliduen Wohlstand.
Vor dem ersten Weltkrieg gab es neben den Holzhäusern im Wolgagebiet auch
schon Steinhäuser. So hatte Kamenkä mit 5300 Einwohnern 58 Stein-, 253 Holz­
und 71 Lehmhäuser. Im Gegensatz zum Schwarzmeergebiet war das Wohnstall­
haus im Wolgagebiet seltener; meist waren das Wohnhaus und die Stallungen ge­
trennt. Auch in Wolhynien und bei Leningrad herrschte in den deutschen Dörfern
das Holzhaus vor. Dagegen baute man im Sd1warzmeergébiet die Kolonisten­
häuser fast durchweg aus harten Sand- oder weißen Kalksteinen oder aus ge­
brannten roten Ziegeln. In den meisten Fällen waren die Kolonistenhäuser Ein­
heitshäuser, d.h. Wohnhaus, Stallungen und der Schopf (Sduuppen) befanden
sich unter einem Dach (Wohnstallhaus). Es gab aud1 Fälle — und dies gilt beson­
ders für die Mennoniten — wo das Wohnhaus und die Stallungen getrennt waren,
dann standen sie im rechten Winkel zueinander. Das Kolonistenhaus hatte fast
überall die gleiche Einteilung. Beim Eingang traf man auf den Hausflur (Vorder­
küd1e), von hier gelangte man in die Küd1e. Zu beiden Seiten kamen dann die
Wohnzimmer, und zwar, der Straße zugekehrt, die Vorderstube („Staatsstube“)
und Hinterkammer (Sdulafstube); links befand sid1 entsprechend die Vorderstube
und Hinterkammer. Das Innere des Hauses war gedielt und mit verziertem Papier
tapeziert oder (seltener) geweißt. Während die Häuser im Wolga- und Sd1warz­
meergebiet fast alle einstöckig waren, baute man im gebirgigen Südkaukasus zwei­
bis dreistöds'ige Häuser. Die Höfe waren laut Vorschrift der Verwaltungsbehörde
alle gleichmäßig angelegt: 30 bis 40 Meter breit und 80 bis 120 Meter lang, im
Kaukasus nur 21 mal 42 Meter. Der ganze Hof bestand bei den Sduwarzmeerdeut—
sd1enaus dem Vorderhof mit Wohngebäuden, Blumengärtduen, Sommerküdue und
Brunnen; dann folgte der Hinterhof mit_Dreschplatz, Stroh- und Misthaufen und
den Schweineställen. Im Sommer spielte sid1 das Leben in der Sommerküche ab.
Hier wurde gekocht, gegessen, der Käse ofl noch im Sack hergestellt, und im Back­
ofen, der mit Stroh oder Rebholz geheizt wurde, das gute Bauernbrot gebad<en. 56

SOMMERKÜCHI
Im Schwarzmeergebiet gab es einen billigen
Baustoff: den Lehm. Jedes Dorf hatte seine
Lehmgrube. Man.räumte die 60 bis 80 cm
hohe Schwarzerdeschicht („Tschernosjem“)
ab und Stieß dann auf die viele Meter tiefe
Lehmschidut. Hier konnte sid-1jeder Einwoh­
ner kostenlos Lehm holen, so viel er benötigte.
Diesen Lehm vermengte man mit feinge­
schnittenem Stroh oder mit Pferdemist, goß
Wasser darauf und mischte so lange, bis eine
zähe Masse ent5tand. Diese wurde dann in
Holzformen gepreßt, so daß ein quadrat­
förmiger Baustein entstand. In den Sommer­
monaten trocknete diese Masse sehr schnell
und konnte bald zum Bauen verwendet wer­
den. Diese Lehmsteine („Kohlsteine“) waren
hauptsächlich das Baumaterial der ärmeren
Bevölkerungsschicht. Die Ukrainer bauten
fast ausschließlich ihre Lehmhäuschen so.
Aber auch am Rande der deutschen Siedlun­
gen sah man häufig solche Lehmhäusduen.
Nur die Hühnerhäuschen und Wagenschup­
pen wurden oPt auch von wohlhabenden
Bauern aus Lehm gebaut. Aus diesem Lehm­
baustein entwid<elten sich die fabrikmäßig LEHMSTEINE
hergestellten, gebrannten r0ten Ziegelsteine. („KOHLSTEINE“)
‘nur..ch.*?
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Im Gegensatz zum Wolga- und Schwarzmeer­ KOLONISTENHAUS


gebiet mit seinen weiten, baumlosen und IN WOLHYNIEN
ebenen Steppen war Wolhynien ein ausge­
sprochenes Waldland. Um ein Dorf anlegen
und Häuser bauen zu können, mußte man
vor allem roden und die sumpfigen Böden
entwässern; dies war deshalb leichter, weil
das nötige Gefälle in dem hügeligen Land
vorhanden war. Wegen des feuchten Ge­
ländes waren die Koloni3ten bestrebt, ihre
Häuser möglichst an einer erhöhten Stelle
anzulegen, entweder an der Dorfstraße oder
in der Mitte ihrer Höfe. Daher war der
Dorfplan oPt unregelmäßig, und es gab viele
Streusiedlungen. Anfangs wohnten die An­
siedler in Erd- oder Strohhütten. Dann aber
entstanden die aus Holz gebauten Bohlen­
häuser, die mit Strohdächern bedeckt waren.
Wohnung, Stall und Wagenschuppen waren
auch hier unter einem Dach. Die Höfe wurden
durch Holzzäune voneinander und von der
Straße getrennt. Vielfach lagen die Häuser
auch einzeln zerstreut. Bei Einführung des
Kolchossystems bildete man geschlosseneDör­
fer, indem man diese Holzhäuser, verhältnis­
59 mäßig leicht, v„erset2te(„versetzte Häuser“).
BLUMENORT (TAURIEN)

In den ersten Jahren bauten auch die


Mennoniten ihre Häuser aus Holz.
Dieses Bauholz mußten sie OPCaus
großer Entfernung herbeifahren. Vie­
le dieser Häuser sind bis in die Neu­
zeit stehengeblieben, so auch im Dorf
Blumenort. Zur Verbesserung der Bau­
weise trug viel der altbekannte und
verdiente Organisator und Sad1kenner
Comics bei. Er ordnete an, daß man
die „Feuerstellen“ (Wirtschaften) streng
stilgeredut baute. Der hölzerne Giebel
der Wohnhäuser und die Straßenzäune
mußten mit einer wohlfeilen roten und
gelben Farbe angestrichen sein, um der
Witterung Widerstand zu leisten. We­
he dem deutschen Ansiedler, der nicht
rechtzeitig seine Straßenzäune gestri­
chen hatte! Ofl: sind die Mennoniten­
häuser nach westpreußischem Muster
erbaut, wo ja die Mennoniten her­
stammen. In den deutschen Dörfern,
die in der Nähe der Flüsse lagen, sah
man ofl: Stord1ennester an der Giebel­
seite des Hauses. Neben den Schwal­
ben Waren die Störd1e sehr gern ge­
sehene Gäste, denn man glaubte, sie
brädnten Glüdi. Gegenüber den schmuk­
ken Steinhäusern im europäischen Teil
Rußlands nahmen sich die Häuser in
den deutschen Siedlungen Sibiriens be­
scheiden aus. Man sah da fast nur
Holz- und Lehmhäuser. BisduofMeyer
schreibt: „Das ganze Dorf besteht aus
Lehmhütten mit flachen Dächern.
Wohnhäuser, Stallungen und Wirt­
sd1aflsgebäude bilden jedesmal ein Ge­
viert. Jeder Hof ist überdacht. Inner­
halb dieses geded<ten Hofes befindet
sich der Brunnen mit den Tränken,
sonst wäre es nicht möglich, während
der Sdmeestürme das Vieh zu ver­
sorgen; man könnte nicht einmal in
die Ställe gelangen.“ Nur größere Bau­
ern und vor allem Gutsbesitzer hatten
auch in Sibirien steinerne Häuser.
Während aud1 im Wolgagebiet in den
Dörfern die Holzhäuser durchweg ein­
stöd<ig waren, sah man in den größe­
ren deutsd1en Siedlungen, die oft schon
einen städtischen Charakter hatten.
vielfad1 zweistöd<ige Holzhäuser. Im
breiten Eingangskorridor standen die
„Pelzkasten“ und Schränke, dann folg­
ten die fünf Wohnzimmer. Und im
oberen Stod< war das Kinderzimmer.

FRIEDENSFELD (BESSARABIEN)
HOCHHEIM
BEI OMSK

SIBIRIEN

KATHARINEN­
STADT
(WOLGA)

I====13:2:
SELZ
BEI ODESSA

Ein Blick auf diese vier Häuser im Schwarzmeergebiet zeigt uns, daß sie ausnahmslos
aus Steinen gebaut sind. Es fällt weiter auf, daß in der sonst baumlosen Steppe um die
Häuser immer Bäume stehen, und zwar fast nur Akazien. Das gab dem Hof ein schöneres
und freundliclueres Aussehen, und außerdem gewährten die Bäume Schutz gegen die große
Hitze in den Sommermonaten. Die zwei Kamine zeigen an, daß im Haus zwei Familien
wohnten, Vater und Sohn. Die Haus und Hof umgebenden Mauern waren stets schön
geweißt. Auffällig war immer, daß die katholischen Dörfer ihre Mauern und vor allem
Eingangstore buntfarbig gestrichen hatten; dabei herrschte die blaue Farbe vor. Meist
waren die breiten Einfahrtstore offen, höchstens waren die Hoftorsäulen durch ein kleines
mit Ziegeln bedecktes Dächlein miteinander verbunden. Dicht am Zaun neben dem Hof­
tor befand sich außen oder zwischen Mauer und Haus eine Holz- oder Lehmbank. Hier
saßen die Bauern nach der Arbeit, besonders an den Sonntagen, um ihr Plauderstündchen
zu halten und mit ihren Nadubarn in einen Gedankenaustausch über Fragen des täglichen
Lebens zu treten. Neben dem Tor oder gegenüber der Sommerküche befand sich der
Keller. In ihm bewahrte man die Kartoffeln auf, die Wein- und Kwasfässer (ein Er­
frischungsgetränk aus Brot), im Sommer die Wassermelonen (Arbusen); das Brot lag auf
einem aufgehängten Brett. Nicht selten sah man an der vorderen, oPc auch noch an
der hinteren Giebelseite die niederdeutsduen Pferdeköpfe oder sonstige Verzierungen.

HAUSER IM
SCHWARZMEER­
GEBIET

62

KRASNA
(BESSARABIEN;
HELENENDORF
(SUDKAUKASUS)

Auch im Südkaukasus entwickelte sich das Kolonistenhaus vom einfachen zweiräumigen


Haus — aus Stein oder aus Fachwerk und Lehmziegeln mit flad1em Dach und gestampf—
tem Lehmboden — über das dreiräumige zu dem mehrräumigen und OP:zweistöckigen
Haus, das schon rein äußerlich vom Wohlstand seines Besitzers beredtes Zeugnis ablegte.
Die Häuser, die um 1850 erbaut wurden, enthielten vielfach vier bis sechs Wohn­
räume. An einem kleinen Korridor im ersten Stods lagen drei oder vier Zimmer, dar­
unter das Gastzimmer und die Küche. In den zweistödsigen Häusern lagen die Treppen
häufig außerhalb des Hausinneren und führten von den Veranden in das erste Stockwerk.
Da im Südkaukasus der Weinbau in der Landwirtschaft an erster Stelle stand, trug man
diesem Umstand dadurch Rechnung, daß im Wohnhaus ein Gärraum war, von dem aus
ein Gang in den Keller führte. Die Däd1er waren meist mit rötlid1en, aus Ton gebrannten
Ziegeln gededst. Als Schutz gegen ständige Gefahr von Überfällen waren Haus und Hof
von einer steinernen Mauer umgeben, die sich zur Straße hin meist mit einem Hoftor
öffnete, das mit einem massiven Bogen überspannt war; das Hoftor öffnete sich nad1
innen. Im Wolgagebiet waren die Hoftore außenschlägig. Die Höfe waren — wenn über­
haupt — im Wolgagebiet mit einer Mauer, einem Bretterzaun oder mit einem Weiden­
geflecht eingezäunt. Das Hoftor wies oft kunstvolles Schnitzwerk nach russischemVorbild
auf. Mauer, Tor und Türen machten nicht selten einen mitteldeutsch-fränkischen Eindruds.

SARATOW
(WOLGAGEBIET)

64
S"SHAUS IM
DONGEBIET

Neben den geschlossenen deutschen Dörfern gab es in Rußland und insbesondere im


Schwarzmeergebiet eine große Zahl von Einzelgütern („Chutor“). Da der Ankauf von
Land gesetzlich genehmigt war, machten die fortschrittlichen, fleißigen und sparsamen
deutschen Bauern davon reidulich Gebrauch. Das Land konnten sie von russischen Guts­
besitzern oder Generalen kaufen. Man verkaufte gern Land an Deutsche, da sie
zuverlässige Käufer und pünktliche Zahler waren. Diese Gutsbesitzer hatten viel mehr
Land als ein Durchschnittsbauer im Dorf. Einige hundert Deßjatinen (l Deßjat. = 1,09ha)
hatte solch ein deutscher Gutsbesitzer immer. Viele aber brachten es durch Fleiß und
rationelle Arbeit auf 500, 1000, ja 10 000 Deßjatinen. Der größte Gutsbesitzer mit seinem
weltberühmten Tiergarten in Ascania Nova hatte 250 000 Deßjatinen Land und 750 000
Schafe. Auf den Gütern bot sich Gelegenheit zu freier Entfaltung. Man bearbeitete das
Land nad1 den neuesten Methoden und mit den modernsten Ackergeräten und erzielte
immer hohe Ernteerträge. Zu Ehren dieser Gutsbesitzer muß gesagt werden, daß sie
immer den ganzen Betrieb selbst leiteten und auch mitarbeiteten. Neben den eigenen
Kindern mußten sie natürlich für so einen großen Betrieb auch fremde Arbeitskräfte
einsetzen. Bei der Zahl der Arbeiter, der Größe des Bestandes an Vieh und landwirt­
sd1afllichen Geräten und Maschinen mußte man auch viele Stallungen und Geräte­
schuppen bauen, so daß solch ein Gutshof oft den Eindruck einer kleinen Siedlung machte.

"_QWLJEWO
331 ODESSA

65
Bei der Besiedlung des Ortes war immer die Frage der Wasserversorgung ausschlag­
gebend. Es gab in den ersten Jahren der Ansiedlung Fälle, wo schon-fertige Dörfer wieder
abgebrochen werden mußten. Am günstigsten war natürlich die Wasserversorgung in der
Nähe der Flüsse. Nicht überall aber gab es Flüsse; auch führten diese im Sommer nur
wenig Wasser oder trockneten ganz aus. Das Grundwasser lag 0Pt 30 bis 60 Meter tief.
In diesen Fällen konnte man sich nur mit Drehbrunnen helfen. Nachdem mit viel Mühe
und Kraflaufwand das Grundwasser gefunden worden war, richtete man ein Holzgestell
auf und legte über eine eingebaute Querwalze eine Kette oder einen starken Strick. An
beiden Enden brachte man je einen möglichst großen Eimer an. So wurde dann die Walze
abwechselnd in einer, dann der anderen Richtung gedreht, und wenn der volle Eimer
sich nach oben bewegte, ging gleichzeitig der leere nach unten. Manchmal war das Grund­
wasser so tief (bis zu 150 Meter), daß man in der Gemeinde nur einen Brunnen hatte.

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Wo das Wasser aber nur 6 bis


10 Meter tief lag, baute man
den Schwengel—oder Ziehbrun­ ' ‘ ****
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nen. Hier wurde das Wasser mit * *g* 5332;
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der Hand hochgezogen. Neben i*
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Trog, an dem das Vieh getränkt fäf‘äffffil'fliiiäfftf. .. . „_ .,
wurde. Deshalb stand denn auch iw‘pa
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der Brunnen meist im Vorder­
hof, möglichst vor den Ställen.
Nicht immer war das Wasser
auch als Trinkwasser geeignet.

Gut gebautes, geräumiges Haus


eineswohlhabenden Bauern. Ty­
pisch ist das hinter den Akazien­
bäumen sichtbare „Vorderhäus­
chen“. Der Eingang sollte vom
Hof in das Wohnhaus mit der
schönen „Staatsstube“ führen;
das Vorderhäuschen bot Schutz
gegen Fliegen und Staub im
Sommer und Kälte im Winter.

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Der Mensch: fleißig und bescheiden
Die Rußlanddeutschen kamen nicht als Eindringlinge oder gar als Eroberer ins
Land. Sie wurden von den russischen Zaren gerufen, geworben. Sie sollten einen
Schutzwall gegen asiatische Eindringlinge bilden und dem russischen Bauern „als
Beispiel“ in der Erschließung und Kultivierung der neueroberten, jungfräulichen
Gebiete dienen. So entstanden nach dem. Willen der russischen Regierung an der
Wolga, bei Petersburg (Leningrad) und im Schwarzmeergebiet bis in den südlichen
Kaukasus blühende deutsche Dörfer. In den ersten hundert Jahren führten diese
deutschen Menschen nach dem Wunsche und mit Genehmigung der russischen
Regierung ihr Eigenleben auf völkischem, religiösem und schulischem Gebiet.
Dann aber begann mit der Zunahme des Panslawismus und der Hetze vor und
während des ersten Weltkrieges die Bedrängnis und der Kampf um die Erhaltung
des Deutschtums. Wer im geschlossenen, völkischen Raum lebt, wird nie begreifen,
was es heißt, um seine Heimat kämpfen zu müssen! Ihm fällt ja die Heimat in
den Sduoß, er ist in sie eingebettet. Wer aber in fremder Umgebung seine Heimat,
sein Volkstum erhalten will, der weiß, daß das nur möglich ist, wenn er bereit
ist, Opfer zu bringen, wenn er treu zu seinem Volkstum hält, wenn er sich mit
ihm verbunden fühlt, wenn er seine Sitten und Gebräuche pflegt. Sonst geht dies
Volk eben im Völkermeer unter. So haben sich die Rußlanddeutschen, gestützt
auf die staatlichen Gesetze und auf die eigenen Lebensgesetze, bis zum Ausbruch
des ersten Weltkrieges, aber auch noch unter völlig veränderten Verhältnissen bis
zum zweiten Weltkrieg deutsch erhalten. Es waren geschlossene deutsche Dörfer,
in denen nur selten ein Nichtdeutscher Fuß fassen konnte. Die deutschen Dörfer
waren konfessionell getrennt angelegt worden: evangelische,katholische, mennoni­
tische. Die Mennoniten kamen aus Westpreußen, die Katholiken aus der Pfalz,
dem Elsaß und aus Nordbaden, die Evangelischen aus Württemberg, aber auch
aus anderen Teilen Deutschlands. Diese Bauern galten als religiös, fleißig, streb­
sam, sparsam, nüchtern, bescheiden und gastfreundlich. Die Umgangssprache war
immer die deutsche, auch in der Zeit, als in den Schulen russisch unterrichtet
wurde. Mischehen mit Nichtdeutschen waren eine große Ausnahme; selbst zwi­
schenDeutschen verschiedener Konfession kamen sie selten vor. Das bedeutete aber
nicht, daß unter den Konfessionen etwa Spannungen bestanden. Ganz im Gegen­
teil: der Kampf um das völkische Dasein, besonders während der Unterdrückungs—
jahre vor und im ersten Weltkrieg, hatte zur Folge, daß die Rußlanddeutschen
stärker zusammenhielten. Mit dem russischen Volk aber lebten sie immer in gutem
Einvernehmen, ja oft in Freundschaft. Daß sie in hohem Ansehen standen, kam in
zwei geläufigen Redewendungen zum Ausdruck: „Akuraten kak njemetz“, pünkt­
lich wie ein Deutscher, und „Njemetzkoje slovo“, deutsches Wort (Ehrenwort).
Selten trug ein deutscher Bauer einen Voll­
bart. In den meisten Fällen waren die
Bauern glattrasiert, seltener trug man einen
kleinen Spitzbart, dagegen oPceinen Schnurr­
hart, kurz gestut2t, mancher aber auch lang.
Das Raud1en war nicht allgemein üblid1,
ia bei frommen Stundenbrüdern galt es als
Sünde. Man rauchte fast nur die selbstge­
drehte Zigarette. Die fertige russisd1e „Pa­
pirosse“ galt als Luxus und Verschwen­
dung. Im Wolgagebiet raud1te man viel
Pfeife. Die Ehrfufeht vor den Eltern war
so groß, daß die Söhne in den meisten
Fällen nicht in deren Gegenwart rauchten.
Im Laufe der Jahrzehnte entwickelten Sid“!
selbstbewußte, gut_\ aussehende, tüd1tige
Bauern, die auf/Gemeindeversammlungen
ihren Standpunkt vertreten konnten. Der
Kampf um ihr Volkstum hatte sie zu einer
Gemeinschaf’czusammengefügt. Das Grup­
penbild zeigt eine Abordnung, die vor
einem hohen Beamten steht, ihn anhört,
aber auch ihre Sorgen eindringlich vorträgt. 79
Die klimatisdaen Verhältnisse, die
Arbeitsweise, vielleicht auch die
Einkaufsmöglidukeiten formten im
Laufe der Jahre eine besondere Art
der Bekleidung; sie war vor allem
auf das Praktische eingestellt. Cha­
rakteristisdr war das bis oben ge­
sdulossene Arbeitshemd, das Wäh­
rend der Arbeit offen, an Sonn­
tagen aber geschlossen war. Kra­
watten gab es kaum. Als typisch
kann man die „Schnepper“- oder
„Sd1ildmütze“ ansehen. Bei den
sommerlichen Stürmen auf den Fel­
dern bot ein Hut eine zu große
Angriffsfläche; der Sd1ild gab au­
ßerdem Schutz gegen die pralle
Sonne. Im Winter peitschten die
kalten Winde unbarmherzig ins
Gesicht und drangen durd1 die Klei­
dung. Als Kopfschutz trug man
deshalb eine Kapuze („Baschlyk“),
die Kopf und Ohren einhüllte. Vor—
nehmer sah die Pelzmütze aus. In
der Übergangszeit trug man einen
Filzmantel, im Winter den Pelz.
Die Bekleidung der Frauen war meist
einfad1,/‚aber praktisd1. Die älteren
Frauen trugen fast immer eine Kopf­
bedeckung. Die Mädd1en hatten lange
Zöpfe, die Frauen eine gesd1eitelte
Frisur mit einem kunstvoll geformten
und mit Haarnadeln festgehaltenen
Knoten. An den Sonntagen trugen die
Frauen ein weißes Kopftudf, nie einen
Hut. Dieses weiße Kopftud1 wurde
vorne kunstgered1t gebunden und hat­
te einen selbstgearbeiteten Spitzen­
rand{ wie er OP: auch die Bluse
sd1mückte. Einen besonderen Braüd1
konnte man in den Sommermonaten
beobad1ten. Wenn die Frauen Sidi
zum Kird1gang rüsteten, sah man sie
vorher ins Blumengärtd1en vor dem
Hause gehen. Dort holten sie sich ein
wohlried1endes „Sd1meckkraut“ (Pfef­
ferminzart) und legten es ins Gesang­
bud1, um sich bei Müdigkeit daran
erfrisd1en zu können. Es war undenk­
bar, daß vor allem die Frauen, aber
audi die Mädd1en ohne Kopfbededsung
75 auf die Straße oder zu Besud1 gingen.
War im Sommer die Hitze gar zu groß, dann legte man um den
Kopf ein weißes oder sd1warzes Flortuch, das vorne verknotet
war. Vielfach stridsten oder häkelten sich die Mädchen und jun­
gen Frauen einen Schal, den man einmal um den Hals schlang und
dessen Enden vorne herunterhingen. Die typische Kopfbedeckung
im Herbst und im Winter war das schwarze Kopftuch. An ihm
hängen die Rußlanddeutschen, wie überhaupt die Frauen auch aus
dem Südosten, so fest, daß sie es auch hier im Westen nicht ab­
legen wollen. Uberall in den Zügen trifft man diese Frauen mit
schwarzen Kopftüchern. Diese Tücher sind praktisch, preiswert
und vor allem warm. Noch eine Eigenart wollen wir erwähnen.
Nie trugen die Kolonistenfrauen Mäntel. Kam der strenge Win—
ter, dann legten sie ein langes warmes Wolltuch um die Schultern
und hielten es innen mit der Hand fest. So gingen die Frauen auf
der Straße, so saßen sie in der Kirche. Wenn ein Mädchen gehei­
ratet hatte, brauchte es nicht mehr aufs Feld zu gehen; in Haus
und Hof gab es genug Arbeit für die junge Frau. Nicht immer
wählte sich der Bursche sein Mädchen im Heimatdorf. Wenn die
Hochzeit herannahte, fuhr man mit den schönsten Pferden zur
Brautschau. Hatte der Bräutigam die richtige Braut gefunden, so
mußte er an die dortige Kameradschaft ein „Lösegeld“ zahlen.
Im Zusammenhang mit der besonderen Landordnung — dem „Mirsystem“ — im Wolga—
gebiet ergaben sich besondere Sozialverhältnisse. Im Gegensatz zum Schwarzmeergebiet,
wo das Erbhofgesetz herrschte, nach welchem nur ein Sohn das elterliche Land ungeteilt
erbte, teilte man das Land im Wolgagebiet mit Zunahme der Bevölkerung periodisch
neu auf die männlid1en Seelen auf. Die Folge war, daß der Einzelanteil immer kleiner
wurde und von 15 ha bei der Ansiedlung auf 1,5 ha im Jahr 1905 sank. Als das Mir­
system abgeschafft wurde und das im Jahr dieser Landreform einer Familie gehörende
Land als Eigentum verblieb, entstand in den kommenden Jahren ein landloses Proletariat.
Daher verdiente ein Großteil der Wolgadeutschen seinen Lebensunterhalt in der sich
immer mehr entwickelnden Industrie, besonders der Textilindustrie („Sarpinka“) in
Balzer und anderen Ortschaflen. Der größere Teil der Wolgadeutschen war in der
Landwirtschaf’c tätig. Wie im Schwarzmeergebiet, baute man auch hier viel Weizen an.
Am längsten hat sich eine Art Tracht in den deutschen Siedlungen
um Petersburg (Leningrad) und den Streusiedlungen um Belowesch
bei Tsdxenigow erhalten. Das größte und älteste Dorf war das im
Jahr 1765 am rechten Ufer der Newa gegründete Neu-Saratowka,
das eine Einwohnerzahl von 1730 hatte. Die Einwanderer stamm­
ten aus Brandenburg und Württemberg. Gerade aus diesem Dorf
entstanden eine Reihe von Tochterkolonien. Dagegen war bei Män—
nern und Frauen im Wolgagebiet von einer Tracht 'nichts mehr zu
merken, es sei denn, daß man das geschlossene Hemd der Männer
noch als eine Art Tracht ansehen will. — Die Frau in Messer an der
Wolga mit ihrem punktierten Kleid hält sich in der „guten Stube“
auf, wobei der Kleiderschrank mit seiner verzierten Tür auffällt.

79
Da es in den deutschen Siedlungen im Schwarzmeergebiet keine Gastwirtschaflen gab,
feierte man die Hochzeiten immer im Elternhaus der Braut, seltener im Hause des Bräu­
tigams. Nachdem alle Gäste durd1 die Brautführer, die mit einem gesd1müdsten Stock
die Einladung überbracht hatten, benad1richtigt worden waren, begannen die Vorberei­
tungen zur Hochzeit. Für die vielen Gäste — es waren ihrer of]:über hundert — mußte
man Tische, Stühle und Eßgeschirr herbeiholen. Das besorgten die Brautbuben und
-mädchen. Die gut gefütterten und sauber geputzten Pferde schmüdste man mit Bändern
und Blumensträußchen. Wenn im Dorf kein Pfarrer war, fuhren das Brautpaar, die
Brautführer, die Brautmädchen und die näheren Verwandten in das Kirchspieldorf.

80
Manchmal aber holte man
auch den Pfarrer zur
Trauung in die Gemeinde
des Brautpaares. An der
kirchlichen Trauung nah­
men nicht nur die Ange­
hörigen teil, sondern ein
Großteil der Gemeinde.
Wenn sich dann der Hoch­
»zeitszug durch die Straße
bewegte, standen die
Menschen — soweit sie
nicht vor der Kirche war­
teten — zu beiden Seiten
der Straße. Von Zeit zu
Zeit hörte man einen Eh—
renschuß, und eine Rauch­
wolke stieg hinter der
Mauer hervor. Beim Ein­
zug in die Kirche ging
der Bräutigam rechts, die
Braut links; nach der
Trauung umgekehrt.Dann
begab man sich in das
Haus, wo die Feier statt­
fand. Am Eingang be­
grüßte man die Gäste;
Brautmädchen und -bur­
schen bewirteten sie mit
Gebäck und mit einem
Schnaps. In den über—
füllten Räumen aß man
gut und kräftig. Die
Weinaufträger erkannte
man an den quer über die
Schulter gelegten weißen
Bändern. Die Kinder
sagten Sprüche auf, Er—
wachsene sangen Volks­
und religiöse Lieder. Un­
ter den Klängen der Zieh­
harmonika ging es dann
zum Tanz über. OH: dau—
erte eine Hochzeit zwei
Tage. — Groß war bei
den deutschen Kolonisten
die Kinderfreudigkeit aus
religiösen Gründen, dann
aber auch aus wirtschaft—
lichen. Die Geburtenziffer
lag bei 41 auf 1000 Ein—
wohner; in derselben Zeit
lag sie in Deutschland bei
19. Es gab viele Familien
81 mit: 10 bis 15 Kindern.
Die wirtschaftliche Entwicklung
OP: einförmig und regelmäßig spielte sich das Leben der bäuerlichen Bevölkerung
ab. Es gab bis 1918 in den deutschen Dörfern kein Kino, keine Gastwirtsduafl,
kein elektrisches Licht. Da einer auf den anderen angewiesen war, waren das Zu­
sammengehörigkeitsgefühl und die nachbarlid1e Hilfe stark entwickelt. Mit Aus­
nahme der Wintermonate gab es sehr viel Arbeit. Sobald nach der Schneeschmelze
die. Erde aufgetaut war, begann die Feldarbeit.- Die im Herbst umgepflügten
Felder mit ihren großen Sduollen als Sd1neefänger bereitete man mit Eggen und
Schleifen für die Frühlingssaat vor. Dann säte man Hafer, Gerste und Roggen.
War der Winterweizen erfroren, mußte man auf demselben Feld Sommerweizen
auss'alen.Es folgte die Aussaat von Mais, das Bestellen der Arbusénfelder. Man
deckte die gegen Frostschäden zugededcten Weinstöcke auf und beschnitt sie. Das
aufgelesene Rebholz ergab ein ausgezeichnetes Brennmaterial. Den aufgestapelten
Stallmist breitete man auf dem Dreschplatz aus, klopfte ihn mit Dreschsteinen fest
oder walzte ihn und stach Stücke heraus. Nad1 dem Trocknen diente er dann im
Winter als Brennmaterial. In trockenen Jahren gab es eine weitere mühevolle
Arbeit: das Ertränken der Ziesel („Erdhasen“) in ihren Löchern auf den Feldern,
da sie andernfalls zur Landplage wurden. Es nahte die Erntezeit. Das Einbringen
mußte rasch geschehen, da sonst bei dem sonnigen Wetter die Körner schnell reif­
ten und ausfielen. Kaum war die Ernte eingebracht, begann auch schon das
Dreschen mit Dreschsteinen oder mit der Dreschmaschine. Das waren die schwer­
sten Wochen für den Bauern, in denen er oft bis zu zwanzig Stunden am Tag
arbeitete und die Nachtruhe bisweilen nur vier Stunden dauerte. Teils schüttete
man das Korn auf den Speicher, teils kam es gleich in die Stadt zum Verkauf. Da
sah man dann in den frühen Morgenstunden lange Züge deutscher Bauernwagen
mit Wdzensäcken nach der Hafenstadt Odessa fahren. Der Herbst brach an: Jetzt
erntete man die Wassermelonen (Arbusen), Kürbisse, das Obst und den Mais. Die
Maiskolben wurden in der Scheune aufgeschüttet und beim Plaudern „abgeblat­
tert“. Ein wahres Fest war immer die Weinlese, das „Herbsten“ oder „Trauben­
schneiden“. Da kamen Frauen in ihren weißen Kopftüchern mit Körben und
Eimern, die sie dann abends als Taglohn vollbeladen nad1 Hause nahmen. Bis in
die späte Nacht walzte man dann die Trauben ein und preßte sie. Als Abschluß
kam dann das Erntedankfest oder die Kirchweih mit den vielen „Kirbekuchen“
und dem Dankgottesdienst in der mit Früchten aller Art geschmückten Kirche.
Beim Schweineschlachten füllten sich die Fettöpfe, der geräucherte Schinken wurde
im Sommer bei der Feldarbeit benötigt. Jetzt kam für die Jugend das Schlittschuh­
laufen, Schlittenfahren und die Wettfahrten mit den gutgefütterten, ausgeruhten
und übermütigen Pferden. Der lange Winter brachte Erholung für Menschund Tier. 82

MAISBLATTERN („STRUPPEN“)
„KOPITZEN“

BEIM PFLUGEN

ERNTESEGEN

84

ERNTE IM
SCHWARZMEERGEBIET
Wenn im Juni wochenlang sonniges Wetter herrschte, dann reifte das Getreide rasch am
Halme, und die Erntezeit rückte näher. Die Bauern richteten ihre Mähmaschinen, der
Dorfschmied hatte viel zu tun. Der Bauer fuhr aufs Feld, nahm einige Ähren und zerrieb
sie zwischen den Händen, um festzustellen, ob die Körner reif sind; einige Körner nahm
er in den Mund, um zu prüfen, ob sie schon hart oder noch „milchig“ sind. Dann kam.
meist zu „]ohanni“, am 24. Juni, Leben in die Dörfer. Überall sah man die Wagen mit
Gabeln, Rechen und Wasserfässern hinausfahren. Es begann ein emsiges Treiben auf den
weithin sichtbaren Feldern. Man sah Haspelmaschinen, von zwei kräftigen Pferden im
eiligen Tempo durch die reifen Weizen- oder Gerstenfelder gezogen. Hinten mußte ein
kräftiger Mann sitzen, wenn es mit dem Abwerfen des abgemähten Getreides gut gehen
sollte. Deshalb nannte man im Volksmund diese Maschine „Lobogreika“ (Stirnerhitzer).
Später kam die Maschine auf, bei der Rechen das Getreide abwarfcn („Rechenmaschine“).
So lag das Getreide lose da und bedeckte die Felder. Aber nicht lange. Schon kamen Män­
ner, Knechte und Mägde und setzten das lose Getreide zu runden Haufen („Kopitzen“)
auf. In einem guten Erntejahr sah man dann Tausende solcher Kopitzen die Felder be­
decken. Die Ernte mußte schnell — oft in vierzehn Tagen — beendet sein. Dann fuhr
man das Getreide mit hohen Leiterwagen („Harbi“) ein zum Dreschen. Später kamen die
Garbenbinder („Selbstbinder“) auf, so daß man auf den Feldern kunstvoll aufgebaute
Garbenkreuze sah. Trat eine längere Regenperiode ein, ehe man das Getreide einge­
fahren hatte, so faulte die auf der Erde liegende Schicht, und die Körner fingen an zu
faulen; dies war immer ein spürbarer Ernteverlust. — Kaum war die Dreschzeit vorbei,
begannen die Bauern nach einem Regen mit dem Pflügen. Vier bis sechs gut gefüt­
terte, kräflige Pferde zogen den drei- oder vierscharigen Pflug durch die stoppeligen Äcker.
„PUTZMUHLE“ STROHSCHOBER

Die „Putzmühle“ trennte die Spreu von den


Körnern. In neuerer Zeit kamen der Garben­
binder und die Dresdumaschine auf. Nicht jeder
Bauer konnte sich eine Dreschmaschine leisten. Da­
her schlossen sich mehrere Bauern zusammen, oder
einer kaufte sich eine und wfermietetesie an andere.

Am Abend, wenn das Stroh vom Dreschplatz


abgeschüttelt war, trieb man die Pferde mit den
Dreschsteinen über den Dreschplatz, um die Kör—
ner Von der Spreu zu trennen. Dann schleppte
man alles auf einen Haufen in der Mitte des
Dreschplatzes, um es durch die Putzmühle zu lassen.

Die Dreschzeit war für den deutschen Bauern die


schwerste Zeit im ganzen Jahr. Er mußte von drei
oder gar zwei Uhr morgens bis zehn und auch
elf Uhr abends arbeiten. In aller Frühe fuhr man
auf die oPcbis acht Kilometer entfernt liegenden
Felder zum Einholen („Hola fahren“) des Ge­
treides. Nachdem das Getreide auf dem eigens
dazu hergerichteten Dreschplatz ausgebreitet wor—
den war, zogen je zwei Pferde zwei bis drei
Dresdusteine im Kreis herum, um die Körner von
den Ähren zu trennen. In der Mitte stand der
Bauer und munterte die Pferde durch Zurufe,
Pfeifen oder Peitschenknall zum schnelleren Ge­
hen auf. Je nach Getreideart mußte man dies
zwei- oder dreimal wenden. Mit sachkundiger
Hand prüPte der Bauer, ob nun alle Körner aus­
gedroschen waren. War das der Fall, so war das
erste „Bett“ fertig. Jetzt wurde das Stroh „abge­
schüttelt“, auf Haufen geset2t und mit spitzen
Stangen anden Rand des Dreschplatzes getragen.
Dann legte man das zweite „Bett“ an. Bis zum
Wenden hatte man Zeit, das Stroh aufzuscho­
bern. Dieser Vorgang wiederholte sich zwei- bis
dreimal am Tag, (1. h. an einem Tag. konnten
sechs bis acht Wagenladungen gedroscheh werden.
An den großen Schobern konnte man den Reich—
tum des Bauern oder des Gutsbesitzers erkennen. 86

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Neben Weizen, Gerste und Hafer gab es viel Mais KÜRBISFELD
(Kukuruz oder Welschkorn). Die Kolben reiften
an den dürren Stengeln vollkommen aus. Wenn
der Steppenwind über die Maisfelder wehte, hörte
man ein eigenartiges Rascheln des Laubes. Jetzt
war die Zeit der Maisernte gekommen. Auf mit
Brettern erhöhten Wagen fuhr man die Kolben
nach Hause auf den Dreschplatz oder in die Schup­
pen. Nun lud man Bekannte und Freunde ein zum
fröhlichen „Maisblättern“, d. h. Entfernen des Lau­
bes von den „Butzen“. Diese dienten ebenso wie
die Stengel als Brennmaterial. — Der Hopfenbau
beschränkte sich fast ausschließlich auf Wolhynien.
Ein eindrucksvolles Bild boten die Kürbisfelder. HOPFENERNTE
Kürbisse wurden als Futter für die Kühe verwendet. IN WOLHYNIEN

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BOOT AUF
DER WOLGA

Die wichtigste Verkehrsader Rußlands war die Wolga.


Auch die Wolgadeutschen beförderten auf diesem Fluß ihr
Getreide und Holz. In etwa 80 Meter langen und 15 bis
20 Meter breiten leichten Schiffen („Beljanen“) verfrachtete
WEINLESE IM man das Holz im Frühling stromabwärts durch waldlose Ge­
SUDKAUKASUS genden bis zum Kaspisee, wo man die Schiffe selbst abbaute.
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Zu beiden Seiten der Wolga lagen die großen und z. T. GETREIDESPEICHER


wohlhabenden deutschen Bauerndörfer. Die Ernteerträge, IN MARXSTADT (WOLGA)
vor allem Weizen, lagerte man in den mächtigen Getreide­
speichern entlang der W'olga; von da wurde dann das Ge­
treide auf die Schiffe verladen und in die Städte abtrans­
portiert und dort an die Händler oder Mühlen verkauflz. WEINKELLER
IM SUDKAUKASUS

Infolge des warmen Klimas und der starken Sonnenstrahlen


in Südrußland konnte man hier viel Weinbau betreiben.
Bessarabien, die Krim, vor allem aber der Südkaukasus
waren die fruchtbarsten Weingegenden Rußlands. Eine ein­
malige Leistung vollbrachten die Schwaben in den um Tiflis
liegenden deutschen Dörfern. Da in der gebirgigen Land­
schafl:des Südkaukasus der Getreidebau kaum möglich war,
widmeten sich diese Schwaben fast ausschließlich den sorg­
fältig angelegten und gepflegten Weingärten. Durch ein
modernes Bewässerungssystem war für genügend Boden­
feuchtigkeit gesorgt. Die Schädlingsbekämpfung betrieb
man auf Grundlage der modernen Wissensd1af’t. Gegen
Pilze spritzte man sechs- bis achtmal Schwefel und dreimal
Kupfervitriol. Dank dieser mustergültigen Bewirtschaftung
erzielten die Kaukasusdeutschen einen Hektarertrag, der
viermal so hod1 lag wie in Deutschland und mehr als dop­
pelt so hoch wie der in Algier. Die Weinernte betrug rund
8,6 Prozent der gesamten Weinerzeugung Rußlands. Die
großen Fässer in den Weinkellern der Winzergenossenschafl
„Konkordia“ legten ein eindrucksvolles Zeugnis davon ab.
Während die kaukasischen Völker (Georgier, Armenier) in
den schwachenJahren 1925/27 nur 18 Hektoliter je Hektar
ernteten, erzielten die Kaukasusdeutschen 60 Hektoliter.
Durch die Absatzgenossensduafl gelangte der Wein in alle
wichtigen Städte Rußlands. Die Winzer unterstützten
91 am häufigsten das Schulwesen der Rußlanddeutsdren.
ROTE RINDER Bei der Einwanderung trafen die Deutschen das
ukrainische Steppenrind an, vor allem die für
die Landwirtschaft notwendigen Arbeitsochsen.
Die Kolonisten wollten aber vor allem milch­
und fleischliefernde Rinder. Die Mennoniten
brachten bei der Einwanderung ostfriesische
Kühe mit. Durch Kreuzung der einheimischen
Rassen mit ostfriesischen Zuchttieren, später
auch mit verschiedenen anderen Rassen (Angler­
rasse), gelang es, ein Rind zu züchten, das mehr
Milch und Fleisch lieferte und unter dem Namen
„Deutsches rotes Rind“ („Njemetzkaja krasnaja
korowa“ oder „Krasnaja njemka“) bekannt
wurde..Am frühen Morgen trieb der Hirte die
Kühe auf die Weide und am Abend kehrten sie
in ihre Ställe zurück. — Im Herbst schlad1tete
man die gut gemästeten Schweine, und jeder
Bauer versorgte sich für das ganze Jahr reichlich
ROTVIEH IN mit Fett, Wurst und geräuchertem Schinken. Zu
HOFFNUNGSTAL den Schlachtfesten bekamen die Schulkinder frei.

92
WEIDE IM
WOLGAGEBIET

VIEHHERDE IM
SCHWARZMEERGEBIET

SCHLACHTF EST
AUF DER KRIM

93
Des Bauern Stolz waren seine Pferde. Ihnen schenkte er
seine ganze Liebe und Aufmerksamkeit. Das Pferd bekam
das beste Futter und wurde stets sauber gehalten. Es hatte
in der Landwirtschaf’c die ganze Arbeit zu leisten und
mußte, besonders beim Transport des Getreides, zur oft
weit entfernten Bahnstation Strecken bis zu 50 Kilometer
zurücklegen. Deshalb bevorzugte man das leid1te Pferd,
mit dem man im Trab fahren konnte. In der Druschzeit
ritt oder fuhr man am Samstag oder Sonntagmorgen zum
„Damm“ oder ans Meer, um die Pferde zu baden. Das
waren für Mensch und Tier wohltuende Stunden nach der
Hitze und dem lästigen Staub an den Arbeitstagen. Wenn
man auswärts fuhr, bekamen die Pferde viel Hafer.

(
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4

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PFERDE­
SCHWEMMZ
IM
SCHWARZZ"
MEER

94
Besonderen Wert legte man auf gute Zucht. Auf die Auswahl des Gemeindehengstes ver­ PRÄMIIERTE
wendete man größte Sorgfalt. In der Pferdeherde durfte nur ein Hengst sein, da es sonst FOHLEN IN
zu sd1weren Kämpfen gekommen wäre. Die Hengste zählten zu der Rasse der Orlower­ HOFFNUNGSTAL
Traber, benannt nach dem russischen Grafen Orlow. In den beiden letzten Kriegen
rekrutierten sich die Pferde für die russische Artillerie hauptsächlich aus den deutschen
Kolonistenpferden. — In den Sommermonaten wurden Hitze und Fliegen ofl: zur Plage
für Mensch und Tier. Dann stellte man einen Kasten, den man immer wieder nach Bedarf
verstellen konnte, an eine schattige, luftige Stelle unter einem Baum oder hinter das Haus.

PFERDE­
FÜTTERUNG
IN
BESSARABIEN
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Unter den ersten Ansiedlern befan—
den sich auch viele Handwerker.
Damals fehlten noch die Voraus­
setzungen für die Ausübung ihres
Berufes. Dann aber galt es, für die
bäuerliche Bevölkerung die not—
wendigen Geräte herzustellen. Da—
zu gehörte ein für die dortigen Ver—
hältnisse geeigneter Wagen. Er
mußte stabil und leicht sein. Das
Aneinanderschlagen der Scheiben
auf Achse und Nabe gab jedem Wa­
gen seinen charakteristisduen Klang.

Diese Wagen fanden bald Anklang


auch bei der einheimischen Bevöl—
kerung. Die fortgesdurittenen ukrai­
nischen Bauern kauften sich oft bei
den Deutsduen solch einen prakti­
schen und schön aussehenden „Ko­
lonistenwagen“. Vielfach war der
Kasten bemalt und verziert. Auf
der Seite war eine Aufsteigvorrich­
tung angebracht, und quer über den
vorderen Teil hing-das Sitzbrett,
oft mit einer Lehne versehen. Die
wohlhabenden Bauern leisteten sich
aber für ganz besondere Angelegen­
heiten einen gefederten -Wagen
(„Federwagen“ oder ,.Britschka“).
Dieser war nicht für Lasten geeig­
net, sondern man verwendete ihn
nur bei ganz festlid1en Gelegen­
heiten, so vor allem bei Hochzeiten
oder wenn man an Sonntagen zu
Besuch fuhr. Da wurden dann die
besten Pferde vorgespannt und das
schönste Pferdegeschirr verwendet.

Während in den ersten Jahren der


Ansiedlung häufig noch Windmüh­
len in Betrieb waren, stand bald in
jedem größeren Dorf eine Dampf­
mühle, die nicht nur für die Be­
wohner des Dorfes den Weizen
mahlte, sondern auch die umliegen­
de russische Bevölkerung bediente.
Bald entstanden auch Hochmühlen
mit mechanischem Betrieb. Diese
Mühlen versorgten die Bevölke­
rung mit Weizenmehl. Die meisten
Mühlen wurden mit Stroh geheim.

96

MÜHLE IN
ZARIZYN
In dem Maße, wie sich die Landwirtschaft immer mehr modernisierte und der Lebens­
standard sich hob, entstand auch eine eigenständige Textil- und Maschinenindustrie. Man
stellte strapazierfähige Stoffe für vorwiegend ländliche Bevölkerung und landwirt—
schaftliche Geräte und Maschinen her, so vor allem Pflüge, Mähmaschinen und Putz­
mühlen. Dennoch spielte das Handwerk immer eine gewisse Rolle. Es gab Dörfer, die
in weiter Umgebung durch ihr Handwerk bekannt waren. In dem einen stellte man
vorwiegend Wagen her („Molotschnaer“ Wagen), in dem anderen Rechen und Gabeln
für die Erntearbeit oder Leitern, mit denen man die Wagen zur Einfahrt des Getreides
erhöhte („Harbi“). Diese Gegenstände gab es kurz vor der Ernte auf den Märkten zu
kaufen. Auf einem großen freien Platz stellte man alles aus. Das gab ein buntes Bild,
wenn die verschiedensten Völker sich zum Kauf in ihrer besonderen Kleidung einfanden.
Es-war, in orientalischer Lautstärke, ein Feilschen und Handeln, bis man über den Preis
einig war. Ein Händeschlag, ein gemeinsamer Trunk („Mogritsch“) besiegelten den Kauf.

ERNTEMARKT
IN BESSARABIEN
Die Kirchen und Schulen
Kirche und Schule trugen bei den Rußlanddeutschen auch das Volksleben. Die
deutschen Gemeinden waren über weite Räume zerstreut: bei Petersburg, im
Wolga-, im Schwarzmeergebiet bis zum Südkaukasus und später in Sibirien. Der
russischen Regierung lag viel daran, daß die kirchlichen Verhältnisse in den deut­
schen Kolonien geordnet waren. So errichtete sie im ältesten Siedlungsgebiet an
der Wolga 1819 ein Reichsgeneralkonsistorium mit einem Bischof an der Spitze,
mit dem Sitz in Saratow; leider wurde es 1832 nach Moskau verlegt. Nachdem
auch im Schwarzmeergebiet viele evangelisdue Gemeinden entstanden waren, ergab
sich die Notwendigkeit, eine allgemeine Kirchenordnung für die evangelisduen
Gemeinden in ganz Rußland zu geben. Dies geschah durch Kaiser Nikolaus I. am
28. Dezember 1832 mit dem „Gesetz für die Evangelisch-lutherische Kirche in
Rußland“. An der Spitze der evangelischen Kird1e stand das Generalkonsistorium
mit einem Bischof und einem weltlichen Präsidenten. Das Generalkonsistorium
gliederte sich in Konsistorien auf, diese wiederum in Kirchspiele. Für die katholi­
schen Gemeinden entstand 1848 das Bistum Tiraspol mit zwei Weihbischöfen,
von denen der eine seinen Sitz in Saratow (Wolgagebiet) hatte. Das Wort: „Du
sollst den Feiertag heiligen“ wurde stets ernst genommen. An den Sonntagen
herrschte Ruhe, und es durfte keine Feldarbeit verrichtet werden. — In den ersten
Jahrzehnten waren die Schulen in den deutschen Kolonien der Kirche unterstellt.
Der Pfarrer hatte nicht nur die Aufsicht über den Religions-, sondern auch über
den Deutschunterricht, ja in gewissem Sinne in der Praxis über den Gesamt­
unterricht. Man achtete streng darauf, daß die Schuljugend in Religion und
Deutsch, später auch Rechnen und Geschichte, erfolgreich lernte. Das ging so weit,
daß die schulentlassene Jugend noch zwei Jahre jeden Sonntag unter Aufsicht der
Kirchenältesten in der „Kinderlehre“ sich im Lesen und Redutschreiben üben
mußte. Während die Deutschen in der Ausübung ihrer Religion bis zum ersten
Weltkrieg volle Freiheit besaßen, änderten sich die Verhältnisse in der Schule
grundlegend. 1871 hob die Regierung die den Deutschen bei der Ansiedlung ge­
währten Sonderredute und ihre Selbstverwaltung auf und unterstellte sie den
allgemein bestehenden Gesetzen und somit dem Innenministerium. Mit dem Er­
starken des Panslawismus begann in zunehmendem Maße die Russifizierungspoli­
tik, besonders auch in der Schule. In allen Fächern, mit Ausnahme von Religion
und Deutsch, wurde Russisch die Unterrichtssprache. Den Höhepunkt erreichte
die Russifizierung, ja der Deutschenhaß, im ersten Weltkrieg. Die deutsche Sprache
wurde im Schwarzmeergebiet nicht nur in den Sd1ulen, aud1 auf der Straße
verboten; sogar die Predigt durfte nid‘1tmehr in deutscher Spradue gehalten wer­
den. Die Revolution von 1917 brachte nur eine vorübergehende Erleichterung. 98

EVANGELISCHE KIRCHE
IN BAKL'
Schon 1567 wurde in Moskau für die von
Zar Iwan dem Schrecklichen gerufenen und
angesiedelten Deutschen die erste evangeli­
sche Kirche erbaut, die St.-Michaels-Kirche.
1626 kam die zweite evangelische Kirche hin­
zu, die St.-Petri-Pauli-Kirche, in dievornehm­
lid'i die Offiziere, die im russischen Militär­
dienst standen, gingen; daher der Name
„T e u t s c h e Evangelische Offizierskirche“.

Wenn Odessa sich von einem kleinen Ort


von zirka 4000 Einwohnern im Jahre 1803
zu einer in ganz Europa bekannten Handels­
stadt mit über 600 000 Einwohnern vor dem
ersten Weltkrieg entwickelte, spielten die
rund 12 000 Deutschen eine maßgeblid1e Rolle
dabei. Das Herzstück des Deutschtums war
die St.-Pauli-Gemeinde, die ein ganzes Stadt­
viertel — den „Lutherischen Hof“ — mit
der evangelischen Kirche und Schule besaß.

Seit 1880 entstanden im weiten Sibirien ge—


schlossene deutsche Gemeinden, vor allem
evangelische und mennonitische.Welche Strek­
ken die Geistlichen zurücklegen mußten, schil­
dert BischofMeyer: „Im ganzen haben wir in
der Zeit vom 30. Mai bis 23. August zurüd<—
gelegt: 11684 km mit der Bahn, 2322 km auf
EVANG. KIRCHE IN Flußdampfern, 1500 km im Auto und 702 EV. KIRCHE
WLADIWOSTOK km mit Pferden, im ganzen 16 208 km.“ IN ODESSA

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KIRCHE IN MOSKAU
EVANG KIRCHE
IN IRKUTSK (SIBIRIEN)

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EVANG. KIRCHE
IN ORENBURG

Nördlich von Orenburg liegen die Mennonitengemeinden, südlid1 bis Aktjubinsk die
vorwiegend evangelischen; letztere versah der Pfarrer in Orenburg, der oft Reisen bis
zu 250 Kilometer zurücklegen mußte. Im 18. Jahrhundert gründeten schwedischeKriegs­
gefangene in Tobolsk und Tomsk (1718) evangelische Gemeinden und bauten Kird1en;
in Omsk entstand 1792 eine kleine steinerne Kirche. Gleich mit den ersten Häuserreihen
in St. Petersburg (1703) errichtete man für die vielen deutschen Fachleute eine Kirche
aus Holz; aus ihr entwickelte sich in den folgenden Jahren die große St.-Anneh-Kirdre
(1719). Später bauten die Deutschen für ihre immer zahlreicher werdenden Landsleute
die Petri-Pauli—Kirdueam Newski-Prospekt, die St.-Katharinen- (1728) und die St.-Mi­
chaels-Kirche sowie die luthedsch-reformierte Kirche. Zu jeder dieser Kirchen gehörte eine
höhere Schule. Die Zahl der katholischen Deutsd1en in den Städten war immer geringer
als die der evangelischen. Die meisten katholischen Siedlungen lagen um Odessa. So ist
es verständlidu, daß in dieser Stadt am Schwarzen Meer viele deutsdue Katholiken lebten
und hier 1853 eine Kathedrale erbaut wurde. Neben diesen drei Religionen waren in
einzelnen Gemeinden und auch in Städten die Baptisten und Reformierten vertreten.

EVANG. ANNEN­
KIRCHE IN
LENINGRAD

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KATH. KIRCHE
IN ODESSA

103
EV. KIRCHE
IN EUGEN­
FELD
(TAURIEN)

Wie schwierig es für Deutsche wurde, eine Kirche Zu


bauen, sei am Beispiel der Kirche in Eugenfeld dargetan.
Zunächst mußte man die Genehmigung der Baubehörde
einholen. Diese legte aber zu jener Zeit (1895) Schwierig­
keiten in den Weg, wo und wie es ging. Dann mußte die
Gemeinde die Mittel zum Bau der Kirche selbst ohne
jeglichen Staatszuschuß aufbringen. Die Behörde verlang­
te, daß bei Baubeginn zwei Drittel des notwendigen
Kapitals bar vorhanden waren. Endlich traf die Bau­
genehmigung ein mit der Auflage, „daß der Gottesdienst
in der neuen Kirche keinen schädlichen Einfluß auf die
rechtgläubige Nachbarbevölkerung ausübe“. Am 12. April
1896 konnte der Grundstein unter Teilnahme von 2500
Personen gelegt werden. Unter den'Gästen befanden sich
der russischeKreisinspektor (Isprawnik), der Ortspolizei­
vorsteher (Pristaw), der Urjadnik, der Bahnvorsteher
und die Gebiets- und Dorfschreiber aus dem russischen
Nachbarort Akimowka. Der orthodoxe Priester hielt eine
Ansprache, in der er sagte, daß er als Vertreter der ortho­
doxen Kirche sich freue, an dieser Feier teilnehmen zu
dürfen; er wünsche, daß solcher Friede zwischen den
deutschen und russischen Nachbarn immer bestehen möge
wie bisher. Diese Kirche war 31 Meter lang und 18,3 Me­
ter breit. Nur vierzig Jahre durfte sie ihrer Bestimmung
dienen. Dann hat man sie — wie alle anderen Kirchen —
1935 geschlossen und einer anderen Verwendung Zuge­
führt. Die Kirche in Neudorf entstand 1866 und hatte
800 Sitzplätze. Die Gemeinde pflegte den Kirchplatz im­
mer mit besonderer Sorgfalt und Liebe. Alle diese Kir­
chen hatten zwei bis drei Glocken. Nur in den kleinen
Gemeinden, wo Schule und Kird1e in einem Gebäude ohne
Turm untergebracht waren, errichtete man Glockentürme. 104

GLOCKENTURM IN
BERGDORF (ODESSA)
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LUTHER KIRCI-IE
IN NEUDORF

KATI-I KIRCI-IE
IN ]OHANNESTAL

EVANG. KIRCHE IN
EUGENFELD (TAURIEN)

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KATH.
KIRCHE
IN SELZ

Eine der schönsten Kird1en der Rußlanddeutschen war die


in der katholischen Gemeinde Selz, Gebiet Odessa, 1901
erbaute dreischifiige Hallenkirche mit ihrem neubarod<en
Doppelturm. Ein Monumentalwerk stellt die 1911 in der
kleinen Gemeinde Friedenfeld ‚mit einem Kostenaufwand
von 90 618 Goldrubel erbaute Kirche dar; sie war 46,8 Me­
ter lang und 21,3 Meter breit und hatte 1200 Sit2plätze.
Die Regierung schrieb die Maße vor in der Annahme,
die Gemeinde werde sich das nicht leisten können.

106

EVANG. KIRCHE
IN NEUSATZ (KRIM)
EVANG. KIRCHE
IN HELENENDORF
(SÜDKAUKASUS)

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EVANG. KIRCHE IN
FRIEDENFELD (TAURIEN)
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KATH. KATHEDRALE SARATOW KATH. KIRCHE IN HERZOG

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In den Wolgakolonien waren die Kirchen vielfach aus
Holz gebaut. Deshalb stand der Glockenstuhl außerhalb
der Kirchhofmauer. Die aus Holz errichteten Türme
der Kirchen waren offenbar nicht stark genug für das
Gewicht der Glocken. Allerdings sah man diese Glok­
kenstühle häufig auch neben steinernen Kirchen und
nicht nur im Wolgagebiet, sondern auch in Sibirien.

Die Betreuung der katholischen Gemeinden erfolgte in


den ersten _]ahrzehnten oft durch polnische Geistliche,
die vielfach die deutsche Sprache nicht beherrschten.
Aufgrund eines Vertrages mit Kaiser Nikolaus I. setz­
te Papst Gregor VI. zwei Weihbischöfe zur Unter­
stützung des Bischofs ein; der eine wirkte in Saratow,
wo eine Kathedrale und ein Priesterseminar waren.

Nadu Praetorius, der die evangelische Kirche von


Galka als charakteristisdu bezeichnete, haben die evan­
gelischen Kirchen fast immer die Kanzel in halber
Höhe an der Wand über dem Altar, „eine Art Schwal­
bennest-Balkon“. Diese Anlage fand man in fast allen EVANG. KIRCHE
EVANG. KIRCHE IN SARATOW evang.—lutherischenKirchen der deutschen Wolgadörfer. IN GNADENTAU

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MENNONITISCHES BETHAUS Die Schwaben im Südkaukasus, mit dem Mittelpunkt
IN ORLOFF Helenendorf, hatten bis 1928 ihre eigene evangelisch­
lutherische Synode mit einem Oberpastor an der Spitze,
die nicht dem evangelischen Generalkonsistorium in Pe­
tersburg unterstellt war. Die Entfernung vom Südkaukasus
bis Petersburg war zu groß. Im waldreichen Wolhynien
baute man die Kirchen aus Holz, so auch die der ältesten,
1818 gegründeten deutschen Gemeinde Annette. Bis 1865
bediente ein einziger Geistlicher ganz Wolhynien. 1914
gab es aber schon zehn Kirchspiele; ein Fünftel der Ge­
meinden in Wolhynien waren Baptisten. Eine ganz an­
dere Lage bestand bei den Mennoniten. Sie hatten die
Erwachsenentaufe und lehnten den Wehrdienst ab. Des—
halb dienten sie beim Militär in Rußland als 9anitäter
oder als Wege- und Waldarbeiter. Sie hatten keine Kir­
d1en mit Türmen, sondern Bethäuser, die zugleich als
Schulen dienten. Ebenso hatten sie keine akademisch ge­
bildeten Geistlid1en, sondern nur Laienprediger. Aber ge­
MENNONITISCHES BETHAUS rade das Festhalten an ihren eigenen Gesetzen war ein
IN HALBSTADT unlösbares Band im Gemeinde- und dörflichen Leben.
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EVANG. KIRCHE
IN HELENENDORF

EVANG. KIRCHE IN
ANNETTE (WOLHYNIEN)

111
SCHULE IN Den obligatorischen Besuch in den Schulen in den deutschen Kolonien gab es seit 1840,
GLÜCKSTAL dennoch nahm jedes Kind von Anfang an an einem Schulunterricht teil — wenn auch an
einem mangelhaften, so daß alle zuerst nur deutsch, später aber auch russisch schreiben %
und lesen konnten. Nach der Volkszählung von 1897 gab es in Rußland 80 0/oAnalpha­
beten. In derselben Zeit fand man in den deutschen Siedlungen kaum einen Analpha­
beten. Von den ersten Ansiedlungsjahren an war man bestrebt, jedem Kind das Lesen,
Schreiben und Rechnen beizubringen. Bei der Einwanderung erteilte man den Kindern
sogar schon in den Winterquartieren in der Umgebung von Torschok Unterricht. „Hier
wurde Schule gehalten für die Kinder und wurde uns ein Haus zum Gottesdienst ein­
geräumt, wo auch ein Pastor alle Sonntage predigte und auf Ostern die Kinder konfir­
mierte.“ Nach Überwindung der ersten schweren Jahre baute man außer den Kirchen
ganz stattliche Sd1ulgebäude. Ohne eigene Mittel und Fronarbeiten wäre dies unmöglich
gewesen. Die Gemeinden hielten diese Schulen gut instand; sie ließen sie mit einer
schönen Mauer umgeben und Bäume anpflanzen. In minderbemittelten Gemeinden waren
die Schulgebäude bescheidener, aber sie fehlten in keinem Dorf, und OR unterrichtete in
den ersten Jahren ein Bauer, wenn es an Lehrern fehlte. Die Besoldung der Lehrer durch
die Gemeinde brad1te die Lehrkräfte in kleinen Orten häufig in eine sd1wierige Lage.

VOLKSSCHULE
IN HALBSTADT
(TAURIEN)
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9CI-IULE IN
WARENBURG
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HALBSTADT (TAURIEN)

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ZENTRALSCHULE IN
ORLOFF (TAURIEN)

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114
Mit den Einwanderern kamen nur wenig Lehrer. Wollte MÄDCHENSCHULE
man Lehrer haben, die den Unterricht in Deutsch gaben, IN CHORTITZA
so mußte man sich selbst darum kümmern. Auch be­
nötigte man dringend geeignete Persönlichkeiten, die das
Amt des Gemeindeschreibers bekleiden konnten. Außer­
dem war in jeder Gemeinde ein Küsterlehrer nötig, der
den Religionsunterricht in den Schulen erteilte und den
Pastor vertrat, da dieser oPt drei bis zwölf und mehr
Gemeinden betreute und deshalb nur einige Male im
Jahre seine Gemeinden besuchen konnte. Zu dem Pflich­
tenkreis des Küsters gehörten die Beerdigungen und
Taufen. Um nun geeignete Kräfte für diese Ämter in den
deutsd1en Gemeinden aus den eigenen Reihen ausbilden
zu können, brauchte man entsprechende Schulen. Die erste
derartige Fortbildungs- oder Vereinsschule entstand schon
1822 in der Mennonitengemeinde Orlofl. In den darauf—
folgenden _]ahren gründete man allein im Schwarzmeer­
gebiet 38 solcher Schulen, die allgemein unter dem Namen
Zentralschulen bekannt waren. Einige entwickelten sich
später zu Progymnasien und vor allem zu Lehrerseminaren.
Besonders viele Zentralschulen wurden nach 1905, dem
Jahr der „kleinen“ russischen Revolution, gegründet.
Diese Schulen, die Lehrer und Schreiber und überhaupt
die „Dorfintelligenz“ heranbildeten, trugen zur Förde­
rung der Bildung und Kultur in den Kolonien bei und
können so als wahre Kolonisten-Bildungsstätten bezeich­
net werden. Vor allem verdanken die führenden Männer
diesen Schulen ihre guten Kenntnisse der deutschen Spra—
115 che, durch die ihre Volksverbundenheit erhalten blieb.
In den deutschen Schulen wurde auch die russischeSprache unterrichtet. Dies war notwendig,
da nach Einführung der russischen Amtssprache auch in den deutschen Gemeinden die
Dorfschreiber das Russische beherrschen mußten. Es sei noch hervorgehoben, daß diese
jungen Leute in ihrer Umgebung blieben, ihrem Volk also nicht entfremdet wurden, und
später ihren Beruf in ihren Heimatgemeinden ausübten. Das kann man nicht von all
denen sagen, die in späteren jahren in die russischen städtischen Gymnasien gingen.

Von großem Segen waren die aus eigenen Mitteln unterhaltcnen Taubstummen—Anstalten.
Man gründete Vereine („Die Biene“, „Die Ameise“), die Gelder sammelten; das taten
auch die Frauenvereine. Die Gemeinden wetteiferten untereinander in der Hilfe mit
Fuhren und Handlangerdiensten bei Bauarbeiten. Die Taubstummen-Anstalten wurden
TAUBSTUMMEN— zu einem wahren Volkswerk. Die Taubstummen-Anstalt Großlicbental bei Odessa bildete
ANSTALT IN in 25 Jahren 162 Kinder aus: 77 evangelische, 28 orthodoxe, 19 römisch-katholische,
PRISCHIB 4 evangelisch-reformierte, 4 Baptisten, 1 römisch-gregorianisches und 29 jüdische.

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1914 gab es in Petersburg vier deutsche höhere Schulen mit zusammen mehr DEUTSCHE
als 5000 Schülern, und zwar nicht nur deutsche; auch Kinder russischer HAUPTSCHULE
Offiziere und höherer Beamter besuchten sie. Die bekannteste war die St.— IN PETERSBURG
Petri-Schule. Selbst in der Zeit der schlimmsten Russifizierungspolitik unter
Alexander III. blieb die Unterrichtssprache in diesen Schulen deutsch.

LEHRERSEMINAR
IN HEIMTAL
(WOLHYNIEN)

117
Die russische Revolution von
1905 wirkte sich auch auf das
kulturelle und geistige Leben
der deutschen Kolonisten aus. Es
entsmnden in jener Zeit eine
Reihe von Bildungsvereinen, die
sich zum Ziel setzten, das Bil­
dungswesen zu fördern, und
zwar nicht nur in den Schulen,
sondern auch in den _]ugendver—
einen. Erstmals kam in dieser
Zeit der Gedanke auf, für die
jungen Bauernsöhne eine Schule
zu gründen, die ihnen theoreti­
sche und praktische Kenntnisse
in der Landwirtschaf°tvermitteln
sollte. Auch diese Schule ent­
stand aus eigenen Kräf’ten. Der
Initiator, Pastor Stach, sammel—
te bei den Bauern in zwei Mo­
naten 10 000 Rubel an freiwilli­
gen Spenden. Ein Gutsbesitzer
schenkte 60 ha Land; auch eini­
ge Gemeinden stellten Land zur
Verfügung. Die 1907 eröffnete
Schule zählte schon 1908 121
Schüler. Aus allen Teilen Ruß—
lands kamen aus den deutschen
Siedlungen Bauernsöhne, um
hier eine gründliche fachliche
ACKERBAUSCHULE IN Ausbildung in neuzeitlichen
EUGENFELD (TAURIEN) Ackerbaumethoden zu erhalten.
1909 erweiterte man die Schule MÄDCHENSCI—IULE IN
um eine Haushaltsschule für GROSSLIEBENTAL
Mädchen. In den meisten dieser (CHERSON)
Fortbildungsschulen waren die
auswärtigen Schüler und Schü­
lerinnen in Internaten unter­
gebracht. Alle Schüler mußten
eine vorgeschriebene Kleidung
tragen. Ob es die Form und
Farbe der Mütze, der lederne
Gürtel, ob es bei den Mädchen
die Schürze oder das Krägelchen
waren — immer konnte man an
der Kleidung erkennen, zu wel­ MÄDCHENSCI-IULE
cher SChule die Schüler gehörten. IN CHORTITZA

119
In vielen größeren deutschen Gemeinden bestanden Krankenhäuser mit deutschen Är2ten
und deutschem Personal. So gab es in den Molotschnacr Ansiedlungen drei Krankenhäu—
ser: in Muntau (gegründet 1889), Waldheim und Orloff (gegründet 1910). Die Deutschen
aus den Dörfern um Odessa gingen ins Krankenhaus in Großliebental, die von Bessarabien
nach Sarata. Einen guten Ruf genoß bei den Deutschen und Russen das 1892 gegründete
Evangelische Hospital in Odessa. Bis 1910 fanden 9446 Kranke aus 27 Nationalitäten
hier Aufnahme. Dagegen war in den Landgemeindcn die ärztliche Betreuung mangelhaft.

KRANKENHAUS
IN ORLOFF

KRANKENHAUS
IN ODESSA

O
Außer den Krankenhäusern gründeten die EVANGELISCHE WAISEN—
Deutschen in allen größeren Gemeinden MÄDCHEN IN ODESSA
Waisenhäuser, Kinderheime, Siechenhäuser,
Blinden- und Taubstummen-Anstalten und
Armenasyle. Die Mittel für den Bau und
Unterhalt kamen durch Spenden zusammen.
Immer wieder fanden sich großherzige Men­
schen, die Land, Häuser oder große Geld­
summen zur Verfügung stellten. Aus christ­
licher Gesinnung heraus fanden sich immer
junge Mädchen und Frauen, die sich in den
Dienst der Nächstenhilfe stellten. In Diako—
nissenhäusern ——in Talowka, an der Berg­
seite der Wolga, in Großliebental bei Odessa
-— erhielten die Schwestern für diese An­
stalten ihre sachgemäße Ausbildung. In
Kriegszeiten dienten die Krankenhäuser als
Militärlazarette. Auch die Krankenhäuser
mußten aus den eigenen Mitteln der Ge­
meinden oder Kirchen unterhalten werden
121 und bekamen keine staatlichen Zuschüsse.
Auf der Suche nach neuer Heimat
Von 1918 bis 1945 wurde das Rußlanddeutschtum schwer heimgesucht: Hunger­
jahre 1922/23 und 1932/33, Verbannungen in den Jahren 1928 bis 1940, Ent­
eignung des Besitzes und Einführung des Kolchossystems, vollkommene Aussied­
lung der Wolga—,Krim- und Kaukasusdeutschen 1941 nach Nord- und Mittel—
asien, Verschleppung der restlichen Deutschen beim Rückzug der Sowjetarmeen.
Nur etwa 350 000 kamen beim Rückzug der deutschen Truppen vorübergehend in
den Warthegau, dann nach Deutschland. Davon wurden beim Einmarsch der
Sowjettruppen rund 250000 zurück nach der Sowjetunion gebracht, aber nicht in
ihre ehemaligen Siedlungen, sondern zu ihren schon früher in die nördliche SSR
Korni und hinter den Ural nach Mittelasien und in das Altaigebiet verschleppten
und verbannten Landsleuten. Die meisten waren auf 10 bis 25 Jahre verbannt
und durften den Verbannungsort nicht verlassen. Die schwere, ungewohnte
Arbeit in den Urwäldern und Bergwerken, die schlechten Wohnverhältnisse, der
Nahrungsmangel — im Jahre 1947 herrschte wieder eine große Hungersnot —
forderten unter den Deutschen, ebenso wie unter anderen Völkern, viele Menschen­
opfer. Erst 1955, nach der Amnestie, trat eine Erleichterung ein. Die Lebens­
bedingungen besserten sich, die Bewegungsfreiheit wurde größer. Es setzte bald
eine Wanderbewegung vom kalten Norden (Komi) in den warmen Süden nach
Mittelasien ein. Der größte Teil ließ sich in der SSR Kasachstan nieder, wo schon
vorher zwangsweise Deutsche in den neu zu erschließenden Gebieten angesiedelt
worden waren. Einen Teil siedelte man in den schon seit Anfang des 20. Jahr­
hunderts hier bestehenden geschlossenen deutschen Dörfern an, so vor allem im
Altaigebiet bei Semipalatinsk und in der Kulundasteppe bei Slawgorod. Eine
größere Gruppe von Rußlanddeutschen kam in vollkommen neue Gebiete der
SSR Tadshikistan, Usbekistan und Kirgisien, wo sie neben der Landwirtschaft —
Getreide—und Baumwollanbau, Rinder- und Schafzucht — auch im Baugewerbe
und in der Industrie tätig sind. Wenn es auch diesen Deutschen nicht mehr möglich
ist, sich in geschlossenen Dörfern anzusiedeln, so gibt es doch Gemeinden, in denen
die Deutschen einen hohen Prozentsatz der Bevölkerung ausmachen oder gar die
Mehrheit bilden. Die meisten aber leben in der Zerstreuung unter fremden Völkern.
Hie und da trifPt man auch in den Städten Straßen, in denen mehrere Deutsche
nebeneinander wohnen. Meist sind solche Häuser von Deutschen — wie ein Rei­
sender berichtet — an der Bauart und an dem vorgelagerten Blumengärtchen zu
erkennen. Besonders viele Deutsche leben in den Städten Karaganda (etwa
100000 Einwohner), Alma-Am (etwa 10000 Einwohner) und in Duschanbe. Ein
großer Teil lebt aber vollkommen getrennt von seinen Stammesgenossen in fremder
Umgebung bis in den äußersten Norden und Osten bei Kamtschatka in Sibirien. 122

AUF DER FLUCI-IT


GLOCKENSTUHL
IN ALEXANDERI-IILF 1942

Das Ausmaß der Katastrophe auf religiösem Gebiet


konnte man erst so richtig bei einer Reise (1941) durch
die russischen und vor allem deutschen Siedlungen er­
kennen. Die einstmals schönen Kirchen und gepflegten
Kirchengärten waren vernachlässigt und zerfallen.
Sämtliche Kirchtürme waren abgetragen, und die Got­
teshäuser waren anderen Zwecken dienlich gemacht.

EVANG. KIRCI-IE IN
ALT-FREUDENTAL
1914
Während der Besatzungszeit richteten die Kolonisten, Im jahre 1941 waren kaum Glocken zu
soweit das während des Krieges möglich war, ihre Häu­ bekommen. Aber die Rußlanddeutschen
ser und Kirchen her. Natürlich konnte man die abgeris­ wußtcn sich zu helfen. Es gelang doch, hie
senen Kirchtürrne nicht neu aufbauen. Aber die Kirchen und da eine Glocke zu beschaffen, die ne­
selbst wurden geweißt, ebenso die Kirchhofmauern. Dort ben zwei Geschoßhülsen an einem einfa—
wo der Glockenturm mit seinem weithin sichtbaren chen Iiolzgestell angebracht wurden, und
Kreuz gestanden hatte, errichtete man ein Holzkreuz. der schönste Dreiklang war wieder da!

EVANG. KIRCHE KATH. KIRCHE


IN NEUBURG 1942 IN KANDEL BEI ODESSA 1942
ALEXANDERHILF
NACH DEM
GOTTESDIENST
1942

Es lagen die schweren jahre 1933 bis 1940 hinter der deutschen Bevölkerung, wo es
kaum noch Gottesdienste gab. Die Pfarrer, wie überhaupt den größten Teil der Intelli­
genz, hatte man in den vorhergegangenen Jahren (besonders 1936 bis 1938\ "erbannt.
Es gab keine kirchliche Taufe und Trauung mehr. Wie atmete die Bevölk m( auf, als
sie nunmehr wieder Gottesdienste halten durfte, nicht nur in den deutschen, sondern'
auch in russischen Kirchen! Die Kirchen wurden notdürftig instandgeset2t und auf den
Turmresten Holzkreuze errichtet. Freilich fehlten die Pfarrer und Küsterlehrer. Da sah
man dann, wie ältere Männer und Frauen die Predigten vorlasen. Welch ein Ereignis
war es,wenn ein deutscherWehrmachtspfarrer den Gottesdienst hielt und die Trauungen
und Konfirmationen der zurückliegenden Jahre nachholte! Da kamen die Bauern—
wagen von weit angefahren, die Kirche war umlagert, der Pfarrer hatte alle Hände
voll zu tun. Rasch hatte man sich wieder sonntägliche Kleider angelegt. Die alten
Sitten und Gebräuche waren noch in Geltung. Da sah man in der Kirche die Männer
auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite sitzen. Da konnte man beobachten, wie
zuerst Frauen, dann Männer, dann die Mädchen und zum Schluß die Burschen nach
dern Sonntagsgottesdienst nach althergebrachter Weise das Gotteshaus verließen. 126
Auch in der Kirche sah man, welche Opfer
die Stalinzeit unter der Männerwelt ge­
fordert hat. Ob Sommer oder Winter, ob
die Kirche geheim war oder nicht, sie war
immer überfüllt. Da saßen die Frauen bei
grimmiger Kälte in schwarzen Woll­
tüchern und lauschten andächtig der Pre­
digt. Wieder erklang kraflvoller Kirchen­
gesang. Auch das deutsche Schulwesen
wurde wieder aufgebaut und es entstand
ein neues Lehrerseminar, um in Schnell—
kursen Lehrer heranzubilden. Prob und
begeistert sang man wieder deutscheLieder.

GOTTESDIENST IN
JOSEFSTAL (DN ]EPR)
1942

DEUTSCHE SCHULE
IN WEINAU (PRISCHIB)
}

Diese Zeit der seelischen Erholung dauerte


nicht lange. Nur dem kleineren Teil der
Rußlanddeutschen war sie vergönnt. Die
Sowjets siedelten den größten Teil der Ruß—
landdeutschen beim Vormarsch der deutschen
Truppen — 1941 alle Wolgadeutschen, ins—
gesamt 379 000 Menschen — unter den
schwierigsten Verhältnissen nach Sibirien und
in das Altaigebiet sowie nach Mittelasien
(Kasachstan, Tadshikistan und Usbekistan)
aus. Im selben Jahr verbrachte man die
Krim- und Kaukasusdeutschen nach Mittel­
asien, vor allem in die Wüstengebiete Ka­
sachstans. Wir werden nie erfahren, wieviel
Deutsche bei dieser Umsiedlung ums Leben
kamen. Nur die Deutschen zwischen Dnjepr
und Dnjestr blieben zum größten Teil von
diesem Schicksal verschont. Dann aber kam
der Rückzug der deutschen Armeen. jetzt
begann eine allgemeine Fluchtbewegung in
westliche Richtung. In langen Trecks mit
Vieh und Inventar zogen die Menschen durch
die weiten Steppen, auf oft unwegsamcn
Straßen, bei Regen und im Winter bei Frost
und Stürmen, westwärts. Es gab große Ver­
luste durch Krankheiten und Kriegshandlun­
gen. Alle diese Rußlanddeutschen kamen zu­
erst in den Warthegau, dann nachDeutschland. 128
Geordneter ging es bei den Trecks zu, die die deutschen Dienststellen organisierten. Dies
galt vor allem für die Deutschen im Raum zwischen Dnjepr und Dnjestr. Sie bildeten
einzelne Züge unter strenger Führung. Die Wagenlenker mußten einen vorgeschriebenen
Abstand halten, bei einem Unglücksfall den Verunglückten Hilfe leisten. Für Mensch und
Tier war gesorgt, so daß niemand hungern mußte. Wer rechtzeitig aus der Gefahrenzone
kam, erreichte das erstrebte Ziel. Bei vielen aber kam der Aufbruch so überraschend, oder
aber geriet der Treck in Regen- oder Schneestürme, so daß das Vorwärtskommen immer
schwieriger wurde; die anrückenden Sowjettruppen holten manche Trecks ein. Dann gab
es große Verluste durch Flieger- und Panzerangrif’fe. Wo es irgendwie möglich war, wur­
den Eisenbahntransporte, besonders für Kranke und Alte und Kinder, zusammengestellt.

EUGENFELDER
TRECK

HOF FNUNGS­
TALER
TRECK

129
Zwischen 1929 und 1940 vertrieben
die Sowjets Zehntausende von Ruß­
landdeutschen aus sozialen und politi­
schen Gründen aus ihren Heimatdör­
fern und verbannten sie nach Sibirien
oder in die nördlichen eiskalten Zonen
des europäischen und asiatischen Ruß—
land. Dort mußten sie schwerste Arbeit
leisten unter menschenunwürdigen Ver—
hältnissen bei Hunger und Frost in
den Wäldern, Kohlenbergwerken und
den neuen Industriegebieten. Beson—
ders schwer hatten es die Frauen, da
sie für sie ungewohnte Arbeiten lei­
sten mußten, die über ihre Krä9te gin­
gen. Zu den damals Verbannten ka­
men rund 200000 Rußlanddeutsche,
die 1945 aus Deutschland von. den
Sowjets zurücktransportiert wurden.
Erst die Amnestie von 1955 brachte
eine Wende dieses schweren Schick­
sals. Die'meisten wurden aus den La­
gern entlassen und erhielten eine ge—
wisse Freizügigkeit bezüglich des
Wohnortes und des Arbeitsplatzes.
Bald waren sie auch als'tüchtige Ar—
beitskräfle gesucht, ob das im Kolchos
oder auf dem Bau war, als Traktori—
sten oder als Kraftfahrer. Wo es
irgendwie geht, versuchen die Ruß­
landdeutschen — wenn auch nicht in
»..‚in,; %;„‚_„u H!
geschlossenen deutschen Siedlungen,
das wird ihnen unmöglich gemacht —‚
sich in einigen Straßenzügen anzusie—
mm“! ‘ deln. In Briefen berichten sie häufig,
daß sie sich ein Haus gebaut haben.

OBEN: DEUTSCHE
SIEDLUNG IN
TELEKI (ALMA-ATA)

MITTE: HAUS AUS


SCHILF, HOLZ UND
LEHM IN KOSCH-KUL]
1957

I-IOLZHAUS EINES
DEUTSCHEN IN
MOLOTOWSK 1959
Die Sowjetregierung hat sich zum Ziel
gesetzt, neue Gebiete, vor allem in
Mittelasien, Kasachstan und Tadshiki­
stan, zu erschließen und die Getreide­
anbauflächen zu vergrößern. Auch will
sie die Vieh- und Schweinezucht för—
dern. Dazu aber braucht man in den
dünn besiedelten Gebieten mit einer bis­
her nomadisierenden Bevölkerung neue,
tüchtige Arbeitskräfle. Von dieser Sicht
wird man verstehen, warum der Krieg
ein willkommener Anlaß war, die
tüchtigen Deutschen, die sich schon
einmal im Wolga- und Schwarzmeer—
gebiet bewährt haben, hierher zu ver­
pflanzen. 800 000 Rußlanddeutsche
leben heute in Mittelasien, in Kasach­
stan. Die deutschsprachige Zeitung
„Neues Leben“ hebt in jeder Nummer
Deutsche als Helden der Arbeit her­
vor. Bei der Erschließung und Bewäs
serung riesiger Sandgebiete warer
Deut$che maßgebend beteiligt. Heutc
sind die ehemaligen Sandwüsten mi
Baumwollfeldern bedeckt. Die Kanal­
bauten, die unter den schwierigsten
klimatischen Verhältnissen durchge­
führt Wurden, forderten unter den
Deutschen ihren Tribut an menschli—
chem Leben. Die mohammedanischen
Kasachen und Tadshiken arbeiten nicht
im Schweinestall. Da sind dann die
Deutschen, vor allem Frauen, willkom­
men. Hier sind die Deutschen haupt­
sächlich in der Landwirtschafl (Kol—
chosen) und im Baugewerbe beschäf’cigt.
OBEN: AUF EINER
HOCHGEBIRGSWEIDE
IN KASACHSTAN

MITTE: DEUTSCHE
MÄDCHEN IN KASACHSTAN

UMBRUCH VON NEULAND


IN KASACI-ISTAN
Die Verhältnisse sind gegenüber den frühe­
ren Siedlungsgebieten an der Wolga und am
Schwarzen Meer in jeder Hinsicht grund­
legend anders geworden. Hatte man dort
immer die weite, ebene Steppe vor sich, so
sieht man hier in manchen Gegenden die
hohen Schneeberge. Waren es dort die Kühe
und Pferde, so sieht man hier die großen
Schafherden. Hatte man dort nur Umgang
mit dem russischen oder ukrainischen Volk,
so sind es jet2t die Kasachen, Tadshiken und
Kirgisen, neben den Russen und Ukrainern.
War dort die Arbeit so aufgeteilt, daß die
Frau immer nur die ihr gemäße Arbeit ver­
richten mußte, so muß sie jetzt alles tun,
was auch der Mann macht: sie ist im Bau­
gewerbe tätig, lenkt das Auto und den Trak­
tor auf dem Feld. Es bleibt ihr wenig Zeit,
sich dem Familienleben und den Kindern zu
widmen. Allerdings steht ihr auch der Weg
offen zu höheren Berufen: Ingenieur, Lehre—
rin, Künstlerin . . . Meisr arbeiten die Deut­
schen mit anderen Völkern in Kolchosen und
Sowchosen. Es gibt auch solche Kolchosen,
wo die Deutschen die Mehrheit bilden.
Ein Großteil der rußlanddeutschen Familien
ist auch heute noch auseinandergerissen: ein
Teil lebt in Deutschland oder auch in Über­
see, der andere in der Sowjetunion. Trotz der
grundsätzlichen Zusage, die Familienzusam­
menführung zu fördern, ist es in der Praxis
außerordentlich schwierig, die Ausreise­
genehmigung aus der Sowjetunion zu erhal­
ten. Um so größer ist dann die Freude. wenn
es doch dem einen oder anderen gelingt, zu
seinen Angehörigen in Deutschland zu rei­
sen. Nachbarn und Freunde begleiten ihn
dann mit den besten Wünschen, aber auch
mit tiefem Schmerz darüber, daß sie nicht
auch dabei sind. Das Zusammengehörigkeits­
gefühl war bei den Rußlanddeutschen immer
groß, und so ist es auch heute noch. Jetzt, da
man sich wieder frei bewegen kann, wird
jeder Urlaub und jeder freie Tag zu gegen­
seitigen Besuchen benützt. Viel gibt es da
über die zurückliegenden schweren Jahre zu
berichten. Ein besonderer Anlaß für solche
Treffen sind jet2t noch mehr als früher die
Hochzeiten. Hier treffen sich nicht nur, die
Verwandten, sondern ganze Dorfgemein­
schaf’cen. Man sd1eut nicht die lange Reise
vom europäischen Norden bis Mittelasien,
das sind oft 3000 km, um solch eine Hoch­
zeit und vor allem die damit verbundenen
Begegnungen nicht zu versäumen. Die alten
Überlieferungen und Hochzeitsbräuche ha­
ben sich über die schweren Jahre erhalten.
Selten gibt es eine kirchliche Trauung, meist ZELINOGRAD
muß es bei einer standesamtlichen bleiben. EIN HEIMKEHRER
Hier werden die letzten Ersparnisse geopfert, FÄHRT NACH
um die Gäste großzügig bewirten zu können. DEUTSCHLAND
HOCHZEIT IN
SIBIRIEN 1957

HOCHZEIT IM
URAL 1960

HOCHZEIT IN
_KASACHSTAN 1962

135
GOTTESDIENST IM FREIEN
IN MITTELASIEN 1949

PREDIGER UND KIRCI-IEN­


CHOR IN DUSCHANBE

NACH DEM GOTTESDIENST


IN UFA (URAL)
Theoretisch besteht in der Sowjetunion Religionsfreiheit. In der Praxis gibt es aber für
die religiöse Betätigung die größten Schwierigkeiten. Die Schule kennt keinen Religions—
unterricht, im Gegenteil, sie nimmt planmäßig bei jeder Gelegenheit gegen Gott und
Religion Stellung. Der Jugend ist bis zum 18. Lebensjahr der Besuch von Gottesdiensten
untersagt. Für die Einhaltung dieser Bestimmung ist der Veranstalter von Gottesdiensten
verantwortlich. Er muß schon deshalb darauf ad1ten, daß keine Jugendlichen teilnehmen,
da er sonst den Gottesdienst auch für die Erwachsenen gefährdet. Laien, meist ältere
Männer, seltener Frauen, halten die Gottesdienste. Da es keine Gotteshäuser gibt, ver­
sammelt man sich abwechselnd in den Häusern. Aber dazu gehört Mut und Bekenntnis­
treue. Mancher, der sein Haus zur Verfügung stellte, hat Nachteile im Beruf in Kauf
nehmen müssen. Vielfach fehlen Gesangbücher. Man schreibt dann die Lieder ab oder
zerlegt die wenigen Gesangbücher und tauscht die Blätter aus oder die Gemeinde ver—
sammelt sich vor Beginn des Gottesdienstes und übt die Lieder ein. Da kein Musikinstru­
ment vorhanden ist, muß immer jemand vorsingen. In der Stadt D. hat man sich so ge­
holfen, daß an ein Haus zwei Wände angebaut und mit einem Dach versehen wurden.
Die dritte Seite mußte offen bleiben, da es sonst als Gotteshaus gegolten hätte — und der
Bau wäre verboten worden. Hier bestand ein kleiner Kirchenchor, der immer die Feiern
verschönerte. In den Sommermonaten versammelt man sich 01°Cim Freien oder auf dem
Friedhof. Da während der Arbeitszeit Weihnachtsfeiern verboten sind, versammelt sich
die Gemeinde in den späten Abendstunden. Weihnachten ohne Kinder! Erwachsene sagen
Weihnachtsgedichte auf und singen Weihnachtslieder. Nur in Zelinograd, wo der einzige
evangelische Pfarrer in der Sowjetunion noch tätig ist, gibt es ein bescheidenes Bethaus.

BETHAUS-INNENANSICHT
IN ZELINOGRAD

BETHAUS UND PASTORAT


IN ZELINOGRAD

137
Was die Versorgung mit Geistlichen anbe­
langt, so haben es die katholischen Glaubens­
genossen insofern besser, als es noch eine An­
zahl von litauischen und polnischen Geist­
lichen gibt, die Gottesdienste abhalten und
vor allem die Trauungen, Taufen und Be­
erdigungen vornehmen und die hl. Kommu­
nion austeilen. In der Stalinzeit mußten auch
sie lange ohne kirchliche Betreuung sein. Jetzt
aber drängen viele Eltern darauf, daß ihre
Kinder sich noch als Erwachsene taufen, fir­
men und trauen lassen. Andererseits ist nicht
zu verkennen, daß sich auch unter den Deut­
schen beider Konfessionen Parteifunktionäre
befinden, die sich in den Dienst der anti­
religiösen Propaganda stellen. Die in deut—
scher Sprache erscheinende Zeitung „Neues
Leben“ weiß immer wieder über solche Fälle
zu berichten. So gibt es sogar eine „Sowjet­
deutsche“ Sektion im Allrussischen SchriPc­
stellerverband, deren Mitglieder sich als Pro­
pagandisten im Rahmen der „Gesellschaf’cfür
die Verbreitung politischer und wissenschaft­
licher Erkenntnisse“ zur Verfügung stellen,
vielleicht stellen müssen. Hier erwachsen
ERSTE HL. KOMMUNION dem Elternhaus verantwortungsvolle Auf­
IN KRASNOJARSK 1956 gaben, die häufig große Opfer erfordern.
KONFIRMATIOI
IN ZELINOGRA
1962

WEIHNACHTS­
GOTTESDIENST
IN ZELINOGRA
1962

Nur einen kirchlichen Mittelpunkt im Riesenraum Sibiriens und Mittelasiens gibt es: die
Stadt Zelinograd. Dort waltet der evangelische Pfarrer Bachmann seines Amtes in einer
bescheidenen „Kirche“, besser gesagt in einem Bethaus, denn da gibt es keinen Kirchturm
und keine Glocken, die zum Gottesdienst rufen. Die Gläubigen kommen aber von weit
her, einem inneren Drang und einem religiösen Bedürfnis folgend. Eine besonders ein­
drucksvolle Feier ist die Konfirmation. Der Andrang ist oft so groß, daß der Pfarrer bis
zu acht Stunden Dienst tun muß. Da kommen Eltern mit schon erwachsenen Kindern, die
sich zusammen konfirmieren oder taufen lassen. Dieser mutige Pfarrer steht auf seinem
Posten, trotz der Pressehetze gegen ihn, getragen von dem Vertrauen seiner Gemeinde­
mitglieder. Und dann kommt das schönste Fest des Jahres — das Weihnachtsfest. Den
Deutschen kommt der Umstand zugute, daß die Russen zu Neujahr einen Baum für den
„Djet moros“ („Väterchen Frost“) aufstellen. Es gibt dann auf dem Markt Bäume zu kau­
139 fen. Diese Bäume haben bei den Deutsd1en einen anderen Sinn: Es sind Weihnachtsbäume!
Nachtrag fiir die Zeit 1960—1980

In dieser Zeitspanne sind einige Veränderungen vor sich gegangen und neue
Tatsachen bekannt geworden, die in aller Kürze in dieser fünften Auflage des
Bildbandes nachgetragen werden sollen.
Aus dem kirchlichen Leben ist zu erwähnen, daß der letzte evangelische Pfarrer
(Bachmann), der in Zelinograd amtierte, aus Gesundheits- und Altersgründen 1972
in die Bundesrepublik ausgewandert ist und heute in Korntal bei Stuttgart lebt. Es
gibt also heute keinen einzigen evang. Pfarrer mehr in den Hauptsiedlungsgebieten
Nord- und Mittelasiens. Dasselbe gilt für katholische Priester. Nach dem Gesetz
dürfen nur registrierte Gemeinden sich zu Gottesdiensten versammeln. Es gibt in
dem Riesengebiet nur etwa 17 registrierte Gemeinden. Die große Mehrheit lehnt es
ab, sich registrieren zu lassen; sie wollen ihr religiöses Leben in voller Freiheit
ausüben. So finden Versammlungen im Freien, auf den Friedhöfen, zumeist aber in
Privathäusern in kleinen Gruppen statt. Die Gottesdienste werden von Laienpredi—
gern gehalten, meist von Männern, aber auch von Frauen. Man liest fertiggedruckte
Predigteri oder aus der Bibel. Dabei wird sehr viel gesungen. Da kommt es immer
wieder vor, daß diejenigen, die die Gottesdienste halten, verhaftet und zu mehreren
jahren verbannt werden.
Was das Schulwesenanbelangt, so gehen die rußlanddeutschen Kinder durchweg in
Schulen, wo die Unterrichtssprache die Staatssprache ist: russisch, tadshikisch,
kirgisisch . . . Nur als Fach wird die deutsche Sprache unterrichtet neben der
englischen. Wie man aber in der deutschsprachigen Zeitung „Neues Leben“ immer
wieder liest, sehr unvollkommen. Bald fehlt es an Lehrbüchern, bald an geeigneten
Lehrern, oft aber am guten Willen des Schulleiters. Entscheidend für die Erhaltung
der deutschen Sprache ist die Umgangssprache im praktischen Leben: auf der
Straße, als Kleinkinder, in der Schule, im ]ugendverein, im Beruf. Da die Eltern
beide den ganzen Tag auf der Arbeit sind, sprechen die Kleinkinder vor allem auf
der Straße mit ihren Spielkameraden durchweg nur russisch. Das setzt sich so fort,
im ]ugendverein, in der Schule, im Beruf. . . Dazu kommt, daß die deutschen
Kinder sich nicht als solche erkennen lassen wollen, weil sie immer wieder auch
heute noch als „Fritzen“, „Faschisten“ und „I-Iitleristen“ beschimpft werden. Die
sprachliche Russifizierung hängt auch damit zusammen, daß eine zunehmende
Abwanderung vom Land in die Städte stattfindet. »
Die Tabelle zeigt eindrucksvoll, daß die sprachliche Russif1zierung bedenklich
vorwärts schreitet. Dies trifft z. T. auch für die volkliche Russifizierung zu. In dem
Maße, wie die Abwanderung vom Land in die Städte stattfindet, nimmt naturge­
mäß auch die Zahl der Mischehen zu. Nachdem die Deutschen 1941 alle nach Asien
verbannt und die ehemaligen geschlossenen deutschen Siedlungen mit anderen 140
Folgende Tabelle verdeutlicht das anschaulich:

Wieviel % geben noch


Zahl der Rußlanddeutschen deutsch als Es leben auf Es leben in
in den jahren ihre Muttersprache an dem Land % den Städten %

1914 2 416 000* 98,4 95,6 4,4


1926 1 238 539** 94,9 84,6 15,4
1959 1 615 000 75,0 ‘ 60,7 39,3
1969 1 846 000 66,8 54,6 45,4
1979 1 936 000 57,4 ? ?

* Mit Baltikum, russ. Polen, Wolhynien und Bessarabien, das von 1918—1940zu Rumänien gehörte.
** Ohne die obengenannten Gebiete.

Völkerschaften besiedelt wurden, sind diese Siedlungen alle umbenannt worden.


Aus dem ehemaligen Worms wurde Winogradnoje, aus Mannheim-Kamenka, aus
Baden—Otscheretowka, aus Alexanderhilf-Dobro—Alexandrowka, aus Balzer—Kras—
noarrneisk, aus Paris—WeselyjKut usw.
Wenn so viele Rußlanddeutsche aus der SU auswandern wollen, so sind es nicht
wirtschaftliche, sondern kulturelle und religiöse Gründe. „Wir wollen in die
Heimat unserer Vorfahren, wir wollen Deutsche bleiben, wir wollen in Freiheit
auch in der Ausübung unserer Religion leben, wir wollen, daß unsere Kinder
deutsch bleiben“, so lesen wir immer wieder in den Briefen.
1955 hat der damalige Bundeskanzler Adenauer in Moskau erreicht, daß die
Kriegsgefangenen und Reichsdeutschen auswandern durften, die Rußlanddeutschen
aber nur im Rahmen der Familienzusammenführung. Mit dieser Frage wurden die
beiden Rotkreuze beauftragt. Angelaufen ist die Auswanderung erst 1959. Zuerst
waren es die Kriegsgefangenen und Reichsdeutschen. Rußlanddeutsche sind bis
1966 nur in geringer Zahl ausgewandert, unter 100 im jahr. Dann hat sich auch die
Auswanderung der Rußlanddeutschen wesentlich erhöht:
a) Nach der Vereinbarung der beiden Rotkreuze in Wien 1966 —
b) Nach dem Vertrag der Bundesregierung mit der Sowjetunion im jahr 1970 —
c) Nach dem Breschnjewbesuch in Bonn im jahr 1973.
Den Höhepunkt erreichte die Zahl im jahr 1976 mit 9652 Heimkehrern. Insgesamt
sind von 1959 bis Mitte 1980 rd. 60 200 Rußlanddeutsche in die Bundesrepublik
heirngekehrt. Nähere Einzelheiten sind der beigegebenen graphischen Darstellung
zu entnehmen.

Die Zahl und heutigen Wohngebiete der Rußlanddeutschen


Auf Grund der Volkszählung 1969 konnten die genauen Zahlen für die einzelnen
141 Republiken, Gebiete (Oblastj) und Kreise (Rayone) ermittelt werden. Bei Kriegs­
ausbruch 1941 wurden rd. 1,5 Millionen Rußlanddeutsche aus den über 3.000
deutschen Siedlungen im europäischen Rußland ausgesiedelt, zum kleinen Teil in
den Norden der europ. SU in der ASSR Komi, die große Mehrheit aber nach
(Nord—)Sibirien—und vor allem Mittelasien. Hier wurden sie nicht mehr in
geschlossenen deutschen Dörfern angesiedelt, sondern unter fremde Völkerschaften
verteilt. Die über 500 deutschen Siedlungen, die in Sibirien seit 1876 bestehen,
bestehen auch heute noch, wenn auch mit fremden Völkern z. T. unterwandert.
Nach der Amnestie 1955 und Rehabilitierung 1964 begann eine wahre Völkerwan—
derung der Rußlanddeutschen auf der Suche der nach der Umsiedlung 1941 vielfach
zerrissenen Familien. Auch setzte eine Abwanderung vom kalten Norden in den
warmen Süden ein. Die folgende Tabelle, die sich auf dasjahr 1969bezieht, gibt uns
nun genaue Auskunft, wo die Rußlanddeutschen in der weiten Sowjetunion leben.

Es lebten 1969 in:


RSFSR* 761 888, d.s. 41,2% des gesamten Rußlanddeutschtums
SSR Kasachstan 858 077 d.s. 46,5% des gesamten Rußlanddeutschtums
SSR Kirgisien 89 834 d.s. 4,8% des gesamten Rußlanddeutschtums
SSR Tadshikistan 37 712 d.s. 2,0% des gesamten Rußlanddeutschtums
Übrige Republiken
und in der Zerstreuung 98 806 d.s. 5,4% des gesamten Rußlanddeutschtums

1 846 317 100,0%

Im jahre 1979 betrug die Zahl der Rußlanddeutschen 1 936 000, um 89 683 erhöht
oder um 4,6%.
Die weiteren Zahlen der Rußlanddeutschen in den einzelnen Gebieten (Oblastj)
Kreisen (Rayone) und z. T. einzelnen Städten bzw. Orten, sind von der beigegebe­
nen Karte abzulesen.

* Dazu gehört das ganze europäische Rußland und Nordasicn (Sibirien) bis an den Ozean und im SO an
die mongolische Grenze 142
INHALT

VORWORT

DIE RUSSLANDDEUTSCHEN IN VERGANGENHEIT UND GEGENWART

Das städtische Rußlanddeutschtum


Das ländlich-bäuerli-cheRußlanddeutschtum
Die Auswanderung 11

Wolhyniendeutsche 14

Stammesmäßige Zusammensetzung der einzelnen Siedlungsgebiete und Siedlungen 15

Konfessionelle Zusammensetzung 20
Dorfanlagen und Hausformen 21

Schwere Anfänge — wirtschaftliche Blüte 23

Gründung von Tod1terkolonien 26


Kirche und Schule 27
Etappen des Niedergangs 28

Schwere Jahre (1914 bis 1941) 31

Der zweite Weltkrieg und seine Folgen für das Rußlanddeutschtum 34

Jahre quälender Ungewißheit 35


Wende im Leben der Rußlanddeutschen 36

Heutige Wohngebiete und Zahl der Deutschen in der Sowjetunion 36

Die heutige wirtschaftliche und kulturelle Lage 38

Rückblid< und Ausblick 40

Rehabilitierung der Wolgadeutschen 41

WEITES LAND UND VIELE DÖRFER 42

HAUS UND HOF 56

DER MENSCH: FLEISSIG UND BESCHEIDEN 68

DIE WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG 82

DIE KIRCHEN UND SCHULEN 98

AUF DER SUCHE NACH NEUER HEIMAT 122

185 Bilder: Dr. Karl Stumpp und Landsmannschafl der Deutschen aus Rußland, Tübingen-Stutt—
gart - 108. DAI, Stuttgart - 67. Willy Pragher, Freiburg - 5, Seite: 55, 57, 58, 66, 94. Sammlung
Prof. Folberth, Salzburg -2, Seite: 70 unten, 84 unten. Hans Wagner, Vlotho - 2, Seite: 59, 69.
Korbinian Lechner, Bad Aibling - 1, Seite: 87 oben. — Landkarten und graphische Darstellungen:
Erarbeitet von Dr. Karl Stumpp, Tübingen, gezeichnet von Franz Roth, Salzburg-Elsbethen.
Abkürzungen bzw.Erläuterungenz
RSFSR Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepubllk
SSR Sozialistische Sowjetrepublik
ASSR Autonome Sozialistische Sowjetrepublik /
n—M—«l Staatsgrenzen „ ’
_._._. Grenzen der Republiken //%D
______ Oblast]-(Gebiets-)Grenzen - „ „
Zahl der Deutschen in den Republiken u. “
Oblastjen (Gebieten), meist in der unteren # .,»
red1te'n Ecke. % °/D
Fortsetzung unten

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Ksyl-Ordinskaja \\­
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—o.« ‚ _‚ ;'_
80 160 240 323 400km 4> 7°"“4% o ‘— ‚. ”"
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Alma-A _4'000 : Hauptstadte " '7Y ‚P "3% \\.00
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Namen der Stadt gibt die Zahl der $\ ‚" \ \. , ‘ \°fg \\ ' “"? G /f4-éösyle';‚„
Deutschen in dieser Stadt an. ‚’ 9q;_\‚ °P: _ ;: / . 9 ‚.--\ k ‚\ !‚k-ek
& \. % ‚«_40 . „ \. %..>‚ s 3 %‚ 4 J.‚„s.
Die Oblastj (Gebiet)wird meist nadw ‚( \\ "NÄ'- \.r‚.—w- / S ' . »——\-
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der Hauptstadtbenannt. {' \ j ' \ (’ O°ooo ' ' d" ' ' ” N%°'.Wol
z.B.: _ (* \__3'\„.4.‚.) \ ;.>% ‚ \ .‚._.a)o -/(432.7
M = Kustanaiskaja
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Tomsk = Tomskaja oblastj usw. A F
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H [ N D
+= Inder Zerstreuung lebendefi'ußlanddeutsche G H A N [ S
T A N1"j ag,???" @ Röm.Zahle
Fedorawka, Url/uf/ub= Rayons-(Kreisstadte). Die Zahlen in Klammer unter dem {' 1 weisen‘au
(17.037)
_ (4.702) Ort geben die Zahlen
Rayon(Gebiet) an, also der Deutschen
nidwt im betr.od.
in der Rayons- ganzen
Kreisstadt. '€*" ° - stehenden
hin. _

| =je 10.000Deutsche,z.B.Tsd1imkent_"!!! ‚unter 10000 1 ‘


7 72/°
Die Zahlen über den Rechtecken“geben an, wieviel% in den entspredtenden Republiken und Gebieten noch Deutsdw
ihre Mutterspradwe angeben. (OD'C‘SÜ)
1)Die Zahlen geben an‚wieviel Prozent des gesamten Rußlanddeutschtums in den einzelnen 'Republiken leben
Karteder deutschen Siedlun sgebiete in der
Sowjetunion nach derVolksz' [un 1959für die
v
ayone(Kreise)mit zahlreichen RUBanddeut—
‚LR 5‘°\ ‘? schen und 1969 für die
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Bearb. v.Dr.K.Stumpp. (Gebiete).
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