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Ulrich Albrecht · Randolph Nikutta

Die sowjetische Rüstungsindustrie


Ulrich Albrecht · Randolph Nikutta

Die sowjetische
Rüstungsindustrie

Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH


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Foto: "Man beating sword into plowshave"- Geschenk der UdSSR für die UNO, New York

ISBN 978-3-663-20103-8 ISBN 978-3-663-20464-0 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-663-20464-0
Inhalt

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . 9
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1. Abhängigkeit von ausländischer Technologie? . . . . . . 25


1.1 Die Luftfahrtindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
1.2 Sowjetische Panzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
1.3 Giftgas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
1.4 Raketen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
1.5 Ergebnisse . . . . . . . 83

2. Die sowjetische Bombe 98


Die Entwicklung der ersten Nuklearwaffe in der UdSSR . . . 98
2.1 Die ,,Laborphase" des Bombenprojekts. . . . . . . . . . . . . . . 100
2.2 Der NKWD übernimmt das Bombenprojekt . . . . . . . . . . . . . 105
2.3 Die deutschen Atomforscher in der UdSSR . . . . . . . . . . . . . 109
2.4 Der sowjetische Kampf um die Bombentechnologie . . . . . . . . . 112
2.5 Technologietransfer aus dem Westen? . . . . . . . . . . . . . . . . 117
2.6 Der letzte Schritt zur Bombe . 120

3. Exkurs: Die Rolle Stalins . . 122

4. Die Beziehunge"J. zwischen Partei und Rüstungsindustrie . 131


4.1 Die Rüstungsindustrie und Organisation der Entscheidungs-
strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
4 .1.1 Die Ministerien der rüstungsindustriellen Gruppe . . . . . . . . . . 13 3
4.1.2 Die Militärisch-Industrielle Kommission . . . . . . . . . . . . . . 141
4.1.3 GOSPLAN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
4.1.4 Die Abteilung Rüstungsindustrie des ZK-Sekretariats . . . . . . . . 152
4.1.5 Der Verteidigungsrat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
4.1.6 Das Politbüro . . . . . • . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
4.2 Der Einfluß der sowjetischen Rüstungsindustrie als
bürokratische Interessengruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
4.2.1 Akteure, Interessen und Einflußmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . 173
4.2.2 Das rüstungsindustrielle Ministerium . . . . . . . . . . . . . . . . 175
4.2.3 Die Waffenkonstrukteure. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
4.2.4 Die Manager von Rüstungsbetrieben . . . . . . . . . . . . . . . . 208
4.2.5 Die Ministerien der Rüstungsindustrie und das Militär . . . . . . . . 212
4.2.6 Schlußfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
6 Inhalt

5. Rüstungswettlauf um ein Phantom: Der Bomber mit


Nuklearantrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
5.1 Ein sowjetisches Programm? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
5.2 Das amerikaDisehe Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
5.3 Endkampf um den Bomber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
5.4 Schlußfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

6. Die Rüstungsproduktion der kleineren Warschauer-Pakt-Staaten


und ihr Bezug auf die sowjetische Rüstungsindustrie . . . . . . . 253

7. Einzelstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
7.1 Eine MiG im Westen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
7.2 Sowjetische Seekriegsrüstung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
7.3 Waffenexporte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

8. Theoretische Positionen zur Sowjetrüstung . . . . . . . . . . . . 281


8.1 Neuere Totalitarismuskonzepte . . . . . . . . . . . . . . 281
8.2 Die UdSSR als bürokratisches Herrschaftssystem . . . . . . . . . . 283
8.3 Theoreme von Interessengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
8.3.1 Der Interessengruppenansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
8.3.2 Mischansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
8.4 Ein militärisch-industrieller Komplex? . . . . . . . . . . . . . . . 297
8.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
8.6 Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306

9. Exkurs: Rüstungswirtschaft unter Gorbatschow heute-


ein Querschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

10. Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
A) Daten zur sowjetischen Rüstungsproduktion . . . . . . . . . . . . . . . 332
B) Die geographische Lage sowjetischer Rüstungsbetriebe . . . . . . . . . 349
C) Auswahlbibliographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
Abbildungsverzeichnis

Abb.1: Tupolews dreifacher Anlauf, den amerikanischen Bomber


B-29 zu kopieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Abb.2: Tupolews vorsichtiger Übergang zum Düsenbomber: Austausch
der beiden Sternmotoren (ASch-82) durch zwei britische Rolls-
Royce "Derwent" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
Abb.3: Sowjetische Kopien amerikanischer Sikorsky-Hubschrauber. 43
Abb.4: Die Rückführung des ersten Raketenjägers des MiG-Teams
auf deutsche Projekte . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Abb.5: Jakowlews vorsichtiger Übergang zum Düsenjäger: Austausch
des Kolbenmotors (Klimow WK-107) durch einen deutschen
Jumo004B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
Abb.6: Suchojs Kopie eines deutschen Düsenflugzeuges . . . . . . 63
Abb. 7: Der Weg zu Iljuschins erstem viermotorigen Düsenbomber
über die deutschen Vorgaben Ar-234 und He 343 . . . . . . . . 66
Abb. 8: Prinzipskizze (annähernd maßstäblich) der vom Gröttrup-Team
in der UdSSR entworfenen Kegelrakete "R-24" . . . . . . . . . 81
Abb.9: Entwürfe für den ersten einmotorigen (links) und den ersten
zweimotorigen Strahljäger von Jakowlew, Mikojan-Gurewitsch,
Suchoj und Lawotschkin . . . . . . . . . . . . . . . . 88
Abb.10: Neueres Beispiel von Kopierverhalten: Transporter mit
Höchstauftriebshilfen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
Abb. 11: Modellzeichnung des US-Bombers Northrop B-2 . . . 222
Abb. 12: Sowjetische Wahrnehmung eines US-Flugzeuges mit
Nuklearantrieb, 1984 . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
Abb. 13: Prinzipienskizze eines geschlossenen Kreislaufes für einen
nuklearen Flugzeugmotor . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
Abb. 14: Sowjetische Darstellung eines Flugmotors mit Kernreaktor
(offener Kreislauf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
Abb. 15: Amerikanische Darstellung eines Flugmotors mit Kernreaktor
(offener Kreislauf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
Abb. 16: Amerikanische Fehlwahrnehmung eines sowjetischen nuklear
angetriebenen Bombers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
8 Abbildungsverzeichnis

Abb. 17: Amerikanische Nuklearflugmotoren im Idaho National


Engineering Laboratory, Idaho Falls, Idaho • . . • . . . 245
Abb. 18: Ein polnisches Kampfflugzeug im Vergleich . . . . . . . . . . . 260
Abb. 19: Frühere Kartenfälschungen in der UdSSR als Beispiel für
Geheimhaltung . . . . . . . . . . . . · . . . . . . . . . . . . . . 327
Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Transfers von Luftfahrttechnologie in die UdSSR . . 27


Tabelle 2: US-Flugzeugtransfers in die UdSSR im 2.Weltkrieg. 37
Tabelle 3: Nachbauten/Adaptionen ausländischer Flugmotoren . 45
Tabelle4: Konzept der Akquisition des Düsenantriebes im
sowjetischen Jägerbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . ·. . 87
Tabelle 5: Organisatorische Entwicklung der Ministerien der
sowjetischen Rüstungsindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . 134
Tabelle 6: Karriereverläufe von leitenden Rüstungsmanagern . . . . . . 181
Tabelle 7: Generationsfolgen in den Konstruktionsbüros der
Flugzeugindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
Tabelle 8: Militärausgaben der CSSR, DDR und Polen. . . . . . 254
Tabelle 9: Die Rüstungstransfers der kleineren Sowjetalliierten . . . . . 256
Tabelle 10: Das V-Boot-Bauprogramm von 1948 . . . . . . . . . . . . . 268
Tabelle 11: Schrittfolge im sowjetischen Trägerbau . . . . . . . . . . . . 271
Tabelle 12: Sowjetische Rüstungsaußenwirtschaft . . . . . . . . . . . . , 274
Abkürzungsverzeichnis

GAS Gosudarstwennyi aviatzionnyi sawod = Staatliches Flugzeugwerk


GOSPLAN Gosudarstwennyi planowyi komitet Soweta Ministrow SSSR =
Staatliches Plankomitee
GOSSNAB Gosudarstwennyi komitet Soweta Ministrow SSSR po matrialno-
technitscheskomu snabscheniju = Staatliches Komitee für die mate-
rial-technische Versorgung
I Istrebitel = Jäger
MIK Militärisch-Industrielle Kommission
NKWD Narodnyi kommissariat wnutrennyk del = Staatskommission für In-
nere Angelegenheiten
NPO Nautschno-proiswodstwennoje Obyedinenije = Wissenschaftlich-
Technische Vereinigung
OKB Opytno konstruktorskoje bjuro= Büro/Konstrukteursgruppe für ex-
perimentelle Konstruktion
OTR Operativ-taktische Rakete
R Raketa = Rakete
RD Reaktiwnyi Dwigatel =Reaktionstriebwerk, Düsentaotrieb
RSFSR Russische Solzailistische Föderative Sowjetrepublik
ZAGI Zentralnuij Aero-Gidrodinamitscheskij Institut = Zentrales Aero-
und Hydrodynamisches Institut
Einleitung

Die sowjetische Rüstung hält in der sogenannten Nachkriegszeit den Westen in


Atem. Doch während über die Politik der Kommunistischen Partei oder auch die
Strategie der Sowjets zahlreiche Schriften erschienen sind, fehlt es besonders im
deutschen Sprachraum an wissenschaftlich gestützten, detaillierteren Untersuchun-
gen über den materiellen Kern, die Industrie, die die Rüstung für die Supermacht
Sowjetunion erzeugt. In der Forschungsbibliographie von Meyer etwa, die dem po-
litisch-administrativen System sowie der theoretischen Diskussion über die UdSSR
gewidmet ist, tauchen unter 1091 Einträgen ganze sechs Titel über Rüstung auf-
und die sind zumeist den Beziehungen zwischen Partei und Streitkräften gewid-
met) Zwar gibt es genügend Vormeinungen über die sowjetische Rüstungsindu-
strie. Sie bekomme bevorzugt Materialien und die besten Gehirne, sie sei der größ-
te Sektor in der Volkswirtschaft der UdSSR. Solche Vormeinungen können sich
auf amtliche Darstellungen im Westen stützen. "Die Sowjets sind der Welt größter
Waffenhersteller," äußern die Regierungen der NATO-Staaten.2 In einem Bericht
der "Defense Intelligence Agency", dem Geheimdienst des US-Verteidigungsmini-
steriums, heißt es im Jahre 1983:
"Die sowjetische Rüstungsindustrie ist in den vergangenen 20 bis 25 Jahren beständig
und konsequent gewachsen. Ihre militärische-industrielle Basis ist, was die Anzahl der
Eimichtungen und den physischen Umfang anbelangt, bei weitem die größte der Welt
und produziert mehr Einzelsysteme in größeren Mengen als jede andere Nation. Ihr
physisches Wachstum und die Bereitstellung großer Mengen an finanziellen und
menschlichen Mitteln ist ihr dynamischster Aspekt. Die Produktionsstätten scheinen
ständig zu arbeiten und erwecken den Eindruck, daß, noch während alte Waffenpro-
granune auslaufen, bereits neue begonnen werden, ein System, das keine Ausfallzeiten
oder lange Perioden des Stillstands und der Inaktivität zuläßt. Der zyklische Prozeß, die
ständige Erweiterung der Einrichtungen und die hohen Produktionsraten halten die
Waffenindustrie in einem hohen Bereitschaftsstand, um allen Eventualitäten gewachsen
zu sein."3
Die Urheber solcher Analysen sind offenbar von dem Eindruck bedrängt, eine un-
ablässige Produktion hochmoderner Waffen und die beständige Ausweitung der in-
dustriellen Basis für ihre Herstellung sei eine dem sowjetischen Herrschaftssystem
innewohnende Eigenschaft. Sie gehen aus vom Bild einer durchmilitarisierten so-
wjetischen Volkswirtschaft, die schon in sogenannten Friedenszeiten als "Kriegs-
wirtschaft" fungiert. Diese sowjetische Kriegsindustrie stellt den sowjetischen
Führungseliten die technischen Mittel bereit, um das angebliche Streben nach stra-
tegischer Überlegenheit umzusetzen und die Fähigkeit zur globalen Machtaus-
übung zu verleihen. Nicht nur in ihrer auswärtigen Politik, in ihrem Verhalten in

1 Meyer 1977
2 NATO 1982, S. 42; vgl. auch SIPRI Yearbook 1987, S. 186
3 Dt. Übersetzung zitiert nach: Nikutta 1986, S. 7 (es handelt sich um eine Vorstudie zu
diesem Band).
12 Einleitung

Afghanistan oder Mittelamerika, sondern auch in der Rüstungswirtschaft, so das


Gesamtbild, sei die Sowjetunion aggressiv.
Auf der anderen Seite weiß man auch im Pentagon, daß neuere, modernere
Waffen komplizierter und kostspieliger ausfallen als die Vorgängermuster, daß
mithin weniger Einheiten hergestellt werden. In Mikrostudien wird dieser Effekt
auch für die UdSSR gesehen. In einer Sonderausgabe "Soviet Threat Assessment"
der in diesem Zusammenhang gewiß unverdächtigen US-Publikation "Aviation
Week & Space Technology" (des führenden Blattes im amerikanischen Luftfahrt-
sektor) heißt es:
"Die Produktionsraten für sowjetische taktische Kampfflugzeuge sind jedoch seit den
frühen achtziger Jahren als Ergebnis des zügigen Auslaufens von Jägerproduktionspro-
grammen einfacherer Bauweise, die in langen Serien gefertigt wurden, zurückgegan-
gen. Als Folge werden die Sowjets ältere Militärflugzeuge auf einer geringeren Basis
als ein zu eins ersetzen."4
Wie die nachstehenden Untersuchungen zeigen, handelt es sich um ein durchgän-
giges Phänomen: In der UdSSR werden heute im Durchschnitt weniger Tanks oder
U-Boote hergestellt als ein Jahrzehnt zuvor. Und in eben diesem Jahrzehnt läßt
sich aufgrunddes qualitativen Wettrüstens feststellen, daß damals schon weniger
schwere Waffen ins sowjetische Arsenal genommen wurden als weitere zehn Jahre
zuvor. Mit anderen Worten, die Aussagen über die bloß quantitative Ausweitung
sowjetischer Rüstung sind hinfallig, zu erörtern sind qualitative Merkmale. Das
stellt eine neue Art von Herausforderung für Sozialwissenschaftler dar, die sich mit
Rüstung beschäftigen. Bislang genügte es zu zählen, nunmehr soll gewertet werden
-nach welchen Maßstäben, mit welchen Hilfsmitteln? Diese Studie muß also auch
methodisch in der Untersuchung der sowjetischen Rüstung Neuland betreten.
Aufgrund der jahrelangen Schweigsamkeit der Sowjets besonders in Rüstungs-
dingen, ja einer Politik strikter Geheimhaltung, läßt sich ein solches Vorhaben
nicht leicht ausführen. Schon das Zarenreich war von einer übertriebenen Furcht
vor der Ausforschung durch Fremde beherrscht, auch beim Militär. Generalsekre-
tär Gorbatschow hat zwar weitgehende Änderungen besonders in bezug auf die
Geheimhaltung militärischer Einzelheiten angekündigt. Glasnost mag in diesem
Bereich am schwierigsten durchzusetzen sein und die Ergebnisse stehen hier zu-
meist noch aus. Es mag aber gut sein, daß derzeit ein Wendepunkt erreicht ist, und
daß die zahlreichen Details, welche etwa beim Vertrag über die Beseitigung von
Mittelstreckenraketen freigegeben wurden, die Vorboten von sehr viel mehr Infor-
mationen über die sowjetische Rüstung sind. Mit diesem Band soll nicht lediglich
Bilanz gezogen werden über das, was man neben und gegen das Pentagon an Infor-
mationen über die sowjetische Rüstungsindustrie und ihre Stellung in der Sowjet-
gesellschaft sagen kann. Aufgrund solcher Kenntnisse ist es auch möglich, den ein-
setzenden Wandel und die Reichweite dessen, was er erfassen kann, zu bestimmen.
Über die Geheimhaltung bis in die jüngste Vergangenheit macht man sich im
Westen kaum eine Vorstellung. Im amerikanischen Kongreß wurde 1982 festge-
stellt, daß sogar Mitglieder des höchsten Führungsorgans, des Politbüros, keine
Einzelheiten von Rüstungsprogrammen oder des Militärhaushaltes erfahren, wenn
sie nicht zugleich Mitglieder des Verteidigungsrates sind.5 Auch wird allgemein

4 Morocco 1988, S. 16
5 Andersen 1983, S. 53
Einleitung 13

angenommen, daß das Plenum des Politbüros kaum Vorschläge des Verteidigungs-
rates je zurückgewiesen hat. Im Militärbereich und in der Rüstung scheint es somit
über das Politbüro hinaus noch eine Art Überregierung zu geben, die in ihren Ei-
genschaften kennenzulernen ganz allgemein unsere Kenntnis des Sowjetsystems
bereichern muß.
"Auch in den sowjetischen Streitkräften ist die Umgestaltung in vollem Gan-
ge," stellte Michail Gorbatschow in seinem mittlerweile berühmten Bericht vor
dem ZK-Plenum am 27. Februar 1987 fest.6 Marschall Achromejew, derranghöch-
ste Soldat seines Landes, sekundierte und wiederholte diese Feststellung wörtlich
bei seinem Amerikabesuch im Juli 1988. Im Westen bleibt man größtenteils in be-
zog auf die Wirkungen der Perestrojka skeptisch, besonders mit Blick auf den Mi-
litärsektor. US-Verteidigungsminister Carlucci, gewiß kein unparteiischer Zeuge,
meinte nach einer Reise in die UdSSR:
,,Zweifelsohne versuchten die Sowjets, mit der Offenheit und dem ungehinderten Zu-
gang, von denen mein Besuch gekennzeichnet war, zu beweisen, daß Glasnost auch ins
sowjetische Militär Einzug hält ... Die Sowjetunion mag im Hinblick auf Reformen zö-
gernde Schritte unternehmen, aber im Umfang oder beim Einsatzkonzept ihres Militärs
ist immer noch keine nennenswerte Veränderung zu verzeichnen."7
Einzelne Analytiker meinen gar, die Streitkräfte und die sie tragende Industrie
seien von der perestrojka ausgenommen, sozusagen um einen Schutzschirm für
diese abzugeben.s Auch bleibt bedenklich, daß Gorbatschow in seinem Buch zur
Perestrojka auf den Rüstungsbereich kaum eingeht.9
Was läßt sich über Veränderungen, die das Projekt Perestrojka ja zeitigen soll,
im Rüstungswesen bislang ausmachen? Recktenwald und SchröderlO betonen in
einer aktuellen Durchsicht sowjetischer Texte vor allem drei Aspekte. Spätestens
seit der Plenartagung des ZK im Februar 1987 sei die Umgestaltung ein herausra-
gendes Thema in sowjetischen Militärzeitschriften geworden. Nun ist Propaganda
für Veränderungen wichtig- nur bleibt sie kein stichhaltiger Beweis dafür, daß
sich im Alltag der Offiziere und Soldaten oder in der Rüstungsindustrie tatsächlich
viel geändert hat. - Zweitens wird Perestrojka für die Truppe mit Parolen wie
"Verstärkte Gefechtsbereitschaft'', "Kampf dem Müßiggang" und ähnlichem über-
setzt. Da die Politoffiziere solche Slogans seit langem predigen, kann auch diese
möglicherweise neue Beweglichkeit als Nachweis für etwas Neues nicht gelten.
Drittens verweisen die beiden Autoren auf den neuen Rang der Kritik im sowjeti-
schen Militärbereich. Das ist tatsächlich für den Sowjetforscher neu: Die Streit-
kräfte, bestimmte Zustände bei der Truppe werden, auch und gerade in der Militär-
presse, offen kritisiert. So bemerkenswert dieser drastische Wandel bleibt - für
Veränderungen in der Rüstungspolitik selbst reicht er als Nachweis nicht aus.
Für den westlichen Beobachter eindrucksvoller ist das Abweichen von der bis-
lang vorherrschenden Geheimniskrämerei. Diese setzte bislang beim Militäretat
ein. Jahr für Jahr veröffentlichten die sowjetischen Behörden eine einzige Zahl als

6 Gorbatschow 1987, zit. nach der dt. Ausgabe durch Nowosti, Moskau (APN) 1987, S.
73
7 Carlucci 1988
8 Segbers 1988
9 Gorbatschow 1987
10 Recktenwald/Schröder 1987, S. A411-A419
14 Einleitung

Militärhaushalt, für 1987 werden 20,2 Milliarden Rubel angegeben. Diese Zahl
liegt unglaubhaft niedrig - umgerechnet entspricht sie den Militärausgaben der
Mittelmacht Bundesrepublik Auch wird die Zahl nicht aufgegliedert. "Sowjetische
Haushaltsangaben gehören zu den am wenigsten transparenten," stöhnt das schwe-
dische Friedensforschungsinstitut SIPRI in seinem Jahrbuch 1987.11 Glasnost
brachte hier Wandel: Vizeaußenminister Wladimir Petrowsky gab im Herbst 1987
erste Hinweise, was nicht unter diese 20 Milliarden Rubel an Militäraufwand fallt.
IMEMO, das bekannte Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen,
faßt diese Hinweise in seinem jüngsten Jahrbuch zusammen:
"Die Verteidigung kostet die Sowjetunion eine Menge. Die Zahlen zum Verteidigungs-
haushalt, die im Lande veröffentlicht werden (20,2 Milliarden Rubel für 1987) geben
an, was die Sowjetregierung für Dinge wie die Bezüge des aktiven Personals und Pen-
sionen ehemaliger Soldaten ausgibt, was die Auffüllung der Vorräte, Beihilfen für Be-
rufsqualiflkationen und so weiter kosten. Ausgaben für Forschung und Entwicklung
und die Beschaffung von Ausrüstung und Kampfgerät fmden sich unter anderen Kapi-
teln im Staatshaushalt.
Wenn die Sowjetunion eine umfassende Preisreform hinter sich hat, die für die näch-
sten zwei oder drei Jahre ansteht, wird es möglich sein, realistische Vergleiehe ihrer mi-
litärischen Gesamtaufwendungen mit denen anderer Länder vorzunehmen."l2
Verglichen mit dem Kenntnisstand bleiben solche Aussagen sensationell. Einzel-
heiten finden sich in den folgenden Kapiteln, etwa über die Höhe der sowjetischen
Waffenaus fuhr.
Der INF-Vertrag von Washington birgt weitere Sensationen: Er gibt präzise
Eigenbezeichnungen sowjetischer Rüstungsgüter. Die in der Auseinandersetzung
um die sogenannte NATO-Nachrüstung berühmt gewordene Sowjet-Rakete mit
dem West-Namen SS-20, so weiß man nunmehr, heißt eigentlich RSD-10. Photos
des nie gezeigten Objekts wurden bislang weder von den Sowjets noch von den
Amerikanern gezeigt - nunmehr gibt es sie vielfach. Anband des Vertrages läßt
sich ein ganzes Wörterbuch zusammenstellen, mit dem die NATO-Namen sowjeti-
scher Geschosse russiflziert werden können (SS-4 = R-12; SS-5 = R-14; SS-12 =
OTR-22 usf.), selbst für im Versuchsstadium befindliche Waffen (SSC-X-4 = RK-
55 zum Beispiel). Freimütig identifizierten die Sowjets wichtige Rüstungswerke:
Die Mittelstreckenrakete RSD-10 alias SS-20 wird in der Maschinenfabrik Wot-
kinsk in der Udmurtischen ASSR hergestellt, Kurzstreckenraketen OTR-23, wie
sie in der DDR stehen, kommen aus dem Werk für Schwermaschinenbau "W.I. Le-
nin" in Petropawlowsk. Für Versuchsflugkörper ist das Experimentalwerk der
"M.I. Kalinin Maschinenfabriken", eine Produktionsvereinigung, zuständig, usf.
Solche Details werden das Publikum rasch ermüden. Weitaus wichtiger als der
Informationsregen, mit dem sich die Sowjetotogen künftig auseinanderzusetzen
haben, ist diese neue Offenheit für die Sowjetgesellschaft selber. Die auch in der
sowjetischen Fachliteratur bis dato übliche Bezeichnung eigener Produkte mit
westlichen Codenamen, bei Raketen mit den geschichtsbelasteten Initialen "SS",
stellte ein höchstes Maß an innerer Unfreiheit dar. Wie in dem Kapitel über die er-

11 SIPRI Yearbook 1987, S. 128


12 Borisova/Kalyadin, 1988, S. 538. Die Prawda bestätigt dem Jahrbuch in einem Kom-
mentar, daß es ,,in keiner Weise in Bezug auf vergleichbare westliche Publikationen un-
terlegen ist, ziehtman die Breite der Informationen oder den Nachdruck der Recherche
in Betracht", Schukow 1988, S. 4.
Einleitung 15

ste sowjetische Kernwaffe geschildert, mußten im Westen nicht bekannte Entwick-


lungen mit verfremdenden Bezeichnungen angeführt werden (Uran hieß "Metall
Nr. 9", aus welchen Gründen auch immer, und alles, was mit Uran zu tun hatte, be-
kam diese Nummer, einschließlich des zuständigen Ministeriums). Dieser Entfrem-
dung, diesem Spuk will Glasnost offenkundig ein Ende bereiten. Die Emanzipation
des Menschen begann damit, folgt man der Bibel (Genesis 2), daß er den Dingen
Bezeichnungen gab. Der unscheinbare Schritt, Waffen mit den Namen zu benen-
nen, mit denen sie insgeheim bislang geführt wurden, stellt in der UdSSR von heu-
te, nimmt man die absurde Geheimnistuerei bis in die jüngsten Tage, einen ver-
~leichbar emanzipatorischen Schritt dar. Ein weiteres Anzeichen für tatsächliche
Anderungsabsichten: Urplötzlich ist in akademischen Kreisen und bei sowjetischen
Politikplanem ein Interesse an "Konversion", der Umstellung der Rüstungsindu-
strie auf andere Zwecke, ausgebrochen. Weitgehende Abrüstungsschritte würden
tatsächlich die Umsetzung des Ecksteins des sowjetischen Wirtschaftsgebäudes,
der Rüstungsindustrie, erfordern.l3
Auch die kritische Literatur, etwa aus dem Bereich der Friedensforschung, hat
bisher wenig zur genaueren Kenntnis des sowjetischen Rüstungsbereiches beige-
tragen. Zwar ist in den vergangeneo beiden Jahrzehnten ein fulminantes Aufleben
der Debatte über die Eigenarten des sowjetischen Herrschaftssystems zu beobach-
ten, und auch die Anwendung der Aussage, es gäbe einen Militär-Industrie-Kom-
plex, auf die Sowjetunion, hat deutlich zu theoretischen Auseinandersetzungen bei-
getragen. Trotz verdienstlicher einzelner Veröffentlichungen ist aber diese Diskus-
sion weitgehend abstrakt geblieben. Mit diesem Band wird, nach gründlichen em-
pirischen Studien zur sowjetischen Rüstung, am Schluß eine Bewertung versucht,
die auch die theoretische Frage nach der Eigenart des Rüstungselements im So-
wjetsystem, dessen möglichem Beitrag zur Rüstungssteigerung und Wettrüsten,
dessen Orientierungsabhängigkeit nach außen und ähnliche Fragen beantworten
soll.
Die Frage, wie nötig denn Hochrüstung für den Erhalt des Sowjetsystems sei,
läßt sich nur beantworten, wenn man die Beziehung zwischen Rüstung und Gesell-
schaftssystem in Teilfragen aufgliedert. So soll auf den folgenden Seiten intensiv
betrachtet werden, welche Führungsleistungen das politische System in bezog auf
die Rüstung erbracht hat, in welcher Weise die Rüstungsindustrie und vor allem
Konstruktionsbüros Impulse in die Rüstungsentwicklung gegeben haben, und wel-
che Wechselwirkungen sich verzeichnen lassen. Durch das Studium von Karriere-
mustern von Führungspersonal, durch den Vergleich des Qualifikationsniveaus
von Ingenieuren und Wissenschaftlern, die in der Rüstung oder anderen Sektoren
tätig sind, wird zugleich Verallgemeinerbares über das Sowjetsystem sichtbar. So
ist ein eher amüsanter Aspekt, daß innerhalb der ,,Nomenklatura", der Führungs-

13 Zu der neuen Priorität Konversion heißt es in dem erwähnten !MEMO-Jahrbuch 1987


(S. 537): "Was das Problem Militärhaushalt betrifft, würde die Sowjetunion es vorzie-
hen, die Mittel, die nunmehr in den unproduktiven Militärsektor gehen, so bald wie
möglich freizusetzen. Bei ihren Bemt!hungen, das weitaus umfassendere Problem zu lö-
sen, einen die gesamte Nation betreffenden Konversionsplan zu entwerfen, mißt die So-
wjetunion dem Studium der politischen, wirtschafdichen und technischen Aspekte der
Minderung der Militärausgaben große Bedeutung zu und ist bereit, mit ausländischen
Experten auf diesem Gebiet zusammenzuarbeiten." Besonders in der Zeitschrift Nowo-
je Wremja findet sich eine Anzahl von Beiträgen zur Konversionsproblematik.
16 Einleitung

klasse, in der Breschnew-Ära durchaus Söhne die Posten von Vätern erbten - im
parteipolitischen Bereich ein fast unbekanntes Muster.
Zu fragen wird besonders sein nach den Beziehungen zwischen Partei und Rü-
stung. Wird der große Rüstungsbereich mit eben denselben Mitteln und Methoden
unter Kontrolle gehalten wie die Sowjetgesellschaft sonst, oder welche Besonder-
heiten lassen sich feststellen? Wie ist die Rolle führender Parteigremien bei Ent-
scheidungen über Rüstungsprojekte zu bestimmen? Gilt die Rüstungsindustrie in
der Sicht der Parteiführung als Vorreiter allgemeinerer Entwicklungen im Sozialis-
mus, oder handelt es sich eher, trotz aller Größe, um einen Sonderbereich?
Wie bei allen Sowjetstudien ist neben der Partei der Staat in seiner wohl auch
hier sekundären Rolle zu betrachten. In welcher Weise ist der Staatsapparat organi-
siert, um Rüstung zu betreiben? Welchen Stellenwert haben Rüstungsprojekte, wie
verknüpft die Partei Staat und Wirtschaft in diesem Bereich? Welchen Einfluß ha-
ben Planinstitutionen, besonders Gosplan?
Als Kernfrage stellt sich regelmäßig heraus, wie der Rüstungsbereich, aber
über diesen hinaus das Gesamtsystem mit Anfragen an Modernisierung, an die
Einführung neuer Technologien zu Rande kommt. Durch das Wettrüsten ist kein
anderer Technologiebereich im Spektrum der sowjetischen Industrie so nachdrück-
lich auf Produktvergleiche verwiesen gewesen wie gerade die W affenindustrie,
und hier haben sich Bemühungen von Partei und Staat konzentriert, neue Lösungen
in einem bis heute anhaltenden aufholenden Wettlauf zu finden. Die Auffassung,
daß die Rüstung in der, wie es dort heißt, "wissenschaftlich-technischen Revolu-
tion", der Modernisierung, an der Spitze steht, ist weit verbreitet. So vergleicht
zum Beispiel Jürgen Kuczynski, Senior der DDR-Sozialwissenschaften, den so-
wjetischen Rüstungsstand mit dem allgemeinen Technologieniveau seines Landes.
Er schreibt in einem Grundsatzartikel über die "wissenschaftlich-technische Revo-
lution":
,,In unserer Deutschen Demokratischen Republik, wo sie (die wissenschaftlich-techni-
sche Revolution, U.A.) weiter fortgeschritten ist als in irgendeinem anderen sozialisti-
schen Land- mit Ausnahme der sowjetischen Rüstungsindustrie ..."14
Wie besonders die folgenden Einzelstudien ergeben, ist in der Tat eine zunehmen-
de Betonung der Qualität in der Rüstung zu verzeichnen. Alte Konstruktionsprinzi-
pien, Grundsätze über Massenfertigung werden abgelöst durch Hochtechnologie-
konzepte. Bis heute, in überraschendem Ausmaß, bleibt die Technologieentwick-
lung freilich auf westliche Vorbilder ausgerichtet. Besondere Bemühungen sind
deshalb der Abklärung zu widmen, inwiefern Technologietransfers, legal oder ille-
gal, die sowjetische Entwicklung bestimmen.
Die Studie ist zum einen historisch-deskriptiv angelegt. Im Studium der Ent-
wicklung der verschiedenen Rüstungszweige wird versucht, Antworten auf die an-
gegebenen Fragen zu finden. Zum anderen geht in der zweiten Hälfte die Methode
auf institutionelle Untersuchungen über, wie dies in der Sowjetforschung weithin
üblich ist.
Die folgenden Einzelstudien zu Entwicklungen in der sowjetischen Waffen-
technik, beim Jägerbau, der Konstruktion von Panzern, der Fertigung chemischer
Waffen und beim Raketenbau nutzen ein in der Forschungsliteratur nicht übliches
Verfahren. In der Erarbeitung solcher Dimensionen weicht diese Untersuchung er-

14 Kuczynski 1988, S. 61
Einleitung 17

heblieh von dem ab, was an sowjetalogischer Literatur greifbar ist. Industriege-
schichtlichen Beobachtungen sowie der Reflexion technologischer Entwicklungsli-
nien, der Behandlung durch politische Instanzen und den Folgen wird hier breiter
Raum gegeben -in der Erwartung, mit dieser Methode nähere Kenntnis der Eigen-
arten der Rüstung sowie des sowjetischen Systems zu erlangen, als dies ansonsten
hierzulande üblich ist.
Mit dieser methodischen Orientierung ist ein Gegensatz zu den vorherrschen-
den Strömungen in der Beschäftigung mit der Sowjetunion und ihrem Rüstungs-
komplex angegeben. Zu sehr scheinen diese von der Trennung der akademischen
Disziplinen beherrscht. Die Politologenl5 orientieren sich vor allem an den Institu-
tionen und beschäftigen sich etwa mit den neun Ministerien, die für die Rüstung
relevante Kompetenzen haben. Oder sie untersuchen den Einfluß von engagierten
Interessenvertretern (Stichwort "Militärisch-Industrieller Komplex") auf die Poli-
tikbildung im Sowjetbereich. Allgemeiner ausgedrückt: Die Politologie, soweit sie
sich empirisch mit der UdSSR befaßt, beschäftigt sich mit gesellschaftlichen Teil-
systemen und beansprucht gar nicht, "den Bezug zu Problemen der Gesamtgesell-
schaft bei(zu)behalten" oder auch nur "die Veränderungen der sozialen Integra-
tion"l6 in der UdSSR vertieft zu untersuchen. Die Ökonomen hingegen konzentrie-
ren sich vorrangig auf die Wirtschaftspläne als die wichtigste Evidenz aus dem So-
wjetreich. Für sie scheint es in ihren Tabellen einen Rüstungssektor nicht zu geben.
Auch die Ökonomie des Sowjetsystems als Fachwissenschaft stellt kaum mehr
Fragen in bezog auf das Ganze- dann müßte sie eine Politische Ökonomie werden.
Die Antwort auf die Frage, wie sich die Dynamik (oder ihr Mangel) des sowjeti-
schen Wirtschaftssystems auf den Beitrag der UdSSR zum Wettrüsten auswirkt,
wird man von Fachökonomen nicht erwarten können. Dies bleibt bemerkenswert,
weil die Ökonomie, wie Habermas formuliert, "die Eigenständigkeit eines über
Funktionen, nicht primär über Normen zusammengehaltenen Handlungssystems
herausgearbeitet hat",l7 Wenn andererseits Finanzwissenschaftler die Größe des
sowjetischen Militäraufwandes zu bestimmen versuchen, bewegen sie sich auf kal-
kulatorischen Ebenen, die sehr weit vom Alltag entfernt sind, der die sowjetische
Rüstung prägt. Theoretisch ambitionierte Analytiker, die die Sowjetunion als
Übergangsgesellschaft thematisieren, oder die auf andere Weise ein umfassendes
analytisches Konzept für das Verständnis dieser Gesellschaft zu entwickeln su-
chen, scheinen andererseits mit dem Militärsektor in der UdSSR am wenigsten an-
fangen zu können - Namen wie Kalaschnikow oder MiG sagen ihnen überhaupt
nichts.
Diese kritischen Sätze über verschiedene Teildisziplinen sprechen solchen An-
sätzen nicht die Berechtigung ab. Die Andeutungen sollen besagen, daß die Polito-
logen mit institutionellen Analysen, die Ökonomen mit Makroaussagen und die Fi-
nanzwissenschaftler mit Budgetberechnungen durchaus einzelne Aspekte des so-
wjetischen Rüstungskomplexes erfassen mögen, wenngleich häufig anband indi-
rekter Indikatoren, und daß den angestammten Ansätzen gegenüber weitere, viel-
leicht gar aussagefähigere, zumindest mikroanalytisch ergiebigere Verfahren mög-

15 Eine hübsche Typisierung dieser Art hat Habennas vorgelegt; vgl. Habennas 1987, S.
18 f.
16 Habermas 1987, S. 19 und 20
17 Habermas 1987, S. 19
18 Einleitung

lieh sind. Einschränkend ist allerdings festzuhalten, daß unsere methodische Erwei-
terung im wesentlichen darin besteht, eine hierzulande wenig beachtete, besonders
aber im angelsächsischen Sprachraum gepflegte Technikhistorie politologisch auf-
zuarbeiten.
Beim Studium der sowjetischen Rüstung über die Jahrzehnte ist der pralle All-
tag hier zugegebenermaßen unter dem Aspekt studiert worden, welche verallge-
meinerungsfähigen Entwicklungslinien sich ausmachen lassen. Die großen Linien
der allgemeinen politischen Entwicklung wurden - und hier setzen erste Brüche
ein - daraufhin betrachtet, wie sie sich im Rüstungssektor spiegeln.
Zunächst ist zu konstatieren, daß die gängigen Militärfachbücher mit ihrer lau-
fenden Berichterstattung in historischer Sicht bemerkenswert wenig über tatsächli-
che sowjetische Rüstungsentwicklungen enthalten. Das soll an dem unumstrittenen
Standardwerk über Luftrüstungen, dem Jane' s (der Bibel der LuftwaffenattacMs
aller Herren Länder) illustriert werden. Eine ähnliche Aussage ließe sich über die
womöglich noch renommierteren Flottenhandbücher und ihre Kapitel über die so-
wjetische Kriegsmarine treffen. Bill Gunston etwa zieht in seinem Standardwerk
über die Flugzeugentwicklung der UdSSR eine vernichtende Bilanz. Er vergleicht
die Zahl der von ihm verfolgten sowjetischen Flugzeugentwicklungen mit der ak-
tuellen Berichterstattung im Jahrbuch von Jane' s:
,,In diesem Buch werden rund 850 verschiedene Typen behandelt. Rund 710 davon tau-
chen nie auf den Seiten von Jane's All the World's Aircraft auf. Das ist keine Aussage
über das Jane's-Handbuch, weil dieses einzigartige Jahrbuch nur das drucken kann, was
ihm im laufenden Jahr bekannt geworden ist."18
Das bleibt in der Tat eine bemerkenswerte Relation. Nur ein Siebtel der Flugzeug-
technologie, die in der UdSSR in der Vergangenheit erzeugt wurde, ist dieser Zu-
sammenstellung nach im Westen aktuell wahrgenommen worden. Die Relation
mag heute anders aussehen. Sie verweist jedoch mit Nachdruck erneut auf ein
grundsätzliches Problem, das der angemessenen Information.
Die Luftrüstung und das Marinewesen gehören andererseits zu den noch am
detailliertesten beobachteten sowjetischen Technologieentwicklungen, schon weil
sie der amerikanischen Aufklärung am einfachsten zugänglich sind. Im Bereich der
Heeresrüstung und bei den Fernraketen fallen ein Mangel an vergleichbarer Einzel-
information und an analytischer Begleitung zusammen, was Michael MccGwuire,
eine Autorität auf dem Gebiet der sowjetischen Kriegsmarine, zu dem klagenden
Diktum an die Sowjetologie führte: ,,Nobody does tanks" - niemand beschäftigt
sich mit der sowjetischen Panzerausrüstung. Ein solcher Satz mag angesichts der
Übersättigung der Medien mit Nachrichten über sowjetische Panzerzahlen überra-
schen. Mit dem Blick auf sozialwissenschaftliche Mindestansprüche erfüllende
Untersuchungen trifft sie den Kern. Von Untersuchungen über die sowjetische
Chemiewaffenherstellung oder die Raketenindustrie ist erst recht zu schweigen.
Eine ähnlich komplizierte Quellenvorgabe wie bei der Verfolgung einzelner
Technologielinien im sowjetischen Kontext ist bei dem zweiten hier gewählten
Verfahren zu beobachten, welches freilich Routineinstrument der Sowjetologie ist,
der sogenannten biographischen Methode. Diese biographische Methode wird bis-
lang vorrangig auf politische, wirtschaftliche und militärische Führungskräfte an-
gewendet. Sie erweist sich aber auch als ausgesprochen nützlich bei der Untersu-

18 Gunston 1983, S. 8
Einleitung 19

chung technischer Eliten, sogar im Rüstungswesen.


Die These läßt sich an einem Beispiel rasch illustrieren. Der Georgier Georgi
Michailowitsch Berijew etwa, später führender Konstrukteur sowjetischer Flug-
boote, begann als einer von 20 Ingenieuren in einem Konstruktionsbüro des aus
dem Ausland angeworbenen Teamchefs Richard. Im Jahre 1929 wurde Berijew
aufgefordert, eine Abteilung für Seeflugzeuge in Moskau zu übernehmen. In der
Folgezeit baute er sein eigenes Konstruktionsbüro in Taganrog auf. Als Grundlage
für diesen Erfolg diente die Russifizierung eines ausländischen Flugzeuges, des
italienischen Flugbootes Typ 62 von Savoia-Marchetti. Später nahm Berijew mit
seiner Gruppe so etwas wie eine Monopolstellung bei der Versorgung der sowjeti-
schen Seefliegerkräfte mit Flugbooten ein.
Die nähere Betrachtung eines solchen ansonsten recht beliebigen Werdegangs
ergibt eine Anzahl interessanter Hinweise. Die Rekrutierung technischer Eliten pri-
vilegiert keineswegs Russen - unter den führenden Konstrukteuren ist eine Anzahl
von anderen Ethnien vertreten. Wie viele spätere Rüstungsfachleute wurde Berijew
zu Beginn seiner Laufbahn von Ausländern geprägt, hier dem Franzosen Richard.
Im Gegensatz zu einem gängigen Klischee haben die führenden sowjetischen Rü-
stungsfachleute durchwegs zumindest gelegentlich Westkontakte (am bemerkens-
wertesten erscheint nach wie vor die Vortragsreise von Akademiemitglied Igor
Kurtschatow, dem wissenschaftlichen Leiter des Atom-und Wasserstoffbomben-
projekts, 1956 ins englische Nuklearforschungszentrum Harwich, siehe Kap. 2).
Die Generalkonstrukteure der Flugzeugbüros kann man inkognito auf westlichen
Flugmeetings wie dem Pariser Aerosalon oder der Airshow von Farnborough tref-
fen. Andere Rüstungspezialisten nehmen an den in der UdSSR sehr begehrten Aus-
landsreisen zu Pugwash-Konferenzen und dergleichen teil (so etwa regelmäßig der
ehemalige stellvertretende Minister für das Nuklearwaffenprojekt, der Metallurge
Wassili S. Jemeljanow). Als biographische Methode läßt sich das hier verwendete
Verfahren empirisch substanziieren, indem sowjetische Rüstungsfachleute bei
Auslandsaufenthalten angesprochen und über Angaben in ihren Biographien hin-
aus Auskünfte eingeholt wurden.
Die Kurzbiographie von Berijew enthält weitere informative Details: Ein Kon-
struktionsbüro erhält man, indem man dazu aufgefordert wird. Verglichen beson-
ders mit amerikanischen Maßstäben fällt die geringe Mitarbeiterzahl von (Ri-
chards) Team auf. Der Einstieg in selbständige Projektierungsaufgaben erfolgt
über die erfolgreiche Absolvierung einer Teilaufgabe, hier der Sowjetisierung einer
ausländischen Konstruktion. Was immer die Biographieschreiber führender Tech-
niker wie hier Berijews für Kriterien bei der Auswahl ihrer Mitteilungen haben
mögen - wichtig ist ihnen augenscheinlich die ethnische Identifizierung ihres Sub-
jekts, seine Erfahrung mit Ausländern oder ausländischen Konstruktionen sowie
sein förmlicher Aufstieg zu Leitungsaufgaben (der genau datiert wird). Zu ergän-
zen ist, daß weitere den sowjetischen Biographen wichtige Detailinformationen
wie das Datum des Parteieintritts (oft überraschend spät) oder Auszeichnungen
hier im Regelfall nicht aufgenommen werden.
Der Personalismus des sowjetischen Systems wird sicher nicht durch die Ver-
öffentlichung von Biographien so weit getrieben, um Ausländern Einblicke in an-
sonsten für geheimhaltungsbedürftig erachtete Bereiche zu gestatten. Bestimmte
Rüstungsprojekte, allen voran der Bau der ersten sowjetischen Atombombe, haben
vielmehr eine solche Schlüsselbedeutung für die Entwicklung des Sowjetsystems,
20 Einleitung

daß ihr Erfolg neben allen anderen Gratiftkationsmöglichkeiten auch zur Publika-
tion der Biographie der leitenden Persönlichkeiten, zu Pressenotizen über den Tod
solcher Würdenträger, gar ihrer Bestattung in der Kremlmauer führte. Aus dem
Studium der Grabplaketten ergeben sich überraschende, im Sinne des Systems ge-
legentlich konterproduktive Detailinformationen. Die erste Atombombe zum Bei-
spiel war ein so großartiger Erfolg, daß der ansonsten nie genannte KGB-General,
der neben dem Chefwissenschaftler und dem zuständigen Minister das Projekt lei-
tete, selbstverständlich seinen Anteil an den folgenden öffentlichen Ehrungen be-
kommen mußte ( Kapitel 2). Dieser Personalismus bleibt, wie rasch überprüfbar
ist, auf leitende Kader beschränkt - schon stellvertretende Konstruktionsleiter und
andere für das Funktionieren des Systems unverzichtbare Spitzenleute werden in
den üblichen biographischen Referenzwerken übergangen. Von rangniederen Mit-
arbeitern, die etwa im angelsächsischen Bereich in professionellen Branchenver-
zeichnissen durchaus angeführt werden, ist überhaupt nicht die Rede. Mit der Nut-
zung der biographischen Methode folgt mithin auch diese Studie einem Mythos-
als ob ein Chefkonstrukteur selber ein technisches Gerät erzeugt, welches seinen
Namen trägt. Aber ebensowenig wie der deutsche Flugpionier Professor Messer-
schmitt alle Flugzeuge gezeichnet hat, die seinen Namen tragen, oder Vater und
Sohn Porsche mit jedem Sportwagen dieser Firma in Verbindung gebracht werden
können, den das gleichnamige Unternehmen herstellt, ist eine Iljuschin oder Tupo-
lew-Maschine mit Bestimmtheit das Werk des berühmten Chefkonstrukteurs. Die
namenlosen Heere von Mitarbeitern, die die zahlreichen kniffligen Detailfragen er-
kennen, lösen und umsetzen, wie sie vielfach bei der Konstruktion eines modernen
Waffensystems auftauchen, werden besonders im sowjetischen Fall durch die bio-
graphische Methode nicht erfaßt.

Quellen und Quellenauswahl

Die Quellenwahl wird von der Absicht bestimmt, die sozio-ökonomischen Dimen-
sionen und die Determinanten des Rüstungswesens in der Sowjetunion zu studie-
ren.l9 Im Vordergrund stehen bei der Auswertung von Quellen mithin nicht gängi-
ge sowjetologische Werke, sondern zumeist Spezialliteratur. Die angeführten Ma-
terialien sollen ein besseres Verständnis charakteristischer Merkmale und Proble-
me des Rüstungssektors und seiner Stellung im Industriesystem der UdSSR ermög-
lichen. Besonders geachtet wurde auf Materialien, die etwas zu den Beziehungs-
verhältnissen zwischen Waffenfertigung und allgemeiner Wirtschafts- und Gesell-
schaftsentwicklung hergeben. Spezifische Unterschiede in der Rüstungsfertigung
sowie der Rolle der Rüstungswirtschaft im sowjetischen System sollen, wo dies
möglich ist, im Vergleich mit westlichen Verhältnissen deutlich gemacht werden.
Zentraler Bezugspunkt auch bei der Quellenwahl ist das Studium der gesell-
schaftspolitischen Dimension von Rüstung. Ist gemäß den Quellen die sowjetische
Rüstung im wesentlichen außenbestimmt, um eine von dem Soziologen David
Riesman20 übernommene, weitgehend in der Analyse des Wettrüstens benutzte

19 Mit der Quellensammlung "Rüstungswirtschaft in der Sowjetunion" haben wir eine Zu-
sammenstellung derjenigen Materialien gegeben, die unserer Ansicht nach am besten
Informationen zum Thema geben; vgl. Nikutta 1986
20 Riesman 1958, bes. Kap.l.5 und 1.6.
Einleitung 21

Analysefigur zu benutzen, oder ist sie im wesentlichen innengeleitet, Ergebnis des


Verteilungskampfes um Ressourcen, in denen sich in der Rüstung engagierte
Gruppen gegenüber anderen Akteuren in der ,,Nomenklatura" durchsetzen?
Für diese Untersuchung wurden hauptsächlich, neben sowjetischen Materia-
lien, anglo-amerikanische Quellen benutzt. Das ist zugleich ein massiver Hinweis
auf Forschungsdefizite zum Thema in der Bundesrepublik, vor allem in der deut-
schen Osteuropa-Forschung.
Von der Quellensammlung her, die diesem Bande zugrunde liegt, läßt sich
festhalten, daß durchaus ein beachtlicher Erkenntnisstand vorhanden ist, daß sich
aber die Ergrundung sowjetischer Rüstungsprobleme und ihres Wandels sowie der
diese tragenden Politik auf schwankendem Boden bewegt. Ausgehend von weni-
gen, vermeintlich gewissen Sachverhalten, hat sich der Analytiker im wenig be-
kannten Gelände, unter Prüfung kaum nachrecherchierbarer Hinweise voranzuta-
sten.
Die von amerikanischen Dienststellen meist in selektiver Weise veröffentlich-
ten Angaben zur sowjetischen Rüstungsproduktion stellen eine außerordentlich
wichtige Informationsquelle dar. Aber selbst so verbreiteten Texten wie "Soviet
Military Power", einer Darstellung des Pentagon, ist von amerikanischen Kritikern
nachgewiesen worden, daß sie von Fehlern nur so wimmeln.21 Amerikanische Dar-
stellungen sind mithin mit Vorsicht zu nutzen. Auch läßt sich, wie im Text im ein-
zelnen belegt wird, hin und wieder eine von politische Interessen geleitete Beein-
flussung von Angaben zur sowjetischen Rüstung nachweisen. Diese generellen Da-
ten- und Informationsbeschränkungen erschweren die Beschäftigung mit der so-
wjetischen Rüstung ungemein. Jede Studie ist daher mit einem beträchtlichen Maß
an Unsicherheit behaftet. Vom Umfang und der Qualität der zugänglichen Quellen
her bleiben die Fragestellungen, auf die Antworten mit einem gewissen Zuverläs-
sigkeitsgrad erhofft werden können, beschränkt.
Das Literaturfeld, auf das sich diese Studie stützt, läßt sich in fünf Teilbereiche
einteilen:
- Primär an der theoretischen Debatte orientierte Beiträge, etwa zum "sowjeti-
scher Militär-Industrie-Komplex";
- Untersuchungen von spezialisierten Analytikern, die sich längerfristig mit Ein-
zelfragen der sowjetischen Militär- und Rüstungspolitik beschäftigt haben. Im
allgemeinen gehen sie nicht auf den erstgenannten Literaturstrang ein, sondern
arbeiten empirisch und historisch, auch mit Blick auf Rüstungskontrollproble-
me;
- Studien zu Entscheidungsprozessen der sowjetischen Rüstungspolitik, dem
Konzept von ,,Entscheidungsprozeßanalyse" verhaftet. Derartige Untersuchun-
gen gehen in der Regel über den Kernbereich ihres Untersuchungsgegenstandes
nicht hinaus. In empirischer Hinsicht erweisen sich solche Materialien häufig
als ergiebig und informativ;
- Texte von Individuen, die in der sowjetischen Rüstung beschäftigt waren, von
den Memoiren führender Wissenschaftler und Politiker, Berichten von Auslän-
dern, die zu Zeiten in der Sowjetunion tätig waren, bis hin zu Aussagen jüdi-
scher Emigranten in neuester Zeit;

21 Gervasi 1988
22 Einleitung

- amerikaDisehe Amtspublikationen und Protokolle von Anhörungen vor Kon-


greßausschüssen, die häufig als Primärquellen für die zuvor genannten Materia-
lien dienen, oder in denen auch Fachleute der vorgenannten Gruppen Stellung
nehmen.
Besonders bei der vorletzten Gruppe, Berichten von Ausländern, die eine Zeitlang
in der sowjetischen Rüstung tätig waren, betritt diese Studie Neuland. Die rund
5000 deutschen Rüstungsfachleute (so die zweimalige Aussage des für die Rü-
stungsproduktion zuständigen Ministers Boris L. Wannikow)22, die bei Kriegsende
in die Sowjetunion gingen, sind nach einhelliger Aussage nach ihrer Rückkehr nie
sozialwissenschaftlich ausgiebig befragt worden. Die alliierten Nachrichtendienste
wollten einige technische Details aktueller Art über die Waffenprojekte wissen, an
denen sie gearbeitet hatten - das war alles. In den Kapiteln 1 bis 3 ist ausführlich
von den Ergebnissen der Interviews mit einigen solcher deutschen Fachleute Ge-
brauch gemacht worden. Diese Studie beabsichtigt allerdings nicht, ein Gesamtbild
der deutschen Nachkriegsmigration von Wissenschaftlern und Technikern in die
UdSSR zu geben.
Das Literaturfeld ist somit vielschichtig, es bleibt im theoretischen Vorver-
ständnis, der Analysereichweite, der benutzten Methode sowie der Benutzung von
Empirie höchst unterschiedlich. Das gilt auch inhaltlich, im Ausmaß der Behand-
lung der verschiedenen Sektoren der sowjetischen Rüstung. Zur Luft- und Raurn-
fahrtindustrie gibt es ein relativ breites Literaturfeld, die Informationsbasis für die-
sen Bereich ist günstig. Die sowjetische Marinerüstung wird von einem kleinen,
hochspezialisierten Kreis von Analytikern seit Beginn der siebziger Jahre intensiv
beobachtet. Der Heeresrüstungssektor, die Panzerindustrie, wird von sehr wenigen
Einzelautoren thematisiert - obgleich die sowjetischen Landstreitkräfte und ihre
Waffen in der Wahrnehmung der sowjetischen Bedrohung enormen Stellenwert
einnehmen.
Bei der Verwendung einer Anzahl von Quellen, sowohl östlicher wie westli-
cher Herkunft, bleibt Vorsicht geboten. Manfred von Ardenne etwa (er wirkte nach
1945 an der sowjetischen Atombombe mit) erweist sich in eigener Sache als noto-
risch unzuverlässiger Zeuge. Von wichtigen Autoren, die angeblich Überläufer
sind, wie dem Militäringenieur Tokajew oder dem Offizier der Roten Armee Su-
worow, ist nicht bekannt, ob sie wirklich gelebt haben oder ob sich hinter diesen
russischen Namen die Leistung eines Teams amerikanischer Analytiker verbirgt.
Sehr viel wahrscheinlicher ist, daß es tatsächlich Überläufer mit diesen Namen
gibt, deren beschränkte Erfahrungen in den Büros um Washington vor der Publika-
tion der Bücher angereichert wurden. Der Leser findet sich mithin vor einem wis-
senschaftlich wenig befriedigenden Elaborat, welches in der Sicht aller Beteiligten,
sowohl des Überläufers wie seiner Ghostwriter, ja auch nicht wissenschaftlichen,
sondern vor allem propagandistischen Zwecken dienen soll. Epstein hat23 jüngst in
einem lesenswerten Beitrag am Beispiel der ansonsten weitgehend für authentisch
erachteten Penkowski-Papiere vorgeführt, in welcher Weise sich nachrichten-
dienstliche Übermittlungen, persönliche Aufzeichnungen und einem Autor zuge-
schriebene Äußerungen zu einem scheinbar authentischen Buch verdichten. Das
Problem für den an klaren Faktenaussagen über sowjetische Verhältnisse interes-

22 Angabe nach Gröttrup, 1958, S. 35


23 Epstein 1987, S. 33-41
Einleitung 23

sierten Analytiker (und nicht den Interessenten an dem, was man in Washington
glaubt, über die UdSSR aussagen zu können) bleibt selbst bei solchen Texten wie
Chruschtschows Erinnerungen, daß sich die Frage nach der Authentizität des Mate-
rials nicht wirklich befriedigend klären läßt Auf durchgehende quellenkritische
Anmerkungen ist im folgenden Haupttext verzichtet worden. Nur an spektakulären
Punkten wird auf die Frage nach der Authentizität gewisser Belege eingegangen.
In der derzeitigen Phase des Umbruchs enthüllt zusätzlich die Anwendung der
biographischen Methode besondere Probleme, die mit der Einführung von "Glas-
nost", mehr Transparenz im Sowjetreich, verbunden sind. Es mehren sich die Hin-
weise (etwa Kapitel 1.4), daß die Biographien führender Rüstungsfachleute gerade
in den Jahren der Stalinzeit Unwahrheiten, zumeist Vertuschungen, enthalten. Zu
diesen sahen sich die Autoren gezwungen. Heute gibt es wiederholt Beiträge in so-
wjetischen Organen, solche Fälschungen zu beseitigen. Die Autoren hielten es für
richtig, solche Korrekturschritte mit in die Darlegungen einzubeziehen, um den
Wandel a la Gorbatschow auch im Rüstungswesen anzuzeigen, anstatt heute als
falsch erkannte Aussagen einfach auszublenden. Die Bewältigung des Aufstieges
der sowjetischen Rüstung zur Supermachtgeltung ist nicht nur für den Westen ein
Problem- sie ist dies umso vielschichtiger für die UdSSR selber.
Dieneueren Entwicklungen in der Sowjetunion provozieren die Frage (die an-
sonsten in jedem wissenschaftlichen Text zu beantworten ist) nach dem Standort
des Analytikers. Bei der Masse der verwendeten westlichen Quellen handelt es
sich um kein Problem -sie sind mit klarem Blick auf die Sowjetunion als politi-
scher Rivale des Westens verfaßt Bei sowjetischen Materialien überrascht nicht,
besonders bei älteren Texten, daß sie deutlich prosowjetisch ausfallen. Unser eige-
ner Standpunkt bei der Auswertung kann so schon aufgrund der Unterschiedlich-
keit der Quellen nicht einfach pro oder contra sein. Die Verwendung bestimmter
Materialien und Verfahren entzieht sich einem solchen Schema.
Das Kapitel über die sowjetische Atombombenentwicklung zum Beispiel ist
zum einen - so ein populärer Vortragstitel über das amerikaDisehe Vergleichspro-
jekt, ,,Los Alamos von unten"24 - aus einer underdog-Sieht heraus gearbeitet. Die
an dem Projekt beschäftigten Deutschen wußten kaum über Zusammenhänge Be-
scheid. Andererseits profitiert dasselbe Kapitel von heroisierenden sowjetischen
Materialien, die (um eine Kategorie von Johan Gattung zu bemühen) aus der Per-
spektive von "topdogs" heraus geschrieben sind. Hin und wieder wirken diese he-
roisierenden Sowjetdarstellungen in ihrer Wirklichkeitsverkürzung provozierend,
daß es einem den Atem nimmt. Selbst in nunmehr "aufgeklärten", von Glasnost in-
spirierten Darstellungen gewiß bemerkenswerter Taten wie etwa der Konstruktio-
nen des sowjetischen Raketenpioniers Sergej Koroljow wird anläßtich seiner Auf-
spürung deutscher Raketenfachleute und ihrer avantgardistischen Projekte in unter-
irdischen Fabrikationsanlagen im Harz mit keiner Silbe erwähnt, daß die Masse der
dort Beschäftigten KZ-Häftlinge waren. Warum ein solches Detail, von dem er-
wartbar ist, daß sowjetische Publikationen es mit Nachdruck aufgreifen, nicht ver-
merkt wird, läßt sich aufgrund der Ergebnisse der Studie mit Begründung vermu-
ten: Die Sowjets ließen die Fertigung der V-Waffen des Dritten Reiches in den von
ihnen vorgefundenen Stollen bis Oktober 1946 weiterlaufen, entgegen allen Ab-

24 Richard P. Feynman, ,,Los Alamos von unten", ursprünglich Vortrag im Jahre 1975 an
der University of California in Santa Barbara. dt. nunmehr in Feynman 1987, S. 141 ff.
24 Einleitung

sprachen über Rüstungsproduktionsverbote in Deutschland, und augenscheinlich


ohne Ansehung der Deutschen, die an dieser Fertigung beteiligt waren (was aus
den Häftlingsarbeiten geworden ist, bleibt in diesen Quellen offen, Kapitel1.4).
Die Antwort auf die Frage nach dem Standort der Verfasser fällt somit kompli-
ziert aus. Sie kann weder in einer Apologie bestehen, auch wenn wiederholt imma-
nent interpretiert wird. Abstoßend wirkt andererseits die strikt kritische Haltung
vieler prowestlicher Autoren. Unserem Verständnis von einer angemessenen ana-
lytischen Haltung bei der Untersuchung sowjetischer Rüstungsprozesse am näch-
sten kommt die Position, welche Peter Christian Ludz mit seiner Gruppe vor ge-
raumer Zeit für die DDR-Forschung in der Bundesrepublik entwickelt hat.25 Dem-
nach ist eine Untersuchung des sowjetischen Rüstungskomplexes zunächst an des-
sen Selbstverständnis zu orientieren (was keineswegs heißt, daß der Analytiker die-
ses einfach reproduziert):
"Die Aufforderung, die Immanenz eines politisch/sozialen Phänomens zu berücksichti-
gen, heißt zunächst, dieses Phänomen aus seinen eigenen Bedingungen, Wirkungswei-
sen, strukturellen und funktionalen Zusammenhängen - Zusammenhängen mit anderen
Phänomenen- heraus zu begreifen ... Jede immanente Analyse, die diesen Namen ver-
dient, verlangt sowohl Deskription wie Analyse und kritisches Erfassen eines Gegen-
standes."26
Diese Untersuchung ist das Ergebnis eines von der Stiftung Volkswagenwerk ge-
förderten gleichnamigen Projektes. Der Stiftung gebührt Dank für ihre großzügige
Unterstützung. Die beiden Autoren haben das Projekt gemeinsam ausgeführt. Ob-
wohl sie für das hiermit vorgelegte Ergebnis gemeinsame Verantwortung tragen
und auch alle Textteile dieser Untersuchung wechselseitig durchgearbeitet haben,
sei darauf verwiesen, daß die Erstfassungen der Kapitell - 3, 5-7 sowie 10 von
Ulrich Albrecht und diejenigen der Kapitel 4 und 9 von Randolph Nikutta verfaßt
wurden, während das Theoriekapitel 8 auf Vorgaben beider Autoren zurückgeht.
Bei der Transkription russischer Wörter folgt dieser Text nicht der in der So-
wjetologie üblichen wissenschaftlichen Zitierweise (z.B. Gorbacev statt Gorbat-
schow), weil dem Durchschnittsleser, auch Politikwissenschaftlem, so die Lektüre
eher erschwert wird. Statt dessen wird versucht, möglichst eng umgangssprachlich
im Deutschen russische Begriffe wiederzugeben.
Erfolgt bei der Wiedergabe von Äußerungen sowjetischer Fachleute keine
Quellenangabe, so handelt es sich regelmäßig um mündliche Reaktionen auf die
vorangehende Tatsachenaussage, welche die Verfasser der angegebenen Persön-
lichkeit mit der Bitte um einen Kommentar vorgetragen haben.
Der vorliegende Text, besonders das Kernwaffenkapitel Nr. 2, ist einigen so-
wjetischen Fachleuten (und westlichen Analytikern) vorgelegt worden. Bemer-
kenswerterweise ist es im Zeichen des "Neuen Denkens" nunmehr möglich, zu
solch einem Manuskript in der UdSSR ergänzende Hinweise, Einzelkommentare
und Detailkritik zu erhalten. Verständlicherweise überwiegt die Kritik am Gesamt-
ansatz. Die Autoren danken allen, die zu diesem Buch beigetragen haben. Alle Irr-
tümer oder möglichen anderen Fehler sind den Autoren anzulasten.

25 Dazu die Ausgabe 9/1976 des Deutschland-Archiv


26 P.C. Ludz und J. Kuppe (Hervorhebung im Original)
1. Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

1.1 Die Luftfahrtindustrie

Die Geschichte der Sowjetunion wird begleitet von Auseinandersetzungen wegen


Einfuhren ausländischer moderner Technik, besonders im Rüstungssektor. Die In-
dustrialisierung in den letzten Jahrzehnten der Zarenzeit erfolgte vor allem durch
westeuropäisches Kapital und westliche Technologie. Die großen Unternehmen der
Epoche (man würde sie heute als multinationale Konzerne bezeichnen) betätigten
sich im zaristischen, kaum industrialisierten Rußland ähnlich der Art und Weise,
wie dies heute in Ländern der sogenannten Dritten Welt zu beobachten ist. Das läßt
sich gut illustrieren am Beispiel der modernsten Technikentwicklung zu Beginn
dieses Jahrhunderts, der Fliegerei. Hernach werden die Panzer-Entwicklung und
die Chemiewaffenrüstung genutzt, um das Argument zu verallgemeinern.
Die militärische Führung der russischen Streitkräfte erkannte früh die Bedeu-
tung der Flugzeuge für ihre Zwecke und richtete 1910 bei Gatschina eine Flug-
zeugführerschute ein. Die Kriegsmarine folgte im gleichen Jahr mit einer gleichen
Einrichtung in Sebastopol- ziemlich genau zur gleichen Zeit begann man in Eng-
land und in der deutschen kaiserlichen Armee mit der Pilotenausbildung.I Im Jahre
1912 fand ein erstes, mit Mitteln aus dem Militäretat gefördertes Flugmeeting in
Rußland statt. Die kaiserliche Regierung erwarb geringe Stückzahlen von Flugzeu-
gen in Frankreich (Produkte der Firmen Farman, Morane und Nieuport) und Groß-
britannien (Bristol). Die Kriegsmarine bekam neun Flugboote der amerikanischen
Firma Curtiss, neben anderen Flugzeugen aus Deutschland, Frankreich und den
USA. In Frankreich wurden Lizenzen zum Nachbau einiger Flugzeugtypen erwor-
ben. Einige russische Firmen fanden Interesse am Bau des neuartigen Gerätes. Die
Russisch-Baltische Waggonfabrik in St. Petersburg sowie der Schtschetinin-Kon-
zern nahmen die Produktion auf. Bei Kriegsbeginn waren in Rußland immerhin
329 Flugzeuge gefertigt worden. Russische Konstrukteure begannen mit eigenen
Entwürfen, unter ihnen der später in Amerika sehr bekannt gewordene Hubschrau-
berexperte Igor T. Sikorsky.2 Im allgemeinen wurde Luftfahrttechnologie unsyste-
matisch rundum gekauft.
In der Phase der Industrialisierung, die mehrere Jahrzehnte umfaßte, blieb der
Import auswärtiger Technologie, gerade im Rüstungsbereich, im alten Rußland und
in der jungen Sowjetunion eine Selbstverständlichkeit. Nach der Oktober-Revolu-
tion verfügten die Sowjets über einige hundert Schulflugzeuge aus der Lizenzpro-
duktion (Typen der französischen Firmen Parman und Morane) sowie eine Anzahl

1 Als durchaus noch heute brauchbare Übersicht zu den Anfängen der russischen Militär-
fliegerei vgl.: Reichsluftfahrtministerium (Bearb.), Kriegswissenschaftliche Abteilung
der Luftwaffe, Die Militärluftfahrt bis zum Beginn des Weltkrieges 1914, 1941, S. 553
-567
2 Finne 1987
26 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

Kampfflugzeuge vom Typ Spad S. 7. Dieser Typ wurde ab 1918 in der Dux-Fabrik
in Moskau in Lizenz gebaut Es lohnt sich, diesem ersten Hochtechnologietransfer
an die neue Sowjetunion nachzugehen. Obwohl Frankreich als Interventionsmacht
an der Bekämpfung des neuen Regimes beteiligt war, gewährte die Sociere pour
Production les Apparailles Deperdussin (= S.P.A.D.) dem neuen Regimes die
Nachbaurechte und gab die notwendige technische Hilfe. Diese Auffanggesell-
schaft baute die Konstruktionen des bei Kriegsende pleite gegangenen Flugpio-
niers Deperdussin weiter und war augenscheinlich bereit, politische Erwägungen
gegenüber kommerziellen Aspekten hintanzustellen. Ihr Modell Spad 7 war damals
ein technologischer Trumpf. Über diesen Doppeldecker heißt es in einer renom-
mierten britischen Luftfahrtgeschichte:
,,Mit der Einführung der Spad S.7C-1 begann die Aviation Militaire ein gewisses Maß
an Parität in der Luft über der Westfront wieder herzustellen."3
Das Motiv der französischen Firma war handfest: Nach dem Ende des Weltkrieges
kämpfte sie ums Überleben. Die Sowjets konnten andererseits die modernen fran-
zösischen Kampfflugzeuge gut gebrauchen und setzten die in Moskau gefertigten
Maschinen umweglos im Bürgerkrieg bei der Besetzung Kasans und gegen die
Truppen General Wrangeis bei der Eroberung der Krim ein.
Regionale Kriege geben stets dem internationalen Rüstungshandel Auftrieb,
und im russischen Bürgerkrieg war dies nicht anders. Auch andere Flugzeugprodu-
zenten neben Spad standen nach Ende des Weltkrieges vor dem Ruin und waren
sofort bereit, den Waffenwünschen der Sowjets nachzukommen. Aus den Nieder-
landen wurden erhebliche Quantitäten von Fokker-Flugzeugen gekauft (Aufklärer
und Jäger).4 In Italien beschafften die Sowjets mehrere hundert Ansaldo-Aufklärer
(nach dem Ende der Feindseligkeiten 1918 erteilte das italienische Corpo Aeronau-
tico Militare keinerlei Aufträge, bis Mussolini Ministerpräsident wurde). Ferner
wurde das im Weltkrieg breit bekannte Modell D.H.9 der britischen Firma DeHa-
villand ohne Genehmigung nachgebaut (sowjetische Bezeichnung R-1, ,,R" steht
als Abkürzung für raswedschik =Aufklärer).
Diese Erwerbungen eröffnen einen zunächst kontinuierlichen Technologie-
strom. Mit der in Tabelle 1 gegebenen Zusammenstellung wird illustriert, daß die
Sowjetregierung in der ersten Hälfte der siebzig Jahre der Existenz der UdSSR in
der Lage war, augenscheinlich ohne besondere Mühe Jahr für Jahr militärisches
Fluggerät im Ausland zu erwerben. Die ununterbrochene Kette von Technologie-
transfers, die offiziell konzedierten neben den regierungsamtlich nicht autorisier-
ten, steht neben sowjetischen Bemühungen, eine eigenständige Technologiekom-
petenz aufzubauen.
Die Zusammenstellung mit ihren Jahr für Jahr angegebenen Anführungen soll
zunächst einmal angeben, daß trotz aller bemerkenswerten Eigenanstrengungen der
sowjetische Militär-Flugzeugbau, zumindest in der Sicht der Entscheidungsträger,
wesentlich von ausländischen Infusionen an moderner Technologie abhängig blieb.
Im zweiten Schritt bleibt zu fragen, wie dieser Transferstrom zu untergliedern ist,
welche politischen und technischen Schlüsse er gestattet.

3 Green/Fricker 1958, S. 97. Die Bedeutung der Spad wird im gleichen Text wiederholt
unterstrichen.
4 Die verzweifelte Auftragslage Fokkers schildern Green/Fricker 1958 aufS. 200.
Die Luftfahrtindustrie 27

Tabelle 1:
Transfers von Luftwaffentechnologie in die UdSSR

Jahr Kategorie Bezeichnung/Hersteller Her- Bemelkungen


kunfts-
land

1918 Jäger Spad VII F Lizenzbau, Dux-Welke Moskau


1919 Jäger Martinside/Hispano F.4 F
Bristol/Hispano F.2B
Morane-Saulnier
1920 Kampfflug- GB Von den Interventionsstreit-
zeug kräften zumindest in 9 Typen
zurückgelassen
1921 Jäger FokkerD.XI N
Fokker D.XIII N
Aufklärer FokkerC.IV N
Ansaldound I mehrere hundert
SVY.10
1922 Truppen- Junkers F 13 25, davon 5 bei Dobroljet nachgebaut
transporter Vickers Vernon und
Viking
Kampfflug- Hanriot HD.14 F
zeug
Flugboot Nonnan Thompson N.T.2B GB
1923 Kampfflug- Junkers D diverse Typen (vgl. Text) im Welk Fili
zeug Savoia S.l bis I
1924 Bomber Fannan Goliath F
Transporter Junkers W33 D Nachbau (vgl. Text) in Moskau
1925 Flugboot DornierWal D bis 1931 wiederholt gekauft
Savoia S.lter I
1926 Bomber Fannan Goliath F 62 F Serienauslieferung des Modells von 1924
Jäger Heinkel He 5 D
Flugboot Savoia-Marchetti S.55 I
1927 Bomber Junkers K-30 D insgesamt 23
1928 Jäger Junkers K-47 D Nur 2 Prototypen gekauft
1930 Flugboot Heinkel HD 55 D Lizenzbau bei OMOS/Leningrad
(vgl. Text)
1932 Jäger Heinkel HD 37 D Als Polikarpow I-7 nachgebaut
Seeauf- Savoia-Marchetti S.62 I russ. Bezeichnung MBR-4
klärer
1935 Northrop 2-E USA
Seversky SEV -3M
1936 Jäger Dewoitine D.510 F
moteur canon
Vultee V-1 und V-11 USA
28 Abhängigkeit von ausländischer Techrwlogie?

Jahr Kategorie Bezeichnung/Hersteller Her- Bemerkungen


kunfts-
land

1937 Jäger Seversky 2PA USA


Transporter Donglas DC-3 USA Nachbau als Lisunow Li-2,
insgesamt 2930
Flugboot ConvairPBY USA Nach als GST durch Amtorg, 400-100
1938 Verbin- Fieseier Fi 156 Storch D
dungsflug-
zeug
Trainer Bückner Bü-131, Bü 133 D
1940 Jäger Heinkel He 100 D 5
Messerschmin Me 109 D 5
Messerschmin M2 110 D 5
Bomber Junkers Ju 88 D
Domier Do 215B D 2
Nakajima J
Kampffiug- 26 diverse Typen aus Frankreich, Polen
zeug und Finnland infolge der Kriegs-
ereignisse
1941 Mehr als 14.000 Kampfflugzeuge aus
bis den USA und Großbritannien
1945
1945 Deutsche Technologie erobert (vgl. Text)
1947 Düsentrieb- Rolls Royce Nene GB 25
werke Rolls Royce Derwent GB 30
1960 Hubschrau- Sikorsky S-58 USA
ber Vertol44 USA

Abkürzungen: I Italien; F Frankreich; GB Großbritannien; N Niederlande; J Japan; D Deutschland

Quellen: Sowjetische Eigendarstellungen sowie ausländische (technische) Referenzmaterialien, v.a.


Jane's World Aircraft, das überragende britische Handbuch von Bill Gunston, Aircraft of
the Soviet Union, The encyclopedie of Soviet aircrat since 1917, Lmdon 1983, neben-
größtenteils nicht gedruckten - Erinnerungen deutscher Konstrukeure. Unter den sowjeti-
schen Quellen sind vor allem W. B. Schawrow (der ja selbst als Konstrukteurhervorgetre-
ten ist), A. N. Ponomarjew; N. Gordjukow, I. Rodionow und W. Klischin anzuführen. Von
der- luftfahrthistorisch überragenden- tschechischen Literatur wurden Vaclav Nemecek
sowie Jiri Hornat ausgewertet. Zur Junkers-Betätigung in der UdSSR wurde die Darstel-
lung von G. Schmin, Junkers und seine Flugzeuge, Berlin (Ost) 1986 benutzt.

Schon kurz vor dem Rapallo-Vertrag vom 16. April1922 setzt zügig eine besonde-
re Rüstungskooperation zwischen der Weimarer Republik und der Sowjetunion
ein, die in der ansonsten gut informierenden historischen Forschung verkürzt und
als Betätigung der Reichswehr bewertet wird. In der Moskauer Vorstadt Fili errich-
tet die Dessauer Firma Junkers aufgrund einer Vereinbarung vom 6. Februar 1922
eine Flugzeugfabrik. In Umgehung der Bestimmungen des Versailler Vertrages
fertigte Junkers in der UdSSR eine Anzahl Militärflugzeuge, so den dreimotorigen
Bomber K-30 und den bewaffneten Aufklärer A-20 (sowjetische Bezeichnung Ju-
Die Luftfahrtindustrie 29

20 oder R-2,5 als Nachfolgemodell der DeHavilland-Maschine). Von sowjetischer


Seite erhält Junkers die "Russisch-Baltischen Automobilwerke" zur Nutzung. Am
15. März 1922 (mithin nach der Vergabe der Junkers-Konzession) schließt das
Reichswehrministerium mit der Firma Junkers einen Geheimvertrag, demzufolge
über die unter Mitwirkung des RWM gegründete "Gesellschaft zur Förderung ge-
werblicher Unternehmen im Ausland" mindestens 140 Millionen Reichsmark als
rückerstattungsfreie Unterstützung zugesichert wurden (zum Vergleich: Junkers
setzte 500 bis 600 Millionen Mark Kapital als Betriebssumme in Moskau ein, zu-
züglich der Sachwerte wie der Bauvorrichtungen, Konstruktionsunterlagen und
Baupläne, die von der sich selber bewertenden Firmenleitung nochmals in gleicher
Höhe veranschlagt wurden). In den Folgejahren erreichte die gemischt deutsch-rus-
sische Belegschaft des Junkerswerkes zeitweilig eine Stärke von 1350 Mann.6
Insgesamt wurden in den fünf Junkers-Jahren in der UdSSR 170 Flugzeuge-
damals eine beachtliche Zahl - montiert. In Umgehung der Auflagen zur Rüstungs-
beschränkung Deutschlands entwickelte Junkers in Dessau heimlich Militärflug-
zeuge, so den bewaffneten Aufklärer Ju-20, von dem in der UdSSR 40 Exemplare
aufgelegt wurden, den dreimotorigen Bomber K-30 und besonders (122 Exempla-
re) die Maschine Ju/H-21. Besonders das Kampfflugzeug H-21, von dem bis 1925
rund 100 Exemplare gefertigt wurden, genoß in der UdSSR als ,,Junkers" bald eine
gewisse traurige Berühmtheit. Mit seinen Vickers-Maschinengewehren wurde das
Flugzeug in großem Umfang zur Niederhaltung von Bauern eingesetzt, die sich der
Kollektivierung ihrer Höfe widersetzten, besonders in Turkmenistan.
1927 verstaatlichte die Sowjetregierung das Junkerswerk (es trägt fortan an die
Bezeichnung ,,Fabrik Nr. 22"; die Junkers-Konzession erlischt am 1. März 1927)
und setzte Junkers' Schüler Andrei N. Tupolew als Chefkonstrukteur ein. Für die
folgenden sechzig Jahre sollte Tupolew die Junkerstradition mit ihrer Orientierung
auf schwere Transportmaschinen und Bomber fortsetzen.
Die Fertigung von Junkers-Maschinen in der Sowjetunion diente auch den Ex-
portinteressen der Firma. Von Fili aus wurden Muster des Modells Ju-20 unter an-
derem nach Spanien veräußert (wo sie später gegen die Legion Condor eingesetzt
wurden), sowie an die Türkei. Andere Typen (Ju 13) gingen nach Persien. Das
Türkei-Geschäft sollte sich für die Firma Junkers als besonders zukunftswichtig er-
weisen. Nach dem Hinauswurf aus der UdSSR bemühte sich das Unternehmen er-
folgreich um die Fortführung seiner Militärflugzeug-Projekte in einem vom Ver-
sailler Vertrag nicht mit Verboten belegten Land, wie der Türkei. Im Frühjahr
gründet Junkers im türkischen Kayseri ein Zweigwerk.7 Von dem berüchtigten
Muster Ju-20 werden zunächst 64 Exemplare an die türkischen Streitkräfte ausge-
liefert.- Neben Produkten aus dem Junkerswerk transferieren die Sowjets auch an-
dere Produkte ihrer Kleinstindustrie. Der Iran erhält eine Anzahl R -1-Aufklärer,

5 Schmitt 1986, S. 130 ff.- Die alten einstöckigen Werkhallen sind heute noch auf dem
Fabrikationsgelände zu besichtigen. Ansonsten handelt es sich um einen Komplex mo-
derner Hallen entlang der Straße- der Name besagt es schon - Nowosawodskowo,
Neuwerk, mit angeschlossenem Luftfahrttechnikum, einem Denkmal des Luftfahrtmini-
sters Chrunitschew usf.
6 Schmitt 1986, S. 135. Weitere Details, etwa die Haltung Hindenburgs zu diesen Vor-
gängen, in den Erinnerungen des Dessauer Oberbürgermeisters Fritz Hesse; vgl. Hesse
1963
7 Green/Fricker 1958, S. 280
30 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

nach Afghanistan geht eine Staffel Junkers-Aufklärer/Bomber vom Typ R-2 als
Geschenk der Sowjetregierung an König Amanullah. Die Flugzeuge treffen 1924
auf dem Scherpur-Flughafenbei Kabul ein. 50 Afghanen werden in der UdSSR als
Piloten und Flugzeugmechaniker ausgebildet. Sowjetische Techniker entwerfen die
Pläne für neue Militärflughäfen bei Herat, Kandahar, Jalalabad und Mazar-i-Scha-
rif.S
Bezeichnend für die sowjetische Akquisition ausländischer Technologie
scheint zu sein, daß man sich nicht mit dem sklavischen Nachbau erfolgreicher
Muster begnügte, sondern früh mit Variationen experimentierte (bei Junkers ein-
setzend mit Variierungen beim Triebwerk der Ju-20).
Nicht alle Versuche zum Technologietransfer führten zum Erfolg. Teil der
Junkers gewährten Konzession war die Verpflichtung, dem Flugzeugwerk eine Fa-
brik zum Bau von Flugmotoren folgen zu lassen. Junkers hielt diese Verpflichtung
nicht ein, und die Triebwerke aller in der UdSSR gebauten Junkers-Flugmaschinen
mußten aus Deutschland importiert werden. Außerdem war vereinbart worden, daß
Junkers bei der Entwicklung des wichtigsten Materials für den Flugzeugbau, des
neuartigen Duraluminiums, Hilfe leisten sollte. Auch hier mußten die Sowjets
schließlich zur Kopie greifen.
Neben der Übertragung von Know-how in Form von Flugzeugkonstruktionen
erhielt die sowjetische Technologie vielfältige Anregungen in Teilbereichen wie
Werkstoffen und Bauteilen, vor allem bei Flugmotoren.
Im Zarenreich hatte es z.B. keine Aluminiumproduktion gegeben. Im August
1922 wurden die ersten größeren Posten sowjetischen Duraluminiums, ein für den
Leichtbau im Flugwesen unverzichtbares Material, ausgeliefert. Die Sowjets hatten
mitten im Bürgerkrieg 1920 eine Arbeitsgruppe unter Iwan lwanowitsch Sidorin
gebildet, die die verschiedenen Möglichkeiten zur Gewinnung des Leichtbaume-
talls erkunden sollte. Diese empfahl vernünftigerweise, das deutsche Patent für
Duraluminium zu plündern und den Stoff im Lande zu fertigen. Unter dem Namen
"Koltschugalumin" wurde das neue Material (die Bezeichnung stammt von dem
Herstellungsort, der nordwestlich Moskaus gelegenen Stadt Koltschugino) als Er-
rungenschaft des Sowjetsystems gepriesen. Chrom-Nickel-Stähle, für hochbelaste-
te Bauteile im Flugzeugbau gleichfalls unverzichtbar, wurden bis 1936 importiert,
ehe. eigene Kapazitäten für solche Hochleistungsstähle verfügbar wurden.
Die Sowjets begannen zugleich zielstrebig, das Technologiepotential des Jun-
kerswerkes zur Verbreiterung ihrer eigenen Technologiekompetenz zu nutzen. So-
wjetische Konstrukteure erhielten durch die Mitarbeit im Werk eine gewichtige
Förderung. Neben Tupolew sind hier zum Beispiel die im Westen weniger bekannt
gewordenen W.M. Petljakov und W.B. Schawrow zu nennen. Das vielgenutzte
Muster W 33 wurde nach dem Abzug der Deutschen nicht im ehemaligen Junkers-
werk Fili, sondern in einem Reparaturwerk in Irkutsk sowie einem ähnlichen Be-
trieb in Moskau ("ZARB", Zentralnaja aviaremontnaja basa) aus von Deutschland
importierten Teilen zusammengebaut. Ein solches Verfahren ist im Hochtechnolo-
giebereich bis heute in Entwicklungsländern üblich. - Neben der Ausbildung von
Führungskräften und dem "farming out" von Technologieimporten kauften die So-
wjets wiederholt Prototypen von Junkersflugzeugen aus Deutschland, um beson-

8 Der kundige Leser erkennt sogleich, daß dies 55 Jahre später die wichtigsten Basen für
die sowjetischen Luftstreitkräfte im langjährigen Krieg in Afghanistan sind.
Die Luftfahrtindustrie 31

ders den Bau schwerer Bomber in der UdSSR voranzubringen. Als Junkers sein
Verkehrsflugzeug G 23 (ein Vorläufer der bekannten Ju-52) auf dem Weltmarkt
anbot, bestellte die Sowjetregierung eine als Bomber einsetzbare Variante. Zum
Serienbau kam es zwar nicht, aber die Sowjets orderten danach einen schweren
dreimotorigen Bomber, der später unter der Bezeichnung JuG-1 bekannt wurde. Da
die Internationale Überwachungskommission für das Reich die Entwicklung eines
so großen und so stark motorisierten Flugzeuges kaum geduldet haben würde, ver-
fiel die FirmaJunkers auf einen Ausweg. In Dessau wurde der Prototyp des unbe-
waffneten Bombers entwickelt und erprobt sowie die Fertigung von Bauteilen be-
trieben; der Zusammenbau und die Auslieferung der voll ausgerüsteten Bomber an
die UdSSR erfolgte in einem schwedischen Tochterunternehmen in Limhamn. In
den Jahren 1926/27 erwarben die Sowjets auf diesem Wege 23 Bomber.
Die Sowjetregierung war auch an Jägern interessiert, und Junkers setzte mehr-
fach an, parallel wie beim Bomberbau mit den Russen ins Geschäft zu kommen.
Allerdings fehlte es dem Unternehmen in diesem Bereich, wie sich herausstellen
sollte, an Kompetenz. In Dessau war, erneut unter Umgehung der Bestimmungen
des Versailler Vertrages, ein Versuchsflugzeug unter der Typenbezeichnung T-22
konzipiert worden, welches zu einem Jagdeinsitzer weiterentwickelt werden sollte.
Die Sowjetregierung kaufte die Konstruktion und orderte den Serienbau des nun-
mehr Ju-22 benannten Flugzeuges in Fili. Die Junkers-Maschine bestand jedoch
nicht die sowjetische Musterprüfung, augenscheinlich aus triftigen Gründen. Einer
der beteiligten deutschen Ingenieure berichtet zum Beispiel über unerwünschte
Flugbewegungen:
,,Bei kräftigem Höhenrudergeben aus dem Vollgashorizontalflug drehte sie von selbst
die schönsten überzogenen Rollen, und ehe die Piloten sich versahen, hatten sie sich
ein- oder auch zweimal mit dem Flugzeug um die Längsachse gedreht."9
Nach diesem Mißerfolg versuchte Junkers einen zweiten Anlauf. 1927 wurde in
Dessau heimlich ein Jagdzweisitzer gebaut und im schwedischen Limhamn militä-
risch ausgerüstet. Die Sowjets, nunmehr vorsichtiger geworden, kauften zwei Ex-
emplare, die "im Jahre 1930 im Forschungsinstitut der Luftstreitkräfte getestet"
wurden.lO Ein sowjetischer Auftrag erfolgte nicht, das Muster wurde gleichwohl
"an zahlreiche Luftwaffen geliefert".ll
Obwohl die Kooperation von Junkers mit den Sowjets keineswegs der einzige
Fall einer intimen Zusammenarbeit eines ausländischen Privatunternehmens mit
den Sowjets zu Rüstungszwecken und entgegen den politischen Intentionen verant-
wortlicher Regierungen darstellt, hat doch dieser Vorgang ungewöhnlich scharfe
Kritik gefunden. Der konservative englische Historiker Gunston entwickelt sich
wegen dieses Vorgangs zum Kapitalismuskritiker. Der renommierte Luftfahrtex-
perte leitete voller Zorn sein Standardwerk über die Sowjetflugrüstung mit einer
Abrechnung mit Junkers ein:

9 Ernst Zindel: "Junkers-Flugzeugbau von der F 13 bis zur G 38", in: Mitarbeiter berich-
ten aus gemeinsamer Tätigkeit, Dessau 1940, S. 106, zit. nach Schmitt 1986, S. 137
10 W.B. Schawrow, Die Geschichte der Konstruktion von Flugzeugen in der UdSSR bis
1938, Moskau (Verlag für Maschinenbau) 1978, S. 302 (russ.), zit. nach Schmitt 1986
11 Kens/Nowarra 1961, S. 342
32 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

"(Junkers) beendete seine ungewöhnliche ,Russian connection', in welcher der erste


kommunistische Staat sich in bezug auf technologische Unterstützung schwerpunkt-
mäßig auf einen extrem kapitalistischen Privatbetrieb verließ."l2
In der Sicht von Gunston schieden hier zwei Akteure, die einander weidlich ausge-
nutzt hatten, jeweils zum eigenen Vorteil:
"Die Trennung beider Wege geschah im wechselseitigen Einvernehmen. Die Zusam-
menarbeit hätte kaum für immer weitergehen können, und Junkers war an das Ende sei-
ner Nützlichkeit gekommen. Auf der anderen Seite hatte das deutsche Unternehmen
seine Furcht vor der alliierten Kontrollkommission verloren und meinte, nunmehr sel-
ber im eigenen Land den Arm zwecks Verletzung des Versailler Vertrages anspannen
zu können."13
Die Verwendung westlicher Technologieimporte in der UdSSR führte gelegentlich
zu heftigen Auseinandersetzungen.
Junkers verklagte 1926 Tupolew persönlich sowie das aerodynamische For-
schungsinstitut ZAGI, weil Tupolew sich bei der Konstruktion seines ersten mehr-
motorigen Flugzeuges, des Bombers ANT-4, zu frei bei Junkers-Patenten bedient
habe.14 Der dicke Ganzmetallflügel des Bombers, zu jener Zeit eine Pioniertat,
wies in der Tat unzweideutig die Handschrift von Hugo Junkers auf. Auch in der
Fertigungstechnologie zeigte sich Tupolew von den Deutschen abhängig: Seine
Maschine konnte einzig im ehemaligen Junkerswerk in Moskau produziert werden,
weil nur dort eine Gruppe von 40 im Metallleichtbau erfahrenen Fachkräften ver-
fügbar war. Die sowjetische Behauptung, bei dieser bis 1945 mit erheblichem Er-
folg geflogenen Maschine handele es sich um das erste Ganzmetall-Großflugzeug
der Welt, ist nicht zu widersprechen, nur basierte diese Pionierleistung im wesent-
lichen auf ausländischer Technologie.
Aufgrund der geringen Leistungsfahigkeit der heimischen Industrie (die mit
einem Ausstoß von 137 Maschinen im Jahre 1919 einen Tiefstand erreichte) waren
die Sowjets gezwungen, bis 1925 die Hälfte ihres Militärflugzeugbedarfs zu im-
portieren. So überrascht nicht, daß die sowjetischen Luftstreitkräfte bis zum Be-
ginn des ersten Fünfjahresplanes im Jahre 1928 für Kampfaufgaben hauptsächlich
mit ausländischem Gerät ausgerüstet sind.
In den Folgejahren entstehen, die in der Kooperation mit dem Ausland gewon-
nenen Erfahrungen nutzend, sowjetische Eigenbauten. Tupolew entwirft einen
zweisitzigen Aufklärer, der als R-3 im ehemaligen Junkerswerk in Moskau in Pro-
duktion geht.
Die Motoren mußten im Ausland gekauft werden. Die sparsamen Sowjets ver-
zichteten auf den an sich geeigneteren britischen Napier-Motor, mit dem der Proto-
typ flog, und wählten für die Serie lieber das billigere amerikanische Liberty-
Triebwerk.
Es wäre übertrieben, in den Lizenzbauten die ausschließliche Wurzel des so-
wjetischen Militärflugzeugbaus zu sehen. Wissenschaftlich hatte die russische
Luftfahrtforschung von Anbeginn Beachtenswertes zu bieten, vor allem durch die
Arbeiten N.J. Schukowskis. Noch vor Kriegsbeginn flog der Prototyp eines schwe-
ren Bombers (genannt "Ilja Mourometz"), den Sikorsky konstruiert hatte. 1923

12 Gunston 1983, S. 9
13 Gunston 1983, S. 9
14 Der Verweis auf diesen Prozeß findet sich bei Gunston 1983, S. 287
Die Luftfahrtindustrie 33

startete der erste Prototyp eines sowjetischen Kampfflugzeuges, eine Konstruktion


von Polikarpow. 1926 wurde die Fertigung verbesserter Varianten in Moskau in
der Fabrik GAS-I aufgenommen. Ferner sind in kleiner Serie gefertigte Kampf-
flugzeuge des Konstrukteurs Grigorowitsch zu erwähnen. Die mit ausländischer
Hilfe eingerichteten Werke behielten jedoch eine gewisse Führungsposition (so
wurden in Fili zwischen 1929 und 1932 im ehemaligen Junkerswerk 242 Tupolew-
Jäger der damals neuartigen Ganzmetallkonstruktion I-4 ("Istrebitel" ist das russi-
sche Wort für Jäger) gebaut.
Im Jahre 1930 waren die sowjetischen Luftstreitkräfte zumeist mit sowjeti-
schen Konstruktionen ausgerüstet. Der spanische Bürgerkrieg bot den Sowjets
(ähnlich wie der Einsatz der Legion Condor den Nazis) wertvolle Erfahrungen. Die
schweren Verluste an sowjetischen Flugzeugen in Spanien zwangen die Sowjetfüh-
rung zu der Einsicht, daß verschiedene Mängel in der Bewaffnung und im passiven
Schutz zu überwinden wären, und man wandte sich erneut ans Ausland, um moder-
ne Technologie einzuführen. Die Sowjets erwarben in den USA einige Kampfflug-
zeuge der Firma Vultee (später Convair, heute unter dem Namen General Dy-
namics bekannt) vom Typ V-11 und der Firma Seversky (später Republic) vom
Typ 2PA. Für den Technologietransfer bedeutsamer wurde jedoch ein Ende 1938
zwischen dem Dritten Reich und der UdSSR geschlossenes Geheimabkommen. Im
Tausch gegen kriegswichtige Rohstoffe erklärte sich die Reichsregierung mit dem
Besuch sowjetischer technischer Delegationen einverstanden, die alle modernen
deutschen Waffen und deren Fertigungsstätten ausgiebig inspizieren durften.15 Die
deutsche Flugzeugindustrie war gehalten, Exemplare jedes Militärflugzeugtyps
auszuhändigen, welchen die Russen wünschten. In der Folge bekamen die Sowjets
fünf der neuen Hochleistungsjäger Heinkel He IOOV, fünf Exemplare des Konkur-
renzmusters Messerschmitt Bf 109C, fünf Zerstörer Me llOC, dazu im Winter
1939/40 zwei Bomber Do 215B16 und weitere Einzelstücke modernster deutscher
Kampfflugzeuge. Mit der Bf 109 hatte Tupolew zuvor Unannehmlichkeiten: Er
wurde im Zuge der Säuberungen 1936 mit der Beschuldigung verhaftet, die Bau-
pläne den Deutschen verraten zu haben, und gelangte in die gefürchtete Lubjanka.
Die Kooperation mit den Deutschen setzte sich bis zum Überfall auf die
UdSSR im Juni 1941 fort. Noch 1940 schenkte der Reichsmarschall Hermann
Goering der Sowjetunion ein Exemplar des Fieseier "Storch" (die Fertigung war
1939 in Deutschland angelaufen). Die Sowjets zeigten sich von den KurzstaTtei-
genschaften der Maschine beeindruckt und beauftragten Antonow, eine vergleich-
bare Maschine zu entwerfen oder aber die deutsche Konstruktion zu kopieren. An-
tonow wählte die zweite Möglichkeit, Er hatte zwar Schwierigkeiten mit der ihm
ungewohnten Rumpfkonstruktion aus geschweißten Stahlrohren, weshalb der Pro-
totyp zu schwer ausfiel und "abgemagert" werden mußte. Noch 1940 ging jedoch
der nunmehr OKA-38 benannte "Storch", der diesen Vogelnamen auch auf rus-
sisch trug ("Aist"), in die Flugerprobung. Die Serienfertigung im Baltikum wurde
durch den Vormarsch der Deutschen unterbrochen.17

15 Einzelheiten bei Jak:owlew 1972, S. 113 ff.


16 Der Transfer der Dornier- und Heinkel-Maschinen wird in dem Handbuch von Kens/
Nowarra 1961, S. 144 u. S. 269 verzeichnet.
17 Gunston 1983, S. 40/41
34 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

Know-how-Transfer durch Personalpolitik

Jahrzehntelang haben die sowjetischen Verantwortlichen durch eine intensive Per-


sonalpolitik gezielt versucht, das Niveau des Know-how in der sowjetischen Rü-
stungsindustrie westlichen Standards näher zu bringen. Man lud zum einen Fach-
leute wie Junkers und seine Mitarbeiter in die UdSSR ein. Zum anderen schickten
die Sowjets ihre führenden Konstrukteure wiederholt in den Westen, um dort Rü-
stungswerke zu besuchen. Die bizarrsteReise dieser Art fand wohl im Jahre 1939
statt, als Sowjetteams die Rüstung des Dritten Reiches inspizierten- eben die Waf-
fen, mit denen sie bald selber bekriegt werden sollten.
Großer Wert wird und wurde darauf gelegt, daß sowjetische Konstrukteure
sich mit vergleichbaren Konstruktionen im Westen vertraut machen, ehe sie an ihr
eigenes Projekt gehen. Aus Kosten- und Konkurrenzgründen ist dies zumindest bei
Privatunternehmen auch im Westen gängige Praxis. In der UdSSR scheint jedoch
dieses Vergleichsstudium besonders intensiv betrieben zu werden.
Das genaue Studium ausländischer Konstruktionen wurde geradezu ritualisiert
erwartet. So wird von Berijew, mittlerweile etabliertem OKB-Chef, berichtet, daß
er vor der Konstruktion seines Flugbootes MDR-5 sorgfältig den amerikanischen
Entwurf Sikorsky S-43 analysierte. Gunston hält fest, "daß bis zu diesem Tag so-
wjetische Triebwerkskonstrukteure ausländische Triebwerke mit größerer Zuwen-
dung studierten als die Flugzeugkonstrukteure ausländische Flugzeuge analysier-
ten" .IR
Neben dem obligaten Besuch von Waffenschauen wie den Traditionsveranstal-
tungen im englischen Famborough oder im Pariser Le Bourget und der Teilnahme
an internationalen Fachkongressen wurden von den Sowjets hin und wieder gezielt
Gruppenreisen ins Ausland organisiert, um die sowjetischen Waffenkonstrukteure
vor Ort zu informieren. Tupolew und sein Team unternahm 1932 eine erste solche
Gruppenreise. Besonders ergiebig waren Nachbauprogramme. Auch amerikaDisehe
Lizenzgeber kooperierten damals durchaus großzügig mit den Russen. Nach dem
Kauf der Nachbaurechte der Douglas DC-3 weilte Chefkonstrukteur Lisunow mit
einem Team von November 1936 bis April1939 im kaliforniseben Santa Monica,
wo er ,jedes Bauteil der DC-3 sowie die Vorrichtungen und Werkzeuge Stück für
Stück durchging, ebenso die für den Betrieb notwendigen Gegenstände".19
Lisunow hatte in seinem Team die Elite des künftigen Militärflugzeugbaus der
UdSSR mitgebracht: Neben dem später als Jagdflugzeugkonstrukteur berühmten
A.I. Mikojan unter anderen W.M. Miasyschtschew, später der Heros der sowjeti-
schen Langstreckenbomberkonstrukteure. Alle diese Koryphäen begannen beschei-
den 1937 bei Douglas, die Konstruktionspläne der DC-3 für sowjetische Umstände
umzuarbeiten.
Beachtlich sind auch Delegationsreisen sowjetischer Fachleute ins nationalso-
zialistische Deutschland. Einzelne Mitglieder dieser Kommissionen blieben länge-
re Zeit im Reich. Der Prominenteste dürfte Alexandr S. Jakowlew gewesen sein.
Am 30. Oktober 1939 reiste er mit einer Gruppe Fachleute zu den Heinkel-Werken
in Rostock-Marienehe und blieb dort als Abnahme-Ingenieurfür die fünf von den
Sowjets gekauften Heinkel-Jäger He-100. Das Muster hatte im März 1939 den

18 Gunston 1983, S. 10
19 Gunston 1983, S. 165
Die Luftfahrtindustrie 35

Weltgeschwindigkeitsrekord geflogen, und Jakowlew hatte Versuchsmaschinen


abzunehmen - angesichts der strengen sowjetischen Bestimmungen sicher eine
Zeitaufwand erfordernde Aufgabe.20
Jakowlew gibt an, außer in Deutschland beruflich in Italien und wiederholt in
Großbritannien und Frankreich tätig gewesen zu sein.21 Besonders seine atmosphä-
risch dichten Beobachtungen eines Russen vom Alltag im Nationalsozialismus ver-
dienten eine breitere Leserschaft. Neben Jakowlew sind von den bekannteren so-
wjetischen Flugzeugkonstrukteuren N.N. Polikarpow (Reisen nach Italien und
Deutschland) und P.O. Suchoj (vermerkt wird eine Italienreise) im Ausland gewe-
sen. An der Deutschlandreise waren unter anderen A.I. Gusew, N.N. Polikarpow,
W.P. Kusnetzow und P.W. Dementjew beteiligt. Auf der Flugschau von Farnho-
rough im Jahre 1960 waren Antonow und Jakowlew, der Triebwerkkonstrukteur
Solowjew und der Instrumentenspezialist Tschadschikjan anzutreffen; den Pariser
Aerosalon 1965 besuchten Tupolew, Mikojan, Antonow, Mil, Dementjew und Ja-
kowlew. Führende sowjetische Konstrukteure besuchten die Flugschauen von
Farnborough 1966 und den Aerosalon 1967. Seither ist die Kette solcher Delegati-
onsreisen ununterbrochen bis in die jüngste Zeit (1988 besuchte unter andeen der
Chefkonstrukteur des MiG-Teams die Flugschau in Farnborough).
Nicht zu unterschätzen ist der Ausbildungseffekt, den ausländische Konstruk-
teure in der sich technologisch rasch entwickelnden UdSSR bewirkten. Außer den
Junkers-Leuten wurden wiederholt ausländische Fachleute zu längeren Aufenthal-
ten in der UdSSR und zur Mitwirkung in der Rüstung eingeladen. Die staatliche
Aviatrust rekrutierte wiederholt ausländische Konstrukteure, so in Frankreich Paul
Aime Richard, der 1928 unter anderen mit seinen Landsleuten Auge und Laville
ein Konstruktionsteam für die nicht recht florierende Flugbooterzeugung aufbaute.
Zu Richards Mitarbeitern gehörten einige der später bekanntesten Konstrukteure;
neben Berijew (Flugboote) vor allem die Jägerspezialisten Gurewitsch und La-
wotschkin sowie der Hubschrauberexperte Kamow. Richard konstruierte einen
Torpedobomber, der allerdings nicht in Serie gebaut wurde. 1931 ging er nach
Frankreich zurück, nachdem er "in politische Schwierigkeiten" geraten war.
Sein Landsmann Andre Laville war klug genug, aus Richards Team rechtzeitig
auszuscheiden und 1930 in Moskau eine eigene Gruppe zu bilden. Laville nutzte
seine Erfahrungen in der französischen Jägerfirma Nieuport-Delage und stellte
1933 den Prototyp eines zweisitzigen Jägers vor, der ersten sowjetischen Maschine
mit dem damals neuartigen Mövenknick im Flügelaufbau. Zum Serienbau kam es
nicht, weil Laville auf einen amerikanischen Flugmotor zurückgreifen mußte. - La-
ville entwarf hernach ein recht erfolgreiches Verkehrsflugzeug (PS-89) und kehrte
1939 nach Frankreich zurück.

20 Ernst Heinkel beschreibt in seiner Autobiographie (vgl. Heinkel 1963, S. 396) den Be-
such in seinem Werk. Als wichtigste sowjetische Fachleute nennt er (so seine Schreib-
weise der Namen) A1exander Gussew, Vladimir Schewtschenko und Wassily Kuzne-
zow (offenbar nicht identisch mit dem Triebswerkkonstrukteur N.D. Kuznezow). -Ein
konstruktiver Niederschlag der Erfahrung mit der He-100 läßt sich bei Jakolews Ent-
würfen nicht nachweisen (mit 37.000 Exemplaren seiner Jäger Jak-1 bis Jak-9 war er
der erfolgreichste sowjetische Konstrukteur im 2.Weltkrieg).
21 Jakowlew 1972, S. 49, S. 52 f. Ferner war Jakolew gelegentlich in Wien. Die Erinne-
rungen Heinkels, in denen sein Aufenthalt in Rostock beschrieben wird, kennt und zi-
tiert Jakolew, ohne freilich auf diese Partien einzugehen.
36 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

Hin und wieder erhielten die Sowjets technische Unterstützung von Indivi-
duen, die ihrer parteipolitischen Haltung wegen mit dem System sympathisierten.
Der Herausragendste dürfte der italienische Flugzeugkonstrukteur Roberto L. Bar-
tini gewesen sein. 1921 war er Mitbegründer der KPI und organisierte in Mailand
kommunistische Zellen. Als Mussolini zwei Jahre später die KP verbot, emigrierte
Bartini in die Sowjetunion. 1924 bis 1928 diente er der Roten Armee als Ingenieur,
fiel durch seine Begabung auf und erhielt ein eigenes Konstruktionsbüro. In der
Folgezeit entwarf Bartini eine Reihe höchst ungewöhnlicher Konstruktionen, die
zwar nicht in den Serienbau gingen, aber doch zur Verbreiterung der technischen
Basis der sowjetischen Flugzeugindustrie beitrugen (so wirkte er an Stahlkonstruk-
tionen mit, etwa beim ModellStal 7). Seine Senkrechtstarter und Düsenjäger wur-
den in der UdSSR breit beachtet. Des ungeachtet wurde er während der Säuberun-
gen ins Gefängnis geworfen. Die letzte Nachricht über ihn stammt vom Jahr 1967:
Er erhielt den Lenin-Orden für seine Verdienste in der sowjetischen Luftfahrtfor-
schung.
Gleichfalls aus Italien kam der Drehflüglerspezialist Vittorio Isacco, der von
1932 bis 1936 in der UdSSR an einem Hubschrauber "Gjelikogyr" oder Isacco-4
arbeitete. Platterprobleme und andere Schwächen führten dazu, daß die Entwick-
lung abgebrochen und Isacco gleichfalls ins Gefängnis geworfen wurde (wo er
weiter als Konstrukteur arbeitete).
Einen mutmaßlich letzten und in seiner Bedeutung schwer abschätzbaren Zu-
fluß an technischen Informationen, die ihnen über zuwandernde Personen zugin-
gen, erhielten die Sowjets Ende der vierziger Jahre. Im Zusammenhang mit dem
sogenannten Rosenberg-Prozeß, der Anklage und Hinrichtung des Ehepaares Ro-
senberg wegen Atomspionage zugunsten der UdSSR, verließ eine Anzahl von vor-
mals mit den Sowjets sympathisierenden oder solcher Sympathien verdächtigter
Amerikaner die Vereinigten Staaten. Die Literatur über die Verratstätigkeit von
Klaus Fuchs22 und andere "Atomspione" füllt inzwischen Regale. In den USA,
etwa am renommierten Russian Research Center der Harvard Universität, werden
noch heute jüdische Emigranten aus der UdSSR ausgefragt, ob sie über den Ver-
bleib und die spätere Tätigkeit einzelner amerikanischer Fachleute etwas wüßten.
Womöglich bedeutsamer als der Transfer von Nukleargeheimnissen (den die
weiland in der UdSSR tätigen Deutschen als nicht wichtig bezeichnen, vgl. Kapitel
2) dürfte der Seitenwechsel einzelner Elektronikingenieure zu Buche schlagen. In
dem erw~nten Harvard-Projekt wurde so zum Beispiel die Flucht der beiden
Elektroniker Alfred Sarant und Joel Barr (als Sowjetbürger nunmehr Filip Georgje-
witsch S taros und J osef Weniaminowitsch Berg) und ihre seitherige Tätigkeit in
der UdSSR rekonstruiert. Die beiden waren in den USA in der Radarforschung tä-
tig gewesen. In den UdSSR nahmen sie Führungspositionen in der Halbleiterfor-
schung und bei der Konzipierung von Computern ein.23

22 Neuere Beiträge enthalten durchaus Wissenswertes. Die Verbindung zwischen Klaus


Fuchs und dem sowjetischen Geheimdienst z.B. hat Jürgen Kuczynski, der Senior der
Sozialwissenschaften der DDR, hergestellt (nach West 1983, S. 38).
23 Einzelheiten bei Kuchment 1985, S. 44-50. V gl. auch: Reppert 1983, S. 6
Die Luftfahrtindustrie 37

Technologieimport durch Militärhilfe

Zu Beginn des 2. Weltkrieges mußten sich die Sowjets bis zur Bildung der Anti-
Hitler-Koalition bei Kampfflugzeugen auf Eigenkonstruktionen verlassen und er-
warben nur für Nebenlinien der Luftfahrttechnologie ausländisches Know-how. So
wurde von den amerikanischen Convair-Werken eine Lizenz für das herausragende
Flugboot PBY-5 vergeben, und der Nachbau der DC-3liefweiter. In beiden Fällen
ist den sowjetischen Auswahlteams zu bescheinigen, daß sie auch im historischen
Rückblick die jeweils beste verfügbare Technologie gewählt haben (vgl. Tabelle
2).

Tabelle 2:
US-Flugzeugtransfers in die UdSSR im 2. Weltkrieg
Typ Lieferant Bezeichnung Zahl

Bell P-39 4.743


Curtiss P-63 2.400
Jäger
Curtiss P-40 2.091
Republic P-47 195

Douglas A-20 2.901


Bomber
North American B-25 826
Transporter Douglas C-47 707

Trainer North American AT-6 81


Flugboot Consolidated PBY-6 185

Quelle: Zusammengestellt nach Green/Fricker, a.a.O., S. 253


Die Zahlenangaben beziehen sich auf tatsächlich in der SU eingetroffene Maschinen. In
Folge z. T. hoher Transferverluste differieren diese Daten mit anderen Quellenangaben, die
sich auf die Auslieferung ab Fabrik beziehen.

Allein aus den USA erhielt die Sowjetunion im Krieg mehr als 14.000 Militärflug-
zeuge- was in Bezug zu sehen ist zu einer Kampfstärke von 17.500 Flugzeugen
bei Kriegsende. Ferner sind britische Lieferungen kleineren Ausmaßes zu erwäh-
nen: zwei Staffeln Hawker Hurricane Jäger, eine geringe Anzahl Spitfire-Jäger
und Mosquito-Bomber sowie einige Albemarle-Aufklärer. Festzuhalten ist somit,
daß die sowjetische Flugzeugindustrie während der Kriegsjahre Technologie-Infu-
sionen modernster Art von beiden Seiten erhielt, wobei freilich der US-Beitrag do-
miniert.
In Sondertechnologien wie etwa dem Bau von Flugbooten erreichten sowjeti-
sche Entwürfe im Regelfall nicht den auf dem Weltmarkt angebotenen Standard.
Außer dem Flugboot MBR-2 von Berijew (dieses wiederum war eine Verbesse-
rung des importierten italienischen Flugbootes S. 62) erwiesen sich alle Konstruk-
38 Abhängigkeit von auslärulischer Technologie?

tionen als enttäuschend, und die Sowjets bauten statteigener Modelle ausländische
Muster in Großserie wie das Boot PBY von Consolidated (heute General Dyna-
mics). Sogleich nach der Exportfreigabe erwarb Amtorg, die für US-Importe zu-
ständige staatliche Einrichtung, die Nachbaurechte sowie drei Maschinen. Die rus-
sischen Ingenieure erwiesen sich vom Stand der US-Technologie beeindruckt. Da
schwieriger zu fertigende Bauteile die Kompetenz der Facharbeiter überstiegen
oder eine Anzahl von Spezialwerkzeugen nicht vorhanden waren, konnte das Flug-
zeug jedoch nicht einfach nach den amerikanischen Zeichnungen gebaut werden.
Es waren vielmehr mehr als 600 Konstruktionsänderungen erforderlich, um das
Muster an sowjetische Verhältnisse anzupassen. - Die Convair blieb bis nach
Kriegsende in Serienproduktion.

Vorausschauende Akquisition ausländischer Technologie

Das Kopieren eines zeitgenössischen Großsystems ist entgegen laienhaften Vor-


stellungen keine leichte Aufgabe, und sie erfordert generalstabsmäßige Präzision.
Das läßt sich nunmehr gut an der während des Krieges erfolgenden sowjetischen
Kopie von Amerikas erstem Atombomber, Boeings B-29, darstellen.
Die Sowjets waren fest entschlossen, selber über die B-29 zu verfügen. Würde
ein Exemplar dieses gegen Kriegsende modernsten Bombers mit der größten
Reichweite aller Vergleichsmuster in sowjetische Hände fallen, etwa durch eine
Notlandung, so sollte Tupolew die Maschine direkt kopieren. Da man auf sowjeti-
scher Seite jedoch nicht sicher sein konnte, einer der Maschinen habhaft zu wer-
den, wurde das Tupolew-Team zugleich mit dem ,,Projekt 64" betraut. Hinter der
Chiffre verbarg sich das Vorhaben, Ersatzlösungen bereit zu halten. ,,Projekt 64"
wirkte somit als Rückfallversicherung, falls die direkte Kopie der Boeing nicht
möglich sein würde.
Die sowjetische Spionage informierte augenscheinlich hinreichend zuverlässig
über Amerikas neuen Superbomber, der im Dezember 1942 erstmals flog. Das Mo-
toren-Konstruktionsbüro Schwetsow begann 1943 mit den Vorbereitungen der
Nachkonstruktion der Wright R-335a Sternmotoren sowie der Höhenlader von Ge-
neral Electric.
Am 29. Juli 1944 trat der ersehnte Glücksfall ein und eine B-29 fiel in russi-
sche Hände. Der Glücksfall wiederholte sich in kurzen Abständen: Am 20. August
mußte eine zweite B-29 auf russischem Areal notlanden, im November eine dritte.
Es fallt schwer zu akzeptieren, daß man in den USA bis 1946 dem Gerücht nicht
Glauben schenken wollte, daß der sowjetische Allüerte die Boeing kopierte. Über
das Verschwinden der drei Bomber und ihrer Besatzungen hätten sich die Verant-
wortlichen augenscheinlich gründlicher wundem sollen.
Tupolew wechselte sofort vom "Projekt 64" zu den Boeings über. Er hatte eine
völlig neue Aufgabe zu meisten: 105.000 Einzelteile waren zu vermessen, auf das
verwendete Material hin zu prüfen, ihre Funktion war nachzuvollziehen, das für sie
geeignete Fertigungsverfahren war zu ermitteln, und Toleranzmaße für die Ferti-
gung mußten bestimmt werden. Mehr als 1.000 technische Zeichner waren damit
beschäftigt, die B-29 auf sowjetische Blaupausen zu kopieren. Viele Bauteile und
Subsysteme waren den Sowjets bis dahin unbekannt. Andere wie die Druckkabine
und die Steuerung der Bewaffnung des Bombers waren anders gemacht, als die
Russen dies kannten. Mit der Entscheidung, der eigenen Atombombe die höchste
Die Luftfahrtindustrie 39

Prioritätsstufe zu geben, beschleunigte sich in der ersten Januarwochen 1945 auch


das Kopierprogramm. Die Maschine sollte unter dem Namen Tupolew Tu-4 gleich
in drei Werken in den Serienbau gehen.
Im Ergebnis blieben nur wenige Bauteile der Tu-4 mit der B-29 identisch, ob-
wohl beide Flugzeuge äußerlich vom Nichtfachmann nicht zu unterscheiden sind.
Auch verwendeten die Russen größtenteils andere Rohstoffe. Als vorsichtige Kopi-
sten legten sie die vielfachen Hydraulikschläuche bei der Umrechnung ins metri-
sche System stets etwas stärker aus als im Original. Bei den Passungen der An-
schlußbolzen für die Tragflächen quälte die Konstrukteure lange Zeit ein Fehlmaß
von Millimeterbruchteilen. Mit den Integraltanks im Flügel des Bombers kamen
die Fertigungstechniker nicht zu Rande, und man entschloß sich, auf Kosten der
Reichweite herkömmliche Gummitanks einzubauen. Ferner versuchte man, aller-
dings ohne Erfolg, Verschleißteile wie Räder, Ersatzreifen und Bremsbeläge für
die Boeing/Tupolew direkt in den USA zu kaufen. Kein Wunder, daß die sowjeti-
sche Kopie erheblich schwerer ausfiel als das amerikaDisehe Vorbild, obwohl Tu-
polew versucht hatte, den Bomber abzuspecken. So wurde auf den druckbelüfteten
Tunnel, der in der B-29 zum Komfort der Besatzung das Cockpit mit dem im Mit-
telrumpfgelegenen Raum für Bombenwarte und Bordschützen verband, in der so-
wjetischen Version verzichtet.
Am 3. Juli 1947, ziemlich genau drei Jahre nach dem Eintreffen der ersten Ori-
ginalmaschine, startete die sowjetische Kopie erstmals. Die Sowjets hatten sicher
erheblich Zeit und Kosten gespart. An der Kopie sollten sie jedoch keine rechte
Freude haben. Mit fast allen Systemen des Bombers gab es ernste Probleme. Die
ungewohnten Höhenlader und Verstellpropeller funktionierten nicht zufriedenstel-
lend. Es gab häufig Triebwerkbrände, weil die Kühlung der achtzehnzylindrigen
Motoren unzureichend kopiert worden war. Der Bombenschütze und die Piloten
hatten Sichtprobleme, weil es fertigungstechnisch zunächst nicht gelang, das Plexi-
glas für die Pilotenkanzel schlierenfrei zu gießen. Mit dem Ausbügeln dieser Kin-
derkrankheiten vergingen zwei weitere Jahre, ehe der Serienbau voll anlaufen
konnte. Ende 1950 standen dann gleich mehr als 300 Tu-4-Bomber zur Verfügung.
Da war die Maschine jedoch schon technisch überholt - Boeing produzierte längst
Düsenbomber mit Pfeilflügeln, die beinahe doppelt so schnell wie das sowjetische
Modell flogen. Tupolew konstruierte aufgrund der Erfahrung mit der B-29 zwei
weitere Folgemodelle, benannt Tu-80 und Tu-85, die technisch gelungener ausfie-
len (vgl. Abbildung 1). Angesichts der Überlegenheit des Düsenantriebs erwies
sich dieser Weg jedoch bald als Sackgasse.
Indirekt hat die Kopie jedoch nach Expertenaussage den sowjetischen Flug-
zeugbau nachhaltig beeinflußt: Gunston will Spuren in dem bis heute verwendeten
Düsenbomber Tu-16 und der Passagiermaschine Tu-154 ausgemacht haben:
"Eine Menge Technologie vom Stil der B-29 fliegt heute in Tu-16s, und einige Frag-
mente haben sich bis zur Tu-154 durchgeftltert, mehr als 40 Jahre, nachdem der US-
Bomber auf den Zeichentischen in Seattle entstand."24
Das Manöver vorausschauender Akquisition modernster ausländischer Technolo-
gie, wie sie mit der Kaperung und Kopie der B-29 gelang, versuchten die Sowjets
später zu wiederholen. Zwar verfügte die UdSSR gegen Ende 1945 über eine Erst-
ausstattung an Düsenjägern, neben dem weitreichenden Bomber erkennbar die

24 Gunston 1983, S. 13
40 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

Amerikanischer Bomber Boeing B-29 "Superfortress"

Tu-80

Abbildung 1: Tupolews dreifacher Anlauf, den amerikanischen Bomber B-29


zu kopieren
Die Luftfahrtindustrie 41

Trumpfkarte einer modernen Luftstreitmacht Mit ihren veraltenden deutschen


Turbinen waren diese Erstlinge der westlichen Nachkriegsluftrüstung erkennbar
unterlegen. Ein signifikanter Vorstoß im Flugmotorenbau war in der kriegsge-
schwächten UdSSR nicht zu erwarten. So konzentrierte man sich auf den Erwerb
modernster Flugantriebe aus dem Westen.
Die Geschichte ist noch unglaublicher als im Falle der B-29, aber tatsächlich
antizipierten die sowjetischen Behörden, der Geheimdienst und die Konstrukteure,
daß ihnen früher oder später die modernen Jets von Rolls Royce zugänglich wür-
den. Man muß sich vor Augen halten, daß sich im Winter und Frühjahr 1947 die
Anti-Hitler-Koalition endgültig auflöste und mit Trumans bekannter Rede im März
1947 ("Truman-Doktrin") der Kalte Krieg offen eskalierte. Im Zuge eines Han-
delsabkommens hatte jedoch die neue Labour-Regierung im September 1946 den
Verkauf einer Anzahl von Rolls-Royce-Triebwerken der Muster "Nene" und "Der-
went" zugesagt. Die britisch-sowjetische Zusammenarbeit muß recht eng gewesen
sein, denn noch im Februar, bevor die ersten britischen Aggregate eintrafen, erhiel-
ten die sowjetischen Jägerkonstrukteure aus England exakte Bauzeichnungen mit
den Angaben der Aufhängepunkte der Triebwerke sowie der erforderlichen Stärke
dieser Konstruktionspunkte.
Der Altmeister des sowjetischen Flugzeugbaus, Tupolew, konzipierte seinen
ersten Düsenbomber Tu-12 in Erwartung der britischen Motoren (Projektbeginn
Mitte 1946). Ein Baulos des ansonsten mit Kolbenmotoren angetriebenen älteren
Serienbombers Tu-2 wurde bereit gehalten, um sogleich bei Eintreffen eines briti-
schen Düsenmotors mit dem neuen Antrieb ausgerüstet zu werden (vgl. Abbildung
2). Schon aufgrund seines Seniorats war es selbstverständlich, daß Tupolew die er-
ste Zuteilung der im Winter 1947 eintreffenden Motoren erhielt. Als Tu-2N ("N"
war zunächst die Abkürzung für den britischen Typennamen ,,Nene", mit dem
Rolls Royce sein Produkt benannt hatte) ging diese Kombination unmittelbar in die
Flugerprobung. Das Serienmuster der Tu-12 konnte schon am 23. Juni 1947 die
Flugerprobung aufnehmen, zwei Maschinen wurden am 3. August in Tuschino in
einer Luftparade vorgeführt. Im September war eine erste Serie der Maschinen
ausgeliefert.
Diese Geschwindigkeit war nur möglich, weil Tupolew als Routinier jedes Ri-
siko vermieden hatte und den Rumpf, obwohl das Fahrwerk und der Flügel zur
Aufnahme der Düsentriebwerke neu konstruiert werden mußten, weitgehend nach
dem Vorbild seines älteren Bombers Tu-2 konzipiert hatte. So erfüllte Tupolew so-
wohl Stalins Terminwünsche und konnte aufgrund der Erfahrungen mit diesem In-
terimsbomber auch in kurzer Folge eine Anzahl mittlerer Düsenbomber für den
Großserienbau vorführen.
Besonders bei gänzlich neuartigen Technologielinien wie dem Hubschrauber-
bau orientierten sich die Sowjets intensiv an ausländischen Vorgaben. Jakowlews
erster Serien-Hubschrauber, von einer Untergruppe seines Büros unter Jerlik ent-
worfen, sah dem etwas älteren amerikanischen Sikorsky S-51 verblüffend ähnlich.
Mil, von Stalin mit exakt einem Jahr Zeitvorgabe für einen neuartigen Hubschrau-
ber versehen, ließ sich beim Entwurf des Mi-4 stark von dem Nachfolgemodell Si-
korsky S-55 inspirieren (vgl. Abbildung 3).
In all diesen Vorgänge, welche hier "vorausschauende Technologieakquisition"
genannt werden, wird ein Grundmuster sichtbar. Dieses scheint bis heute Gül-
tigkeit zu haben, obwohl zugestandenermaßen Einzelzüge, etwa von Stalin per-
42 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

~=
J! II _o_ II

Tu-12

Abbildung 2: Tupolews vorsichtiger Übergang zum Düsenbomber: Austausch


der beiden Sternmotoren (ASch-82) durch zwei britische Strahl-
triebwerke Rolls-Royce ,.Derwen/ 11
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Abbildung 3: Sowjetische Kopien amerikanisclzer Sikorsky-Hubsclzrauber tl


44 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

sönlich diktierte enge Terminvorgaben, nunmehr entfallen. -Zuerst anzuführen ist


die informationeile Kompetenz auf sowjetischer Seite. Was im bunten Angebot der
militärtechnischen Neuerungen im Westen zukunftsweisend ist, wird von ihnen si-
cher erkannt- auch wenn es sich um wenig bekannte Allbieter handelt. Westliche
Technologie wird hernach mit erheblichem Aufwand "russifiziert", wobei durch-
aus westliche technische Unterstützung gesucht wird. Trotz rascher Anfangserfol-
ge führt die Russiftzierung zu so großem Zeitbedarf, daß so entstehende Waffensy-
steme im Produktionsstadium in der Vergangenheit veraltet waren, weil im Westen
schon fortgeschrittenere Technologie in Serie erzeugt wurde.
Mit der Auswertung der Beute nach der Niederlage einer der führenden Tech-
nologiemächte, des Dritten Reiches, hoffte man auf sowjetischer Seite augen-
scheinlich, dieses Defizit ein für allemal zu überwinden. Das Studium dieser Phase
des Technologietransfers zeigt bald, daß trotz erneuter rascher Anfangserfolge die-
se Hoffnung erneut trog.

DerEnverb von Antriebstechnologie

Flugmotoren oder Düsentriebwerke mögen dem Laien als möglicherweise relevan-


te, ansonsten nicht weiter Beachtung verdienende Details der Luftrüstung erschei-
nen. In der Realität ist es genau umgekehrt. Der Mangel an leistungsfähigen und
zuverlässigen Antrieben hat die sowjetische Luftfahrt von Anbeginn behindert.
Stets war sie hier nachholend tätig. Der schon mehrfach zitierte britische Fachhi-
storiker Gunston stellt mit Blick auf die UdSSR bündig fest:
•.Bei Flugantrieben hat es nie eine nationale Kompetenz in der Konstruktion gegeben,
und obwohl es seit 1927 Konstruktionsbüros für Motoren gibt, stützen diese ihre Tätig-
keit mit Vorrang auf ausländische Entwürfe. "25
Tabelle 3 illustriert die Berechtigung dieser Aussage zumindest für die Phase bis
zum Ende des Zweiten Weltkrieges. In die Zusammenstellung wurden auch die
von sowjetischen Konstrukteuren vorgenommenen Ableitungen mit aufgenommen.
Sie zeigen an, wie wichtig die Technologieinfusionen aus dem Ausland gerade im
Motorenbau gewesen sind.
Diese prekäre Situation hält bis in diese Tage an. Die Schwächen sowjetischer
Triebwerke erklären vor allem, warum sowjetische Verkehrsflugzeuge auf dem
Weltmarkt so wenig konkurrenzfähig sind (und selbst einmal verkaufte Exemplare,
so einige Jak-40 an einen westdeutschen Fluguntemehmer, nach kurzer Zeit wegen
Unwirtschaftlichkeit zurückgegeben werden müssen). Mit dieser Schwäche stehen
die Sowjets zumindest im historischen Rückblick nicht allein: Vor 1945 gelang es
auch den Deutschen nicht, wirklich Anschluß an die führenden Motorenbauer in
den USA, England oder Frankreich zu erlangen.26 Das Dritte Reich errang eine
Führungsrolle bei den neuartigen Strahlantrieben, sowohl beim Raketenantrieb wie
bei dem sich in der Folge als ungleich wichtiger erweisenden Turbotriebwerk mit
Luftverbrennung, gemeinhin als Düsenantrieb bekannt. Es leuchtet ein, wenn die
sowjetische Führung bei Kriegsende besonders auf den Erwerb der deutschen Dü-
sentechnik setzte, um einen über Jahrzehnte schmerzlich empfundenen, oft thema-

25 Gunston 1983, S. 10
26 Vgl. beispielsweise die Aussagen von Dornier und Heinkel in: Heinkel1963, S. 104
Die Luftfahrtindustrie 45

Tabelle 3:
Nachbauten!Adaptionen ausländischer Flugmotoren
Ersüauf Charakeristika Sowjetische Ersüauf
Original Beze1chnunll
LCRh6ne 1. WClikrieg M-2
Liberty 1. weltkrieg M-5
Hispano-Suiza 8Fb 1. weltkrieg M-6
Bristol Jupiter VI 1925 9-Zyl Stern Mikulin M-13
Bril!.M-18
M-22 1930
M-32
Bristol GR Titan Schwets. M-15 1928
M-26
BMWVI 1928 12-Zyl V-Motor Mikulin AM-30 1931
mit Flüssig- M/AM-34 1932
kühlung M/AM-35 1939
M/AM-37 1940
AM-38 1941
AM-39 1942
AM-41 1942
M/AM-42 1944
AM-43 1944
AM-47 1946
M-17
M-27
Junkers Jumo 204/6 1930 6-Zyl Diesel ED-1 1935-40
Hispano-Suiza 12Y 12-Zyl.mit Klimow WK-100 1934
Wasserkühlung WK-103 1937
WK-105 1941
WK-106 1939
WK-107 1942
WK-108 1945
WK-109 1945
Gnome-Rhone 14-Zyl Trumanski M-85 1934
K14Mistral M-86 1936
M-87 1938
M-88 1938
Renault 4-Zyl Reihen- MV-4 1936
motor
Renault 6-Zyl. Reihen- MV-6 1936
motor
W~tR-1820 Schwetsow M-25 1934
Cycone ASch-62/M-62 1937
ASch-63/M-63 1939
ASch-71/M-71 1941
ASch-72 1943
ASch-73/M-73 1944
ASch-82/M-82 1940
ASch-83
ASch-90/M-90 1941
M-25
M-62
BMW Motorradmotor 2Zyl M-76
WritR-3350 18-Zyl.Stem Schwetsow ASch-73 1944
Cyc one
AigusAs014 1942 Pulsrohr RD-13
Junkers Jumo 004 1940 TL-Triebwerk RD-10 1945
BMW003 1943 TL-Triebwerk RD-20 1945
RD-21
Rolls-Royce Nene 1944 TL-Triebwerk Klimow RD-45
WK-1 1948
Moebius WK-5 1953
Rolls-Ro:!:ce Derwent 1943 TL-Triebwerk Jakowlew RD-500 1949

Anmerkungen: Reine Importe ohne folgenden Nachbau in der UdSSR sind in dieser Zu-
sammenstellung ebensowenig aufgenommen worden wie Adaptionen zu
indirekter Art (so ist der schwere Motor WD-4 von W.A. Dobrynin aus
dem Jahre 1951 sicherlich im Zusammenhang mit dem in der UdSSR
durch Brandner nachkonstruierten Jumo-222 zu sehen, schon bei der Zahl
und Anordnung der Zylinder -aber um einen Nachbau handelt es sich
eben nicht).
Quelle: Zusammengestellt nach Bill Gunston, Aircraft of the Soviet Union, Lon-
don (Osprey) 1983, S. 25-28
46 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

tisierten Rückstand mit einem Schlage auszugleichen. Die sowjetischen Greif-


trupps, welche in den letzten Kriegsmonaten der kämpfenden Truppe folgten,
scheinen besonders in bezug auf Düsenantriebsfachleute glänzend instruiert gewe-
sen zu sein, betrachtet man ihre Erfolge.
Der im Westen unbekannte Betriebsleiter eines Zweigwerkes der Firma Jun-
kers, dem Betrieb Muldenstein bei Leipzig (in welchem im Dezember 1944 die
Fertigung des Düsentriebwerkes Jumo 004 angelaufen war), wurde im Frühjahr
1945 von den Sowjets unterwegs bei dem Versuch aufgegriffen, sich ins damals
noch nicht befreite Prag abzusetzen. Obwohl dieser "Spezialist", wie ihn die Rus-
sen nannten, Ferdinand Brandner, keine prominente Funktion ausübte (er hatte
zum Beispiel nie an einer der sogenannten Industrieführerkonferenzen in der
Reichshauptstadt teilgenommen) und er auch keinen ehrfurchteinflößenden Titel
trug (es handelte sich um einen simplen Diplom-Ingenieur), waren doch die sowje-
tischen Offiziere so gut über die Interna bei Junkers informiert, daß sie Brandner
auf den Kopf zusagen konnten, daß er nicht nur die Seele der Entwicklung des lei-
stungsfähigsten Kolbenmotors der Firma, sondern obendrein noch der wichtigste
Ausbügler von Fertigungspannen bei den neuen Düsenmotoren sei. In anderen
Worten, Brandner und Leute seines Schlages waren die optimale Beute für die So-
wjets. Es handelt sich keinesfalls um einen Einzelfall. Auch in anderen Bereichen
griffen die Russen gern nach der Nr. 3 oder 4 in einer deutschen Betriebshierarchie
und machten keine schlechten Erfahrungen.27
Jedenfalls fiel es den Sowjets nicht schwer, wichtige Akteure wie Brandner zu
enttarnen, ihre in der Umgebung vergrabenen technischen Unterlagen ausfmdig zu
machen und in der Zeichnungsausgabe der besetzten Rüstungswerke weitere zu-
rückgelassene Unterlagen aufzuspüren. Brandner wirkte gar dabei mit (im Ge-
spräch bezeichnet er diese Haltung heute als naiv), gemeinsam mit den Sowjets
seine wichtigsten Mitarbeiter aufzuspüren. Während die Fängertrupps der Westal-
lüerten vor allem nach prominenten Wissenschaftlern und Cheftechnikern Aus-
schau hielten, legten die Russen mit Erfolg den Nachdruck darauf, ganze Teams in
ihre Hände zu bekommen. Bei BMW mißlang ihnen dies, so daß sich die folgende
Skizze auf die Junkers-Gruppe konzentriert.
Am 1. Juli 1945 wurde Brandner nach Moskau geflogen und nach einer Reihe
von Verhören durch den NKWD (bei denen es ausgiebig um seine nationalsoziali-
stische Vergangenheit ging) mit der führenden Figur im sowjetischen Flugmoto-
renbau, Wladimir J. Klimow, bekannt gemacht. Brandner mußte vor einer größeren
Runde über die Junkers-Entwicklungsarbeiten Vortrag halten und wurde hernach
von Klimow eingeladen, mit ihm zusammenzuarbeiten. Zwischen diesem Ge-
spräch und dem tatsächlichen Projektbeginn verging mehr als ein Jahr, was schwer
erklärlich bleibt. Statt Klimow, der die Leitung des Konstruktionsbüros in Tscher-
nikow~k abgab und nach Leningrad ging, wurde Brandner dem Konstrukteur Ni-
kolai D. Kusnetzow, im Kriege Stellvertreter Klimows, unterstellt. Unter dessen

27 Der neben Brandner wohl spetakulärste Fall ist in Heinkels ehemaligem Konstrukteur
Dipl.-Ing. Siegfried Günter zu sehen. Von Heinkel als der beste deutsche Konstrukteur
bewertet (auf Günter gehen Heinkels Raketenflugzeug He-178, der erste zweimotorige
Düsenjäger sowie der "Volksjäger" zurück), blieb Günter nach vergeblichen Versu-
chen, sich den Westmächten anzudienen, in seiner Sicht nichts anderes übrig, als in die
UdSSR zu gehen, wo man seine Fähigkeiten gebührend anerkannte. Vgl. Heinkel1963,
s. 530/531
Die Luftfahrtindustrie 47

Namen liefen künftig die Konstruktionen des Brandner-Teams.


Neben dem Aufsammeln verwendeten die Sowjets ein Täuschungsmanöver,
um möglichst komplette Rüstungsteams in die UdSSR zu bekommen. Entgegen
den Beschlüssen des Potsdamer Abkommens ließen sie in Schlüsselbetrieben der
Hochtechnologie, so bei Junkers in Dessau oder bei den Zentralwerken in Thürin-
gen, die Entwicklungs- und Produktionsarbeiten fast anderthalb Jahre weiterlau-
fen.28 Bei den beteiligten Deutschen wuchs die Hoffnung, daß es unter der sowjeti-
schen Besatzungsmacht für sie nicht nur eine Zukunft, sondernangesichtsdes all-
gemeinen Nachkriegselends gar eine privilegierte Weiterarbeit an den angestamm-
ten Projekten geben würde. Am 22. Oktober 1946 war es für das Junkers-Team mit
dieser Illusion vorbei.
Brandner spricht von einer "Blitzentführung vieler Tausender von Speziali-
sten", die zum Stichtag mit ihren Familien und ihren Arbeitsausrüstungen gen
Osten verladen wurden. Hunderte von Zügen sollen bei dieser augenscheinlich ge-
neralstabsmäßig angelegten Operationper Bahn in die UdSSR gefahren sein.
Das Dessauer Junkers-Stammwerk wurde in einen Ort nördlich von Kujby-
schew, Uprawlentscheski, verlagert. Als die Deutschen ankamen, prangten bereits
ihre Namen an den Türen der ihnen zugewiesenen Wohnungen.
Die Sowjets hatten im Oktober 1946 alle Anlagen des Junkers-Motorenwerkes
Köthen nach Tschernikowsk verlagert.29 In Absprache mit Kusnetzow russifizierte
hier Brandner zunächst ein im Krieg nicht fertig gewordenes herkömmliches Pro-
jekt, den schwersten deutschen wassergekühlten Reihen-Sternmotor mit einer Lei-
stung von 2500 PS. Diese Verbindung der beiden traditionellen Zylinderanordnun-
gen- Stern- und Reihenmotor- sollte im 3. Reich als Jumo 222 eine neue Genera-
tion von Bombern antreiben. Die ersten beiden Exemplare dieses monströsen Ag-
gregats hatte Brandnervorden heranrückenden Alliierten 1945 "in aller Hast ... in
eine nahe Felshöhle einmauern" lassen.30
Brandner schildert, welchen Eindruck es in der Sowjetunion machte, daß ein
Chef, ein Natschalnik, nicht eine vorhandene Konstruktion lediglich vergrößerte
oder sich sonstwie abstützte, sondern frei konstruierte:
"Daß ein Natschalnik selbst konstruieren konnte, ohne dazu eine Vorlage zu benützen,
so aus dem Kopf heraus, das umgab mich mit einer Aura, der ich viel Gutes zu verdan-
ken habe. Es kamen immer mehr Leute in mein Zimmer, wallfahrten, um zu sehen, was
da auf dem Papier entstünde. Als ich dann einenQuerschnitt nach dem anderen auf das
Zeichenpapier bannte, die Einspritzpumpen im Schnitt zeigte, so wie sie bei uns in Des-
sau verwendet wurden, kamen sie aus einer Art ehrfürchtigem Staunen nicht mehr her-
aus."31

28 Ein solches Verhalten ist nicht nur bei den Sowjets zu beobachten. Die Amerikaner
ließen in dem Heinkel-Werk Stuttgart-Zuffenhausen nach Kriegsende ein Dutzend
Strahltriebwerke produzieren (vgl. Heinkel 1963, S. 333), die Franzosen ließen das
BMW-Team unter Gestreich weiter arbeiten, und in der englischen Zone wurde bei-
spielsweise der Bau kleinerer Kriegsschiffe als Reparation an kleinere Alliierte tole-
riert.
29 Die Demontage und den Abtransport der Junkers-Anlagen beschreibt anschaulich Hes-
se 1963, S. 140
30 Brandner 1976, S. 83. -Die Darstellung in diesem Abschnitt stützt sich auf diese Auto-
biographie sowie zwei Interviews mit Brandner.
31 Brandner 1976, S. 160
48 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

Am 30. August 1946 gab es für soviel Kooperation eine erste Prämie, ein Schreib-
zeug aus Marmor. Brandner war vor allem durch Vorschläge zur Verbesserung der
erbeuteten deutschen Düsentriebwerke auffällig geworden, mit denen er zunächst
nichts zu tun hatte. Auf ihren Prüfständen sahen sich die sowjetischen Tester mit
einem leidigen Problem konfrontiert, dem Anbrennen der einzelnen Brennkam-
mern. Der Vorgang ist erheblich abhängig vom Schwefelgehalt des Treibstoffs,
und der sowjetische Kraftstoff wies augenscheinlich genug Schwefelverunreini-
gungen auf. Brandner schlug vor, die einzelnen Brennkammern zu einer Ring-
brennkammer zu vereinen, was weniger Ansätze für Verbrennungen bot.32
Der Erfolg blieb nicht aus. Am 10. Dezember 1946 bemühte sich der stellver-
tretende Minister für Luftfahrt, Pallandin, persönlich zu Brandner, um ihm den
Vorschlag zu unterbreiten, in Kujbyschew im Werk Nr. 10 zusammen mit einem
anderen Deutschen, einem Dr. Scheibe, die Leitung des Jumo-Düsennachbaus zu
übernehmen.
Vornan stehen künftig die Projekte für Düsentriebwerke. Die Typenbezeich-
nungen für Flugmotoren (BMW 003 oder Jumo 004) werden im folgenden als Kür-
zel für ein ganzes Bündel an Technologietransfers verwendet. Neben den Ingenieu-
ren und Facharbeitern, die diese Motoren herstellten, wurden 1946 zahlreiche Fer-
tigungs- und Hilfsteile in die Sowjetunion geschafft. Besonders geschmerzt haben
wird die Amerikaner die Verlagerung der beiden großen Schmiedepressen in Des-
sau (Kapazität 33000 und 15000 Tonnen), die sie bei ihrem Abzug aus Sachsen-
Anhalt im Juni 1945 hinterließen.
Ähnlich wie an Atomwaffen war vor Kriegsende in der UdSSR auch an Dü-
sentriebwerken experimentiert worden. Zu nennen wären die Konstrukteure Boris
Stechkin und Ariehip Ljulka.33 In der Düsenentwicklung waren die Deutschen bei
Kriegsende aller Welt voraus. Dies wußte die sowjetische Führung, und den auf
deutsches Reichsgebiet vordringenden sowjetischen Truppen folgten Spezialein-
heiten, welche die Aufgabe hatten, aller technischen Unterlagen sowie der Exper-
ten habhaft zu werden, die in der Entwicklung von Hochgeschwindigkeitsflugzeu-
gen und deren Antrieben tätig waren. Diese Deutschen wurden gesammelt und spä-
ter in die UdSSR verfrachtet. Diese Technologieinfusion sollte sich von unschätz-
barem Wert beim Nachholen der kriegszerstörten UdSSR im einsetzenden Ost-
West-Wettrüsten erweisen.
Am 2. April 1946 wurden Chrunitschew und Jakowlew zu Stalin geladen, um
die weitere Entwicklung des Luftfahrtsektors zu erörtern. Jakowlew gab dabei Be-
richt über eine Inspektionsreise in die sowjetische Besatzungszone. Er empfahl be-
sonders die Nutzung der deutschen Düsentriebwerke,34
Die Sowjets gelangten in den Besitz beider deutscher Entwicklungsreihen von

32 So originell war der Vorschlag nicht: Bei der Auslegung des Jumo 004 hatte seinerzeit
in Dessau eine Ringbrennkammer zur Diskussion gestanden. - Tatsächlich wurde unter
der Bezeichnung WK-3 ein Düsentriebwerk mit Ringbrennkammer unter der Leitung
von Sergej W. Ljunewitsch gebaut und im Werk GAS-117 Mitte 1952 in die Fertigung
genommen.
33 Die erste Fachveröffentlichung über ein Strahltriebwerk von Stechkin datiert aus dem
Jahre 1929. -Gasturbinen wurden nicht nur in England und Deutschland entwickelt.
Neben den sowjetischen Arbeiten ist etwa auf den Bau eines Triebwerkes durch Gyorgy
Jendrassik in Ungarn zu verweisen, das 1937 erprobt wurde.
34 Jakowlew 1972, S. 326
Die Luftfahrtindustrie 49

Düsenmotoren,35 des Triebwerks BMW 003 der Bayerischen Motorenwerke sowie


des Junkers Jumo 004. Fertigungsunterlagen des BMW-Triebwerkes fanden sie bei
der Besetzung des Werkes Balsdorf-Zülsdorf in der Nähe von Berlin sowie des so-
genannten Zentralwerkes bei Nordhausen im Harz. Die Entwicklungsstelle für
BMW-Düsentriebwerke befand sich in Berlin-Spandau. Gleichfalls in die Hände
der sowjetischen Truppen fiel das Junkers-Entwicklungszentrum für Düsenmoto-
ren in Magdeburg und die Fertigung in Dessau.
Aus Berlin-Spandau war die Produktion der BMW-Turbine 003 in das Werk
"Roter Oktober" nach Leningrad verlagert worden. Der Motor wurde dort ab 1947
unter der Bezeichnung RD-20 in Serie gebaut (RD = Reaktiwnuij Dwigatel, Reak-
tionsmotor). Der technisch weniger anspruchsvolle Junkers-Motor 004 ging unter
der Bezeichnung RD-10 in der staatlichen Flugzeugfabrik Nr. 10 in Kasan in Serie.
Wie geschildert, spielten diese Nachbauten beim Übergang der sowjetischen Streit-
kräfte zum Düsenantrieb eine entscheidende Rolle, auch weil heimische Konstruk-
tionen, vor allem von Ljulka, sich eindeutig nicht als gleichwertig erwiesen.
Brandner und Scheibe erhielten bald einen anspruchsvolleren Auftrag. Bei
Junkers in Dessau war zum Kriegsende eine neuere Propellerturbine (Jumo 012)
fertig konstruiert, aber nicht mehr gebaut worden, mit einem für damalige Verhält-
nisse bemerkenswerten llstufigen Lader, einer zweistufigen Turbine und 3000 kp
Schub. Die Sowjets wünschten nun den Bau des Jumo in Kujbyschew. Binnen
zwei Jahren war die Aufgabe gelöst, im Blick auf die Zeitumstände eine beachtli-
che Leistung.
Das deutsche Team bekam fast keine technische Unterstützung von sowjeti-
scher Seite. Außer den gängigen Handbüchern wie dem "Dubbel" und der "Hütte"
(noch heute jedem Ingenieur wohlvertraute Handbücher) und einzelnen Unterlagen
aus Dessau gab es keinerlei Informationen. Alle Werkstoffe und Werkzeuge, Ble-
che, Schaufelmaterial, Kugellager waren als Beutegut aus Deutschland mitgenom-
men worden. Die Deutschen achteten darauf, vorrangig Schweißkonstruktionen zu
wählen, weil die unter eigener Regie ausführbar waren. (An der merkwürdigen
Schweißkonstruktion sind diese Motoren bis heute einfach erkennbar.) Leichtme-
tallteile für die neue Düse wurden in einer eigens eingerichteten Gießerei gegossen.
Die Metallurgie für die höchstbelasteten Teile, die Schaufeln von Verdichter und
Turbine, verblieb auf Kriegsniveau (Material Krupp "Tinidur''). Die Prüfstände für
die ersten Triebwerke wurden aus Holz aufgebaut (erst als es beim Personal zu
Quecksilbervergiftungen wegen der primitiven Arbeitsbedingungen an den selbst-
gefertigten Thermometern kam, wurden Betonprüfstände gebaut).Die Produktions-
vorbereitung wurde Alexandr G. Iwtschenko im Werk Saporosche übertragen. Der
entwickelte das nunmehr AI-20 ("1" steht für Iwtschenko) benannte Turboprop-
triebwerk in verschiedenen Varianten weiter. Die Aggregate dienten vor allem zum
Antrieb von Antonows schweren Militärtransportern sowie Iljuschins Passagier-
flugzeug Il-18. Die Sowjets hatten für ihren ersten Turbotransporter, die An-8, zu-
nächst ein heimisches Triebwerk gewählt, Kusnetzows Turbine NK-6. Die Adap-
tion der Junkers-Konstruktion erwies sich aber als überlegen, so daß für die Serie
und nachfolgende Antonow-Konstruktionen der Motor NK-4 benutzt wurde.

35 Neben der BMW- und der Junkerslinie gab es bei Kriegsende weitere Baureihen von
Strahltriebwerken, vor allem bei Heinkel und Daimler-Benz. Die beiden hier benannten
Reihen waren jedoch die militärisch nutzbarsten, und sie standen den Sowjets voll zur
Verfügung.
50 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

1948 war Jumo 012 alias Kusnetzow NK.-4 (später bekannt als AI 20) für die
staatliche Abnahme fertig. Das war in jedem Fall ein rituell abzuwickelndes Ereig-
nis, bei welchem staatliche Prüfkommissionen und eine Anzahl Würdenträger ze-
remoniell das Funktionieren des neuen Triebwerkes beobachten würden.
Die erste Abnahme 1948 gestaltete sich zu einem Reinfall. In der 94. Stunde
des üblichen 100-Stunden-Dauerversuches (eine im Flugalltag nie vorkommende
Belastung) flog eine Turbinenschaufel davon, der Test mußte abgebrochen werden.
Die Würdenträger reisten ab, und es kostete das deutsche Team harte Arbeit, durch
Festsetzung einer Mindestkomgrößengrenze beim Turbinenmaterial und deren Ein-
haltung einer Wiederholung einer solchen Panne vorzubeugen.
Die Nachricht über das Versagen des Jumo 012 wurde selbst Stalin vorgetra-
gen (s.u.).
1950 erfolgte- diesmal ohne Panne- die staatliche Abnahme. Die Konkur-
renzentwicklung des Klimow-Teams, bezeichnet WK-2, in Leningrad wurde 1952
angesichts der Leistungen der deutschen Axialturbine eingestellt.
Neu für das Junkers-Team waren die Technik des Verstellpropellers, das Pla-
netengetriebe und die gesamte Regelung. Für diese Teilaufgaben fanden sich aller-
dings noch immer Spezialisten aus Deutschland - der Technologieimpuls aus der
Endzeit des Dritten Reiches sollte für mehr als fünf Jahre nach der Niederlage
1945 hinreichen. Brandner, der verständlicherweise über die Verwendung seiner
Propellerturbine in sowjetischen Militärflugzeugen keine Informationen erhielt,
stieß zu seiner Überraschung zehn Jahre später, nunmehr in ägyptischem Sold, auf
einen sowjetischen Militärtransporter Antonow An-10, der mit seinem Motor aus-
gestattet war.36
Mit der Russifizierung des im Dritten Reich in Serie produzierten Junker-
striebwerks Jumo 012 sowie der Vorlage der starken Propellerturbine hatte das
Brandnerteam seine Aufgabe in der Sowjetunion noch nicht erfüllt. Die Sowjets
verlangten nunmehr, ganz im Stil der Schock-Methode, Brandner solle eine Pro-
pellerturbine mit der doppelten Leistung, 12.000 Wellen-PS, entwickeln.
Brandner stand wie am Ende des Dritten Reiches vor der Forderung, den stärk-
sten Motor der Welt zu bauen. Beim Jumo 222 bestand das Konzept in der Verbin-
dungzweier Bauprinzipien, dem Stern- und dem Reihenmotor. Zunächst suchte
das Brandner-Team seine neue Aufgabe durch eine vergleichbare Idee zu lösen:
der Kopplung zweier der 6.000 PS-Triebwerke zu einem Doppeltriebwerk. Das
führte zu einer Fehllösung, schon das Schwingungsverhalten der Antriebsanlage
ließ sich nicht meistem.
Nach dem Fehlschlag mußte sich das Brandner-Team voll der Aufgabe stellen,
die stärkste Turbine der Welt in Serie zu erzeugen. Die Einrichtung der Produktion
von Junkers-Motoren in der kriegszerstörten UdSSR blieb eine beachtliche Lei-
stung. Die Konzipierung des unter der Bezeichnung NK.-12 (die beiden Buchstaben
verweisen auf Kusnetzow) in den Dienst gestellten leistungsfähigstem Motor sei-
ner Zeit stellte nicht nur einen sowjetischen, sondern einen Weltrekord dar.- Die
NK.-12 sollten zu viert über jeweils zwei gegenläufige Luftschrauben den ersten
echten Atomwaffenträger der UdSSR antreiben, den Tupolew-Bomber Tu-20. Eine
Anzahl dieser Maschinen fliegt noch heute, nunmehr zumeist als Femaufklärer.
Mit diesem Konstruktionsauftrag war Brandner in die erste Reihe der sowjeti-

36 Brandner 1976, S. 198


Die Luftfahrtindustrie 51

sehen Rüstungsprojekte aufgeschlossen. Die Konstruktion des Flugzeuges warf


keine Probleme auf, das Tupolew-Team konnte auf den Nachbau der B-29 sowie
daraus abgeleitete Modelle zurückgreifen (der Rumpfquerschnitt von Tupolews er-
stem richtigen Interkontinentalbomber, dieser Tu-20, blieb exakt der des Boeing-
Flugzeuges, eine fast mystische Fortschreibung). Der Erfolg des gesamten Kon-
zeptes hing von Brandners Turbinen und den gegenläufigen Propellern ab - beides
in der UdSSR völlig unerprobte Technologien.
Die neue allererste Priorität brachte eindeutig Verbesserungen. Das läßt sich
ablesen an den Materialzuweisungen, dem fortwährenden Engpaß im Triebwerk-
bau. Statt mit "Tinidur" aus Weltkrieg-li-Beständen konnte man nunmehr mit dem
modernen Nimonik arbeiten. Die primitive Kontrollsituation, in der schon verspä-
tetes Erscheinen bei der Arbeit mit Haftstrafen geahndet wurde, war beendet. Rus-
sisch war nicht mehr verbindlich, bei Projekten solcher Priorität konnten die Betei-
ligten in jedem Idiom reden, welches ihnen lag. Zwar war bei Beginn der Arbeiten
an dem Großtriebwerk, als es um die Festsetzung der unweigerlich bei Testläufen
zu opfernden Zahl an Musterexemplaren ging, die angegebene Mindestzahl noch
halbiert worden mit dem Bemerken, beim Überschreiten dieses Maximums setzte
es Kriegsgericht. Das Limit wurde ebenso wie die Zeitgrenze überschritten, ohne
negative Folgen. Anfang 1953 kam die Turbine auf den Prüfstand.
Der Einsatz (wie man wohl im besten Deutsch sagt) Brandners und seines
Teams für den Motor des ersten sowjetischen Fernbombers bleibt beeindruckend.
Von ihnen wurde erwartet, daß sie Tag und Nacht wenige Dutzend Meter von den
Prüfständen entfernt blieben - schon wegen der Schwingungen und des Lärms eine
infernalische Zumutung. Brandner berichtet:
,,Ich wohnte 50 Meter entfernt von unseren Prüfständen und gewöhnte mich wie alle
anderen Mitbewohner des Hauses an die sehr lauten Propellergeräusche, die durch das
Abbremsen der 12.000 PS entstanden. Das Fensterglas zitterte Tag und Nacht."37
1953 konnte Brandner mit seinem Team nach Deutschland zurückkehren. Seine
Konstruktionen blieben bis heute für den Bau schwerer Propellerturbinen in der
UdSSR grundlegend. Die deutschen Düsentriebwerke stellten zweifelsohne nützli-
che Beiträge für die sowjetische Luftrüstung. Durch den Erwerb noch modernerer
britischer Düsenmotore verloren sie jedoch bald an Bedeutung.
Erneut mit Erfolg spekulierten die Sowjets auf eine westliche Technologiein-
fusion. Jakowlew berichtet: "Wir schlugen ferner den Ankauf der Düsenmotoren
Derwent und Nene vor."38 Jakowlew vermerkt, daß Stalin skeptisch blieb:
"Unser Vorschlag überraschte Stalin, der ihn naiv nannte. Er fragte uns, welche Art von
Narren unserer Annahme zufolge ihre technischen Geheimnisse verkaufen würden."
Im September 1946 gab die britische Regierung grünes Licht für den Export ihrer
damals den Weltstandard führenden Rolls-Royce-Turbinen. Eine sowjetische Han-
delsmission schloß einen Vertrag über die Lieferung von 30 Düsenaggregaten des
Typs "Derwent"39 (Konstruktionsbeginn 1943, erreichte mehr als doppelt soviel
Schub wie die deutschen Aggregate) und 25 Triebwerken des noch moderneren

37 Brandner 1976, S. 205


38 Jakowlew 1972, S. 327
39 Die Firma Rolls-Royce verwendet für die Bezeichnung ihrer Düsenmotoren traditionell
die Namen englischer Flüsse.
52 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

Baumusters ,,Nene" (Erstlauf 1944). Die Lieferungen begannen im März 1947 und
dauerten bis ins Jahr 1948 an.
Von den wertvollen importierten Triebwerken wurden die meisten sogleich
den Flugzeugkonstrukteuren übergeben. Einige wurden jedoch, ähnlich wie zuvor
Boeings B-29, in ihre Einzelteile zerlegt, vermessen, die Werkstoffe wurden ge-
prüft, und mögliche Verfahren zur Herstellung dieser Komponenten wurden konzi-
piert. Die Russifizierung der beiden Motoren leitete Chefkonstrukteur W.Ja. Kli-
mow. Er war für die Erledigung dieser Aufgabe mit seinem Team extra im Sep-
tember 1947 von seinem Stammsitz Leningrad nach Moskau verlegt worden. Am
30. Oktober 1947 wurden die ersten Produktionszeichnungen für den Nachbau der
britischen Triebwerke ausgegeben. Der ältere Rolls Royce "Derwent"-Motor wur-
de unter der Bezeichnung RD-500 in der Flugzeugfabrik Nr. 500 in Tuschino bei
Moskau nachgebaut, während die stärkere und modernere ,,Nene"-Turbine im
größten sowjetischen Flugmotorenwerk, der Fabrik Nr. 45 in Moskau, in Großserie
ging. Wie zuvor bei den nachgebauten Jumos und BMWs wurde offenkundig auch
für die Rolls-Royce-Triebwerke die Werknummer zur Bezeichnung des Motors be-
nutzt (obwohl diese Fabriken nicht nur dieses eine Aggregatfertigten).
Klimow war verständlicherweise nach seiner Arbeit mit den britischen Trieb-
werken glänzend gerüstet, das erste sowjetische Hochleistungstriebwerk zu ent-
werfen. Unter der Bezeichnung WK-1 entwickelte er aus der ,,Nene" ein moderne-
res Triebwerk, welches in den Fabriken Nr. 16 in Ufa, Nr. 19 in Kuibyschew und
der erwähnten Großfabrik Nr. 45 in Moskau in Serie ging. 40.000 Flugmotoren
dieses Baumusters wurden hergestellt.40 Die sowjetischen Flugzeugkonstrukteure
waren mit Klimows Rolls-Royce-Adaption von einer ihrer Hauptsorgen, dem Man-
gel an zuverlässigen und leistungsstarken Triebwerken, endgültig befreit. Das MiG-
Team erhielt schon im Februar 1947, ehe die ersten Britenjets eintrafen, exakte
Zeichnungen für den Einbau der Motoren, Die Verbindung zwischen britischem
Motor und der konstruktiven Begabung des MiG-Teams, später MiG-15 benannt,
erwies sich rasch als herausragender Erfolg, der Stalins Forderungen mühelos ein-
löste. Mindestens 5.000 dieser Jäger wurden in der Folge in der UdSSR gefertigt.
Sie sollten im Koreakrieg der US Air Force gehörigen Respekt einjagen.

Beute-Know-how

Einen weiteren Technologieschub (neben dem durch die interalliierte Kooperation


mit den Westmächten) erhielt die sowjetische Rüstung infolge der Besetzung Nazi-
deutschlands. In Berlin, der größten Industriestadt Europas und zugleich einem
Zentrum der Rüstungsproduktion und -Forschung und in einzelnen Orten ihres Be-
satzungsgebietes fielen den Russen wichtige Unterlagen, vor allem aber Mitarbei-
ter an Rüstungsprojekten in die Hände. Anzuführen sind an erster Stelle die Rak:e-
tenanlagen in Peenemünde sowie die unterirdischen Fertigungsanlagen für diese
Raketen im Harz, die Uranprojekte in und um Berlin und die Düsentriebwerksent-
wicklung in Spandau und Dessau. Zwar nahmen die Westalliierten mit dem Ruhr-
gebiet sowie Schwaben die herkömmlichen Zentren der deutschen Rüstungsindu-

40 V gl. Sutton 1973, S. 278: "Sowjetische Düserunotoren und Propellerturbinen der ersten
Hälfte der 60er jahrestellten Ableitungen ... deutscher und britischer Triebwerke dar."
Die Luftfahrtindustrie 53

strie ein. Auch gilt, daß die erste Garnitur von rüstungstechnischen Experten im
Dritten Reich sich so einzurichten verstand, daß sie am Stichtag in westliche und
nicht in sowjetische Gefangenschaft geriet. Es gilt aber auch, daß hinter dieser er-
sten Garnitur eine zweite und dritte stand, mit der ersten häufig in Rivalität, die de-
zidiert für den Osten optierte, nachdem die Marschrichtung ihrer Vormänner deut-
lich wurde. Vom Direktor der V-2-Fertigung angefangen bis zum Leiter der Her-
stellung von reaktorfähigem Uran standen den sowjetischen Siegern versierte Rü-
stungsfachleute zur Verfügung, die allem Anschein nach für den Nachkriegserfolg
der sowjetischen Rüstungsanstrengungen große Bedeutung erlangen sollten.
Das Dritte Reich hatte in einer gewaltigen Kraftanstrengung gegen Kriegsende
eine Anzahl von Pioniertaten auf dem Gebiet der Rüstungstechnik erbracht. Fast
scheint es, daß mit dem Schwinden der Ressourcen und den zunehmenden Zerstö-
rungen infolge alliierter Bombardements eine Verlagerung der Energien hin auf
technologische Durchbrüche, ja auf Parforce-Ritte in Höchsttechnologie statt-
fand.41 Warum die deutschen Wissenschaftler mit geradezu frenetischer Arbeits-
wut sich der Erfüllung der immer exotischer ausfallenden Anforderungen der poli-
tischen und militärischen Instanzen hingaben und dabei, ohne auch nur die absur-
den Umstände dieser Technologieerzeugung in Rechnung zu stellen, wahre Groß-
taten vollbrachten, muß einer eigenen Erhellung überlassen bleiben. Ebenso der
Umstand, daß auch dem politischen Laien erkennbar werden mußte, daß die Nazi-
führung mit ihren Waffenwünschen moralisch deutliche Grenzen der Kriegstech-
nik überschritt.
Einiges an der sowjetischen Technologiebeute war von den Nazis für so ma-
kabre Zwecke vorgesehen, daß die Sowjets sie nicht nutzen mochten (so sehr ihnen
dies im Westen unterstellt wird). Mit Abstand an erster Stelle ist hier die Ausrü-
stung der sogenannten SO-Truppe der Luftwaffe anzuführen. Im SO (Selbstopfe-
rungs-Einsatz42) sollten zum Beispiel der Flieger Messerschmitt Me 328 verwen-
det werden. Da gemäß dem Einsatzzweck eine Landung des Piloten nicht vorgese-
hen war, wiesen diese Messerschmitts keine Fahrwerke auf. Hanna Reitsch führte
die ersten Flugversuche in Hörsching bei Linz aus, wo die Russen im April 1945
einige Unterlagen vorgefunden haben sollen. - Sicher ist, daß sie einer anderen
SO-Ausrüstung, des sogenannten "Reichenberg-Geräts" (einer besonderen Varian-
te der Flugbombe Fieselers) in Peenemünde habhaft wurden. Diese Version der V-
1 sollte von der SO-Truppe als Rammjäger eingesetzt werden.
Für die V-Waffen des Dritten Reiches interessierten sich alle Hauptsieger-
mächte. In den USA rivalisierten die Luftwaffe und die Navy um die fliegende
Bombe V-1. Die Flugzeugfirma Republic, gemeinsam mit Ford am Projekt betei-
ligt, hatte ihre Kopie der V-1 unter der Bezeichnung JB-2 im Oktober 1944 fertig.
Die Navy hatte mit einer Parallelentwicklung, auf den Namen "Loon" (Lümmel,
Bengel) getauft, große Pläne: Was die Nazis nicht geschafft hatten, sollte Wirklich-

41 Auch das japanische Regime erzeugte bei Kriegsende, was hierzulande wenig bekannt
ist, einzelne technische Höchstleistungen, etwa Düsenkampfflugzeuge. Am Vorabend
des Atombombeneinsatzes gegen Hiroshima startete etwa am 7. August 1945 der zwei-
motorige Jäger "Kikk:a" des Nakajima-Konzerns zum Erstflug, trotz mancher Älmlich-
keiten mit der Messerschmitt 262 eine vollständige Eigenentwicklung, mit Strahlen-
triebwerken von Osamu Nagano (nach Unterlagen des National Aerospace Museum der
Smithsonian Institution, Washington, D.C.).
42 Vgl. dazu Kens/Nowarra 1961, S. 468 f.
54 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

keit werden,· und die V-1 sollte durch die Kombination mit einem Kemsprengsatz
eine wirkliche Vergeltungswaffe werden.43 DerEinsatz sollte von Ubooten aus er-
folgen- ein kühner Vorgriff auf die Technologie moderner Unterwasserkreuzer
mit Atomraketen.44 In Frankreich baute das staatliche "Arsenal de 1' Aeronautique"
noch bis Beginn der fünfziger Jahre V-I-Flugkörper, obwohl rasch sichtbar wurde,
daß mangels einer Vergeltungsstrategie für diese NS-Waffe im Nachkriegsfrank-
reich kein Bedarf bestand.45
Im August 1944 wurden von Heinkel, Junkers, Messerschmitt und dem frühe-
ren Fieseier-Mitarbeiter Bachern Selbstopferflugzeuge mit Raketenantrieb konzi-
piert (als die militärische Lage des Dritten Reiches sich noch verzweifelter entwik-
kelte, wurde die Wiederverwendung teurer Bauteile sowie der Piloten per Pali-
schirmlandung verfügt). Eine Bachern-Maschine fiel den Russen unversehrt in die
Hände, und in Rostock stießen sie auf die fast fertigen ersten beiden Heinkel-Ma-
schinen für solche Einsätze.
Als kultivierte Leute erwarteten die Sowjets auch unter künftigen Kriegsbedin-
gungen keine Selbstmordeinsätze, so daß die Holzflugzeuge der SO-Truppe mit ih-
ren unfallträchtigen Raketenmotoren46 für sie von keinem Nutzen waren. Auch an-
deres Kampfgerät, welches die Nazis zurückließen, dürfte wegen sonderbarer Bela-
stungen für die Piloten nicht weiter verfolgt worden sein. So verträgt der menschli-
che Körper Beschleunigungen im Liegen besser als im Sitzen, was die Konstruk-
teure der Henschel-Werke in Schönefeld bei Berlin gegen Kriegsende zu dem
Konzept führte, statt der üblichen Sitzhaltung in ihrem neuen Turbo-Schlachtflug-
zeug den Flugzeugführer liegend anzuordnen. Der erste Stuka Hs 132 war bei
Kriegsende fast fertig und gelangte bei der Einnahme Berlins unzerstört in den Be-
sitz der Sowjets. Die Henschel-Konstruktion wurde bei der Sichtung der Beute au-
genscheinlich als wenig nutzbringend ausgesondert.
Mit dem Aufruf des "Volkssturms" am 18.10.1944 durch Adolf Hitler leitete
das Dritte Reich vor seinem Untergang eine letzte große Mobilisierung ein, die den
Älteren als die übereilte Rekrutierung der 16- bis 60-jährigen unter dem Komman-
do von Parteifunktionären in Erinnerung geblieben ist. Praktisch unbekannt sind
die technischen Begleiterscheinungen der Proklamierung des Volkssturms geblie-
ben. Am 8.9.1944 wurde für die deutsche Flugzeugindustrie ein "Volksjägerpro-
gramm" ausgeschrieben. Das Projekt war im höchsten Maß phantastisch: Für die
Projektvorlage blieben den Firmen 12 Tage, am 20.9.1944 mußten die Bauzeich-
nungen abgegeben werden, am 1. Januar 1945 sollte der Serienbau beginnen. Be-
merkenswert bleibt, daß die Industrie diesen atemberaubenden Terminplan einhielt
und die aufgrunddes Metallmangels großenteils aus Sperrholz zu bauenden Düsen-
jäger pünktlich fertigstellte. (Noch atemberaubender sollte vielleicht der Umstand
ausfallen, daß nicht nur Firmensprecher, sondern auch der Lobbyjournalismus der
Industrie heute noch allergisch auf die Frage reagiert, ob nicht der Satz der Aus-

43 Hansen1988,S.216
44 Hansen 1988, S. 203
45 Ich habe die französischen Bemühungen kurz behandelt in dem erwähnten Beitrag in:
o.A., Frankreich und Deutschland. Forschung, Technologie und industrielle Entwick-
lung im 19. und 20.Jahrhunderl Akten des internationalen Kolloqiums, München 1988
46 Kens/Nowarra 1961 geben in ihrem Standardwerk eine nüchterne Unfallchronik. dieses
Sondergerätes.
Die Luftfahrtindustrie 55

schreibung: "Hitler-Jungen sollen diesen ,Volksjäger' im Masseneinsatz gegen die


allüerten Bomberströme fliegen", die beteiligten Konstrukteure zum Innehalten
hätte veranlassen sollen, zumindest zu einem go-slow bei ihren Einfällen).47 Diese
kurzen Striche sollen zur Markierung des Tatbestandes ausreichen, daß in einer
Anzahl von Rüstungsbereichen das Nazireich im Todeskampf bizarre, das allge-
meine Technologieniveau überschreitende Projekte hervorbrachte, die der Nach-
kriegsrüstung für mehr als ein Jahrzehnt Anregungen zu geben vermochten, und
die der Siegermacht, welcher diese Projekte in die Hände fielen, eine womöglich
vorrangige Stellung in der Rüstung eingebracht hätten.
Dies gilt am wenigsten für die eigentliche Wunderwaffe des 2. Weltkrieges,
die Atombombe. Hier lag Amerika vom. Die deutsche Forschung und -was weni-
ger bekannt ist- industrielle Vorbereitung der Bombenproduktion, so wie sie den
Russen in die Hände fiel, ist zwar für den raschen Fortschritt des sowjetischen
Bombenprojektes von unschätzbarem Vorteil gewesen. Wir widmen ihr deswegen
ein eigenes Kapitel. Im Vergleich mit den USA hinkten aber die deutschen For-
schungen hinterher. Neben der Atomtechnologie sind als Spezialitäten der Rüstung
des Dritten Reiches, gemessen an ihrer technologischen Brillanz, vor allem die
Luftrüstung und die Uboot-Technologie anzuführen. Dies nicht zufällig, stand
doch die Abwehr der alliierten Bombardements gegen das Reichsgebiet sowie die
Unterbindung von Zulieferungen besonders aus den USA über den Atlantik an er-
ster Stelle der Prioritäten der Reichskriegsführung. Aus geographischen Gründen
gelang es der UdSSR nicht, von den Technologiesprüngen in der Uboot-Technolo-
gie48 zu profitieren, im Gegensatz zur Luftrüstung. Diese steht deshalb in der fol-
genden Skizze im Vordergrund.
Studiert man das Endjahr des Dritten Reiches unter dem -mit Blick auf die
Faschismusforschung zugegebenermaßen exotischen Aspekt -,was an Höchsttech-
nologie dort plötzlich erblühte, und was davon den Russen hernach in die Hände

47 Lesenswert sind hier Heink:els Erinnerungen (Heink:el1963, S. 509): "Saurs Vorstellun-


gen, daß dieses Flugzeug sozusagen ein 'Volksjäger' werden müsse, in dem Hitlerjun-
gen nach kurzer Zeit zur 'Verteidigung Deutschlands' aufsteigen könnten, ging selbst-
verständlich weit über die Realitäten hinaus und entsprach dem fehlgeleiteten Fanatis-
mus jener Tage. Aber die Grundidee der radikalen Vereinfachung hätte viele deutsche
Engpässe schließen können, wenn man sie rechtzeitig angewandt hätte." - Diese Äuße-
rung eines der führenden Konstrukteure bedarf der Rückfrage: Es ging nicht um "sozu-
sagen" einen Volksjäger, sondern dies war der Schlüsselbegriff der amtlichen Aus-
schreibung (zu deren Grundidee ,,radikale Vereinfachung" sich Heink:el ja im zweiten
Satz bekennt). ,,Fehlgeleiteter Fanatismus" bleibt ein bemerkenswerter Ausdruck zur
Kennzeichnung der enormen Anstrengungen in der Apokalypse des NS-Regimes, und
wenn, so Heink:el, dieses Projekt "selbstverständlich weit über die Realitäten hinaus"
ging, warum beteiligte er sich mit seiner "Schnellkonstruktion" (erneut Heinkel) an die-
ser Ausschreibung überhaupt? Der von ihm angegebene Grund, wieder an der Strahl-
flugzeugentwicklung beteiligt sein zu wollen, kann nicht die Teilnalune an einem "weit
über die Realitäten hinausgehenden" Projekt begründen, und eine solche Rechtfertigung
muß mit dem Zeitpunkt, dem Herbst 1944 und dem sich abzeichnendem Zusammen-
bruch des Dritten Reiches gesehen werden.
48 Gegenteilig äußert sich das autoritative Jane's Fighting Ships, etwa die Ausgabe 1987/
88, S. 561, in einem mehrfach über die Jahre wiederholten Statement: ,,Bei Kriegsende
gerieten der UdSSR deutsche Konzepte und Konstruktionen in die Hände. Diese Er-
kenntnisse wurden in das Bauprogramm von 1948 integriert."
56 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

fiel, ergibt sich eine eindrucksvolle Zusammenstellung. Im Vordergrund steht die


Verwendung des Düsenantriebes und die Verwendung von Raketenantrieben für
Fernwaffen, die bis nach Amerika reichen sollten, sowie das Projekt eines Hochge-
schwindigkeitsbombers. Am weitreichendsten sollte sich das Bomberprojekt des
Professor Eugen Sänger erweisen, dessen technische Ideen über Jahrzehnte hinweg
für Anregung sorgten - vom amerikanischen Projekt "Dyna Soar" der siebziger
Jahre bis hin zu Eureka-Projekten der Westeuropäer in jüngster Zeit. Stalin selber
befahl, diesen Professor Sänger zu fangen (was nicht gelang).49
Vom Westen her wurde unterstellt, eben weil das Sowjetsystem moralisch mit
weniger Skrupeln belastet sei als man selber, daß besonders die technologisch und
humanitär problematischen Entwicklungen im Dritten Reich von der Sowjetseite
aufgegriffen worden seien, die mit dem Verzicht auf ein Weiterleben der Piloten
verbundenen Einwegeinsatz-Geräte. Diese besonders in Amerika gepflegte Auffas-
sung läßt sich bis in die neueste Zeit nachweisen.50
Mit dem sowjetischen Erwerb von moderner Technologie ist weniger her-
kömmliche Luftwaffentechnologie gemeint (auch wenn diese zunächst im Vorder-
grund des Interesses stand)- etwa der langnasigen ,,D"-Version des Pocke-Wolf-
Jägers 190, die ob ihrer überlegenen Geschwindigkeit gefürchtet war, oder der
dreimotorigen Großtransporter Junkers 352, der technischen Enkel der Ju 52 (von
denen einer von den stolzen Siegern Stalin als persönliches Präsent überreicht wur-
de). Weniger Aufmerksamkeit erregten zunächst- zumindest offiziell - Geräte wie
eine Anzahl Raketenjäger Messerschmitt 163S, die in Stargard bei Stettin den So-
wjets in die Hände fielen, die Düsentriebwerke von Junkers in Dessau und BMW
in Berlin-Spandau, die Junkers von Messerschmitt übertragene Weiterentwicklung
eines Raketenjägers (Bezeichnung Ju 248), der sogenannte Objektschutzjäger Ju
EF 127 sowie weitere Junkers-Zukunftsprojekte (neben dem Volksjäger-Beitrag
EF 126). Alles wurde zunächst von den Sowjets sorgfältig gesammelt, ausgewer-
tet, erprobt und nachgeflogen. Die Übernahme verschiedener Hochtechnologiepro-
jekte aus der Beute zeigte jedoch rasch, daß die Hinterlassenschaft des Dritten Rei-
ches zum Teil einen recht geringen Gebrauchswert hatte. Der Raketenjäger Ju 248,
vom MiG-Team unter der Bezeichnung ,,Jäger 270" weiterentwickelt (vgl. Abbil-
dung 4), mochte aufgrund seines raschen Steigvermögens zum Objektschutz bei
intensiver Luftbedrohung geeignet sein. Die geringe Reichweite der Maschine
machte die Konstruktion für russische Verhältnisse jedoch wenig interessant, und
die explosive Treibstoffmischung aus Wasserstoffsuperoxyd und einem Methanol-
gemisch ließ schon eine Routinebetankoog zum Himmelfahrtskommando geraten.
Die Sowjets verzichteten auf den Serienbau dieser wie anderer deutscher Kon-
struktionen.
Auch am "Volksjäger" verloren die Sowjets bald jedes Interesse. Der Beitrag
von Junkers zu Hitlers "Jäger-Notprogramm" fiel ihnen bei der Eroberung Dessaus
in die Hände. Nach Kriegsende ließ die Besatzungsmacht ein Muster von der deut-
schen Stammbelegschaft bauen (obgleich in Potsdam zuvor die Einstellung der
deutschen Rüstungsproduktion proklamiert worden war). Auch für die deutschen
Werkspiloten bei Junkers war der Krieg noch nicht zu Ende: Die mißtrauischen

49 Dazu ausführlich (und wenig glaubwürdig) Tokaev o.J.


50 Vgl. meine Untersuchung zum Bomber mit Nuklearantrieb, Kap. 5 in diesem Band, als
wohl makaberste Unterstellung dieser Art.
Die Luftfahrtindustrie 57

Junkers EF 127

Messerschmitt Me 263

MiGI-270

Abbildung 4: Die Rückführung des ersten Raketenjägers des MiG-Teams auf


deutsche Projekte
58 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

Russen ließen sie die merkwürdige Holzkonstruktion mit dem ungewöhnlichen


Triebwerk auf dem Rücken einfliegen. Werkspilot Mathies, der mit diesem
"Volksjäger" während der Flugerprobung tödlich verunglückte, dürfte das letzte
Opfer dieser Wahntechnologie des Dritten Reiches geworden sein. Auch wenn
Junkers "Volksjäger" von Hitlerjungs geflogen werden konnte- Mangel an Piloten
hatten die Sowjets nicht, und sie ließen die Konstruktionsunterlagen dieses Pro-
jekts nicht einmal in die UdSSR schaffen.
Besonders die angelsächsische Fachliteratur hebt die "windfall profits" hervor,
die Russen beim Vormarsch in Peenemünde, bei der Eroberung Berlins als Rü-
stungszentrum und zuvor bei der Besetzung Schlesiens machten. Einzelne dieser
Angaben werden von deutscher Seite bestritten (so schreiben Kens/Nowarra, u.a.
gegen Gunston, über einen von der Deutschen Forschungsanstalt für Segelflug ent-
wickelten Raketenjäger DFS 346, der bei den hallischen Siebelwerken in Bau ge-
gangen war: "Sie (die erste Maschine) wurde beim Anmarsch der Amerikaner zer-
stört. Da die Russen erst zwei Monate später Schkeuditz besetzten, ist die vielfach
behauptete Nachricht vom Abtransport dieser Maschine in die UdSSR gegen-
standslos.")51
Auch wenn somit nicht bei jedem Rüstungswerk, welches die Russen einnah-
men, ihnen die dort entwickelten Produkte in die Hände fielen, so bleibt doch ein-
drucksvoll, was an militärischer High-tech bei Kriegsende in die Siegerhände ge-
riet. Wenn vieles davon die amerikanischen und britischen Militärtechniker beein-
druckte, um wieviel mehr mußte die technisch ungleich rückständigere Sowjet-
union von dieser Kriegsbeute profitieren! Auch wenn die Rote Armee nur einen re-
lativ bescheidenen Teil des Rüstungserbes des Dritten Reiches beschlagnahmen
konnte, so sollten doch diese Technologieinfusionen einen bei weitem überragen-
den Rang für die weitere Entwicklung der sowjetischen Rüstung einnehmen.
Zunächst (bevor die deutsche Triebwerkstechnologie zur Verfügung stand)
mußten sich die Sowjets auf eine eigene Entwicklung von Düsenflugzeugen stüt-
zen. Das MiG-Team (Projektbezeichnung "Jäger 300", später MiG-9) sowie das
Suchoj-Team (Su-9) bekamen Anfang 1944 parallel den Auftrag, den ersten sowje-
tischen Düsenjäger zu bauen. Der Schwachpunkt waren von Projektbeginn an die
sowjetischen Ljulka-Triebwerke. Die Motoren waren unzuverlässig (weshalb jeder
Jäger zwei Motoren erhielt), ihre Entwicklung hinkte mindestens um ein Jahr
hinter der Arbeit der Zellenkonstrukteure hinterher.
Bei einem später berühmt gewordenen Februarmeeting 1945 im Kreml zeigte
die sowjetische Führung Systematik in der Technologieakquisition. Stalin ließ die
Chefs aller Jägerkonstruktionsteams antreten und äußerte sich ungehalten über den
Stand der sowjetischen Düsenjägerentwicklung. In England und in Nazideutsch-
land hatte die Serienfabrikation dieser revolutionären Flugmaschinen begonnen, in
Amerika flogen immerhin Testmaschinen, während in der UdSSR nur von Verzö-
gerungen besonders bei den Motoren zu berichten war. Stalin verfügte, daß statt
der noch immer nicht hinreichend arbeitenden Sowjetkonstruktionen die erste Se-
rie sowjetischer Düsenjäger mit deutschen Motoren auszustatten sei. Lawotschkin
und Jakowlew erhielten Order, Maschinen mit je einem Düsentriebwerk und zwei
Nudelman-Kanonen NS-23 zu bauen; das MiG-Team und Suchoj hatten ihre zwei-
motorigen Jäger den deutschen Triebwerken anzupassen und zusätzlich eine

51 Kens/Nowarra 1961, S. 130


Die Luftfahrtindustrie 59

schwerere Flugzeugkanone NS-37 vorzusehen. Alle vier Jäger sollten mit je drei
Testmaschinen zum frühest möglichen Zeitpunkt zur Verfügung stehen.
Bei der Kreml-Konferenz Ende Februar 1945 hatte Jakowlew gemeinsam mit
Lawotschkin die Instruktion erhalten, für den Entwurf eines ersten Düsenjägers auf
der Grundlage vorhandener Technologie (=deutscher Düsentriebwerke) vorzuge-
hen. Während Lawotschkin eine neuartige Maschine entwarf, entschloß sich Ja-
kowlew zur herkömmlichsten aller Lösungen: Er verband seinen erfolgreichen
Kolbenmotorjäger Jak-3 einfach mit dem neuartigen Düsenantrieb von Junkers
(vgl. Abbildung 5).52 Aufgrund der konservativen Vorgabe konnte Jakowlew kür-
zeste Umsetzungszeiten für seine Projektideen reklamieren. Schon drei Tage nach
der Sitzung waren die Drei-Seiten-Risse des neuen Jägers verfügbar. Ende Mai
1945, drei Monate nach der Kreml-Konferenz, konnte das Jakowlew-Team die er-
sten Produktionszeichnungen aushändigen. Ausgestattet mit erbeuteten Junkers-
Düsentriebwerken, hätte die Jakowlew-Maschine eigentlich das Ringen um den er-
sten sowjetischen Düsenstart mit Leichtigkeit, mit einem Zeitvorsprung von einem
halben Jahr, für sich entscheiden können. In der ersten Oktoberwoche 1945 war
der Jak-Düsenjäger fertig. Die neue Maschine hätte die Flugerprobung aufnehmen
können. Aus heute schwer verständlichen Gründen beschlossen Chefkonstrukteur
Jakowlew53 sowie die sowjetische Führung, diesen Schnellstarter zu ausgiebigen
Sicherheitstests zu nutzen, und die Flugerprobung erst im April 1946 zu beginnen,
gemeinsam mit dem Konkurrenzentwurf des MiG-Teams. Im Westen wäre eine
solche politisch verantwortete Verzögerung infolge der Rivalität von Rüstungsfir-
men schwer vorstellbar.
Aus irgendwelchen Gründen bekam das MiG-Team die BMW-Turbinen zuge-
wiesen. Zunächst mußte der erste MiG-Düsenjäger den Maßen der deutschen Mo-
toren angepaßt werden. Da die BMW-Aggregate kleinere Dimensionen aufwiesen
als die ursprünglich vorgesehenen sowjetischen Ljulkas, wurde der Rumpf des Jä-
gers schlanker ausgeführt. Die erste Testmaschine MiG-9 traf im Frühjahr 1946
auf dem Erprobungsgelände in Tschk:alowskaja ein, gleichzeitig mit der zuvor fer-
tiggestellten Konkurrenzmaschine des Jakowlew-Teams. Man warf eine Münze,
wem die Ehre des ersten sowjetischen Düsenstarts in der Geschichte gebühre. Zu-
fällig gewann die MiG und der Teampilot A.N. ,,Lescha" Griutschik flog am 24.
April1946 als erster.
Man kann nichtsagen, daß die Sowjets ihre neuen Düsenjäger sonderlich ge-
heim hielten. Beide Prototypen wurden am 18. August 1946 in der Luftparade von
Tuschino vorgeflogen (auch im Westen gilt es als riskant, Prototypenunerprobter
Technologien wenige Monate nach dem Erstflug international vorzuführen). Stalin
zeigte sich beeindruckt und verfügte, daß je zwölf Maschinen der beiden Düsenjä-
germuster bei der Parade zur Oktoberrevolution 1946 vorzuführen wären. 54
Das war eine abenteuerliche Instruktion, unter allen Umständen, in jedem
Land der Erde. Von fast unerprobten Flugzeugen, welche obendrein eine vollstän-
dig neue Technologie darstellten, sollten binnen drei Monaten jeweils Staffeln flie-
gen! Und dies von Produkten, für die nicht einmal die Werkstattzeichnungen für

52 Vgl. Jakowlew 1972, S. 316 f.


53 Vgl. Jakowlew 1972, S. 319
54 Vgl. Jakowlew 1972, S. 323
60 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

Yak-3NK-107A

Abbildung 5: Jakowlews vorsichtiger Übergang zum Düsenjäger: Austausch


des Kolbenmotors (Klimow WK-107) durch einen deutschen
Jumo004B
Die Luftfahrtindustrie 61

die Serie existierten. Diese Stalinsche Verfügung muß ein Alptraum für alle Betei-
ligten gewesen sein.
Doch Stalins Order war damals ein absoluter Befehl, so unsinnig er sein moch-
te. Mikojan bekam Minister P.Ju. Dementjew als Mitorganisator zugeteilt, und un-
ter Versprechung attraktiver Prämien wurden tatsächlich kurzfristig 60.000 Blatt
Zeichnungen erstellt sowie die 15 MiG-9-Jäger frei von Hand, ohne Bauvorrich-
tungen oder eine geordnete Bauplanung, in der geforderten Frist hergestellt. Diese
phantastische Anstrengung erwies sich freilich als vordergründig vergeblich: We-
gen Nebel mußte die Flugparade anläßtich des Jahrestages der Oktoberrevolution
1946 abgesagt werden.
Mit dem Eintritt in die neue Technologie hatten die Sowjets umweglos Tribute
zu zahlen. Da damals das Problem der Materialermüdung unbekannt war, löste
sich beim 20. Probeflug am 11. Juni 1946 ein Höhenruder beim Schnellflug des
MiG-Jägers, und die Maschine schlug geradewegs auf den Boden auf. Im August
wurden jedoch die Exemplare zwei und drei fertig und nahmen die Flugerprobung
auf.
Dem von Stalin ansonsten begünstigten Jakolew und seinem Team ging es
nicht besser als der MiG-Konkurrenz. Jakowlew bekam als Sekundanten aus dem
Regierungsapparat den Vizeminister A. Kusnetzow zugewiesen, und beide wurden
mit der Instruktion in eine ausgewählte Fabrik entsandt, diese persönlich nicht zu
verlassen, bis ihre zwölf Jak-15 fertig waren. Jakowlew berichtet, daß er
"alle Kopiereinrichtungen der Stadt mobilisierte und arbeiten ließ, um während der fol-
genden Tage unsere Blaupausen reproduzieren zu lassen, um 20 Sätze von Zeichnungen
oder 50-60 000 Einzelkopien zu erhalten."55
Über den Baufortschritt der ersten Serie sowjetischer Düsenjäger schreibt der so-
wjetische Konstrukteur, augenscheinlich von der ungewöhnlichen Erfahrung rapi-
den Fortschritts beeindruckt:
"Jedermann arbeitete mit beispiellosem Enthusiasmus, so daß unsere Düsenjäger Tag
für Tag in strikter Übereinstimmung mit dem Plan sichtbare Fortschritte zeigten ... Wir
sollten dies ein Wunder nennen, aber wir glauben nicht an Wunder. Wir glauben an die
Macht menschlichen Engagements, welche in diesem Falle das anscheinend Unmögli-
che zustande brachte- fast ein Wunder."56
Wie bei den MiGs entstanden die Jak-Düsenjäger in Handarbeit, zunächst gleich-
falls ohne die Nutzung von Vorrichtungen. Hernach wurden die Jaks mitsamt ihren
Jumo-Triebwerken zerlegt, in Kisten verpackt und per Bahn zum Testgelände ver-
frachtet - trotz des aberwitzigen Termindrucks erschien dem vorsichtigen Jakow-
lew die Flugüberführung als zu riskant. Die letzten Maschinen dieses verzweifelten
Dutzend verließen pünktlich am 5. Oktober 1946 die Fabrik, zwei Wochen vor
dem Schlußtermin. Auch ihre Flugvorführung anläßtich des Jahrestages der Okto-
berrevolution entfiel mitsamt der gesamten Flugparade.57
Es lohnt sich, beim Studium der sowjetischen Technologieakquisition auch die
gegenüber den beiden prominenten Teams, Jakowlew und MiG, weniger bekann-
ten Rivalen Suchoj und Lawotschkin zu betrachten. Beide wählten andere Wege-
und mußten dafür empfindliche Strafen hinnehmen.

55 Jakowlew 1972, S. 323


56 Jakowlew 1972, S. 324
57 Die Vorführung erfolgte dann zum 1. Mai 1947, im Westen wenig beachtet.
62 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

Pawel Suchoj und sein Team hatten die einleuchtende Idee, ihren Jäger nicht
nur um deutsche Flugmotoren herum zu bauen, sondern einfacherweise auch die
dazu gehörige Flugzeugzelle nachzuempfinden. Mit der Wahl der Konstruktion Me
262 von Willy Messerschmitt traf Suchoj bei seiner Su-9 zwar ins Schwarze. Diese
Messerschmitt-Adaption (Abbildung 6) absolvierte pünktlich im Sommer 1946 ih-
ren Erstflug und erbrachte, kaum überraschend, im Vergleich mit der rivalisieren-
den anderen Zweimotorigen, der MiG-Konstruktion, überlegene Flugleistungen.58
Pawel Suchoj wurde trotz dieses Erfolges gegen die Prominenz nicht glück-
lich. Seine Maschine wurde abgelehnt, er selber landete im Gefängnis. Jakowlew59
denunzierte Suchoj bei Stalin: Die ganze Konzeption der Su-9/Messerschmitt sei
wenig wünschenswert und das Flugzeug obendrein schwierig zu fliegen. Stalin
scheint solchen angesichts der Erprobungsergebnisse nicht haltbaren Äußerungen
Glauben geschenkt zu haben. Es half dem Suchoj-Team nicht, daß der Entwurf
schleunigst russifiziert wurde (Typenbezeichnung der Umkonstruktion Su-11) -
mit der unautorisierten Kopie des Messerschmittjägers war ein Tabu verletzt wor-
den.
Das Lawotschkin-Team schließlich, durch Großserienproduktion seiner Kol-
benmotorjäger trotz diverser technischer Mängel verführt, meinte mit eben dersel-
ben Strategie auch bei seinem ersten Düsenjäger durchzukommen: Hauptsache, der
Entwurf stand, das Ausmerzen von Kinderkrankheiten hatte später Zeit. So gelang
es auch dieser Gruppe, im geforderten Rekordtempo um das deutsche Triebwerk
Jumo 004 herum eine Jagdmaschine zu bauen. Für die Parade zur Oktoberrevolu-
tion hatte man allerdings nur fünf Maschinen fertig. Dem Produkt La-150 merkte
man die Hast an, in der es konzipiert worden war. Das Flugzeug war ungenügend
durchkonstruiert und daher zu schwer. Die Startbeschleunigung ließ sehr zu wün-
schen übrig. Im Flug kam es zu unerwünschten Schwingungen des Hecks mit dem
Leitwerk, weil hier die Konstruktion zu wenig steif ausgeführt worden war. Ferner
zeigte dieser erste Lawotschkin-Jäger ein recht instabiles Verhalten im Flug.
Das Team konstruierte seinen erfolglosen Jäger mehrfach um, wobei zum Teil
wichtige Neuerungen eingeführt wurden. Um die Beschleunigung zu verbessern,
wurde hinter die Junkers-Turbine ein einfacher Nachbrenner eingebaut, eine der
ersten Konstruktionen dieser Art überhaupt. Von den Deutschen griff man die Idee
des gepfeilten Flügels auf. Der erste sowjetische Jäger mit dieser wichtigen Neue-
rung absolvierte im Juni 1947 seinen Erstflug.
Im März 1946 wiederholte Stalin seine Schockbehandlung der Jägerkonstruk-
teure. Wiederum hatten die Teamchefs im Kreml anzutreten, und Stalin diktierte
die technischen Vorgaben für eine neue Generation von sowjetischen Hochlei-
stungsjägern - nicht einmal ein Jahr nach dem ersten sowjetischen Düsenstart
überhaupt. Das Thema war diesmal Höhenjäger. Gefordert wurde in Kenntnis der

58 Die Messerschrnitt-Kopie ist ganz unstreitig, vgl. Alexander 1975, S. 336; Gunston
1983, S. 266 f.; Jakowlew 1972, S. 317
59 Es handelte sich augenscheinlich nicht um die einzigste Denunziation Jakowlews. Der
junge sowjetische Konstrukteur Semjon Michailowitsch Alexejew, 1946 soeben mit ei-
nem eigenen OKB selbstständig geworden, legte gleichfalls einen Entwurf für einen
zweimotorigen Jäger vor (Projektbezeichnung 1-211, Weiterentwicklungen 1-212 und 1-
215), dessen Prototyp durchaus mit Erfolg getestet wurde. Jakowlew befand jedoch, es
handele sich lediglich um ,,eine weitere Kopie der Me 262" von Messerschmitt. Alexe-
jew fiel in Ungnade, sein OKB wurde 1948 geschlossen. Vgl. Gunston 1983, S. 37
Die Luftfahrtindustrie 63

MesserschmittMe 262 (1941)

m_
~.----A=.-~

Suchoj Su-9 (1944)

Abbildung 6: Suchojs Kopie eines deutschen Düsenflugzeuges


64 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

von den Deutschen erbeuteten Unterlagen eine Höchstgeschwindigkeit von Mach


0,9, d.h. fast Schallgeschwindigkeit, gutes Manövriervennögen auch in Höhen
über 11 km und eine Mindestflugdauer von einer Stunde. Das waren Leistungsan-
forderungen, die denen an die modernsten westlichen Gegenstücke entsprachen.
Mit sowjetischen oder den deutschen Triebwerken waren sie nicht zu erreichen.
Im Westen wurde hinter dem Erfolgsmuster MiG-15 erneut deutsches Know-
how vennutet. Angeblich ging die Konzeption der MiG auf den Heinkel-Konstruk-
teur Siegfried Günter zurück, der nach dem Kriege in die UdSSR gegangen war.60
Da Günter nach seiner Rückkehr in den Westen diese Mitwirkung an der Jägerkon-
struktion energisch in Abrede stellte, ist dieser Ansicht nicht zu folgen. - Auch La-
wotschkin und sein Team erhielten eine der begehrten britischen Turbinen. Wegen
dieser Neuerung wurde der Jäger der Gruppe, die La-150, erneut umkonstruiert.-
Ohne staatliche Anforderung ging Lawotschkin schließlich nochmals an seinen
Entwurf und kombinierte seine Trümpfe: das britische Triebwerk, versehen mit
einem verbesserten Nachbrenner, den dünnen Pfeilflügel und einen nunmehr voll
durchkonstruierten Rumpf. Als das Produkt in einer Testvariante sogar als erstes
sowjetisches Flugzeug am 26. Dezember 1946 im Sturzflug die Schallmauer
durchstieß, hatte Lawotschkin gewonnen. Sein gar nicht in der Produktionsplanung
vorgesehener Jäger wurde als La-15 sofort in mehreren Fabriken in den Serienbau
genommen. Schon im Februar 1949 erfolgten die ersten Auslieferungen.
Angespornt von diesem Erfolg machte sich das Lawotschkin-Team an eine
neue Herausforderung, die Konstruktion eines schweren Jägers mit einem der neu-
artigen Radargeräte, der auch nachts und bei schlechter Sicht kämpfen konnte.
Dem Ergebnis wird auch von westlichen Fachleuten eindeutiges Lob zuteil.61 Fer-
tigungstechnisch beeindruckte dieser Jäger durch die Verwendung gezogener
Stahlbleche und die gelungene Kopie moderner westlicher Nietverfahren. Die In-
strumentierung entsprach nach Gunstons Urteil damaligem westlichen Standard,
ansonsten sei die Maschine ihren westlichen Gegenstücken sogar überlegen gewe-
sen. Am 11. März 1951 durchbrach ein Testmuster als erstes sowjetisches Flug-
zeug die Schallmauer im Horizontalflug, vom MiG-Team sehr um diesen Rekord
beneidet. Das Abnahmeprotokoll vom April 1951 empfahl die Serienproduktion,
doch da hatten politische Umstände das Projekt schon blockiert. Die sowjetische
Führung entschied sich, das so erfolgreiche Lawotschkin-Team durch erneute
"Schockbehandlung" zu noch höherer Leistung anzuspornen, und befahl im No-
vember 1950, die Reichweite des Jägers auf 3500 km zu verdoppeln.
Dies war eine Forderung, die jenseits aller technischen Möglichkeiten lag.
Dem Lawotschkin-Team blieb in der Stalinschen Sowjetunion jedoch nichts ande-
res übrig, als an die Zeichentische zurückzukehren und ein nicht mögliches Flug-
zeug zu bauen. Die Fehlentscheidung des Kreml zeitigte weitreichende Folgen.
Außer dem Pfeiljäger La-15 hatten die Streitkräfte nichts von den Leistungen des
Lawotschkin-Teams, weil dessen Konstruktionen nicht in Serie gebaut, sondern
durch stets höher gesetzte Leistungsanforderungen überzüchtet wurden. Während

60 So etwa Wemer Keller (,,Die Bibel hat doch recht'') in seinem reißerisch geschriebenen
Buch: Ost minus West= Null. Der Aufbau Rußlands durch den Westen, München/Zü-
rich 1960, S. 378{379. Keller gibt anhand damals verfügbarer Quellen Darstellungen zu
weiteren in diesem Band behandelten Transfers.
61 Vgl. Gunston 1983, S. 161
Die Luftfahrtindustrie 65

der gesamten fünfziger Jahre laborierte das Team an gewagten Neuerungen. Eine
neuartige Steuerung ("Jäger 250") war jedoch so schwierig zu handhaben, daß
selbst die erfahrendsten Testpiloten aufgaben. Es gab Abstürze, und am Ende wur-
de das glücklose Konstruktionsteam aufgelöst. Auch in sowjetischer Literatur62
wird der frühe Tod von Chefkonstrukteur Lawotschkin im Juni 1960 mit seiner
Verbitterung über das widersprüchliche Schicksal seiner Flugzeuge in Verbindung
gebracht. Einzelne dieser merkwürdigen Apparate mit ihren ,,Elefantenohren" be-
nannten großen Lufteinläufen kann man noch heute im Museumsgelände von Mo-
nino bewundern.
Die leistungsstarken britischen Flugmotoren bzw. ihre sowjetischen Nachbau-
ten suchte auch das gegen die Prominententeams Jakowlew und MiG in der ersten
Runde unterlegene Suchoj-Team für einen spektakulären Erfolg zu nutzen. Im Ja-
nuar 1948 erfolgte die Ausschreibung des Entwurfs für einen ersten schweren All-
wetterjäger. Darunter war die Verbindung zwischen einem zweimotorigen Jäger
mit einem der für die Sowjets neuartigen Radargeräte zu verstehen. Neben der er-
wähnten Lawotschkin-Konstruktion legten die erfolgsgewohnten Gruppen MiG
und Jakowlew Entwürfe vor. Das Suchoj-Team suchte die Konkurrenz mit ihrem
Inkrementalismus, der schrittweisen Erweiterung der Leistungsfahigkeit von Waf-
fensystemen, durch einen großen Sprung nach vom zu schlagen. Das Team stellte
den ersten sowjetischen Überschalljäger (benannt Su-17) in Aussicht. Die Arbeiten
begannen 1948.
Soviel Ambition führte zum abrupten Ende. Am 3. Juni 1949 stürzte das Test-
exemplar von Suchojs Allwetterjäger ab, und es wurde absehbar, daß der neue
Überschalljäger so rasch wie versprochen nicht verfügbar würde. Auf persönliche
Empfehlung Stalins wurde das Konstruktionsbüro des unglücklichen Pawel Suchoj
am 1. November 1949 geschlossen, der Chefkonstrukteur wurde degradiert und der
Großteil seines Teams Tupolew zugeordnet. Es sollte knapp zehn Jahre dauern, ehe
Suchoj (der nach Stalins Tod eine entsprechende Bittschrift verfaßt hatte) wieder
ein Konstruktionsbüro leiten konnte. Nach der offiziellen Bestätigung entfaltete er
dort den gewohnten Schwung. Eine seiner Konstruktionen hemach, einer Suchoj
Su-15, gebührt der Verweis auf den Abschuß eines Jumbos der Korean Airlines im
Jahre 1983.
Auch der Bau sowjetischer Bomber profitierte von den beiden Technologie-
schüben aus dem Ausland, die mit der Besetzung Deutschlands und im Frühjahr
mit der Lieferung britischer Düsenaggregate ausgelöst wurden. Im Bomberbau ri-
valisierten nur zwei Teams, das von Iljuschin und das von Tupolew.63
Die deutsche Luftwaffe war die erste gewesen, die mehrmotorige Düsenbom-
ber einsetzte. Die Arada-Flugzeugwerke in Babelsberg bei Berlin hatten bis
Kriegsende 214 zweimotorige Bomber Ar 234 ausgeliefert. Noch im April 1945
wurde die jüngste Variante in die Flugerprobung gegeben. Es ist nicht bekannt,
was an Unterlagen der Firma Arado in die Hände der Russen fiel. Iljuschin konzi-
pierte jedoch seinen ersten Düsenbomber, die II-24, deutlich aufgrundvon Erfah-
rungen der Deutschen (vgl. Abbildung 7). In der Literatur wird die II-22 ferner mit

62 Schawrow 1978, S. 165


63 Ein Entwurf des von Ungunst verfolgten Suchoj-Teams für einen vierrnotorigen Düsen-
bomber (Bezeichnung Su-10) wurde trotz einer Anzahl interessanter Neuerungen im
Verlaufe des Jahres 1948 wie die anderen Suchoj-Entwicklungen aufgegeben.
66 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

Arado Ar-234
(Erstflug 1943)

Heinkel He 343
(1945, Projekt)

Iljuschin ll-22
(Erstflug 1947)

Abbildung 7: Der Weg zu l/juschins erstem viermotorigen Düsenbomber über


die deutschen VorgabenAr-234 und He 343
Sowjetische Panzer 67

dem Heinkel-Bomber He 343 in Zusammenhang gebracht. Bei der Eroberung


Wiens fielen den Sowjets augenscheinlich Pläne des Heinkel-Entwicklungswerkes
in Schwechat in die Hände. Iljuschins neue Konstruktion, wenige Wochen nach
dem Erstflug am 3. August 1947 in der Flugparade von Tuschino neben den Proto-
typen der ersten sowjetischen Düsenjäger öffentlich vorgeführt, überzeugte als
Bomber nicht sonderlich. Besonders wegen der Verwendung schwacher und unzu-
verlässiger russischer Ljulka-Triebwerke wurden eine zu lange Startstrecke, zu ge-
ringe Geschwindigkeit und eine zu geringe Reichweite moniert.
Mit dem Eintreffen der britischen Flugmotoren im Jahre 1947 änderte sich die
Situation schlagartig. 11juschin konstruierte seinen viermotorigen Bomber auf die
russifizierte Variante des Rolls-Royce "Derwent"-Motors um (Projektbezeichnung
11-24). Zum Serienbau kam es nicht, mit ihren ungepfeilten Tragflügeln erwies sich
diese Konzeption als aerodynamisch veraltet. Die Kombination des britischen Mo-
tors mit einem neuen Trapezflügel (Il-28) und hernach mit einem Pfeilflügel (Il-
30) erwies sich jedoch als überzeugende Konzeption für eine Reihe mittlerer Dü-
senbomber.
11juschins Rivale Tupolew hatte vorsichtig wie J akow lew mit seinem Jäger den
Übergang zum Düsenantrieb bewältigt, indem er seinen im Kriege erfolgreichen
leichten Bomber Tu-2 anstelle der Kolbemotoren mit zwei britischen "Derwent"-
Triebwerken ausrüstete. Mit den Nachbauten deutscher Strahltriebwerke war das
Bomberteam unter Konstrukteur A.A. Archangelskij nicht gut zu Rande gekom-
men, es gab Probleme bei der Zuverlässigkeit.
Bei der Wahl eines Bombers für die Großserie ordnete Luftmarschall Werschi-
nin an, daß drei Testbesatzungen unabhängig voneinander sowohl die 11-28 sowie
die Konkurrenzentwicklung Tu-78 erproben und eine Empfehlung geben sollten.
Nach Ende der Testflüge sprachen sich die Mannschaften einhellig für die 11ju-
schin aus. Nach dem Vergleichsfliegen im Oktober 1948 agierte Stalin wie weiland
bei den Jägern: Er verfügte, daß 25 Maschinen an der Parade zum 1. Mai 1950 teil-
zunehmen hätten. (Im September 1950 wurde das erste Regiment der Luftwaffe
mit dem Iljuschin-Bomber als einsatzfähig gemeldet.)
Iljuschins Bomber wurde ein Welterfolg: Dreitausend Exemplare wurden in
der Sowjetunion montiert (die Hälfte wurde exportiert), in China und in der CSSR
wurde der Nachbau aufgenommen. Neben dem Warschauer Pakt erhielten die
Luftstreitkräfte von 15 verschiedenen Ländern der Dritten Welt den Bomber, den
sie zum Teil (Nigeria, Ägypten, Vietnam, Nordkorea, Irak, Jemen, Syrien) für
Bombardements kriegerisch einsetzten.

1.2 Sowjetische Panzer

Ähnlich wie bei der Flugwaffe erweist sich die sowjetische Panzerwaffe, studiert
man ihre Entwicklung unter technologischem Aspekt, in ihren Anfängen und in ge-
wissen Aspekten hernach als hochgradig von westlichen Technologietransfers ab-
hängig.
In der zaristischen Armee gab es keine Tanks. Auch in den Bürgerkriegsjahren
gab es keine Panzerfahrzeuge in Rußland. Die neuen sowjetischen Streitkräfte be-
obachteten jedoch mit Aufmerksamkeit die Entwicklung im Ausland. Die führte
zunächst zur Betonung einer Nebenlinie, der Leichtpanzer oder Tanketten.
In den zwanziger Jahren wurden verschiedentlich von sowjetischen Militärs
68 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

Leichtpanzer zur Infanterieunterstützung vorgeschlagen. Eine Entwicklungslinie,


die rasch die Aufmerksamkeit sowjetischer Militärs fand, bildete die Produktserie
von John (hernach Sir John) Carden. Im Verbund mit der britischen Rüstungsfirma
Vickers erzeugte Carden in Serien von einigen hundert Fahrzeugen verschiedene
Modelle seiner Tanketten, von denen die UdSSR neben anderen Ländern eine An-
zahl erwarb. Unter der Bezeichnung T-27 wurden Ende der zwanziger Jahre eine
Anzahl dieser Tanketten in der UdSSR nachgebaut (die "T"-Bezeichnung gibt bis
heute an, daß es sich um einen Panzer oder Tank handelt; der Beginn der Ferti-
gung, in diesem Fall das Jahr 1927, liefert die Ziffer).
Die Sowjets zeigten sich verschiedentlich offen für neue Konstruktionsideen.
So erwarben sie nach der Freigabe der Lizenzen die Nachbaurechte für einen von
den britischen Vickers-Armstrong-Werken angebotenen 6-Tonnen-Leichtpanzer,
für den sich die britische Armee zunächst nicht interessierte. Unter der Typenbe-
zeichnung T-26 wurde dieses Gefährt in großen Zahlen hergestellt. Ähnlich klar-
sichtig erwiesen sich sowjetische Technologie-Einkäufer in den USA. Der später
als Panzerkonstrukteur berühmte J.W. Christie entwickelte, um möglichst schnelle
Tanks zu erzeugen, neuartige Laufwerke, und baute in den dreißiger Jahren einige
erfolgversprechende Prototypen. Die US Army kaufte die Entwürfe nicht, schon
aus Budgetgründen (ihr Forschungsetat war in jenen Jahren geringer als der des
Landwirtschaftsministeriums). Die UdSSR erwarb von Christie zwei Fahrgestelle,
der augenscheinlich als Erfinder befriedigt war, mit seinen Ideen überhaupt kom-
merziellen Erfolg zu haben. - Christies Konstruktionsprinzipien, eine unabhängige
Federung für jedes Laufrad eines Panzers sowie ein hohes Leistungsgewicht, wur-
de für den sowjetischen Panzer "BT'' übernommen, den unmittelbaren Vorgänger
des bis heute eingesetzten Erfolgspanzers T-34. Eine britische Panzerhistorie be-
zeichnet den BT als "wahrscheinlich den wirksamsten Panzer in der Mitte der drei-
ßiger Jahre", den es damals auf dem Globus gab.64 -Dieser sowjetische Panzer
diente- erstmals in der Geschichte der sowjetischen Rüstung- als Vorbild für aus-
ländische Konstrukteure im kapitalistischen Westen. Wenigstens wird in der Fach-
literatur der britische Panzer Crui~er Mk. III als "teilweise durch den russischen
BT-Panzer inspiriert" bezeichnet. Diese Wertung läßt sich durch die Prüfung tech-
nischer Details wie des Laufwerks leicht verifizieren, obgleich die sowjetischen
Konstrukteure wenig mehr getan hatten, als die neuen Ideen des amerikanischen
Konstrukteurs Christie in ein Serienfahrzeug umzusetzen.
Neben der Adaption ausländischer Technologie betrieben die Sowjets auch im
Panzerbau Eigenentwicklungen (damals die Typen T-28 und T-35), waren jedoch
klug genug, deren Fertigung angesichtsder Stärken der ausländischen Importe zu
unterlassen. Vielmehr entschied man sich - was der Kompetenz der Entschei-
dungsträger erneut ein außerordentliches Zeugnis ausstellt - durch die Kombina-
tion der Vorzüge der verschiedenen ausländischen Modelle ein optimales Produkt
zu erstellen, und dies in großen Zahlen. Mit Beginn der dreißiger Jahre steigt die
UdSSR zum größten Panzerhersteller überhaupt auf. In dem angeführten britischen
Panzerhandbuch wird das Land als nach 1929 wichtigster Produzent benannt.65
Adolf Hitler soll sich bei seinen Tischgesprächen irritiert über die Quantität der so-
wjetischen Panzerrüstung gezeigt haben (zu Göring: "Sie wissen, daß ich bei die-

64 Ogorkiewicz 1967, S. 31
65 Ogorkiewicz 1967, S. 31
Sowjetische Panzer 69

sem Feldzug zum erstenmal starke Hemmungen wegen der Unsicherheit über die
Stärke des Gegners gehabt habe und ich weiß nicht, ob ich den Entschluß gefaßt
hätte, wenn mir die gesamte Stärke des Sowjetheeres und besonders die gewaltige
Ausrüstung mit Panzern bekannt gewesen wäre"66).
Im Jahr 1939 verfügte die UdSSR mit 20.000 Fahrzeugen über ebensoviele
Kampfwagen wie der Rest der Welt, das Dritte Reich eingeschlossen. Von der rü-
stungsindustriellen Seite her hätte die Sowjetunion nicht besser auf die Schlachten
des Zweiten Weltkrieges vorbereitet werden können. Die Überlegenheit der Deut-
schen bestand einzig im überlegenen taktischen Konzept zum Einsatz der Kampf-
wagen.
Mit dem T-34 gewinnt die sowjetische Panzerentwicklung eigene Kompetenz.
In der Metallurgie der Stähle für Panzertürme kommen entscheidende Hinweise
von Wassili Emeljanow, die Auslegung der Tanks bestimmt seit 1940 Alexandr A.
Morosow, usf.67 Die sowjetischen Konstrukteure definieren im Rüstungswettlauf
ähnlich wie ihre westlichen Konkurrenten, was die Standards der Technologie
sind. Somit entfällt die Möglichkeit, nachholend westliche Entwürfe zu "beerben".
Der Glaube an westliche Prinzipien bleibt allenfalls in dogmenhaft fortgeschriebe-
nen Einzelentscheidungen aufzeigbar, wie etwa dem Festhalten an Christies großen
Panzerlaufrädern, die erst in den siebziger Jahren aufgegeben werden.
Die Panzertechnologie stellte sich, was im Vergleich mit anderen Rüstungswa-
ren überrascht, sehr früh und dann sehr starr auf ein Grundkonzept ein. Im Grunde
besteht seit dem F.T.-Fahrzeug von Renault aus dem Jahre 1918 bis heute- d.h.
seit 70 Jahren- ein Tank aus einem Bugteil, in dem der Fahrer mit den erforderli-
chen Ausrüstungen untergebracht ist, einem Kampfsegment im Mittelteil, welches
von einem rotierbaren Turm bestimmt wird, sowie dem Antriebsblock im HeckteiL
Alle Variierungen dieser Anordnung erwiesen sich als Fehlschläge, ebenso Modifi-
kationen wie Leichtpanzer (die in der sowjetischen Rüstung in den zwanziger Jah-
ren große Beachtung fanden) oder Schwerstpanzer. In dieser Richtung hatten die
Sowjets in den dreißiger Jahren einiges investiert, wie die Modelle Josef Stalin 1
bis 3 und KW anzeigen. Seither hat sich die mögliche Bandbreite der Technologie-
entwicklung bemerkenswerterweise auf ein Standardmodell verengt. Dessen Wei-
terentwicklung in bezugauf passiven Schutz, Beweglichkeit, Verstärkung der Lei-
stungsfähigkeit der Kanone fügte sich geschmeidig ein in Anforderungen des so-
wjetischen Industriesystems, welches eher inkrementale Verbesserungen als rapide
Innovationen zu absorbieren vermag. Im Westen verzeichnete Schritte wie der Ein-
bau von Flugmotoren in Panzern oder gar die Verwendung von Gasturbinen für
den Antrieb sind dem sowjetischen Panzerbau fremd geblieben.
Anhänger einer auf Personen bezogenen Geschichtsschreibung würden für die-
sen Konservatismus mutmaßlich den Tatbestand anführen, daß das Hauptkonstruk-
tionsteam für den Kampfpanzerbau von 1940 bis 1979 von ein und derselben Per-
son geleitet wurde, von Alexandr A. Morosow. Wie bis zur Wahl Gorbatschows

66 Zit. nach dem Kriegstagebuch des Dr. jur. Otto Bräutigam, hier Eintrag für den 16.7.
1941, veröff. von Götz Ali u.a., Biedermann und Schreibtischtäter, Materialien zur
deutschen Täter-Biographie, Berlin 1987, S. 137.
67 Emeljanow spielt später eine gewisse Rolle als stellvertretender Minister für den Atom-
bombenbau, vgl. Kap. 2. Seine Rolle bei der Entwicklung des T-34 wurde in Nachrufen
anläßlich seines Todes im August 1988 hervorgehoben. Der Turm des T-34 wurde un-
konventionellerweise in Schmiedestahl mit einem hohen Magnesiumanteil ausgeführt.
70 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

auf der höchsten politischen Ebene üblich, gab Morosow seine führende Stellung
erst mit dem Tode auf. Sein Team war für alleneueren sowjetischen Panzermodel-
le, vom T-34 über den T-44, T-54, T-55 bis zum T-62 federführend.- Andere füh-
rende Panzerkonstrukteure zeigten ein ähnlich ausdauerndes Verhalten. Josef J.
Kotin, neben dem für mittelschwere Tanks verantwortlichen Morosow für den Ent-
wurf schwerer Panzer zeichnend, wirkte gleichfalls seit Kriegszeiten bis 1979. Alle
sowjetischen Panzerkanonen vom T-54 bis zum modernen T-72 stammen von ei-
nem Team, welches Fjodor F. Petrow leitete, usf.68
Das führende deutsche Panzerhandbuch befindet über den T-54/55, daß er
"in idealer Weise die Forderungen nach Einfachheit, Robustheil und Massenprodukti-
onsfähigkeit mit den von einem neuzeitlichen (Kampfpanzer) zu erwartenden Leistun-
gen vereint."69
Beim Nachfolgemodell T-62 befindet derselbe Fachautor, daß es in den Grundbau-
gruppen nach wie vor mit dem Erfolgsmuster T-34 identisch sei.70 Aufgrund eige-
ner Kompetenz erwarteten die sowjetischen Panzerbauer aus der Hinterlassen-
schaft des Dritten Reiches wenig für sie Neues. Allenfalls einzelne Nebengeräte
wie der deutsche 5,7 cm-Flakpanzer fanden Interesse bei den sowjetischen Fach-
leuten (das im Dritten Reich auch unter der Bezeichnung "Gerät 58" bekannte
Fahrzeug wurde als Panzerflak ZSU 57 nachgebaut und in der zweiten Hälfte der
siebziger Jahre auch an Verbündete wie die NVA, Polen, die CSSR und Ägypten
ausgeliefert).71
Im Westen wird vielfach behauptet, sowjetische Panzer auch modernster Bau-
art seien westlichen Gegenstücken nicht gleichwertig, sondern technisch unterle-
gen. Friedensforscher und andere nutzen diese Aussage für die These, die zahlen-
mäßige Unterlegenheit der NATO bei den Tanks würde durch die überlegene Qua-
lität der Westkampfwagen ausgeglichen. Wenn die These von der allgemeinen Un-
terlegenheit sowjetischer Panzerfahrzeuge zutrifft, ist dann auch in diesem Sektor
die sowjetische Industrie nach wie vor im Aufholen begriffen?
Bei einem rein technischen Vergleich trifft zu, daß sowjetische Fahrzeuge we-
niger elektronische Hilfsausrüstungen aufweisen, mit einfacheren Visiereinrichtun-
gen ausgestattet oder für die Besatzung weniger komfortabel eingerichtet sind. Ob
dies allerdings die den Ausschlag gebenden Merkmale für Panzer als Kampfma-
schinen sind, bleibt zumindest strittig. Die Auffassungen sowjetischer Panzerkon-
strukteure über die Optimierung ihrer Fahrzeuge richten sich deutlich auf militäri-
sche Gebrauchseigenschaften wie Eignung unter rauben Einsatzbedingungen oder
einfache Bedienung, Wartungsfreundlichkeit und einfache Reparaturmöglichkei-
ten. Es mag sein, daß grundsätzliche Neuerungen im Bau von Tanks wie die soge-

68 Daten nach Zaloga/Loop 1987, S. 22.- Erneut ist zu unterstreichen, daß der Chefkon-
strukteur nicht notwendig selber die Produkte erzeugt hat, die mit seinem Namen ver-
bunden werden. So hat nicht Teamchef Kotin, sondern sein Untergebener Schasclunu-
rin den bekarmtesten Leichtpanzer der Sowjets in der Nachkriegszeit, das Modell PT-
76, konzipiert, usf.
69 Senger-Etterlin 1969, S. 287
70 Senger-Etterlin 1969, S. 298
71 Vgl. Senger-Etterlin 1969, S. 350
Giftgas 71

nannte Chobham-Schichtpanzerung72 in der UdSSR später als im Westen und in


Reaktion auf westliche Entwicklungen eingeführt werden. Angesichts der langen
Innovationszyklen im Panzerbau bleibt ein solcher Tatbestand von geringem Ein-
fluß auf die Position der UdSSR im Wettrüsten. Durch gezielte Einführung an-
scheinend entscheidender Neuerungen gelingt es den sowjetischen Panzerkräften
gar, die USA hin und wieder auf die Plätze zu verweisen. Die zügige Einführung
sogenannter "Sprengpanzerungen" (Pakete von Sprengstoff, am Panzerturm ver-
teilt, die beim Aufschlag eines Geschosses explodieren und so die Zerstörung des
Tanks verhindern) bei modernen sowjetischen Panzern veranlaßte 1988 das Penta-
gon, schleunigst drei Viertel seiner modernen, in Europa stationierten Panzer nach
Amerika zurückzuziehen. Sie sollen dort mit Milliardenaufwand nachgerüstet wer-
den.73

1.3 Giftgas

Die deutsch-sowjetische Rüstungskooperation zu Zeiten der Weimarer Republik


umfaßte auch die inhumanste Waffentechnologie, die im 1. Weltkrieg angewendet
worden war - Giftgas. Erneut lagen die Interessen der Reichswehr und die der So-
wjets parallel. Den Deutschen waren chemische Kampfstoffe mit dem Vertrag von
Versailles verboten worden. Die Reichswehrführung suchte dennoch nach Wegen,
diese damals für kriegsentscheidend erachtete Waffe weiter zu entwickeln und
auch praktisch zu erproben. Das war nur im Ausland möglich. Die Sowjets ande-
rerseits zeigten ein großes Interesse an den neuen Kampfstoffen, die im Zarenreich
nicht entwickelt worden waren, und bei denen die UdSSR mit ihrer wenig entwik-
kelten Chemieindustrie autbolen mußte (genauer gesagt, gegenüber den kapitalisti-
schen Ländern autbolen zu müssen glaubte).
Bei den Verhandlungen über die wechselseitigen Interessen an den Chemie-
waffen nach dem Rapallo-Vertrag konnten die Sowjets eine erste Runde für sich
verbuchen: In einem der geheimen Militärverträge wurde die Auslieferung des Be-
standes an deutschem Know-how in der Chemiekriegsführung zur Vorbedingung
gemacht. Dr. Hugo Stoltzenberg, der es schon im Kriege verstanden hatte, als ehe-
maliger Assistent des berühmten Chemikers Haber Kapital aus dieser neuen Tech-
nologie zu schlagen, bereiste im Frühjahr 1923 die Sowjetunion, um Fachgesprä-
che zu führen, und um einen geeigneten Produktionsstandort für die künftige Che-
miewaffenproduktion ausfindig zu machen (solche Erkundungsreisen deutscher
"Spezialisten" sollten besonders nach dem 2. Weltkrieg bei der Verlagerung deut-
scher Rüstungswerke in die UdSSR Routine werden). Die sogenannte Gefu, eine
Tarnfirma der Reichswehr für die illegalen Rüstungsgeschäfte mit dem Ausland,
stellte offenbar aus Mitteln des Reichshaushaltes 1,665 Millionen Goldrubel für
das Chemiewaffenprojekt zur Verfügung. Die sowjetische Seite beteiligte sich mit
5,67 Millionen Goldrubel an dieser "JointVenture". Gemäß dem Vorschlag von
Stoltzenberg wurde der Ort Trock bei Samara an der unteren Wolga zum Standort
der gemeinsamen Giftgasfirma ,,Rusk Germanskaja Fabrika Bersol" erkoren. Im

72 Über das qualitative Wettrüsten im Panzerbau vgl. im einzelnen etwa meinen Beitrag
"Trends in the Improvement ofConventional Offensive Weapons: The Tank and Boun-
daries in the Technological Arms Race", in: Gutteridge{faylor 1983
73 Vgl. Barry 1988, S. 29.
72 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

Laufe des Jahres 1925 wurde die Fabrik erbaut


Für zehn Jahre, von 1923 bis zum Abbruch dieser Kooperation 1933 auf aus-
drückliche Weisung Hitlers,74 wurde diese intime Zusammenarbeit zwischen der
Reichswehr und den sowjetischen Streitkräften fortgesetzt. 1927 nahmen deutsche
Fachleute gemeinsam mit sowjetischen Experten Abregnungsversuche mit chemi-
schen Kampfstoffen vor. Brauch berichtet:
,,Ab 1928 wurden in dem neu errichteten Gasversuchsplatz Tomka in jährlichen Ver-
suchsperioden von 9 Monaten das Abblasen von Giftgas, der Einsatz von chemischen
Feldhaubitzen und das Abregneo von chemischen Kampfstoffen geübt. Bei den Versu-
chen mit dem chemischen Kampfstoff Lost (Gelbkreuz) wurde u.a die Errichtung von
wirksamen Geländesperren durch chemische Vergifumg erprobt. Im Jahr 1931 kamen
auch Blaukreuz und Grünkreuz zum Einsatz."75
1932 verlangte die sowjetische Seite, folgt man den Aktenstudien Rolf Dieter Mül-
lers, Großeinsätze von chemischen Waffen zu erproben. Die Sowjets gingen da-
mals allem Anschein nach von einer längerfristigen Kooperation mit den deutschen
Giftgasexperten aus:
"Sie forderten daher die Reichswehr auf, jetzt auch in Deutschland selbst chemische
Kampfstoffe zu produzieren, und zwar durch ein leistungsfähiges Unternehmen, wobei
die Russen vor allem an den IG-Farben-Konzern dachten. Der Leiter der sowjetischen
Verhandhmgsdelegation für das Tomka-Programm des Jahres 1933 erklärte dazu, ohne
die Großchemie könnte Deutschland keinen Krieg führen. ... Die Russen ... forderten
für einen Vertragsabschluß vielmehr, daß der Konzern der Roten Armee technische Hil-
fe bei der Herstellung chemischer Vorprodukte leisten und für beide Armeen einen
Kampfstoff entwickeln sollte, der stärker und schneller wirksam sein sollte als Lost."76
Lost, im Landserjargon nach den Markierungen auf den Behältern "Gelbkreuz" be-
nannt, war ein Augen und Lungen angreifender Kampfstoff (ein Lost-Spritzer ins
Auge kann zur Erblindung führen, der Niederschlag auf schweißfeuchte Stellen
wie um die Geschlechtsorgane oder unter den Achselhöhlen ruft schwere Entzün-
dungen hervor. Knapp die Hälfte aller von den verschiedenen Staaten erworbenen
Giftwaffen bestehen aus Lost-Varianten).- Die Sowjets wollten damals ein Groß-
programm, welches solche Wirkungen übertraf, und welches von den wirklichen
Anführern der Chemiebranche getragen wurde. Der Bruch des Versailler Vertra-
ges, folgt man dieser Quelle, rief nicht die geringsten Bedenken hervor.
Im Frühjahr 1933legten die Unterhändler von Reichswehr und Roter Armee
ein unterschriftsreifes Abkommen über die Fortsetzung des Giftgasprojektes in
Tomka im erweiterten Umfang vor. Die Herren werden sich sehr gewundert haben,
daß der neue Reichskanzler Adolf Hitler im Sommer 1933 brüsk die Zusammenar-
beit mit der Roten Armee einzustellen befahl und den Rücktransport aller deut-
schen Einrichtungen anordnete.
Über die weitere Chemiewaffenentwicklung in der UdSSR nach 1933 ist we-

74 Der DDR-Militärhistoriker Olaf Groehler sagt in seiner materialreichen Studie, nach-


dem er die Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Sowjets auf etwas mehr als einer
halben Seite eher angedeutet als behandelt hat, daß das Aufkündigungsschreiben des
Reichswehrministers von Biomberg vom 21.7.1933 ,,nachträglich einen Schlußpunkt
unter die längst von der UdSSR getroffene Entscheidung setzte" (Groehler 1987, S.
104). Das ist wenig plausibel. Auch sagt Groehler nicht, woher er diese Kenntnis hat.
75 Brauch 1982, S. 79 f.
76 Brauch/Müller 1982
Giftgas 73

nig bekannt. Zu der von den Nazis befürchteten überwältigenden Chemierüstung


wird es kaum gekommen sein - sonst hätte Stalin Premierminister Churchill nicht
um Hilfe gebeten:
"Die Sowjetregierung wäre sehr dankbar, wenn die britische Regierung die UdSSR dar-
in unterstützte, aus England einige ihr fehlende chemische Verteidigungswaffen sowie
chemische Mittel für einen Vergeltungsschlag zu erhalten für den Fall eines mit chemi-
schen Waffen geführten deutschen Angriffs auf die UdSSR."77
Mit dem Einmarsch ins Reichsgebiet bei Kriegsende eroberten die Russen auch
Forschungslabors (allen voran die Heereslabors in der Spandauer Zitadelle in Ber-
lin) und Lagerbestände der von ihnen so begehrten GaskriegsmitteL
Bis heute ist unter Experten streitig, was den Sowjets bei der Besetzung
Deutschlands an Chemiewaffenbeständen in die Hände fiel, und was sie an Neu-
entwicklungen fanden. Nach Groehler hinterließen die Nazis 69.000 Tonnen
Kampfstoffe, davon die knappe Hälfte (31.650 Tonnen) Lost.78 Eine andere Quelle
gibt eine Gesamttonnage von 70.000 Tonnen an.79 Die damalige sowjetische Jah-
resproduktion wurde von der deutschen Aufklärung hingegen auf lediglich 8.000
Tonnen geschätzt. SO
Bei Kriegsende wurden die deutschen Giftwaffenbestände kraft Führerbefehl
in der sogenannten Alpenfestung, im Thüringer Raum und in Nordwestdeutschland
konzentriert. In den USA sorgten die Chemiewaffeneroberungen der sowjetischen
Streitkräfte kurzfristig für helle Aufregung. Die Rote Armee hatte mit Dyhemfurth
(in der Nähe Breslaus in Schlesien) und Falkenhagen (in der Nähe von Fürstenberg
an der Oder) die beiden wichtigsten Produktionsstätten des Dritten Reiches für die
neuen Nervengifte Tabun und Sarin erobert. Allein in Dyhemfurth hätten die So-
wjets - so Geheimdienstberichte - 12.000 Tonnen Tabun vorgefunden, die so-
gleich abtransportiert worden seien. Groehler berichtet von einem deutschen Stoß-
truppunternehmen gegen das schon besetzte Dyhemfurth am 5. Februar 1945, das
aber nur den Tabunvorräten gegolten und nicht zur Zerstörung der Fertigungsan-
lage geführt haben soll.Sl Bei Verhören deutscher Chemiker durch amerikanische

77 Brief J.W. Stalins an Churchill vom 29.3.1942, in: Briefwechsel Stalins mit Churchill,
Attlee, Roosevelt und Truman, 1941-1945, Kommission für die Herausgabe diplomati-
scher Dokumente beim Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, dt.
Berlin 1961, S. 53.- Churchill antwortet am 10.4.1942, daß die Engländer "bestimmt ...
wenigstens 1000 Tonnen Senfgas und 1000 Tonnen Chlorgas mit dem ersten verfügba-
ren Schiff liefern" könnten (1961, S. 54). Stalin antwortet (am 22.4.42, ebd., S. 54 f.):
,,Ich danke für Ihre Bereitschaft, 1000 Tonnen Senfgas und 1000 Tonnen Chlorgas zu
liefern. Da aber die UdSSR andere chemische Produkte dringender benötigt, hätte die
Sowjetregierung dafür lieber 1000 Tonnen Kalziumhypochlorid und 1000 Tonnen
Chloramin oder, falls die Lieferung dieser Produkte unmöglich ist, 2000 Tonnen flüssi-
gen Chlors in Ballons. Die Sowjetregierung beabsichtigt, den Stellvertreter des Volks-
kommissariats für die chemische Industrie, Andrei Georgiewitsch Kasatkin, als ihren
Experten für chemische Waffen für Verteidigung und Gegenangriff nach London zu
entsenden."
78 Nach Groehler 1980
79 So der "Stern" lt. Brauch 1982, S. 93
80 SIPRI1971, S. 305
81 Groehler 1980, S. 10 f. Auch Groehler betont nach der Prüfung von Quellen, daß die
Anlagen eher unversehrt geblieben sein werden.
74 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

Offiziere wurde betont, daß die Werksanlagen erhalten geblieben seien:


"Der rasche Vorstoß der Russen verhinderte die Zerstörung der Fabrik, bevor sie verla-
gert werden konnte."82
Ernstzunehmenden Quellen zufolge haben die sowjetischen Behörden in Dyhern-
furth die Produktionsanlage für Nervengas wieder in Gang gesetzt. Ab September
1946 hätte das Werk erneut gearbeitet. Hernach sei die gesamte Anlage in die
UdSSR verfrachtet worden. Ähnlich seien die Anlagen von Falkenhagen ab- und in
der Sowjetunion wiederaufgebaut worden.
Diese auf Sterling Seagrave83 zurückgehenden Angaben stehen jedoch im Wi-
derspruch zu anderen Aussagen. Harris und Paxman, die im Gegensatz zu Sea-
grave nicht amerikanisches, sondern britisches Geheimdienstmaterial auswerten,
kommen zu dem Ergebnis, daß den Sowjets bei Kriegsende Chemiewaffen nicht in
nennenswertem Umfang in die Hände fielen. Solchen britischen Berichten zufolge
(sie stimmen erheblich mit östlichen Darstellungen überein und können somit
möglicherweise größere Authentizität beanspruchen) hat der sowjetische Chemiker
Kargin, als Oberst der sowjetischen Streitkräfte auftretend, alle Unterlagen über
Soman aus den verfügbaren Unterlagen des Oberkommandos der Wehrmacht aus-
gewertet und mit in die UdSSR genommen. Die Anlagen der Nervengasfabrik in
Dyhernfurth seien im Jahre 1946 demontiert und in einen Ort an der Wolga (nicht
in den Ural, wie Seagrave zu berichten weiß) verbracht worden.
Zu betonen ist, daß die Quellenlage in bezug auf die Hinterlassenschaft an
Chemiewaffen des Dritten Reiches besonders schwierig ist. Der Führerbefehl vom
4. Februar 1945, die Kampfstoffe nicht in Feindeshand geraten zu lassen, konnte
unter den damaligen Umständen nur bedingt erfüllt werden. Eine Übersicht des
Generalquartiermeisters des Heeres nennt als zwischen Februar und April1945 ge-
räumte Giftgaswerke "Döverden, Hahnenberg, Seelze, Haselhorst, Staßfurt, Wol-
fen, Ammendorf und Gendorf',84 nicht aber Falkenhagen und Dyhemfurth- so
daß diese beiden Werke tatsächlich den Russen in die Hände gefallen sein könnten.
Folgt man Hitlers Sonderbeauftragten für Gaskampffragen, dem SS-Gruppenführer
Professor Karl Brandt, so wurden Anfang April die wichtigsten Kampfstoffe in
großem Umfang in Flüssen und in der Nord- und Ostsee versenkt.
Besonders die im Dritten Reich erfolgten Neuentwicklungen von chemischen
Kampfstoffen dürften das Interesse der sowjetischen Eroberer gefunden haben - so
nahmen dies jedenfalls in den Nachkriegsjahren hohe US-Offiziere und Kongreß-
abgeordnete an. Die Potenz der deutschen chemischen Industrie in der Forschung
und Entwicklung war von den Nationalsozialisten gezielt auch zur Herstellung
neuer chemischer Massenvernichtungsmittel genutzt worden. Darüber ist einiges in
der engeren waffentechnischen Fachliteratur bekannt geworden, auch wenn es als
Tatbestand das Bewußtsein auch informierter deutscher Zeitgenossen kaum er-

82 Nach Akten des Imperial War Museum, London (hier No. CXXIII-7 vom 29.5.45, S. 5
f., zit. nach Groehler 1980), S. 323. Ebenso der bekannte Chemiker Otto Ambros, da-
mals Leiter der Kampfmittelentwicklung im Rüstungsministerium: Er "betonte mit
großem Nachdruck, daß das Werk Dyhemfurth von den Russen völlig intakt übernom-
men wurde" (IWM, CXXII-34 v. 25.7.1945).
83 Sterling Seagrave, Yellow Rain. A Journey through the terror of chemical warfare, New
York 1981, zit. nachBrauch 1982, S. 95. Dort auch die folgenden Angaben.
84 Nach Brauch 1982, S. 96
Giftgas 75

reicht hat. Gegenüber diesen neuen Kampfstoffen nehmen sich die Tötungsverfah-
ren in den Vernichtungslagern als chemisch primitiv aus.
Die Leitung des IG-Farbenkonzerns zeigte aufgrund ihres Interesses am Aus-
landsgeschäft zunächst- wie auch Fachhistoriker aus der DDR hervorheben - we-
nig Neigung, sich erneut in der Herstellung von Kampfstoffen zu betätigen. Mit
der offenen Aufrüstung des Dritten Reiches ändert sich jedoch diese Haltung. 1936
erfindet ein IG-Farben-Chemiker den Kampfstoff Tabun (bekannt geworden als
"Grünkreuz"). Die Herstellung im Großenwird dem Werk Dyhernfurth übertragen,
welches die Sowjets bei Kriegsende augenscheinlich unzerstört erobert haben. Im
Dezember 1941 wird Hitler die Entdeckung eines weiteren Nervengiftes gemeldet,
welches später Sarin genannt wurde. Die Wirkung ist gleichartig der des Tabun, je-
doch sechsmal stärker. 1942 setzt die Fertigung ein. 1944 entdeckte der Nobel-
preisträger Richard Kuhn ein Nervengas, benannt Soman, das die Wirkung des Sa-
rin um das Dreifache übertrifft.
Zu unterstreichen ist, daß es sich nicht ausschließlich um deutsche Erfindungen
handelt. Die SIPRI-Studie über Chemiewaffen hebt hervor, daß im Reich zur Her-
stellung von Sarin ein Reaktionsablauf verwendet wurde, den der sowjetische Che-
miker Arbusow entwickelt hatte.85
Ähnlich wie bei den Flugzeugwerken, Raketenforschungseinrichtungen oder
Waffenfabriken haben die Sowjets beim Einmarsch ins Reichsgebiet mutmaßlich
auch deutsche Chemiker aufgegriffen, nicht nur aus den erwähnten Giftgaswerken,
sondern auch aus den großen mitteldeutschen Chemiewerken. Welche prominenten
deutschen Chemiker in die UdSSR verbracht wurden und dort an Kampfstoffen ar-
beiteten, ist bislang nicht bekannt geworden. Befragungen von in der UdSSR einst
tätigen Chemikern ergaben, daß die älteren Fachkollegen im 1. Weltkrieg mit gro-
ßer Selbstverständlichkeit an der Vervollkommnung der Gaswaffe mitgewirkt hät-
ten und sich im 2. Weltkrieg entsprechenden Aufforderungen nicht hätten entzie-
hen können. So wird auf Max Vollmer verwiesen, der sich besonders mit Chlor
und Schutzmitteln gegen Kampfstoffe auf Chlorbasis befaßt habe.86 Angesichts
des großen Interesses der sowjetischen Seite an Chemiewaffen und der nach dem
Kriege einsetzenden umfangreichen Herstellung solcher Kampfmittel erscheint die
Spekulation triftig, daß mit den von den Sowjets abmontierten deutschen Giftgas-
werken auch das spezialisierte Personal in die UdSSR wanderte und in der Sowjet-
union entsprechende Aufbauhilfe leistete. Biographische Referenzwerke über deut-
sche Chemiker, die nach dem Kriege eine Zeitlang in der UdSSR gearbeitet haben,
weisen verständlicherweise nicht darauf hin, ob jemand an Waffenentwicklungen
teilgenommen hat.Groehler berichtet ausfühlich über die Behandlung führender
Kampfstoffchemiker durch die Westmächte- daß wie in anderen rüstungstechni-
schen Bereichen niedrigrangiges, gleichwohl wichtiges Forschungspersonal in die
UdSSR abwanderte, ist auch von seinem Material her nicht auszuschließen.S7
Über die neuere sowjetische Chemiewaffenentwicklung ist bis in die jüngste
Zeit wenig bekannt geworden. Die sowjetischen Bestände sind amerikanischen
Angaben zufolge die größten der Welt. Übungen mit chemischen Waffen und

85 SIPRI 1971, S. 309


86 Den Hinweis verdanke ich dem ChemikerN. Riehl, in einem Gespräch am 31.5.1985
(vgl. zu Vollmer auch Kap. 2).
87 Groehler 1980, S. 326
76 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

Schutzvorrichtungen gegen diese verbotenen Kampfmittel werden regelmäßig ge-


meldet.
Im Februar 1987 räumten sowjetische Diplomaten bei den Genfer UN-Ver-
handlungen über chemische Waffen das Vorhandensein sowjetischer Bestände of-
fiziell ein. Das war eine Sensation, liegt doch eine vergleichbare sowjetische Äuße-
rung fast 50 Jahre zurück (nämlich 1938). 1987 wurden gar Vertreter aus 45 Staa-
ten eingeladen, eine streng geheime Kampfmittelanlage an der südlichen Wolga zu
inspizieren. Die offizielle sowjetische Ortsangabe für das (relativ große, 30 Kilo-
meter im Durchschnitt messende) Areallautet nunmehr Schichany. Es scheint sich
aber um das gleiche Gelände zu handeln, welches seinerzeit Dr. Stolzenberg für
die Kooperation der Reichswehr mit der Roten Armee ausgesucht hatte.
Vom 3.-4. Oktober 1987 stellten die Sowjets ihre Chemiewaffen auf dem Mili-
tärgelände bei Schichany vor. Außenminister Schewardnadse hatte am 6. August
1987 zu dieser ungewöhnlichen Waffenschau eingeladen:
"Um eine Atmosphäre des Vertrauens aufzubauen ... lädt die sowjetische Seite ... zum
Besuch von Schichany ein, um Standardmodelle unserer chemischen Waffen zu besich-
tigen und die Technologie der Vernichtung von Chemiewaffen in einer mobilen Anlage
zu beobachten. Später werden wir die Experten zu dem speziellen Werk zur Vernich-
tung von Chemiewaffen einladen, welches derzeit in der Nähe der Stadt Tschapajewsk
errichtet wird. "88
In Schichany wurden 19 Arten chemischer Waffen des sowjetischen Arsenals vor-
geflihrt: zehn Geschosse für Kanonen oder Raketen, zwei Gefechtsköpfe für takti-
sche Raketen, sechs Arten chemischer Fliegermunition sowie eine chemische
Handgranate. Gemäß den Beistelltafeln handelte es sich um Waffen aus den
Kampfstoffen Senfgas, Lewesit (auch beidein Mischung oder verdickt), Sarin, So-
man, VX (auch verdickt) sowie das Nervengas CS. Generalleutnant Anatoli D.
Kunzewitsch, stellvertretender Kommandeur der Chemietruppen, versicherte, daß
bis auf geringfügige Modifikationen das gesamte sowjetische Arsenal vorgeführt
worden sei. Sein Vorgesetzter, Wladimir K. Pikalow, ergänzte bald darauf, daß bis
in die jüngste Zeit in der UdSSR Chemiewaffen entwickelt worden seien ("Diese
Waffen wurden in denfünfzigerund achtziger Jahren konstruiert").
Dieses Arsenal enthält in der Tat keine Überraschung (der neueste Stoff, VX,
wurde in den sechziger Jahren bekannt).
Mitte November 1987 besuchen sowjetische Chemiewaffenexperten, unter ih-
nen der Bauleiter des neuen Denaturierungswerkes bei Tschapajewsk, Wsewolod
Sokolow, die bundesdeutsche Vernichtungsanlage für Chemiewaffen bei Mun-
ster.S9
Wie verschiedentlich nachlesbar,90 schwanken die unabhängigen Schätzungen
über die sowjetischen Chemiewaffenbestände zwischen 30.000 und 700.000 Ton-
nen. Die breiter akzeptierte Mittelwertschätzung, es gäbe 350.000 Tonnen sowjeti-

88 Die Berichterstattung über die Vorführung in Schichany stützt sich auf eine Auswer-
tung der Nullausgabe von "Chemical Weapons Convention Bulletin", i.V. durch die
Federation of American Scientists, Washington, D.C. 1988, S. 5. -Die Aussage von
Pikalow erfolgte dieser Quelle zufolge im sowjetischen Fernsehen am 10. November
1987.
89 dpa, 16. Nov. 1987
90 Brauch 1982, S. 137
Raketen 77

scher Kampfstoffe, kann in etwa die Aussagefähigkeit einer Wetterprognose bean-


spruchen. Weihnachten 1987 gab das sowjetische Außenministerium die eigenen
Bestände an chemischen Kampfstoffen bekannt:
"Das sowjetische Außenministerhun ist autorisiert festzustellen, daß der Vorrat der
UdSSR an chemischen Waffen nicht mehr als 50.000 Tonnen an chemischen Kampf-
stoffen umfaßl Dies entspricht, gemäß Schätzungen sowjetischer Experten, ungefähr
den von dem USA unterhaltenen Vorräten. Hinzugefügt sei, daß alle sowjetischen Che-
miewaffen innerhalb des Territoriums der UdSSR gelagert werden."91
Übereinstimmend wird hingegen berichtet, daß die UdSSR ihre Chemiewaffenbe-
stände nicht verändert habe. Es wurden allenfalls die Methoden der Verbringung
"verbessert": Neben Giftgasgranaten für Mörser und Haubitzen wurden die Ge-
fechtsköpfe verschiedener Raketentypen auch für den Transport von Kampfstoffen
eingerichtet. Es ist anzunehmen, daß die sowjetischen Behörden in die einschlägige
Forschung erheblich investiert haben. Zu größeren Produktionsprogrammen
scheint es jedoch nicht gekommen zu sein.
Diese sowjetischen Schritte signalisieren nicht nur die Ernsthaftigkeit der Gor-
batschowschen Politik von "Glasnost". Mit Blick auf die Entwicklung der Genfer
Verhandlungen über ein Verbot von Chemiewaffen besteht Grund zu der Annah-
me, daß die Bedrohung Westeuropas mit 50.000 Tonnen sowjetischer Chemie-
kampfstoffe bald der Vergangenheit angehört.

1.4 Raketen

Zu den spektakulärsten Entwicklungen, die in der sowjetischen Rüstung zu ver-


zeichnen sind, gehört neben die Kernwaffenproduktion die erfolgreiche Konstruk-
tion von Femraketen. Einen wichtigen Beitrag zur sowjetischen Kompetenz im Ra-
ketenbau bilden deutsche Entwicklungen im Zweiten Weltkrieg.
Vor dem Einmarsch ins Reichsgebiet war in bezug auf Fernraketen in der So-
wjetunion kaum etwas vorzufmden. M.K. Tikonrawow konzipierte auf der Basis
der erfolgreichen "Katjuscha"-Feststoffraketen (in Deutschland eher als "Stalin-
Orgeln" bekannt) eine vierstufige Rakete, die aber nie über das Entwurfsstadium
hinauskam. W.P. Gluschko baute einige kleinere Raketenmotoren für diverse Flug-
zeuge. WN. Tschelomej, dessen Spezialität später Schiffsraketen werden sollten,
erhielt 1944 den Auftrag, ein Gegenstück zur V-1 (Vergeltungswaffe 1, Fieselers
fliegende Bombe) zu entwerfen.92 Kurz, im sowjetischen Arsenal (wie auch bei
den anderen Siegermächten) fand sich nichts, was es mit Wemher von Brauns V-2-
Rakete mit ihren 283 km Reichweite hätte aufnehmen können.
Im Vergleich zu den Flugzeugkonstrukteuren bleibt festzuhalten, daß aus ver-
ständlichen Gründen die Szenerie der sowjetischen Raketenfachleute besonders
wenig transparent bleibt. Wegen der herausragenden Bedeutung einzelner Kon-
strukteure und der von ihnen verfolgten Konstruktionsprinzipien (oder auch deren

91 Prawda, Krasnaja Swesda, Tass am 27. Dez. 1987. Einen Monat später, am 27. Januar
1988, fordert der sowjetische Chemiewaffenunterhändler Nikita Smidowitsch auf einer
Pressekonferenz in Genf, die Westmächte sollten ihrerseits die Chemiewaffenbestände
offenlegen.
92 Das im Westen wenig bekannte Ergebnis, benannt "10K", wurde zur Bewaffnung von
mittleren Bombern Tu-2 eingesetzt
78 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

Mißerfolgen), der damit verbundenen ehrenden Anführung in der sowjetischen Öf-


fentlichkeit, nicht zuletzt bei den Staatspreisen, ist es augenscheinlich dennoch
möglich, eine grobe Skizze zur sowjetischen Fernraketenindustrie vorzulegen.
Ein solches Unternehmen muß unweigerlich mit Sergej P. Koroljow einsetzen,
dem Schöpfer der Rakete, die den ersten "Sputnik" in eine Erdumlautbahn hob. In
den dreißiger Jahren war Koroljow an Segelflugzeugen interessiert gewesen und
fiel durch die Konstruktion eines Flugzeuges mit Raketenantrieb auf (Typenbe-
zeichnung RP-315). An Koroljow erinnern sich die deutschen Raketenfachleute,
die eine Zeitlang in der UdSSR arbeiteten, mit Wärme. Im Zuge der neuen Trans-
parenz ("Glasnost") brach die populäre sowjetische Illustrierte "Ogonjok" im De-
zember 1987 ein Tabu, als sie bestimmte Koroljow-Fotos aus dem Jahre 1946
druckte. Auf ihnen wird gezeigt, wie der später berühmte93 Chefkonstrukteur an
Bemühungen teilnimmt, im besetzten Deutschland Raketentechnologie der Nazis
aufzuspüren. Das Blatt kolportiert, was Koroljow angesichts der unterirdischen
Fertigungsstätten im Harz äußerte:
"Koroljow versetzte die Lösung des konstruktiven Aufbaus der 'V', sagen wir mal,
nicht gerade in Erstaunen ... Doch das Ausmaß der Produktionsbasis für den Raketen-
bau in Deutschland machte auf ihn großen Eindruck. Er überzeugte sich mehr als ein-
mal, daß die Lösung rein wissenschaftlicher Aufgaben auf dem Gebiet der Raketentech-
nik ohne entsprechende Vorarbeiten im Experimentalversuch und in der Produktions-
vorbereitung nicht möglich ist."94
Amerikanische Truppen hatten die deutschen Raketenanlagen als erste besetzt und
bei ihrem Abzug aus Thüringen und Sachen-Anhalt alle Zeichnungen und Doku-
mente mitgenommen - in der irrigen Meinung, daß die nachrückenden Sowjets mit
den verbleibenden halbfertigen Raketen wenig würden anfangen können.
Die leitenden Konstrukteure hatten zumeist vorgezogen, in amerikanische
Hände zu fallen, allen voran Wemher von Braun. Einzelne leitende Mitarbeiter, so
der Produktionsleiter der Zentral werke, Helmut Gröttrup - folgt man seiner Frau95
- entschlossen sich jedoch, in die sowjetische Zone zurückzukehren und mit den
Sowjets zusammenzuarbeiten, weil dort die angebotenen Vertragsbedingungen un-
gleich besser ausgefallen seien. Die sowjetische "Technische Spezialkommission"
(russ. "STK") unter General Gaidukow ließ die Deutschen ihre Tätigkeit an ihren
alten Arbeitsplätzen wieder aufnehmen und verlangte von ihnen als erstes, Zeich-
nungen von jenen Teilen der V-2 anzufertigen, mit welchen der Betreffende unmit-
telbar zu tun hatte. So gelang es den Sowjets binnen kurzem, die von den Amerika-
nern abtransportierten Unterlagen rekonstruieren zu lassen, und die Fertigung von
Hitlers Vergeltungswaffe konnte wieder anlaufen. Wichtigster sowjetischer Exper-

93 Als Beleg seien einige neuere sowjetische Veröffentlichungen angeführt: Feoktistow


1984, der Raumfahrer German Titow mit seinem Buch: Mein Blauer Planet (1977),
oder der Bericht eines anderen Kosmonauten, des Generalleutnants W.A. Schatalow
1981.
94 OgonjokNr. 49, Dezember 1987, S. 22
95 Dem Bericht von Irmgard Gröttrup (1958) sind einige der folgenden Details entnom-
men. Sie wurden durch Interviews, besonders mit anderen Mitgliedern der Gröttrup-
Gruppe, vor allem Dr. Kurt Magnus, geprüft. Helmut Gröttrup hat eine kurze techni-
sche Beschreibung seiner Arbeit veröffentlicht: "Aus den Arbeiten des deutschen Ra-
keten-Kollektivs in der Sowjet-Union", in: Raketentechnik und Raurnfahrtforschung,
H. 2/1958.
Raketen 79

te im Team des Generals Gaidukow war Koroljow, der den Rang eines Obersten
innehatte.96
Aufwestalliierter Seite war man sich der Bedeutung dieser sowjetischen Ak-
quisition bald bewußt. In einer britischen Historie zur Geheimwaffenentwicklung
wird mit Bezug auf die Sowjets geklagt:
"Sie erhielten den gesamten Komplex Nordhausen, mit den Windtunnels und Labors,
sowie den verbliebenen deutschen Wissenschaftlern unter der Leitung von Helmut
Gröttrup. "97
Die Produktion der V-2 lief auf diese Weise bis in den Oktober 1946. In einer dra-
matischen Aktion wurden dann (zum gleichen Zeitpunkt wie der Düsentriebwerk-
bau bei Junkers oder die Flugzeugfertigung in der sowjetisch besetzten Zone) am
22. Oktober die 200 wichtigsten Mitarbeiter mit ihren Familien und ihrer Habe, im
Falle Gröttrup samt Boxerhündin und BMW, vor allem aber mitsamt allen abmon-
tierbaren Fabrikationsanlagen, auf Eisenbahnzüge verladen und in die UdSSR ver-
frachtet. Die übrigen der 5000 damals in den Zentralwerken Beschäftigten wurden
entlassen. Zeitgenössischen Berichten zufolge kam in der fraglichen Oktoberwo-
che dergesamte zivile Eisenbahn- und Telefonverkehr in der SBZ zum Erliegen.
Das V -2-Team wurde in Moskau in einem Vorort untergebracht und erhielt die
Aufgabe, die Raketenfertigung neu einzurichten. Das gelang binnen eines Jahres.
Am 30. Oktober erfolgte in der kasachischen Steppe, rund 200 km von Stalingrad
entfernt, der erste scharfe Start der nunmehr R 1benannten V-2. Selbst der Start-
turm war aus Peenemünde importiert worden. Was fehlte, mußte improvisiert wer-
den. Russische Infanteriepioniere waren kurzfristig zu Meßtechnikern umgeschult
worden, die die deutschen Kinotheodoliten zur Flugbahnvermessung zu bedienen
hatten. - Beim zweiten Startversuch versagte die Steuerung, hernach erfolgten je-
doch täglich Schießversuche mit den in der UdSSR montierten oder nachgebauten
V-2.
Ungewiß bleibt, was den Russen bei ihrem Einmarsch sonst noch an Raketen-
technologie in die Hände fiel, etwa bei Rheinmetall in Berlin (hinter Krupp die
größte Waffenschmiede im Dritten Reich). Die Rheinmetall-Borsig AG hatte schon
vor dem Kriege mit der Entwicklung einer Folge von Artillerieraketen begonnen.
Militärische Bedeutung erlangte die Flakrakete ,,Rheintochter'' und vor allem das
über 220 Kilometer Reichweite verschießbare Folgemuster "Rheinbote" (im No-
vember 1944 wurden 220 "Rheinboten" gegen Antwerpen eingesetzt). Aus Mangel
an Informationen läßt sich das weitere Schicksal dieser "Rhein"-Geschosse nicht
verfolgen.
Die überragende Bedeutung der V-2 für das sowjetische Raketenprogramm ist
schon äußerlich daran sichtbar, daß die amtliche Typen-Nummerierung von Fernra-
keten in der UdSSR mit ihr als "R 1" (Raketa 1) einsetzt. Bemerkenswerterweise
fängt auch die amerikanische Aufklärung an, die sowjetische Raketenrüstung mit
der V-2 zu chiffrieren. Mit der durch die Mittelstreckenwaffe SS-20 allgemein be-
kannt gewordenen Kategorisierung ("SS" heißt nichts weiter als "surface-to-sur-

96 In seinem "Offiziellen formellen Protest gegen den Abtransport von Betriebsangehöri-


gen der Zentralwerke nach Rußland" vom 29.10.1946 benennt Gröttrup als einzigen
sowjetischen Verantwortlichen neben Gaidukow namentlich Koroljow (der Text findet
sich im Anhang zu dem Buch von Gröttrup 1958).
97 Brian Johnson 1978, S. 186
80 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

face", Boden-Boden, wobei "Rakete" zu ergänzen ist) wird das deutsche Fernge-
schoß als erstes klassifiZiert und erhält den Code-Namen SS-1.
Im Dezember 1947 bekam das Gröttrup-Team von den Sowjets eine neue Auf-
gabe gestellt In dem "Wissenschaftlichen Sowjet", der hierfür einberufen wurde,
trafen die Deutschen auf den in unseren Tagen als Verteidigungsminister und Mar-
schall bekannt gewordenen Dimitrij Ustinow. Gefordert wurde nunmehr eine neue
Rakete mit einer Reichweite von 910 km, dem Dreüachen der Leistung der V-2.
Die sowjetische Bezeichnung lautete wahrscheinlich ,,R-10". Die amerikanische
Aufklärung klassifizierte später das Gröttrup-Geschoß als "SS-2" und gab ihm,
wohl wegen der Ähnlichkeit mit dem Vorgängermuster, den Code-Namen "Sib-
ling", "Geschwister''.
Das deutsche Team wurde, nachdem die Nagelprobe bestanden war und die
grundsätzliche Gangbarkeit dieses Weges zur Raketenfertigung erwiesen war, auf
eine Insel in den Wolga-Quellen, im Seliger See, in die Nähe des Ortes Ostasch-
kow verlegt. Die 200 Raketenfachleute, mit ihren Angehörigen insgesamt 500
Deutsche, sollten hier knapp fünf Jahre verbringen, ehe sie in Schüben Ende 1953
nach Deutschland zurückkehren durften.
Im Dezember 1948 wurden die ersten Brennversuche mit einer neuartigen Ra-
ketenbrennkammer durchgeführt und im gleichen Monat einem "Wissenschaftli-
chen Sowjet" vorgetragen. Dort stellten die Deutschen zu ihrem Mißvergnügen
fest, daß ein sowjetisches Parallelteam unter Korgoljowski zum Teil die gleichen
Problemlösungen bei der Steuerung verwendete wie sie selber. Die SS-2 wurde
fristgerecht fertig, aber entgegen allen Hoffnungen bedeutete dies nicht das Ende
des Exils der Raketentruppe. (Das Projekt wurde im Laufe des Jahres 1952 einge-
stellt.)
Am 9.4. 1949 erhielt das Gröttrup-Team die Aufgabe, eine Interkontinentalra-
kete zu konzipieren, die aufgrundder geforderten Nutzlast von drei Tonnen augen-
scheinlich eine Kernwaffe transportieren können sollte. Die Reichweite dieser als
"R-14" bezeichneten Rakete98 sollte 3000 km betragen. Die ungewöhn14;he Lö-
sung dieser überaus anspruchsvollen Aufgabe erfolgte nach gründlichen Studien,
bei denen zehn verschiedene Varianten durchgerechnet wurden. Es entstand eine
Kegelrakete (vgl. Abbildung 8). Die ungewöhnliche Form sollte der westlichen
Spionage viel Kopfzerbrechen bereiten. - Die Deutschen legten am 22.10.1949
einen detaillierten Entwurf für die R-14 vor. Der einstufige Flugkörper sollte bei
einem Startgewicht von 73 Tonnen mit flüssigem Sauerstoff und einem gleichfalls
flüssigen Brennstoff 100 Tonnen Schub entfalten.
Ziemlich genau am dritten Jahrestag ihres Sowjetunion-Aufenthaltes erhielten
die Deutschen an diesem Oktober-Sowjet grünes Licht für die Durchkonstruktion
ihrer Rakete und deren Fertigungsvorbereitung, erneut in Anwesenheit von Mini-
ster Ustinow. Über das weitere Schicksal ihrer Konstruktion erfuhren die Deut-
schen nichts. Bis zu ihrer Heimkehr wurden sie in einer so von den Sowjets ge-
nannten ,,Abkühlperiode" mit wenig anspruchsvollen anderen Aufgaben betraut.
Der Brennstoffexperte Dr. Jochen Umpfenbach zum Beispiel, im Kriege bei der
Physikalisch-Technischen Reichsanstalt tätig, führte verschiedene Brennversuche

98 Die Nomenklatur bereitet Schwierigkeiten. Die US-Aufklärung registriert diese Rakete


nicht Es bleibt unklar, ob sie je gebaut und erprobt wurde. In der Sowjetunion wird die
Bezeichnung ,,R-14" für eine Mittelstreckenrakete verwendet, die unter der Bezeich-
nung SS-5 "Skean" im Westen bekannt ist und die auf M.K. Jangel zurückgeht
Raketen 81

aus. Gröttrup hatte zunächst ein Statoskop, hernach ab September 1953 eine elek-
tronische Rechenmaschine zu entwerfen.

Vorspritze
..- Sprengring
- Nutzlust
.·;· ' Sprengring
'•

Abbildung 8: Prinzipskizze (annähernd maßstäblich) der vom Gröttrup-Team


in der UdSSR entworfenen Kegelrakete .. R-24"
Technische Daten: Reichweite 3000 km; Nutzlast 3 Tonnen,;
Schub 100 t; Startgewicht 73 t; Gewicht bei Brennschluß
(mit Nutzlast) 7 t.

Koroljow, unter dessen förmlicher Leitung die deutsche Gruppe wirkte, sollte mit
seinen nachfolgenden Flüssigkeitsraketen für die Raumfahrt Weltruhm gewinnen,
besonders für die Trägerrakete des ersten Erdtrabanten "Sputnik". Die Führung der
Streitkräfte war mit seinen militärischen Entwicklungen weitaus weniger zufrie-
den. Zwar schuf Koroljow mit dem Typ R-7/"SS-6" die erste serienmäßig aufge-
stellte Interkontinentalrakete der UdSSR. Als Waffe war diese Rakete aber einiger-
maßen unpraktisch. Sie geriet mit rund 30 Metern Länge und mehr als 4 Metern
Durchmesser und einem Leergewicht um 80 Tonnen so unhandlich,99 daß sie über
längere Strecken nur per Schiene befördert und daher nur in der Nähe von Eisen-
bahnstrecken stationiert werden konnte.lOO Koroljow hatte bei der Wahl des Treib-
stoffs auf einen von dem Gröttrup-Team im Herbst 1950 vorgelegten Vorschlag
zurückgegriffen und statt Sauerstoff Salpetersäure als Oxydator und Alkohol als
Brennstoff vorgesehen. Die Auftankzeit mit der gefährlichen Treibstoffkombina-

99 Daten nach: Wright 1986


100 Diese Bewertung folgt Andrew Cockburn 1983, S. 243. Cockburn wiederum beruft
sich auf die CIA.
82 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

tion betrug 20 Stunden, und eine mit diesen flüchtigen Stoffen aufgetankte Rakete
konnte nur kurze Zeit startbereit gehalten werden.- Von Koroljows erster Militär-
rakete wurden lediglich ein Dutzend Exemplare aufgestellt)Ol Der von den NA-
TO-Aufk11!rern vergebene Code-Name "Sapwood", "Grünholz", deutet möglicher-
weise an, daß man auf der anderen Seite die Schwächen dieses Geschosses durch-
auskannte.
Für die künftige Entwicklung sowjetischer militärischer Raketen ungleich
wichtiger wurden die Konstruktionen von Michail K. Jangel. Dieser war deutscher
Abstammung, hatte als Flugzeugkonstrukteur in den Teams von MiG und Mia-
sischtschew gearbeitet (und soll nach Cockbum "im Zweiten Weltkrieg als Agent
der Roten Armee das deutsche V-1 Programm ausspioniert" haben).102 Jangel war
nach dem Kriege als Stellvertreter Koroljows tätig. Unter seiner Leitung wurden
die ersten einsatzfaltigen Mittelstreckenraketen fertiggestellt, das Geschoß R -12 im
Jahre 1957 und der technisch ähnliche Flugkörper R-14 im Jahre 1959. Als SS-4
und SS-5 sind diese beiden Raketen von großer Bedeutung für die europäische Si-
cherheit gewesen. Thre Ablösung durch die RSD-10/SS-20 führte zu einer größeren
Kontroverse im Westen und zum Aufstieg der neuen Friedensbewegung.
Jangel wurde 1954 zum Konstruktionsleiter in Dnepropetrowsk befördert. Der
Ort war damals wichtig - es handelte sich um die Heimatstadt Leonid Breschn-
jews. Ähnlich wie amerikaDisehe Präsidenten dafür Sorge trugen, daß ihre Heimat
vom Raumfahrtboom profitierte (Texas wurde ein wichtiger Raketenstaat, weil
Lyndon B. Johnson dort geboren worden war), setzte sich Breschnjew schon als
für die Rüstungsindustrie zuständiges Mitglied des Politbüros so für seine Vater-
stadt ein, daß diese heute mit 185.800 Quadratmetern überdachter Hallenfläche das
größte Raketenwerk der Welt beherbergt. - Nach der SS-7, der ersten wirklich er-
folgreichen sowjetischen Interkontinentalrakete, leitete Jangel die Entwicklungsar-
beiten für die Projekte RS-16 (SS-17) und RS-20 (SS-18), bevor er 1971 starb.
Um die Technologie-Basis ihrer Raketenrüstung zu verbreitern, beförderten
die Sowjetbehörden Mitte der fünfziger Jahre Tschelomej an die Spitze eines eige-
nen Konstruktionsbüros. 1958 wurde Alexandr D. Nadiradzel03 in gleicher Weise
an die Spitze eines selbständigen Teams in Bisk gestellt. Nadiradze erhielt die
schwierige und von vielen Fehlschlägen begleitete Aufgabe, sowjetische Fernrake-
ten mit Feststoffantrieb zu entwickeln. Das scheint, nach problematischen Zwi-
schenschritten mit den Flugkörpern RS-12 (SS-13, nur 60 aufgestellt) und RS-14
(SS-16) mit der RSD-10 (SS-20) nunmehr gelungen.- Mit diesen drei Namen-
Jangel, Tschelomej und Nadiradze- sind die wichtigsten sowjetischen Konstrukti-
onsbüros für Militärraketen angegeben.

101 Auf Koroljows Konstruktionstätigkeit gehen neben der auch von der Nationalen
Volksarmee der DDR verwendeten SS-lB "Scud" die- möglicherweise an das deut-
sche Projekt ,,R-14" angelehnte -erste Mittelstreckenrakete R-5 ,,Pobjeda"/SS-3 als
Vormodell der SS-4 und SS-5 sowie die Konzeptionen der Fernwaffen SS-8 und SS-
10 zurück.
102 Cockburn 1983, S. 161
103 Alexandr Davidowitsch Nadiradze wurde erstmals 1939 bekannt, als er gemeinsam
mit Nikolai lwanowitsch Jefremow die Gruppe SJeN bildete (S steht für Samoljot
oder Flugzeug). Mit sogenannten Luftkissen, aufgepumpten Gummipolstern, sollten
Flugzeuge leichter auf Wasser, Eis oder Schnee landen können. Die deutsche Invasion
beendete diese Versuche.
Ergebnisse 83

Auch wenn die sowjetischen Raketenkonstrukteure längst aus eigener Kompe-


tenz wirken, so bleibt doch bemerkenswert, daß die meisten Teamleiter sich mit
oder gegen deutsche Entwürfe aus der Zeit des Dritten Reiches die Sporen verdien-
ten.
Auch bleiben Widerstände gegen neue Technologielinien bemerkenswert.
Sehröder berichtet, wie der Elektroniker A.S. Koratschkow gegen konservative
Vorstellungen, wie Panzer zu bekämpfen seien, die über Draht lenkbare Panzerab-
wehrrakete durchsetzte: Koratschkow arbeitete
,.trotz Gegenvorstellungen von Militärs, die eine Panzerabwehrkanone haben wollten,
über Jahre hinweg hartnäckig an der Entwicklung einer lenkbaren Panzerabwehrrakete,
bis die Erfahrungen der Nahostkriege ihm endlich recht gaben. "1 04
In einer sowjetischen Quelle heißt es:
,,Nach einer gewissen Zeit wurde Koratschkow der führende Wissenschaftler auf dem
Gebiet lenkbarer Panzerabwehrwaffen und brachte gemeinsam mit einer Gruppe von
Mitstreitern viele Muster von Panzerabwehrraketen auf den Weg, die durch den Wohl-
klang der Bezeichnung und die überraschend konstruktive Lösung erstaunte, aber, was
die Hauptsache ist, sie erhöhten wesentlich die Panzerabwehrfeuerkraft der Motschüt-
zeneinheiten und -verbände.
Heute vereint A:s. Koratschkow, der einen weiten wissenschaftlichen Gesichtskreis
besitzt, um sich ein großes Forscherkollektiv, und erzieht sorgfaltig wissenschaftliche
Kader. Als Initiator der Forschung auf einem der wichtigsten Gebiete der modernen
Kriegswissenschaft, hat er eine Schule von Spezialisten höchster Qualifikation geschaf-
fen."105

1.5 Ergebnisse

Das Studium der sowjetischen Rüstungsimporte über die Jahrzehnte läßt eine Rei-
he von wichtigen Schlußfolgerungen zu, die z.T. noch heute für das Rüstungsver-
halten der Sowjetunion Gültigkeit haben. Auf die Frage, wie abhängig die UdSSR
von Zufuhren moderner Rüstungstechnologie ist, wie das Verhältnis legaler (von
staatlichen Stellen im Ausland legitimierter) zu politisch nicht legitimierter Aus-
fuhr ist, sowie auf die Frage, in welchem Verhältnis Technologietransfer und so-
wjetisches Innovationsverhalten stehen, lassen sich Antworten formulieren. Diese
Antworten gestatten zugleich Aussagen über den Stellenwert der Problematik in
der sowjetischen Politik und die routinemäßige Befassung mit solchen Fragen im
politischen System der UdSSR heute und in der Zukunft.
Läßt man die vorstehenden Einzelstudien Revue passieren, so fallen gravieren-
de Sektorenunterschiede ins Auge. In der Panzerrüstung und bei den Chemiewaf-
fen ist, soviel sich mit Sicherheit konstatieren läßt, die Phase nachholenden Korn-
pelenzerwerbs auf sowjetischer Seite abgeschlossen. In diesen Rüstungsbereichen
handelt die UdSSR eigenständig und folgt eigenständigen Konzepten. Dies schließt
nicht aus, daß von sowjetischer Seite Entwicklungen anderswo intensiv beobachtet
werden (vulgär spricht man von Spionage), aber diese Beobachtung dient anderen
Zwecken als dem Ziel, hier sowjetische Rückstände auszugleichen. Im Ergebnis

104 Sehröder 1988, S. 14


105 Aus: Woennuij Westnik, No. 2/1986, S. 13, dt. Übersetzung nach Sehröder 1988, S.
14 f. (dem d. Verf. diesen Hinweis verdanken).
84 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

ähnliche Aussagen lassen sich bei der Rüstung mit Fernraketen treffen, einem Feld
hochgradig bilateraler Rivalität mit den USA. Die Vereinigten Staaten schützen
ihre Raketentechnologie dermaßen und gehen hier auch schwer prognostizierbare
Wege (wie den der Entwicklung von Marschflugkörpern), daß die Sowjetunion
schwerlich die herkömmlichen Mittel der Informationsbeschaffung hätte nutzen
können, um im Wettrüsten ihre Position zu halten. Anders nimmt sich die Situation
in der Luftrüstung und anderen konventionellen Feldern des Wettrüstens aus. Die-
se Bereiche werden deswegen in diesem Schlußabschnitt besonders betrachtet.
Das knappe Porträt gibt vor allem eines wieder: den lebhaften Import von
Flugtechnik über Jahrzehnte. Das ist für eine führende Militärmacht ein ganz unge-
wöhnlicher Tatbestand. Weder die USA noch Großbritannien oder das Großdeut-
sche Reich waren in diesem Maße von ausländischer Technologie abhängig. Syste-
matische Schwierigkeiten scheinen die Sowjets dabei, besonders bis 1947, beim
Import nicht gehabt zu haben. Kampfflugzeuge wurden als Muster oder in großer
Stückzahl erworben. Im Alltag der sowjetischen Flugzeugindustrie wurden fort-
während anspruchsvolle Bauteile wie ausländische Motoren oder Propeller ver-
wendet. Auch die Bewaffnung der Flugzeuge stammte hin und wieder aus dem
Ausland, wie sich technischen Handbüchern entnehmen läßt.
Systematischer gefaßt, ist eine erste Phase seit der Gründung der UdSSR bis
zum Ausbruch des Kalten Krieges (in der relativ frei ausländische Rüstungsgüter
erworben werden konnten) zu trennen von einer zweiten Phase scharfer Ost-West-
Konfrontation (hier von 1947 bis 1967 angesetzt), gefolgt von einer dritten Phase
dominant indigener Technologiekonzeptionen. Obwohl die Gewichte des auswärti-
gen Beitrages zur sowjetischen Rüstung unterschiedlich zu bestimmen sind, bilden
internationale Transfers in allen Phasen einen durchgängigen Aspekt.
Für die zweite Phase spielt der Erwerb deutscher Technologie nach 1945 eine
maßgebliche Rolle. Die Beteiligung der deutschen "Spezialisten" an der Konstruk-
tion der ersten sowjetischen Kernwaffe sowie deren Trägermitteln, beim Übergang
der sowjetischen Flugwaffe auf den Strahlantrieb und in der Raketentechnik er-
weist sich in einzelnen Schlüsselbereichen doch größer, als gemeinhin angenom-
men wurde.
Nach 1967 setzt eine dritte Phase ein, in der die Funktionsmechanismen und
die Bedeutung ausländischer Militärtechnologie erneut anders zu bestimmen sind.
Diese bis in die jüngste Zeit anhalten Phase soll sogleich differenziert betrachtet
werden. Zur Charakteristik der Vergangenheit sei festgehalten:

Phase 1 (1917 -1947)

Unmittelbar nach Ausrufung der Revolution durch die Bolschewiki setzen signifi-
kante Rüstungstransfers ein, provozierenderweise aus eben jenen Ländern, die In-
terventionsstreitkräfte zur Bekämpfung der ,,Roten" nach Rußland entsenden. Fast
Jahr für Jahr lassen sich Transfers von Militärgerät bei Kapitalgütern (vor allem in
der Luftrüstung, Tanks, Chemiewaffen) nachweisen. Obwohl eine Anzahl von
Konstruktionen russischer Herkunft zu verzeichnen ist, dominieren in der Ferti-
gung ausländische Konzepte, besonders nach der Einrichtung des Junkers-Werkes
inMoskau.
Überzeugte Kommunisten unter westlichen Konstrukteuren tragen zum Auf-
bau sowjetischer Rüstungskapazitäten bei.
Ergebnisse 85

Kurz vor Ausbruch des Krieges mit dem Deutschen Reich kommt es zu signi-
fikanten Technologietransfers mit den Nationalsozialisten, hernach mit den West-
mächten. Im Krieg sichert das Leih- und Pachtgesetz einen fortwährenden Zustrom
westlicher Technologie. - Am Ende dieser kooperativen, von politischen Gegen-
sätzen wenig geprägten Phase steht der Transfer von britischen Düsentriebwerken
im Jahre 1947.

Phase 2 (1947 -1967)

Zunächst stand die Integration der durch den Sieg über Nazideutschland erworbe-
nen Spitzentechnologien (Raketen, Düsenantrieb für Jäger und Bomber, Raketen,
Urantechnologie) im Vordergrund. Andere Technologietransfers (Kopie des Bom-
benträgers Boeing B-29 und dergleichen) erreichten nicht die gleiche Bedeutung.
Daß die kriegszerstörte UdSSR schon (und nicht: erst) 1949 mit der Zündung
einer Atombombe mit den USA in einen nuklearen Rüstungswettlauf eintreten
konnte, ist auch dem Einsatz und der Improvisation der beteiligten deutschen Wis-
senschaftler zu danken (Beispiel: Erzeugung der entscheidend wichtigen Dia-
phragmen für die Isotopentrennung). Illegale Technologietransfers aus den USA
(bestätigte Beispiele: Uranhexafluorid-Technologie, Proben von waffenfähigem
Uran) scheinen eine begrenzte Rolle gespielt zu haben.
In der Breite und der Tiefe der sowjetischen Rüstung verlieren internationale
Technologietransfersaufgrund konstruktiver Prioritäten (fertigungstechnische Ein-
fachheit, etwa Vorrang von Regelflächen im Leichtbau; Inkrementalismus in der
Typenentwicklung) an Bedeutung. An die Stelle einer "catch-up"-Haltung tritt die
Betonung alternativer technischer Konzepte.

Phase 3 (1967-)

In der dritten Phase verschieben sich die Technologietransfers vom Import von
Fertigprodukten und deren Nachbau (=Phase 1) oder der Adaption von know-how
(=Phase 2) auf subsidiäre Komponenten. Besonders in der Elektronik scheint auch
der sowjetische Rüstungssektor nach wie vor von Transfusionen westlicher Tech-
nologie entscheidend abhängig. Gegenwärtige Waffensysteme entsprechen techno-
logisch in einer Anzahl von Parametern weitgehend westlichen Gegenstücken,
bleiben jedoch in den Leistungsspitzen (Nachtkampffähigkeit, "look-down/shoot
down"-Fähigkeiten, elektronisches Aufklärungspotential, Systemintegration) au-
genscheinlich unterlegen. Aus Gründen dürfte es bei dieser Unterlegenheit bleiben.
Zwar hat die sowjetische Führung über Jahrzehnte Erfolg bei dem Bemühen ge-
habt, die Basistechnologien des Wettrüstens im eigenen Lande (nachholend) zu er-
zeugen. Die entscheidenden Leistungsspitzen, auch wenn sie "nur" die Funktions-
fähigkeit von Technik unter Allwetterbedingungen betreffen, sind jedoch bis heute
nur mit Hilfe von Technologietransfers aus dem Westen kompetitiv erreichbar.
Dieser Tatbestand deutet auf ein systemisches Defizit.
Bei einer Betrachtung der fortwährenden ausländischen Technologieinfusionen
im historischen Längsschnitt bleibt somit eine Zäsur auffällig. Bis etwa 1945 ha-
ben ausländische Importe die Rolle von Aushilfen, Ergänzungen gespielt. Ihr
Nachbau bestimmte nicht den Kern der eigenen sowjetischen Technologieentwick-
86 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?

Jung. In der nachholenden Industrialisierung und der damit verbundenen Differen-


zierung industrieller Strukturen blieben etwa die high-tech-Gaben Hitlers am Vor-
abend des Überfalls auf die Sowjetunion wirkungslos - keine der damals hochmo-
dernen deutschen Konstruktionen, die bis ins Jahr 1941 in die UdSSR geliefert
wurden, hinterließ in der Sowjetrüstung ausmachbare Spuren. Auch die massive
Militärhilfe besonders der Amerikaner im Weltkrieg verhalf der sowjetischen Rü-
stungsindustrie nicht zu einem Modernisierungsschub. Erst die systematische Nut-
zung der Siegesbeute sowie die gezielte Akquisition zeitgenössisch modernster
Technologie wie britischer Düsenaggregate oder amerikanischer Fernbomber führ-
te, in einer bemerkenswerten Modernisierungsanstrengung unmittelbar nach der
enormen Schwächung durch den Krieg, zu so nachhaltigen Impulsen, daß hernach
eine leistungsfähige, für einen Rüstungswettlauf bereite Sowjetunion auf dem Plan
stand. Diese entscheidende Wende in der unmittelbaren Nachkriegszeit hat augen-
scheinlich für Jahrzehnte Technologiestile, Problemlösungsverhalten und Innova-
tionspolitik in der sowjetischen Rüstung geprägt. Aus diesen Gründen soll diese
Schlüsselphase unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg im folgenden nochmals näher
beleuchtet werden.
Die Bedeutung des Erwerbs ausländischen Know-hows kann trotz eindrucks-
voller sowjetischer Eigenkonstruktionen anscheinend nicht überschätzt werden.
Besonders augenfällig bleibt die Orientierung auf die Technologieentwicklung in
Hitlers Deutschem Reich. Die Sowjets erwiesen sich so beeindruckt von den deut-
schen Konstruktionen, daß sie in der Folge die deutsche Sitte übernahmen, Flug-
zeuge nach den Konstrukteuren zu benennen, also Tupolews, MiGs und Antonows
zu bauen, anstatt wie bislang ,)äger" oder "Bomber''.
Auffällig ist die Systematik, mit der die sowjetische Führung ihre Entschei-
dungen traf, augenscheinlich in der Erwartung, daß der Großanstrengung des Zwei-
ten Weltkrieges alsbald ein neues, vergleichbares Kräftemessen folgen würde.
Während die Fachliteratur als Zeichen sowjetischer Vorbereitungen auf den Kalten
Krieg.vornehmlich die begrenzte Demobilisierung nach 1945 thematisiert, werden
die zügigen Modemisierungsmaßnahmen augenscheinlich zu wenig erkannt.
Der Übergang zum Düsenantrieb, die einschneidendste Neuerung der Militär-
luftfahrt seit ihrem Bestehen, kann diese These gut illustrieren.
Jakowlew berichtet, daß in der Sitzung in Stalins Dienstzimmer am 2. April
1946 ein Dreistufenplan für die Entwicklung der sowjetischen Düsenluftfahrt fest-
gelegt wurde:
"Erste, transitionale Stufe: Nutzung der deutschen Jumo und BMW Triebwerke, um
weitere Erfahrungen zu gewinnen.
Zweite Stufe: Studium und Gebrauch des Derwent-Motors mit 1600 kg Schub sowie
der Nene mit 2200 kg Schub.
Dritte Stufe: Dringende Großentwicklung von Düsentriebwerken durch die von W.J.
Klimow, A.A. Mikulin und A.M.Ljulka geleiteten Konstruktionsbüros( ...)
Ein nationales Programm für die Entwicklung von Düsenflugzeugen wurde ebenfalls
auf dieser Konferenz in den Grundzügen festgelegt."l06
Wie die nebenstehende Kreuztabelle nochmals verdeutlicht, ging die sowjetische
Führung bei dem Erwerb der Düsenjägertechnologie für die sowjetische Rüstung
sehr systematisch vor. Vier Entwurfsteams hatten alternativ ein- und zweimotorige

106 Jakowlew 1972, S. 327


Ergebnisse 87

Jäger zu konzipieren und alternativ eines der beiden deutschen Beutetriebwerke zu


nutzen (die Nichtbeachtung des BMW-Triebwerkes für den einmotorigen Jäger
schien spezielle Gründe zu haben).107 Nach Probeflügen wurden zwei Jäger, er-
neut die Alternative in der Zahl der Motoren zugrunde legend, ausgewählt. Das Er-
gebnis dieser Wahl sollte Bedeutung haben nicht nur für den gewiß kompliziert ge-
nug erfolgenden Übergang zu einem neuen Antriebsprinzip, einer Revolutionie-
rung der Militärluftfahrt Es charakterisiert vielmehr grundsätzlich die künftigen
Technologiestile in der weiteren Rüstungspolitik der Sowjetunion in dem anhalten-
den nachholenden Wettlauf mit dem technisch überlegenen Westen. Daher lohnt es
sich, die Lösungsversuche der sowjetischen Jägerkonstrukteure, die diese Stalin
persönlich zu präsentieren hatten, genauer nachzuzeichnen.

Tabelle 4:
Konzept der Akquisition des Düsenantriebs im sowjetischen Jägerbau
deutsches Triebwerk 1-motorig 2-motorig
BMW003 MiG-9*)
Lawotschin
La-150 Suchoj
Jumo004 Su-9
Jakowlew
Jak-15*)
*) Später für die Großserienproduktion ausgewählt

Die sowjetischen Konstrukteure antworteten mit unterschiedlichen Verhaltenswei-


sen auf die Herausforderung (v