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Die sowjetische
Rüstungsindustrie
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . 9
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
7. Einzelstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
7.1 Eine MiG im Westen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
7.2 Sowjetische Seekriegsrüstung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
7.3 Waffenexporte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
A) Daten zur sowjetischen Rüstungsproduktion . . . . . . . . . . . . . . . 332
B) Die geographische Lage sowjetischer Rüstungsbetriebe . . . . . . . . . 349
C) Auswahlbibliographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
Abbildungsverzeichnis
1 Meyer 1977
2 NATO 1982, S. 42; vgl. auch SIPRI Yearbook 1987, S. 186
3 Dt. Übersetzung zitiert nach: Nikutta 1986, S. 7 (es handelt sich um eine Vorstudie zu
diesem Band).
12 Einleitung
4 Morocco 1988, S. 16
5 Andersen 1983, S. 53
Einleitung 13
angenommen, daß das Plenum des Politbüros kaum Vorschläge des Verteidigungs-
rates je zurückgewiesen hat. Im Militärbereich und in der Rüstung scheint es somit
über das Politbüro hinaus noch eine Art Überregierung zu geben, die in ihren Ei-
genschaften kennenzulernen ganz allgemein unsere Kenntnis des Sowjetsystems
bereichern muß.
"Auch in den sowjetischen Streitkräften ist die Umgestaltung in vollem Gan-
ge," stellte Michail Gorbatschow in seinem mittlerweile berühmten Bericht vor
dem ZK-Plenum am 27. Februar 1987 fest.6 Marschall Achromejew, derranghöch-
ste Soldat seines Landes, sekundierte und wiederholte diese Feststellung wörtlich
bei seinem Amerikabesuch im Juli 1988. Im Westen bleibt man größtenteils in be-
zog auf die Wirkungen der Perestrojka skeptisch, besonders mit Blick auf den Mi-
litärsektor. US-Verteidigungsminister Carlucci, gewiß kein unparteiischer Zeuge,
meinte nach einer Reise in die UdSSR:
,,Zweifelsohne versuchten die Sowjets, mit der Offenheit und dem ungehinderten Zu-
gang, von denen mein Besuch gekennzeichnet war, zu beweisen, daß Glasnost auch ins
sowjetische Militär Einzug hält ... Die Sowjetunion mag im Hinblick auf Reformen zö-
gernde Schritte unternehmen, aber im Umfang oder beim Einsatzkonzept ihres Militärs
ist immer noch keine nennenswerte Veränderung zu verzeichnen."7
Einzelne Analytiker meinen gar, die Streitkräfte und die sie tragende Industrie
seien von der perestrojka ausgenommen, sozusagen um einen Schutzschirm für
diese abzugeben.s Auch bleibt bedenklich, daß Gorbatschow in seinem Buch zur
Perestrojka auf den Rüstungsbereich kaum eingeht.9
Was läßt sich über Veränderungen, die das Projekt Perestrojka ja zeitigen soll,
im Rüstungswesen bislang ausmachen? Recktenwald und SchröderlO betonen in
einer aktuellen Durchsicht sowjetischer Texte vor allem drei Aspekte. Spätestens
seit der Plenartagung des ZK im Februar 1987 sei die Umgestaltung ein herausra-
gendes Thema in sowjetischen Militärzeitschriften geworden. Nun ist Propaganda
für Veränderungen wichtig- nur bleibt sie kein stichhaltiger Beweis dafür, daß
sich im Alltag der Offiziere und Soldaten oder in der Rüstungsindustrie tatsächlich
viel geändert hat. - Zweitens wird Perestrojka für die Truppe mit Parolen wie
"Verstärkte Gefechtsbereitschaft'', "Kampf dem Müßiggang" und ähnlichem über-
setzt. Da die Politoffiziere solche Slogans seit langem predigen, kann auch diese
möglicherweise neue Beweglichkeit als Nachweis für etwas Neues nicht gelten.
Drittens verweisen die beiden Autoren auf den neuen Rang der Kritik im sowjeti-
schen Militärbereich. Das ist tatsächlich für den Sowjetforscher neu: Die Streit-
kräfte, bestimmte Zustände bei der Truppe werden, auch und gerade in der Militär-
presse, offen kritisiert. So bemerkenswert dieser drastische Wandel bleibt - für
Veränderungen in der Rüstungspolitik selbst reicht er als Nachweis nicht aus.
Für den westlichen Beobachter eindrucksvoller ist das Abweichen von der bis-
lang vorherrschenden Geheimniskrämerei. Diese setzte bislang beim Militäretat
ein. Jahr für Jahr veröffentlichten die sowjetischen Behörden eine einzige Zahl als
6 Gorbatschow 1987, zit. nach der dt. Ausgabe durch Nowosti, Moskau (APN) 1987, S.
73
7 Carlucci 1988
8 Segbers 1988
9 Gorbatschow 1987
10 Recktenwald/Schröder 1987, S. A411-A419
14 Einleitung
Militärhaushalt, für 1987 werden 20,2 Milliarden Rubel angegeben. Diese Zahl
liegt unglaubhaft niedrig - umgerechnet entspricht sie den Militärausgaben der
Mittelmacht Bundesrepublik Auch wird die Zahl nicht aufgegliedert. "Sowjetische
Haushaltsangaben gehören zu den am wenigsten transparenten," stöhnt das schwe-
dische Friedensforschungsinstitut SIPRI in seinem Jahrbuch 1987.11 Glasnost
brachte hier Wandel: Vizeaußenminister Wladimir Petrowsky gab im Herbst 1987
erste Hinweise, was nicht unter diese 20 Milliarden Rubel an Militäraufwand fallt.
IMEMO, das bekannte Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen,
faßt diese Hinweise in seinem jüngsten Jahrbuch zusammen:
"Die Verteidigung kostet die Sowjetunion eine Menge. Die Zahlen zum Verteidigungs-
haushalt, die im Lande veröffentlicht werden (20,2 Milliarden Rubel für 1987) geben
an, was die Sowjetregierung für Dinge wie die Bezüge des aktiven Personals und Pen-
sionen ehemaliger Soldaten ausgibt, was die Auffüllung der Vorräte, Beihilfen für Be-
rufsqualiflkationen und so weiter kosten. Ausgaben für Forschung und Entwicklung
und die Beschaffung von Ausrüstung und Kampfgerät fmden sich unter anderen Kapi-
teln im Staatshaushalt.
Wenn die Sowjetunion eine umfassende Preisreform hinter sich hat, die für die näch-
sten zwei oder drei Jahre ansteht, wird es möglich sein, realistische Vergleiehe ihrer mi-
litärischen Gesamtaufwendungen mit denen anderer Länder vorzunehmen."l2
Verglichen mit dem Kenntnisstand bleiben solche Aussagen sensationell. Einzel-
heiten finden sich in den folgenden Kapiteln, etwa über die Höhe der sowjetischen
Waffenaus fuhr.
Der INF-Vertrag von Washington birgt weitere Sensationen: Er gibt präzise
Eigenbezeichnungen sowjetischer Rüstungsgüter. Die in der Auseinandersetzung
um die sogenannte NATO-Nachrüstung berühmt gewordene Sowjet-Rakete mit
dem West-Namen SS-20, so weiß man nunmehr, heißt eigentlich RSD-10. Photos
des nie gezeigten Objekts wurden bislang weder von den Sowjets noch von den
Amerikanern gezeigt - nunmehr gibt es sie vielfach. Anband des Vertrages läßt
sich ein ganzes Wörterbuch zusammenstellen, mit dem die NATO-Namen sowjeti-
scher Geschosse russiflziert werden können (SS-4 = R-12; SS-5 = R-14; SS-12 =
OTR-22 usf.), selbst für im Versuchsstadium befindliche Waffen (SSC-X-4 = RK-
55 zum Beispiel). Freimütig identifizierten die Sowjets wichtige Rüstungswerke:
Die Mittelstreckenrakete RSD-10 alias SS-20 wird in der Maschinenfabrik Wot-
kinsk in der Udmurtischen ASSR hergestellt, Kurzstreckenraketen OTR-23, wie
sie in der DDR stehen, kommen aus dem Werk für Schwermaschinenbau "W.I. Le-
nin" in Petropawlowsk. Für Versuchsflugkörper ist das Experimentalwerk der
"M.I. Kalinin Maschinenfabriken", eine Produktionsvereinigung, zuständig, usf.
Solche Details werden das Publikum rasch ermüden. Weitaus wichtiger als der
Informationsregen, mit dem sich die Sowjetotogen künftig auseinanderzusetzen
haben, ist diese neue Offenheit für die Sowjetgesellschaft selber. Die auch in der
sowjetischen Fachliteratur bis dato übliche Bezeichnung eigener Produkte mit
westlichen Codenamen, bei Raketen mit den geschichtsbelasteten Initialen "SS",
stellte ein höchstes Maß an innerer Unfreiheit dar. Wie in dem Kapitel über die er-
klasse, in der Breschnew-Ära durchaus Söhne die Posten von Vätern erbten - im
parteipolitischen Bereich ein fast unbekanntes Muster.
Zu fragen wird besonders sein nach den Beziehungen zwischen Partei und Rü-
stung. Wird der große Rüstungsbereich mit eben denselben Mitteln und Methoden
unter Kontrolle gehalten wie die Sowjetgesellschaft sonst, oder welche Besonder-
heiten lassen sich feststellen? Wie ist die Rolle führender Parteigremien bei Ent-
scheidungen über Rüstungsprojekte zu bestimmen? Gilt die Rüstungsindustrie in
der Sicht der Parteiführung als Vorreiter allgemeinerer Entwicklungen im Sozialis-
mus, oder handelt es sich eher, trotz aller Größe, um einen Sonderbereich?
Wie bei allen Sowjetstudien ist neben der Partei der Staat in seiner wohl auch
hier sekundären Rolle zu betrachten. In welcher Weise ist der Staatsapparat organi-
siert, um Rüstung zu betreiben? Welchen Stellenwert haben Rüstungsprojekte, wie
verknüpft die Partei Staat und Wirtschaft in diesem Bereich? Welchen Einfluß ha-
ben Planinstitutionen, besonders Gosplan?
Als Kernfrage stellt sich regelmäßig heraus, wie der Rüstungsbereich, aber
über diesen hinaus das Gesamtsystem mit Anfragen an Modernisierung, an die
Einführung neuer Technologien zu Rande kommt. Durch das Wettrüsten ist kein
anderer Technologiebereich im Spektrum der sowjetischen Industrie so nachdrück-
lich auf Produktvergleiche verwiesen gewesen wie gerade die W affenindustrie,
und hier haben sich Bemühungen von Partei und Staat konzentriert, neue Lösungen
in einem bis heute anhaltenden aufholenden Wettlauf zu finden. Die Auffassung,
daß die Rüstung in der, wie es dort heißt, "wissenschaftlich-technischen Revolu-
tion", der Modernisierung, an der Spitze steht, ist weit verbreitet. So vergleicht
zum Beispiel Jürgen Kuczynski, Senior der DDR-Sozialwissenschaften, den so-
wjetischen Rüstungsstand mit dem allgemeinen Technologieniveau seines Landes.
Er schreibt in einem Grundsatzartikel über die "wissenschaftlich-technische Revo-
lution":
,,In unserer Deutschen Demokratischen Republik, wo sie (die wissenschaftlich-techni-
sche Revolution, U.A.) weiter fortgeschritten ist als in irgendeinem anderen sozialisti-
schen Land- mit Ausnahme der sowjetischen Rüstungsindustrie ..."14
Wie besonders die folgenden Einzelstudien ergeben, ist in der Tat eine zunehmen-
de Betonung der Qualität in der Rüstung zu verzeichnen. Alte Konstruktionsprinzi-
pien, Grundsätze über Massenfertigung werden abgelöst durch Hochtechnologie-
konzepte. Bis heute, in überraschendem Ausmaß, bleibt die Technologieentwick-
lung freilich auf westliche Vorbilder ausgerichtet. Besondere Bemühungen sind
deshalb der Abklärung zu widmen, inwiefern Technologietransfers, legal oder ille-
gal, die sowjetische Entwicklung bestimmen.
Die Studie ist zum einen historisch-deskriptiv angelegt. Im Studium der Ent-
wicklung der verschiedenen Rüstungszweige wird versucht, Antworten auf die an-
gegebenen Fragen zu finden. Zum anderen geht in der zweiten Hälfte die Methode
auf institutionelle Untersuchungen über, wie dies in der Sowjetforschung weithin
üblich ist.
Die folgenden Einzelstudien zu Entwicklungen in der sowjetischen Waffen-
technik, beim Jägerbau, der Konstruktion von Panzern, der Fertigung chemischer
Waffen und beim Raketenbau nutzen ein in der Forschungsliteratur nicht übliches
Verfahren. In der Erarbeitung solcher Dimensionen weicht diese Untersuchung er-
14 Kuczynski 1988, S. 61
Einleitung 17
heblieh von dem ab, was an sowjetalogischer Literatur greifbar ist. Industriege-
schichtlichen Beobachtungen sowie der Reflexion technologischer Entwicklungsli-
nien, der Behandlung durch politische Instanzen und den Folgen wird hier breiter
Raum gegeben -in der Erwartung, mit dieser Methode nähere Kenntnis der Eigen-
arten der Rüstung sowie des sowjetischen Systems zu erlangen, als dies ansonsten
hierzulande üblich ist.
Mit dieser methodischen Orientierung ist ein Gegensatz zu den vorherrschen-
den Strömungen in der Beschäftigung mit der Sowjetunion und ihrem Rüstungs-
komplex angegeben. Zu sehr scheinen diese von der Trennung der akademischen
Disziplinen beherrscht. Die Politologenl5 orientieren sich vor allem an den Institu-
tionen und beschäftigen sich etwa mit den neun Ministerien, die für die Rüstung
relevante Kompetenzen haben. Oder sie untersuchen den Einfluß von engagierten
Interessenvertretern (Stichwort "Militärisch-Industrieller Komplex") auf die Poli-
tikbildung im Sowjetbereich. Allgemeiner ausgedrückt: Die Politologie, soweit sie
sich empirisch mit der UdSSR befaßt, beschäftigt sich mit gesellschaftlichen Teil-
systemen und beansprucht gar nicht, "den Bezug zu Problemen der Gesamtgesell-
schaft bei(zu)behalten" oder auch nur "die Veränderungen der sozialen Integra-
tion"l6 in der UdSSR vertieft zu untersuchen. Die Ökonomen hingegen konzentrie-
ren sich vorrangig auf die Wirtschaftspläne als die wichtigste Evidenz aus dem So-
wjetreich. Für sie scheint es in ihren Tabellen einen Rüstungssektor nicht zu geben.
Auch die Ökonomie des Sowjetsystems als Fachwissenschaft stellt kaum mehr
Fragen in bezog auf das Ganze- dann müßte sie eine Politische Ökonomie werden.
Die Antwort auf die Frage, wie sich die Dynamik (oder ihr Mangel) des sowjeti-
schen Wirtschaftssystems auf den Beitrag der UdSSR zum Wettrüsten auswirkt,
wird man von Fachökonomen nicht erwarten können. Dies bleibt bemerkenswert,
weil die Ökonomie, wie Habermas formuliert, "die Eigenständigkeit eines über
Funktionen, nicht primär über Normen zusammengehaltenen Handlungssystems
herausgearbeitet hat",l7 Wenn andererseits Finanzwissenschaftler die Größe des
sowjetischen Militäraufwandes zu bestimmen versuchen, bewegen sie sich auf kal-
kulatorischen Ebenen, die sehr weit vom Alltag entfernt sind, der die sowjetische
Rüstung prägt. Theoretisch ambitionierte Analytiker, die die Sowjetunion als
Übergangsgesellschaft thematisieren, oder die auf andere Weise ein umfassendes
analytisches Konzept für das Verständnis dieser Gesellschaft zu entwickeln su-
chen, scheinen andererseits mit dem Militärsektor in der UdSSR am wenigsten an-
fangen zu können - Namen wie Kalaschnikow oder MiG sagen ihnen überhaupt
nichts.
Diese kritischen Sätze über verschiedene Teildisziplinen sprechen solchen An-
sätzen nicht die Berechtigung ab. Die Andeutungen sollen besagen, daß die Polito-
logen mit institutionellen Analysen, die Ökonomen mit Makroaussagen und die Fi-
nanzwissenschaftler mit Budgetberechnungen durchaus einzelne Aspekte des so-
wjetischen Rüstungskomplexes erfassen mögen, wenngleich häufig anband indi-
rekter Indikatoren, und daß den angestammten Ansätzen gegenüber weitere, viel-
leicht gar aussagefähigere, zumindest mikroanalytisch ergiebigere Verfahren mög-
15 Eine hübsche Typisierung dieser Art hat Habennas vorgelegt; vgl. Habennas 1987, S.
18 f.
16 Habermas 1987, S. 19 und 20
17 Habermas 1987, S. 19
18 Einleitung
lieh sind. Einschränkend ist allerdings festzuhalten, daß unsere methodische Erwei-
terung im wesentlichen darin besteht, eine hierzulande wenig beachtete, besonders
aber im angelsächsischen Sprachraum gepflegte Technikhistorie politologisch auf-
zuarbeiten.
Beim Studium der sowjetischen Rüstung über die Jahrzehnte ist der pralle All-
tag hier zugegebenermaßen unter dem Aspekt studiert worden, welche verallge-
meinerungsfähigen Entwicklungslinien sich ausmachen lassen. Die großen Linien
der allgemeinen politischen Entwicklung wurden - und hier setzen erste Brüche
ein - daraufhin betrachtet, wie sie sich im Rüstungssektor spiegeln.
Zunächst ist zu konstatieren, daß die gängigen Militärfachbücher mit ihrer lau-
fenden Berichterstattung in historischer Sicht bemerkenswert wenig über tatsächli-
che sowjetische Rüstungsentwicklungen enthalten. Das soll an dem unumstrittenen
Standardwerk über Luftrüstungen, dem Jane' s (der Bibel der LuftwaffenattacMs
aller Herren Länder) illustriert werden. Eine ähnliche Aussage ließe sich über die
womöglich noch renommierteren Flottenhandbücher und ihre Kapitel über die so-
wjetische Kriegsmarine treffen. Bill Gunston etwa zieht in seinem Standardwerk
über die Flugzeugentwicklung der UdSSR eine vernichtende Bilanz. Er vergleicht
die Zahl der von ihm verfolgten sowjetischen Flugzeugentwicklungen mit der ak-
tuellen Berichterstattung im Jahrbuch von Jane' s:
,,In diesem Buch werden rund 850 verschiedene Typen behandelt. Rund 710 davon tau-
chen nie auf den Seiten von Jane's All the World's Aircraft auf. Das ist keine Aussage
über das Jane's-Handbuch, weil dieses einzigartige Jahrbuch nur das drucken kann, was
ihm im laufenden Jahr bekannt geworden ist."18
Das bleibt in der Tat eine bemerkenswerte Relation. Nur ein Siebtel der Flugzeug-
technologie, die in der UdSSR in der Vergangenheit erzeugt wurde, ist dieser Zu-
sammenstellung nach im Westen aktuell wahrgenommen worden. Die Relation
mag heute anders aussehen. Sie verweist jedoch mit Nachdruck erneut auf ein
grundsätzliches Problem, das der angemessenen Information.
Die Luftrüstung und das Marinewesen gehören andererseits zu den noch am
detailliertesten beobachteten sowjetischen Technologieentwicklungen, schon weil
sie der amerikanischen Aufklärung am einfachsten zugänglich sind. Im Bereich der
Heeresrüstung und bei den Fernraketen fallen ein Mangel an vergleichbarer Einzel-
information und an analytischer Begleitung zusammen, was Michael MccGwuire,
eine Autorität auf dem Gebiet der sowjetischen Kriegsmarine, zu dem klagenden
Diktum an die Sowjetologie führte: ,,Nobody does tanks" - niemand beschäftigt
sich mit der sowjetischen Panzerausrüstung. Ein solcher Satz mag angesichts der
Übersättigung der Medien mit Nachrichten über sowjetische Panzerzahlen überra-
schen. Mit dem Blick auf sozialwissenschaftliche Mindestansprüche erfüllende
Untersuchungen trifft sie den Kern. Von Untersuchungen über die sowjetische
Chemiewaffenherstellung oder die Raketenindustrie ist erst recht zu schweigen.
Eine ähnlich komplizierte Quellenvorgabe wie bei der Verfolgung einzelner
Technologielinien im sowjetischen Kontext ist bei dem zweiten hier gewählten
Verfahren zu beobachten, welches freilich Routineinstrument der Sowjetologie ist,
der sogenannten biographischen Methode. Diese biographische Methode wird bis-
lang vorrangig auf politische, wirtschaftliche und militärische Führungskräfte an-
gewendet. Sie erweist sich aber auch als ausgesprochen nützlich bei der Untersu-
18 Gunston 1983, S. 8
Einleitung 19
daß ihr Erfolg neben allen anderen Gratiftkationsmöglichkeiten auch zur Publika-
tion der Biographie der leitenden Persönlichkeiten, zu Pressenotizen über den Tod
solcher Würdenträger, gar ihrer Bestattung in der Kremlmauer führte. Aus dem
Studium der Grabplaketten ergeben sich überraschende, im Sinne des Systems ge-
legentlich konterproduktive Detailinformationen. Die erste Atombombe zum Bei-
spiel war ein so großartiger Erfolg, daß der ansonsten nie genannte KGB-General,
der neben dem Chefwissenschaftler und dem zuständigen Minister das Projekt lei-
tete, selbstverständlich seinen Anteil an den folgenden öffentlichen Ehrungen be-
kommen mußte ( Kapitel 2). Dieser Personalismus bleibt, wie rasch überprüfbar
ist, auf leitende Kader beschränkt - schon stellvertretende Konstruktionsleiter und
andere für das Funktionieren des Systems unverzichtbare Spitzenleute werden in
den üblichen biographischen Referenzwerken übergangen. Von rangniederen Mit-
arbeitern, die etwa im angelsächsischen Bereich in professionellen Branchenver-
zeichnissen durchaus angeführt werden, ist überhaupt nicht die Rede. Mit der Nut-
zung der biographischen Methode folgt mithin auch diese Studie einem Mythos-
als ob ein Chefkonstrukteur selber ein technisches Gerät erzeugt, welches seinen
Namen trägt. Aber ebensowenig wie der deutsche Flugpionier Professor Messer-
schmitt alle Flugzeuge gezeichnet hat, die seinen Namen tragen, oder Vater und
Sohn Porsche mit jedem Sportwagen dieser Firma in Verbindung gebracht werden
können, den das gleichnamige Unternehmen herstellt, ist eine Iljuschin oder Tupo-
lew-Maschine mit Bestimmtheit das Werk des berühmten Chefkonstrukteurs. Die
namenlosen Heere von Mitarbeitern, die die zahlreichen kniffligen Detailfragen er-
kennen, lösen und umsetzen, wie sie vielfach bei der Konstruktion eines modernen
Waffensystems auftauchen, werden besonders im sowjetischen Fall durch die bio-
graphische Methode nicht erfaßt.
Die Quellenwahl wird von der Absicht bestimmt, die sozio-ökonomischen Dimen-
sionen und die Determinanten des Rüstungswesens in der Sowjetunion zu studie-
ren.l9 Im Vordergrund stehen bei der Auswertung von Quellen mithin nicht gängi-
ge sowjetologische Werke, sondern zumeist Spezialliteratur. Die angeführten Ma-
terialien sollen ein besseres Verständnis charakteristischer Merkmale und Proble-
me des Rüstungssektors und seiner Stellung im Industriesystem der UdSSR ermög-
lichen. Besonders geachtet wurde auf Materialien, die etwas zu den Beziehungs-
verhältnissen zwischen Waffenfertigung und allgemeiner Wirtschafts- und Gesell-
schaftsentwicklung hergeben. Spezifische Unterschiede in der Rüstungsfertigung
sowie der Rolle der Rüstungswirtschaft im sowjetischen System sollen, wo dies
möglich ist, im Vergleich mit westlichen Verhältnissen deutlich gemacht werden.
Zentraler Bezugspunkt auch bei der Quellenwahl ist das Studium der gesell-
schaftspolitischen Dimension von Rüstung. Ist gemäß den Quellen die sowjetische
Rüstung im wesentlichen außenbestimmt, um eine von dem Soziologen David
Riesman20 übernommene, weitgehend in der Analyse des Wettrüstens benutzte
19 Mit der Quellensammlung "Rüstungswirtschaft in der Sowjetunion" haben wir eine Zu-
sammenstellung derjenigen Materialien gegeben, die unserer Ansicht nach am besten
Informationen zum Thema geben; vgl. Nikutta 1986
20 Riesman 1958, bes. Kap.l.5 und 1.6.
Einleitung 21
21 Gervasi 1988
22 Einleitung
sierten Analytiker (und nicht den Interessenten an dem, was man in Washington
glaubt, über die UdSSR aussagen zu können) bleibt selbst bei solchen Texten wie
Chruschtschows Erinnerungen, daß sich die Frage nach der Authentizität des Mate-
rials nicht wirklich befriedigend klären läßt Auf durchgehende quellenkritische
Anmerkungen ist im folgenden Haupttext verzichtet worden. Nur an spektakulären
Punkten wird auf die Frage nach der Authentizität gewisser Belege eingegangen.
In der derzeitigen Phase des Umbruchs enthüllt zusätzlich die Anwendung der
biographischen Methode besondere Probleme, die mit der Einführung von "Glas-
nost", mehr Transparenz im Sowjetreich, verbunden sind. Es mehren sich die Hin-
weise (etwa Kapitel 1.4), daß die Biographien führender Rüstungsfachleute gerade
in den Jahren der Stalinzeit Unwahrheiten, zumeist Vertuschungen, enthalten. Zu
diesen sahen sich die Autoren gezwungen. Heute gibt es wiederholt Beiträge in so-
wjetischen Organen, solche Fälschungen zu beseitigen. Die Autoren hielten es für
richtig, solche Korrekturschritte mit in die Darlegungen einzubeziehen, um den
Wandel a la Gorbatschow auch im Rüstungswesen anzuzeigen, anstatt heute als
falsch erkannte Aussagen einfach auszublenden. Die Bewältigung des Aufstieges
der sowjetischen Rüstung zur Supermachtgeltung ist nicht nur für den Westen ein
Problem- sie ist dies umso vielschichtiger für die UdSSR selber.
Dieneueren Entwicklungen in der Sowjetunion provozieren die Frage (die an-
sonsten in jedem wissenschaftlichen Text zu beantworten ist) nach dem Standort
des Analytikers. Bei der Masse der verwendeten westlichen Quellen handelt es
sich um kein Problem -sie sind mit klarem Blick auf die Sowjetunion als politi-
scher Rivale des Westens verfaßt Bei sowjetischen Materialien überrascht nicht,
besonders bei älteren Texten, daß sie deutlich prosowjetisch ausfallen. Unser eige-
ner Standpunkt bei der Auswertung kann so schon aufgrund der Unterschiedlich-
keit der Quellen nicht einfach pro oder contra sein. Die Verwendung bestimmter
Materialien und Verfahren entzieht sich einem solchen Schema.
Das Kapitel über die sowjetische Atombombenentwicklung zum Beispiel ist
zum einen - so ein populärer Vortragstitel über das amerikaDisehe Vergleichspro-
jekt, ,,Los Alamos von unten"24 - aus einer underdog-Sieht heraus gearbeitet. Die
an dem Projekt beschäftigten Deutschen wußten kaum über Zusammenhänge Be-
scheid. Andererseits profitiert dasselbe Kapitel von heroisierenden sowjetischen
Materialien, die (um eine Kategorie von Johan Gattung zu bemühen) aus der Per-
spektive von "topdogs" heraus geschrieben sind. Hin und wieder wirken diese he-
roisierenden Sowjetdarstellungen in ihrer Wirklichkeitsverkürzung provozierend,
daß es einem den Atem nimmt. Selbst in nunmehr "aufgeklärten", von Glasnost in-
spirierten Darstellungen gewiß bemerkenswerter Taten wie etwa der Konstruktio-
nen des sowjetischen Raketenpioniers Sergej Koroljow wird anläßtich seiner Auf-
spürung deutscher Raketenfachleute und ihrer avantgardistischen Projekte in unter-
irdischen Fabrikationsanlagen im Harz mit keiner Silbe erwähnt, daß die Masse der
dort Beschäftigten KZ-Häftlinge waren. Warum ein solches Detail, von dem er-
wartbar ist, daß sowjetische Publikationen es mit Nachdruck aufgreifen, nicht ver-
merkt wird, läßt sich aufgrund der Ergebnisse der Studie mit Begründung vermu-
ten: Die Sowjets ließen die Fertigung der V-Waffen des Dritten Reiches in den von
ihnen vorgefundenen Stollen bis Oktober 1946 weiterlaufen, entgegen allen Ab-
24 Richard P. Feynman, ,,Los Alamos von unten", ursprünglich Vortrag im Jahre 1975 an
der University of California in Santa Barbara. dt. nunmehr in Feynman 1987, S. 141 ff.
24 Einleitung
1 Als durchaus noch heute brauchbare Übersicht zu den Anfängen der russischen Militär-
fliegerei vgl.: Reichsluftfahrtministerium (Bearb.), Kriegswissenschaftliche Abteilung
der Luftwaffe, Die Militärluftfahrt bis zum Beginn des Weltkrieges 1914, 1941, S. 553
-567
2 Finne 1987
26 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?
Kampfflugzeuge vom Typ Spad S. 7. Dieser Typ wurde ab 1918 in der Dux-Fabrik
in Moskau in Lizenz gebaut Es lohnt sich, diesem ersten Hochtechnologietransfer
an die neue Sowjetunion nachzugehen. Obwohl Frankreich als Interventionsmacht
an der Bekämpfung des neuen Regimes beteiligt war, gewährte die Sociere pour
Production les Apparailles Deperdussin (= S.P.A.D.) dem neuen Regimes die
Nachbaurechte und gab die notwendige technische Hilfe. Diese Auffanggesell-
schaft baute die Konstruktionen des bei Kriegsende pleite gegangenen Flugpio-
niers Deperdussin weiter und war augenscheinlich bereit, politische Erwägungen
gegenüber kommerziellen Aspekten hintanzustellen. Ihr Modell Spad 7 war damals
ein technologischer Trumpf. Über diesen Doppeldecker heißt es in einer renom-
mierten britischen Luftfahrtgeschichte:
,,Mit der Einführung der Spad S.7C-1 begann die Aviation Militaire ein gewisses Maß
an Parität in der Luft über der Westfront wieder herzustellen."3
Das Motiv der französischen Firma war handfest: Nach dem Ende des Weltkrieges
kämpfte sie ums Überleben. Die Sowjets konnten andererseits die modernen fran-
zösischen Kampfflugzeuge gut gebrauchen und setzten die in Moskau gefertigten
Maschinen umweglos im Bürgerkrieg bei der Besetzung Kasans und gegen die
Truppen General Wrangeis bei der Eroberung der Krim ein.
Regionale Kriege geben stets dem internationalen Rüstungshandel Auftrieb,
und im russischen Bürgerkrieg war dies nicht anders. Auch andere Flugzeugprodu-
zenten neben Spad standen nach Ende des Weltkrieges vor dem Ruin und waren
sofort bereit, den Waffenwünschen der Sowjets nachzukommen. Aus den Nieder-
landen wurden erhebliche Quantitäten von Fokker-Flugzeugen gekauft (Aufklärer
und Jäger).4 In Italien beschafften die Sowjets mehrere hundert Ansaldo-Aufklärer
(nach dem Ende der Feindseligkeiten 1918 erteilte das italienische Corpo Aeronau-
tico Militare keinerlei Aufträge, bis Mussolini Ministerpräsident wurde). Ferner
wurde das im Weltkrieg breit bekannte Modell D.H.9 der britischen Firma DeHa-
villand ohne Genehmigung nachgebaut (sowjetische Bezeichnung R-1, ,,R" steht
als Abkürzung für raswedschik =Aufklärer).
Diese Erwerbungen eröffnen einen zunächst kontinuierlichen Technologie-
strom. Mit der in Tabelle 1 gegebenen Zusammenstellung wird illustriert, daß die
Sowjetregierung in der ersten Hälfte der siebzig Jahre der Existenz der UdSSR in
der Lage war, augenscheinlich ohne besondere Mühe Jahr für Jahr militärisches
Fluggerät im Ausland zu erwerben. Die ununterbrochene Kette von Technologie-
transfers, die offiziell konzedierten neben den regierungsamtlich nicht autorisier-
ten, steht neben sowjetischen Bemühungen, eine eigenständige Technologiekom-
petenz aufzubauen.
Die Zusammenstellung mit ihren Jahr für Jahr angegebenen Anführungen soll
zunächst einmal angeben, daß trotz aller bemerkenswerten Eigenanstrengungen der
sowjetische Militär-Flugzeugbau, zumindest in der Sicht der Entscheidungsträger,
wesentlich von ausländischen Infusionen an moderner Technologie abhängig blieb.
Im zweiten Schritt bleibt zu fragen, wie dieser Transferstrom zu untergliedern ist,
welche politischen und technischen Schlüsse er gestattet.
3 Green/Fricker 1958, S. 97. Die Bedeutung der Spad wird im gleichen Text wiederholt
unterstrichen.
4 Die verzweifelte Auftragslage Fokkers schildern Green/Fricker 1958 aufS. 200.
Die Luftfahrtindustrie 27
Tabelle 1:
Transfers von Luftwaffentechnologie in die UdSSR
Schon kurz vor dem Rapallo-Vertrag vom 16. April1922 setzt zügig eine besonde-
re Rüstungskooperation zwischen der Weimarer Republik und der Sowjetunion
ein, die in der ansonsten gut informierenden historischen Forschung verkürzt und
als Betätigung der Reichswehr bewertet wird. In der Moskauer Vorstadt Fili errich-
tet die Dessauer Firma Junkers aufgrund einer Vereinbarung vom 6. Februar 1922
eine Flugzeugfabrik. In Umgehung der Bestimmungen des Versailler Vertrages
fertigte Junkers in der UdSSR eine Anzahl Militärflugzeuge, so den dreimotorigen
Bomber K-30 und den bewaffneten Aufklärer A-20 (sowjetische Bezeichnung Ju-
Die Luftfahrtindustrie 29
5 Schmitt 1986, S. 130 ff.- Die alten einstöckigen Werkhallen sind heute noch auf dem
Fabrikationsgelände zu besichtigen. Ansonsten handelt es sich um einen Komplex mo-
derner Hallen entlang der Straße- der Name besagt es schon - Nowosawodskowo,
Neuwerk, mit angeschlossenem Luftfahrttechnikum, einem Denkmal des Luftfahrtmini-
sters Chrunitschew usf.
6 Schmitt 1986, S. 135. Weitere Details, etwa die Haltung Hindenburgs zu diesen Vor-
gängen, in den Erinnerungen des Dessauer Oberbürgermeisters Fritz Hesse; vgl. Hesse
1963
7 Green/Fricker 1958, S. 280
30 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?
nach Afghanistan geht eine Staffel Junkers-Aufklärer/Bomber vom Typ R-2 als
Geschenk der Sowjetregierung an König Amanullah. Die Flugzeuge treffen 1924
auf dem Scherpur-Flughafenbei Kabul ein. 50 Afghanen werden in der UdSSR als
Piloten und Flugzeugmechaniker ausgebildet. Sowjetische Techniker entwerfen die
Pläne für neue Militärflughäfen bei Herat, Kandahar, Jalalabad und Mazar-i-Scha-
rif.S
Bezeichnend für die sowjetische Akquisition ausländischer Technologie
scheint zu sein, daß man sich nicht mit dem sklavischen Nachbau erfolgreicher
Muster begnügte, sondern früh mit Variationen experimentierte (bei Junkers ein-
setzend mit Variierungen beim Triebwerk der Ju-20).
Nicht alle Versuche zum Technologietransfer führten zum Erfolg. Teil der
Junkers gewährten Konzession war die Verpflichtung, dem Flugzeugwerk eine Fa-
brik zum Bau von Flugmotoren folgen zu lassen. Junkers hielt diese Verpflichtung
nicht ein, und die Triebwerke aller in der UdSSR gebauten Junkers-Flugmaschinen
mußten aus Deutschland importiert werden. Außerdem war vereinbart worden, daß
Junkers bei der Entwicklung des wichtigsten Materials für den Flugzeugbau, des
neuartigen Duraluminiums, Hilfe leisten sollte. Auch hier mußten die Sowjets
schließlich zur Kopie greifen.
Neben der Übertragung von Know-how in Form von Flugzeugkonstruktionen
erhielt die sowjetische Technologie vielfältige Anregungen in Teilbereichen wie
Werkstoffen und Bauteilen, vor allem bei Flugmotoren.
Im Zarenreich hatte es z.B. keine Aluminiumproduktion gegeben. Im August
1922 wurden die ersten größeren Posten sowjetischen Duraluminiums, ein für den
Leichtbau im Flugwesen unverzichtbares Material, ausgeliefert. Die Sowjets hatten
mitten im Bürgerkrieg 1920 eine Arbeitsgruppe unter Iwan lwanowitsch Sidorin
gebildet, die die verschiedenen Möglichkeiten zur Gewinnung des Leichtbaume-
talls erkunden sollte. Diese empfahl vernünftigerweise, das deutsche Patent für
Duraluminium zu plündern und den Stoff im Lande zu fertigen. Unter dem Namen
"Koltschugalumin" wurde das neue Material (die Bezeichnung stammt von dem
Herstellungsort, der nordwestlich Moskaus gelegenen Stadt Koltschugino) als Er-
rungenschaft des Sowjetsystems gepriesen. Chrom-Nickel-Stähle, für hochbelaste-
te Bauteile im Flugzeugbau gleichfalls unverzichtbar, wurden bis 1936 importiert,
ehe. eigene Kapazitäten für solche Hochleistungsstähle verfügbar wurden.
Die Sowjets begannen zugleich zielstrebig, das Technologiepotential des Jun-
kerswerkes zur Verbreiterung ihrer eigenen Technologiekompetenz zu nutzen. So-
wjetische Konstrukteure erhielten durch die Mitarbeit im Werk eine gewichtige
Förderung. Neben Tupolew sind hier zum Beispiel die im Westen weniger bekannt
gewordenen W.M. Petljakov und W.B. Schawrow zu nennen. Das vielgenutzte
Muster W 33 wurde nach dem Abzug der Deutschen nicht im ehemaligen Junkers-
werk Fili, sondern in einem Reparaturwerk in Irkutsk sowie einem ähnlichen Be-
trieb in Moskau ("ZARB", Zentralnaja aviaremontnaja basa) aus von Deutschland
importierten Teilen zusammengebaut. Ein solches Verfahren ist im Hochtechnolo-
giebereich bis heute in Entwicklungsländern üblich. - Neben der Ausbildung von
Führungskräften und dem "farming out" von Technologieimporten kauften die So-
wjets wiederholt Prototypen von Junkersflugzeugen aus Deutschland, um beson-
8 Der kundige Leser erkennt sogleich, daß dies 55 Jahre später die wichtigsten Basen für
die sowjetischen Luftstreitkräfte im langjährigen Krieg in Afghanistan sind.
Die Luftfahrtindustrie 31
ders den Bau schwerer Bomber in der UdSSR voranzubringen. Als Junkers sein
Verkehrsflugzeug G 23 (ein Vorläufer der bekannten Ju-52) auf dem Weltmarkt
anbot, bestellte die Sowjetregierung eine als Bomber einsetzbare Variante. Zum
Serienbau kam es zwar nicht, aber die Sowjets orderten danach einen schweren
dreimotorigen Bomber, der später unter der Bezeichnung JuG-1 bekannt wurde. Da
die Internationale Überwachungskommission für das Reich die Entwicklung eines
so großen und so stark motorisierten Flugzeuges kaum geduldet haben würde, ver-
fiel die FirmaJunkers auf einen Ausweg. In Dessau wurde der Prototyp des unbe-
waffneten Bombers entwickelt und erprobt sowie die Fertigung von Bauteilen be-
trieben; der Zusammenbau und die Auslieferung der voll ausgerüsteten Bomber an
die UdSSR erfolgte in einem schwedischen Tochterunternehmen in Limhamn. In
den Jahren 1926/27 erwarben die Sowjets auf diesem Wege 23 Bomber.
Die Sowjetregierung war auch an Jägern interessiert, und Junkers setzte mehr-
fach an, parallel wie beim Bomberbau mit den Russen ins Geschäft zu kommen.
Allerdings fehlte es dem Unternehmen in diesem Bereich, wie sich herausstellen
sollte, an Kompetenz. In Dessau war, erneut unter Umgehung der Bestimmungen
des Versailler Vertrages, ein Versuchsflugzeug unter der Typenbezeichnung T-22
konzipiert worden, welches zu einem Jagdeinsitzer weiterentwickelt werden sollte.
Die Sowjetregierung kaufte die Konstruktion und orderte den Serienbau des nun-
mehr Ju-22 benannten Flugzeuges in Fili. Die Junkers-Maschine bestand jedoch
nicht die sowjetische Musterprüfung, augenscheinlich aus triftigen Gründen. Einer
der beteiligten deutschen Ingenieure berichtet zum Beispiel über unerwünschte
Flugbewegungen:
,,Bei kräftigem Höhenrudergeben aus dem Vollgashorizontalflug drehte sie von selbst
die schönsten überzogenen Rollen, und ehe die Piloten sich versahen, hatten sie sich
ein- oder auch zweimal mit dem Flugzeug um die Längsachse gedreht."9
Nach diesem Mißerfolg versuchte Junkers einen zweiten Anlauf. 1927 wurde in
Dessau heimlich ein Jagdzweisitzer gebaut und im schwedischen Limhamn militä-
risch ausgerüstet. Die Sowjets, nunmehr vorsichtiger geworden, kauften zwei Ex-
emplare, die "im Jahre 1930 im Forschungsinstitut der Luftstreitkräfte getestet"
wurden.lO Ein sowjetischer Auftrag erfolgte nicht, das Muster wurde gleichwohl
"an zahlreiche Luftwaffen geliefert".ll
Obwohl die Kooperation von Junkers mit den Sowjets keineswegs der einzige
Fall einer intimen Zusammenarbeit eines ausländischen Privatunternehmens mit
den Sowjets zu Rüstungszwecken und entgegen den politischen Intentionen verant-
wortlicher Regierungen darstellt, hat doch dieser Vorgang ungewöhnlich scharfe
Kritik gefunden. Der konservative englische Historiker Gunston entwickelt sich
wegen dieses Vorgangs zum Kapitalismuskritiker. Der renommierte Luftfahrtex-
perte leitete voller Zorn sein Standardwerk über die Sowjetflugrüstung mit einer
Abrechnung mit Junkers ein:
9 Ernst Zindel: "Junkers-Flugzeugbau von der F 13 bis zur G 38", in: Mitarbeiter berich-
ten aus gemeinsamer Tätigkeit, Dessau 1940, S. 106, zit. nach Schmitt 1986, S. 137
10 W.B. Schawrow, Die Geschichte der Konstruktion von Flugzeugen in der UdSSR bis
1938, Moskau (Verlag für Maschinenbau) 1978, S. 302 (russ.), zit. nach Schmitt 1986
11 Kens/Nowarra 1961, S. 342
32 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?
12 Gunston 1983, S. 9
13 Gunston 1983, S. 9
14 Der Verweis auf diesen Prozeß findet sich bei Gunston 1983, S. 287
Die Luftfahrtindustrie 33
18 Gunston 1983, S. 10
19 Gunston 1983, S. 165
Die Luftfahrtindustrie 35
20 Ernst Heinkel beschreibt in seiner Autobiographie (vgl. Heinkel 1963, S. 396) den Be-
such in seinem Werk. Als wichtigste sowjetische Fachleute nennt er (so seine Schreib-
weise der Namen) A1exander Gussew, Vladimir Schewtschenko und Wassily Kuzne-
zow (offenbar nicht identisch mit dem Triebswerkkonstrukteur N.D. Kuznezow). -Ein
konstruktiver Niederschlag der Erfahrung mit der He-100 läßt sich bei Jakolews Ent-
würfen nicht nachweisen (mit 37.000 Exemplaren seiner Jäger Jak-1 bis Jak-9 war er
der erfolgreichste sowjetische Konstrukteur im 2.Weltkrieg).
21 Jakowlew 1972, S. 49, S. 52 f. Ferner war Jakolew gelegentlich in Wien. Die Erinne-
rungen Heinkels, in denen sein Aufenthalt in Rostock beschrieben wird, kennt und zi-
tiert Jakolew, ohne freilich auf diese Partien einzugehen.
36 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?
Hin und wieder erhielten die Sowjets technische Unterstützung von Indivi-
duen, die ihrer parteipolitischen Haltung wegen mit dem System sympathisierten.
Der Herausragendste dürfte der italienische Flugzeugkonstrukteur Roberto L. Bar-
tini gewesen sein. 1921 war er Mitbegründer der KPI und organisierte in Mailand
kommunistische Zellen. Als Mussolini zwei Jahre später die KP verbot, emigrierte
Bartini in die Sowjetunion. 1924 bis 1928 diente er der Roten Armee als Ingenieur,
fiel durch seine Begabung auf und erhielt ein eigenes Konstruktionsbüro. In der
Folgezeit entwarf Bartini eine Reihe höchst ungewöhnlicher Konstruktionen, die
zwar nicht in den Serienbau gingen, aber doch zur Verbreiterung der technischen
Basis der sowjetischen Flugzeugindustrie beitrugen (so wirkte er an Stahlkonstruk-
tionen mit, etwa beim ModellStal 7). Seine Senkrechtstarter und Düsenjäger wur-
den in der UdSSR breit beachtet. Des ungeachtet wurde er während der Säuberun-
gen ins Gefängnis geworfen. Die letzte Nachricht über ihn stammt vom Jahr 1967:
Er erhielt den Lenin-Orden für seine Verdienste in der sowjetischen Luftfahrtfor-
schung.
Gleichfalls aus Italien kam der Drehflüglerspezialist Vittorio Isacco, der von
1932 bis 1936 in der UdSSR an einem Hubschrauber "Gjelikogyr" oder Isacco-4
arbeitete. Platterprobleme und andere Schwächen führten dazu, daß die Entwick-
lung abgebrochen und Isacco gleichfalls ins Gefängnis geworfen wurde (wo er
weiter als Konstrukteur arbeitete).
Einen mutmaßlich letzten und in seiner Bedeutung schwer abschätzbaren Zu-
fluß an technischen Informationen, die ihnen über zuwandernde Personen zugin-
gen, erhielten die Sowjets Ende der vierziger Jahre. Im Zusammenhang mit dem
sogenannten Rosenberg-Prozeß, der Anklage und Hinrichtung des Ehepaares Ro-
senberg wegen Atomspionage zugunsten der UdSSR, verließ eine Anzahl von vor-
mals mit den Sowjets sympathisierenden oder solcher Sympathien verdächtigter
Amerikaner die Vereinigten Staaten. Die Literatur über die Verratstätigkeit von
Klaus Fuchs22 und andere "Atomspione" füllt inzwischen Regale. In den USA,
etwa am renommierten Russian Research Center der Harvard Universität, werden
noch heute jüdische Emigranten aus der UdSSR ausgefragt, ob sie über den Ver-
bleib und die spätere Tätigkeit einzelner amerikanischer Fachleute etwas wüßten.
Womöglich bedeutsamer als der Transfer von Nukleargeheimnissen (den die
weiland in der UdSSR tätigen Deutschen als nicht wichtig bezeichnen, vgl. Kapitel
2) dürfte der Seitenwechsel einzelner Elektronikingenieure zu Buche schlagen. In
dem erw~nten Harvard-Projekt wurde so zum Beispiel die Flucht der beiden
Elektroniker Alfred Sarant und Joel Barr (als Sowjetbürger nunmehr Filip Georgje-
witsch S taros und J osef Weniaminowitsch Berg) und ihre seitherige Tätigkeit in
der UdSSR rekonstruiert. Die beiden waren in den USA in der Radarforschung tä-
tig gewesen. In den UdSSR nahmen sie Führungspositionen in der Halbleiterfor-
schung und bei der Konzipierung von Computern ein.23
Zu Beginn des 2. Weltkrieges mußten sich die Sowjets bis zur Bildung der Anti-
Hitler-Koalition bei Kampfflugzeugen auf Eigenkonstruktionen verlassen und er-
warben nur für Nebenlinien der Luftfahrttechnologie ausländisches Know-how. So
wurde von den amerikanischen Convair-Werken eine Lizenz für das herausragende
Flugboot PBY-5 vergeben, und der Nachbau der DC-3liefweiter. In beiden Fällen
ist den sowjetischen Auswahlteams zu bescheinigen, daß sie auch im historischen
Rückblick die jeweils beste verfügbare Technologie gewählt haben (vgl. Tabelle
2).
Tabelle 2:
US-Flugzeugtransfers in die UdSSR im 2. Weltkrieg
Typ Lieferant Bezeichnung Zahl
Allein aus den USA erhielt die Sowjetunion im Krieg mehr als 14.000 Militärflug-
zeuge- was in Bezug zu sehen ist zu einer Kampfstärke von 17.500 Flugzeugen
bei Kriegsende. Ferner sind britische Lieferungen kleineren Ausmaßes zu erwäh-
nen: zwei Staffeln Hawker Hurricane Jäger, eine geringe Anzahl Spitfire-Jäger
und Mosquito-Bomber sowie einige Albemarle-Aufklärer. Festzuhalten ist somit,
daß die sowjetische Flugzeugindustrie während der Kriegsjahre Technologie-Infu-
sionen modernster Art von beiden Seiten erhielt, wobei freilich der US-Beitrag do-
miniert.
In Sondertechnologien wie etwa dem Bau von Flugbooten erreichten sowjeti-
sche Entwürfe im Regelfall nicht den auf dem Weltmarkt angebotenen Standard.
Außer dem Flugboot MBR-2 von Berijew (dieses wiederum war eine Verbesse-
rung des importierten italienischen Flugbootes S. 62) erwiesen sich alle Konstruk-
38 Abhängigkeit von auslärulischer Technologie?
tionen als enttäuschend, und die Sowjets bauten statteigener Modelle ausländische
Muster in Großserie wie das Boot PBY von Consolidated (heute General Dyna-
mics). Sogleich nach der Exportfreigabe erwarb Amtorg, die für US-Importe zu-
ständige staatliche Einrichtung, die Nachbaurechte sowie drei Maschinen. Die rus-
sischen Ingenieure erwiesen sich vom Stand der US-Technologie beeindruckt. Da
schwieriger zu fertigende Bauteile die Kompetenz der Facharbeiter überstiegen
oder eine Anzahl von Spezialwerkzeugen nicht vorhanden waren, konnte das Flug-
zeug jedoch nicht einfach nach den amerikanischen Zeichnungen gebaut werden.
Es waren vielmehr mehr als 600 Konstruktionsänderungen erforderlich, um das
Muster an sowjetische Verhältnisse anzupassen. - Die Convair blieb bis nach
Kriegsende in Serienproduktion.
24 Gunston 1983, S. 13
40 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?
Tu-80
~=
J! II _o_ II
Tu-12
- -.-
Sikorsky S-55
Sikorsky S-51
I ~-:IJ:
~
Jokowlowhk-100 ~ ~ Mi!Mi-4
'0
25 Gunston 1983, S. 10
26 Vgl. beispielsweise die Aussagen von Dornier und Heinkel in: Heinkel1963, S. 104
Die Luftfahrtindustrie 45
Tabelle 3:
Nachbauten!Adaptionen ausländischer Flugmotoren
Ersüauf Charakeristika Sowjetische Ersüauf
Original Beze1chnunll
LCRh6ne 1. WClikrieg M-2
Liberty 1. weltkrieg M-5
Hispano-Suiza 8Fb 1. weltkrieg M-6
Bristol Jupiter VI 1925 9-Zyl Stern Mikulin M-13
Bril!.M-18
M-22 1930
M-32
Bristol GR Titan Schwets. M-15 1928
M-26
BMWVI 1928 12-Zyl V-Motor Mikulin AM-30 1931
mit Flüssig- M/AM-34 1932
kühlung M/AM-35 1939
M/AM-37 1940
AM-38 1941
AM-39 1942
AM-41 1942
M/AM-42 1944
AM-43 1944
AM-47 1946
M-17
M-27
Junkers Jumo 204/6 1930 6-Zyl Diesel ED-1 1935-40
Hispano-Suiza 12Y 12-Zyl.mit Klimow WK-100 1934
Wasserkühlung WK-103 1937
WK-105 1941
WK-106 1939
WK-107 1942
WK-108 1945
WK-109 1945
Gnome-Rhone 14-Zyl Trumanski M-85 1934
K14Mistral M-86 1936
M-87 1938
M-88 1938
Renault 4-Zyl Reihen- MV-4 1936
motor
Renault 6-Zyl. Reihen- MV-6 1936
motor
W~tR-1820 Schwetsow M-25 1934
Cycone ASch-62/M-62 1937
ASch-63/M-63 1939
ASch-71/M-71 1941
ASch-72 1943
ASch-73/M-73 1944
ASch-82/M-82 1940
ASch-83
ASch-90/M-90 1941
M-25
M-62
BMW Motorradmotor 2Zyl M-76
WritR-3350 18-Zyl.Stem Schwetsow ASch-73 1944
Cyc one
AigusAs014 1942 Pulsrohr RD-13
Junkers Jumo 004 1940 TL-Triebwerk RD-10 1945
BMW003 1943 TL-Triebwerk RD-20 1945
RD-21
Rolls-Royce Nene 1944 TL-Triebwerk Klimow RD-45
WK-1 1948
Moebius WK-5 1953
Rolls-Ro:!:ce Derwent 1943 TL-Triebwerk Jakowlew RD-500 1949
Anmerkungen: Reine Importe ohne folgenden Nachbau in der UdSSR sind in dieser Zu-
sammenstellung ebensowenig aufgenommen worden wie Adaptionen zu
indirekter Art (so ist der schwere Motor WD-4 von W.A. Dobrynin aus
dem Jahre 1951 sicherlich im Zusammenhang mit dem in der UdSSR
durch Brandner nachkonstruierten Jumo-222 zu sehen, schon bei der Zahl
und Anordnung der Zylinder -aber um einen Nachbau handelt es sich
eben nicht).
Quelle: Zusammengestellt nach Bill Gunston, Aircraft of the Soviet Union, Lon-
don (Osprey) 1983, S. 25-28
46 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?
27 Der neben Brandner wohl spetakulärste Fall ist in Heinkels ehemaligem Konstrukteur
Dipl.-Ing. Siegfried Günter zu sehen. Von Heinkel als der beste deutsche Konstrukteur
bewertet (auf Günter gehen Heinkels Raketenflugzeug He-178, der erste zweimotorige
Düsenjäger sowie der "Volksjäger" zurück), blieb Günter nach vergeblichen Versu-
chen, sich den Westmächten anzudienen, in seiner Sicht nichts anderes übrig, als in die
UdSSR zu gehen, wo man seine Fähigkeiten gebührend anerkannte. Vgl. Heinkel1963,
s. 530/531
Die Luftfahrtindustrie 47
28 Ein solches Verhalten ist nicht nur bei den Sowjets zu beobachten. Die Amerikaner
ließen in dem Heinkel-Werk Stuttgart-Zuffenhausen nach Kriegsende ein Dutzend
Strahltriebwerke produzieren (vgl. Heinkel 1963, S. 333), die Franzosen ließen das
BMW-Team unter Gestreich weiter arbeiten, und in der englischen Zone wurde bei-
spielsweise der Bau kleinerer Kriegsschiffe als Reparation an kleinere Alliierte tole-
riert.
29 Die Demontage und den Abtransport der Junkers-Anlagen beschreibt anschaulich Hes-
se 1963, S. 140
30 Brandner 1976, S. 83. -Die Darstellung in diesem Abschnitt stützt sich auf diese Auto-
biographie sowie zwei Interviews mit Brandner.
31 Brandner 1976, S. 160
48 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?
Am 30. August 1946 gab es für soviel Kooperation eine erste Prämie, ein Schreib-
zeug aus Marmor. Brandner war vor allem durch Vorschläge zur Verbesserung der
erbeuteten deutschen Düsentriebwerke auffällig geworden, mit denen er zunächst
nichts zu tun hatte. Auf ihren Prüfständen sahen sich die sowjetischen Tester mit
einem leidigen Problem konfrontiert, dem Anbrennen der einzelnen Brennkam-
mern. Der Vorgang ist erheblich abhängig vom Schwefelgehalt des Treibstoffs,
und der sowjetische Kraftstoff wies augenscheinlich genug Schwefelverunreini-
gungen auf. Brandner schlug vor, die einzelnen Brennkammern zu einer Ring-
brennkammer zu vereinen, was weniger Ansätze für Verbrennungen bot.32
Der Erfolg blieb nicht aus. Am 10. Dezember 1946 bemühte sich der stellver-
tretende Minister für Luftfahrt, Pallandin, persönlich zu Brandner, um ihm den
Vorschlag zu unterbreiten, in Kujbyschew im Werk Nr. 10 zusammen mit einem
anderen Deutschen, einem Dr. Scheibe, die Leitung des Jumo-Düsennachbaus zu
übernehmen.
Vornan stehen künftig die Projekte für Düsentriebwerke. Die Typenbezeich-
nungen für Flugmotoren (BMW 003 oder Jumo 004) werden im folgenden als Kür-
zel für ein ganzes Bündel an Technologietransfers verwendet. Neben den Ingenieu-
ren und Facharbeitern, die diese Motoren herstellten, wurden 1946 zahlreiche Fer-
tigungs- und Hilfsteile in die Sowjetunion geschafft. Besonders geschmerzt haben
wird die Amerikaner die Verlagerung der beiden großen Schmiedepressen in Des-
sau (Kapazität 33000 und 15000 Tonnen), die sie bei ihrem Abzug aus Sachsen-
Anhalt im Juni 1945 hinterließen.
Ähnlich wie an Atomwaffen war vor Kriegsende in der UdSSR auch an Dü-
sentriebwerken experimentiert worden. Zu nennen wären die Konstrukteure Boris
Stechkin und Ariehip Ljulka.33 In der Düsenentwicklung waren die Deutschen bei
Kriegsende aller Welt voraus. Dies wußte die sowjetische Führung, und den auf
deutsches Reichsgebiet vordringenden sowjetischen Truppen folgten Spezialein-
heiten, welche die Aufgabe hatten, aller technischen Unterlagen sowie der Exper-
ten habhaft zu werden, die in der Entwicklung von Hochgeschwindigkeitsflugzeu-
gen und deren Antrieben tätig waren. Diese Deutschen wurden gesammelt und spä-
ter in die UdSSR verfrachtet. Diese Technologieinfusion sollte sich von unschätz-
barem Wert beim Nachholen der kriegszerstörten UdSSR im einsetzenden Ost-
West-Wettrüsten erweisen.
Am 2. April 1946 wurden Chrunitschew und Jakowlew zu Stalin geladen, um
die weitere Entwicklung des Luftfahrtsektors zu erörtern. Jakowlew gab dabei Be-
richt über eine Inspektionsreise in die sowjetische Besatzungszone. Er empfahl be-
sonders die Nutzung der deutschen Düsentriebwerke,34
Die Sowjets gelangten in den Besitz beider deutscher Entwicklungsreihen von
32 So originell war der Vorschlag nicht: Bei der Auslegung des Jumo 004 hatte seinerzeit
in Dessau eine Ringbrennkammer zur Diskussion gestanden. - Tatsächlich wurde unter
der Bezeichnung WK-3 ein Düsentriebwerk mit Ringbrennkammer unter der Leitung
von Sergej W. Ljunewitsch gebaut und im Werk GAS-117 Mitte 1952 in die Fertigung
genommen.
33 Die erste Fachveröffentlichung über ein Strahltriebwerk von Stechkin datiert aus dem
Jahre 1929. -Gasturbinen wurden nicht nur in England und Deutschland entwickelt.
Neben den sowjetischen Arbeiten ist etwa auf den Bau eines Triebwerkes durch Gyorgy
Jendrassik in Ungarn zu verweisen, das 1937 erprobt wurde.
34 Jakowlew 1972, S. 326
Die Luftfahrtindustrie 49
35 Neben der BMW- und der Junkerslinie gab es bei Kriegsende weitere Baureihen von
Strahltriebwerken, vor allem bei Heinkel und Daimler-Benz. Die beiden hier benannten
Reihen waren jedoch die militärisch nutzbarsten, und sie standen den Sowjets voll zur
Verfügung.
50 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?
1948 war Jumo 012 alias Kusnetzow NK.-4 (später bekannt als AI 20) für die
staatliche Abnahme fertig. Das war in jedem Fall ein rituell abzuwickelndes Ereig-
nis, bei welchem staatliche Prüfkommissionen und eine Anzahl Würdenträger ze-
remoniell das Funktionieren des neuen Triebwerkes beobachten würden.
Die erste Abnahme 1948 gestaltete sich zu einem Reinfall. In der 94. Stunde
des üblichen 100-Stunden-Dauerversuches (eine im Flugalltag nie vorkommende
Belastung) flog eine Turbinenschaufel davon, der Test mußte abgebrochen werden.
Die Würdenträger reisten ab, und es kostete das deutsche Team harte Arbeit, durch
Festsetzung einer Mindestkomgrößengrenze beim Turbinenmaterial und deren Ein-
haltung einer Wiederholung einer solchen Panne vorzubeugen.
Die Nachricht über das Versagen des Jumo 012 wurde selbst Stalin vorgetra-
gen (s.u.).
1950 erfolgte- diesmal ohne Panne- die staatliche Abnahme. Die Konkur-
renzentwicklung des Klimow-Teams, bezeichnet WK-2, in Leningrad wurde 1952
angesichts der Leistungen der deutschen Axialturbine eingestellt.
Neu für das Junkers-Team waren die Technik des Verstellpropellers, das Pla-
netengetriebe und die gesamte Regelung. Für diese Teilaufgaben fanden sich aller-
dings noch immer Spezialisten aus Deutschland - der Technologieimpuls aus der
Endzeit des Dritten Reiches sollte für mehr als fünf Jahre nach der Niederlage
1945 hinreichen. Brandner, der verständlicherweise über die Verwendung seiner
Propellerturbine in sowjetischen Militärflugzeugen keine Informationen erhielt,
stieß zu seiner Überraschung zehn Jahre später, nunmehr in ägyptischem Sold, auf
einen sowjetischen Militärtransporter Antonow An-10, der mit seinem Motor aus-
gestattet war.36
Mit der Russifizierung des im Dritten Reich in Serie produzierten Junker-
striebwerks Jumo 012 sowie der Vorlage der starken Propellerturbine hatte das
Brandnerteam seine Aufgabe in der Sowjetunion noch nicht erfüllt. Die Sowjets
verlangten nunmehr, ganz im Stil der Schock-Methode, Brandner solle eine Pro-
pellerturbine mit der doppelten Leistung, 12.000 Wellen-PS, entwickeln.
Brandner stand wie am Ende des Dritten Reiches vor der Forderung, den stärk-
sten Motor der Welt zu bauen. Beim Jumo 222 bestand das Konzept in der Verbin-
dungzweier Bauprinzipien, dem Stern- und dem Reihenmotor. Zunächst suchte
das Brandner-Team seine neue Aufgabe durch eine vergleichbare Idee zu lösen:
der Kopplung zweier der 6.000 PS-Triebwerke zu einem Doppeltriebwerk. Das
führte zu einer Fehllösung, schon das Schwingungsverhalten der Antriebsanlage
ließ sich nicht meistem.
Nach dem Fehlschlag mußte sich das Brandner-Team voll der Aufgabe stellen,
die stärkste Turbine der Welt in Serie zu erzeugen. Die Einrichtung der Produktion
von Junkers-Motoren in der kriegszerstörten UdSSR blieb eine beachtliche Lei-
stung. Die Konzipierung des unter der Bezeichnung NK.-12 (die beiden Buchstaben
verweisen auf Kusnetzow) in den Dienst gestellten leistungsfähigstem Motor sei-
ner Zeit stellte nicht nur einen sowjetischen, sondern einen Weltrekord dar.- Die
NK.-12 sollten zu viert über jeweils zwei gegenläufige Luftschrauben den ersten
echten Atomwaffenträger der UdSSR antreiben, den Tupolew-Bomber Tu-20. Eine
Anzahl dieser Maschinen fliegt noch heute, nunmehr zumeist als Femaufklärer.
Mit diesem Konstruktionsauftrag war Brandner in die erste Reihe der sowjeti-
Baumusters ,,Nene" (Erstlauf 1944). Die Lieferungen begannen im März 1947 und
dauerten bis ins Jahr 1948 an.
Von den wertvollen importierten Triebwerken wurden die meisten sogleich
den Flugzeugkonstrukteuren übergeben. Einige wurden jedoch, ähnlich wie zuvor
Boeings B-29, in ihre Einzelteile zerlegt, vermessen, die Werkstoffe wurden ge-
prüft, und mögliche Verfahren zur Herstellung dieser Komponenten wurden konzi-
piert. Die Russifizierung der beiden Motoren leitete Chefkonstrukteur W.Ja. Kli-
mow. Er war für die Erledigung dieser Aufgabe mit seinem Team extra im Sep-
tember 1947 von seinem Stammsitz Leningrad nach Moskau verlegt worden. Am
30. Oktober 1947 wurden die ersten Produktionszeichnungen für den Nachbau der
britischen Triebwerke ausgegeben. Der ältere Rolls Royce "Derwent"-Motor wur-
de unter der Bezeichnung RD-500 in der Flugzeugfabrik Nr. 500 in Tuschino bei
Moskau nachgebaut, während die stärkere und modernere ,,Nene"-Turbine im
größten sowjetischen Flugmotorenwerk, der Fabrik Nr. 45 in Moskau, in Großserie
ging. Wie zuvor bei den nachgebauten Jumos und BMWs wurde offenkundig auch
für die Rolls-Royce-Triebwerke die Werknummer zur Bezeichnung des Motors be-
nutzt (obwohl diese Fabriken nicht nur dieses eine Aggregatfertigten).
Klimow war verständlicherweise nach seiner Arbeit mit den britischen Trieb-
werken glänzend gerüstet, das erste sowjetische Hochleistungstriebwerk zu ent-
werfen. Unter der Bezeichnung WK-1 entwickelte er aus der ,,Nene" ein moderne-
res Triebwerk, welches in den Fabriken Nr. 16 in Ufa, Nr. 19 in Kuibyschew und
der erwähnten Großfabrik Nr. 45 in Moskau in Serie ging. 40.000 Flugmotoren
dieses Baumusters wurden hergestellt.40 Die sowjetischen Flugzeugkonstrukteure
waren mit Klimows Rolls-Royce-Adaption von einer ihrer Hauptsorgen, dem Man-
gel an zuverlässigen und leistungsstarken Triebwerken, endgültig befreit. Das MiG-
Team erhielt schon im Februar 1947, ehe die ersten Britenjets eintrafen, exakte
Zeichnungen für den Einbau der Motoren, Die Verbindung zwischen britischem
Motor und der konstruktiven Begabung des MiG-Teams, später MiG-15 benannt,
erwies sich rasch als herausragender Erfolg, der Stalins Forderungen mühelos ein-
löste. Mindestens 5.000 dieser Jäger wurden in der Folge in der UdSSR gefertigt.
Sie sollten im Koreakrieg der US Air Force gehörigen Respekt einjagen.
Beute-Know-how
40 V gl. Sutton 1973, S. 278: "Sowjetische Düserunotoren und Propellerturbinen der ersten
Hälfte der 60er jahrestellten Ableitungen ... deutscher und britischer Triebwerke dar."
Die Luftfahrtindustrie 53
strie ein. Auch gilt, daß die erste Garnitur von rüstungstechnischen Experten im
Dritten Reich sich so einzurichten verstand, daß sie am Stichtag in westliche und
nicht in sowjetische Gefangenschaft geriet. Es gilt aber auch, daß hinter dieser er-
sten Garnitur eine zweite und dritte stand, mit der ersten häufig in Rivalität, die de-
zidiert für den Osten optierte, nachdem die Marschrichtung ihrer Vormänner deut-
lich wurde. Vom Direktor der V-2-Fertigung angefangen bis zum Leiter der Her-
stellung von reaktorfähigem Uran standen den sowjetischen Siegern versierte Rü-
stungsfachleute zur Verfügung, die allem Anschein nach für den Nachkriegserfolg
der sowjetischen Rüstungsanstrengungen große Bedeutung erlangen sollten.
Das Dritte Reich hatte in einer gewaltigen Kraftanstrengung gegen Kriegsende
eine Anzahl von Pioniertaten auf dem Gebiet der Rüstungstechnik erbracht. Fast
scheint es, daß mit dem Schwinden der Ressourcen und den zunehmenden Zerstö-
rungen infolge alliierter Bombardements eine Verlagerung der Energien hin auf
technologische Durchbrüche, ja auf Parforce-Ritte in Höchsttechnologie statt-
fand.41 Warum die deutschen Wissenschaftler mit geradezu frenetischer Arbeits-
wut sich der Erfüllung der immer exotischer ausfallenden Anforderungen der poli-
tischen und militärischen Instanzen hingaben und dabei, ohne auch nur die absur-
den Umstände dieser Technologieerzeugung in Rechnung zu stellen, wahre Groß-
taten vollbrachten, muß einer eigenen Erhellung überlassen bleiben. Ebenso der
Umstand, daß auch dem politischen Laien erkennbar werden mußte, daß die Nazi-
führung mit ihren Waffenwünschen moralisch deutliche Grenzen der Kriegstech-
nik überschritt.
Einiges an der sowjetischen Technologiebeute war von den Nazis für so ma-
kabre Zwecke vorgesehen, daß die Sowjets sie nicht nutzen mochten (so sehr ihnen
dies im Westen unterstellt wird). Mit Abstand an erster Stelle ist hier die Ausrü-
stung der sogenannten SO-Truppe der Luftwaffe anzuführen. Im SO (Selbstopfe-
rungs-Einsatz42) sollten zum Beispiel der Flieger Messerschmitt Me 328 verwen-
det werden. Da gemäß dem Einsatzzweck eine Landung des Piloten nicht vorgese-
hen war, wiesen diese Messerschmitts keine Fahrwerke auf. Hanna Reitsch führte
die ersten Flugversuche in Hörsching bei Linz aus, wo die Russen im April 1945
einige Unterlagen vorgefunden haben sollen. - Sicher ist, daß sie einer anderen
SO-Ausrüstung, des sogenannten "Reichenberg-Geräts" (einer besonderen Varian-
te der Flugbombe Fieselers) in Peenemünde habhaft wurden. Diese Version der V-
1 sollte von der SO-Truppe als Rammjäger eingesetzt werden.
Für die V-Waffen des Dritten Reiches interessierten sich alle Hauptsieger-
mächte. In den USA rivalisierten die Luftwaffe und die Navy um die fliegende
Bombe V-1. Die Flugzeugfirma Republic, gemeinsam mit Ford am Projekt betei-
ligt, hatte ihre Kopie der V-1 unter der Bezeichnung JB-2 im Oktober 1944 fertig.
Die Navy hatte mit einer Parallelentwicklung, auf den Namen "Loon" (Lümmel,
Bengel) getauft, große Pläne: Was die Nazis nicht geschafft hatten, sollte Wirklich-
41 Auch das japanische Regime erzeugte bei Kriegsende, was hierzulande wenig bekannt
ist, einzelne technische Höchstleistungen, etwa Düsenkampfflugzeuge. Am Vorabend
des Atombombeneinsatzes gegen Hiroshima startete etwa am 7. August 1945 der zwei-
motorige Jäger "Kikk:a" des Nakajima-Konzerns zum Erstflug, trotz mancher Älmlich-
keiten mit der Messerschmitt 262 eine vollständige Eigenentwicklung, mit Strahlen-
triebwerken von Osamu Nagano (nach Unterlagen des National Aerospace Museum der
Smithsonian Institution, Washington, D.C.).
42 Vgl. dazu Kens/Nowarra 1961, S. 468 f.
54 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?
keit werden,· und die V-1 sollte durch die Kombination mit einem Kemsprengsatz
eine wirkliche Vergeltungswaffe werden.43 DerEinsatz sollte von Ubooten aus er-
folgen- ein kühner Vorgriff auf die Technologie moderner Unterwasserkreuzer
mit Atomraketen.44 In Frankreich baute das staatliche "Arsenal de 1' Aeronautique"
noch bis Beginn der fünfziger Jahre V-I-Flugkörper, obwohl rasch sichtbar wurde,
daß mangels einer Vergeltungsstrategie für diese NS-Waffe im Nachkriegsfrank-
reich kein Bedarf bestand.45
Im August 1944 wurden von Heinkel, Junkers, Messerschmitt und dem frühe-
ren Fieseier-Mitarbeiter Bachern Selbstopferflugzeuge mit Raketenantrieb konzi-
piert (als die militärische Lage des Dritten Reiches sich noch verzweifelter entwik-
kelte, wurde die Wiederverwendung teurer Bauteile sowie der Piloten per Pali-
schirmlandung verfügt). Eine Bachern-Maschine fiel den Russen unversehrt in die
Hände, und in Rostock stießen sie auf die fast fertigen ersten beiden Heinkel-Ma-
schinen für solche Einsätze.
Als kultivierte Leute erwarteten die Sowjets auch unter künftigen Kriegsbedin-
gungen keine Selbstmordeinsätze, so daß die Holzflugzeuge der SO-Truppe mit ih-
ren unfallträchtigen Raketenmotoren46 für sie von keinem Nutzen waren. Auch an-
deres Kampfgerät, welches die Nazis zurückließen, dürfte wegen sonderbarer Bela-
stungen für die Piloten nicht weiter verfolgt worden sein. So verträgt der menschli-
che Körper Beschleunigungen im Liegen besser als im Sitzen, was die Konstruk-
teure der Henschel-Werke in Schönefeld bei Berlin gegen Kriegsende zu dem
Konzept führte, statt der üblichen Sitzhaltung in ihrem neuen Turbo-Schlachtflug-
zeug den Flugzeugführer liegend anzuordnen. Der erste Stuka Hs 132 war bei
Kriegsende fast fertig und gelangte bei der Einnahme Berlins unzerstört in den Be-
sitz der Sowjets. Die Henschel-Konstruktion wurde bei der Sichtung der Beute au-
genscheinlich als wenig nutzbringend ausgesondert.
Mit dem Aufruf des "Volkssturms" am 18.10.1944 durch Adolf Hitler leitete
das Dritte Reich vor seinem Untergang eine letzte große Mobilisierung ein, die den
Älteren als die übereilte Rekrutierung der 16- bis 60-jährigen unter dem Komman-
do von Parteifunktionären in Erinnerung geblieben ist. Praktisch unbekannt sind
die technischen Begleiterscheinungen der Proklamierung des Volkssturms geblie-
ben. Am 8.9.1944 wurde für die deutsche Flugzeugindustrie ein "Volksjägerpro-
gramm" ausgeschrieben. Das Projekt war im höchsten Maß phantastisch: Für die
Projektvorlage blieben den Firmen 12 Tage, am 20.9.1944 mußten die Bauzeich-
nungen abgegeben werden, am 1. Januar 1945 sollte der Serienbau beginnen. Be-
merkenswert bleibt, daß die Industrie diesen atemberaubenden Terminplan einhielt
und die aufgrunddes Metallmangels großenteils aus Sperrholz zu bauenden Düsen-
jäger pünktlich fertigstellte. (Noch atemberaubender sollte vielleicht der Umstand
ausfallen, daß nicht nur Firmensprecher, sondern auch der Lobbyjournalismus der
Industrie heute noch allergisch auf die Frage reagiert, ob nicht der Satz der Aus-
43 Hansen1988,S.216
44 Hansen 1988, S. 203
45 Ich habe die französischen Bemühungen kurz behandelt in dem erwähnten Beitrag in:
o.A., Frankreich und Deutschland. Forschung, Technologie und industrielle Entwick-
lung im 19. und 20.Jahrhunderl Akten des internationalen Kolloqiums, München 1988
46 Kens/Nowarra 1961 geben in ihrem Standardwerk eine nüchterne Unfallchronik. dieses
Sondergerätes.
Die Luftfahrtindustrie 55
Junkers EF 127
Messerschmitt Me 263
MiGI-270
schwerere Flugzeugkanone NS-37 vorzusehen. Alle vier Jäger sollten mit je drei
Testmaschinen zum frühest möglichen Zeitpunkt zur Verfügung stehen.
Bei der Kreml-Konferenz Ende Februar 1945 hatte Jakowlew gemeinsam mit
Lawotschkin die Instruktion erhalten, für den Entwurf eines ersten Düsenjägers auf
der Grundlage vorhandener Technologie (=deutscher Düsentriebwerke) vorzuge-
hen. Während Lawotschkin eine neuartige Maschine entwarf, entschloß sich Ja-
kowlew zur herkömmlichsten aller Lösungen: Er verband seinen erfolgreichen
Kolbenmotorjäger Jak-3 einfach mit dem neuartigen Düsenantrieb von Junkers
(vgl. Abbildung 5).52 Aufgrund der konservativen Vorgabe konnte Jakowlew kür-
zeste Umsetzungszeiten für seine Projektideen reklamieren. Schon drei Tage nach
der Sitzung waren die Drei-Seiten-Risse des neuen Jägers verfügbar. Ende Mai
1945, drei Monate nach der Kreml-Konferenz, konnte das Jakowlew-Team die er-
sten Produktionszeichnungen aushändigen. Ausgestattet mit erbeuteten Junkers-
Düsentriebwerken, hätte die Jakowlew-Maschine eigentlich das Ringen um den er-
sten sowjetischen Düsenstart mit Leichtigkeit, mit einem Zeitvorsprung von einem
halben Jahr, für sich entscheiden können. In der ersten Oktoberwoche 1945 war
der Jak-Düsenjäger fertig. Die neue Maschine hätte die Flugerprobung aufnehmen
können. Aus heute schwer verständlichen Gründen beschlossen Chefkonstrukteur
Jakowlew53 sowie die sowjetische Führung, diesen Schnellstarter zu ausgiebigen
Sicherheitstests zu nutzen, und die Flugerprobung erst im April 1946 zu beginnen,
gemeinsam mit dem Konkurrenzentwurf des MiG-Teams. Im Westen wäre eine
solche politisch verantwortete Verzögerung infolge der Rivalität von Rüstungsfir-
men schwer vorstellbar.
Aus irgendwelchen Gründen bekam das MiG-Team die BMW-Turbinen zuge-
wiesen. Zunächst mußte der erste MiG-Düsenjäger den Maßen der deutschen Mo-
toren angepaßt werden. Da die BMW-Aggregate kleinere Dimensionen aufwiesen
als die ursprünglich vorgesehenen sowjetischen Ljulkas, wurde der Rumpf des Jä-
gers schlanker ausgeführt. Die erste Testmaschine MiG-9 traf im Frühjahr 1946
auf dem Erprobungsgelände in Tschk:alowskaja ein, gleichzeitig mit der zuvor fer-
tiggestellten Konkurrenzmaschine des Jakowlew-Teams. Man warf eine Münze,
wem die Ehre des ersten sowjetischen Düsenstarts in der Geschichte gebühre. Zu-
fällig gewann die MiG und der Teampilot A.N. ,,Lescha" Griutschik flog am 24.
April1946 als erster.
Man kann nichtsagen, daß die Sowjets ihre neuen Düsenjäger sonderlich ge-
heim hielten. Beide Prototypen wurden am 18. August 1946 in der Luftparade von
Tuschino vorgeflogen (auch im Westen gilt es als riskant, Prototypenunerprobter
Technologien wenige Monate nach dem Erstflug international vorzuführen). Stalin
zeigte sich beeindruckt und verfügte, daß je zwölf Maschinen der beiden Düsenjä-
germuster bei der Parade zur Oktoberrevolution 1946 vorzuführen wären. 54
Das war eine abenteuerliche Instruktion, unter allen Umständen, in jedem
Land der Erde. Von fast unerprobten Flugzeugen, welche obendrein eine vollstän-
dig neue Technologie darstellten, sollten binnen drei Monaten jeweils Staffeln flie-
gen! Und dies von Produkten, für die nicht einmal die Werkstattzeichnungen für
Yak-3NK-107A
die Serie existierten. Diese Stalinsche Verfügung muß ein Alptraum für alle Betei-
ligten gewesen sein.
Doch Stalins Order war damals ein absoluter Befehl, so unsinnig er sein moch-
te. Mikojan bekam Minister P.Ju. Dementjew als Mitorganisator zugeteilt, und un-
ter Versprechung attraktiver Prämien wurden tatsächlich kurzfristig 60.000 Blatt
Zeichnungen erstellt sowie die 15 MiG-9-Jäger frei von Hand, ohne Bauvorrich-
tungen oder eine geordnete Bauplanung, in der geforderten Frist hergestellt. Diese
phantastische Anstrengung erwies sich freilich als vordergründig vergeblich: We-
gen Nebel mußte die Flugparade anläßtich des Jahrestages der Oktoberrevolution
1946 abgesagt werden.
Mit dem Eintritt in die neue Technologie hatten die Sowjets umweglos Tribute
zu zahlen. Da damals das Problem der Materialermüdung unbekannt war, löste
sich beim 20. Probeflug am 11. Juni 1946 ein Höhenruder beim Schnellflug des
MiG-Jägers, und die Maschine schlug geradewegs auf den Boden auf. Im August
wurden jedoch die Exemplare zwei und drei fertig und nahmen die Flugerprobung
auf.
Dem von Stalin ansonsten begünstigten Jakolew und seinem Team ging es
nicht besser als der MiG-Konkurrenz. Jakowlew bekam als Sekundanten aus dem
Regierungsapparat den Vizeminister A. Kusnetzow zugewiesen, und beide wurden
mit der Instruktion in eine ausgewählte Fabrik entsandt, diese persönlich nicht zu
verlassen, bis ihre zwölf Jak-15 fertig waren. Jakowlew berichtet, daß er
"alle Kopiereinrichtungen der Stadt mobilisierte und arbeiten ließ, um während der fol-
genden Tage unsere Blaupausen reproduzieren zu lassen, um 20 Sätze von Zeichnungen
oder 50-60 000 Einzelkopien zu erhalten."55
Über den Baufortschritt der ersten Serie sowjetischer Düsenjäger schreibt der so-
wjetische Konstrukteur, augenscheinlich von der ungewöhnlichen Erfahrung rapi-
den Fortschritts beeindruckt:
"Jedermann arbeitete mit beispiellosem Enthusiasmus, so daß unsere Düsenjäger Tag
für Tag in strikter Übereinstimmung mit dem Plan sichtbare Fortschritte zeigten ... Wir
sollten dies ein Wunder nennen, aber wir glauben nicht an Wunder. Wir glauben an die
Macht menschlichen Engagements, welche in diesem Falle das anscheinend Unmögli-
che zustande brachte- fast ein Wunder."56
Wie bei den MiGs entstanden die Jak-Düsenjäger in Handarbeit, zunächst gleich-
falls ohne die Nutzung von Vorrichtungen. Hernach wurden die Jaks mitsamt ihren
Jumo-Triebwerken zerlegt, in Kisten verpackt und per Bahn zum Testgelände ver-
frachtet - trotz des aberwitzigen Termindrucks erschien dem vorsichtigen Jakow-
lew die Flugüberführung als zu riskant. Die letzten Maschinen dieses verzweifelten
Dutzend verließen pünktlich am 5. Oktober 1946 die Fabrik, zwei Wochen vor
dem Schlußtermin. Auch ihre Flugvorführung anläßtich des Jahrestages der Okto-
berrevolution entfiel mitsamt der gesamten Flugparade.57
Es lohnt sich, beim Studium der sowjetischen Technologieakquisition auch die
gegenüber den beiden prominenten Teams, Jakowlew und MiG, weniger bekann-
ten Rivalen Suchoj und Lawotschkin zu betrachten. Beide wählten andere Wege-
und mußten dafür empfindliche Strafen hinnehmen.
Pawel Suchoj und sein Team hatten die einleuchtende Idee, ihren Jäger nicht
nur um deutsche Flugmotoren herum zu bauen, sondern einfacherweise auch die
dazu gehörige Flugzeugzelle nachzuempfinden. Mit der Wahl der Konstruktion Me
262 von Willy Messerschmitt traf Suchoj bei seiner Su-9 zwar ins Schwarze. Diese
Messerschmitt-Adaption (Abbildung 6) absolvierte pünktlich im Sommer 1946 ih-
ren Erstflug und erbrachte, kaum überraschend, im Vergleich mit der rivalisieren-
den anderen Zweimotorigen, der MiG-Konstruktion, überlegene Flugleistungen.58
Pawel Suchoj wurde trotz dieses Erfolges gegen die Prominenz nicht glück-
lich. Seine Maschine wurde abgelehnt, er selber landete im Gefängnis. Jakowlew59
denunzierte Suchoj bei Stalin: Die ganze Konzeption der Su-9/Messerschmitt sei
wenig wünschenswert und das Flugzeug obendrein schwierig zu fliegen. Stalin
scheint solchen angesichts der Erprobungsergebnisse nicht haltbaren Äußerungen
Glauben geschenkt zu haben. Es half dem Suchoj-Team nicht, daß der Entwurf
schleunigst russifiziert wurde (Typenbezeichnung der Umkonstruktion Su-11) -
mit der unautorisierten Kopie des Messerschmittjägers war ein Tabu verletzt wor-
den.
Das Lawotschkin-Team schließlich, durch Großserienproduktion seiner Kol-
benmotorjäger trotz diverser technischer Mängel verführt, meinte mit eben dersel-
ben Strategie auch bei seinem ersten Düsenjäger durchzukommen: Hauptsache, der
Entwurf stand, das Ausmerzen von Kinderkrankheiten hatte später Zeit. So gelang
es auch dieser Gruppe, im geforderten Rekordtempo um das deutsche Triebwerk
Jumo 004 herum eine Jagdmaschine zu bauen. Für die Parade zur Oktoberrevolu-
tion hatte man allerdings nur fünf Maschinen fertig. Dem Produkt La-150 merkte
man die Hast an, in der es konzipiert worden war. Das Flugzeug war ungenügend
durchkonstruiert und daher zu schwer. Die Startbeschleunigung ließ sehr zu wün-
schen übrig. Im Flug kam es zu unerwünschten Schwingungen des Hecks mit dem
Leitwerk, weil hier die Konstruktion zu wenig steif ausgeführt worden war. Ferner
zeigte dieser erste Lawotschkin-Jäger ein recht instabiles Verhalten im Flug.
Das Team konstruierte seinen erfolglosen Jäger mehrfach um, wobei zum Teil
wichtige Neuerungen eingeführt wurden. Um die Beschleunigung zu verbessern,
wurde hinter die Junkers-Turbine ein einfacher Nachbrenner eingebaut, eine der
ersten Konstruktionen dieser Art überhaupt. Von den Deutschen griff man die Idee
des gepfeilten Flügels auf. Der erste sowjetische Jäger mit dieser wichtigen Neue-
rung absolvierte im Juni 1947 seinen Erstflug.
Im März 1946 wiederholte Stalin seine Schockbehandlung der Jägerkonstruk-
teure. Wiederum hatten die Teamchefs im Kreml anzutreten, und Stalin diktierte
die technischen Vorgaben für eine neue Generation von sowjetischen Hochlei-
stungsjägern - nicht einmal ein Jahr nach dem ersten sowjetischen Düsenstart
überhaupt. Das Thema war diesmal Höhenjäger. Gefordert wurde in Kenntnis der
58 Die Messerschrnitt-Kopie ist ganz unstreitig, vgl. Alexander 1975, S. 336; Gunston
1983, S. 266 f.; Jakowlew 1972, S. 317
59 Es handelte sich augenscheinlich nicht um die einzigste Denunziation Jakowlews. Der
junge sowjetische Konstrukteur Semjon Michailowitsch Alexejew, 1946 soeben mit ei-
nem eigenen OKB selbstständig geworden, legte gleichfalls einen Entwurf für einen
zweimotorigen Jäger vor (Projektbezeichnung 1-211, Weiterentwicklungen 1-212 und 1-
215), dessen Prototyp durchaus mit Erfolg getestet wurde. Jakowlew befand jedoch, es
handele sich lediglich um ,,eine weitere Kopie der Me 262" von Messerschmitt. Alexe-
jew fiel in Ungnade, sein OKB wurde 1948 geschlossen. Vgl. Gunston 1983, S. 37
Die Luftfahrtindustrie 63
m_
~.----A=.-~
60 So etwa Wemer Keller (,,Die Bibel hat doch recht'') in seinem reißerisch geschriebenen
Buch: Ost minus West= Null. Der Aufbau Rußlands durch den Westen, München/Zü-
rich 1960, S. 378{379. Keller gibt anhand damals verfügbarer Quellen Darstellungen zu
weiteren in diesem Band behandelten Transfers.
61 Vgl. Gunston 1983, S. 161
Die Luftfahrtindustrie 65
der gesamten fünfziger Jahre laborierte das Team an gewagten Neuerungen. Eine
neuartige Steuerung ("Jäger 250") war jedoch so schwierig zu handhaben, daß
selbst die erfahrendsten Testpiloten aufgaben. Es gab Abstürze, und am Ende wur-
de das glücklose Konstruktionsteam aufgelöst. Auch in sowjetischer Literatur62
wird der frühe Tod von Chefkonstrukteur Lawotschkin im Juni 1960 mit seiner
Verbitterung über das widersprüchliche Schicksal seiner Flugzeuge in Verbindung
gebracht. Einzelne dieser merkwürdigen Apparate mit ihren ,,Elefantenohren" be-
nannten großen Lufteinläufen kann man noch heute im Museumsgelände von Mo-
nino bewundern.
Die leistungsstarken britischen Flugmotoren bzw. ihre sowjetischen Nachbau-
ten suchte auch das gegen die Prominententeams Jakowlew und MiG in der ersten
Runde unterlegene Suchoj-Team für einen spektakulären Erfolg zu nutzen. Im Ja-
nuar 1948 erfolgte die Ausschreibung des Entwurfs für einen ersten schweren All-
wetterjäger. Darunter war die Verbindung zwischen einem zweimotorigen Jäger
mit einem der für die Sowjets neuartigen Radargeräte zu verstehen. Neben der er-
wähnten Lawotschkin-Konstruktion legten die erfolgsgewohnten Gruppen MiG
und Jakowlew Entwürfe vor. Das Suchoj-Team suchte die Konkurrenz mit ihrem
Inkrementalismus, der schrittweisen Erweiterung der Leistungsfahigkeit von Waf-
fensystemen, durch einen großen Sprung nach vom zu schlagen. Das Team stellte
den ersten sowjetischen Überschalljäger (benannt Su-17) in Aussicht. Die Arbeiten
begannen 1948.
Soviel Ambition führte zum abrupten Ende. Am 3. Juni 1949 stürzte das Test-
exemplar von Suchojs Allwetterjäger ab, und es wurde absehbar, daß der neue
Überschalljäger so rasch wie versprochen nicht verfügbar würde. Auf persönliche
Empfehlung Stalins wurde das Konstruktionsbüro des unglücklichen Pawel Suchoj
am 1. November 1949 geschlossen, der Chefkonstrukteur wurde degradiert und der
Großteil seines Teams Tupolew zugeordnet. Es sollte knapp zehn Jahre dauern, ehe
Suchoj (der nach Stalins Tod eine entsprechende Bittschrift verfaßt hatte) wieder
ein Konstruktionsbüro leiten konnte. Nach der offiziellen Bestätigung entfaltete er
dort den gewohnten Schwung. Eine seiner Konstruktionen hemach, einer Suchoj
Su-15, gebührt der Verweis auf den Abschuß eines Jumbos der Korean Airlines im
Jahre 1983.
Auch der Bau sowjetischer Bomber profitierte von den beiden Technologie-
schüben aus dem Ausland, die mit der Besetzung Deutschlands und im Frühjahr
mit der Lieferung britischer Düsenaggregate ausgelöst wurden. Im Bomberbau ri-
valisierten nur zwei Teams, das von Iljuschin und das von Tupolew.63
Die deutsche Luftwaffe war die erste gewesen, die mehrmotorige Düsenbom-
ber einsetzte. Die Arada-Flugzeugwerke in Babelsberg bei Berlin hatten bis
Kriegsende 214 zweimotorige Bomber Ar 234 ausgeliefert. Noch im April 1945
wurde die jüngste Variante in die Flugerprobung gegeben. Es ist nicht bekannt,
was an Unterlagen der Firma Arado in die Hände der Russen fiel. Iljuschin konzi-
pierte jedoch seinen ersten Düsenbomber, die II-24, deutlich aufgrundvon Erfah-
rungen der Deutschen (vgl. Abbildung 7). In der Literatur wird die II-22 ferner mit
Arado Ar-234
(Erstflug 1943)
Heinkel He 343
(1945, Projekt)
Iljuschin ll-22
(Erstflug 1947)
Ähnlich wie bei der Flugwaffe erweist sich die sowjetische Panzerwaffe, studiert
man ihre Entwicklung unter technologischem Aspekt, in ihren Anfängen und in ge-
wissen Aspekten hernach als hochgradig von westlichen Technologietransfers ab-
hängig.
In der zaristischen Armee gab es keine Tanks. Auch in den Bürgerkriegsjahren
gab es keine Panzerfahrzeuge in Rußland. Die neuen sowjetischen Streitkräfte be-
obachteten jedoch mit Aufmerksamkeit die Entwicklung im Ausland. Die führte
zunächst zur Betonung einer Nebenlinie, der Leichtpanzer oder Tanketten.
In den zwanziger Jahren wurden verschiedentlich von sowjetischen Militärs
68 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?
64 Ogorkiewicz 1967, S. 31
65 Ogorkiewicz 1967, S. 31
Sowjetische Panzer 69
sem Feldzug zum erstenmal starke Hemmungen wegen der Unsicherheit über die
Stärke des Gegners gehabt habe und ich weiß nicht, ob ich den Entschluß gefaßt
hätte, wenn mir die gesamte Stärke des Sowjetheeres und besonders die gewaltige
Ausrüstung mit Panzern bekannt gewesen wäre"66).
Im Jahr 1939 verfügte die UdSSR mit 20.000 Fahrzeugen über ebensoviele
Kampfwagen wie der Rest der Welt, das Dritte Reich eingeschlossen. Von der rü-
stungsindustriellen Seite her hätte die Sowjetunion nicht besser auf die Schlachten
des Zweiten Weltkrieges vorbereitet werden können. Die Überlegenheit der Deut-
schen bestand einzig im überlegenen taktischen Konzept zum Einsatz der Kampf-
wagen.
Mit dem T-34 gewinnt die sowjetische Panzerentwicklung eigene Kompetenz.
In der Metallurgie der Stähle für Panzertürme kommen entscheidende Hinweise
von Wassili Emeljanow, die Auslegung der Tanks bestimmt seit 1940 Alexandr A.
Morosow, usf.67 Die sowjetischen Konstrukteure definieren im Rüstungswettlauf
ähnlich wie ihre westlichen Konkurrenten, was die Standards der Technologie
sind. Somit entfällt die Möglichkeit, nachholend westliche Entwürfe zu "beerben".
Der Glaube an westliche Prinzipien bleibt allenfalls in dogmenhaft fortgeschriebe-
nen Einzelentscheidungen aufzeigbar, wie etwa dem Festhalten an Christies großen
Panzerlaufrädern, die erst in den siebziger Jahren aufgegeben werden.
Die Panzertechnologie stellte sich, was im Vergleich mit anderen Rüstungswa-
ren überrascht, sehr früh und dann sehr starr auf ein Grundkonzept ein. Im Grunde
besteht seit dem F.T.-Fahrzeug von Renault aus dem Jahre 1918 bis heute- d.h.
seit 70 Jahren- ein Tank aus einem Bugteil, in dem der Fahrer mit den erforderli-
chen Ausrüstungen untergebracht ist, einem Kampfsegment im Mittelteil, welches
von einem rotierbaren Turm bestimmt wird, sowie dem Antriebsblock im HeckteiL
Alle Variierungen dieser Anordnung erwiesen sich als Fehlschläge, ebenso Modifi-
kationen wie Leichtpanzer (die in der sowjetischen Rüstung in den zwanziger Jah-
ren große Beachtung fanden) oder Schwerstpanzer. In dieser Richtung hatten die
Sowjets in den dreißiger Jahren einiges investiert, wie die Modelle Josef Stalin 1
bis 3 und KW anzeigen. Seither hat sich die mögliche Bandbreite der Technologie-
entwicklung bemerkenswerterweise auf ein Standardmodell verengt. Dessen Wei-
terentwicklung in bezugauf passiven Schutz, Beweglichkeit, Verstärkung der Lei-
stungsfähigkeit der Kanone fügte sich geschmeidig ein in Anforderungen des so-
wjetischen Industriesystems, welches eher inkrementale Verbesserungen als rapide
Innovationen zu absorbieren vermag. Im Westen verzeichnete Schritte wie der Ein-
bau von Flugmotoren in Panzern oder gar die Verwendung von Gasturbinen für
den Antrieb sind dem sowjetischen Panzerbau fremd geblieben.
Anhänger einer auf Personen bezogenen Geschichtsschreibung würden für die-
sen Konservatismus mutmaßlich den Tatbestand anführen, daß das Hauptkonstruk-
tionsteam für den Kampfpanzerbau von 1940 bis 1979 von ein und derselben Per-
son geleitet wurde, von Alexandr A. Morosow. Wie bis zur Wahl Gorbatschows
66 Zit. nach dem Kriegstagebuch des Dr. jur. Otto Bräutigam, hier Eintrag für den 16.7.
1941, veröff. von Götz Ali u.a., Biedermann und Schreibtischtäter, Materialien zur
deutschen Täter-Biographie, Berlin 1987, S. 137.
67 Emeljanow spielt später eine gewisse Rolle als stellvertretender Minister für den Atom-
bombenbau, vgl. Kap. 2. Seine Rolle bei der Entwicklung des T-34 wurde in Nachrufen
anläßlich seines Todes im August 1988 hervorgehoben. Der Turm des T-34 wurde un-
konventionellerweise in Schmiedestahl mit einem hohen Magnesiumanteil ausgeführt.
70 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?
auf der höchsten politischen Ebene üblich, gab Morosow seine führende Stellung
erst mit dem Tode auf. Sein Team war für alleneueren sowjetischen Panzermodel-
le, vom T-34 über den T-44, T-54, T-55 bis zum T-62 federführend.- Andere füh-
rende Panzerkonstrukteure zeigten ein ähnlich ausdauerndes Verhalten. Josef J.
Kotin, neben dem für mittelschwere Tanks verantwortlichen Morosow für den Ent-
wurf schwerer Panzer zeichnend, wirkte gleichfalls seit Kriegszeiten bis 1979. Alle
sowjetischen Panzerkanonen vom T-54 bis zum modernen T-72 stammen von ei-
nem Team, welches Fjodor F. Petrow leitete, usf.68
Das führende deutsche Panzerhandbuch befindet über den T-54/55, daß er
"in idealer Weise die Forderungen nach Einfachheit, Robustheil und Massenprodukti-
onsfähigkeit mit den von einem neuzeitlichen (Kampfpanzer) zu erwartenden Leistun-
gen vereint."69
Beim Nachfolgemodell T-62 befindet derselbe Fachautor, daß es in den Grundbau-
gruppen nach wie vor mit dem Erfolgsmuster T-34 identisch sei.70 Aufgrund eige-
ner Kompetenz erwarteten die sowjetischen Panzerbauer aus der Hinterlassen-
schaft des Dritten Reiches wenig für sie Neues. Allenfalls einzelne Nebengeräte
wie der deutsche 5,7 cm-Flakpanzer fanden Interesse bei den sowjetischen Fach-
leuten (das im Dritten Reich auch unter der Bezeichnung "Gerät 58" bekannte
Fahrzeug wurde als Panzerflak ZSU 57 nachgebaut und in der zweiten Hälfte der
siebziger Jahre auch an Verbündete wie die NVA, Polen, die CSSR und Ägypten
ausgeliefert).71
Im Westen wird vielfach behauptet, sowjetische Panzer auch modernster Bau-
art seien westlichen Gegenstücken nicht gleichwertig, sondern technisch unterle-
gen. Friedensforscher und andere nutzen diese Aussage für die These, die zahlen-
mäßige Unterlegenheit der NATO bei den Tanks würde durch die überlegene Qua-
lität der Westkampfwagen ausgeglichen. Wenn die These von der allgemeinen Un-
terlegenheit sowjetischer Panzerfahrzeuge zutrifft, ist dann auch in diesem Sektor
die sowjetische Industrie nach wie vor im Aufholen begriffen?
Bei einem rein technischen Vergleich trifft zu, daß sowjetische Fahrzeuge we-
niger elektronische Hilfsausrüstungen aufweisen, mit einfacheren Visiereinrichtun-
gen ausgestattet oder für die Besatzung weniger komfortabel eingerichtet sind. Ob
dies allerdings die den Ausschlag gebenden Merkmale für Panzer als Kampfma-
schinen sind, bleibt zumindest strittig. Die Auffassungen sowjetischer Panzerkon-
strukteure über die Optimierung ihrer Fahrzeuge richten sich deutlich auf militäri-
sche Gebrauchseigenschaften wie Eignung unter rauben Einsatzbedingungen oder
einfache Bedienung, Wartungsfreundlichkeit und einfache Reparaturmöglichkei-
ten. Es mag sein, daß grundsätzliche Neuerungen im Bau von Tanks wie die soge-
68 Daten nach Zaloga/Loop 1987, S. 22.- Erneut ist zu unterstreichen, daß der Chefkon-
strukteur nicht notwendig selber die Produkte erzeugt hat, die mit seinem Namen ver-
bunden werden. So hat nicht Teamchef Kotin, sondern sein Untergebener Schasclunu-
rin den bekarmtesten Leichtpanzer der Sowjets in der Nachkriegszeit, das Modell PT-
76, konzipiert, usf.
69 Senger-Etterlin 1969, S. 287
70 Senger-Etterlin 1969, S. 298
71 Vgl. Senger-Etterlin 1969, S. 350
Giftgas 71
1.3 Giftgas
72 Über das qualitative Wettrüsten im Panzerbau vgl. im einzelnen etwa meinen Beitrag
"Trends in the Improvement ofConventional Offensive Weapons: The Tank and Boun-
daries in the Technological Arms Race", in: Gutteridge{faylor 1983
73 Vgl. Barry 1988, S. 29.
72 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?
77 Brief J.W. Stalins an Churchill vom 29.3.1942, in: Briefwechsel Stalins mit Churchill,
Attlee, Roosevelt und Truman, 1941-1945, Kommission für die Herausgabe diplomati-
scher Dokumente beim Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, dt.
Berlin 1961, S. 53.- Churchill antwortet am 10.4.1942, daß die Engländer "bestimmt ...
wenigstens 1000 Tonnen Senfgas und 1000 Tonnen Chlorgas mit dem ersten verfügba-
ren Schiff liefern" könnten (1961, S. 54). Stalin antwortet (am 22.4.42, ebd., S. 54 f.):
,,Ich danke für Ihre Bereitschaft, 1000 Tonnen Senfgas und 1000 Tonnen Chlorgas zu
liefern. Da aber die UdSSR andere chemische Produkte dringender benötigt, hätte die
Sowjetregierung dafür lieber 1000 Tonnen Kalziumhypochlorid und 1000 Tonnen
Chloramin oder, falls die Lieferung dieser Produkte unmöglich ist, 2000 Tonnen flüssi-
gen Chlors in Ballons. Die Sowjetregierung beabsichtigt, den Stellvertreter des Volks-
kommissariats für die chemische Industrie, Andrei Georgiewitsch Kasatkin, als ihren
Experten für chemische Waffen für Verteidigung und Gegenangriff nach London zu
entsenden."
78 Nach Groehler 1980
79 So der "Stern" lt. Brauch 1982, S. 93
80 SIPRI1971, S. 305
81 Groehler 1980, S. 10 f. Auch Groehler betont nach der Prüfung von Quellen, daß die
Anlagen eher unversehrt geblieben sein werden.
74 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?
82 Nach Akten des Imperial War Museum, London (hier No. CXXIII-7 vom 29.5.45, S. 5
f., zit. nach Groehler 1980), S. 323. Ebenso der bekannte Chemiker Otto Ambros, da-
mals Leiter der Kampfmittelentwicklung im Rüstungsministerium: Er "betonte mit
großem Nachdruck, daß das Werk Dyhemfurth von den Russen völlig intakt übernom-
men wurde" (IWM, CXXII-34 v. 25.7.1945).
83 Sterling Seagrave, Yellow Rain. A Journey through the terror of chemical warfare, New
York 1981, zit. nachBrauch 1982, S. 95. Dort auch die folgenden Angaben.
84 Nach Brauch 1982, S. 96
Giftgas 75
reicht hat. Gegenüber diesen neuen Kampfstoffen nehmen sich die Tötungsverfah-
ren in den Vernichtungslagern als chemisch primitiv aus.
Die Leitung des IG-Farbenkonzerns zeigte aufgrund ihres Interesses am Aus-
landsgeschäft zunächst- wie auch Fachhistoriker aus der DDR hervorheben - we-
nig Neigung, sich erneut in der Herstellung von Kampfstoffen zu betätigen. Mit
der offenen Aufrüstung des Dritten Reiches ändert sich jedoch diese Haltung. 1936
erfindet ein IG-Farben-Chemiker den Kampfstoff Tabun (bekannt geworden als
"Grünkreuz"). Die Herstellung im Großenwird dem Werk Dyhernfurth übertragen,
welches die Sowjets bei Kriegsende augenscheinlich unzerstört erobert haben. Im
Dezember 1941 wird Hitler die Entdeckung eines weiteren Nervengiftes gemeldet,
welches später Sarin genannt wurde. Die Wirkung ist gleichartig der des Tabun, je-
doch sechsmal stärker. 1942 setzt die Fertigung ein. 1944 entdeckte der Nobel-
preisträger Richard Kuhn ein Nervengas, benannt Soman, das die Wirkung des Sa-
rin um das Dreifache übertrifft.
Zu unterstreichen ist, daß es sich nicht ausschließlich um deutsche Erfindungen
handelt. Die SIPRI-Studie über Chemiewaffen hebt hervor, daß im Reich zur Her-
stellung von Sarin ein Reaktionsablauf verwendet wurde, den der sowjetische Che-
miker Arbusow entwickelt hatte.85
Ähnlich wie bei den Flugzeugwerken, Raketenforschungseinrichtungen oder
Waffenfabriken haben die Sowjets beim Einmarsch ins Reichsgebiet mutmaßlich
auch deutsche Chemiker aufgegriffen, nicht nur aus den erwähnten Giftgaswerken,
sondern auch aus den großen mitteldeutschen Chemiewerken. Welche prominenten
deutschen Chemiker in die UdSSR verbracht wurden und dort an Kampfstoffen ar-
beiteten, ist bislang nicht bekannt geworden. Befragungen von in der UdSSR einst
tätigen Chemikern ergaben, daß die älteren Fachkollegen im 1. Weltkrieg mit gro-
ßer Selbstverständlichkeit an der Vervollkommnung der Gaswaffe mitgewirkt hät-
ten und sich im 2. Weltkrieg entsprechenden Aufforderungen nicht hätten entzie-
hen können. So wird auf Max Vollmer verwiesen, der sich besonders mit Chlor
und Schutzmitteln gegen Kampfstoffe auf Chlorbasis befaßt habe.86 Angesichts
des großen Interesses der sowjetischen Seite an Chemiewaffen und der nach dem
Kriege einsetzenden umfangreichen Herstellung solcher Kampfmittel erscheint die
Spekulation triftig, daß mit den von den Sowjets abmontierten deutschen Giftgas-
werken auch das spezialisierte Personal in die UdSSR wanderte und in der Sowjet-
union entsprechende Aufbauhilfe leistete. Biographische Referenzwerke über deut-
sche Chemiker, die nach dem Kriege eine Zeitlang in der UdSSR gearbeitet haben,
weisen verständlicherweise nicht darauf hin, ob jemand an Waffenentwicklungen
teilgenommen hat.Groehler berichtet ausfühlich über die Behandlung führender
Kampfstoffchemiker durch die Westmächte- daß wie in anderen rüstungstechni-
schen Bereichen niedrigrangiges, gleichwohl wichtiges Forschungspersonal in die
UdSSR abwanderte, ist auch von seinem Material her nicht auszuschließen.S7
Über die neuere sowjetische Chemiewaffenentwicklung ist bis in die jüngste
Zeit wenig bekannt geworden. Die sowjetischen Bestände sind amerikanischen
Angaben zufolge die größten der Welt. Übungen mit chemischen Waffen und
88 Die Berichterstattung über die Vorführung in Schichany stützt sich auf eine Auswer-
tung der Nullausgabe von "Chemical Weapons Convention Bulletin", i.V. durch die
Federation of American Scientists, Washington, D.C. 1988, S. 5. -Die Aussage von
Pikalow erfolgte dieser Quelle zufolge im sowjetischen Fernsehen am 10. November
1987.
89 dpa, 16. Nov. 1987
90 Brauch 1982, S. 137
Raketen 77
1.4 Raketen
91 Prawda, Krasnaja Swesda, Tass am 27. Dez. 1987. Einen Monat später, am 27. Januar
1988, fordert der sowjetische Chemiewaffenunterhändler Nikita Smidowitsch auf einer
Pressekonferenz in Genf, die Westmächte sollten ihrerseits die Chemiewaffenbestände
offenlegen.
92 Das im Westen wenig bekannte Ergebnis, benannt "10K", wurde zur Bewaffnung von
mittleren Bombern Tu-2 eingesetzt
78 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?
te im Team des Generals Gaidukow war Koroljow, der den Rang eines Obersten
innehatte.96
Aufwestalliierter Seite war man sich der Bedeutung dieser sowjetischen Ak-
quisition bald bewußt. In einer britischen Historie zur Geheimwaffenentwicklung
wird mit Bezug auf die Sowjets geklagt:
"Sie erhielten den gesamten Komplex Nordhausen, mit den Windtunnels und Labors,
sowie den verbliebenen deutschen Wissenschaftlern unter der Leitung von Helmut
Gröttrup. "97
Die Produktion der V-2 lief auf diese Weise bis in den Oktober 1946. In einer dra-
matischen Aktion wurden dann (zum gleichen Zeitpunkt wie der Düsentriebwerk-
bau bei Junkers oder die Flugzeugfertigung in der sowjetisch besetzten Zone) am
22. Oktober die 200 wichtigsten Mitarbeiter mit ihren Familien und ihrer Habe, im
Falle Gröttrup samt Boxerhündin und BMW, vor allem aber mitsamt allen abmon-
tierbaren Fabrikationsanlagen, auf Eisenbahnzüge verladen und in die UdSSR ver-
frachtet. Die übrigen der 5000 damals in den Zentralwerken Beschäftigten wurden
entlassen. Zeitgenössischen Berichten zufolge kam in der fraglichen Oktoberwo-
che dergesamte zivile Eisenbahn- und Telefonverkehr in der SBZ zum Erliegen.
Das V -2-Team wurde in Moskau in einem Vorort untergebracht und erhielt die
Aufgabe, die Raketenfertigung neu einzurichten. Das gelang binnen eines Jahres.
Am 30. Oktober erfolgte in der kasachischen Steppe, rund 200 km von Stalingrad
entfernt, der erste scharfe Start der nunmehr R 1benannten V-2. Selbst der Start-
turm war aus Peenemünde importiert worden. Was fehlte, mußte improvisiert wer-
den. Russische Infanteriepioniere waren kurzfristig zu Meßtechnikern umgeschult
worden, die die deutschen Kinotheodoliten zur Flugbahnvermessung zu bedienen
hatten. - Beim zweiten Startversuch versagte die Steuerung, hernach erfolgten je-
doch täglich Schießversuche mit den in der UdSSR montierten oder nachgebauten
V-2.
Ungewiß bleibt, was den Russen bei ihrem Einmarsch sonst noch an Raketen-
technologie in die Hände fiel, etwa bei Rheinmetall in Berlin (hinter Krupp die
größte Waffenschmiede im Dritten Reich). Die Rheinmetall-Borsig AG hatte schon
vor dem Kriege mit der Entwicklung einer Folge von Artillerieraketen begonnen.
Militärische Bedeutung erlangte die Flakrakete ,,Rheintochter'' und vor allem das
über 220 Kilometer Reichweite verschießbare Folgemuster "Rheinbote" (im No-
vember 1944 wurden 220 "Rheinboten" gegen Antwerpen eingesetzt). Aus Mangel
an Informationen läßt sich das weitere Schicksal dieser "Rhein"-Geschosse nicht
verfolgen.
Die überragende Bedeutung der V-2 für das sowjetische Raketenprogramm ist
schon äußerlich daran sichtbar, daß die amtliche Typen-Nummerierung von Fernra-
keten in der UdSSR mit ihr als "R 1" (Raketa 1) einsetzt. Bemerkenswerterweise
fängt auch die amerikanische Aufklärung an, die sowjetische Raketenrüstung mit
der V-2 zu chiffrieren. Mit der durch die Mittelstreckenwaffe SS-20 allgemein be-
kannt gewordenen Kategorisierung ("SS" heißt nichts weiter als "surface-to-sur-
face", Boden-Boden, wobei "Rakete" zu ergänzen ist) wird das deutsche Fernge-
schoß als erstes klassifiZiert und erhält den Code-Namen SS-1.
Im Dezember 1947 bekam das Gröttrup-Team von den Sowjets eine neue Auf-
gabe gestellt In dem "Wissenschaftlichen Sowjet", der hierfür einberufen wurde,
trafen die Deutschen auf den in unseren Tagen als Verteidigungsminister und Mar-
schall bekannt gewordenen Dimitrij Ustinow. Gefordert wurde nunmehr eine neue
Rakete mit einer Reichweite von 910 km, dem Dreüachen der Leistung der V-2.
Die sowjetische Bezeichnung lautete wahrscheinlich ,,R-10". Die amerikanische
Aufklärung klassifizierte später das Gröttrup-Geschoß als "SS-2" und gab ihm,
wohl wegen der Ähnlichkeit mit dem Vorgängermuster, den Code-Namen "Sib-
ling", "Geschwister''.
Das deutsche Team wurde, nachdem die Nagelprobe bestanden war und die
grundsätzliche Gangbarkeit dieses Weges zur Raketenfertigung erwiesen war, auf
eine Insel in den Wolga-Quellen, im Seliger See, in die Nähe des Ortes Ostasch-
kow verlegt. Die 200 Raketenfachleute, mit ihren Angehörigen insgesamt 500
Deutsche, sollten hier knapp fünf Jahre verbringen, ehe sie in Schüben Ende 1953
nach Deutschland zurückkehren durften.
Im Dezember 1948 wurden die ersten Brennversuche mit einer neuartigen Ra-
ketenbrennkammer durchgeführt und im gleichen Monat einem "Wissenschaftli-
chen Sowjet" vorgetragen. Dort stellten die Deutschen zu ihrem Mißvergnügen
fest, daß ein sowjetisches Parallelteam unter Korgoljowski zum Teil die gleichen
Problemlösungen bei der Steuerung verwendete wie sie selber. Die SS-2 wurde
fristgerecht fertig, aber entgegen allen Hoffnungen bedeutete dies nicht das Ende
des Exils der Raketentruppe. (Das Projekt wurde im Laufe des Jahres 1952 einge-
stellt.)
Am 9.4. 1949 erhielt das Gröttrup-Team die Aufgabe, eine Interkontinentalra-
kete zu konzipieren, die aufgrundder geforderten Nutzlast von drei Tonnen augen-
scheinlich eine Kernwaffe transportieren können sollte. Die Reichweite dieser als
"R-14" bezeichneten Rakete98 sollte 3000 km betragen. Die ungewöhn14;he Lö-
sung dieser überaus anspruchsvollen Aufgabe erfolgte nach gründlichen Studien,
bei denen zehn verschiedene Varianten durchgerechnet wurden. Es entstand eine
Kegelrakete (vgl. Abbildung 8). Die ungewöhnliche Form sollte der westlichen
Spionage viel Kopfzerbrechen bereiten. - Die Deutschen legten am 22.10.1949
einen detaillierten Entwurf für die R-14 vor. Der einstufige Flugkörper sollte bei
einem Startgewicht von 73 Tonnen mit flüssigem Sauerstoff und einem gleichfalls
flüssigen Brennstoff 100 Tonnen Schub entfalten.
Ziemlich genau am dritten Jahrestag ihres Sowjetunion-Aufenthaltes erhielten
die Deutschen an diesem Oktober-Sowjet grünes Licht für die Durchkonstruktion
ihrer Rakete und deren Fertigungsvorbereitung, erneut in Anwesenheit von Mini-
ster Ustinow. Über das weitere Schicksal ihrer Konstruktion erfuhren die Deut-
schen nichts. Bis zu ihrer Heimkehr wurden sie in einer so von den Sowjets ge-
nannten ,,Abkühlperiode" mit wenig anspruchsvollen anderen Aufgaben betraut.
Der Brennstoffexperte Dr. Jochen Umpfenbach zum Beispiel, im Kriege bei der
Physikalisch-Technischen Reichsanstalt tätig, führte verschiedene Brennversuche
aus. Gröttrup hatte zunächst ein Statoskop, hernach ab September 1953 eine elek-
tronische Rechenmaschine zu entwerfen.
Vorspritze
..- Sprengring
- Nutzlust
.·;· ' Sprengring
'•
Koroljow, unter dessen förmlicher Leitung die deutsche Gruppe wirkte, sollte mit
seinen nachfolgenden Flüssigkeitsraketen für die Raumfahrt Weltruhm gewinnen,
besonders für die Trägerrakete des ersten Erdtrabanten "Sputnik". Die Führung der
Streitkräfte war mit seinen militärischen Entwicklungen weitaus weniger zufrie-
den. Zwar schuf Koroljow mit dem Typ R-7/"SS-6" die erste serienmäßig aufge-
stellte Interkontinentalrakete der UdSSR. Als Waffe war diese Rakete aber einiger-
maßen unpraktisch. Sie geriet mit rund 30 Metern Länge und mehr als 4 Metern
Durchmesser und einem Leergewicht um 80 Tonnen so unhandlich,99 daß sie über
längere Strecken nur per Schiene befördert und daher nur in der Nähe von Eisen-
bahnstrecken stationiert werden konnte.lOO Koroljow hatte bei der Wahl des Treib-
stoffs auf einen von dem Gröttrup-Team im Herbst 1950 vorgelegten Vorschlag
zurückgegriffen und statt Sauerstoff Salpetersäure als Oxydator und Alkohol als
Brennstoff vorgesehen. Die Auftankzeit mit der gefährlichen Treibstoffkombina-
tion betrug 20 Stunden, und eine mit diesen flüchtigen Stoffen aufgetankte Rakete
konnte nur kurze Zeit startbereit gehalten werden.- Von Koroljows erster Militär-
rakete wurden lediglich ein Dutzend Exemplare aufgestellt)Ol Der von den NA-
TO-Aufk11!rern vergebene Code-Name "Sapwood", "Grünholz", deutet möglicher-
weise an, daß man auf der anderen Seite die Schwächen dieses Geschosses durch-
auskannte.
Für die künftige Entwicklung sowjetischer militärischer Raketen ungleich
wichtiger wurden die Konstruktionen von Michail K. Jangel. Dieser war deutscher
Abstammung, hatte als Flugzeugkonstrukteur in den Teams von MiG und Mia-
sischtschew gearbeitet (und soll nach Cockbum "im Zweiten Weltkrieg als Agent
der Roten Armee das deutsche V-1 Programm ausspioniert" haben).102 Jangel war
nach dem Kriege als Stellvertreter Koroljows tätig. Unter seiner Leitung wurden
die ersten einsatzfaltigen Mittelstreckenraketen fertiggestellt, das Geschoß R -12 im
Jahre 1957 und der technisch ähnliche Flugkörper R-14 im Jahre 1959. Als SS-4
und SS-5 sind diese beiden Raketen von großer Bedeutung für die europäische Si-
cherheit gewesen. Thre Ablösung durch die RSD-10/SS-20 führte zu einer größeren
Kontroverse im Westen und zum Aufstieg der neuen Friedensbewegung.
Jangel wurde 1954 zum Konstruktionsleiter in Dnepropetrowsk befördert. Der
Ort war damals wichtig - es handelte sich um die Heimatstadt Leonid Breschn-
jews. Ähnlich wie amerikaDisehe Präsidenten dafür Sorge trugen, daß ihre Heimat
vom Raumfahrtboom profitierte (Texas wurde ein wichtiger Raketenstaat, weil
Lyndon B. Johnson dort geboren worden war), setzte sich Breschnjew schon als
für die Rüstungsindustrie zuständiges Mitglied des Politbüros so für seine Vater-
stadt ein, daß diese heute mit 185.800 Quadratmetern überdachter Hallenfläche das
größte Raketenwerk der Welt beherbergt. - Nach der SS-7, der ersten wirklich er-
folgreichen sowjetischen Interkontinentalrakete, leitete Jangel die Entwicklungsar-
beiten für die Projekte RS-16 (SS-17) und RS-20 (SS-18), bevor er 1971 starb.
Um die Technologie-Basis ihrer Raketenrüstung zu verbreitern, beförderten
die Sowjetbehörden Mitte der fünfziger Jahre Tschelomej an die Spitze eines eige-
nen Konstruktionsbüros. 1958 wurde Alexandr D. Nadiradzel03 in gleicher Weise
an die Spitze eines selbständigen Teams in Bisk gestellt. Nadiradze erhielt die
schwierige und von vielen Fehlschlägen begleitete Aufgabe, sowjetische Fernrake-
ten mit Feststoffantrieb zu entwickeln. Das scheint, nach problematischen Zwi-
schenschritten mit den Flugkörpern RS-12 (SS-13, nur 60 aufgestellt) und RS-14
(SS-16) mit der RSD-10 (SS-20) nunmehr gelungen.- Mit diesen drei Namen-
Jangel, Tschelomej und Nadiradze- sind die wichtigsten sowjetischen Konstrukti-
onsbüros für Militärraketen angegeben.
101 Auf Koroljows Konstruktionstätigkeit gehen neben der auch von der Nationalen
Volksarmee der DDR verwendeten SS-lB "Scud" die- möglicherweise an das deut-
sche Projekt ,,R-14" angelehnte -erste Mittelstreckenrakete R-5 ,,Pobjeda"/SS-3 als
Vormodell der SS-4 und SS-5 sowie die Konzeptionen der Fernwaffen SS-8 und SS-
10 zurück.
102 Cockburn 1983, S. 161
103 Alexandr Davidowitsch Nadiradze wurde erstmals 1939 bekannt, als er gemeinsam
mit Nikolai lwanowitsch Jefremow die Gruppe SJeN bildete (S steht für Samoljot
oder Flugzeug). Mit sogenannten Luftkissen, aufgepumpten Gummipolstern, sollten
Flugzeuge leichter auf Wasser, Eis oder Schnee landen können. Die deutsche Invasion
beendete diese Versuche.
Ergebnisse 83
1.5 Ergebnisse
Das Studium der sowjetischen Rüstungsimporte über die Jahrzehnte läßt eine Rei-
he von wichtigen Schlußfolgerungen zu, die z.T. noch heute für das Rüstungsver-
halten der Sowjetunion Gültigkeit haben. Auf die Frage, wie abhängig die UdSSR
von Zufuhren moderner Rüstungstechnologie ist, wie das Verhältnis legaler (von
staatlichen Stellen im Ausland legitimierter) zu politisch nicht legitimierter Aus-
fuhr ist, sowie auf die Frage, in welchem Verhältnis Technologietransfer und so-
wjetisches Innovationsverhalten stehen, lassen sich Antworten formulieren. Diese
Antworten gestatten zugleich Aussagen über den Stellenwert der Problematik in
der sowjetischen Politik und die routinemäßige Befassung mit solchen Fragen im
politischen System der UdSSR heute und in der Zukunft.
Läßt man die vorstehenden Einzelstudien Revue passieren, so fallen gravieren-
de Sektorenunterschiede ins Auge. In der Panzerrüstung und bei den Chemiewaf-
fen ist, soviel sich mit Sicherheit konstatieren läßt, die Phase nachholenden Korn-
pelenzerwerbs auf sowjetischer Seite abgeschlossen. In diesen Rüstungsbereichen
handelt die UdSSR eigenständig und folgt eigenständigen Konzepten. Dies schließt
nicht aus, daß von sowjetischer Seite Entwicklungen anderswo intensiv beobachtet
werden (vulgär spricht man von Spionage), aber diese Beobachtung dient anderen
Zwecken als dem Ziel, hier sowjetische Rückstände auszugleichen. Im Ergebnis
ähnliche Aussagen lassen sich bei der Rüstung mit Fernraketen treffen, einem Feld
hochgradig bilateraler Rivalität mit den USA. Die Vereinigten Staaten schützen
ihre Raketentechnologie dermaßen und gehen hier auch schwer prognostizierbare
Wege (wie den der Entwicklung von Marschflugkörpern), daß die Sowjetunion
schwerlich die herkömmlichen Mittel der Informationsbeschaffung hätte nutzen
können, um im Wettrüsten ihre Position zu halten. Anders nimmt sich die Situation
in der Luftrüstung und anderen konventionellen Feldern des Wettrüstens aus. Die-
se Bereiche werden deswegen in diesem Schlußabschnitt besonders betrachtet.
Das knappe Porträt gibt vor allem eines wieder: den lebhaften Import von
Flugtechnik über Jahrzehnte. Das ist für eine führende Militärmacht ein ganz unge-
wöhnlicher Tatbestand. Weder die USA noch Großbritannien oder das Großdeut-
sche Reich waren in diesem Maße von ausländischer Technologie abhängig. Syste-
matische Schwierigkeiten scheinen die Sowjets dabei, besonders bis 1947, beim
Import nicht gehabt zu haben. Kampfflugzeuge wurden als Muster oder in großer
Stückzahl erworben. Im Alltag der sowjetischen Flugzeugindustrie wurden fort-
während anspruchsvolle Bauteile wie ausländische Motoren oder Propeller ver-
wendet. Auch die Bewaffnung der Flugzeuge stammte hin und wieder aus dem
Ausland, wie sich technischen Handbüchern entnehmen läßt.
Systematischer gefaßt, ist eine erste Phase seit der Gründung der UdSSR bis
zum Ausbruch des Kalten Krieges (in der relativ frei ausländische Rüstungsgüter
erworben werden konnten) zu trennen von einer zweiten Phase scharfer Ost-West-
Konfrontation (hier von 1947 bis 1967 angesetzt), gefolgt von einer dritten Phase
dominant indigener Technologiekonzeptionen. Obwohl die Gewichte des auswärti-
gen Beitrages zur sowjetischen Rüstung unterschiedlich zu bestimmen sind, bilden
internationale Transfers in allen Phasen einen durchgängigen Aspekt.
Für die zweite Phase spielt der Erwerb deutscher Technologie nach 1945 eine
maßgebliche Rolle. Die Beteiligung der deutschen "Spezialisten" an der Konstruk-
tion der ersten sowjetischen Kernwaffe sowie deren Trägermitteln, beim Übergang
der sowjetischen Flugwaffe auf den Strahlantrieb und in der Raketentechnik er-
weist sich in einzelnen Schlüsselbereichen doch größer, als gemeinhin angenom-
men wurde.
Nach 1967 setzt eine dritte Phase ein, in der die Funktionsmechanismen und
die Bedeutung ausländischer Militärtechnologie erneut anders zu bestimmen sind.
Diese bis in die jüngste Zeit anhalten Phase soll sogleich differenziert betrachtet
werden. Zur Charakteristik der Vergangenheit sei festgehalten:
Unmittelbar nach Ausrufung der Revolution durch die Bolschewiki setzen signifi-
kante Rüstungstransfers ein, provozierenderweise aus eben jenen Ländern, die In-
terventionsstreitkräfte zur Bekämpfung der ,,Roten" nach Rußland entsenden. Fast
Jahr für Jahr lassen sich Transfers von Militärgerät bei Kapitalgütern (vor allem in
der Luftrüstung, Tanks, Chemiewaffen) nachweisen. Obwohl eine Anzahl von
Konstruktionen russischer Herkunft zu verzeichnen ist, dominieren in der Ferti-
gung ausländische Konzepte, besonders nach der Einrichtung des Junkers-Werkes
inMoskau.
Überzeugte Kommunisten unter westlichen Konstrukteuren tragen zum Auf-
bau sowjetischer Rüstungskapazitäten bei.
Ergebnisse 85
Kurz vor Ausbruch des Krieges mit dem Deutschen Reich kommt es zu signi-
fikanten Technologietransfers mit den Nationalsozialisten, hernach mit den West-
mächten. Im Krieg sichert das Leih- und Pachtgesetz einen fortwährenden Zustrom
westlicher Technologie. - Am Ende dieser kooperativen, von politischen Gegen-
sätzen wenig geprägten Phase steht der Transfer von britischen Düsentriebwerken
im Jahre 1947.
Zunächst stand die Integration der durch den Sieg über Nazideutschland erworbe-
nen Spitzentechnologien (Raketen, Düsenantrieb für Jäger und Bomber, Raketen,
Urantechnologie) im Vordergrund. Andere Technologietransfers (Kopie des Bom-
benträgers Boeing B-29 und dergleichen) erreichten nicht die gleiche Bedeutung.
Daß die kriegszerstörte UdSSR schon (und nicht: erst) 1949 mit der Zündung
einer Atombombe mit den USA in einen nuklearen Rüstungswettlauf eintreten
konnte, ist auch dem Einsatz und der Improvisation der beteiligten deutschen Wis-
senschaftler zu danken (Beispiel: Erzeugung der entscheidend wichtigen Dia-
phragmen für die Isotopentrennung). Illegale Technologietransfers aus den USA
(bestätigte Beispiele: Uranhexafluorid-Technologie, Proben von waffenfähigem
Uran) scheinen eine begrenzte Rolle gespielt zu haben.
In der Breite und der Tiefe der sowjetischen Rüstung verlieren internationale
Technologietransfersaufgrund konstruktiver Prioritäten (fertigungstechnische Ein-
fachheit, etwa Vorrang von Regelflächen im Leichtbau; Inkrementalismus in der
Typenentwicklung) an Bedeutung. An die Stelle einer "catch-up"-Haltung tritt die
Betonung alternativer technischer Konzepte.
Phase 3 (1967-)
In der dritten Phase verschieben sich die Technologietransfers vom Import von
Fertigprodukten und deren Nachbau (=Phase 1) oder der Adaption von know-how
(=Phase 2) auf subsidiäre Komponenten. Besonders in der Elektronik scheint auch
der sowjetische Rüstungssektor nach wie vor von Transfusionen westlicher Tech-
nologie entscheidend abhängig. Gegenwärtige Waffensysteme entsprechen techno-
logisch in einer Anzahl von Parametern weitgehend westlichen Gegenstücken,
bleiben jedoch in den Leistungsspitzen (Nachtkampffähigkeit, "look-down/shoot
down"-Fähigkeiten, elektronisches Aufklärungspotential, Systemintegration) au-
genscheinlich unterlegen. Aus Gründen dürfte es bei dieser Unterlegenheit bleiben.
Zwar hat die sowjetische Führung über Jahrzehnte Erfolg bei dem Bemühen ge-
habt, die Basistechnologien des Wettrüstens im eigenen Lande (nachholend) zu er-
zeugen. Die entscheidenden Leistungsspitzen, auch wenn sie "nur" die Funktions-
fähigkeit von Technik unter Allwetterbedingungen betreffen, sind jedoch bis heute
nur mit Hilfe von Technologietransfers aus dem Westen kompetitiv erreichbar.
Dieser Tatbestand deutet auf ein systemisches Defizit.
Bei einer Betrachtung der fortwährenden ausländischen Technologieinfusionen
im historischen Längsschnitt bleibt somit eine Zäsur auffällig. Bis etwa 1945 ha-
ben ausländische Importe die Rolle von Aushilfen, Ergänzungen gespielt. Ihr
Nachbau bestimmte nicht den Kern der eigenen sowjetischen Technologieentwick-
86 Abhängigkeit von ausländischer Technologie?
Tabelle 4:
Konzept der Akquisition des Düsenantriebs im sowjetischen Jägerbau
deutsches Triebwerk 1-motorig 2-motorig
BMW003 MiG-9*)
Lawotschin
La-150 Suchoj
Jumo004 Su-9
Jakowlew
Jak-15*)
*) Später für die Großserienproduktion ausgewählt